Geisteswissenschaft als Aufgabe: Kulturpolitische Perspektiven und Aspekte 9783110845471, 9783110074567

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Geisteswissenschaft als Aufgabe: Kulturpolitische Perspektiven und Aspekte
 9783110845471, 9783110074567

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Erster Teil
Geisteswissenschaft und Hochschulreform
Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
Zur Lage der langfristigen Forschungsvorhaben im Bereich der Geisteswissenschaften. Hier: Editionen im Bereich der Philosophie
Museen in unserer Zeit
Literaturarchive
Ausstellung und Forschung am Beispiel kulturhistorischer Präsentationen der letzten Jahre betrachtet
Zweiter Teil
Zur gegenwärtigen Lage der Theologie im Hinblick auf ihre Partizipation an den Geisteswissenschaften
Zur Situation der Klassischen Philologie
Zur Lage der Renaissance- und Humanismusforschung in Vergangenheit und Gegenwart
Die Erforschung der deutschen Literatur Zur Situation in einem sogenannten Massenfach
Über die Lage der Archäologie im Rahmen der philologischhistorischen Fächer und der Kunstwissenschaft
Zur Situation der Musikforschung
Dritter Teil
Über den Grund unseres Interesses an historischen Gegenständen Kulturelle und politische Funktionen der historischen Geisteswissenschaften
Beobachtungen zur Lage der Althistorie in der Bundesrepublik
Die Lage der Geschichtswissenschaft
Zur Lage der Rechtswissenschaft
Politikwissenschaft in der Bundesrepublik — Aufgaben und Belastungen
Teilnehmer des Arbeitskreises „Geisteswissenschaften und Forschungspolitik"

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Geisteswissenschaft als Aufgabe

Hellmut Flashar, Nikolaus Lobkowicz, Otto Pöggeler (Hrsg.)

Geisteswissenschaft als Aufgabe Kulturpolitische Perspektiven und Aspekte

W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1978

Redaktion: A. Gethmann-Siefert Der Band wurde gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutseben

Bibliothek

Geisteswissenschaft als Aufgabe : kulturpolit. Perspektiven u. Aspekte / Hellmut Flashar . . . (Hrsg.). — 1. Aufl. — Berlin, New Y o r k : de Gruyter, 1978. ISBN 3-11-007456-7 N E : Flashar, Hellmut [Hrsg.]

© 1978 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Redite, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz: Münchener Fotoprint GmbH., München Druck: Rotaprintdruck Hildebrand, Berlin Einband: Wübben & Co., Berlin

Inhalt Einleitung von Otto Pöggeler, Bochum

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Erster Teil N. Lobkowicz, München Geisteswissenschaft und Hochschulreform Herbert Franke, München Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft H. Krings, München Wohin mit den Editionen? Zur Lage der langfristigen Forschungsvorhaben im Bereich der Geisteswissenschaften. Hier: Editionen im Bereich der Philosophie K. Böhner, Mainz Museen in unserer Zeit B. Zeller, Marbach Literaturarchive H. Glaser, München Ausstellung und Forschung am Beispiel kulturhistorischer Präsentationen der letzten Jahre betrachtet

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Zweiter Teil G. Ebeling, Zürich Zur gegenwärtigen Lage der Theologie im Hinblick auf ihre Partizipation an den Geisteswissenschaften H. Flashar, Bochum Zur Situation der klassischen Philologie A. Buck, Marburg Zur Lage der Renaissance- und Humanismusforschung in Vergangenheit und Gegenwart W. Müller-Seidel, München Die Erforschung der deutschen Literatur. Zur Situation in einem sogenannten Massenfach

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Inhalt

B. Andreae, Bochum Über die Lage der Archäologie im Rahmen der philologischhistorischen Fächer und der Kunstwissenschaft G. Feder, Köln Zur Situation der Musikforschung

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Dritter Teil H. Lübbe, Zürich Über den Grund unseres Interesses an historischen Gegenständen. Kulturelle und politische Funktionen der historischen Geisteswissenschaften G. Alföldy, Heidelberg Beobachtungen zur Lage der Althistorie in der Bundesrepublik . . H. Repgen, Bonn Die Lage der Geschichtswissenschaft G. Kegel, Köln Zur Lage der Rechtswissenschaft D. Grosser, München Politikwissenschaft in der Bundesrepublik. Aufgaben und Belastungen

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Teilnehmer des Arbeitskreises „Geisteswissenschaften und Forschungspolitik"

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Einleitung Der vorliegende Band über die heutige Aufgabe der Geisteswissenschaften ist in einem Arbeitskreis entstanden, der im Herbst 1976 in Köln und im Frühjahr 1977 in Kronberg im Taunus - unterstützt von der Fritz Thyssen-Stiftung - die Konzeption des Bandes und dann die einzelnen Beiträge diskutierte. Der Arbeitskreis folgte weder einem bestimmten Auftrag noch wollte er mit jenen Institutionen konkurrieren, die ihrer Aufgabenstellung gemäß Bestandsaufnahmen über die Forschung vornehmen oder Vorschläge zur Forschungspolitik machen. Der Kreis versuchte auch nicht, wie ein Gremium zu Beschlüssen zu kommen oder inhaltliche Richtlinien für die einzelnen Beiträge zu geben. Vielmehr sollten die einzelnen für ihre Bereiche ihre persönlichen Erfahrungen einbringen. Deshalb kann nicht vorausgesetzt werden, daß alle vorgetragenen Analysen und Vorschläge von allen Mitgliedern des Arbeitskreises geteilt werden; es ist auch nicht ausgeschlossen, daß es im extremen Fall gegensätzliche Auffassungen gibt. Die Überzeugung blieb leitend, daß die heutige forschungs- und kulturpolitische Situation eine Umorientierung verlangt, die gerade durch die Darstellung individueller Perspektiven, wenn diese aus einer langjährigen Arbeit erwachsen sind, vorbereitet werden kann. Daß dieser Band in keiner Weise Vollständigkeit beansprucht, zeigt schon ein erster Blick in das Inhaltsverzeichnis. Nur wenige Fächer konnten zu Wort kommen; nicht alle anstehenden forschungspolitischen Fragen wurden erörtert. Exemplarische Beiträge sollten jedoch zeigen, daß die Geisteswissenschaften sich neu orientieren und ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft neu bestimmen müssen. Zulange schon stellen die Geisteswissenschaften vorwiegend sich selbst in Frage, gibt eine kleine Gruppe von Meinungsmachern von wenig sachgemäßen und längst überholten Auffassungen her ein negatives Bild, das mit der Weise, wie geisteswissenschaftliche Arbeit tatsächlich verlangt und gebraucht wird, nicht übereinstimmt. Die Aufgabe, die den Geisteswissenschaften heute gestellt ist, sollte wieder in den Blick gebracht und es sollten dann die nötigen Konsequenzen für Forschungs- und Kulturpolitik herausgestellt werden. Dabei sollten die einzelnen Beiträge sich weniger in die spezielle Diskussion mit Fachgenossen begeben als vielmehr die genannten Anliegen einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen.

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1. Krise und Gunst der Stunde Heute — mehr als dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs — ist die Bundesrepublik in den Kreis der Kulturnationen zurückgekehrt und eingebunden in die Welt, die nun als die westliche von der östlichen abgegrenzt wird. Es ist kein Zweifel, daß dieser Staat ohne größere Rohstoffvorkommen und mit hochentwickelter exportintensiver Industrie angewiesen ist auf die Technologien, die nur durch eine differenzierte Forschung geliefert werden können. Angewandte Forschung erfordert zugleich Grundlagenforschung; doch auch abgesehen von diesem Zusammenhang hat das geistige Abenteuer, das die Wissenschaft darstellt, in den deutschsprachigen Ländern immer eine bevorzugte Stätte seiner Realisierung gehabt. Die Deutschen blieben jedoch eine Nation, die niemals — wie Frankreich — eine gesellschaftlich anerkannte „Literatur" ausbildete, die auch nicht — wie England — eine differenzierte und stabilisierte „Gesellschaft" hatte. Das religiös geteilte, politisch instabile Land wandte sich in besonderem Maße den metaphysischen, religiösen und existenziellen Fragen zu, und so fanden zusammen mit Philosophie und Theologie die Geisteswissenschaften hier besonders günstige Bedingungen. Niemand wird bestreiten, daß Deutschland in der Forschung in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Bereichen führend war. Wenn die Menschen in dem Staatsgebilde, das sich nach umstürzenden geschichtlichen Veränderungen als Bundesrepublik etabliert hat, nach einem neuen Selbstverständnis suchen, dann werden sie in den Sphären von Kunst, Religion und Politik Orientierungen finden wollen; damit aber sind sie zugleich an die Geisteswissenschaften verwiesen, die in mannigfachen Weisen die Zuwendung zu diesen Sphären mitbestimmen. Fällt somit nicht auch den Geisteswissenschaften bei dieser Neuorientierung eine wichtige kulturpolitische Rolle zu? Geisteswissenschaftliche Arbeit hat freilich zu alte Wurzeln, als daß sie sich vorschnell von einer Funktion in einer temporären Situation her verstehen könnte. Geschichtsschreibung hatte bei den Griechen und Römern den gleichen Rang wie Dichtung und Philosophie; alexandrinische Philologie und der Rückgang der Humanisten zu den Quellen gingen der heutigen Philologie voraus; wenn die neusprachlichen Philologien und die Kunstgeschichte kaum älter sind als zweihundert Jahre, so lehnten sie sich doch an ältere Vorbilder an. Als ein Zusammenhang, der sich als „Forschung" versteht, haben sich die Geisteswissenschaften jedoch erst nach jenem Bruch mit der alteuropäischen Tradition ausgebildet, für den die französische politische und die englische industrielle Revolution Symptome sind. Sie gehören in die Epoche, in der die ver-

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schiedenen geschichtlichen Traditionen schließlich zur einen Weltgeschichte zusammenfließen und die Menschen ihre Geschichte erstmals als ganze zu verantworten haben. In der beginnenden Weltzivilisation halten die Geisteswissenschaften erinnernd die Herkunft der Menschheit mit ihren unterschiedlichen Traditionen fest, und zwar in einer neutralisierten, „wissenschaftlichen" Weise — nicht vorweg im Bekenntnis zu dieser oder jener Tradition und deren religiösen und politischen Entscheidungen. Indem Europa innerhalb der Wissenschaften auch die Geisteswissenschaften ausbildet, vermag es sich selbst gegenüber Distanz zu gewinnen, z. B. auch seine religiöse Tradition mit ihrer bestimmenden Mitte zum Gegenstand einer autonomen Forschung zu machen. Dieser Prozeß hat seine Opfer gefordert; er hat auch oft genug Wissenschaft für verfehlte Radikalismen eingesetzt. Ein Außenseiter wie Reimarus steht am Beginn der Leben-Jesu-Forschung; Gestalten wie David Friedrich Strauß und Bruno Bauer wurden, als sie diese Forschung voranzubringen suchten, aus ihrer Laufbahn gestoßen; schließlich mündeten diese Versuche doch in die Bahnen der allgemeinen Universitätsforschung, die heute auch für die Ausbildung der Pfarrer maßgeblich ist. Eine Neuphilologie wie die Germanistik und auch ein großer Teil der früheren deutschen Geschichtsschreibung waren sicherlich zuerst einseitig an ein bestimmtes nationales Selbstverständnis gebunden; die Zentrierung auf die mittelmeerischen Kulturen und auf Europa zu überwinden, scheint heute noch in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine unrealistische Aufgabenstellung. Zudem legen die Ideologien, die um die Zukunft der heutigen Weltzivilisation streiten, die Hand auf die Geisteswissenschaften und wollen zu einseitigen Parteinahmen zwingen. Aber auch hier wird gelten müssen, daß geisteswissenschaftliche Forschung ihren Charakter aufgibt, wenn sie sich nicht nur durch religiöse und politische Entscheidungen die Augen öffnen läßt und diese Entscheidungen selber offen läßt, sondern vorweg die eigene Arbeit durch solche Entscheidungen bestimmen und die Neutralität der Forschung unterlaufen läßt. Die Ausbildung der Geisteswissenschaften, wie sie sich in Deutschland vollzog, wäre nicht möglich gewesen ohne jene Reform der Universität, die mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verknüpft ist. Die Bindung der Forschung an die Universität ist nichts Selbstverständliches; auch vor Humboldt gab es die Universitäten — die Fürsorge des Staates für seine Untertanen brauchte sie als Anstalten des Bildungssektors, stellte sie gelegentlich schon in der räumlichen Planung zusammen mit Kirche, Exerzierplatz, Krankenanstalt, Gefängnis; Forschung konnte sich maßgeblich durchaus an anderen Orten vollziehen, etwa

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in den Akademien. Humboldt griff wieder zurück auf den Genossenschaftsgedanken, auf den die Universität bei den mittelalterlichen Gründungen gestellt worden war — die Universitas des Wissens sollte in der Universitas der Lehrenden und Lernenden verwirklicht werden. Zwar wurde — etwa in Berlin — die Universität zusammen mit den anderen Einrichtungen der Bildung (Bibliothek, Oper, Schauspiel, Museum) mitten in die Stadt, zu den Kirchen und zum königlichen Schloß, gestellt; die Wissenschaft sollte zusammen mit den übrigen kulturellen Tätigkeiten den Menschen bilden, so auch die Gesellschaft in einem langfristigen Prozeß umbilden. Der Genossenschaftsgedanke gab der Universität aber eine gewisse Autonomie gegenüber Staat und Gesellschaft; Humboldt holte auch die zweite, die „mönchische" Wurzel der mittelalterlichen Universitäten zurück, wenn er Einsamkeit und Freiheit als Raum der Arbeit an der Universität forderte — freilich in einer gewandelten Welt, in der die Gelehrten seit Renaissance und Aufklärung die religiöse Ungebundenheit beanspruchten, aber auch nicht mehr Pfründner eines Aristokraten oder Untertan eines Fürsten waren. Zwar wurde die maßgebliche Rolle, die Humboldt der Philosophie zuzusprechen geneigt war, bald ersetzt durch den Positivismus der einzelnen Wissenschaften; doch wurde die Universität noch gestützt durch den Glauben, daß wissenschaftliche Arbeit einen Bildungssinn habe. So vermochte die Universität den Geisteswissenschaften den Raum für die Entfaltung zu gewähren. Sie erbrachte zusammen mit den Gymnasien die Bildungsvoraussetzungen, die eine qualifizierte geisteswissenschaftliche Forschung ermöglichten; sie gewährte dem Einzelwissenschaftler auf einer sinnvoll abgestuften Laufbahn die Möglichkeit zu konzentrierter Arbeit und zu bahnbrechenden Leistungen; sie stellte in lockerem Zusammenhang mit den Akademien und anderen Organisationen, die auf die Universität ausgerichtet blieben, das Gros der institutionellen Ausstattung. Gerade den Geisteswissenschaften kam zugute, daß Lehre und Forschung zusammengehörten; wenn „Einsamkeit und Freiheit" gefordert und (nicht ohne harte Auflagen) gewährt wurden, dann entsprach das in besonderem Maße der geisteswissenschaftlichen Arbeit, die in der Individualforschung verwurzelt bleibt. Die neue Universität und mit ihr die Geisteswissenschaften mußten sich im 19. Jahrhundert erst ihren Weg freikämpfen. Von Anfang an richtete sich gegen sie der Verdacht, hier werde in einer einseitigen Zuwendung zur Herkunft die Zukunft vergessen; in der Geburt des Historismus aus dem Geiste der Ästhetik werde die geisteswissenschaftliche Arbeit zurückgebunden an eine „innere Welt", aus der man dann nur in Kurzschlüssen zu den politischen Realitäten zurückfinden könne. Es blieb dem zwanzigsten Jahrhundert vorbehalten, solche Kritik, die nicht

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ohne berechtigten Kern war, zu primitiven Vorwürfen umzugestalten und diese dann in Maximen politischen Handelns zu überführen. „Unsere geistigen Schichten", resümierte ein bekannter Politiker in einem einmal weitverbreiteten Buch, „sind besonders in Deutschland so in sich abgeschlossen und verkalkt, daß ihnen die lebendige Verbindung nach unten fehlt. Dies rächt sich nach zwei Seiten hin: Erstens fehlt ihnen dadurch das Verständnis und die Empfindung für die breite Mass e . . . Es fehlt diesen oberen Schichten aber zweitens auch die nötige Willenskraft. Denn diese ist in abgekasteten Intelligenzkreisen immer schwächer als in der Masse des Volkes." Unter den Zerstörungen, die der Nationalsozialismus über die Welt brachte, ist die Zerstörung geisteswissenschaftlicher Arbeit sicherlich nur etwas Zweitrangiges; Polemiken wie die des genannten Politikers (Adolf Hitlers in Mein Kampf) hatten jedoch ihre schrecklichen Folgen. Auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften ging Unwiederbringliches verloren; so wird Deutschland z. B. nicht nur das berühmte Hamburger Institut Aby Warburgs, das 1933 nach England emigrieren mußte, nie zurückerhalten; es wird auch trotz aller neuen Ansätze und Bemühungen die führende internationale Rolle, die es einmal auf dem Gebiet der RenaissanceForschung innehatte, nicht zurückgewinnen können. In das große Aufbauwerk, das nach 1945 durchgeführt wurde, waren mit den Universitäten auch die Geisteswissenschaften einbezogen. Das furchtbare Stück Geschichte, das man erfahren hatte, gab gerade der geisteswissenschaftlichen Arbeit einen neuen Emst; jene Forscher konnten zum Zuge kommen, die durch die Politik in ein Abseits gedrängt worden waren, aber überlebt hatten. Als der Wiederaufbau einen gewissen Abschluß erlangt hatte, mußte in den sechziger Jahren offenkundig werden, daß geisteswissenschaftliche Arbeit in einer neuen Welt getan sein will — was politisch geworden oder übriggeblieben war, konnte nicht länger als ein Provisorium angesehen werden, einschneidender aber als die Änderungen des politischen Rahmens war der Weg in ein neues technisches Zeitalter mit allen dadurch bedingten Strukturänderungen. Es schwanden die früheren Leitvorstellungen davon, wie Geschichte sich vollziehe und gliedere, was Kunst, Literatur oder Religion seien. So wurde manchem Arbeitsansatz der Boden entzogen; was sich an neuen Ansätzen zeigte, blieb bei tastenden Versuchen oder neigte zu kurzschlüssigen Verabsolutierungen und Extremismen. Grundsätzlich wurde gefragt, ob die „Geisteswissenschaft" mit ihrer Ausrichtung auf „Geschichte" überhaupt noch einen Raum haben könne in der neuen, vorwiegend „technischen" Welt. Mußten die Geisteswissenschaften sich aus ihren eigenen Denkhorizonten heraus nicht die Frage vorlegen, ob der historische Sinn nicht Produkt einer einmaligen Situation

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sei (nämlich der Zeit der Begegnung von unterschiedlichen Kulturen, die noch in ihrer alten Herkunft verwurzelt sind) und ob dieser Sinn nicht schwinden müsse, wenn diese Kulturen erst einmal in die einheitliche Zivilisation eingeschmolzen und so in eine „posthistorische" Welt eingetreten sind? Die Abstützung der Geisteswissenschaften durch eine ideengeleitete Philosophie, wie Hegel sie noch geben wollte, hatte sich als ebenso unmöglich erwiesen wie der Positivismus, der nicht sieht, daß er seine neutralisierte Arbeit in einem vorweg ausgegrenzten und gegliederten Bereich tut. Die Diskussion über Methode und Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften mußte in neuer Weise geführt werden. Sollten die Geisteswissenschaften in dieser Situation, statt sich in ein Abseits drängen zu lassen, als ideologisierbare Wissenschaften nicht entschlossen mit in den ideologischen Kampf ziehen? Die ideologische Bildung war nicht nur selbstverständlich in Gesellschaften, die die Freiheitsspielräume von Forschung und Lehre und damit von Wissenschaftlichkeit in unserem Sinn nicht kannten; sie war auch eine Verführung für jene, die die „Multiversität" der modernen Welt mit ihren vielen autonomen oder halbautonomen Sphären nicht ertrugen. Wo die Umwandlung der Gesellschaft auf den Weg der Bildung erstrebt wurde, mußten Bildungsreformen über die Planung der Bildungsinhalte langfristig auch die Möglichkeiten geisteswissenschaftlicher Arbeit neu abstecken. Helmut Schelsky hat vor Jahren in einer Darstellung von Idee, Gestalt und Reform der Universität unter Berufung auf Arnold Gehlen wie auf Horkheimer und Habermas die Routinisierung, den Arbeits- und Betriebscharakter (also die berühmte „Entfremdung") in der geisteswissenschaftlichen Arbeit herausgestellt; dieser museale Anteil an der Kultur könne als ubiquitäre Kulturindustrie in den Prozeß der Vergesellschaftung einbezogen, als Freizeitbeschäftigung funktionalisiert und marktgängig gemacht, mit seiner Ohnmacht freilich auch „in die Haltung des folgenlosen Kulturprotests" gedrängt werden. Heute betont Schelsky, die einstigen philologisch-historischen „Sinndeutungsfächer" etablierten als „emanzipatorische", nämlich heilsverkündende, eine neue Priesterherrschaft über jene, die die produktive Arbeit tun müssen. Nicht von ungefähr geschah es gerade in dieser Situation, daß den Geisteswissenschaften die Basis, die sie an der Universität hatten, mehr und mehr entzogen wurde. Was die Universität Humboldts an Arbeitsmöglichkeiten wie an Qualifikationsmöglichkeiten für die Geisteswissenschaften entwickelt hatte, ging über Bord, als maßgebliche geisteswissenschaftliche Fächer zu Massenfächern wurden, als die Lehre an der Universität den Primat bekam und von ihr her eine Ausweitung des Personalbestandes vorgenommen wurde, die von der Situation gefordert

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schien, heute aber schon als unbesonnene Blockierung der Chancen derer erscheinen muß, die jetzt mit ihren neuen Fragen in die Forschung müßten einrücken können. Die Geisteswissenschaften wurden durch die Umstrukturierung der Universitäten umso mehr getroffen, als ihrer Forschung ein Ausweichen in außeruniversitäre Institute sicher nicht in der Weise möglich sein wird, wie das bei den Naturwissenschaften und den technischen Wissenschaften längst praktiziert wird. Zwar bildeten sich in der Nähe der Universität viele neue Forschungskomplexe, doch blieben diese ungeordnet, relativ maßstablos und unabgesichert. Es kann kein Zweifel sein, daß die Geisteswissenschaften zehn Jahre der Krise hinter sich haben. Bei den „Universitätsreformen", die sich überstürzten, saß die Forschung bald von vornherein auf der Anklagebank: die Frage war immer nur, unter welchen Bedingungen ihre vielen Wege und Nebenwege zugelassen werden sollten. Was als Forschung galt, wurde allzu einseitig abgelesen an der Großforschung oder doch am naturwissenschaftlich-technischen Bereich, wurde ohne Blick für die spezifischen Arbeitsweisen der Geisteswissenschaften vorgestellt. Es konnte nicht ausbleiben, daß viele Geisteswissenschaftler sich daran erinnerten, daß geisteswissenschaftliche Forschung vorwiegend Individualforschung gewesen ist, daß sie sich also aus jenen Institutionen soweit wie möglich zurückzogen, die für ihre Anliegen keinerlei Sinn mehr zu zeigen schienen. Für die Rückschau ist es nicht verwunderlich, daß der Defaitismus sich breitmachte: allzuviel Melancholie wurde in die Abgesänge auf das Ende der alten philosophischen Fakultät gesteckt; die Reden und Aufsätze, die unter den Titel „Wozu.. .?" oder gar „Wozu noch. . . ? " gestellt wurden, bildeten geradezu eine eigene rhetorische oder literarische Gattung. Inzwischen aber haben die Zeichen der Zeit sich gewendet. Das Gefühl gewinnt allenthalben die Oberhand, daß bei jenen Veränderungen, die Reformen sein sollten, genug unter die Räder gekommen ist, und daß nun der Besonnenheit und dem Sachverstand wieder die Führung gegeben werden muß. Es wird wieder anerkannt, daß die Universität eine maßgebliche Stelle der Forschung bleiben muß, die sich nicht von außen steuern läßt. Nicht vergessen werden soll, daß den Geisteswissenschaften unerwartete Hilfe kam. Jene, denen die Ideologie des Tages über die Bildungsreform ein richtiges Bewußtsein verpassen wollte, haben eine Widerstandskraft gezeigt, die man auf den Universitäten oft vergeblich suchte: am Willen der Eltern scheiterte letztlich der Versuch, analog zu einer wissenschaftstheoretischen Auflösung der Geschichtswissenschaften in Handlungswissenschaften und zu deren konsequenter Ideologisierung in der Schule das Fach „Geschichte" in ein fragwürdiges sozialkundliches Ganzes aufzulösen; jene

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Museen, die man für tot erklärte, hatten Hochkonjunktur; was immer die Leute in den historischen Sachbüchern, die zu Bestsellern wurden, suchten — man wird einräumen müssen, daß ein unbefriedigtes historisches Interesse da war. Sicherlich wird die Nationalstiftung, wenn sie Wirklichkeit wird, entgegen den ersten Planungen und Erwartungen keine Lösung für die Institutionalisierungsfragen geisteswissenschaftlicher Forschung bringen; daß der Plan einer solchen Stiftung aber in einer so ausgiebigen Weise auch von den Zeitungen diskutiert wurde, daß den Politikern immer wieder ihre Versäumnisse vorgehalten wurden, zeigt ein neu erwachtes Interesse der Öffentlichkeit. So konnte der Bundespräsident ein weites Echo finden, als er immer wieder darauf hinwies, daß Menschen, die sich zu einem Staat zusammenschließen, auch ein historisches Bewußtsein ausbilden müssen. In weiten Bereichen kann man von einer Gunst der Stunde für die Geisteswissenschaften sprechen: Geisteswissenschaft wird als Aufgabe ernstgenommen. Es gilt, die gegebenen Chancen zu nutzen und aus diesem neuen Ernstnehmen die notwendigen Konsequenzen für eine besonnene Neugestaltung des Bereichs geisteswissenschaftlicher Forschung zu ziehen.

2. Orientierung in neuen Verflechtungen Die Geisteswissenschaften - so hat Erich Rothacker, als Philosoph an der Logik und Systematik der Geisteswissenschaften interessiert, in einem bekannten Aufsatztitel gesagt - bilden kein System. Der frühere Name „Humaniora", der heutige englische Ausdruck „Humanities", selbst der recht verstandene deutsche Titel „Geisteswissenschaften" deuten darauf hin, daß diese Wissenschaften mit dem Leben verflochten sind und man von ihnen einen Beitrag zur Sinndeutung menschlichen Lebens erwartet. Die lebensmäßige Verwurzelung und die Verflechtung mit der Kultur überhaupt entscheiden, welche wissenschaftlichen Bereiche besonders intensiv und extensiv ausgebaut werden und von welchen Perspektiven die Arbeit in diesen Bereichen geleitet ist. Griechisch wird eben bei uns mehr studiert als Chinesisch, ja in Deutschland konnte man einmal das Griechische gegen das Lateinische und Romanische ausspielen; seit mehr als anderthalb Jahrhunderten liegt bezeichnenderweise auch ein Schwerpunkt beim Studium des Mittelalters; aus einsichtigen Gründen ist die Afrikanistik bei uns trotz berühmter Gelehrter — im Hintergrund geblieben, und es waren bestimmte politische Entwicklungen, die der Zuwendung zu Ostasien institutionelle Absicherungen gaben. Zwei Institute pflegen an unseren Universitäten die Geschichte der Kunst unter sich aufzuteilen — die

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Archäologie, die in einer einmal „klassischen" universalen Altertumswissenschaft sich gebildet hat, und die Kunstgeschichte, die sich den übrig bleibenden Epochen zuwandte; heute muß man freilich fragen, ob diese Wissenschaft dem Leben folgen kann: der beweglich und großräumig lebende Mensch berührt viele Kulturen, und die modernen Massenmedien tun ein Übriges für die Ausbildung universaler Interessiertheit; vermag aber die Kunstgeschichte ostasiatische Kunst nicht nur spezialistisch zu erforschen, sondern wirklich neben unsere abendländische Kunst zu stellen? Eine rein systematische Betrachtung wird nicht verständlich machen können, daß wir an unseren Universitäten für die christlichen Theologien ganze Fakultäten haben, aber nicht einmal einen einzigen Lehrstuhl für die exegetische, dogmatische, kirchenhistorische Erforschung und Lehre des Buddhismus. Es macht darüber hinaus einen Unterschied, ob sich ein christlicher und jüdischer Theologe, ein Orientalist oder ein säkularisierter Israeli, ja ein Kalvinist oder ein Lutheraner dem Alten Testament zuwendet. Auf Wissenschaftlichkeit kann jede dieser Zuwendungen freilich nur Anspruch machen, wenn sie ihre eigene Perspektive zu relativieren und wenn sie mit den Vertretern der anderen Perspektiven in ein unvoreingenommenes Gespräch zu kommen vermag — ein Prozeß, der sich über lange Zeit hinziehen und Krisen im kulturellen und religiösen Leben mitbringen bzw. von ihnen begleitet werden kann. Der extreme Fall der Theologie zeigt auch, welche schwierigen Leistungen gerade vom Geisteswissenschaftler erwartet werden. Der christliche Theologe muß sich in den verschiedensten Wissenschaften auskennen: für das Alte Testament muß er Hebräisch lernen, für das Neue Testament Griechisch, für die Kirchenväter Lateinisch, für die Mystiker und für Luther Mittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch; er muß historisch im Vorderen Orient wie im Hellenismus, im Mittelalter wie in der Neuzeit bewandert sein; für die dogmatische und die praktische Theologie muß er die Philosophie heranziehen oder z. B. die Sozialpsychologie. Die Gefahr bleibt, daß die eine Theologie in eine Reihe von Spezialdisziplinen zersplittert; als Spezialist weiß sich der Theologe dann einer profanen Nachbardisziplin (etwa der Orientalistik) zugehörig, ja er kann zu ihr herüberwandern. Theologie soll aber glaubensmäßig verwurzelt bleiben und letztlich einweisen in die kirchliche Praxis. Die Notwendigkeit, für bestimmte gesellschaftliche Bedürfnisse Pfarrer auszubilden, veranlaßt schließlich unseren Staat, die theologischen Fakultäten als eine Serviceleistung an die großen Kirchen einzurichten. Diese Einrichtung ist nicht selbstverständlich. In den USA etwa sind die theologischen Fakultäten in unserem Sinn (Divinity Schools) „privat" verankert (die staatlichen Universitäten haben nur

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Departments of Religion). Dort ist freilich die Theologie aus der übrigen geisteswissenschaftlichen Arbeit stärker herausgenommen; sie kann so gegenüber der modernen wissenschaftlichen Welt in ein Exil geraten, damit aber gerade streng ausgerichtet werden auf die Praxis der verschiedenen „Denominationen". Der bei uns praktizierte Ansatz hat den Vorteil, daß die Theologie innerhalb der Geisteswissenschaften gehalten wird, daß sie also nicht aus der sonstigen modernen Geistigkeit exilieren darf. — Was die Theologie als Struktur zeigt, gilt in modifizierter Weise auch für andere Geisteswissenschaften: die eigentliche geisteswissenschaftliche Forschung steht in einem (literarischen, erbaulichen, ideologischen) Umfeld, von dem sie oft nur schwer scharf abzugrenzen ist; der Wissenschaftler hat Schwierigkeiten, sein Thema zu isolieren — er muß immer in vielen Nachbardisziplinen „dilettieren"; der Gegenstand zeigt sich nur, indem die verschiedensten Selektionen ihn auf das Wichtige hin reduzieren; was aber wichtig ist, wird oft schon vorentschieden durch die lebensmäßige Verwurzelung der Forschung. Trotzdem läßt sich geisteswissenschaftliche Arbeit sehr wohl von einer ideologischen Nutzung der Tradition unterscheiden. Große Vorsicht aber ist nötig, damit das verletzliche Gefüge der Verflechtungen mit der Kultur und dem Leben nicht durch grobe Eingriffe zerstört oder in puren Dogmatismus verkehrt wird. Die Verflechtung der Geisteswissenschaften mit dem Leben bringt es mit sich, daß Änderungen des Lebensgefuges sowie die bildungspolitischen Konsequenzen, die man aus diesen Änderungen zieht, sich in einer entscheidenden Weise positiv wie negativ auf die geisteswissenschaftliche Arbeit auswirken. So droht heute die Gefahr, daß der „klassischen" Philologie - dem Studium der alten Sprachen, der griechischen und der lateinischen Literatur - weithin der Boden entzogen wird. Die europäische Kultur ist eine Tochterkultur der mittelmeerischeniCultur; so konnte die Literatur der Alten — in Spannung mit der jüdisch-christlichen Tradition - eine Überlieferung darstellen, die eine Norm vorzeichnete oder doch in den Streit zwischen den Alten und den Modernen verwickelte. Als dieser Streit durch die Einsicht aufgelöst worden war, daß jede Epoche aus ihrer geschichtlichen Besonderheit zu verstehen sei, wurde eine universale Altertumswissenschaft als historische Wissenschaft aufgebaut. Die Voraussetzung für den bedeutenden Beitrag, den Deutschland hier leisten konnte, war das humanistische Gymnasium, das seinen Schülern umfassend und früh schon die nötigen Sprachkenntnisse vermittelte. Da die Reste des humanistischen Gymnasiums heute allenfalls eine geduldete Ausnahme sind, scheint die Konsequenz unausweichlich, daß auch die Klassische Philologie auf Reste reduziert wird, die dann freilich gerade in der Freistellung von Bildungs-

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aufgaben spezialistische Forschungsleistungen erbringen könnten. Man kann die Prognose hören, in der anbrechenden Weltzivilisation würden das Griechische und das Lateinische Themen einer ebenso spezialisierten Forschung sein wie etwa das Altchinesische. Eine solche Prognose ist jedoch ebenso unangemessen wie verantwortungslos: Soll es überhaupt Geisteswissenschaften geben und soll bei uns die eigene europäische Kultur bevorzugtes Thema dieser Wissenschaften sein, dann bleibt eine produktive und innovatorische „klassische" Philologie weiterhin die Bedingung für die fruchtbare Arbeit auch in vielen anderen Fächern. Es kann nicht so sein, daß die Altphilologie an der Universität auf spezialistische Forschung reduziert oder ihr gar primär die Funktion aufgebürdet wird, in Ergänzungskursen jene elementaren Sprachkenntnisse zu lehren, die für andere Fächer (bis hin zur Medizin mit ihrer Terminologie) unabdingbar sind. Die Bildungspolitik muß berücksichtigen, daß Europa innerhalb der heutigen und der zukünftigen Welt in besonderem Maße den Auftrag hat, die mittelmeerische und die europäische Überlieferung gegenwärtig zu halten. Konkret gesprochen: das frühe Studium des Lateinischen und Griechischen muß an unseren Schulen weiterhin möglich sein. Die Zuwendung zu Literatur und Kunst steckt nicht nur im Umbruch, weil die Gewichte sich verschieben, die man den einzelnen Kulturen gibt; auch die Rolle dessen muß neu bestimmt werden, was als Literatur oder als Kunst ausgezeichnet wird. Es ist kein Zweifel, daß die alte Kultur des Lesens im Schwinden ist (um vom Hören des Worts im kirchlichen Raum zu schweigen); die Literatur steht nun im Verband neu entwickelter Medien, die auch die Massen ansprechen. So muß nicht nur gefragt werden, wie Literatur gelesen wurde und gelesen wird und was die Rezeption zur Produktion hinzutut; es muß auch gezeigt werden, wie Literatur oder gar „Dichtung" sich aus der übrigen Sprache ausgrenzt und wie sie sich zu anderen symbolischen Systemen verhält. Hat sich dabei oft zuerst einmal ein Abgrund aufgetan zwischen der traditionellen Literargeschichte und der neuen Linguistik, so zeigen solche Spannungen und Gegensätze doch nur auf das Bestehen einer zu lösenden Aufgabe. Wenn schließlich die Klage über die Überflutung unserer Zeit durch das Bild und das Zurücktreten des Worts ihr Recht hat, so liegt in ihr doch auch nur die Aufforderung, eine Kultur des Sehens zu entwickeln und daraus auch die pädagogischen Konsequenzen zu ziehen. Wenn in den letzten Jahren Ansatz und Bedeutsamkeit historischer Arbeit besonders umstritten waren, dann darf man sich erinnern, daß dieser Streit im Grunde schon mit der Ausweitung der historischen Forschung im 19. Jahrhundert, der Ausbildung einer Historischen Schule

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und eines Historismus gegeben war: die historische Zuwendung zur Herkunft und die Zuwendung zur Zukunft schienen auseinanderzufallen. Statt der Rekonstruktion und Reproduktion vergangenen Lebens forderte Hegel dessen Integration in die Gegenwart des Geistes; doch auch ihm rechnete Kierkegaard noch vor, daß er das existierende Selbst vergessen habe; die Junghegelianer und Marx glaubten die zukunftgerichtete Praxis neu entdecken zu müssen. Nietzsche formulierte dann die Frage nach dem Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; wieviel Historie ein Leben, das selber geschichtlich sein wolle, vertragen könne, diese Frage wurde nun als Problem empfunden. Geschichte, so hieß es, sei nicht nur zu verstehen, sondern auch zu bestehen, und nur wer die Geschichte bestehe, könne sie auch verstehen; die Entdeckung der Geschichtlichkeit als der Endlichkeit des Lebens führte zu einem forcierten Aufstand in die endliche „Geschichtlichkeit", mochte dieser Aufstand nun die Existenz des Einzelnen oder Nation, Kultur, Klasse, Epoche in den Vordergrund rücken. Im Umkreis Heideggers oder Bultmanns zitierte man gern jenes wenig gerechte Wort, das der Graf Paul Yorck von Wartenburg seinem philosophischen Gesprächsfreund Dilthey geschrieben hatte: Ranke sei nur ein „großes Okular" gewesen, dem das, was entschwand, nicht zu Wirklichkeiten werden konnte. Der gerade hinter uns liegende Versuch, die historischen Wissenschaften auszurichten auf die eigene lebenspraktische Orientierung, folglich statt „Geschichte" „Gesellschaft" und statt „Geisteswissenschaften" nur noch „Sozialwissenschaften" zu sagen, ist eine neue Variante dieses alten Streites um Geschichte und Historie. Was in der deutschen Tradition an Historik und Hermeneutik ausgebildet worden war, wurde an zwei Fronten in die Auseinandersetzung verwickelt: es hatte sich auszugleichen mit den anderen wissenschaftstheoretischen Bemühungen, wie sie im angelsächsischen und französischen Bereich entwickelt worden waren; es hatte sich auseinanderzusetzen vor allem mit der neomarxistischen Erneuerung der Auffassung, daß auch vergangene Geschichte nur verstehe, wer nach dem Gang der Geschichte im ganzen frage, ja parteilich sich ftir den Fortgang der Geschichte engagiere. Heute darf man sagen, daß ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen den genannten wissenschaftstheoretischen Positionen nicht mehr besteht (obgleich natürlich noch Scheinfronten aufrechterhalten und Nachhutgefechte geführt werden); daß sich schließlich die herkömmliche Abhebung des historischen Interesses vom Interesse lebenspraktischer Orientierung bewährt hat. Achtet man darauf, was die Leute in ihren historischen „Sachbüchern" suchen, dann zeigt sich überdies, daß diese Betonung der Eigenständigkeit des historischen Interesses als eines Interesses an anderen, vielleicht unvergleichbaren Gestaltungen des Lebens

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offenbar eine ursprüngliche Situation des Menschen richtig berücksichtigt. Der zünftig arbeitende Historiker könnte von all diesen Diskussionen absehen, sich durch sie nicht bei seiner Arbeit stören lassen wollen, wenn nicht in der Tat die Geschichte, wie sie heute geschieht, auch die Historiker gelehrt hätte, die vergangene Geschichte „mit anderen Augen" zu sehen. Nicht nur ist die Nation nicht mehr das Prinzip, das die Felder des Studiums absteckt, wird die Weltgeschichte nicht mehr selbstverständlich auf Europa hin ausgerichtet; die historische Arbeit erhält auch dadurch ein neues Gesicht, daß sie statt vom Primat der Aussenpolitik stärker von den wirtschaftlichen Verhältnissen, statt von den großen Männern, die angeblich Geschichte machen, stärker von den übergreifenden Strukturen einer Epoche ausgeht. Zugleich verwandelt die Geschichtsschreibung, die einmal selbstverständlich als eine Kunst galt, sich dadurch, daß sie von der Forschung lebt: was einmal auch als Wissenschaft verbunden war mit einem Vorhof außerwissenschaftlicher Präsentation der Tradition, wird als Forschung aus diesem Bezug herausgenommen, und so wird durch die neue historische Arbeit die lebendige Tradition neutralisiert, distanziert, ja entmächtigt. Wenn die Geschichtsschreibung durch die langfristigen materialerschließenden Projekte mit ihrer anonymen Arbeit und durch endlose Einzelforschung unterbaut wird, kann sie sich in bloßer Dokumentation, Detailforschung und der Zusammenfassung der Forschungsresultate in Handbüchern verlaufen; der Rückzug auf den Kernbereich der Forschung macht den Raum frei für eine neue ideologisch simplifizierende Nutzung der Geschichte im Raum der Öffentlichkeit oder für die journalistische Pseudodramatik der sog. Sachbücher. Gerade als Forschung hat die Geschichtswissenschaft es schwer, wieder zu wirklicher Geschichtsschreibung zu kommen und den Menschen ihre Herkunft lebendig vor Augen zu stellen. Die historisch-philologische Dimension ist nun keineswegs die einzige Dimension geisteswissenschaftlicher Arbeit. Der Termi/ius „Geisteswissenschaften" ist bekanntlich als nicht ganz adäquate Übersetzung des englischen Wortes „moral sciences" in Umlauf gekommen; Wilhelm Dilthey hat den Terminus dann gegen Konkurrenten wie „Kulturwissenschaften" durchgesetzt. Indem man jedoch um 1900 das methodische Vorgehen der Geisteswissenschaften vom Vorgehen der Naturwissenschaften zu unterscheiden suchte, belastete man den Terminus durch einseitige Akzentsetzungen; inzwischen hat man längst akzeptiert, daß die damals unterschiedenen Methoden in der konkreten Arbeit sich mannigfach überlagern und durchkreuzen. In der Forschungspolitik unterscheidet man denn auch in breiterer Fächerung als maßgebliche Wis-

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senschaftsgruppen, die das Geld bekommen, Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Biowissenschaften sowie Geistes- und Sozialwissenschaften. Wenn die Sozialwissenschaften nicht als Gruppe der Geisteswissenschaften aufgeführt, sondern mit diesen zusammen genannt werden, dann spiegelt sich darin einerseits die Emanzipation einer Wissenschaftsgruppe, andererseits aber auch die Tatsache, daß in der deutschen Tradition die Geisteswissenschaften einseitig auf die historisch-philologische und dann vielleicht noch auf die dogmatische Dimension festgelegt wurden. Man braucht aber nur in das Lehrstuhlverzeichnis einer theologischen Fakultät zu sehen, wenn man demonstriert bekommen will, daß Historie und Philologie dort nicht alles sind, auch nicht im Zusammenhang mit der Dogmatik. Erich Rothacker z. B. hat deshalb in den Geisteswissenschaften die historisch-berichtende, die systematisch-philosophische, die kritisch-theoretische und die dogmatisch-explizierende Denkform unterschieden. V o r allem rechnen durchaus Wissenschaften zu den Geisteswissenschaften, in denen die historische Dimension oder Denkform das Sekundäre ist. Deshalb sollte in diesem Band an der Rechtswissenschaft exemplarisch gezeigt werden, wie diese Geisteswissenschaft aus ihrem Bezug zur Praxis Aufgaben gestellt bekommt, für deren Bewältigung sie durch zusätzliche forschungspolitische Maßnahmen instandgesetzt werden muß. A n der Politikwissenschaft sollte sichtbar gemacht werden, in welche Schwierigkeiten der Versuch gerät, zur Stärkung und Stützung unserer Demokratie eine Disziplin wieder aufzubauen, die in der alteuropäischen Tradition zum Selbstverständlichsten gehörte, dann aber im Zuge neuer Spezialisierungen aufgelöst worden war.

3. Institutionelle Konsequenzen Die Universität, bisher der Hauptträger geisteswissenschaftlicher Forschung, verwandelt sich unter dem Anspruch neuer Bedürfnisse unaufhaltsam; den Geisteswissenschaften steht nicht im gleichen Maße wie anderen Wissenschaften der Weg in außeruniversitäre Forschungsinstitute o f f e n . Akademien, die in der Sowjet-Union und anderen osteuropäischen Ländern unabhängig von den Universitäten den Großteil der Forschung betreiben, gibt es bei uns nicht. Es gibt aber ebensowenig die Privatuniversitäten und das differenzierte Universitätssystem der USA. Das Stiftungswesen ist nur schwach entwickelt; auch die Mittel, die zusätzlich die Forschung fördern, sind zum größten Teil öffentliche Mittel. Wenn man absieht vom Bereich der Großforschung, an dem die Geisteswissenschaften ja nicht beteiligt sind, dann muß man gegen

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gängige Vorstellungen festhalten, daß auch bei der Verteilung dieser öffentlichen Mittel der Einfluß des Staates gering bleibt. Die Forschung fördernden Organisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft sind nichtöffentliche und nichterwerbsorientierte Einrichtungen, die die öffentlichen Mittel — analog zur Autonomie der Universitäten — im Rahmen einer Selbstverwaltung der Wissenschaft vergeben. Immerhin konnten sich hier Ansätze zu einer übergreifenden Planung auf Bundesebene entwickeln, zumal die Planungen der Länder als Träger der Universitäten und gar die Planungen der Hochschulen selbst nur schwach entwickelt sind. Die Forschungsförderung bleibt jedoch gerade im Bereich der Geisteswissenschaft zumeist im Rahmen des ungeplanten Normalverfahrens, das nur auf angemeldete Bedürfnisse eingeht; überdies gibt es verschiedene Organisationen und Wege zur Verteilung der Mittel. Kritische Betrachter sehen deshalb gelegentlich nur noch ein Chaos von Zuständigkeiten und Kompetenzen; ein Beispiel sind etwa die Museen, die in ihrer naturwüchsig-unausgeglichenen Verteilung über die Regionen kaum zu Absprachen kommen (als Staat ohne Nationalmuseum fällt die Bundesrepublik sowieso aus der Reihe vergleichbarer Kulturstaaten heraus). Der Ruf nach verbesserten Lenkungsfunktionen des Staates (das heißt dann vor allem des Bundes) könnte jedoch einen äußerlichen Zentralismus heraufführen, der dem, was geschichtlich gewachsen ist und weiter wachsen will, mehr Schaden als Nutzen bringt. Jedoch wird man ruinösen Entwicklungen und langfristig auch dem Zentralismus und Bürokratismus nicht ausweichen, wenn man nicht Institutionen ausbildet, die im Rahmen der Selbstverwaltung der Forschung und der Kultur die Aufgaben meistern, die anstehen. Dabei muß gemäß dem einmal eingeschlagenen Weg die geisteswissenschaftliche Forschung bei uns an den Universitäten oder doch in deren Nähe bleiben, und die zusätzliche Förderung wird sich über eine Pluralität von Organisationen und Wegen verteilen. Politik und Planung gegenüber den Geisteswissenschaften finden ihre Grenzen darin, daß geisteswissenschaftliche Forschung über ihre Verflechtung mit anderen gesellschaftlichen Sphären in ein Umfeld der Bildung und der Kultur eingebettet ist, das kurzfristig sicherlich negativ, aber kaum positiv zu beeinflussen ist. Was als allgemeines Bildungsgut ausgezeichnet ist, wird auch bevorzugtes Thema geisteswissenschaftlicher Forschung sein. Früher forschten auch die Gymnasiallehrer; heute muß die produktive geisteswissenschaftliche Forschung sich Resonanzräume schaffen, in denen man zwar mitforscht, aber kaum zu selbstständigen Leistungen kommt: die leitenden Themen der Forschung wandern von den produktiven Zentren an andere Universitäten und in andere Länder, und man kann es den Leuten dort auch mit dem Hin-

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weis auf die Vermehrung der Sekundärliteratur nicht verwehren, daß sie, selber „schreibend", sich zu einer neuen Forschungslage hochbilden. Geisteswissenschaftliche Forschung steht zugleich immer im Austausch und in der Auseinandersetzung mit dem allgemeinen „kulturellen" Leben. Das gilt nicht nur für Disziplinen wie Zeitgeschichte oder Theologie, sondern auch z. B. für die Literaturwissenschaft mit ihrem Verhältnis zur literarischen Kritik und zu den ästhetischen Programmen der Künstler - Nietzsche, aus der zünftigen Altphilologie verstoßen, konnte trotzdem der Geistesgeschichte leitende Grundbegriffe vorgeben, die erst in einem langsamen Prozeß geklärt und korrigiert wurden. Zu Unrecht mißt man die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften oft nur daran, wie viele Staatsexamina an den Universitäten produziert werden, unterscheidet folglich die Massenfächer von den kleinen Fächern, die zu Problemfällen werden, denen als den „Orchideenfächern" freilich eine besondere Liebe zuwachsen kann. Die Entwicklung im Fach Kunstgeschichte hat unübersehbar gezeigt, daß die gesellschaftliche Relevanz durchaus auch durch anderes als Staatsexamina angezeigt werden kann — die Universitätsforschung ist hier unauflöslich verflochten mit den Museen und deren Forschung, mit der Denkmalpflege und den repräsentativen großen Ausstellungen. Wenn die Menschen nun in einer neuen Welle der Bedürfniserweiterung in großen Zahlen in die Museen und Ausstellungen strömen, dann droht dieser willkommene Zulauf mit seinen neuen Anforderungen dort die Möglichkeiten zur Forschung und wissenschaftlichen Untermauerung des Gezeigten auszuhöhlen. Kultur-, Bildungs- und Forschungspolitik haben die Aufgabe, die Gefahren abzuwenden und die neuen Chancen zu nutzen. Wenn in der Bundesrepublik selbst der Kanzler das Gefühl hat, in einer Art von Sparkasse arbeiten zu müssen, dann sind Ausstellungen der großen weltgeschichtlichen Leistungen wie der Dokumente aus der Geschichte einzelner Regionen und Landschaften unabdingbar; sie sollten durch wissenschaftliche Distanz geprägt sein und das Dargestellte nicht gleich ideologisch vereinnahmen. Auch auf dem Felde der Literatur sind längst neue Wege, Tradition zu wahren und zu sichern, eingeschlagen worden. Bibliotheken, Sammlungen und Archive wurden aufgebaut; gleichsam unter der Hand, damit als Zeugnis eines unabweisbaren Bedürfnisses, wurden zudem Sekundärarchive zusammengestellt, in denen in Fotografien aus Dutzenden von Bibliotheken Materialien für ein bestimmtes Forschungsthema zusammengetragen wurden. Auf Editionen, Corpora, Reallexika, Wörterbücher, Dokumentationen, Bibliografien richten sich die materialerschließenden langfristigen geisteswissenschaftlichen Projekte, die heute eine neue Durchordnung verlangen. Dabei zeichnen sich in den verschie-

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denen Disziplinen offenbar unterschiedliche Entwicklungen ab. Wenn die Archäologen größere außeruniversitäre Forschungsinstitute haben und die Historiker Editionsinstitute wie die Monumento Germaniae Histórica, dann geht das auf Impulse zurück, die man abkürzend durch den Hinweis auf den Romaufenthalt von Goethe, Humboldt, Niebuhr, Bunsen und durch den Namen des Freiherrn vom Stein kennzeichnen kann. In der Germanistik scheint sich ein Zusammenspiel auszubilden zwischen den größeren Literaturarchiven, der Universitätsforschung und einer unterstützenden Forschungsförderung. Ungeklärt ist die Situation gerade in Bereichen, die im Ausland als besonders repräsentativ gelten: Theologie, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (dort muß zum Fachwissen eine zusätzliche philologische Ausbildung kommen). Die musikhistorischen Editionen, die eine besonders spezialisierte Ausbildung verlangen, stehen in einem relativ lockeren Zusammenhang zur Universitätsforschung. Als kürzlich ein Band Musikalisches Erbe und Gegenwart die Musiker-Gesamtausgaben der Bundesrepublik (kein anderes Land hat Vergleichbares!) vorstellte, schrieb Yehudi Menuhin in einem Grußwort über diese erschließende Arbeit, sie werde von Deutschland erwartet und müsse hier getan werden. Wer wollte widersprechen? Es ist jedoch offensichtlich, daß im Bereich der langfristigen geisteswissenschaftlichen Projekte viel Geld nutzlos ausgegeben wird, weil die Rahmenordnung fehlt, die kontinuierliche Arbeit ermöglicht und die Einhaltung wissenschaftlicher Standards garantiert. Wenn Sparen unumgänglich geworden ist, so setzt Sparen eine Ordnung voraus; diese Ordnung müßte denen, die in diesem Bereich arbeiten, über den Tag oder das Jahr hinaus eine sinnvolle Arbeitsperspektive geben; sie müßte die materialerschließende Arbeit zugleich so eingrenzen und anlegen, daß sie ausgerichtet bleibt auf die eigentlich geisteswissenschaftliche Arbeit, die Interpretation. Leider finden Vorschläge für eine aktivere Forschungspolitik in diesem Bereich auch bei den Forschungsorganisationen noch wenig Resonanz. Die Dinge sind inzwischen jedoch in Bewegung gekommen; unsicher ist aber noch, wieweit die Wissenschaftlichen Akademien, denen nun eine betreuende Rolle zugemutet wird, sich engagieren. Für die langfristigen materialerschließenden Projekte ist der nötige neue Rahmen noch nicht gefunden, und doch wäre es längst Zeit, neue Wege für die eigentliche geisteswissenschaftliche Arbeit zu finden, für die die Materialerschließung nur die Voraussetzungen schafft. Legt man sich einmal die Frage vor, warum Deutschland z. B. in der Ästhetik und Philosophie der Kunst im internationalen Vergleich so zurückgefallen ist, dann zeigt sich ein Grund dafür sicher darin, daß man heute einen eigenständigen Entwurf etwa zur Theorie der Lyrik oder der Architek-

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tur nicht ohne mannigfache interdisziplinäre Anregung und Belehrung, ja institutionelle Aufarbeitung der Forschungslage vorlegen kann. Die interdisziplinäre Arbeit aber fehlt. Die unumgängliche Parzellierung der Universität in kleinere Fachbereiche und das quantitative Auswuchern der Sitzungen so vieler Gremien haben das übergreifende Gespräch über Fragen der Forschung zurücktreten lassen. Inzwischen gibt es jedoch mannigfache Versuche, wieder zurückzufinden zur interdisziplinären Arbeit wenigstens im Rahmen der alten philosophischen Fakultät. Übereinstimmung besteht aber darin, daß die besonderen geisteswissenschaftlichen Formen solcher Arbeit noch nicht gefunden sind, daß z. B. die Sonderforschungsbereiche in den Geisteswissenschaften nur unter besonderen Bedingungen zum Erfolg führen. Wenn die geisteswissenschaftliche Forschung sich außerhalb der Universität in absehbarer Zeit sicherlich nicht in einem umstürzenden Maß ausdehnen wird, bleibt die Frage nach einer Forschungspolitik für die Geisteswissenschaften primär verknüpft mit der Frage der Ausgestaltung der neuen Universität. Vergleicht man unser Land mit anderen Ländern, so sehen wir in der Sowjet-Union Universitäten, die nicht viel mehr als ein Zehntel der Studenten der Fachhochschulen haben; die Forschung ist ausgelagert an Akademien, mag diese Trennung jetzt auch etwas modifiziert werden. In den USA dagegen finden wir die Einheit von Forschung und Lehre an der Universität, doch ist das Universitätssystem hochdifferenziert: die Universitäten haben einen unterschiedlichen Rang und (auch unter den hochrangigen Universitäten) einen unterschiedlich breiten Ausbau; es gibt Schwerpunkte, und auch die Aufgaben des Personals sind verschieden bestimmt. Bei uns haben auch die sog. „revolutionären" Tendenzen gemäß einer inneren Dialektik nur die Egalisierung und Nivellierung gefördert. Wenn unsere Universitäten nun über einen Leisten geschlagen werden sollen, wenn den Hochschullehrern eine möglichst einheitliche Lehrstundenzahl und dazu eine einheitliche Lehrveranstaltungstypengewichtung vorgeschrieben werden soll, dann laufen solche Reformen der Kultusbürokratie sicher auf die Bemühung hinaus, ein Kind tot zu gebären. Jurij Striedter, der aus dem Gebiet der Sowjet-Union kam und jetzt seinen Konstanzer slawistischen Lehrstuhl zugunsten einer Tätigkeit in den USA aufgegeben hat, sagte im Juli 1976 in einem Hauptvortrag auf der Jahresversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn: „Solange möglichst einheitlich an möglichst jeder möglichst gleichartig organisierten Universität möglichst jedes Fach durch einen Lehrstuhlinhaber vertreten wird, der gleichzeitig Lehre, Selbstverwaltung und Forschung betreiben soll und nach einheitlich geregelten Studiengängen Studenten für einheitlich geregelte Berufslaufbahnen — z. B. Lehrer — ausbildet, damit diese

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(falls sie Stellen bekommen) nach einheitlichen Lehrplänen Schüler ausbilden, die nach einheitlichen Prüfungsordnungen und Abitursnotenwertungen in den gleichen Kreislauf eintreten dürfen (oder nicht eintreten dürfen) — solange darf man sich nicht wundern, daß hier Forschung darbt. Man muß sich eher wundern und darf bewundern, daß sie überhaupt noch fortbesteht und sogar mit beachtlichen Einzelleistungen." Es kann kein Zweifel sein: wenn die Forschung an den Universitäten gehalten werden soll, dann muß jene Schwerpunktbildung unterschiedlicher Art, wie sie unter den günstigeren Bedingungen des Ausbaus in den sechziger Jahren begonnen wurde, unter den heutigen ungünstigeren Bedingungen fortgeführt werden. Es könnte eine Aufgabe der Stiftungen sein, durch ihren Einsatz dem Staat einen Schritt zur Schaffung von Forschungsprofessuren abzuringen; dabei ginge es nicht um irgendwelche Privilegien für irgendwelche Personen, sondern rein darum, aus unserem Forschungssystem an Leistung herauszuholen, was es hergeben könnte. Da hier Initiativen laufen, ist diese Frage in diesem Band ausgespart worden. Für die so dringliche Frage der Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses sind von verschiedenen Seiten Vorschläge ausgearbeitet worden; so wurde diese Frage hier ebenso ausgespart und nur von den einzelnen Disziplinen oder den Förderungsverfahren her in spezifischen Zusammenhängen angesprochen. Der vorliegende Band kann sowieso nur Anstöße geben wollen. In dieser seiner Unvollständigkeit sollte er jedoch sichtbar machen, daß die Sorge um die Geisteswissenschaften in unserer Republik eine kulturpolitische Aufgabe ist, die sich heute unter neuen Bedingungen stellt. Otto Pöggeler (Bochum)

Nikolaus Lobkowicz (München)

Geisteswissenschaften und Hochschulreform

Sofern man unter „Hochschulreform" die Neuregelung der Hochschulstruktur versteht, die in der Bundesrepublik ihren Anfang mit dem Universitätsgesetz des Landes Berlin aus dem August 1969 nahm und mit dem Hochschulrahmengesetz vom Januar 1976 ihren vorläufigen Abschluß fand, hat das mir aufgegebene Thema wenigstens zwei Aspekte. Einerseits waren es die Geisteswissenschaften, an Hand derer die Kritiker der „klassischen Struktur" der deutschen Universität ihre Vorwürfe und Reformvorschläge artikulierten; andererseits hat die Hochschulreform ihre nachhaltigen Auswirkungen im Bereich der Geisteswissenschaften gezeitigt und werden jedenfalls die Schwierigkeiten, welche durch die Hochschulgesetze entstanden, von den Vertretern geisteswissenschaftlicher Disziplinen am deutlichsten als Belastung und Gefährdung empfunden. Diese beiden Themen sind eng miteinander verbunden, wobei ihr Zusammenhang allerdings komplizierter ist als man zunächst meinen möchte. Denn obwohl die Leidenschaft der Hochschulreformer sich vornehmlich an der Arbeitsweise der Geisteswissenschaften entzündete und nebenbei gesagt auch die meisten Theoretiker der Hochschulreform, etwa die Sprecher der sog. „Bundesassistentenkonferenz", mehrheitlich Geisteswissenschaftler waren, sind nur Teile ihrer Kritik und ihrer Reformvorschläge in die Hochschulgesetzgebung eingegangen. Bei eingehenderer Betrachtung erweisen sich nämlich die, meisten Hochschulgesetze als das Ergebnis von drei sehr verschiedenen Tendenzen: einem Nachgeben gegenüber den eben erwähnten Kritikern, dem Versuch, zumindest ihren allzu radikalen Forderungen zu widerstehen, und der Bemühung der Kultusbürokratie, die ideologische Kritik an den Hochschulen zum Anlaß zu nehmen, eine Anzahl von Problemen zu bereinigen, die zwar in der Reformdiskussion, wie sie der Verabschiedung der Gesetze vorausging, kaum erwähnt wurden, der Kultusbürokratie jedoch teils aus langjähriger Erfahrung bekannt waren, teils von ihr angesichts der Rechtssprechung in Zulassungsfragen vorausgesehen wurden.

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Diese eigentümliche Entwicklung, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann, hat im Lauf der letzten zehn Jahre zu einem zuweilen fast komischen Frontenwechsel geführt. Während es in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre aussah, als stünden sich Sozialkritiker und Geisteswissenschaftler, Neomarxisten und Liberalkonservative, politisch engagierte Assistenten und politisch oft rat- bis ahnungslose Professoren gegenüber, verläuft die Grenzlinie heute in vielen Bundesländern einfach zwischen den Wissenschaftlern und der Kultusbürokratie, zuweilen fast schon zwischen den Hochschulen und dem Staat (wobei — etwa in den für Geisteswissenschaften neuerdings besonders aktuellen Auseinandersetzungen mit Rechnungshöfen — die Kultusbürokratie gelegentlich durchaus auch auf der Seite der Hochschulen stehen mag). Diese Spannung zwischen Hochschule und Staat (worunter letztlich immer die Landtage bzw. Senate zu verstehen sind) ist nicht zufällig gerade in denjenigen Ländern am deutlichsten, in denen die Kultusbürokratie und bei der Gesetzgebung dann auch das Parlament ursprünglich auf der Seite der Bewahrer, nicht auf jener der Kritiker standen. Gerade in diesen Bundesländern kam es nämlich zu einer Entwicklung, die man nur als „Übersteuerung" kennzeichnen kann: da dort einerseits der Schrecken über radikaldemokratische Forderungen etwa des SDS besonders ausgeprägt war, andererseits aber der Mut fehlte (und gelegentlich auch parteipolitische Opportunitätsgesichtspunkte allzusehr im Vordergrund standen), um ideologischen Ansprüchen wie jenen der „Demokratisierung", „Mitbestimmung", „Verantwortung gegenüber der Gesellschaft" oder auch „Transparenz" grundsätzlich abzuwehren, sicherte man Teilzugeständnisse an die Kritiker durch eine Stärkung der staatlichen Bürokratie ab, wobei dann die letztere — von ideologischen sowie oft überhaupt von politischen Perspektiven weitgehend unbelastet 1 — ihre neue Macht zu einer oft fast rücksichtslos anmutenden Durchsetzung aller hochschulgesetzlichen Details sowie einer zunehmend eingehenden Kontrolle aller Hochschulbereiche einsetzte. Die

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Es wäre eine eigene Untersuchung wert, welche Folgen die Unkenntnis ideologischer Zusammenhänge seitens der Schul- und Hochschulabteilungen in Kultusministerien der sog. „B-Länder" in der Bildungspolitik hat. Gelegentlich kann man sich nämlich nicht des Eindruckes erwehren, daß diese Abteilungen etwa über staatliche Prüfungsordnungen Ansätze verbreiten, die für den Kenner eindeutig marxistischen Ursprungs sind; dieselben Abteilungen, die Hilfskräfte auf ihre Verfassungstreue überprüfen lassen und den Hochschulen die Überlassung von Räumen an K-Gruppen untersagen, erweisen sich gelegentlich als die maßgeblichen Förderer der Soziologisierung des Geschichtsunterrichts und einer im Grunde nur noch marxistisch zu rechtfertigenden Egalisierung und Intellektualisierung der Didaktik.

Geisteswissenschaften und Hochschulreform

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Folge ist, daß während noch vor fünf Jahren der politische und wissenstheoretische Standort eines Assistenten oder Professors leicht an seinem Verhältnis einerseits zur traditionellen Institution Hochschule und andererseits zum Staat abzulesen war, es heute oft zu einer Solidarisierung aller Hochschulmitglieder gegenüber der staatlichen Planung und Kontrolle gekommen ist, bei welcher Wissenschaftstheotie gar keine und Partei oder weltanschaulich orientierte Politik nur eine geringe Bedeutung haben. Daß dieser Zustand an manchen Hochschulen insbesondere der CDU/CSU-regierten Länder dazu führt, daß Aktionen kommunistischer Gruppen auch von konservativen Professoren schon bald mit schmunzelnder Sympathie verfolgt werden, sei nur nebenbei bemerkt. Angesichts einer seltsamen Instinktlosigkeit staatlicher Instanzen macht sich bei den ehemaligen Bewahrern gelegentlich die auf lange Sicht höchst bedenkliche Mentalität „Recht geschieht dem Staat . . . " breit; dies ist nur dort eindeutig nicht der Fall, wo wie in Berlin oder an der Philipps-Universität zu Marburg linksradikale Tendenzen so machtvoll geworden sind, daß die Frontlinie zwischen Hochschule und Staat oft regelrecht zwischen Linksradikalen bzw. ihnen zuneigenden Opportunisten und rechtsstaatlich Denkenden zu verlaufen scheint.

I. Die sog. „Studentenrevolution" der späten sechziger Jahre und die durch sie geförderte, in mancher Hinsicht überhaupt erst veranlaßte Renaissance linksradikaler, insbesondere marxistischer Ideen kann hier nicht weiter erörtert werden. Es muß genügen, in wenigen Stichworten darauf hinzuweisen, daß diese Entwicklung vor allem in den geisteswissenschaftlichen Massenfächern wirksam geworden ist, daß sie aus Gründen, die der bisherigen deutschen Gestalt der Geisteswissenschaften immanent sind, die letzteren weitgehend unvorbereitet antraf, und daß sie schließlich mit einer verspäteten Rezeption angelsächsischer und französischer Wissenschaftsansätze zusammenfiel, welche die Geisteswissenschaften fachimmanent in Frage zu stellen schienen. 1. Sofern er nicht die Organisation der Universitäten, sondern die Inhalte der Forschung und Lehre betraf, lautete der Vorwurf linker Kritiker, an deutschen Hochschulen würden alle auch nur potentiell gesellschaftskritischen Themen ausgespart. Die Ausdrücke „Gesellschafts-" bzw. „Systemkritik" wurden dabei in einem ebenso diffusen wie einseitigen Sinne verwendet. Als gesellschaftskritisch wurden alle Themen angesehen, die das in den fünfziger Jahren entstandene Selbstverständnis der Bundesrepublik als Teil der sog. „freien" westlichen

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Welt in Frage stellen konnten; sie reichten von Fragen nach der Überlebensfähigkeit der angeblich „spätkapitalistischen" Wirtschaftsordnung über Anmerkungen zum Ursprung des Nationalsozialismus und den Ursachen des Verhaltens deutscher Hochschullehrer in den Jahren 1 9 3 3 45 2 bis zu einer Kritik an Eigentümlichkeiten hochindustrialisierter Gesellschaften überhaupt. Die Einseitigkeit dieser Kritik bestand u. a. darin, daß sie sich einfach gegen „das Bestehende" wandte und ihm gegenüber fast alles Mögliche oder auch nur Denkbare bevorzugte; ihre Uneinheitlichkeit wurzelte im Umstand, daß dem Bestehenden nicht eine konkrete Alternative gegenübergestellt wurde, sondern alle von der Realität abweichenden Möglichkeiten, sofern sie nur als Abstrakta bejaht werden konnten, unter Schlagworten wie „Sozialismus" zusammengefaßt wurden. Nicht zufällig ließen sich die kritischen Auslassungen etwa Herbert Marcuses z. T. als sozialistisch, z. T. als radikaldemokratisch, z. T. aber auch einfach als „bürgerlich-konservativ" identifizieren. Man würde erwarten und meinte gelegentlich auch feststellen zu können, daß diese Kritik vor allem die bis dahin in der Bundesrepublik herrschende Philosophie, zumal die „existentialistisch" orientierte Phänomenologie, sowie die Sozial Wissenschaften, etwa eine sich als engagierte Demokratietheorie verstehende Politikwissenschaft und eine mehr geistesgeschichtlich orientierte Soziologie traf. In Wirklichkeit jedoch ging diese Kritik von bestimmten philosophischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen aus und richtete sie sich vornehmlich gegen diejenigen Disziplinen, die historisch vorgingen: die Geschichtswissenschaften selbst, die historisch vorgehenden Sprach-, Literatur- und (in geringerem Ausmaß) Kunstwissenschaften, die Philosophiegeschichte. Für dieses seltsame Phänomen, daß also die Auseinandersetzung sich weniger innerhalb der (systematischen) Philosophie und den Sozialwissenschaften 2

In diesem Zusammenhang wurde meist verschwiegen, daß es weit eher die Studenten denn die Professoren waren, die in den dreißiger Jahren dem Nationalsozialismus verfielen. Schon 1931 stellte ein Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes den Vorsitzenden der Deutschen Studentenschaff, und schon im Wintersemester 1929/30 erzielte der NSDStB bei AStA-Wahlen in Erlangen 76%, in Breslau 71%, in Berlin, Gießen, Greifswald, Rostock, Jena und Königsberg jeweils über 50%, und auch in Bonn, wo der Studentenbund am schlechtesten abschnitt, immerhin 19%. Sofern die Professoren Uberhaupt so etwas wie eine „kollektive Schuld" trifft, ist sie jener der späten 60-er Jahre durchaus vergleichbar: viele Professoren entschuldigten die Ubergriffe nationalsozialistischer Studenten als jugendlichen Übermut und Undiszipliniertheit. Vgl. M. ZöUer, Zwischen Vernunftsrepublikanismus und Bekenntniswissenschaft. In: Bilanz einer Reform, hrsg. v. Hochschulverband in Zusammenarbeit mit H.-B. Härder u. E. Kaufmann, Bonn-Bad Godesberg 1977, 374 ff.

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abspielte als vielmehr von diesen Fächern ausging und sich gegen die historisch arbeitenden Disziplinen - also die eigentlichen Geisteswissenschaften — richtete, gibt es zwei einander ergänzende Erklärungen. Erstens war die Kritik der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wesentlich eine Hypertrophie abstrakt-systematischen Philosophierens und metatheoretisch sozialwissenschaftlichen Denkens; man erinnere sich etwa an den sog. „Positivismusstreit", der zwar auf einer soziologischen Tagung begann, jedoch sogleich eine Abstraktionshöhe erreichte, der viele empirisch arbeitenden Soziologen kaum noch folgen konnten und die von ihnen als eine wissenschaftstheoretische, die Facharbeit des Soziologen kaum berührende Auseinandersetzung empfunden wurde. So neuartig die politischen Implikationen von dergleichen Diskussionen (etwa der neuentfachten, allseits betriebenen Werturteilsdebatte) waren, boten sie allerdings wissenschaftstheoretisch interessierten Philosophen und an Metatheorien arbeitenden Soziologen nichts grundsätzlich Neues; in dieser Hinsicht sprengten die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen nicht den für die deutsche Philosophie seit der Hegel-Renaissance und die theoretische Soziologie seit Max Weber charakteristischen Rahmen. Zu einer Sprengung traditioneller Denkweisen kam es erst, als der Funke dieser Auseinandersetzungen auf die historisch orientierten Fächer übersprang und deren Vorgehen insofern radikal in Frage stellte, als sie zur Ersetzung historischer Untersuchungen durch wissenschaftstheoretische Reflexionen und sozialwissenschaftliche Analysen herauszufordern schien. Zweitens erwiesen sich jedoch gerade die historisch arbeitenden Disziplinen als erstaunlich ideologie-resistent und riefen sie deswegen die besondere Entrüstung der Kritiker hervor. Mit einem Philosophie-Dozenten konnte man sich darüber unterhalten, ob Marcuses Deutung der Romantik als eine „affirmative Kritik" der Gesellschaft oder Kojéves marxistische Interpretation der Herr-Knecht-Parabel in Hegels Phänomenologie des Geistes zutrafen oder nicht; der Politikwissenschaftler war bereit, die Vorzüge und Nachteile der Demokratie .westlichen Typs gegenüber den Volksdemokratien zu diskutieren; dem Soziologen konnte man Teilzugeständnisse hinsichtlich der bildungspolitischen Unterprivilegierung der Arbeiterschichten entlocken. Der Historiker dagegen konnte mit der Behauptung, den „Entwicklungstendenzen der Geschichte" komme eine ,Rohere Wirklichkeit... als den .Tatsachen' der bloßen Empirie" zu 3 , oder mit der Unterstellung, die Geschichte sei „aus dem realen Leiden gewoben" 4 , weswegen sie als ein „index falsi" 3 4

G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1 9 2 3 , 1 9 8 . Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, 312.

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entlarvt werden müsse 5 , wenig anfangen; dergleichen Analysen waren für ihn Philosophie, höchstens noch eigenartige Soziologie, so daß die Aufforderung, sich an ihnen zu orientieren, der Zumutung gleichkam, seine Fachdisziplin durch eine andere zu ersetzen. Ebensowenig konnte z. B. der Philologe mit der Herausforderung anfangen, die Rolle von Feen in Shakespeares Dramen oder ein Gedicht von Rilke danach zu beurteilen, ob sie den emanzipatorischen Tendenzen ihrer Zeit dienten oder sie zu unterdrücken halfen; abgesehen davon, daß zu dergleichen Fragen kaum Sekundärliteratur vorlag, erschienen sie dem Anglisten, Romanisten oder Germanisten als bloße Ablenkungen von ihrem literaturwissenschaftlichen Geschäft. Die Folge war eine vehemente Kritik an den historischen Geisteswissenschaften. Während die systematische Philosophie und die Sozialwissenschaften sich als diskussionsfähig und in gewissem Ausmaß auch diskussionsbereit zeigten, erwies sich die „Umfunktionierung" der geschichtlich orientierten Disziplinen als weitgehend fruchtlos, obwohl doch Marx und Engels behauptet hatten, sie würden „nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft von der Geschichte" 6 kennen, ja die Geschichte sei ihr „Ein und Alles" 7 . Es kam hinzu, daß Massenfächer wie die Neuere Geschichte und die Germanistik aufgrund der großen Zahlen für eine ideologische Mobilisierung der Studenten besonders anfällig waren und daß es überdies linksorientierten Studenten besonderen Spaß bereitete, ihre Professoren mit Texten vergessener marxistischer, wenig bekannter ausländischer und in der Bundesrepublik selten gelesener ostdeutscher Autoren zu überraschen. Da sich einige Verlage nicht scheuten, an der modischen Kritik des Bestehenden Geld zu verdienen und jeden noch so unbedeutenden und abstrusen Text aus der Geschichte der marxistischen Theorie neu aufzulegen, waren viele Hochschullehrer bald nicht mehr in der Lage, die einschlägigen Neuerscheinungen, die überdies fast ausnahmslos wissenschaftlich höchst unergiebig waren, früher als linke Studenten zu lesen. 2. Es wäre allerdings unehrlich, nicht hinzuzufügen, daß die Ideologie-Resistenz insbesondere der historischen Geisteswissenschaften keineswegs nur in dem ihnen eigenen Vorgehen bzw. darin wurzelten, daß der Marxismus ungeachtet seiner Betonung der Geschichte an historischen Fakten immer nur insofern interessiert war, als sie seine Theorien 5

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ebd., 309, 313; vgl. M. Horkheimer u. Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, 266; H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1970, 247 ff. MEWIII, 18. ebd., I, 545.

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zu bestätigen schienen. Die spezifisch deutsche Tradition der „Geistesgeschichte" führte es auch mit sich, daß viele Geisteswissenschaftler wenig an sozialwissenschaftlichen Aspekten ihrer Themen interessiert waren und sich deswegen auch mit denjenigen Aussagen des Marxismus, die für ihr Fach grundsätzlich hätten von Bedeutung sein können, kaum befaßt hatten; auch hatte es in der Bundesrepublik im Gegensatz etwa zu Frankreich und Großbritannien nur wenige Wissenschaftler von Rang gegeben, die sich offen zu marxistischem Gedankengut bekannten und mit denen man sich hätte auseinandersetzen müssen. Selbst Philosophen und Politikwissenschaftler waren bis Mitte der 60-er Jahre oft nur mit dem Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung, wie er in den 50-er Jahren von G.A. Wetter und I.M. Bochenski aufgearbeitet worden war, vertraut und kannten darüber hinaus höchstens noch die sog. „humanistische Philosophie" des jungen Marx, die überdies mehr von ihren hegelschen und linkshegelianischen Voraussetzungen als von ihren sozialdemokratischen und kommunistischen Folgen her gedeutet wurde. Mit wenigen Ausnahmen begannen sich deutsche Geisteswissenschaftler mit dem Marxismus erst auseinanderzusetzen, als sie von ihren Studenten dazu gezwungen wurden; dies war umsomehr der Fall, als die beiden einzigen älteren deutschen Marxisten von unbestrittenem Rang - Adorno und Horkheimer — sich zwar ständig auf Marx beriefen, jedoch nicht sozialwissenschaftlich, sondern fast ausschließlich ideologiekritischideengeschichtlich vorgingen. Darüber hinaus wird man der deutschen Geisteswissenschaft nicht den Vorwurf ersparen können, bis vor etwa fünf, zehn Jahren in ihrem Selbstverständnis etwa bei Dilthey stehengeblieben zu sein. Gewiß hatten Heidegger und später Gadamer einen beträchtlichen Einfluß auf ideengeschichtliche Untersuchungen und mußten sich z. B. auch klassische Philologen mit ihnen häufig auseinandersetzen; aber zur Frage des Warum und Wozu und zu eigentlich wissenschaftstheoretischen Fragen der Geisteswissenschaften hatte zumindest Heidegger wenig beigetragen. Zwar befleißigten sich manche Geisteswissenschaftler einer heideggerschen Diktion; doch erstens waren dies nicht immer gerade die Kompetentesten und zweitens blieb es dennoch ständig bei der vagen Vorstellung, die Geisteswissenschaften hätten es mit einem „Geist" zu tun, dessen Seinsweise geschichtlich ist und dessen Gegebenheiten mithin nicht erklärt, sondern verstanden werden müßten. Was genau Verstehen sei, worin die Seinsweise und Einheit des zu untersuchenden Geistes bestehe, inwiefern die Geisteswissenschaften nicht retardierte „Naturwissenschaften von Kulturphänomenen" seien — solche und ähnliche Fragen wurden weit eher im Rahmen der analytischen Philosophie, angelsächsischer Länder als in der Bundesrepublik erörtert, wo man sich

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einerseits auf die Diltheysche Tradition berief, andererseits — völlig unberechtigt ist dieser Vorwurf der Frankfurter Schule nicht - „positivistisch" im Detail verlor. 3. Die Auswirkungen der linken Kritik der Geisteswissenschaften wurde noch erheblich dadurch kompliziert, daß in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine Rezeption insbesondere der analytischen Wissenschaftstheorie, aber auch des französischen Strukturalismus nachgeholt wurde. Diese Rezeption ging nicht zufällig zum großen Teil von den marxistischen Kritikern selbst aus; denn obwohl etwa die analytische Philosophie den Marxismus gerne als typischen geisteswissenschaftlichen „Historismus" abtat, war die Stoßrichtung ihrer Kritik an den Geisteswissenschaften deijenigen des Marxismus insofern ähnlich, als auch sie die Ersetzung „verstehender Geisteswissenschaften" durch „erklärende Sozialwissenschaften" propagierte. Diese Rezeption auf linken Umwegen hatte zur Folge, daß man sich in Deutschland leidenschaftlich mit Konzepten auseinandersetzte, die in ihren Ursprungsländern, z. T. sogar von ihren Autoren selbst längst als überholt durchschaut worden waren (etwa die Verwendbarkeit von Hempels „covering-law-model" in den Geschichtswissenschaften), sowie mit Autoren, die man in ihrem Ursprungsland nie wirklich ernstnahm (z. B. Althusser und Sebag). Auf diese Weise gelang es in der Bundesrepublik linken Autoren, einerseits ihre eigene Deutung bestimmter Geisteswissenschaften als die angeblich einzig gangbare Alternative zu „positivistischen" Positionen aufzubauen und andererseits konservativere Geisteswissenschaftler vermutlich noch längere Zeit davon abzuhalten, sich mit durchaus ernst zu nehmenden Alternativ-Auffassungen über ihr eigenes Tun zu befassen. Der Ausdruck „es gelang" soll natürlich nicht nahelegen, hinter diesem Vorgang hätte eine Absicht gestanden; höchstens wird man vermuten dürfen, daß angebliche Fortschritte wieder einmal wirkliche verzögert haben.

II. Daß gerade die Geisteswissenschaften von der sog. „Hochschulreform" am härtesten getroffen wurden, hat u. a. drei Ursachen: erstens war das Selbstverständnis der klassischen deutschen Universität vornehmlich an Geisteswissenschaften orientiert und erlebten deswegen die Vertreter geisteswissenschaftlicher Fächer die Zerstörung der alten Universitätsstruktur bewußter als andere Universitätsmitglieder als das Verschwinden einer ihnen gemäßen geistigen Heimat; zweitens ist der Forschungsbegriff, der in die Universitätsgesetze Eingang gefunden hat, an der Großforschung von Disziplinen orientiert, die nomologisch oder doch

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„empirisch-analytisch" vorgehen; und drittens schließlich hat die Auflösung der Fakultäten in Fachbereiche bei den Geisteswissenschaften eine Neigung zur fachlichen Enge hervorgerufen, die geisteswissenschaftlichem Denken früher fremd war und in den Geisteswissenschaften das Umsichgreifen wenig durchdachter, das traditionelle Vorgehen in Frage stellender Methoden fördert. 1. Obwohl Wilhelm von Humboldt, als er — erst fünf Monate Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Preußischen Ministerium des Innern — im Sommer 1809 die Errichtung der Universität Berlin beantragte, sehr wohl auch an die Berliner Sternwarte, den Botanischen Garten und die Medizinischen Institute dachte (und überdies die „Humboldt'sche Universität" von Anfang an viel berufsorientierter war, als man gemeinhin meint), war sein Universitätsideal unmißverständlich von einer Sicht geprägt, die wir heute als „geisteswissenschaftlich" bezeichnen würden. Es ist gewiß kein Zufall, daß dieses Ideal keineswegs von einem typischen deutschen Beamten, sondern von einem Mann entwickelt wurde, den man wohl am besten einerseits als philosophierenden Philologen, andererseits als „homme des lettres" charakterisieren könnte; und daß es in einer Zeit entstand, in welcher eben erst jene neue, in andere Sprachen kaum übertragbare Bedeutung von „Geist" aufgetaucht war, die es später Dilthey erlaubte, den Ausdruck „Geisteswissenschaften" zu prägen. In dieser Sicht und intellektuellen Atmosphäre wurden die an der Universität natürlich ebenfalls von Anfang an beheimateten Naturwissenschaften nur als untergeordnete Bausteine einer umfassenden Wissenschaft gesehen, welcher ebenso die Professoren wie die Studenten einem Ideal „zubildet" und dadurch — ohne daß die erzieherische Intention penetrant würde — die , .moralische Cultur der Nation" bewirkt. 8 Deswegen wurde das Selbstverständnis der deutschen Universität vornehmlich von Philosophen geprägt, die — man denke etwa an Hegel — Wissenschaft weniger als die zwar intellektuell erregende, aber weiter unverbindliche Lösung von Detailproblemen, sondern vielmehr als ein in sich gegliedertes organisches Menschheitsunternehmen verstanden, in welchem der Geist als eine die Natur voraussetzende Wirklichkeit, die wesenhaft geschichtlich und vom Sprachlichen her verstanden wird, im Zentrum steht. Zwar war von dieser Humboldt'schen Universitätsidee schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit weniger vorhanden, als heute behauptet wird; und traten schon vor der Jahrhundertwende Gelehrte wie Mommsen oder v. Harnack auf, die unter dem Eindruck des auch die Universitäten ein-

» W. v. Humboldt. Werke, Darmstadt 1964 ff, Bd. IV, 255-266.

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dringenden Arbeits- und Denkstils des hochindustriellen Zeitalters erschrocken von einer „Großwissenschaft" und einem „Großbetrieb der Wissenschaft" sprachen. 9 Dennoch übernahmen die Philosophische Fakultät und damit die Geisteswissenschaft vom Anfang des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts jene Rolle, die an Universitäten früher die Theologie innehatte und die heute wohl vornehmlich den theoretischen Naturwissenschaften und den Wissenschaften von der Organisation wirtschaftlicher, sozialer und staatlicher Bereiche zukommt, nämlich der prägende Mittelpunkt zu sein, in dem und von dem aus sich die Universität versteht. So ist es kein Wunder, daß die Vertreter jener Disziplinen der philosophischen Fakultäten, die noch geisteswissenschaftlich arbeiteten, die neue Hochschulreform am schmerzlichsten empfanden. Sie hatten sich über die klassische deutsche Universität am meisten Gedanken gemacht, hatten sich als ihre Mitte verstanden und sie geprägt — und befanden sich nun plötzlich in einer Institution, die sich aller Traditionen entblößte, auf eine eigentümliche Weise technokratisch-geschichtslos wurde und so tat, als ob alle wesentlichen Fragen juristischer und administrativer Natur wären. Allerdings wird man sich fragen dürfen, ob die Vorstellung vieler Geisteswissenschaftler, die Hochschulreform hätte „ihre" Universität zerstört, nicht übersieht, daß es diese von den Geisteswissenschaften geprägte deutsche Universität seit der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts nur noch auf dem Papier, genauer: bei Festveranstaltungen gab. So wenig die Hochschulreform dazu diente, wirklich anstehende Probleme zu lösen, und so berechtigt die Klage sein mag, die Folgen der Hochschulreform wären fragwürdiger als alles, was sie heraufbeschworen hat, wird man dennoch kaum leugnen können, daß die Philosophischen Fakultäten schon längere Zeit kaum mehr in der Lage gewesen waren, die Universität in der traditionellen Weise zu beeinflussen. Dazu war das Gewicht der aus ihr ausgewanderten Naturwissenschaften zu groß; und war vor allem das Eindringen anderer als geisteswissenschaftlicher Denkweisen in die Philosophischen Fakultäten selbst zu gewichtig. 2. Seit die Hochschulreform im wesentlichen als abgeschlossen gelten darf, 10 ist von deutschen Hochschullehrern immer häufiger die Klage 9 10

Vgl. R. Riese, Die Hochschule auf dem Weg zum wissenschaftlichen Großbetrieb, Stuttgart 1977. Wenn es im Berliner Universitätsgesetz in § 2 heißt, Hochschulreform sei „eine ständige Aufgabe des Landes und der Universitäten", so ist - was immer damit gemeint sein mag - nicht von Hochschulreform in dem eingangs definierten Sinne die Rede. Persönlich zweifle ich daran, daß die Autoren des Gesetz-

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zu hören, die Forschung komme an den deutschen Universitäten zu kurz. Diese Klage ist allerdings nur z. T. durch die Hochschulreform veranlaßt; neben der Erhöhung der Lehrdeputate durch die sog. „Regellehrverpflichtung" denkt man dabei insbesondere an staatliche Sparmaßnahmen, die sich u. a. in der Kürzung von Sachmitteln der Institute und Streichungen von Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs auswirken. Allerdings haben auch diese Entwicklungen die Geisteswissenschaften härter als andere Fächer getroffen. Im Gegensatz zu Naturund Sozialwissenschaften war es in den Geisteswissenschaften seit langem üblich, Vorlesungen zu halten, die einerseits nahezu druckreif waren und andererseits — wenn überhaupt — nur in einem Turnus wiederholt wurden, der sich über viele Jahre erstreckte; dieserart „akademische Lehre" wurde durch die Erhöhung der Regellehrverpflichtung auf acht Stunden vielerorts radikal in Frage gestellt. An angelsächsischen und französischen Universitäten von nennenswertem Rang beträgt die Lehrverpflichtung von Professoren der Graduate Schools (und die deutsche Universität verstand sich in fast allen ihrer Fakultäten immer eher als eine Graduate School denn ein College) selten über sechs und häufig nur drei oder vier Wochenstunden. Auch die staatlichen Sparmaßnahmen haben sich in den Geisteswissenschaften bedrängender als in anderen Disziplinen ausgewirkt. Viele geisteswissenschaftliche Institute sind so klein und so geringfügig ausgestattet, daß die Streichung auch nur einer Assistentenstelle oder die Kürzung des Institutsetats um zwei-, dreitausend Mark einer Reduzierung um oft mehr als 25% gleichkommt und die Heranziehung auch eines einzigen weiteren Nachwuchswissenschaftlers um ein halbes Dezenium oder länger verzögert. Was andererseits die großen sprachwissenschaftlichen und historischen Fächer betrifft, so hatten sie in den letzten zehn, fünfzehn Jahren der Versuchung nachgegeben, auf den Studentenstrom durch eine erhebliche Vergrößerung der Zahl der Nachwuchswissenschaftler zu reagieren; dies war schon insofern bedenklich, als es vielfach zu einer Senkung der Qualifikationsanforderungen führte — und wirkt sich nun seit bald einem Jahr in manchen Bundesländern dahingehend aus, daß auch hochqualifizierte, häufig schon habilitierte junge Wissenschaftler von den Universitäten gekündigt werden müssen. Ähnliche Entwicklungen gibt es natürlich auch in den Juristischen, Medizinischen und Naturwissenschaftlichen Fachbereichen; doch wäh-

entwurfes sich bei dieser Formulierung überhaupt etwas Konkretes vorstellten, sondern nur auch im Universitätsgesetz ihrer Meinung Ausdruck geben wollten, daß Reform (neuerdings heißt es Innovation) so etwas wie ein „Wert an sich" sei.

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rend ein Jurist, ein Arzt, ein Chemiker oder Physiker noch vergleichsweise leicht einen seiner Ausbildung gemäßen Beruf außerhalb der Universität finden kann, steht ein Byzantinist, ein vorderasiatischer Archäologe, ein Altphilologe, aber auch ein spezialisierter Romanist, Anglist oder Germanist (der oft nicht einmal ein Staatsexamen hat und deswegen nicht in den Schuldienst übernommen wird) buchstäblich auf der Straße. Doch hat sich ohne Zweifel auch die Hochschulreform zum Nachteil der geisteswissenschaftlichen Forschung ausgewirkt. Auch wenn man den durch die Hochschulgesetze herbeigezwungenen Sitzungseifer (der naturgemäß die Karriere des freudig Verwaltenden, nicht jene des primär an seinem Fach Interessierten fördert) übersieht, sind es insbesondere die Forderungen nach curricularer und organisatorischer Planung, die — wenn auch auf schwer vermittelbare Weise — den Geisteswissenschaften eine ihnen fremde und sie überfordernde Aufgabe aufbürden. Natürlich ist auch in philologischen und historischen Fächern ein straffes Curriculum denkbar. Doch umso bewußter eine Disziplin geisteswissenschaftlich arbeitet, umsomehr wird der Student in einen Denkstil eingeführt, der schwer mit der Vorstellung vereinbar ist, es gebe einen verbindlichen Kanon von Veranstaltungen, die bei einfach Erlernbarem ansetzen, zu komplexeren Sachverhalten hinführen und schließlich in der Behandlung von Detailfragen ihre Vollendung finden; dies kommt schon darin zum Ausdruck, daß in den Geisteswissenschaften die Einfuhrungsveranstaltungen ungleich mehr Wissen und didaktisches Geschick voraussetzen als Seminare für Fortgeschrittene. Es kommt hinzu, daß in den meisten Geisteswissenschaften nur schwer ein Konsensus darüber herbeizuführen ist, welcher Lehrstoff elementar und welcher fortgeschritten ist; auch im Ausland, etwa in den Vereinigten Staaten, sind die historischen Disziplinen diejenigen, die sich mit curricularen Anforderungen am schwersten tun. Schließlich geht man wohl nicht in der Feststellung fehl, daß Geisteswissenschaftlern Detailfragen der Verwaltung, Organisation und Planung fremd sind — jedenfalls sehr viel fremder als Natur- und Sozialwissenschaftlern, deren Forschung heute eine gut organisierte Teamarbeit fast unvermeidlich erscheinen läßt. Hätte Humboldt nicht wie ein Geisteswissenschaftler gedacht, wäre ihm schon zu seiner Zeit kaum eingefallen, als einen Wesenscharakter der Wissenschaft und des Wissenschaftlers die „Einsamkeit" zu bezeichnen. Darüber hinaus läßt sich zeigen, daß die Landeshochschulgesetze und das Hochschulrahmengesetz einen Forschungsbegriff voraussetzen, der zwar nicht unbedingt an den Naturwissenschaften, jedoch eindeutig an Disziplinen orientiert ist, die empirische Großforschung anstreben. Zu-

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nächst einmal fällt auf, daß die Landeshochschulgesetze ohnedies kaum etwas über Forschung zu sagen haben. Gelegentlich, etwa im Berliner und im Baden-Württembergischen Hochschulgesetz werden Institute als Stätten der Forschung und Lehre umschrieben, und häufig heißt es, die eigentliche Verantwortung für die Lehre und Forschung liege bei den Fachbereichen; sonst ist jedoch weit mehr von der Verwaltung von Forschungsmitteln als von der Forschung selbst die Rede. Dies könnte man wohlwollend so interpretieren, daß die jeweiligen Landesgesetzgeber neben der immer verschulter verstandenen Lehre nicht auch noch die Forschung normieren wollten. Doch verrät diese Abstinenz auch die Vorstellung, daß zwar gewiß an Universitäten auch Forschung betrieben werden dürfe und solle, daß sie jedoch nichts mit der Lehre zu tun habe; wo versucht wird, Forschung und Lehre aufeinander zu beziehen, kommt es zu fast blödsinnigen und jedenfalls völlig inhaltslosen Aussagen wie im § 9 des Baden-Württembergischen Hochschulgesetzes von 1973: „Die Universitäten vereinigen Forschung und Lehre im Dienste an den Wissenschaften". 11 Statt dessen ist in fast jedem Landeshochschulgesetz von Forschungsschwerpunkten und Forschungsberichten die Rede — Begriffe, mit denen Geisteswissenschaftler angesichts ihrer Arbeitsweise noch sehr viel weniger als Natur- oder Sozialwissenschaftler anzufangen wissen. Nirgends wird auch nur angedeutet, daß in bestimmten - vor allem eben den geisteswissenschaftlichen — Fächern eine kompetente Lehre gerade in den Lehrveranstaltungen für Anfänger eine Forschung voraussetzt, in welcher das Aufarbeiten schon vorliegender Forschungsergebnisse fast unzertrennlich mit der Entdeckung „neuer Wahrheiten" verbunden ist; nirgends wird daraufhingewiesen, daß in einzelnen Fächern Wissensvermittlung, didaktisches Geschick und eine Darstellungsgabe, die fast an diejenige eines Künstlers erinnert, oft wichtiger ist als die Erörterung bislang unerforschter Gebiete. Wie schwierig es ist, diese für die Geisteswissenschaften wesentliche Einheit von Lehre und Forschung, von Inhalt und Form, von Wissensvermittlung und Darstellung auch nur anderen Fachvertretern zu erklären, wird immer wieder in universitätsinternen Diskussionen über Kompetenzen und Rechte wissenschaftlicher Mitarbeiter deutlich; während in den Natur- und in geringerem Ausmaß auch in den Sozialwissenschaften der Assistent als Gehilfe und Geselle gesehen wird, dem niemand eine „selbstverantwortliche Lehre" überlassen würde, sehen die meisten Gei-

11

Ich zitiere durchwegs nach dem Bd. XXVIII der von der WRK herausgegebenen Reihe Dokumente zur Hochschulreform: Hochschulrahmengesetz Hochschulgesetze der Länder der Bundesrepublik. Stand Juli 1976. BonnBad Godesberg 1976.

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steswissenschaftler in „ihren" Assistenten jüngere Kollegen, die im Grunde nichts anderes tun als sie selbst und bloß noch etwas mehr Erfahrung benötigen. Wie denn überhaupt einer der mißlichsten Aspekte der Hochschulreform die extreme Vereinheitlichung der Stellung des wissenschaftlichen Mitarbeiters ist; ebenso dem Gesetzgeber wie der Kultusverwaltung ist völlig entgangen und entgeht immer noch, daß ein Praktikum, in dem künftigen Tierärzten beigebracht wird, wie man Hunden Ohren putzt, grundlegend von einem Grundkurs über die aristotelische Ethik oder einem Proseminar über die Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges verschieden ist. Erst das Hochschulrahmengesetz und die inzwischen vorliegenden Entwürfe zur Anpassung der Landeshochschulgesetze (die hier weiter nicht berücksichtigt werden können) äußern sich etwas ausführlicher über Forschung. Doch auch im Hochschulrahmengesetz ist von Forschung in einer Weise die Rede, die den Geisteswissenschaftler fast in gar keiner Weise daran erinnert, was er als Forscher tut. Da ist die Rede von der Organisation des Forschungsbetriebes, der Abstimmung von Forschungsvorhaben und der Bildung von Forschungsschwerpunkten: wie läßt sich dies auf eine Habilitationsarbeit über die Genesis des Nationalismus in Südosteuropa, einen Aufsatz über die Dichtung von T.S. Elliot oder eine Untersuchung über die Begriffe, welche Renaissancehumanisten bei cfer Darstellung der Politik Timurs gebrauchten, anwenden? In den Geisteswissenschaften gibt es mit wenigen Ausnahmen keinen „Betrieb", der zu organisieren wäre; hat die Abstimmung von Forschungsvorhaben fast ebensowenig Sinn wie die Abstimmung unter Dichtern oder Bildhauern; sind Forschungsschwerpunkte entweder höchst künstliche Zusammenfassungen oder eine Einladung zur Gschaftlhuberei an Personen, die ihren Mangel an kreativer Produktivität und oft auch einfach ihre Einfallslosigkeit und Faulheit hinter Großprojekte verstecken müssen, bei deren Abschluß man dann endlich „wissenschaftlich bewiesen hat", was jedermann ohnehin wußte. Auch der Abschnitt über die „Forschung mit Mitteln Dritter" orientiert sich an Großforschung mit Ergebnissen, die jederzeit empirisch überprüfbar sind und dann ad acta gelegt werden können: sieht man von der Edition von Gesamtausgaben und Lexika ab (die ohnedies eher in Akademien als an Universitäten vorbereitet werden), dienen dem Geisteswissenschaftler Drittmittel höchstens zur Anschaffung von Büchern, zur Finanzierung von Reisen oder zur Anstellung einer Hilfskraft; dennoch hat auch er „zu besorgen", daß seine aus Drittmitteln finanzierten Forschungsvorhaben nicht die Aufgaben der Hochschule beeinträchtigen und müssen die ihm von einem Spender zur Verfugung gestellten Mittel von der Hochschule verwaltet werden — was bei den privaten Stiftun-

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gen und Universitätsgesellschaften berechtigterweise die Sorge aufkommen läßt, ob nicht eines Tages die staatlichen Zuwendungen um die Summen gekürzt werden könnten, die sie zur Verfügung stellten. Wiederum könnte man einwenden, der Gesetzgeber sei eben nur daran interessiert gewesen, die Finanzierung und Auswirkung von Großforschung zu kontrollieren. Doch erstens ist es schon höchst bedenklich, wenn Hochschulgesetze von Forschung dann und nur dann sprechen, wenn diese viel kostet und allerlei Organisieren mit sich führt; damit wird der naiven Vorstellung Vorschub geleistet, wesentliche Forschung würde nur dort geleistet, wo ein großer Apparat entsteht. Zweitens wirken sich dergleichen organisatorische Fehlkonzepte langfristig auch auf diejenigen Fächer aus, auf welche sie ursprünglich gar nicht anwendbar erschienen; ein Beispiel ist die wenig bekannte Tatsache, daß die amerikanische Politikwissenschaft ihre behavioristischen Strömungen fast ausschließlich dem Umstand verdankt, daß der Staat größere Mittel für „behavioral studies" in der Psychologie zur Verfügung stellte und Politikwissenschaftler nach Wegen suchten, sich von diesem Kuchen ein Stück abzuschneiden. Die unangemessene Hervorhebung der Kosten, der Organisation und der Verwaltung von Forschung ist für Geisteswissenschaften — die billigsten aller Universitätsdisziplinen - nicht zuletzt insofern eine Gefahr, als sie die Versuchung mit sich führt, Projekte zu konzipieren und sich an Verfahren zu orientieren, bei denen man — auch unter Kollegen — stolz darauf hinweisen kann, man habe viel Geld erhalten und „organisiere Wissenschaft". Solche Projekte und Verfahren mögen zwar dem Zeitgeist entsprechen und die Aufmerksamkeit von Ministern, Universitätspräsidenten, Ausschüssen für Haushaltsfragen u. ä. auf sich ziehen, erweisen sich aber nur allzu häufig als im internationalen Vergleich steril. Denn im Gegensatz zu allen anderen Fächern haben sich bisher in Geisteswissenschaften immer noch am Ende diejenigen durchgesetzt, die den Fleiß und die Geduld hatten, jahrelang „einsam" hinter dem Schreibtisch zu verbringen; es spricht wenig dafür, daß es im internationalen Vergleich in der Zukunft anders sein wird. 3. Schließlich wäre noch ein Wort über die Folgen der Zersplitterung Philosophischer Fakultäten in Fachbereiche zu sagen. Naturwissenschaften scheint eine Aufsplitterung in kleinere Facheinheiten nicht zu schaden; wenn Institute verschiedener Fachbereiche gemeinsame Forschungsvorhaben verfolgen, ist es ja immer noch möglich, sie in Sonderforschungsbereiche zusammenzufassen, deren vergleichsweise großer (und angesichts der neuen Bürokratisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch wachsender) administrativer Aufwand der Arbeitsweise moderner naturwissenschaftlicher Institute durchaus entspricht.

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Was die Philosophischen Fakultäten betrifft, so wird man ebenfalls die Nostalgie nicht zu weit treiben dürfen; an vielen Universitäten hat sich z. B. die Zusammenfassung der großen lehrerbildenden Fächer einerseits, der sog. ,.kleinen Fächer" andererseits in mancher Hinsicht bewährt. Doch gibt es drei Aufgabenbereiche, in welchen sich die Fachbereichsgliederung fur Geisteswissenschaften verheerend auszuwirken droht: die Promotion, die Habilitation und die Aufstellung von Berufungslisten. In den Philosophischen Fakultäten war es stets üblich, bei Promotionen Gutachter aus anderen Fächern heranzuziehen, bei Habilitationen auf eine angemessene „Breite" zu achten und Berufungslisten so aufzustellen, daß auch die Interessen entfernterer Fächer berücksichtigt wurden. Die Folge war, daß diejenigen besonders gefördert wurden, deren Leistungen einer größeren Zahl von Vertretern verschiedener Fächer imponierten — Nachwuchskräfte und Gelehrte mit einem größeren Horizont. Wenn dagegen der Zweitgutachter oder das Mitglied der Habilitations- oder Berufungskommission erst aus dem anderen Fachbereich herbeigerufen werden muß, wird die Versuchung, die Angelegenheit in der Enge des eigenen Fachbereiches „au szum au schein", oft übergroß. So kommt es zu Dissertationen, die von Vertretern verwandter Fächer als Machwerk angesehen werden, verwandeln sich Habilitationen in Fachprüfungen und müssen Konflikte über Berufungslisten in Senaten ausgetragen werden, in denen dann Naturwissenschaftler den Geisteswissenschaftlern vorhalten, sie seien ein zerstrittener Haufen ohne klare Qualitätsstandards. Die Folge ist, daß man auf Kosten des Niveaus den Weg des geringsten Widerstands geht: den Doktoranden erlaubt, sich den Zweitgutachter selbst auszusuchen; bei Habilitationsverfahren schweigt, obwohl man vom Kandidaten wenig hält oder die venia auf absurde Weise eingeschränkt wird; bei Berufungsverfahren hinnimmt, daß der neue Fachvertreter in keiner Weise zur Förderung der Geisteswissenschaften, sondern höchstens zu jener einer kleinen Fachspezialität beiträgt.

III. Abschließend wäre zu fragen, ob und was die Geisteswissenschaften und deren Vertreter für eine Genesung der deutschen Universitäten tun könnten. Viel wird es nicht sein und wenige Strategien dürften sich rasch auswirken. Denn das freie Spiel der Kräfte ist durch Gesetze blockiert, die zwar ebenso dem Gesetzgeber wie der Kultusverwaltung Kurzsichtigkeit und geringe Kenntnis der wirklichen Verhältnisse be-

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scheinigen, aber in den nächsten Jahrzehnten nur geringfügige Änderungen erfahren dürften. Doch sollte man sich hierdurch nicht entmutigen lassen und bedenken, daß es zwar nicht ausschließlich, aber eben doch vornehmlich geisteswissenschaftliche Forschungen sind, kraft derer wenigstens die eine oder andere deutsche Universität sich mit vergleichbaren ausländischen Institutionen messen kann. Ich schließe deswegen mit einigen Hinweisen darüber ab, worauf Geisteswissenschaftler in der nächsten Zukunft ihre Aufmerksamkeit richten sollten. 1. Die universitas litterarum ebenso wie die universitas professorum et scholarium kann nur von Wissenschaftlern erhalten werden, die mehr als bloße „Fachleute" sind. Die Erneuerung von deutschen Universitäten kann deswegen kaum von den Naturwissenschaften ausgehen, mögen unter deren Vertretern auch viele sein, die weit über die Grenzen ihres Faches hinauszublicken vermögen. Sieht man von Fachgebieten mit einer seit jeher eigenständigen Methodik (etwa den Juristen) ab, verbleiben mithin die Sozial- und die Geisteswissenschaften. 2. Die Abgrenzung zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften ist heute in vielen Fachgebieten äußerst unscharf geworden. Einerseits gibt es immer noch Soziologen von Rang, die vornehmlich geisteswissenschaftlich arbeiten; andererseits gibt es Philologen, deren Forschungsvorhaben nur noch mit Computern zu bewältigen sind. Entweder müssen Geisteswissenschaftler ein neues, präziseres Selbstverständnis entwickeln, das sie von nomologisch oder doch vornehmlich „empirisch" arbeitenden Kollegen abgrenzt; oder aber es müssen Wege gesucht werden, die Sozial- und Geisteswissenschaftler in einem neuen, umfassenderen Selbstverständnis vereinen. Begriffe wie „humanities", "études humaines", „moral sciences" bieten sich an, mögen sie auch bislang unzureichend durchdacht worden sein. In jedem Falle sind die Geisteswissenschaften (insbesondere die sog. „kleinen Fächer") in Deutschland zu einem baldigen Untergang verurteilt, wenn es ihnen nicht gelingt, neu und überzeugend zu artikulieren, was sie tun und warum sie es tun. 3. Dabei sollten die Geisteswissenschaften als ihre besondere Chance erkennen, daß sie zwar Ergebnisse vorzuweisen haben, mit denen man nicht in den Weltraum fliegen, Krankheiten heilen oder das Sozialprodukt steigern kann, die jedoch — ebenso wie ihr Entstehungsprozeß — dem Alltagsdenken des Durchschnittsbürgers zugänglich sind. Naturwissenschaften kommen nicht ohne theoretische Begriffe aus, die keine Entsprechung in der Alltagserfahrung haben; Sozialwissenschaften meinen zumindest, ohne solche Begriffe nicht auskommen zu können; Geisteswissenschaften benötigen ihrer nicht. Daß heute dennoch z. B. historische Untersuchungen erscheinen, die angesichts ihrer Terminologie auch einem gebildeten Akademiker kaum zugänglich sind, ist kein wis-

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senschaftlicher Fortschritt, sondern ein Mangel an Darstellungsgabe. Es ist Zeit, daß auch in Deutschland wieder historische, literatur- und kunstwissenschaftliche, philosophische und theologische Untersuchungen erscheinen, die wie in Frankreich oder England trotz unbestreitbarem wissenschaftlichen Niveau monatelang auf der Bestsellerliste bleiben; es ist Zeit, daß man sich in Deutschland darüber Gedanken macht, warum bei uns die publizistisch erfolgreichen Sachbücher von Journalisten und Außenseitern, nicht von Wissenschaftlern geschrieben werden. 4. Schließlich sollten in jedem Bundesland und an jeder Universität Wege gesucht werden, bei Promotionen, Habilitationen und der Aufstellung von Berufungslisten die Einheit der früher in der Philosophischen Fakultät beheimateten Fächer zu erhalten. Nicht alle Landeshochschulgesetze lassen so etwas wie „Philosophische Fakultäten neuer Art zu"; doch fast jedes Hochschulgesetz ermöglicht Grundordnungsbestimmungen, nach welchen einzelne Fragen in gemeinsamen Sitzungen mehrerer Fachbereichsräte in Anwesenheit aller betroffenen Wissenschaftler erörtert werden müssen.

Herbert Franke (München)

Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft Nicht selten wird gefragt, was die Forschungspolitik der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gegenüber den Geisteswissenschaften sei. Eine solche Frage ist aber falsch gestellt, denn sie setzt voraus, daß es eine Politik der DFG gäbe, abgesetzt von den Forschern selbst, als Ergebnis von Beratungen in oberen Rängen, an denen die Wissenschaftler selbst nicht teilhaben. In Wirklichkeit ist die DFG aber eine Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft und so konstruiert, daß auf mehreren Ebenen für eine ständige Koppelung an die Forscher gesorgt ist. Dies geschieht namentlich über die gewählten Fachgutachter. Aber auch die Mitglieder von Senat, Hauptausschuß und Präsidium werden gewählt, und zwar durch die Mitglieder der DFG, in erster Linie die Hochschulen. Entscheidungen über Förderung oder Nichtförderung eines Vorhabens werden getroffen nach Anhörung von Fachgutachtern, also Wissenschaftlern, die in geheimer Wahl durch das Vertrauen ihrer Kollegen diese wichtige Aufgabe übertragen erhalten haben. Eine eigene, unabhängig von den Forschern oder gar gegen deren erklärten Willen praktizierte Wissenschaftspolitik der DFG ist deshalb nur schwer vorstellbar. Das schließt nicht aus, daß gelegentlich Entscheidungen der DFG kontrovers ausfallen, das heißt, hier oder dort mißbilligt werden. Aber auch in diesen Fällen sind stets Wissenschaftler, nämlich die Gutachter, am Zustandekommen solcher Entscheidungen beteiligt gewesen. Ferner ist zu bedenken, daß die DFG von sich aus Forschung nicht befiehlt, denn sie fördert auf entsprechenden Antrag hin und ist nicht etwa eine Wissenschaftsbehörde mit Anordnungsrecht. Auch wenn Schwerpunktprogramme beschlossen werden, geschieht dies weitgehend auf Initiative der Wissenschaftler hin. Daß nicht alle Initiativen zum Zuge kommen oder gleichzeitig realisiert werden können, ist eine andere Sache. Auch die Forschungsplanung, wie sie sich in den sogenannten „Grauen Plänen" niederschlägt, wird nicht in Godesberg, fern von den Hochschulen, ausgedacht. So beruht der 1976 erschienene Band Aufgaben und Finanzierung V (1976—1978) primär auf einer an über 1300 Wissenschaftler,

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namentlich an die Fachgutachter, gerichteten Umfrage. Die Umfrageergebnisse wurden in Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle ausgewertet durch Planungsgruppen. Hierbei wurde versucht, den besonderen Bedingungen der Geisteswissenschaften in folgender Weise Rechnung zu tragen: Während es für die Naturwissenschaften, Biowissenschaften und Ingenieurwissenschaften nur jeweils eine für den gesamten Bereich zuständige Planungsgruppe gab, waren der Planungsgruppe Geisteswissenschaften nicht weniger als elf Planungsuntergruppen zugeordnet worden; von Theologie und Philosophie bis zur Sprach- und Literaturwissenschaft. Das bedeutet also, daß für die Geistes- und Sozialwissenschaften auf zwei Ebenen (abgesehen von der durch den Senat der DFG vorgenommenen endgültigen Beschlußfassung) zu beraten war, während man sich für die drei anderen großen Wissenschaftsbereiche mit einer fachlichen Beratungsebene zufrieden gab. Eine föderalistische Lösung also, zu der man sich berechtigt glaubte wegen der methodischen und sachlichen Verschiedenheiten innerhalb der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, die aber das Verfahren ungemein erschwert hat. Sie läßt sich aber auch dahingehend interpretieren, daß man nicht ohne weiteres von einem allgemeinen Konsensus der Geisteswissenschaften ausgehen kann, demzufolge es zulässig wäre, von „den" Geisteswissenschaften zu reden. Während es etwa in den Biowissenschaften akzeptiert wurde, den Kliniker, den Mikrobiologen, den Botaniker oder den Verhaltensforscher durch eine Planungsgruppe „Biowissenschaften" vertreten zu sehen, schien dies in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht gangbar zu sein. Welcher Psychologe fühlt seine wissenschaftlichen Interessen denn etwa beim Sprachwissenschaftler gut genug aufgehoben, ja, auch nur welcher Philosoph beim Theologen? Diese Fragmentierung, die hier an einem lediglich instrumenteilen Beispiel gezeigt wurde, läßt es letzten Endes fraglich erscheinen, inwieweit die Geisteswissenschaften eine Gesamtheit darstellen oder gemeinsame Interessen haben. Hier haben wir Glanz und Elend der Spezialisierung handgreiflich vor uns. Während auch der spezialisierteste Physiker sich noch rechtens als Physiker fühlen kann, ist es durchaus möglich, daß schon der anglistische Linguist den anglistischen Literaturwissenschaftler als eine andere Wissenschaftlerspezies empfindet. Die Zerschlagung der philosophischen Fakultäten ist der universitätspolitische Ausdruck der erwähnten Fragmentierung. Um so dringlicher erscheint es dem Verfasser, daß eine Rückbesinnung auf das erfolgt, was vielleicht trotz allem noch an gemeinsamem Wissenschaftsverständnis innerhalb der Geisteswissenschaften vorhanden ist über den jeweiligen Fachegoismus hinaus. Eine solche Herausarbeitung des Gemeinsamen kann auch ihre Rückwirkungen auf die Arbeitsweise der DFG haben.

Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften

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Aufgabe der DFG ist es nach § 1 ihrer Satzung, der „Wissenschaft in allen ihren Zweigen" zu dienen. Wie sich dieser Dienst in Zahlen ausgedrückt ausnimmt, soll hier im folgenden kurz vorgeführt werden. Die Interpretation dieser Zahlen, soweit sie die Geisteswissenschaften betreffen, läßt dann vielleicht auch einige Schlußfolgerungen über die qualitativen Probleme der Förderung zu. Zwei Vorbemerkungen müssen hier gemacht werden. Erstens bietet die Förderungsstatistik der DFG ihre Zahlen vielfach nur unterteilt nach den großen Blöcken Geistesund Gesellschaftswissenschaften, Biowissenschaften, Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften. Das heißt, die Förderung der Gesellschaftswissenschaften ist in den Zahlen mit enthalten; also Rechtswissenschaft, Soziologie und Politologie, es sei denn, daß weiter nach Fächern unterschieden wird. Nur ein Teil des Zahlenmaterials betrifft also die Geisteswissenschaften im eigentlichen Sinne (Geschichts- und Kunstwissenschaften, Theologie, Philosophie, Psychologie, Erziehungswissenschaft und die Sprach- und Literaturwissenschaften). Zweitens ist, insbesondere beim Vergleich der Förderungsaufwendungen nach Wissensgebieten, zu bedenken, daß Biowissenschaften, Natur- und Ingenieurwissenschaften außerhalb der DFG (und der Stiftungen wie Volkswagenwerk und Fritz Thyssen-Stiftung) von Regierungsseite mit sehr erheblichen Mitteln gezielte Förderung erfahren, Mitteln, die an Umfang weit über denen der DFG insgesamt liegen. Es wäre also falsch, wollte man aus den DFG-Zahlen Rückschlüsse auf die tatsächliche Förderung der Wissenschaften und auf die Verteilung der öffentlichen Mittel zur Forschungsförderung auf die einzelnen Wissenschaftsbereiche ziehen. Analoges gilt für die Max-Planck-Gesellschaft, die nur ganz bestimmte geisteswissenschaftliche Forschung (Geschichte, Rechtswissenschaft) in ihren Instituten betreibt. Für sehr viele geisteswissenschaftliche Fächer ist die DFG heute die einzige Quelle für zusätzliche Forschungsmittel. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat die DFG für die allgemeine Forschungsförderung (ohne die Sonderforschungsbereiche) erfreulicherweise einen überdurchschnittlich starken Zuwachs an Mitteln zu verzeichnen gehabt (1962: 99 Mio DM; 1975: 438 Mio DM). Der Anteil der Geisteswissenschaften ist aber über diese Jahre hinweg auffallend konstant geblieben. Das ist nicht das Ergebnis finanzieller Planung, sondern spiegelt in etwa eine Konstanz des Anteils der Geisteswissenschaften an den Forschungsaktivitäten insgesamt wider. Diese Konstanz des Anteils ist auch im Jahre 1975 zu verzeichnen gewesen, als wegen vorübergehender Finanzierungsschwierigkeiten viele an sich gut beurteilte Anträge abgelehnt oder stark eingeschränkt bewilligt worden sind. Hier die absoluten Zahlen in Mio DM für 1973—1975:

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H. Franke

Gesellschaftswissenschaften 1973: 29,4 1974: 30,5 1975: 27,6 Theologie 1973: 4,5 1974: 4,0 1975: 3,3 Geschichts- und 1973: 27,9 1974: 32,9 1975: 30,9 Sprach1973: 1974: 1975:

Kunstwissenschaften

und Literaturwissenschaften 12,2 13,3 14,7

Philosophie, Pädagogik, Psychologie 1973: 6,1 1974: 6,8 1975: 7,7 Ähnlich sieht es bei den Zahlen für die anderen Wissenschaftsbereiche aus, das heißt, auch dort sind in den letzten Jahren keine signifikanten Schwankungen zu verzeichnen. Auch ist aus den Statistiken über die Ablehnungsquoten herauszulesen, daß diese 1975 bei den Geistesund Gesellschaftswissenschaften nicht höher oder niedriger war als in anderen Bereichen; ja sie entspricht sogar mit 34,5% genau dem arithmetischen Mittelwert der Ablehnungsquote insgesamt. Das bedeutet, daß auch 1975 die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften nicht schlechter behandelt worden sind als andere Fächer. Rund ein Viertel der Förderungsmittel im Normalverfahren entfiel 1975 auf die Geistes- und Sozialwissenschaften (49 Mio DM = 25,9%). Im Schwerpunktverfahren dagegen ist ihr Anteil wesentlich geringer gewesen (10,9%). Dafür gibt es aber auch Förderungsinstrumente, von denen die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften überproportional stark profitieren. Es sind dies die Stipendien (Habilitandenstipendien, Forschungsstipendien, Ausbildungsstipendien).

Geist. Wiss.

Habil. Stip. 389

Forsch. Stip. 126

Ausb. Stip. 10

Gesamt 525

Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften

Biowiss. Naturwiss. Ing. Wiss.

25 31 15

147 100 10

238 73 1

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410 204 26

Vor allem die Habilitandenstipendien sind also ausgesprochene Domäne der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Eine Erklärung für diesen hohen Anteil liegt vielleicht darin, daß die Zahl der Assistentenstellen in manchen geisteswissenschaftlichen Fächern sehr viel geringer ist als in den drei anderen Wissenschaftsbereichen. Ob aber eine weitere Vermehrung von Mittelbaustellen an den Hochschulen eine Entzerrung bewirken kann oder soll, wird weiter unten im Rahmen einer Betrachtung der Probleme des wissenschaftlichen Nachwuchses erörtert werden. Auffallend ist ferner der außerordentlich geringe Anteil der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften an den Ausbildungsstipendien, besonders im Vergleich zu den Bio Wissenschaften. Ein nicht geringer Teil der Ausbildungsstipendien dort sind solche für das Ausland. Es fördert Wissensstand und Fortkommen, wenn man einmal eine Zeitlang in einem bekannten amerikanischen Labor im Rahmen einer durch ihre Forschungen an der Spitze stehenden Gruppe gearbeitet hat. Nun ist freilich Gruppenarbeit in den meisten Geisteswissenschaften nicht üblich und für viele Themen auch wohl nicht nötig. Dies mag ein Grund dafür sein, daß es so wenige jüngere Geisteswissenschaftler ins Ausland zieht. Ein weiterer Grund könnte sein, daß man der Meinung ist, man könne durch einen Auslandsaufenthalt nicht wesentlich dazulernen. Es wäre aber bedauerlich, wenn eine solche Meinung verbreitet wäre, denn es gibt innerhalb der Geisteswissenschaften eine ganze Anzahl Fächer, vor allem sogenannte „kleinere", in denen die Forschung in anderen Ländern mindestens ebenso gut, wenn nicht besser ist als bei uns. Und es könnte zweifellos der Versuchung, ohne wissenschaftliche Kontakte in selbstgewählter Vereinzelung vor sich hin zu arbeiten, entgegenwirken, wenn man einmal eine längere Zeit hindurch sich in einer ausländischen intellektuellen Umgebung bewähren und profilieren muß. Insofern wäre also zu wünschen, daß in Zukunft mehr Geisteswissenschaftler als bisher die Chance nutzen, die in der Beantragung eines Ausbildungsstipendiums im Ausland liegt. Ein weiteres Förderungsinstrument der DFG, welches ganz überwiegend von den Geisteswissenschaften in Anspruch genommen wird, sind die Druckbeihilfen für Zeitschriften und Monographien (1973: 4,9 Mio DM, 1974: 6,9 Mio DM; 1975: 4,9 Mio DM). Die steigenden Druckkosten bereiten Sorge, so daß in zunehmendem Maße erwogen werden muß, auf kostensparende Druckverfahren auszuweichen (Offsetdruck von Schreibmaschinen-Manuskripten oder Composersatz, Lichtsatz von

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maschinenlesbaren computergestützten Vorlagen). Allerdings fehlt es bisher noch an einem genauen Kostenvergleich, denn allzu leicht werden die versteckten Kosten solcher Verfahren (Personalkosten zur Herstellung der Vorlagen) übersehen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß überhaupt in Zukunft das gedruckte Buch gegenüber anderen Wegen der Kommunikation zurücktreten wird, jedenfalls was wissenschaftliche Monographien angeht. Der Druckzwang für Dissertationen ist aus vielerlei Gründen ein Anachronismus. Er belastet finanziell wegen der mitunter recht umfangreichen Arbeiten die Geisteswissenschaftler weitaus mehr als Doktoranden aus anderen Fächern, in denen der Ertrag der Forschung sich, nicht zuletzt auch wegen der Verwendung formalisierter Sprachen (Formeln), wesentlich kürzer ohne Informationsverlust mitteilen läßt. Vielleicht wird man in Zukunft zu dem System des Access Publishing übergehen müssen, wie es bereits bei Dissertationen in den USA gehandhabt wird: kein Druckzwang, dafür Deponierung des von der Universität genehmigten Manuskripts an einer Stelle, von wo der Interessent sich entweder einen Mikrofilm oder eine Xerokopie bestellen kann und dafür einen Preis zu bezahlen hat, der keineswegs höher ist als der, den er für den Kauf eines Buches aufwenden müßte. In den USA erscheint nur ein ganz geringer Bruchteil von Dissertationen, gewöhnlich die hervorragendsten, noch als Buch, meist bei irgendeiner University Press. Aber das System des Access Publishing könnte auch auf sonstige Monographien ausgeweitet werden - für eine Reihe Fächer sind in Amerika dergleichen Erwägungen bereits im Gange. Ferner könnte sich für einige materialerschließende geisteswissenschaftliche Vorhaben ein ähnliches Vorgehen empfehlen, das heißt, nicht Veröffentlichung des gesamten Materials in herkömmlicher Buchform, sondern Thesaurierung oder Archivierung unter Sicherung des Zugangs oder Kopierrechts für jeden an dem Material interessierten Wissenschaftler. Bevor allerdings von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, bedarf es noch eingehender Überlegung über die Trägerschaft solcher Textsammelstellen und die damit verbundenen juristischen, insbesondere urheberrechtlichen Probleme. Im Schwerpunktverfahren sind die Geisteswissenschaften eindeutig unterrepräsentiert. Dies zeigen folgende Zahlen (für 1975): Anzahl der SP-Programme

Geschichts- und Kunstwissenschaften Sprach- und Literatur-

Einzelvorhaben

10

128

Förderungsbetrag in Mio DM 3,5

Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften

Wissenschaften

3

20

1,0

Philos., Erziehungswiss., Psychologie

5

38

2,2

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Zusammen mit den Gesellschaftswissenschaften (4,0 Mio DM) kam der Förderungsbetrag für die Geisteswissenschaften 1975 nur auf 10,9% der Aufwendungen für das gesamte Schwerpunktprogramm der DFG. 1976 ist ein neues geisteswissenschaftliches Schwerpunktprogramm begonnen worden (Assimilation und Integration der Juden in Deutschland), jedoch ändert das in keiner Weise die Relation insgesamt. Die Gründe dafür scheinen vorwiegend darin zu liegen, daß der Wunsch nach Schwerpunktprogrammen sich bei den Geisteswissenschaften in Grenzen gehalten hat; anders ausgedrückt, daß die angestrebten Forschungsziele sich auch mit anderen Förderungsverfahren, vor allem dem Normalverfahren, erreichen ließen. Das wesentliche bei einem Schwerpunktprogramm ist ja, daß eine übergeordnete Thematik in überregionaler Kooperation angegangen wird. Die Initiative, ein solches Programm einzurichten, geht gewöhnlich von den Wissenschaftlern selbst aus und nicht von der DFG. Sinn der Programme ist es, dort die Forschung zu fördern, wo entweder ein ausgesprochener Nachholbedarf besteht oder ganz neue Fachrichtungen entstehen. Beides scheint, genau so wie die überregionale Kooperation, in den Geisteswissenschaften nicht so vordringlich zu sein wie in anderen Wissenschaftsbereichen. Das heißt natürlich nicht, daß es in den Geisteswissenschaften keine Kooperation gibt, nur findet sie gewöhnlich in informeller Weise und o f t ohne Förderung durch die DFG statt. Das Instrument der Forschergruppen, also Zusammenschluß mehrerer, gewöhnlich an einem Ort befindlicher Wissenschaftler zur Bearbeitung einer besonderen Forschungsaufgabe mit einer durchschnittlichen Förderungsdauer von fünf Jahren, hat sich besonders bewährt in den Biowissenschaften. Die Geisteswissenschaften dagegen treten auch hier zurück.- Es gibt nur zwei, relativ kleine Forschergruppen (Prosa des deutschen Mittelalters, Würzburg: Römische Ikonologie, Bochum). Wesentlich ist, daß das Forschungsziel mittelfristig - innerhalb von fünf Jahren — erreichbar sein soll, andererseits aber gerade wegen des Zeitbedarfs die im Normalverfahren übliche Projektdauer und auch den Umfang überschreitet. Soweit zu erkennen, liegt der Grund für die Zurückhaltung, Forschergruppen zu beantragen, vorwiegend darin, daß eine genügend große initiative Forschungskapazität in vielen Geisteswissenschaften an einem Ort o f t nicht vorhanden ist, auch nicht, wo es um Zusammenarbeit mehrerer Fächer geht. Immerhin ist die Forscher-

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gruppe, wie auch in „gebündeltes Normalverfahren", in welchem Wissenschaftler mehrerer kooperierender Fächer gemeinsam einen Antrag stellen, ein geeignetes Instrument zur Förderung mittelfristiger geisteswissenschaftlicher Projekte. Das gebündelte Normalverfahren hätte dabei noch den Vorteil, daß die Ortsgebundenheit entfällt. Um ein Beispiel aus den dem Referenten vertrauten Fächern zu geben: man könnte sich durchaus ein Bündel von Normalverfahrensanträgen oder auch eine Forschergruppe „Buddhologie" vorstellen. Hieran könnten, je nach der Thematik, Fächer beteiligt sein wie Indologie, Tibetologie, zentralasiatische Turkologie, Sinologie, Kunstgeschichte und Archäologie. Die Sonderforschungsbereiche wurden in der Expertenumfrage von den Geisteswissenschaftlern ganz überwiegend als ein für ihre Fächer nicht recht geeignetes Instrument angesehen. Dies spiegelt sich wider in den Zahlen der geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereiche. Gefördert wurden 1975 insgesamt 116 Sonderforschungsbereiche. Von diesen entfielen auf Geschichts- und Kunstwissenschaften Sprach- und Literaturwissenschaften Gesellschaftswissenschaften Erziehungswissenschaften/Psychologie

6 3 9 1

Zu diesen ist 1976 neu in die Förderung aufgenommen worden der Sonderforschungsbereich 164 Vergleichende Städteforschung (Münster). Sonderforschungsbereiche sind Einrichtungen der Hochschule. Voraussetzung für die Förderung ist, daß sie fächerübergreifend sind und ein kohärentes Forschungsprogramm vorlegen. Das bedeutet, daß ein Sonderforschungsbereich nur sinnvoll beantragt werden kann, wenn genügend kooperationswillige Wissenschaftler sich verpflichten, für einen längerfristigen Zeitraum die Forschungskapazitäten der Institute und ihres Personals auf ein gemeinsames Forschungsziel zu konzentrieren. Ein Sonderforschungsbereich bindet also auf längere Zeit, vielleicht fünfzehn bis zwanzig Jahre, die intellektuellen und materiellen Ressourcen der betreffenden Fächer. Die Zahl der ursprünglich vom Wissenschaftsrat anerkannten Sonderforschungsbereiche in den Geisteswissenschaften lag höher als die Zahl der tatsächlich geförderten. Das lag aber sicher daran, daß im Überschwang des ersten Optimismus mancherorts Sonderforschungsbereiche anerkannt worden sind, wo so gut wie keine Vorarbeiten, etwa hinsichtlich des Programms oder der Kooperation, vorhanden waren. Schwerer aber wiegt ein Grund, der immer wieder, auch bei den geförderten Sonderforschungsbereichen, zu Problemen

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geführt hat. Es ist dies die vergleichsweise geringe Personalausstattung in vielen geisteswissenschaftlichen Fächern. Wenn ein Institut fünfzehn oder zwanzig Assistentenstellen hat, kann es verantwortet werden, einige von diesen ausschließlich mit Forschungsarbeiten für einen Sonderforschungsbereich zu betrauen. Bei einem Institut mit drei, zwei oder gar nur einer planmäßigen Mittelbaustelle bleibt einfach nicht genug Forschungskapazität übrig neben Verwaltung und Lehre. Je kleiner also personalmäßig ein Institut ist, desto geringer wird, auch per capita gerechnet, die einbringbare Forschungskapazität. Dies durch entsprechend höhere Zuweisung von DFG-bezahlten Stellen der Ergänzungsausstattung auszugleichen, wird nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich sein. Grundsätzlich geht nämlich die DFG davon aus, daß im idealen Falle das Verhältnis von Grund- zu Ergänzungsausstattung 1 :1 sein sollte. Diese Rechnung muß auch die Lehrstuhlinhaber einschliessen, deren persönlicher Beitrag zu dem Forschungsprogramm in einigen Sonderforschungsbereichen bisher minimal bis Null war. Mit anderen Worten, ein personeller Engpaß besteht für viele Fächer nicht nur für den Mittelbau, sondern auch für die Professoren selbst. Es fehlt an der „kritischen Masse", die initiativ wirkend die Einrichtung eines so komplizierten und oft schwerfälligen Instruments wie eines Sonderforschungsbereiches rechtfertigen kann. All dies ist in der Anlaufphase der Sonderforschungsbereiche nicht klar genug gesehen worden und hat zur Nichtförderung oder Förderungseinstellung geführt. Der Forschung selbst ist damit wohl kein dauernder Schaden erwachsen, denn gute Einzelprojekte sind dann im Normalverfahren weitergefördert worden. Ein besonderes Problem der Geisteswissenschaften muß hier noch erwähnt werden, nämlich die Zukunft der wissenschaftlichen Mitarbeiter. In vielen Wissenschaften gibt es gerade für spezialisierte Forscher so gut wie keine Anstellung außerhalb der Hochschulen. Nach einer Reihe von Jahren entsteht auch für die aus Ergänzungsmitteln bezahlten Mitarbeiter ein Anspruch auf Dauerstellung gegenüber der anstellenden Hochschule. Diesem Anspruch können aber die Hochschulen in der gegenwärtigen und voraussehbaren Situation kaum genügen. Zwar wird heute oft und gerne von Mobilität geredet, und sicher ist es wünschenswert, daß auch junge Wissenschaftler eine Chance zum Nachrücken bekommen. Aber was macht ein Philosoph, ein Tibetanist oder Iranist, wenn er ein paar Jahre in einem Sonderforschungsbereich gearbeitet hat, und nun seine Stelle einem jüngeren, vielleicht hochbegabten Kollegen räumen soll? Man braucht nicht einmal an extreme Fächer zu denken. Selbst in den Lehramtsfächern, die früher noch eine Anstellungschance boten, die um ein Vielfaches über der in „esoterischen" Fächern lag, ist es heute so, daß sich Arbeitslosigkeit abzeichnet.

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Aber die Personalprobleme der Sonderforschungsbereiche sind nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtproblem des wissenschaftlichen Nachwuchses. Jedermann weiß inzwischen, daß die Zeit der Hochschulexpansion vorbei ist und auch, daß die Umwandlung vieler Mittelbaustellen in Dauerstellen dem Nachwuchs den Weg weitgehend versperrt. Man spricht, wie gesagt, von Mobilität — und in der Tat können die Hochschulen nicht auf eine ganze Generation junger Forscher verzichten. Es ist eine wissenschaftspolitische Frage erster Ordnung, die hier zu lösen ist — nicht nur in den Geisteswissenschaften. Es ist aber eine Tatsache, daß es viele Fächer gibt, in denen ein überwiegender Teil der Graduierten „in der Wissenschaft" bleiben will, nicht zuletzt auch, weil es kein außeruniversitäres Berufsbild für die betreffenden Absolventen gibt. Die Hochschulexpansion der 50er und 60er Jahre hat dies Problem vorübergehend in den Hintergrund treten lassen. Aber jetzt scheint es so, als ob wir im Übergang zu einem stationären System sind. Sollte man darum Promotionen so restriktiv handhaben, daß man nur für Ersatz innerhalb des Systems sorgt, also vielleicht im Laufe eines Professorenlebens nur drei oder vier Kandidaten promoviert? Dann kommen ja sofort die Rationalisierer und weisen einem nach, daß der Output nicht die Aufrechterhaltung des Lehrstuhls rechtfertigt. Verschärft wird die Problematik noch durch einen für den Nachwuchs ungünstigen Aufbau des Stellenkegels an den Hochschulen. Man hat seinerzeit die Zahl der Mittelbaustellen weitaus stärker vermehrt als die der Dauer-, das heißt Professorenstellen. Das bedeutet, daß eine vielfach größere Zahl von Assistenten auf eine nicht entsprechend mitgewachsene Zahl von Professuren reflektiert, die Chancen für den einzelnen also entscheidend vermindert wurden. Das alles ist natürlich nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkt, schafft aber dort die größten Probleme wegen der vielfach nicht vorhandenen Ausweichmöglichkeiten in andere Berufe. Was macht man mit einem Assistenten, dessen Vertrag ausläuft? Es wird bei der DFG ein Antrag auf ein Forschungsstipendium oder eine Sachbeihilfe gestellt. Aber das kann auch nur eine vorübergehende Lösung sein, für zwei Jahre vielleicht, aber kaum sehr viel länger. Man kann sich ausrechnen, daß demnächst einige tausend Verträge pro Jahr auslaufen werden und darf auch annehmen, daß sich unter diesen nicht wenige hochqualifizierte Nachwuchswissenschaftler befinden. Kann man Forschungspotential brachliegen lassen, oder zur Abwanderung in unter Umständen berufsfremde Tätigkeiten zwingen? In dieser Situation haben nach reiflicher Überlegung die Präsidenten der großen Wissenschaftsorganisationen, unter ihnen auch der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Vorschläge gemacht, die unter dem Stichwort Heisenberg-Programm bekannt gemacht wurden. Sie

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laufen auf ein Zehnjahresprogramm hinaus, mit dem jährlich rund zweihundert der besten Nachwuchswissenschaftler zunächst für fünf Jahre eine an der Stellengruppe H2 orientierte Bezahlung erhalten sollen, um sie der Forschung zu erhalten. Ferner soll den Vorschlägen nach auch die Möglichkeit gegeben werden, in eine Dauerstelle der Gehaltsgruppe H3 einzurücken. Dies orientiert sich in etwa an den Dauerstellen, wie sie ausgewählten Wissenschaftlern das Centre National de la Recherche Scientifique in Frankreich bietet. Die deutschen Vorschläge sind noch mitten in der Diskussion, und es sind auch bereits die ersten Kritiken laut geworden. Man sprach von „elitär" und fand die Beschränkung auf nur relativ wenige Wissenschaftler ungerecht. Man muß aber dagegen die Frage setzen, ob es gerecht ist, eine ganze nachwachsende Wissenschaftlergeneration vom Nachrücken in Hochschulstellen auszuschliessen, was ja unvermeidlich ist, wenn man nicht Stellen an den Hochschulen frei macht. Ob das Heisenberg-Programm durchführbar sein wird, hängt in erster Linie von der Finanzierung ab, aber in nicht geringerem Maße auch davon, ob es gelingt, ein angemessenes Auswahlverfahren zu entwickeln. Was nach Ansicht des Verfassers unbedingt verhindert werden sollte, sind Quoten für die Fächer. Ebenso muß aber auch verhindert werden, daß ein solches Programm nun zum Nothafen für bestimmte notorisch überbesetzte Fächer oder anderweitig überhaupt nicht unterzubringende Wissenschaftler wird auf Kosten anderer Fächer. Sicher würde es leicht fallen, die zweihundert Stellen pro Jahr allem mit Geisteswissenschaftlern zu besetzen, aber dergleichen kann nicht der Sinn des Programms sein. Und was den Vorwurf elitärer Einstellung angeht, kann auf die Studienstiftung des Deutschen Volkes verwiesen werden. Es ist nicht einzusehen, warum es elitär sein sollte, „Heisenberg-Professor" zu werden, solange es als eine Auszeichnung gilt, Studienstiftler zu sein. Man könnte sich, Talls das Programm Wirklichkeit wird, sogar an dem Auswahlverfahren der Studienstiftung orientieren. Es ist langwierig und aufwendig, garantiert dafür aber auch eine nicht an Fachegoismen, sondern rein an der Qualität orientierte Auswahl, was jeder bestätigen wird, der einmal in den einschlägigen Ausschüssen mitgearbeitet hat. Ein Sonderproblem sind die Habilitandenstipendien. Sie sind ein Instrument zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gewesen und haben seit ihrer Einführung sicherlich Gutes bewirkt in den Fächern, wo es nicht genügend qualifizierten Nachwuchs gab; wenn man will, als ein Lockmittel für die Universitätslaufbahn. Man kann aber mit gutem Grund bezweifeln, daß sie heute noch eine wissenschaftspolitische Notwendigkeit darstellen, wo man nicht gerade über Nachwuchsmangel klagen kann. Wir haben ja gesehen, daß die Geisteswissenschaf-

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ten den Löwenanteil der Habilitandenstipendien beansprucht haben. Geändert haben sich auch durch die neuen Hochschulgesetze die formalen Erfordernisse der Habilitation. „Habilitationsväter", die die Verantwortung für einen Habilitanden gegenüber ihrer Fakultät übernahmen, gibt es nicht mehr. Nach Ansicht des Verfassers ist die Beibehaltung der Habilitandenstipendien als einer besonderen Förderungskategorie unnötig; das Ziel kann auch durch ein normales Forschungsstipendium erreicht werden. Die Frage ist aber sehr kontrovers, und der Senat der DFG hat sich denn auch 1976 zu einem Kompromiß entschlossen: es wird weiterhin Habilitandenstipendien geben, aber sie werden genau so begutachtet wie die Forschungsstipendien. geisteswissenschaftlichen Schließlich muß noch auf die langfristigen Unternehmungen eingegangen werden, die von de» DFG gefördert werden. Es sind dies jetzt schon über zweihundert Unternehmen. Die Problematik ist so vielfältig, daß 1971 zur Unterstützung des Hauptausschusses eigens ein Ausschuß ins Leben gerufen wurde, der die langfristigen Projekte zu beurteilen hilft. Langfristig im Sinne der DFG bedeutet mehr als fünf Jahre Laufzeit. Viele Unternehmen sind so langfristig, daß ihr Abschluß nicht mehr in diesem Jahrhundert erwartet werden kann. Solche sind etwa der Thesaurus Linguae Latinae, das Grimmsche Wörterbuch oder das Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Derartige materialerschließende Unternehmen sind ihrer Natur nach personalintensiv. Das heißt, ein verstärkter Personaleinsatz kann unter Umständen zu einer Verkürzung der Laufzeit insgesamt führen; aber ob ein Lexikon im Jahre 2020 oder 2050 fertig wird (falls man dann überhaupt noch Lexika benutzt), ist für die Entscheidungen im Jahre 1977 auch schon nicht mehr relevant. Eine Sonderstellung nehmen die vielen Editionen ein. Hier ist eine ständige Gefahr das Ausufern. Gelegentlich findet sich neues handschriftliches Material, was eingearbeitet werden soll oder muß. Aber eine größere Gefahr ist, jedenfalls in der Meinung des Verfassers, editorischer Perfektionismus. Es gibt ja heute schon so etwas wie eine Editionswissenschaft. Wenn die Fertigstellung einer kritischen Ausgabe wesentlich mehr Jahre erfordert als der zu edierende Autor gelebt oder gewirkt hat, muß sich, nicht nur dem Außenseiter, die Frage stellen, in welchen Fällen solcher Aufwand lohnt. Niemand wird leugnen, daß er lohnt, wenn es um eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Joseph Haydns oder Martin Luthers geht. Aber leider ist die Editionstechnik eine gänzlich neutrale und wertfreie Methode. Man kann sie auch anwenden auf verstaubte zweitklassige Dichter oder auf provinzielle Barocktheologen, an deren Werken oder Wirkungsgeschichte nur allenfalls eine Handvoll Spezialisten interessiert ist. Und immer wird es dem Spezialisten gelingen, Gründe

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dafür ins Feld zu führen, daß gerade dieser Autor eine kritische Ausgabe verdient. Schwerer würde sich der Spezialist tun, wenn er darzulegen hätte, warum andere Autoren der gleichen Zeit eine solch aufwendige Edition nicht verdienen. Bisher ist es nicht gelungen, so etwas wie eine Art Prioritätenliste der noch nicht zureichend edierten Autoren von den Wissenschaftlern zu erhalten. Auch scheint es fast ausgeschlossen, daß hier ein Konsensus zu erzielen oder überhaupt wünschenswert ist. Auf diesem Gebiet wird man immer mit der Verliebtheit der Wissenschaftler in ihren selbst gewählten Gegenstand zu rechnen haben. Sie ist, wie wir spätestens seit Max Weber (in Wissenschaft als Beruf) wissen (Weber selbst gehört zu den Autoren, wo eine kritische Ausgabe ein dringendes Desiderat ist!), Voraussetzung für wissenschaftliche Leistung und Fortschritt. Hier einen Ausgleich zu finden, gehört zu den schwersten Aufgaben nicht nur des Langfristausschusses, sondern auch der DFG insgesamt. Unterstützt wird der Langfristausschuß durch die Voten der Senatskommission für germanistische Forschung und eines adhoc-Ausschusses für philosophische Editionsvorhaben. Der durch die Verfahrensweise der DFG, die ihrerseits wieder von den alljährlichen Zuschüssen der öffentlichen Hand abhängt, bedingte kurzatmige Förderungsrhythmus (zwei Jahre im Durchschnitt) ist der Langfristigkeit vieler Unternehmen nicht angemessen. Seit Jahren ist deshalb die Frage diskutiert worden, ob und in welchen Fällen es sinnvoll ist, einen Dauerträger für das betreffende Vorhaben zu suchen. Auch darf ja nicht übersehen werden, daß es eine nicht geringe Arbeitslast für Geschäftsstelle, Gutachter und Gremien bedeutet, sich alle ein oder zwei Jahre wieder mit Verlängerungsanträgen beschäftigen zu müssen, vor allem dann nicht, wenn die Arbeitsergebnisse, aus was für Gründen auch immer, einmal zu wünschen übrig lassen. Deshalb ist in den letzten Jahren die Abgabe bestimmter Unternehmen an Dauerträger — in erster Linie Akademien - diskutiert worden. Es sind Listen von abgabereifen Unternehmen erstellt und den Akademien vorgelegt worden. Die Akademien sollen in Zukunft auf Grund der Ende 1975 vereinbarten Regelung zwischen Bund und Ländern Mittel zur Finanzierung dieser neuen Aufgaben erhalten. Für 1977 wird aller Voraussicht nach jedoch noch keine Abgabe erfolgen können. Die Übernahme von langfristigen geisteswissenschaftlichen Unternehmen durch Akademien ist nicht ohne Probleme. Grundsätzlich muß hier bemerkt werden, daß für die DFG Spargesichtspunkte keine Rolle spielen. Was die DFG bei Abgabe einspart, wird ihr abgezogen und kommt den neuen Trägern des Unternehmens zugute. Aber auch für die Akademien ist die Übernahme nicht problemlos. Sie müssen übernehmen wollen. Übernahme bedeutet aber, daß in Zukunft sie die Ar-

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beitgeber sind, während es bisher die antragstellenden Wissenschaftler mittels Privatdienstverträgen waren. Auf die Akademieverwaltungen kommen also neue Aufgaben zu, unter Umständen auch Raumfragen und ähnliches. Zudem gibt es Unternehmen, für deren Fachspezialität zuständige Kommissionen oder Institute erst geschaffen werden müssen. All das braucht seine Zeit, wie denn überhaupt die Akademien der Wissenschaften nicht gerade zu den rasch reagierenden und zügig agierenden Institutionen gehören. Es gibt aber auch gelegentlich bei den Wissenschaftlern, die bisher Antragsteller waren, Hemmungen, das Unternehmen der Aufsicht einer Akademie anzuvertrauen. Das Vertrauen in die DFG ist in solchen Fällen anscheinend größer. Es ist zu hoffen, daß die Landschaft der langfristigen Unternehmen sich in den nächsten ein bis zwei Jahren etwas gelichtet haben wird und die schwergewichtigen „Jahrhundertunternehmen" eine dauernde Trägerschaft finden werden. Unternehmen, deren gesamter Finanzbedarf unterhalb von 100.000,DM liegt, kommen ohnehin, ungeachtet ihrer Dauer, für die Abgabe nicht in Frage. Was die bei Privatdienstverträgen auftretenden Personalprobleme angeht, kann auf die Ausführungen betreffend die Sonderforschungsbereiche verwiesen werden. Die Lage ist genau die gleiche, nur verschärft durch das Fehlen eines öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers. Wir können zusammenfassen: Auch in Zukunft wird das Normalverfahren der DFG für die Geisteswissenschaften das wichtigste Förderungsinstrument sein. Den Bedürfnissen nach Kooperation und fächerübergreifender Arbeit kann auch im Normalverfahren Rechnung getragen werden, unter Umständen durch Bündelung von Anträgen. Forschergruppen und Schwerpunktverfahren eignen sich eher für die Geisteswissenschaften als die Sonderforschungsbereiche. Neue Technologien werden das Publikationswesen in neue Bahnen lenken. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist ein bisher noch nicht zufriedenstellend gelöstes Problem. Für bestimmte langfristige Unternehmen ist die DFG nicht die geeignete Förderungsorganisation. Grundsätzlich wird aus den vorangegangenen Ausführungen klar geworden sein, wie sehr die Forschungspolitik ein Netzwerk darstellt. Auch die DFG kann nicht ausschließlich linear operieren, sondern muß die Interrelationen aller Wissenschaften untereinander im Auge behalten. — Und hier noch eine weitere abschließende Bemerkung: In den Geisteswissenschaften ist es zumeist auch heute und in absehbarer Zukunft noch der einzelne Wissenschaftler an seinem Schreibtisch, der den Fortschritt in der Wissenschaft sichert. In einer Zeit, in der von mancher Seite nur auf die Groß- und Verbundforschung Wert gelegt und sie allein für primär förderungswürdig angesehen wird, kann die Deutsche Forschungsgemeinschaft auch dem einzelnen Forscher in den Geisteswissenschaf-

Probleme der Förderung der Geisteswissenschaften

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ten die — oft bescheidenen — Mittel zur Verfügung stellen, die die Forschung voranbringen.

Hermann Krings (München) Wohin mit den

Editionen?

Zur Lage der langfristigen Forschungsvorhaben im Bereich der Geisteswissenschaften. Hier: Editionen im Bereich der Philosophie

I. Die Lage der langfristigen geisteswissenschaftlichen Forschungsvorhaben wird im folgenden am Beispiel der Editionen im Bereich der Philosophie behandelt. Es handelt sich um ca. zwanzig Editionen in der Bundesrepublik Deutschland, die (um in historischer Folge einige zu nennen) von Cusanus über Leibniz, Fichte, Schelling, Hegel bis zu Max Weber reichen. Die Frage nach dem institutionellen Ort, der Finanzierung und der Personalstruktur muß nahezu für jede Edition eigens gestellt werden. Das heißt: Sie haben keinen identifizierbaren institutionellen Ort; jede muß sich ihren suchen. Sie haben keine überschaubare Finanzierung; jede muß sehen, wie sie von Jahr zu Jahr ihr Geld bekommt. Die Personalstruktur reicht vom Ein-Mann-Unternehmen bis zum mäßig ausgebauten Institut. Die ungesicherte Lage der langfristigen materialerschließenden Forschungsvorhaben wird hier aus der Perspektive des Herausgebers und Editors, nicht aus der einer Präsidentenposition beleuchtet. Durch Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft der Editionen im Bereich der Philosophie, einem nicht institutionalisierten Zusammenschluß von Interessierten, denen sich auch ausländische Editionen wie z. B. die HusserlEdition oder die Nietzsche-Edition angeschlossen haben und deren Zusammenkünfte vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden, ist auch die Lage anderer Editionen bekannt.

Wohin mit den Editionen?

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II. Zur Veranschaulichung seien als Beispiel eines durchschnittlichen Falles die Verhältnisse der historisch-kritischen Schelling-Ausgabe skizziert. Träger der Edition ist die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Drei Herausgeber (Baumgartner, Krings, Zeltner t ) sind Universitätsprofessoren, also nicht hauptamtlich in der Edition tätig. Einer der Herausgeber ist Mitglied der Akademie. Der vierte Herausgeber, Dr. W. G. Jacobs, ist wissenschaftlicher Angestellter der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wissenschaftlicher Sekretär der Schelling-Kommission und hauptamtlich Editor. Drei promovierte wissenschaftliche Mitarbeiter (Buchner, Jantzen, Schieche) werden aus einer Sachbeihilfe der DFG mit Hilfe der problematischen, aber notwendigen Kettenverträge (manchmal mit einer Laufzeit von einem Jahr, im allgemeinen von zwei Jahren) bezahlt. Eine Assistentin (A. Pieper, Dr. phil. und habilitiert) des Philosophischen Instituts der Universität München ist für die Edition von Routineaufgaben in der Universität freigestellt. Jedes Mal handelt es sich um eine andere Art von Verträgen, um verschiedene Einstufungen für die gleiche Arbeit, um verschiedene Dienstvorgesetzte (Präsident der Akademie. Präsident der Universität. Der bei der DFG antragstellende Professor.) Der geschäftsführende Herausgeber ist laufend mit dem Abschließen von Verträgen, mit Berichten, Anträgen an verschiedene Adressen mit verschiedenen formalen Anforderungen beschäftigt. Die Edition ist in einer Dachkammer mit Dachlukenfenster und einer Grundfläche von ca. 15 m 2 untergebracht. Die hauptamtlich tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiter sind also gezwungen, zerstreut, zu Hause oder in Bibliotheken zu arbeiten. Jeder Geldgeber erwartet berechtigterweise „Effizienz", wünscht Planung, übt Kontrolle. Es mag nicht überall so buntscheckig zugehen. Jedoch gibt es alles, vom wohlorganisierten Forschungsinstitut für eine Edition über die buntscheckigen Editionen bis zum Ein-Mann-Betrieb im heimischen Arbeitszimmer. Der gute Herausgeber ist anpassungsfähig, sei es wie Robinson, sei es wie ein Autofahrer in Paris. Er sucht die ökologische Nische, jedoch er hat keinen Ort. Diese Feststellung besagt nicht, daß langfristige Forschungsvorhaben nur mangelhaft gefördert würden. Auf die Gefahr hin, wegen einer leichtfertigen Äußerung gescholten zu werden, soll gesagt werden, daß langfristige Forschungsvorhaben im Bereich der Geisteswissenschaften eine ganz beträchtliche finanzielle Förderung erfahren. Zwar fällt der Aufwand gegenüber dem Aufwand für naturwissenschaftliche Forschung nicht ins Gewicht; aber das ist weitgehend sachgerecht. Das Problem ist struktureller Natur: Es gibt durchweg nur kurzfristiges Geld. Personen werden aus „Sachbeihilfen" be-

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zahlt. Die Editionen werden wie Verbrauchsmaterial finanziert. Dieses alles ist nicht zweckentsprechend. Dasselbe Geld könnte richtiger und besser angelegt sowie effizienter verwendet werden, wenn man Editionen als forschungs- und kulturpolitische Investitionsobjekte ansehen würde und sie nicht wie wissenschaftlichen „Konsum" behandeln würde.

III. Eine der Langfristigkeit der Forschungsvorhaben angemessene längerfristige Finanzierung wird nicht möglich sein, solange Einzelpersonen de facto oder de iure als Träger fungieren. Eine institutionale Trägerschaft wird unerläßlich, wenn längerfristige Festlegungen erfolgen sollen. Die langfristigen Forschungsvorhaben haben jedoch derzeit keinen institutionellen Ort. 1. Die Universitäten, die demnächst ca. eine Million Studenten haben werden, verteidigen mühsam den konventionellen Anteil an Forschung in ihrem Wissenschaftsbetrieb gegenüber den hohen Lehranforderungen. Das Hochschulrahmengesetz und die Länderhochschulgesetze vernachlässigen die Forschung und unterwerfen sie vielfach bürokratischen Kriterien. Soweit Universitäten als institutioneller Ort für die Editionen fungieren, gibt es bzw. müßte es Sonderregelungen geben. 2. Die der Deutschen Forschungsgemeinschaft eigentümliche Form der Forschungsförderung ist das Normalverfahren. Als Selbstverwaltungseinrichtung der Forschungsförderung, also als eine Institution, die nicht selber Forschung trägt oder gar selbst betreibt und die nur mit Vorsicht und Zurückhaltung Forschungsplanung anvisiert, wird sie das Normalverfahren auch weiterhin eben als das Normale exekutieren. Langfristige materialerschließende Forschungsvorhaben fördert sie zwar auch, jedoch über institutionelle Krücken wie z. B. die „Sachbeihilfe". Ein Professor stellt für ein Forschungsvorhaben einen Antrag auf Sachbeihilfe und bezahlt aus ihr wissenschaftliche Mitarbeiter, mit denen er einen Privatarbeitsvertrag abschließt. Die Abrechnung erfolgt im allgemeinen über eine öffentliche Kasse. - Von den „Sonderforschungsbereichen" kann hier abgesehen werden, da sie von anderer Struktur sind als langfristige Forschungsvorhaben. 3. Die Akademien der Wissenschaften sind Gelehrtenvereinigungen, deren Mitgliederzahl begrenzt und deren Zusammensetzung durch eine je eigene Tradition bestimmt ist. Sie sind vornehmlich Träger von Forschungsvorhaben, die von ihren Mitgliedern (zusammen mit Gelehrten, die in entsprechende „Kommissionen" berufen werden) betrieben wer-

Wohin mit den Editionen?

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den. Jedes Mitglied geht seinen Forschungen nach. Die Akademie und ihre Klassen sind der Ort des wissenschaftlichen Austauschs. Die Akademien betreiben im allgemeinen kein Forschungsmanagement und haben dafür auch nicht die notwendigen Instrumente etwa in Form von Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollgremien. 4. Noch ein vierter, in Einzelfällen schon begangener Weg ist zu erörtern: das eigene Institut. Nun wird es nicht möglich sein, soviele selbständige oder an Universitäten oder Akademien angegliederte Institute zu schaffen, als es langfristige Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften gibt. Der Vorschlag eines zentralen Instituts für alle diese Vorhaben aber wird von niemand in Betracht gezogen. Der Weg der Institutsgründungen wird darum nicht allgemein gangbar sein. Das ist vielleicht nicht zufällig. Der apparative Aufwand, der in den Naturwissenschaften Institute unabweisbar macht, fällt nicht an. Eine Edition muß ein kontinuierlicher und flexibler Personalverband mit geringem bis kleinem Apparat sein. Der Apparat dient dazu, das Material zu erschließen, zu bearbeiten und solange aufzubewahren (Archiv), bis die endgültige Archivierung bei öffentlichen Bibliotheken erfolgen kann. Dazu ist nicht in jedem Fall ein Institut erforderlich. Auch die Vorbereitung eines für EDV und Lichtsatz geeigneten Manuskripts erfordert kein Institut. Anders liegt der Fall, wenn nicht allein die Edition Aufgabe eines Instituts ist, es sich also um ein Forschungsinstitut handelt, das entweder unter anderem oder auch als erste von mehreren Forschungsaufgaben eine Edition betreibt.

IV. Wohin mit den Editionen? In den letzten Jahren ist viel darüber diskutiert und verhandelt worden, die langfristigen Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften an die Akademien der Wissenschaften zu übernehmen. In diesem Jahr soll für eine Reihe von laufenden Vorhaben eine erste Entscheidung fallen. In der Tat bieten sich die Akademien als institutioneller Ort für diese Vorhaben und insbesondere für die Editionen an. Die Akademien sind zwar nicht so alt wie die alten Universitäten; sie wurden auch keineswegs unter dem Aspekt langfristiger Forschung gegründet. Doch sie sind hoch angesehene Institute der Forschung und seit geraumer Zeit auch Träger langfristiger Forschungsvorhaben im geisteswissenschaftlichen Bereich wie z. B des Thesaurus Linguae Latinae, des Grimm 'sehen Wörterbuches und der Cusanus-Ausgabe. Auch im Ausland, insbesondere in den sozialistischen Staaten, ist die Forschung bei den Akademien der Wissenschaften konzentriert wor-

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den, so daß eine Basis für internationalen Austausch gegeben wäre. Da überdies die starken Veränderungen an den Universitäten nicht zugunsten der Forschung ausgefallen sind und keinerlei Ansatz für die Übernahme langfristiger Arbeiten aufweisen, bieten sich die Akademien an. Bei näherem Zusehen zeigen sich allerdings erhebliche Schwierigkeiten. Eine Gelehrtenvereinigung ist als solche nicht zum Forschungsmanagement prädisponiert. An den Akademien wird im Plenum entschieden, d. h. alle maßgeblichen Entscheidungen werden von allen Akademiemitgliedern gemeinsam (oder in den Klassen) getroffen. Diese Entscheidungsstruktur erlaubt nur ganz generelle Entscheidungen wie über Selbstergänzung, Publikationen, globaler Haushaltsplanentwurf oder Präsidentenwahl. Die Akademie als Trägerorganisation müßte über eine entsprechende Entscheidungsstruktur verfugen, d. h. zumindest über ein Entscheidungsgremium, das zu Managemententscheidungen legitimiert und in der Lage wäre (z. B. Senat). Die Zuständigkeit des Präsidenten müßte neu bestimmt und auch die Berichterstattung über die Forschungsarbeit neu geregelt werden. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Form der Mitgliedschaft bei Akademien. Im allgemeinen ist die Zahl der Mitglieder begrenzt, und die Selbstergänzung bei Vakanzen folgt vielfach einer Tradition der Fächerrepräsentanz. Eine Akademie als Träger langfristiger Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften wird aber nicht nur die Vorhaben übernehmen sollen, deren Initiatoren ihr als Mitglied angehören. Andererseits wird sie nicht gut Träger von Forschungen sein können, ohne dem oder den verantwortlichen Gelehrten eine Mitgliedschaft zu geben. Es würden also weitere Formen der Mitgliedschaft notwendig werden. Dies gilt auch für die wissenschaftlichen Mitarbeiter an den Akademien der Wissenschaften, die den Forschungsvorhaben hauptamtlich verbunden sind. Sie haben gegenwärtig keinen identifizierbaren Status. Mit der Übernahme eines Forschungsvorhabens durch eine Akademie würde nicht nur an die Stelle der Privatarbeitsverträge ein Dauervertrag mit einem öffentlichen Dienstherrn treten, sondern der Status der mit den Akademien wissenschaftlich und vertraglich verbundenen Wissenschaftler müßte als Status in der Akademie geordnet werden. Dabei wird sich auch die Frage der Professionalisierung der an den Akademien arbeitenden Wissenschaftler stellen. Hermann Lübbe hat darauf eine konstruktive Antwort gegeben. 1 Ein Teil des qualifizierten Forscher1

Vgl. H. Lübbe, Philosophische Editionen - kulturpolitisch von hohem Rang, wissenschaftspolitisch ohne Präferenz. In: Wirtschaft und Wissenschaft, hg. vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 1976, Heft 2, 2 - 6 .

Wohin mit den Editionen?

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nachwuchses wird in den nächsten zwanzig Jahren nicht die übliche Laufbahn als Hochschullehrer einschlagen können. (Die in der Altersstruktur des derzeitigen Lehrkörpers und in der Entwicklung der Studentenzahlen nach 1990 liegenden Gründe brauchen hier nicht erörtert werden.) Auch aus diesem Grund ist der Professionalisierung in wissenschaftlichen Berufen außerhalb der Hochschule Aufmerksamkeit zu schenken. Die institutionellen Träger der langfristigen Forschungsvorhaben sollten darum nicht nur über Durchgangsstellen, sondern auch über Dauerstellen, nicht zuletzt auch über einen gewissen Anteil an Aufstiegsstellen verfugen können. Eine für die Übernahme von Aufgaben des Forschungsmanagements entsprechende Entscheidungsstruktur in den Akademien sowie Formen der Mitgliedschaft, die der Inkorporation der Forschungsvorhaben entspricht, sind entscheidende Bedingungen dafür, daß die Akademien die angesprochenen Aufgaben übernehmen können. Dabei würden die traditionellen Aufgaben der Akademien unberührt bleiben. Die Aufgabenerweiterung wird in den Akademien umstritten sein und wohl überlegt werden müssen. Bei diesen Überlegungen sollte nicht vergessen werden, daß Ursprung und Geschichte der Akademien davon geprägt gewesen sind, unerledigt gebliebene Spitzenaufgaben in der jeweiligen zeitgenössischen Forschungssituation aufzugreifen. In der gegenwärtigen Lage der geisteswissenschaftlichen Forschung hat sich eine Lücke gezeigt, deren Schließung nicht nur forschungspolitisch geboten ist, sondern wie H. Lübbe betont — ,.kulturpolitisch von hohem Rang" wäre. Die Lücke zu schließen, wäre nicht nur ein Dienst an der Forschung, sondern auch eine Chance für die Akademien der Wissenschaften. Denn sollten sie sich als geeignet erweisen, eine forschungspolitisch und kulturpolitisch notwendige Sache zu der ihren zu machen, so würde dieses auch Rückwirkungen zeitigen, die der bisher von ihnen gepflegten Forschung zugute kämen.

V. Die Übernahme der langfristigen materialerschließenden Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften durch die Akademien der Wissenschaften scheint unter den angegebenen Bedingungen die sachlich und institutionell beste Lösung zu sein. Man wird jedoch auch die Fälle ins Auge fassen müssen, in denen Forschungsvorhaben, aus welchen Gründen auch immer (z. B. geographischen, personellen; mittelfristige Projekte) nicht zu einer Akademie der Wissenschaften überwechseln können oder wollen. Für solche Fälle

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wäre eine Anpassung der DFG an die forschungspolitischen Notwendigkeiten in den Geisteswissenschaften wünschenswert. Diese Anpassung sollte die bisherige Praxis der Forschungsförderung durch das Normalverfahren unberührt lassen. Der Vorschlag zielt daher in Richtung auf einen „Satelliten" der DFG für langfristige Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften. Dieser könnte als eine von der DFG betriebene Hilfseinrichtung angesehen werden, die für langfristige Forschungen Serviceaufgaben übernimmt. Die Aufgaben dieser Einrichtung wären vornehmlich die folgenden: — Sie wäre das Ausführungsorgan der DFG für ihre Entscheidungen über langfristige materialerschließende Forschungsvorhaben oder Projekte in den Geisteswissenschaften. Diese Entscheidungen treffen die Gremien der DFG auf Antrag. — Sie wäre der Rechtsträger der Editionen, die hauptsächlich von der DFG gefördert werden. In der Satzung müßte die Delegation von Rechten und Pflichten an den (die) Leiter der Edition grundsätzlich geregelt sein. — Sie würde den Haushaltsplanentwurf der Edition als Haushaltsplan in den Gesamthaushaltsplan der DFG einbringen. — Aufgrund des Berichts der Wissenschaftler berichtet sie der DFG über die Ergebnisse der langfristigen Forschungen. Die Berichte und weiteren Planungen können bei einer Begehung besprochen werden. — Sie verfugt über einen Stellenpool mit Durchgangsstellen, Dauerstellen und einem gewissen Anteil an Aufstiegsstellen und schließt die eigens erarbeiteten Arbeitsverträge mit den an langfristigen Forschungsvorhaben hauptamtlich tätigen Wissenschaftlern ab. Gesetzt den Fall, die Akademien der Wissenschaften wären in der Lage, einen beträchtlichen Anteil der langfristigen Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften zu übernehmen, so würde für die oben angesprochenen Fälle eine Serviceeinrichtung der skizzierten Art immer noch notwendig oder zum mindesten nützlich sein. Sie könnte auch Innovationen, von denen sich erst zeigen muß, ob sie langfristig konzipiert werden sollen, entsprechend betreuten.

VI. Die mit der Förderung langfristiger Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften verbundenen politischen Fragen, die sich aus einer Verlagerung dieser Vorhaben an die Akademien der Wissenschaften ergeben (das Verhältnis von Bund und Ländern in der Forschungsförderung. Sitzlandprobleme. Finanzierungsschlüssel etc.), werden hier nicht be-

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handelt. 2 Sie sind jedoch für den Endverbraucher der Förderung von entscheidender Bedeutung. Vielleicht trägt es zur Erleichterung der Lösung dieser seit Jahren diskutierten Fragen bei, wenn Klarheit darüber geschaffen wird, welchen institutionellen Ort und welche Organisationsstruktur diese Forschungen haben sollen. Denn die politischen Entscheidungsträger werden eher zu einem Entschluß kommen können, wenn ein Weg und ein geeignetes Instrumentarium zur Verfugung stehen. Auch umgekehrt kann ein Zugzwang entstehen. Sollten im Laufe dieses oder des nächsten Jahres Mittel für langfristige Forschungsvorhaben von der DFG auf Akademien der Wissenschaften übertragen werden, so sind damit nicht nur neue arbeitsrechtliche und administrative Voraussetzungen für die Anstellung von wissenschaftlichen Mitarbeitern geschaffen. Vielmehr sind die Fragen nach dem Status der Forschungsleiter und der wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Akademie gestellt. Die Akademien stehen dann vor der Aufgabe, die administrativ übernommenen Forschungsvorhaben in ihre Institution einzugliedern.

2

Die Beratungen in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung über die Möglichkeiten und das Verfahren der Finanzierung eines „Akademie-Programms" im Rahmen der gemeinsamen Bund-LänderFinanzierungen gemäß Art. 9 1 b GG sind noch nicht abgeschlossen.

Kurt Böhner (Mainz) Museen in unserer Zeit

Das Wort „Museum" wird im allgemeinen Sprachgebrauch nicht selten zur Bezeichnung des Veralteten, Leblosen, ja Lebensfeindlichen gebraucht. Dieser Wortgebrauch ist eine Sprachgewohnheit, die der Wirklichkeit unserer Museen allerdings in keiner Weise entspricht. Denn Museen sind ja nicht „Rumpelkammern der Geschichte", die um des Sammeins willen merkwürdige Gegenstände vor dem Untergang bewahren. Entscheidend fiir den Sinn und das Ziel ihrer Tätigkeit sind vielmehr die Fragen, warum und zu welchem Zweck sie ihre Sammlungen anlegen. Gestellt werden diese Fragen aber von dem spontanen Bedürfnis der Zeitgenossen, bestimmte Lebensbereiche durch unmittelbare Zeugnisse kennen zu lernen, um dadurch das eigene Weltbild zu erweitern. So sind die Museen Einrichtungen des kulturellen Lebens, die für dessen allseitiges Gedeihen ebenso unentbehrlich sind, wie die Stätten der Bildung, der Musik, des Theaters und der bildenden Kunst. Ebenso empfindlich wie diese spiegeln sie auch die ständigen Veränderungen der kulturellen Bedürfnisse wider, ebenso wie sie sind die Schöpfungen der sich wandelnden Zeit. Um eine Vorstellung von diesen ständigen Veränderungen der Museen und dem in diesen zum Ausdruck kommenden Wechsel ihrer Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten zu gewinnen, ist es wohl am einfachsten, einen kurzen Rückblick auf ihre Geschichte zu werfen. Danach soll die Frage nach den Aufgaben der Museen in unserer Zeit gestellt werden. In ihrer heutigen Form sind die Museen aus den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance hervorgegangen, in denen sich das Erbe mittelalterlicher Reliquiensammlungen mit der neuerwachten Neugier vereinigte, die unendliche Fülle von merkwürdigen Gebilden aus der Natur- und Kulturgeschichte der ganzen Welt zu sammeln und kennenzulernen. So umfaßte etwa die Sammlung des Herzogs von Berry (1340-1416), der der „früheste moderne Kunstfreund" im Norden war, neben Reliquien wie das Hemd unserer lieben Frau, einem Milch-

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zahn der heiligen Jungfrau und dem Verlobungsring Josephs, Straußeneier und Bezoare (tierische Gedärmkonkretionen), alte Bücher, Kelche, Kreuze, antike Münzen und Kameen sowie ausgestopfte Vögel oder Mißgeburten von Tieren. Der Inhalt einer solchen Sammlung war ein kostbarer Besitz, der sowohl den Reichtum ihres Eigentümers repräsentierte, als auch die durch die Seltenheit der Objekte bezeugte Weite seiner wissenschaftlichen Interessen kundtat. Seit dem 17. Jahrhundert legten sich auch viele wohlhabende Bürger „Wunderkammern" oder „Raritätenkabinette" an, die gleichfalls ein Ausdruck ihrer Wohlhabenheit und ihrer Gelehrsamkeit sein sollten. Naturgemäß war die Auswahl der Sammelobjekte in dieser Zeit stark auf die Person des Sammlers bezogen, sei es, daß etwa ein Fürst wie Herzog Albrecht V. von Bayern (1528-1579) historische Gegenstände, Bilder, Zeichnungen und Stammbäume sammelte, die sich auf seine Familie bezogen, sei es daß Kaiser Rudolf II. (1552-1612) in seinen Sammlungen Kunstwerke nach seinem Geschmack mit mathematischen und astronomischen Instrumenten vereinigte, welchen sein besonderes Interesse galt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist unter dem Einfluß der Aufklärung bereits eine gewisse Systematisierung der Sammlungen bemerkbar. In zahlreichen Kunstsammlungen wurden nun Bilder nicht mehr allein nach dem persönlichen Geschmack ihres Sammlers vereinigt, sondern man bemühte sich, Werke von Malern bestimmter Schulen oder auch Ländern zu sammeln und diese neue Kategorisierung auch in der Anordnung der Sammlungen nach Meistern, Schulen usw. zum Ausdruck zu bringen. Ähnliche Vorgänge lassen sich etwa auch bei Sammlungen astronomisch-physikalischer Instrumente sowie bei ethnologischen, botanischen oder zoologischen Sammlungen beobachten. Von besonderer Bedeutung waren die Antikensammlungen, die als Verkörperungen eines hohen Bildungsideals den Geist der Zeit entscheidend mitbestimmten. Auch die in ihnen zum Ausdruck kommende kanonische Idealisierung einer bestimmten Geschichtsepoche und ihres Menschenbildes darf wohl als Auswirkung der Aufklärung verstanden werden. Deren Ideengut entsprach es auch, daß nun einige große Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, damit sie an der erstrebten Bildung des ganzen Menschengeschlechtes mitwirken konnten (z.B. 1753 Britisches Museum; 1772 Vatikanische Sammhingen; 1791 Louvre; 1779 Fridercianum in Kassel). Ihren unmittelbarsten Ausdruck fand die Aufklärung aber wohl darin, daß sich gegen das Ende des 18. Jahrhunderts überall gelehrte bürgerliche Vereinigungen bildeten, die sich das Ziel setzten, die „vater-

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ländischen Regionen" in natur- und kulturgeschichtlicher Hinsicht zu erforschen. Neben den „naturforschenden Gesellschaften" wurden um die Jahrhundertwende viele Vereine für vaterländische Geschichtsund Altertumsforschung gegründet. Als ein typisches Beispiel solcher gelehrter Vereinigungen darf die im Jahre 1801 in Trier gegründete Gesellschaft für nützliche Forschung gelten, die sich ebenso mit landwirtschaftlichen, geologischen und metronomischen Problemen, wie mit Fragen der Geschichte und Altertumskunde befaßte. Viele dieser regionalen Vereine haben beachtliche Natur- und Kulturgeschichtliche Sammlungen eröffnet, die großenteils in unseren Stadt-, Regionalund Landesmuseen fortleben. Vielfach haben sie auch Zeitschriften ins Leben gerufen, die heute noch erscheinen und von größter Bedeutung für die Wissenschaft waren und sind. Wie die Sammlungen des 18. Jahrhunderts hauptsächlich die Repräsentation ihrer Besitzer und den wissenschaftlichen Interessen der gelehrten Welt dienen sollten, sind die Sammlungen dieser Vereine vorwiegend für den erheblich weiteren Kreis ihrer Mitglieder bestimmt gewesen. Der Nutzen, den der Einzug einer wissenschaftlichen Systematik in die Sammlungen der Museen diesen als wissenschaftlichen Institutionen gebracht hat, ist kaum zu überschätzen. Ihre Sammlungen wurden jetzt nicht mehr nach dem persönlichen Geschmack ihrer Eigentümer aufgebaut, sondern nach wissenschaftlich begründeten Programmen. Auf diese Weise fand eine außerordentliche Fülle von interessanten Gegenständen den Weg in die Museen, welche ihrerseits nun einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau der wissenschaftlichen Systematik leisteten. Die aus der Veröffentlichung ihres Sammlungsgutes hervorgegangenen Publikationen der Museen hatten entscheidenden Anteil am allgemeinen Aufschwung der Wissenschaft. Die wissenschaftlichen Leistungen der Museen steigerten sich bald so sehr, daß ihnen Liebhaber nicht mehr gerecht werden konnten und staatliche oder kommunale Behörden daür sorgten, daß sie von Fachleuten geleitet wurden (z. B. Gründung der Rheinischen Landesmuseen in Bonn und Trier 1876). So haben sich viele wissenschaftliche Disziplinen an Museen entwickelt, lange bevor sie an den Universitäten durch Lehrstühle vertreten waren (z. B. Archäologie, Kunstgeschichte, Ethnologie, Volkskunde). Daß die Museen auch bei dieser Entwicklung in der Allgemeinheit ein hohes Ansehen genossen, kommt am unmittelbarsten darin zum Ausdruck, daß ihre Gebäude nicht selten die Formen von antiken Tempeln oder Renaissance-Palästen erhielten und daß man auf die prunkvolle Gestaltung repräsentativer Treppenhäuser und Lichthöfe erheblichen Wert legt. So hoch der Nutzen war, die die hier angedeutete Entwicklung der

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Museen im Laufe des 19. Jahrhunderts für ihre wissenschaftliche Tätigkeit und ihren Einfluß auf die wissenschaftlichen Bestrebungen der Zeit hatte, so groß waren die Schwierigkeiten, die diese Entwicklung für das Verhältnis der Museen zu ihrem Publikum mit sich brachte, welches dem ständigen Anwachsen der Sammlungen und der ausschließlich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten getroffenen Anordnung nicht zu folgen vermochte. Die Überfülle von Objekten, mit denen sich die Museen oft bis in den letzten Winkel füllten, mußte einen Besucher, den nicht spezielle wissenschaftliche Interessen mit diesen verband, verwirren und abschrecken. Die Folge davon war, daß zwischen den Museen und ihrem Publikum jetzt eine gewisse Entfremdung eintrat, die ihren unmittelbaren Ausdruck darin fand, daß man im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem Begriff „Museum" zunehmend die eingangs erwähnte Vorstellung des Abseitigen, Verstaubten, Leblosen, je Lebensfeindlichen verband, Diese Entwicklung blieb den Museen keineswegs verborgen. So zeigt etwa der Bericht über eine vom Centraiverband der Arbeiterim Jahre 1903 veranstaltete Konferenz über Wohlfahrtseinrichtungen das Thema „Museen als Volksbildungsstätten", daß sich die Museumsleute der Gefahren, die die einseitige wissenschaftliche Ausrichtung der für ihr Verhältnis zum Publikum mit sich gebracht hatte, wohl bewußt waren. Durch eine übersichtliche Einrichtung der Sammlungen, durch Führungen und Vorträge, durch eine lebhafte Zusammenarbeit mit den Schulen, ja durch die Verbindung von Museen mit Parkanlagen und Gaststätten hoffte man damals schon, sie auf neue Weise in die Volksbildung eingliedern und ihre Schätze einem weiten Publikum zugänglich machen zu können. Männer wie Alfred Lichtwark, der auch an jener Konferenz teilgenommen hatte, suchten ständig neue Wege, um den Museen als „demokratischen Bildungseinrichtung" neue Wirkungsmöglichkeiten zu erschließen und dadurch einem großen Publikum Zugang zu ihm unbekannten Lebensbereichen zu eröffnen darunter nicht zuletzt auch zu dem der zeitgenössischen Kunst. Zur Wirkung kamen diese lebhaften Bestrebungen allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg. Auf der einen Seite brachte die Begegnung mit moderner Architektur und Kunst bei der Neueinrichtung von Museen eine ebenso radikale Abkehr vom „Tempel- und Palaststil" der Gebäude, wie von der hauptsächlich durch die Systematik der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen bestimmte Form der Ausstellung. In Räumen, die ein architektonisches Eigengewicht gern vermieden und mitunter sehr kühl anmuten, wurden - jetzt oft mit einer Überbetonung ästhetischer Gesichtspunkte - die für das Publikum interessanten Gegenstände in einer „Schausammlung" präsentiert, während man die nur

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für die Forschung wichtigen Objekte in „Studiensammlungen" vereinigte. „Entrümpelung" und „künstlerische Gestaltung" der Museen waren Hauptparolen der Zeit. In deren Gestaltung lassen sich auf Schritt und Tritt starke Einflüsse der gleichzeitigen bildenden Kunst erkennen, welche umgekehrt besonders von den in prähistorischen und ethnologischen Sammlungen ausgestellten Gegenständen viele Anregungen aufnahm. Daß auch didaktische Bestrebungen damals eine große Rolle spielten, zeigt beispielhaft etwa die Einrichtung des 1925 gegründeten Deutschen Museums in München, das der Allgemeinheit zum ersten Male in Deutschland einen umfassenden Überblick über die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften und Technik bot. Die politische Not der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte eine neue Gruppe von Museen hervor, die der Besinnung auf die Vergangenheit dienen und das heimatliche Selbstbewußtsein ihrer Besucher in einer schwankenden Welt stärken sollten: die Heimatmuseen und viele Gedenkmuseen, die der Erinnerung an bedeutende Persönlichkeiten einer Stadt oder eines Landes gewidmet waren. Nach 1933 tauchte wiederum eine neue Form des Museums auf: das politische Museum, das den Besucher im Sinne bestimmter politischer Vorstellungen belehren und historische Entwicklungen unter politischen Zielsetzungen darstellen sollte. Der Gefahr, zu politischen Museen umgestaltet zu werden, waren naturgemäß vor- und frühgeschichtliche sowie volks- und völkerkundliche Sammlungen besonders ausgesetzt, deren Fundmaterial zu Begründung politischer Ideologien geeignet erschien. Es darf aber wohl gesagt werden, daß diese politischen Bestrebungen in den deutschen Museen kein sehr lebhaftes Echo gefunden haben. Alle diese Bestrebungen, die sich bis 1939 neben-, mit- und gegeneinander entwickelten, wurden durch den Krieg unterbrochen. Kein Museum konnte unter den veränderten Lebensbedingungen der Nachkriegszeit dort wieder anfangen, wo es zu Beginn des Krieges seine Tätigkeit hatte einstellen müssen. Denkt man an die ersten Ausstellungen und Museumseröffnungen nach 1945 zurück, die in einem museal außerordentlich bescheidenen Rahmen und in meist nur notdürftig wieder hergerichteten Räumen stattfanden, so wird man sich des allgemeinen Erstaunens erinnern, daß sie ganz unerwartet hohe Zahlen von Besuchern anzogen. Trotz der Not der Zeit hatte ein großer Teil der Bevölkerung das spontane Bedürfnis, nach den auch in kultureller Hinsicht entbehrungsreichen Jahren des Krieges wieder Ausstellungen oder Museen zu besuchen. Diese sehr ursprüngliche Neugierde der Bevölkerung war eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für den Wiederaufbau der Museen, welche jetzt Verhältnissen gegenüberstanden, die sich seit der Vorkriegszeit stark verändert hatten.

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Für viele Museen veränderten sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schon die Bedingungen des Sammelns, weil die fortschreitende Industrialisierung für viele Lebensvereiche tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte. So wurden zum Beispiel die großen Erdbewegungen, die der Wideraufbau der zerstörten Städte mit sich brachte, in zunehmendem Maße mit immer größer werdenden Baumaschinen durchgeführt. Die aus der Vorkriegszeit zunächst noch an die Arbeit mit Schaufel und Schubkarre gewöhnten Ausgräber archäologischer Denkmäler etwa mußten sich nicht nur an diese neue Arbeitsform und das neue Arbeitstempo anpassen, sondern auch lernen, die neuen Möglichkeiten für ihre Zwecke zu nutzen. Die Ausdehnung der Bauflächen und der Einsatz von Baumaschinen machten bald Ausgrabungen von einem Umfang möglich, der vor dem Kriege gänzlich ausgeschlossen war. Die Industrialisierung brachte es auch mit sich, daß ganze Stadtteile und ländliche Siedlungen abgerissen bzw. modernisiert wurden, daß alte Handwerks- und Gewerbebetriebe mechanisiert wurden oder ausstarben, daß viele althergebrachte Lebensformen untergingen. In all' diesen Fällen mußten unsere Museen wichtige Zeugnisse einer vergehenden Kultur retten und als historische Denkmäler der Nachwelt erhalten. Die Industrialisierung bleibt aber auch für die von der Denkmalpflege geschützten Bauwerke nicht ohne Einfluß. Viele von ihnen leiden unter der Luftverschmutzung, so daß Denkmalpflege und Museen gemeinsam bemüht sein müssen, sie zu erhalten und gegebenenfalls bei allzu starker Gefährdung aus der freien Luft in die geschützten Räume der Museen zu überfuhren. Die Veränderungen unserer Zeit berühren die Kulturgeschichtlichen Museen auch dadurch, daß in den meisten Ländern der Erde das Bestreben erwacht ist, die Denkmäler ihrer Geschichte im eigenen Lande zu behalten und ihr Abwandern in ausländische Sammlungen zu verhindern. Andererseits hat sich natürlich auch der Handel mit Kunstwerken die schnellen und weitreichenden Verkehrsmöglichkeiten zu Nutze gemacht. Hinzugefügt sei, daß die technischen Möglichkeiten unserer Zeit auch neue Möglichkeiten bieten, Kunstwerke zu fälschen. Das Erkennen solcher oft mit großer Perfektion ausgeführter Fälschungen stellt die Museen heute nicht selten vor außerordentlichen Schwierigkeiten. In Bezug auf die Kunstmuseen sei noch erwähnt, daß die schnell wechselnden Tendenzen in der bildenden Kunst unserer schnellebigen Zeit vor die oft kaum lösbare Aufgabe stellen, die ganze Vielfalt der künstlerischen Tendenzen in ihren Sammlungen zu erfassen. Aber nicht nur im kulturellen Bereich, hat die Industrialisierung Veränderungen mit sich gebracht, die unsere Museen vor neue Aufgaben stellen, auch in dem Bereich der Natur hat sie tief eingegriffen

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und damit den naturwissenschaftlichen Museen schwere Pflichten auferlegt. Wo es nicht möglich ist, gefährdete Lebensbereiche zu erhalten, müssen sie wenigstens versuchen, in ihren Sammlungen das Vergehende zu bewahren. Ein gutes Beispiel dieser außerordentlich verantwortungsvollen Tätigkeit gibt die große Ausstellung ,Ökoplage\ die das Senckenberg-Museum in Frankfurt veranstaltet hat, um einer breiten Öffentlichkeit lebendige Einblicke in die Veränderungen der Natur und ihre schwerwiegenden Folgen für unser aller Leben vor Augen zu führen. Große Veränderungen hat die Industrialisierung mit ihren Folgeerscheinungen auch in vielen Gebieten der Erde hervorgebracht, die bisher als verhältnismäßig ungestörte Reservate von „Naturvölkern" galten. Auch hier sind Veränderungen in allen Bereichen der Natur und der Kultur vor sich gegangen, die die naturkundlichen und die kulturgeschichtlichen Museen in gleicher Weise zu verstärkter Forschungsund Sammeltätigkeit zwingen. Von vielen Lebensbereichen der Natur, von den Zeugnissen vieler alter Kulturen wird die Nachwelt nur noch in unseren Museen unmittelbare Zeugnisse finden können. Auch die wissenschaftliche Arbeit der Museen mußte nach dem Kriege von neuen Voraussetzungen ausgehen und sich bemühen, neue Möglichkeiten zu nutzen. Die veränderten politischen Verhältnisse und die verbesserten Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten brachten allmählich eine unerwartete Internationalisierung der Forschung mit sich, die auch für die Museen große Bedeutung hatte. Viele regionale Erscheinungen — wie z. B. vorgeschichtliche Kulturgruppen, landwirtschaftliche Eigenarten von Volkskunst und Brauchtum oder regionale Kunstströmungen wurden in ungeahnt weite Zusammenhänge einbezogen. Es gibt heute wohl kaum ein größeres Museum, dessen Forschungstätigkeit nicht an internationalen Unternehmungen beteiligt wäre, die wiederum auf seine Bestände und seine speziellen Sammlungsbereiche angewiesen sind. Wenn naturgemäß auch das Sammelgut eines Museums immer im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stehen wird, so ist doch eine regionale Beschränkung einzelner Forschungsbereiche, wie sie vor dem Krieg gang und gebe war, heute kaum mehr möglich. Hinzu kommt, daß die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Kreise deer Geisteswissenschaften ständig enger wird. So ist es heute beispielsweise kaum mehr möglich, Kunstwerke aller Art losgelöst von den politischen, sozialen und religiösen Bewegungen ihrer Zeit zu erklären. Diese Tatsache hat natürlich auch in den Ausstellungen unserer Museen einen unmittelbaren Niederschlag gefunden. Der außerordentliche Aufschwung der naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden hat nicht nur den Naturwissenschaften selbst neue

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Forschungsmöglichkeiten erschlossen, sondern auch neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften geschaffen. Dieser Zusammenarbeit verdanken die Museen in erster Linie neue Restaurierungsmethoden, bei der viele Ergebnisse von chemischen Untersuchungen verwertet werden. Chemische und physikalische Materialuntersuchungen sind bei allen Museen selbstverständliche Bestandteile der Forschung geworden. Nicht zuletzt sind chemische und physikalische Materialuntersuchungen notwendig, um in den schwierigen Problembereich der Fälschungen zu möglichst gesicherten Ergebnissen zu kommen. Daß bei der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften die Museen eine außerordentlich wichtige Rolle spielen, ergibt sich schon daraus, daß sie im allgemeinen über die Untersuchungsobjekte verfügen. Den Nutzen dieser Zusammenarbeit haben aber nicht allein die Geisteswissenschaften. Auch die Geschichte der Technik - etwa die historische Erforschung der Metall- und Keramikproduktion - verdankt dieser Zusammenarbeit viele Anregungen und außerordentliche Erweiterungen ihrer Kenntnisse. Gewandelt hat sich nach dem Kriege auch das Verhältnis der Museen zu ihren Besuchern. Die Veränderung der gesamten Schul- und Bildungsstruktur brachte es mit sich, daß der „gebildete Museumsbesucher" der alten Zeit, der einst sogar die überfüllten wissenschaftlichen Sammlungen der Museen noch mit Geduld und Gewinn ertrug, immer seltener wird. Neben der Bildung als Voraussetzung des Museumsbesuches ist der ursprünglichste Antrieb aller Museumsarbeit wieder in den Vordergrund getreten: die Neugierde und die Lust am Entdecken der Welt. Daß diese wirklich eine stets wachsende Zahl von Besuchern in die Museen fuhrt, zeigen die auf der ganzen Welt ständig steigenden Zahlen. So stieg etwa die Besucherzahl der Kölner Museen von 293.000 (1960) auf 1.243.271 (1970); bei den Staatlichen Museen in Berlin stehen 180.000 Besucher im Jahre 1960, 740.000 im Jahre 1968 gegenüber. Welche Wege sollen die Museen nun einschlagen, um die Neugierde und die Entdeckerlust ihrer Besucher zu befriedigen, ihre Phantasie anzuregen und ihr Fragen in Erkennen zu verwandeln? Zunächst müssen sie damit rechnen, daß ihre Besucher trotz aller Neugierde keineswegs naiv sind, sondern gewöhnt, durch Radio und Fernsehen, durch vorzüglich illustrierte Bücher und Zeitschriften ständig Lebensbereiche auf der ganzen Welt kennenzulernen, die unmittelbar nur durch weite Reisen in fremde Länder oder - soweit es sich um vergangene Epochen handelt — nur durch intensives Studium zugänglich sind.

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Die Gewöhnung an die bequeme Erschließung der vergangenen und gegenwärtigen Welt durch die verschiedenen Medien hat unsere Empfänglichkeit für optische Eindrücke stark erhöht, gleichzeitig aber auch die Gefahr mit sich gebracht, daß ein Eindruck schon bald von einem anderen verdrängt wird und daß wir die Fülle der Anregungen nur durch eine gewisse Oberflächlichkeit ertragen können. Darüber hinaus bringt die oft ohne die notwendigen Sachkenntnisse und die erforderliche Gewissenhaftigkeit betriebene Popularisierung wissenschaftlicher Probleme die Gefahr einer allzu simplen Darstellung komplizierter Probleme mit sich. Oft werden gewagte Hypothesen für gesicherte Erkenntnisse gehalten oder im historischen Bereich Vorstellungen unserer Zeit unmittelbar auf fremde Epochen und Kulturen übertragen, ohne daß man sich über deren andersartige Lebensform im Klaren ist. Bei Schulführungen in einem historischen Museum kann man ständig beobachten, daß Veröffentlichungen wie die „Asterix-Hefte" als historische Veröffentlichungen aufgenommen werden, daß ihre Leser die in ihnen enthaltene Ironie und Satire kaum bemerken und ihren Inhalt als historisches Geschehen auffassen. So müssen die Museen auf der einen Seite der allgemeinen Bereitschaft zum Sehen, auf der anderen aber auch den angedeuteten Gefahren gebührend Rechnung tragen. Das Bemühen der Museen, ihre Besucher möglichst unmittelbar mit den ausgestellten Gegenständen vertraut zu machen, kommt schon in der Architektonischen Anlage der meisten modernen Museumsbauten deutlich zum Ausdruck. Während die „Tempel- und Palastarchitektur" oder auch die kühle ästhetische Distanzierung von Museumsräumen im Besucher ein Gefühl für die besondere Würde des Museums hervorrufen sollten, wollen moderne Museumsbauten erreichen, daß dieser sich in ihnen möglichst „zu Hause" fühlt. Dieses Bestreben wird durch den Einbau von Ruheecken, Cafés und Gaststätten wirkungsvoll unterstützt. Die Präsentation der Sammlung soll zunächst die Neugierde des Besuchers erregen, gleichzeitig aber auch seine Lust am Entdecken wecken, seine Phantasie bewegen und Fragen aufwerfen, die Antworten erfordern. Er soll erkennen, daß er in der Ausstellung einem begrenzten und nach dem heutigen Stand unseres Wissens gedanklich geordneten Ausschnitt aus dem unendlichen All gegenübersteht. Die Fremdheit, die ihn von den ausgestellten Erscheinungen der Natur- und Kulturgeschichte trennt, soll ihm ebenso zum Bewußtsein kommen, wie die große Kontinuität alles Lebens, die ihn unmittelbar mit ihnen verbindet. Während das ästhetische Gefühl und die Fantasie des Besuchers dadurch angeregt werden soll, daß die Art der Ausstellung einzelne Objekte besonders betont herausstellt, muß das Bedürfnis, mehr von ihnen

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zu erfahren und sie in größere Zusammenhänge einzuordnen, durch eine geeignete Form der Belehrung befriedigt werden, sei es durch Beschriftung des Raumes oder der Vitrinen, sei es durch Druckschriften, persönliche Führungen oder audiovisuelle Hilfsmittel. Hier müssen die Museen die veränderten Lehrziele der Schulen gebührend berücksichtigen und von einem Wissensstand ausgehen, der für einen möglichst großen Kreis von Besuchern verbindlich ist und ihm den Zugang zum Verständnis der Sammlung ermöglicht. Die Belehrung im Museum hat vor allen anderen Lehrformen — etwa durch das Buch oder den Film — den einzigartigen Vorteil, daß sich der Besucher mit den ausgestellten Gegenständen ganz unmittelbar und beliebig lange auseinandersetzen, sie immer aufs neue betrachten, befragen und untersuchen kann. Unsere Museen haben die Notwendigkeit einer geschickten Belehrung seit langem erkannt und suchen — oft in Zusammenarbeit mit erfahrenen Lehrern - ständig nach neuen Wegen der „Museumsdidaktik". Nicht nur naturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Museen versuchen, ihre Sammlungen dem Besucher auch gedanklich zu erschließen, sondern auch zahlreiche Kunstsammlungen sind bemüht, den unmittelbaren künstlerischen Eindruck der in ihnen ausgestellten Werke durch geeignete Erläuterungen zu vertiefen. Als ein vortreffliches Beispiel dafür sei die Neuaufstellung der Berliner Antikensammlung angeführt. Hier ist man nicht mehr davon «aus gegangen, daß jedem Besucher die griechische und römische Welt hinreichend geläufig ist, sondern in den einzelnen Sälen sind auf kurz gefaßten Schrifttafeln Erklärungen zu den in ihnen dargebotenen Themen - z. B. tägliches Leben, Sport, Götterkult — gegeben, die dem Besucher das Verständnis für den Lebensbereich eröffnen, dem die ausgestellten Gegenstände angehören. Von besonderer Bedeutung für die Bildungsarbeit der Museen ist die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen Museen und Schulen. Beim Besuch amerikanischer Museen etwa wird man auf Schritt und Tritt beobachten, daß sie fest in den Lehrplan der Schulen eingegliedert sind, so daß die Schüler sich in ihnen zu Hause fühlen und die Sammlungen für die Zwecke des Unterrichts nutzen. Nachdem weitblickende Lehrer auch bei uns bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine engere Zusammenarbeit zwischen Schulen und Museen angestrebt haben, welche aber meist an finanziellen Schwierigkeiten scheiterte, sind in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht worden. Beispielhaft sei auf die erfolgreiche Arbeit der teilweise von der Bund-Länder-Kommisssion für Bildungsplanung und Forschungsförderung unterstützten museumspädagogischen Zentren in Berlin, Bonn, Köln, Mainz, München und Nürnberg hingewiesen, in denen neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Museen und

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Schulen untersucht und erprobt werden. Die Zeitschrift Schule und Museum dient der Diskussion museumsdidaktischer Probleme auf breiter Ebene und stellt praktische Unterrichtsmodelle zur Verfugung. Daß die Öffentlichkeit die Wirksamkeit der Museen durchaus zu schätzen weiß und daß diese eine feste Stelle in unserem kulturellen Leben einnehmen, zeigen am deutlichsten die großen Sonderausstellungen, die besonderen Themen gewidmet sind: z. B. Zeit der Staufer (Stuttgart); Ausgrabungen in Deutschland (Mainz); Kykladen-Kunst (Karlsruhe); Jugendstil (Darmstadt); Zwanziger Jahre (Berlin); Die Ökoplage (Frankfurt). Die großen Besucherzahlen dieser Ausstellungen und die lebhafte Nachfrage nach ihren wissenschaftlichen Katalogen zeigen deutlich genug, wie lebhaft das allgemeine Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit bestimmten natur- und kulturgeschichtlichen Problemstellungen ist und wie notwendig die Wirksamkeit der Museen empfunden wird. Unsere Museen bieten dem Besucher begrenzte und gedanklich geordnete Ausschnitte aus den unendlichen Bereichen der Natur- und Kulturgeschichte. Sie allein haben die Möglichkeit, ihren Besuchern diese Bereiche durch Anschauung und geeignete Erläuterungen unmittelbar zu erschließen und dadurch deren geistigen Lebensraum zu erweitern. Die Grundlage aller Museumsarbeiten ist die geistige Ordnung, nach der die Sammlungen aufgebaut und dem Besucher dargeboten werden, d. h. die eigene wissenschaftliche Produktivität der Museen. Sie allein versetzt sie in die Lage, im Zusammenwirken mit der internationalen Wissenschaft aus ihren Sammlungen immer neue Erkenntnisse zu gewinnen, diese Sammlungen dementsprechend auszubauen und sie dem Besucher nach dem neuesten Stand unserer Kenntnisse zu erschließen. Ein Museum, das auf eigene wissenschaftliche Arbeit verzichtet und nur Kenntnisse aus zweiter Hand weiter vermittelt, verliert seine wirkliche Originalität und seine urspüngliche Kraft. Wenn in der heutigen Diskussion um die Aufgaben der Museen deren Bedeutung als wissenschaftliche Institute zuweilen hinter der Rolle, die sie als Bildungseinrichtungen zu spielen haben, zurücktritt, so ist das eine gefährliche Fehleinschätzung. Sammeln — Forschen - Darbieten: das eine ist nicht möglich ohne das andere. Im Mittelpunkt aller Museumsarbeit aber muß die wissenschaftliche Tätigkeit stehen. Sie allein kann den planmäßigen Aufbau einer Sammlung bestimmen und deren Bestände der Forschung und Bildung erschließen. Nur Museumsleute, die selbst im Bereich ihrer Wissenschaft produktiv tätig sind und ständig an ihrem Fortschreiten mitwirken, sind in der Lage, dem Besucher des Museums nicht nur ein selbstständiges Bild vom heutigen Stand

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unseres Wissens zu geben, sondern ihn auch am unendlichen Fragen und Antworten aller Wissenschaften teilnehmen zu lassen. Welche Maßnahmen sind nun notwendig, um den Museen die Erfüllung ihrer schweren Aufgabe zu ermöglichen, den Menschen unserer Tage durch unmittelbare Anschauung und wissenschaftliche Belehrung Bereiche der Natur und der Kultur zu erschließen mit denen sein eigenes Dasein eng zusammenhängt, die gleichzeitig aber durch die Industrialisierung in zunehmendem Maße verändert, wenn nicht gar vernichtet werden? Da im Mittelpunkt aller Museumsarbeit die wissenschaftliche Tätigkeit stehen muß, gilt es zunächst diese zu erhalten und zu stärken. Die an einem Museum tätigen Wissenschaftler müssen genügend Zeit zu eigener wissenschaftlicher Arbeit haben. Diese Forderung ist leider keineswegs selbstverständlich. Es gibt genug Museen mit bedeutenden Beständen, die nur über einen wissenschaftlichen Mitarbeiter verfügen, welcher neben dem Ausbau und der Erschließung der Sammlung noch die gesamte Öffentlichkeitsarbeit, Führungen im Rahmen des Fremdenverkehrs und der Bildungsarbeit durchführen und außerdem zahlreichen kulturellen Repräsentationsverpflichtungen gerecht werden muß, so daß er beim besten Willen nicht mehr Zeit und Kraft für seine eigentliche Arbeit hat - die Betreuung des Museums. Wenn diese stille Tätigkeit längere Zeit hinter den unaufschiebbar scheinenden Terminen der genannten öffentlichen Tätigkeiten zurückgestellt wird, muß das zu einer schlimmen Schädigung eines Museums und seiner Tätigkeit als Institution der Wissenschaft führen. Deshalb muß zuerst die Forderung erhoben werden, daß Museen, die Bestände von wissenschaftlicher Bedeutung besitzen, auch über eine hinreichende Zahl wissenschaftlicher Mitarbeiter verfügen, die die Sammlung pflegen und sie sowohl der Wissenschaft als auch der Öffentlichkeit erschließen können. Gewiß wird man die Bearbeitung bestimmter Museumsbestände einem nicht fest angestellten Wissenschaftler durch Zeitverträge übertragen können, doch entbinden solche Regelungen die Träger der Museen nicht von der Verpflichtung, den Mitgliedern des ständigen Arbeitsstabes genügend Zeit und Möglichkeiten für die wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung zu stellen. Da die Forschungstätigkeit der Museen im allgemeinen ihren Ausgang von deren Beständen nimmt, ist sie großenteils Grundlagenforschung, welche neues wissenschaftliches Material mitteilt oder erschließt. Die Museen verfügen für diese Veröffentlichungen meist über eigene Reihen von Zeitschriften, Katalogen und Monographien. Für diese Publikationsorgane, die oft eine lange und ehrenvolle Vergangenheit haben, und viel zur Förderung einzelner Wissenschaftszweige beigetragen haben, müssen hinreichende Mittel zur Verfügung stehen.

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Endlich ist es notwendig die an den Museen bestehenden Bibliotheken so auszubauen, wie es die Forschungstätigkeit der Museen erfordert. Gewiß wird es heute kaum einem Museum möglich sein, die gesamte Literatur des von ihm gepflegten Fachgebietes zu sammeln, und eine ständige Zusammenarbeit mit großen überörtlichen Bibliotheken ist unumgänglich notwendig. Trotzdem muß aber in jedem Museum doch ein Kernbestand an Literatur vorhanden sein, der den wissenschaftlichen Mitarbeitern eine unmittelbare Unterrichtung erlaubt und ihnen die ständige Auseinandersetzung mit besonders wichtigen Neuerscheinungen ermöglicht. Nicht zu unterschätzen ist endlich die Bedeutung von Studienreisen und wissenschaftlichen Kolloquien. Studienreisen sind notwendig, damit sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter eines Museums fortlaufend über die Tätigkeit verwandter Institute unterrichten und sich dadurch gegenseitig fördern können. Außerdem sind neue Bestände ihres Arbeitsbereiches meist unmittelbar nur durch Reisen kennenzulernen. Daß für bestimmte wissenschaftliche Arbeitsvorhaben — wie zum Beispiel ethnologische Expeditionen — Sondermittel zur Verfugung stehen müssen, bedarf kaum der Erwähnung. Wissenschaftliche Kolloquien sind das beste und vielleicht auch das billigste Mittel, um die Forschung im kleinen Kreis der Spezialisten zu fördern, gleichzeitig die außerordentlich notwendigen persönlichen Kontakte unter den an gemeinsamen Problemen arbeitenden Wissenschaftlern zu pflegen. Der planmäßige Ausbau der Sammlung hat das Vorhandensein entsprechender Räume zur Voraussetzung. Neben den Räumen für die Schau- und Studiensammlung müssen auch Arbeitsräume für Wissenschaftler und Restauratoren in hinreichendem Maße zur Verfugung stehen. Ein planmäßiger Aufbau der Sammlungen erfordert natürlich hinreichende Ankaufsmittel. Das verhältnismäßig seltene Auftauchen von Werken ersten Ranges auf dem Kunstmarkt hat es mit sich gebracht, daß deren Preise außerordentlich gestiegen sind. Dem gegenüber sind die Erwerbungsmittel der meisten Museen so gering, daß es nur wenigen von ihnen möglich ist, am internationalen Kunsthandel ständig teilzunehmen und die sich dort bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Die Museen sollten aber doch wenigstens so viel Mittel haben, daß sie von der regelmäßigen Aquisitionsmöglichkeit Gebrauch machen können, soweit es für den planmäßigen Ausbau ihrer Sammlungen notwendig ist. Von außerordentlicher und meist stark unterschätzter Bedeutung ist die ständige Pflege der Sammlungen. Sie ist nicht möglich ohne eine genügende Anzahl gut ausgebildeter Restauratoren. Allein fachkundige und erfahrene Restauratoren sind in der Lage, das ankommende Samm-

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lungsgut sachgemäß zu restaurieren und zu konservieren und es auch weiterhin zu beobachten, um eventuell auftretende Schäden zu verhüten. Der ständigen Verbesserung der Restaurierungs- und Konservierungsmethoden und der planmäßigen Ausbildung von Restauratoren der verschiedenen Fachbereiche unserer Museen in zentralen Institutionen muß deshalb größte Aufmerksamkeit gewidmet werden, wenn einzigartige und unwiederbringliche Schätze unsere Museen nicht ständig von der Vernichtung bedroht sein sollen. Besonders gefährdet sind erfahrungsgemäß die oft außerordentlich wichtigen Bestände kleinerer Museen, die häufig jeder regelmäßigen Pflege entbehren und dadurch einem sicheren Verfall preisgegeben sind. Der Schaden, den sowohl die Wissenschaft als auch die Bildungsarbeit durch solche Vorgänge erleidet, ist kaum abzuschätzen. Zuletzt sei noch ein Wort der Ausstellungspraxis der Museen gewidmet. Die harten Verluste, die die deutschen Museen durch den Krieg erlitten haben, sind allmählich ausgeglichen worden und die meisten von ihnen können ihre Bestände in modernen Ausstellungsräumen der Öffentlichkeit zugänglich machen. Soweit die Sammlungen der Öffentlichkeit noch nicht wieder in vollem Maße zugänglich sind, muß das mit allen Mitteln angestrebt werden. Eine besondere Bedeutung haben in den letzten Jahren Sonderausstellungen erhalten, die bestimmten Themen gewidmet sind und sowohl für die Wissenschaft als auch für die interessierte Öffentlichkeit von größtem Interesse sind. Den Museen sollten hinreichende Räume und Mittel zur Durchführung solcher Sonderausstellungen zur Verfügung stehen, weil sie erfahrungsgemäß über ihre eigene Dauer hinaus viele Besucher anregen, auch den ständigen Ausstellungen der Museen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sowohl in den ständigen Ausstellungen als auch in den Sonderausstellungen sollten die vielfältigen Erfahrungen genutzt werden, die die Museen im Hinblick auf ihre Publikumswirksamkeit gewonnen haben. Daß die Museen versuchen, durch den Reiz des Raumeindruckes, der Verwendung wechselnder Farbe und einer interessanten Anordnung der Ausstellungsobjekte die Neugier des Besuchers zu erregen, ist heute wohl selbstverständlich. Deutlich zeigen sich allmählich auch die Grenzen und die besonderen Möglichkeiten der Methoden, mit denen die Museen ihren Besuchern ihre Sammlungen erschließen. Nachdem audiovisuelle Geräte Eingang in die Museumspraxis gefunden hatten, führte der Reiz ihrer Neuheit verständlicherweise dazu, daß sie möglichst vielseitig verwendet wurden. Zur Erläuterung der Funktion etwa von prähistorischen, ethnologischen und volkskundlichen Gegenständen

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sind kurze Filme in ihrer Wirkung wohl kaum zu übertreffen. Andererseits aber wurde deutlich, daß die Eindrücke, die audiovisuelle Geräte erzeugen, sich leicht gegenseitig verwischen können, wenn diese in allzugroßer Zahl eingesetzt werden. Gut durchdachte Texte an einzelnen Vitrinen oder Gegenständen, Loseblatt-Erklärungen — wie sie die Ehemals Staatlichen Museen in Berlin-Dahlem mit großem Erfolg verwenden — Faltblätter und die altbewährten „Führer" haben sich nach wie vor als unentbehrlich erwiesen, zumal diese es möglich machen, die im Museum gewonnenen Eindrücke zu Hause zu vertiefen. Die Herausgabe solcher Druckschriften ist deshalb für die Bildungsarbeit der Museen unerläßlich, und den Museen müssen hierfür entsprechende Mittel zur Verfügung stehen. Endlich sei auf die Wichtigkeit der Zusammenarbeit zwischen den Museen auf der einen und Schulen sowie Bildungseinrichtungen aller Art auf der anderen Seite hingewiesen. Erst wenn es gelingt, kommende Generationen von Jugend an mit Museen aller Art vertraut zu machen, werden diese ihre ganze Wirksamkeit entfalten und ihr Teil dazu beitragen können, daß in einer Zeit, in der durch die Industrialisierung unaufhaltsam tiefe Eingriffe in die Entwicklung der Natur und der Kultur erfolgen, die lebendigen Zusammenhänge unseres eigenen Daseins mit diesen Lebensbereichen gewahrt bleiben und wir das unserer Zeit gemäße Verhältnis zu ihnen finden. 1

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Über die Museen in Deutschland und ihre Arbeit unterrichtet die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebene Denkschrift Museen Zur Lage der Museen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), 1974. Zu der oben kurz skizzierten Geschichte der Museem vgl. den Aufsatz des Verfassers Altertumssammlungen gestern und heute. In: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz. 17 (1970), l f f .

Bernhard Zeller (Marbach) Literaturarchive Wie jede historische Wissenschaft ist auch die Literaturwissenschaft vom Umfang und Wert der Überlieferung abhängig. Sie bestimmt unser Wissen von der Literatur vergangener Epochen, und sie wird einst die Vorstellungen prägen, die sich die Zukunft von der gegenwärtigen machen wird. Die Authentizität der literarischen Texte zu sichern und die Zeugnisse zu sammeln, die sie vermitteln sowie über ihr Entstehen und ihr Wirken Auskunft geben können, gehört daher zu den notwendigen Vorarbeiten literaturwissenschaftlicher Forschung, ja bildet weithin die entscheidende Voraussetzung für deren Wahrheitsgehalt und Qualität. Die Sammlung originaler Texte in ihrer Eigenschaft als Quellen für eine kritische Sichtung der Überlieferung, nicht mehr nur als Objekt des Liebhabers, der im Autograph den Urheber erlebt, in den eigenhändigen Zeilen den Schreiber spürt, setzt einen bestimmten Entwicklungsstand des historischen Bewußtseins voraus. Erst mit dem Fortschreiten der Editionsphilologie im Laufe des 19. Jahrhunderts begann auch die wissenschaftliche Bewertung literarischer Nachlässe und Autographen, wurden sie in ihrem Rang als Textzeugen, als historische Quellen erkannt. Allerdings die praktischen Konsequenzen dieser Erkenntnis, d. h. die planvolle Sammlung und Sicherung literarischen Überlieferungsgutes, verstanden als kulturelle Aufgabe von Staat und Gesellschaft, wurden zunächst nicht gezogen; Ansätze blieben auf persönliche Initiativen beschränkt. Daß „die Erhaltung, Sammlung und zweckmäßige Anordnung der Handschriften für das wissenschaftliche Studium der Literatur ganz unentbehrlich" sei, daß Archive für Literatur, ja ein Staatsarchiv für Literatur, als eigenständige Institute eingerichtet und besondere Literaturarchivare ausgebildet werden müßten, hat als erster Wilhelm Dilthey gefordert und die Aufgaben und Arbeitsmethodik dieser Archive detailliert, seiner Zeit weit vorausschauend, erläutert. Doch Diltheys Appell, vorgetragen in Berlin bei der Gründungsversammlung einer Gesellschaft für deutsche Literatur am 16. Januar 1889, blieb ohne nachhaltiges Echo. Der preußische Kultusminister von Goßler vertrat die Ansicht, man könne vielleicht eine städtische Verwaltung für diese Angelegen-

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heiten interessieren, und die „von den Regierungen den Geisteswissenschaften anerzogene Bescheidenheit" (ein nach wie vor gültiges Diktum Diltheys) war zu groß, um die Forderungen mit einigem Nachdruck durchsetzen zu können. Zwar wurde in privatem Rahmen ohne staatliche Hilfe 1891 eine Literaturarchivgesellschaft gegründet, die es im Laufe ihrer dreißigjährigen Existenz zu einer ganz stattlichen Sammlung von Nachlaß teilen brachte, aber selbst in Kreisen der Archivare und Bibliothekare fanden Diltheys Vorschläge zunächst kaum Beachtung. Seine Mahnung blieb erfolglos, obwohl er auf das Schicksal der Papiere Kants verwiesen hatte, die zu großen Teilen viermal über den Tisch des Auktionators gewandert, ja zum Einwickeln von Kaffee und Heringen benutzt worden waren. Bis heute gibt es in Deutschland, einem Land, dessen Beitrag zur Philosophie von weltweiter Bedeutung ist, kein zentrales Archiv für die Geschichte der deutschen Philosophie, und auch auf dem Gebiet der literarischen Überlieferungspflege herrscht so heillose Zersplitterung, daß für jede neue, auf Vollständigkeit zielende Werk- und Briefausgabe Jahre mühseligen Sammeins der Texte unumgänglich sind. Nicht nur, daß sich um die Mitte des letzten Jahrhunderts keine deutsche Bibliothek und kein deutsches Archiv finden ließ, das bereit gewesen wäre, die nahezu eintausend, viele Jahre lang zum Kauf angebotenen Originale des Briefwechsels zwischen Schüler und Goethe zu erwerben, noch zu Beginn der 30er Jahre dieses Jahrhunderts wurden die Nachlässe von Achim von Arnim, von Novalis und Theodor Fontane durch Versteigerungen in alle Winde zerstreut, weil keine deutsche Bibliothek finanzkräftig genug war, sie geschlossen an sich zu bringen. Als etwa zu dieser Zeit dann der Leipziger Bibliothekar Wilhelm Frels eine erste Bestandsaufnahme der Handschriften deutscher Dichter aus den Jahren 1400 bis 1900 unternahm, mußte er feststellen, daß sich nur von einem Siebentel der untersuchten 2100 Schriftsteller Nachlässe oder nennenswerte Nachlaßteile in öffentlichem Besitz befanden, von 584 Autoren ließ sich nicht eine einzige Handschrift mehr nachweisen. Innerhalb der deutschen Literatur hat als erster Goethe, lange vor Dilthey und lange vor Beginn intensiverer öffentlicher Sammelarbeit, das eigene Werk, seine Sammlungen und seinen Nachlaß als eine der Überlieferung werte Einheit betrachtet und in dem Aufsatz Archiv des Dichters und Schriftstellers einige bereits recht modern wirkende Archivprinzipien entwickelt. Mit Goethes Hinterlassenschaft konnte dann das großartige Fundament für das erste selbständige Literaturarchiv in Deutschland gelegt werden, allerdings erst 1885, mit einer für die deutsche Geistes- und Wissenschaftsgeschichte folgenreichen Verspätung. Das Weimarer Goethe-Archiv, das zximGoethe-undSchiller-Archiv

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wurde, nachdem sich auch die Erben Schillers entschlossen hatten, Schillers Hinterlassenschaft der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, und das seit 1896 ein eigenes stolzes Haus besitzt, nahm in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz eine Reihe bedeutender Dichternachlässe und literarischer Hinterlassenschaften vornehmlich aus der Zeit der Weimarer Klassik und von Dichtern des 19. Jahrhunderts auf. Es war jedoch ebenso wie das wenige Jahre später eröffnete Schiller-Museum in Marbach a.N., das sich bemühte, die Nachlässe schwäbischer Dichter zu sammeln, von dem Verständnis der Erben literarischer Hinterlassenschaften und der Munifizenz wohlwollender Mäzene abhängig, und das heißt: mehr vom Zufall als von bewußter Planung. Die eigenen Erwerbungsetats waren überaus dürftig und erlaubten keinen gezielten Aufbau der Bestände, vor allem aber blieb der personelle Aufwand auf ein Minimum beschränkt und ermöglichte keine genauere Verzeichnung und Erschließung des Gesammelten. Das war in Weimar, wo zudem die Edition der großen sog. Sophien-Ausgabe von Goethes Werken und Briefen alle andere Arbeit blockierte, in jenen ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts nicht anders als in Marbach oder in den universalen wissenschaftlichen Bibliotheken, die in einer besonderen Handschriftenabteilung neben ihren mittelalterlichen Handschriftenbeständen auch Nachlässe und Autographen aus neuerer Zeit sammelten. Gegenüber den meist sehr viel kostbareren Buchhandschriften aus der Epoche vor Gutenberg führten die äußerlich glanzloseren Objekte aus neuer und neuester Zeit allerdings nur zu oft ein etwas stiefkindartiges Dasein. Größere Handschriftenabteilungen mit Beständen aus neuerer Literatur entstanden in Berlin (Preußische Staatsbibliothek) und München (Bayerische Staatsbibliothek); aber auch in einer Reihe von Landes- und Universitätsbibliotheken finden sich heute stattliche und auf ständige Ergänzung bedachte Sammlungen. Dazu kommen einige literarische Gedenkstätten und Literaturmuseen mit mehr oder weniger großen, vielfach auf bestimmte Dichter, Epochen oder Regionen festgelegten Literaturarchiven: so etwa das Freie Deutsche Hochstift/Goethe-Museum in Frankfurt a.M. oder das Goethe-Museum in Düsseldorf, das aus der Goethe-Sammlung des Verlegers Anton Kippenberg erwachsen ist. Die staatlichen und kommunalen Archive, die natürlich auch ihre Nachlaßbestände haben, klammern in Deutschland in der Regel das Sammeln literarischer Nachlässe und Handschriften aus ihrem Programm aus und überlassen diese Aufgabe wissenschaftlichen Bibliotheken oder Spezialinstituten. Dennoch wurde, da in anderen Ländern z. T. andere Tendenzen bestimmend sind, erst in jüngster Zeit innerhalb des Internationalen Archivrats ein besonderes Komitee ßr Literaturund Kunstarchive gegründet.

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Im Gegensatz zu den Archiven des Staates und der Gemeinden, aber auch zu Wirtschafts- oder besonderen Behördenarchiven, die durch die Übernahme von zu archivierenden Registraturen mit fast genormter Zwangsläufigkeit mit dem Anfall der ihnen überlassenen Aktenmaterialien zurechtkommen müssen und sich vor allem mit den Problemen der Massenbewältigung herumzuschlagen haben, erfolgt die Aufnahme von literarischem Schriftgut in die künftigen Archivstandorte in der Bundesrepublik ohne geregelte und von vornherein festgelegte Steuerung. Die Hinterlassenschaft eines Schriftstellers und Künstlers ist zwar auch eine Art von Registratur, und ihr kann nicht selten ein hohes öffentliches Interesse gewiß sein, aber sie ist Privateigentum, unterliegt also der freien persönlichen Verfügung des Besitzers oder seiner Erben. Je höher •der literarische Rang oder die Popularität eines Schriftstellers ist, je seltener Autographen von ihm in den Handel kommen, desto größer ist oft das allgemeine Interesse an seinen Handschriften sowohl von der Seite der Sammler aus wie auch solcher öffentlicher Institutionen, die nun mit dem Hinweis, Geburts- oder Sterbeort oder auch Stätte besonderer Wirksamkeit gewesen zu sein, ihre Ansprüche anmelden, Wünsche, die dann oft mehr auf kulturelle Repräsentation als auf sinnvolle Sicherung und wissenschaftliche Erschließung gerichtet sind. Mit solchen Interessenkollisionen ist zu rechnen. Sie werden zwischen öffentlichen Einrichtungen in der Regel durch Absprache und Kooperation einigermaßen überbrückt, lassen sich aber gegenüber dem Handel und dem privaten Sammler nicht immer vermeiden. Viel häufiger als das gedoppelte Interesse ist jedoch der Mangel an Interesse, genauer der Mangel an Mitteln zur Wahrnehmung notwendiger Interessen. Die großen Ankaufsversäumnisse wurden schon erwähnt, aber zu diesen Versäumnissen und der fehlenden Konsequenz im Aufbau von literarischen Archivbeständen kommen nun die ungeheuren Verluste, die durch Emigration, Krieg und Kriegsfolgen entstanden sind. Sie haben nicht nur vieles vernichtet, sondern vor allem auch eine weltweite Zersplitterung gefördert. Über alle Kontinente hinweg sind heute die Quellen, die Texte und Zeugnisse zur Geschichte der deutschen Literatur verstreut; in London, Paris und Rom, in amerikanischen Universitätsbibliotheken, in Jerusalem, in Leningrad und Moskau müssen sie gesucht werden. Nicht nur die Werke exilierter Autoren, auch ganze Verlagsarchive und wertvolle Privatsammlungen wurden ins Ausland gebracht und sind nicht selten inzwischen fremdländischer Bibliotheks- und Museumsbesitz geworden — ein Faktum, das zur Folge hatte, daß sich die neuen Eigentümer auf deutschen Märkten um die Komplettierung ihrer Sammlungen bemühten. Nicht nur, wer heute Heine ediert, auch wer Werke und Briefe von Hugo von Hofmannsthal, von Kafka oder Thomas Mann herausgeben

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will, muß mit großem Zeitaufwand und kriminalistischem Spürsinn Archive und private Sammlungen in aller Welt konsultieren. Aufgrund dieser Situation wurden in den letzten Jahrzehnten die Bemühungen um die Sammlung und Sicherung des noch erreichbaren, literarischen Archivguts intensiviert. In Marbach wurde zunächst im Schiller-Nationalmuseum, dann in einem neuen Archiv- und Studienbau das 1955/56 von der Deutschen Schillergesellschaft gegründete und seitdem von ihr getragene Deutsche Literaturarchiv zu einer großen Institution entwickelt, die heute rund 450 z. T. sehr umfangreiche Nachlässe verwahrt. Die Akademien der Künste in Ost- wie Westberlin haben Archive für das Schrifttum unseres Jahrhunderts eingerichtet, die Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist bestrebt, die Traditionen der früheren Preußischen Staatsbibliothek fortzusetzen. Das Frankfurter Goethe-Museum sammelt neben Goethe die deutsche Romantik, im Düsseldorfer Goethe-Museum wird die gesamte Goethe-Zeit, in Hamburg und München und vielen anderen Orten werden Dichterautographen nach landsmannschaftlichen Prinzipien gesammelt, am Nieder-und am Oberrhein sind Ansätze von Literaturarchiven entstanden. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg hat begonnen, sich um die schriftliche Hinterlassenschaft bildender Künstler, die Bayerische Staatsbibliothek sich um Musikerbriefe zu kümmern. Im weiteren Ausbau ihrer großartigen Musikaliensammlung und der Ergänzung wissenschaftlicher Nachlässe sieht die Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine besondere Aufgabe. Sie hat auch die Führung eines Autographenzentralkatalogs übernommen, eines Katalogs, der die ihm von den einzelnen Instituten gelieferten Katalogkarten zusammenfaßt und schon heute ein wichtiges Instrument für rasche Orientierung darstellt. Allerdings sind Interesse und guter Wille überall erheblich größer als die ökonomische Leistungskraft. Es ist ja nicht damit getan, wertvolles Nachlaßgut zu bergen und zu sichern, wichtig ist, daß Literaturarchive geschaffen und vorhandene Archive und Handschriftenabteilungen so gestützt werden, daß sie die übernommenen Nachlässe und Sammlungen kontinuierlich und konsequent durch Weitersammeln ergänzen und bereichern können und daß dem planvollen Bestandsaufbau die unverzügliche Erschließung parallelgeht, also das Gesammelte durch Kataloge und Inventare möglichst rasch nachgewiesen und zugänglich gemacht wird. Es darf nicht genügen, einen durch Kauf oder Stiftung erworbenen Nachlaß nur wohl verzeichnet und gut gesichert in den Tiefen der Magazine zu verwalten. Er muß vielmehr durch aktives zusätzliches Sammeln, durch den Erwerb abgesprengter Stücke wie durch das Sammeln von Briefen, der entsprechenden Forschungsliteratur und aller Dokumente seiner Auswertung und seiner Rezeption ständig ergänzt,

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gleichsam „auf dem Laufenden" gehalten werden. Diese Verpflichtung muß den finanziellen Trägern der einzelnen Institute immer wieder deutlich gemacht werden, ebenso aber auch die Tatsache, daß die Sammlung originaler Handschriften und Dokumente, daß Manuskriptund Briefsammlungen mit einer Fachbibliothek verbunden werden müssen, die über alle erforderliche Primär- und Sekundärliteratur und über die zur wissenschaftlichen Bearbeitung notwendige Forschungsliteratur, besonders auch über einen ausreichenden Zeitschriftenbestand verfügt. Daraus folgt wiederum, daß sich einzelne isolierte Dichterarchive oder Archive für kleinere Gruppen von Autoren, mögen sie mit Engagement errichter worden und auch mit reichen Dotationen ausgestattet sein, bei dem derzeitigen Wissenschaftsbetrieb auf die Dauer schwer halten können, jedenfalls unrationell arbeiten und häufig in Sackgassen enden. Literaturarchive sind selbständig gewordene Spezialinstitute, die sich von den großen universal angelegten, aber nicht mehr universal zu verwirklichenden Institutionen abgelöst haben, bzw. mit ihren besonderen Aufgaben neben sie getreten sind. Ihre Selbständigkeit aber, auch die Freiheit in der Wahl ihrer besonderen Arbeitsmethoden, läßt sie nur rechtfertigen, wenn sie eine gewisse Autarkie in ihrer wissenschaftlichen Existenz erreichen. Können sie eine solche erlangen und auch behaupten, dann werden sie eine wichtige und dringend notwendige Position im Felde der Geisteswissenschaften einnehmen. Die Aufgaben der Literaturarchive wie die Aufgaben der Handschriftenabteilungen großer Bibliotheken reichen heute im Bereich des Sammeins weiter, als allgemein angenommen wird. Zu den Nachlässen, Manuskript- und Korrespondenzsammlungen treten — um nur einiges zu nennen — die Typoskripte und Bänder von Funk- und Fernsehsendungen, also jener Literatur, die zwar eine ziemliche Publizität gewinnen kann, aber meist nicht den Weg zum Druck findet. Auch Schallplatten, Filme, Theaterprogramme, Presseausschnitte, Verlagsprogramme und Kataloge gehören dazu sowie die Dokumentation der Rezeption der Literatur bis hin zu Vertonungen und Illustrationen. Das Sammelgebiet eines Literaturarchivs erstreckt sich ferner auf die Registraturen von Redaktionen literarischer und literaturwissenschaftlicher Zeitschriften und entsprechend ausgerichteter Verlagsarchive sowie auf den dokumentarischen Niederschlag literarischer Vereinigungen und Akademien und schließlich auch auf die Dokumentation der eigenen Wissenschaftsgeschichte. Eine Arbeitsstelle zur Geschichte der Germanistik befindet sich im Marbacher Literaturarchiv im Aufbau. Einzelne Literaturarchive haben sich teils in Verbindung mit Literaturmuseen, teils innerhalb literarischer Gedenkstätten entwickelt. Archive wie Museen können daraus ihren Nutzen ziehen. Ein modernes Literaturarchiv sollte die

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Möglichkeit haben, das Gesammelte durch wechselnde Ausstellungen sichtbar zu machen und in das Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit zu bringen, damit aber auch sich selbst darzustellen und seine Sammelarbeit zu legitimieren. Die Manuskripte großer Dichtungen, wichtige Briefe oder Tagebücher eines Schriftstellers sind ja mehr als nur literaturwissenschaftliche Quellen und originäre Aussagen ihrer Zeit. Sie sind der Achtung und Beachtung wert als Dokumente künstlerischer Leistung an sich, wert der Überlieferung aber auch als persönliche Zeugnisse eines Menschen und Dichters, als „documents humains". Sind Ausstellungen die eine zusätzliche Aufgabe des Literaturarchivs, so die Erforschung und Auswertung der Texte und Dokumente die andere. Es erscheint sinnvoll und notwendig, daß zwischen archivarischer und editorischer Arbeit, zwischen Sammlung, Verwaltung und Wissenschaft, eine engere Verklammerung und Kooperation angestrebt wird, als es bisher im allgemeinen der Brauch ist. Die Entwicklung der Literaturwissenschaft hat zu einer gewissen Differenzierung zwischen materialerschließenden Arbeiten auf der einen, interpretatorischen, bio- oder monographischen auf der anderen Seite gefuhrt. Zur ersteren gehören Nachlaßverzeichnisse und Kataloge, Dokumentenveröffentlichungen, Editionen und Bibliographien. Sie sind in der Regel Langzeitunternehmen, die institutioneller Sicherung bedürfen, aber trotz notwendiger Zusammenarbeit mit der Hochschulgermanistik nicht zu sehr von einzelnen Lehrstühlen mit ihrer wechselnden Besetzung abhängig gemacht werden sollten. Es erscheint auch wenig zweckmäßig, wenn neue Editionsunternehmen damit beginnen, sich gleichsam im freien Raum eigene — und das heißt letztlich zeitlich befristete - Archive einzurichten. Ökonomischer, sinnvoller und praktikabler dürfte es sein, größere Editionsunternehmen wissenschaftlichen Akademien zu übertragen oder an Literaturarchiven anzusiedeln, dafür Planstellen zu schaffen sowie den vorhandenen wissenschaftlichen Mitarbeitern neben den rein archivarischen Aufgaben auch solche der Edition anzuvertrauen und eine personelle Verknüpfung zwischen sammelnden, verwaltenden und erschließenden Arbeiten anzustreben. Solche Verbindungen brauchen keineswegs Abhängigkeiten zur Folge zu haben, sie lassen sich elastisch handhaben, erfordern nur eine klare Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen. Zum richtigen Edieren gehören archivarische Kenntnisse, zum richtigen Sammeln und Archivieren die persönliche Erfahrung des wissenschaftlichen Umgangs mit der eigenen Sammlung und das Wissen um den jeweiligen Stand der Forschung. Jedes gößere Editionsunternehmen ist zugleich eine Organisation die verwaltender Arbeit bedarf, Aufgaben, die in der Regel besser den Verwaltungsabteilungen der Institute als den Editoren

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selbst übertragen werden. Dafür gibt es manche Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart: Für die große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe wurde vom Lande Würtemberg ein Verwaltungsausschuß eingesetzt und innerhalb der Würtembergischen Landesbibliothek ein besonderes HöderlinArchiv aufgebaut. Die Heinrich-Heine-Ausgabe ist mit dem Heine-Institut in Düsseldorf, die Hoffmannsthal- und Brentano-Ausgabe mit dem Freien Deutschen Hochstift, die Werk- und Briefausgabe von Eduard Mörike, die Waiblinger-Ausgabe und andere Editionen sind mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, die groß angelegte Regestausgabe der Briefe an Goethe, eine Edition der Briefe Herders und eine weitere Ausgabe der Werke und Briefe Heines mit den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar verbunden. Die historisch-kritische Schiller-Nationalausgabe wird seit Anfang der vierziger Jahre vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und dem Schiller-Nationalmuseum in Marbach gemeinsam herausgegeben. Hinter den Bandbearbeitern, die in der Regel als freie Mitarbeiter auf Honorarbasis tätig sind, und den beiden wissenschaftlichen Herausgebern steht ein paritätisch zusammengesetzter Verwaltungsausschuß, dem in jährlichem Wechsel der Direktor der Forschungs- und präsiGedenkstätten und der Direktor des Schiller-Nationalmuseums dieren. Die Ausgabe, von der nunmehr 25 Bände vorliegen, erscheint im Verlage Böhlau, Weimar, und wird im Westen über Böhlau, Köln, ausgeliefert. Die Finanzierung des bundesrepublikanischen Anteils an der Ausgabe erfolgt durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Von ihr, und damit von ihrem Gutachter- und Bewilligungsverfahren, sind fast alle größeren Editionsunternehmen unseres Landes abhängig. In vielen Fällen bestehen Mischfinanzierungen, die zusätzliche Verwaltungsarbeit erfordern und schon aus diesen Gründen eine Institutionalisierung wünschenswert machen. Eine solche kann auch in Verbindung mit einer literarischen Gesellschaft erfolgen. Die Theodor-Storm-Gesellschaft mit ihren Publikationen, vor allem ihren Briefeditionen, mag dafür als ein Beispiel möglicher Zusammenarbeit genannt werden. Hingewiesen sei aber auch auf die Kommissionen geschichtlicher Landeskunde, die auf historischem Gebiet die Kooperation zwischen Archiv, Universität, freier Forschung und Verwaltungsbehörden praktizieren und etwa in Baden-Württemberg, aber auch in manchen anderen Bundesländern, eine überaus positive wissenschaftliche Publikationstätigkeit entwickelt haben. Da die Arbeiten über neuere Autoren, vor allem Arbeiten materialerschließender Art, die genaue Beachtung der Urheber- und Personenrechte, aber auch der Eigentumsrechte, der geistigen wie materiellen, erfordern und damit Probleme aufwerfen, die der einzelne Editor —

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übrigens keineswegs nur der neuerer Autoren — oft schwer in ihrer ganzen Tragweite übersieht, kommt den verwaltenden Instanzen auch in dieser Hinsicht beratende Funktion zu, ja erweist es sich als zweckmäßig, solche Probleme der Verantwortung übergeordneter Institutionen zu übertragen. Das hier skizzierte Programm des literaturwissenschaftlichen Sammeins und Erschließens, das bei seiner Verwirklichung natürlich auch zahlreichen verwandten Disziplinen zugutekommt, verlangt eine stärkere personelle Besetzung der Literaturarchive. Sie ist in erster Linie eine Finanzfrage, die sich aber nicht auf die Archive selbst beschränkt. Da es die derzeitige Situation einer nicht geringen Zahl begabter Nachwuchswissenschaftler unmöglich macht, die erstrebte, zuweilen schon begonnene akademische Laufbahn zu erreichen bzw. fortzusetzen, solche Begabungen aber nicht dem Fach verlorengehen sollten, müssen dringend Möglichkeiten geschaffen werden, sie in sinnvoller Weise auch an außeruniversitären wissenschaftlichen Einrichtungen unterzubringen. Die großen Editionsunternehmen, die sich zuweilen auf Jahrzehnte erstrecken und häufig die Neigung haben, auf der Strecke zu bleiben, bieten sich dafür an und hätten selbst Gewinn davon. Sie könnten bei stärkerer Besetzung beschleunigt werden, und manche längst notwendige kritische Werk- und Briefausgabe ließe sich erarbeiten, die bisher noch gar nicht in Angriff genommen werden konnte. In der Errichtung von Stellen, die je nach Bedarf an die Institute delegiert werden könnten, ließe sich wohl eine zweckvolle Organisationsform finden, die auch genügend Elastizität besäße. Da eine ausschließlich auf Editionsarbeit festgelegte Tätigkeit die Gefahr der Sterilität in sich birgt, zum anderen aber eine auf zu kurze Frist bemessene Anstellung große äußere Unsicherheiten zur Folge hat, dürfte es sinnvoll sein, die editorische Arbeit mit archivarischen oder bibliothekarischen Arbeiten, eventuell auch mit Lehraufträgen zu koppeln und ihr dadurch eine gewisse Langfristigkeit und eine gewisse Vielseitigkeit zu sichern. Im Vordergrund der Arbeiten und Aufgaben eines Literaturarchivs steht der Aufbau und die Verwaltung wissenschaftlicher Sammlungen. Es gilt, das zu sammeln, was die Wissenschaft von morgen in den Archiven sucht. Je enger aber die Verklammerung literaturarchivarischer mit literaturwissenschaftlicher Arbeit ist, desto fruchtbarer wird sie sich für beide auswirken.

Hubert Glaser (München)

Ausstellung und Forschung am Beispiel kulturhistorischer Präsentationen der letzten Jahre betrachtet

Was hat die Vorbereitung und Durchführung von Ausstellungen mit geisteswissenschaftlicher Forschung zu tun? Der Zusammenhang scheint am ehesten dort gegeben zu sein, wo Kunstwissenschaftler sozusagen für sich selbst Ausstellungen veranstalten, das heißt, wo sie Werke, die in der Regel räumlich getrennt sind, aber durch ihre Entstehung, ihren Stil, ihre Motive zusammengehören, nebeneinanderstellen, um sie besser analysieren und miteinander vergleichen zu können. Die Weckung von Publikumsinteresse durch Werbung scheint dabei nur ein Nebeneffekt zu sein, der den Geldgeber befriedigt oder einem Verlagsunternehmen die gewünschte öffentliche Aufmerksamkeit verschafft. Unschlüssiger wird der Zusammenhang zwischen Ausstellung und Forschung bereits dann, wenn etwa zum Abschluß der Arbeiten an einem Werkverzeichnis eine Ausstellung stattfindet. Zwar werden die interessierten Laien damit auf ein neu durchgesehenes, in seinem Bestand präzisiertes Oeuvre aufmerksam gemacht, aber die Präsentation des Bestandes ist nicht mehr durch ein wissenschaftliches, sondern nur mehr durch ein publizistisches Interesse verursacht. Jedermann weiß, daß derartige, durch die fachlichen Bestrebungen der Kunsthistoriker motivierte Ausstellungen nur einen kleinen Teil des heutigen Ausstellungsbetriebes ausmachen. Ausstellungen über kunstgeschichtliche und allgemeingeschichtliche, biographische und monographische, epochengeschichtliche oder sozialgeschichtliche Themen werden durchgeführt, weil ein öffentliches Interesse daran besteht und weil sie ein fester Bestandteil des staatlichen Kulturbetriebes, der mit öffentlichen Mitteln finanzierten Befriedigung der nichtmateriellen Interessen des Staatsbürgers geworden sind. Darüber hinaus haben Ausstellungen einen politischen Stellenwert gewonnen, gehören zu den hervorragenden Mitteln, mit denen internationale Verständigung und Kooperation, nationale oder regionale Identität, historische Kontinuität, staatliches Selbstbewußtsein, staatliche Kulturpflege dokumentiert und demonstriert werden.

Ausstellung und Forschung am Beispiel kulturhistorischer Präsentationen

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Das gegenwärtige Spektrum ist außerordentlich breit, auch dann noch, wenn man, wie es im folgenden geschehen soll, die internationale Szenerie, vor allem die vergleichbaren Erscheinungen in Frankreich, Großbritannien, in den USA, in Italien und in Österreich außer acht läßt und sich auf die Bundesrepublik Deutschland konzentriert. Es reicht von Präsentationen, die nur wegen ihres politischen Effektes oder ihres ökonomischen Ertrages in Gang gebracht werden, über Mischformen der verschiedensten Art bis hin zu völlig esoterischen, nur den Kreis der Kenner ansprechenden und befriedigenden Bemühungen. Genauso verschiedenartig sind die Organisationsformen und Trägerschaften. Große und kleinere Sammlungen aktualisieren ihre Bestände und wecken die Aufmerksamkeit des Publikums durch spezielle, einzelne Objektgruppen hervorhebende Präsentation. Akademien, gelehrte Gesellschaften und Förderervereine treten an die Öffentlichkeit, um historische oder aktuelle Erscheinungen, die von ihren Mitgliedern bearbeitet werden, in das Licht des Publikumsinteresses zu rücken. Sonderverwaltungen, an denen die öffentlichen Hände wie auch private Organisationen beteiligt sind, machen das Ausstellungsgeschäft zu ihrem Alltag und sind mit der serienmäßigen Produktion von Ausstellungen beschäftigt, wobei die Verfügbarkeit von Beständen und der vermutete Geschmack des Publikums die Wahl der Themen und die Form der Zurschaustellung bestimmen. Der Staat selbst tritt als Ausstellungsunternehmer auf, bildet Ad-hoc-Kommissionen, läßt Fragestellungen erarbeiten, stellt die Betreuer seiner Sammlungen in den Dienst seiner Vorhaben und nötigt sie zur Bereitstellung des von ihnen verwalteten Kunstgutes. Die Probleme, die in dem Augenblick auftreten, in dem vorhandene Kunstwerke von Ort zu Ort transportiert, in einer neuen Umgebung zur Schau gestellt oder gar für einen repräsentativen politischen oder gesellschaftlichen Zweck, der mit der ursprünglichen Bestimmung nicht zusammenhängt, entfremdet werden, sind hier nicht auszuführen. Jedenfalls tritt eine ganze Reihe von Spannungen auf. Sie bestehen zwischen Museen und Ausstellungsunternehmen, zwischen Konservatoren und Politikern, zwischen den Erarbeitern von Konzepten und den Verwaltern der Objekte, zwischen dem Eigenwert des Kunstwerks und dem Systematisierungstrieb der Wissenschaft und der Didaktik, zwischen dem kunstgeschichtlichen und dem historischen, sogar zwischen dem formengeschichtlichen und dem bedeutungsgeschichtlichen Interesse, zwischen dem wissenschaftlichen Gewissen der Bearbeiter und dem Informationsbedürfnis des Publikums. Für eine Skizze des Verhältnisses von Ausstellung und Forschung bildet dieses Spektrum des gegenwärtigen Ausstellungsbetriebes ledig-

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lieh den Hintergrund. Sie konzentriert sich auf das Bedürfnis nach geisteswissenschaftlicher Forschung, das bei größeren Ausstellungsunternehmungen auftritt, auf die Ursachen dieses Bedürfnisses und auf die Möglichkeiten, es zu befriedigen. Dabei ignoriert sie sogar den Fall, daß freie Forschung eine Ausstellung motiviert und veranlaßt und die Präsentation der Objekte in erster Linie dazu dient, den Ertrag der Forschung einem weiteren Kreis zugänglich zu machen, der öffentlichen Diskussion auszuliefern oder zu feiern. Deutlicher treten die Probleme zutage, kritischer erweist sich der Zusammenhang, wenn die Ausstellung selbst im Mittelpunkt steht, einer vorgegebenen Zielsetzung oder Absicht dient und, um den Bestand an Ausstellungsgut, um den es geht, besser präsentieren und kommentieren zu können, Forschung verur•sacht. Nicht die Forschung, sondern die Ausstellung ist dann das Primäre, die Forschung dient ihr, bleibt in den Fragestellungen und Methoden zwar selbständig, aber ordnet sich doch unter, indem sie ihre Richtung und ihre Dimension von dem festgesetzten Zweck, von dem Zweck der Ausstellung her, definieren läßt. Solche von konkreten Ausstellungsvorhaben her initiierte Forschung fügt sich den Bedingungen, wie sie ganz allgemein für Auftragsforschung gelten. Nur dieser Fall soll im folgenden erörtert, auf seine Bedingungen, Zwecke, Chancen und Mängel hin untersucht werden. Als Beispiele wurden einige kulturhistorische Präsentationen aus den letzten Jahren gewählt — und zwar aus drei Gründen. Zum einen kommen für die vorliegenden Problemstellungen nur Ausstellungsunternehmen in Frage, die aus übergeordneten Zwecksetzungen heraus konzipiert und langfristig geplant werden und über hinreichende Mittel verfugen. In der Bundesrepublik Deutschland sind derartige Vorhaben in der Regel von den Ländern, zum Teil mit Hilfe des Bundes, finanziert worden. Nur dort, wo ein staatliches bzw. ein politisches und somit öffentliches Interesse vorhanden ist, gibt es genügend Geld, um solche Ausstellungen von überregionaler Bedeutung durchzuführen, zur Vorbereitung Forschungsvorhaben in Gang zu bringen und - in der Regel aus Ausstellungsmitteln - zu finanzieren. Zum anderen hat sich das Publikumsinteresse immer mehr auf Ausstellungen konzentriert, die über die Darbietung von Kunstwerken hinaus einen geschichtlichen Hintergrund aufleuchten lassen (oder zumindest vorgeben, das zu tun). Es erstreckt sich auf die Antike ebenso wie auf das Mittelalter und die Neuzeit, auf den Orient ebenso wie auf das Abendland. Es kann sich zu einer Art fiebriger Neugier steigern, deren Konsequenzen vom herkömmlichen liberalen Ausstellungsbetrieb nicht mehr bewältigt werden können, und ist letztlich unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität des Unternehmens. Kulturhistorische Ausstellungen großen Stils sind ein selb-

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ständiger kulturpolitischer Faktor geworden, ein zu politischen Zwekken eingesetztes Medium, ein Indikator der auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einwirkenden Trends. Dieser Sachverhalt motiviert die öffentlichen Hände zu relativ großen Ausgaben und die Publizistik zu ideologiekritischen Höhenflügen. In dem Zulauf aber spiegelt sich nichts anderes als das Bedürfnis nach Begegnung mit der Geschichte. Es ist nicht in erster Linie das einzelne große Kunstwerk, das attraktiv wirkt über den Kreis der Fachleute hinaus, sondern die Vermutung, daß in der Ausstellung mehr als im Museum ein innerer Zusammenhang, ein geschichtlicher Sinn evident gemacht werde. Das Bedürfnis nach solcher Auskunft ist um so größer geworden, je mehr die selbstverständliche Präsenz der Vergangenheit in der gegenwärtigen Umwelt geschwunden ist. Wie die Denkmalschutzgesetze oder die öffentlichen Diskussionen über den Geschichtsunterricht oder die Hausse in Biographien ist der Publikumserfolg kulturhistorischer Ausstellungen ein Symptom für den allgemeinen Wunsch, im lebhaften, sich beschleunigenden Prozeß sozialer Veränderungen den Zusammenhang mit dem Herkommen nicht ganz zu verlieren, in den vielschichtigen Überlieferungen behaust zu bleiben, einen Rest von geschichtlicher Identität festzuhalten. Daß diese Tendenz ausgerechnet in den späten 60er und frühen 70er Jahren politisch akut wurde, ist kein Zufall; niemals, auch im Zweiten Weltkrieg nicht, ist in der Vergangenheit die natürliche und die gebaute Umwelt, sind Landschaft, Dorf und Stadt so einschneidend verändert (oder, sagt man es vom geschichtlichen Bild her, entstellt) worden wie in diesen Jahren. Daß in den kulturhistorischen Ausstellungen vergangenes Leben in Kunstgebilden, in Gegenständen von hoher formaler Qualität und kalkulierter, sozusagen zugespitzter thematischer Aussage vorgestellt wird, erhöht ihren Reiz — nicht nur, weil damit das kulturelle Erbe in seiner Größe und Unvergleichlichkeit bewußt gemacht wird, sondern weil darin die Geschichte in einer die Spannungen und Kontraste überwölbenden Harmonie erscheint. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Diese Harmonie hat es tatsächlich gegeben. Sie ist in dem kulturellen Zusammenhang, in dem die Gegenwart steht, neben den Kriegen, den Klassenkämpfen, den Revolutionen, ein Teil der geschichtlichen Wirklichkeit gewesen, der Teil, in dem vor allem das integrative Potential der Geschichte liegt. Schließlich sind die Beispiele, an deren Hand demonstriert werden soll, welchen Stellenwert die Forschung in der gegenwärtigen Ausstellungspraxis einnimmt, deshalb aus den letzten Jahren genommen, weil Unternehmungen, die weiter zurückliegen, sich im Hinblick auf das Ausmaß der wissenschaftlichen Begleitung und Kommentierung mit dem gegenwärtigen Zustand nicht recht vergleichen lassen. Wenn man

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die großen Veranstaltungen der 50er und 60er Jahre Revue passieren läßt, die Ars sacra in München 1950, die Ausstellung Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr in Essen 1956, die Rokokoausstellung in München 1958, die Ausstellung Bayerische Frömmigkeit in München 1960 oder die Clemens-August-Ausstellung in Brühl 1962 und dann die Monumenta Judaica — 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein in Köln 1963/64, die Europaratsausstellung über Karl den Grossen im Aachener Rathaus 1965 (aus deren Anlaß über den Katalog hinaus ein vierbändiges Sammelwerk erschien) oder die Corveyer Veranstaltung Kunst und Kultur im Weserraum 1966, dann fällt auf, daß etwa ab Anfang der 60er Jahre die Anforderungen so hochgeschraubt sind, die Mittel so reichlich fließen, die Veranstalter über so qualifizierte und publikationshungrige Teams verfügen, daß die großen Ausstellungen generell zum Anlaß von Forschung, die Kataloge zu Publikationsorganen für Forschungsergebnisse gemacht werden. In den letzten zehn Jahren hat sich, je nachdem, dieser Zustand verfeinert oder vergröbert, aber nicht grunsätzlich geändert. Die Ausstellung Rhein und Maas, Kunst und Kultur 800-1400, die 1972 in der Kunsthalle Köln und in den Musées Royaux d'Art et d'Histoire in Brüssel gezeigt wurde, basierte auf besonders günstigen Voraussetzungen. Das Vorhaben war alt und von hoher Dignität. Der wissenschaftliche Wert einer Präsentation von Spitzenwerken der im Mittelalter zwischen Rhein und Maas entstandenen Kunst und der Herausstellung ihrer „Wechselbeziehungen, Stilverflechtungen, Gemeinsamkeiten, Gegenseitigkeiten, Gleichheiten, Kontraste, Kontrapunktionen und Konfrontationen" wurde von niemandem bezweifelt. Bedeutende Institute stellten sich in den Dienst der Sache. Das politische Gewicht des Unternehmens, seine paradigmatische Bedeutung für die internationale Zusammenarbeit auf dem kulturellen Sektor, war nicht zu übersehen. Wo die Möglichkeiten der öffentlichen Hände nicht ausreichten, sprangen private Geldgeber ein. Entsprechend groß dimensioniert war die Strategie der Ausstellungsleitung, ihr Versuch, herausragende, zumindest im Ausland noch nie gezeigte Leihgaben zu gewinnen, sowie ihr Plan, den Katalog zu einem „Handbuch mittelalterlicher Kunst und Kultur zwischen Rhein und Maas" auszuweiten. In der Tat boten die Ausstellung und der sie spiegelnde Katalog eine überaus aspektreiche, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, die Fassungskraft des Publikums weit übersteigende Information. Dennoch kann man nicht sagen, daß es sich insgesamt und ausschließlich um ein Forschungsunternehmen gehandelt hat. Die Ausstellungsobjekte waren den Fachleuten zum größten Teil von vornherein bekannt; nicht

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in jedem Fall diente die Präsentation dem Zweck, wissenschaftliche Studien und insbesondere Vergleiche zu ermöglichen. Die Frage nach dem Element Forschung in der Ausstellung fächert den homogenen Gesamteindruck in verschiedene ungleichwertige Stränge auf. Schon die Auswahl der Objekte und ihre räumliche Zuordnung in der Ausstellung lag in den Händen hervorragender Fachleute, die ihre umfassende Kenntnis des Bestandes in die Konzeption einbrachten. Die Autoren des Katalogs haben, da die Vorbereitungszeit im engeren Sinn trotz der langjährigen Planungen allzu kurz war, in ihren Artikeln den Forschungsstand und darüber hinaus zum Teil auch die bisher unpublizierten Ergebnisse eigener Arbeit wiedergegeben. Aber sie haben dafür keine eigene, von Fall zu Fall von ihnen für durchaus nötig erachtete Forschungsarbeit leisten können. Kein Wunder, daß einzelne beteiligte Wissenschaftler das Unbefriedigende der unter Termindruck erfolgten serienmäßigen Produktion von Katalogartikeln deutlich empfanden. Insgesamt ist zwischen den historischen und den kunsthistorischen Beiträgen ein prinzipieller Unterschied auszumachen. Wenn die Kunsthistoriker in der Regel in der Lage sind, auf Grund eines für die Ausstellung unternommenen einläßlichen Studiums der Objekte den Forschungsstand zu ergänzen und zu verbessern, liefern die Historiker, wenn sie den thematischen Rahmen abstecken oder das chronologische Gerüst aufbauen, und auch dann, wenn sie Spezialaspekte klären, am Forschungsstand orientierte Kompendien ab. Die historische Forschung, so nötig sie oft im Zusammenhang mit Ausstellungen wäre, kann im Rahmen der üblichen, zwischen der Entscheidung über den Haushalt und der Eröffnung liegenden Zeitspanne nur in seltenen Fällen durchgeführt werden. Außerdem haftet der Ausstellung, wenn man sie als Kompendium, und dem Katalog, wenn man ihn als Handbuch versteht, noch die zusätzliche Schwäche an, daß nicht alle Blütenträume der Veranstalter reifen, das heißt, daß nicht alle Leih wünsche in Erfüllung gehen und also das Material nicht in der Vollständigkeit vorgeführt und analysiert werden kann wie in einer von den Zwängen des Ausstellungsgeschäfts freien wissenschaftlichen Untersuchung. Um die verschiedenen Erwartungen zu erfüllen, die wissenschaftliche Grundlegung zu vertiefen, den Ertrag der Ausstellung selbst zu sichern, nicht zuletzt, um die Ausstellung im Hinblick auf Konzeption und Erfolg einer differenzierten Analyse zu unterziehen, haben die Veranstalter ein Jahr später einen zweiten Band des Katalogs herausgegeben. Er enthält Berichte über das Echo der Ausstellung, dann eine weit ausholende Begründung für die Präsenz der Reliquienschreine und schließlich etwa dreißig Miscellaneen zu den verschiedensten, mit dem Gegenstand der Ausstellung und mit den Ausstellungsobjekten zusammen-

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hängenden Themen. Der Herausgeber hat dabei aus diversen Quellen geschöpft, separate Vorträge aufgenommen, aus dem wissenschaftlichen Rahmenprogramm ausgewählt, desgleichen aus dem von der Universität Lüttich und dem Schnütgen-Museum veranstalteten Kolloquium auf Schloß Colonsten, und darüber hinaus Spezialisten mit der Bearbeitung differenzierter Fragestellungen beauftragt. Die Fachleute am Museum selbst haben sich an dem Zustandekommen des Bandes intensiv beteiligt, aus der Feder des Ausstellungsleiters stammen allein vier Beiträge. In ihnen ist wenigstens teilweise geleistet, was ein allgemeines Desiderat von Ausstellungen ist, aber in der Regel nicht zustande kommt, nämlich die Auswertung der Ausstellung für die kunstwissenschaftliche Forschung. Insgesamt ergibt sich folgendes Bild: Die Rhein-und-Maas-Ausstellung war von kunsthistorischen Gesichtspunkten her konzipiert. Die Impulse, die von ihr während der Vorbereitungszeit und während der Durchführung ausgingen, sind beträchtlich. Die Forschungsarbeit wurde zum Teil vom Stab der Ausstellung und von den auswärtigen Ratgebern und Mitarbeitern bewältigt, zum Teil als Auftragsarbeit vergeben. Die Ausstellung selbst hat sich als eine Institution verstanden, die für die Publikation von Forschungen ein besonders geeignetes Forum bietet, sie hat in zwei Bänden sehr spezielle fachwissenschaftliche Forschungen herausgegeben und zum größten Teil an einen Kundenkreis verkauft, der ohne die Ausstellung an vergleichbaren Publikationen sicher nicht interessiert gewesen wäre und die beiden Bände eher als Erinnerungswerk denn als Handbuch und Arbeitsinstrument benützt. — Anders liegt der Sachverhalt, wenn man den „historischen Rahmen" in Betracht zieht. Wie alle vergleichbaren Unternehmungen der letzten Jahre hat sich die Rhein-und-Maas-Ausstellung genötigt gesehen, der Präsentation der Kunstwerke etwas vorauszuschicken oder beizugeben, was man als „Informationsvorspann" bezeichnen kann. Wie bei allen vergleichbaren Unternehmungen ist dieser Versuch im Ergebnis unbefriedigend geblieben. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie reichen von der Auswahl der behandelten Aspekte bis zur generellen Visualisierungsproblematik. Im vorliegenden Zusammenhang fällt auf, daß die Information um so einläßlicher wird, je mehr sie sich mit Gegenständen der Kunstwissenschaft beschäftigt, oder zumindest, je mehr es um Objekte geht, die auch unter formalen Gesichtspunkten betrachtet werden können; außerdem ist nicht zu übersehen, daß Dichtung und Musik, aber auch Siegelkunde und Münzwesen eigentlich nur als Beleg für die der Ausstellung unterlegte Grundthese gesehen werden und wie dünn, auf bloßes Überblickswissen und auf frömmigkeits- und kultgeschichtliche Details beschränkt die historische Unterrichtung oder Einbettung

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bleibt. Das hat seine guten Gründe. Während nämlich die kunstwissenschaftliche Forschung präzis beim Ausstellungsthema ansetzen und sich im Rahmen des Bezugssystems der Ausstellung bewegen, sich außerdem im Hinblick auf das Ausstellungsthema begrenzen kann, ist eine derartige Einbindung in aller Regel bei der historischen Forschung — in welche Richtung sie auch geht - nicht möglich. Zwar wirft ein Ausstellungsthema wie das der Kölner Ausstellung von 1972 historische Probleme auf, aber diese Probleme können in den meisten Fällen nicht durch Thesenbildung und essayistische Skizzierung, sondern lediglich durch archivalische Forschungen der Lösung nähergebracht werden. Dazu reicht, so wie die Dinge im heutigen Ausstellungswesen liegen, weder die Zeit noch das Geld. Die Problematik modifizierte sich in der Ausstellung Monumenta Annonis, die das Schnütgen-Museum 1975 veranstaltet hat. Zwar sollte die Aufgabenstellung weder eine biographische noch eine hagiographische sein, aber da es sich bei der „Schlüsselfigur" der Ausstellung um eine historische, in ihrem Wirken exakt faßbare, sogar in ihrem Denken weithin rekonstruierbare Persönlichkeit handelt und da es von ihr einen direkten, nicht nur in den Spiegelungen der Kunst zu ahnenden Niederschlag gibt, war ein zwingender, gar nicht umgehbarer Bezug zur Geschichte gegeben. Die Zusammenarbeit zwischen Historikern und Kunsthistorikern intensivierte sich. Katalog und Ausstellung konnten dabei viel direkter von der jüngsten historischen Forschung profitieren. Das Unternehmen nützte den glücklichen Umstand, daß nicht nur die kunsthistorischen, sondern auch die historischen Spezialisten bereits vorhanden gewesen sind. Dabei ging die Ausstellung in der Präsentation wie im Katalog über den engeren Anlaß hinaus, indem sie das Geschichtsdenken des hohen Mittelalters als Folie des Annolieds vorwies und mit Handschriften und Miniaturen belegte. Außerdem erkaufte sich die Ausstellung mit der Historisierung der Thematik zugleich das Problem, daß das Relikt - Handschrift, Kreuz, Schrein usw. - unter seinem Aussagewert dargeboten wird, wenn es auf seinen Kunstcharakter reduziert bleibt, aber mit Bedeutung überfrachtet wird, wenn es für etwas anderes stehen muß, für einen Auftraggeber, für einen Denkstil, für ein Weltbild und dergleichen mehr. Bei der Max-Emanuel-Ausstellung in Schleißheim 1976 ist die Ausgangssituation anders gewesen, und doch ergaben sich für die Forschungsarbeit ähnliche Bedingungen. Das Thema war historisch-biographisch, die Zielsetzung weniger kunstwissenschaftlich oder ästhetisch als vielmehr politisch - Weckung von geschichtlichem Interesse und ge-

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schichtlichem Bewußtsein. Nicht das Stammpersonal eines Museums, sondern ein frei gebildetes Team hat die Ausstellung vorbereitet. Ihm ging es zunächst um Sammlung und Sichtung einer bestimmten Bildüberlieferung, nämlich der Bildzeugnisse, die sich auf den biographischen Gegenstand der Ausstellung beziehen. Dabei waren die Grenzen nicht eng gesteckt: Einerseits hat sich das Interesse auf die Hofkunst insgesamt ausgeweitet, andererseits sollte der europäische Rahmen der Biographie sichtbar gemacht werden; zu diesem Zweck wurden auch die Persönlichkeiten erfaßt, die mit dem „Helden" der Ausstellung in Berührung standen, sowie einzelne Ereignisse, die sein Schicksal beeinflußten, ohne daß er selbst an ihnen teilgenommen hätte. Die Forschungsarbeit konzentrierte sich zunächst auf diesen „Bestand", auf die Ikonographie, auf die Produktion der Hofkünstler, auf die Konzeption der Schlösser samt Ausstattung, auf die Rekonstruktion des Sinnzusammenhangs, in dem die einzelnen noch vorhandenen oder auch verlorengegangenen Objekte einmal gestanden hatten. Wiederum ist die kunsthistorische oder auch zum Beispiel musikhistorische Forschung, die von der Ausstellung angeregt wurde, als Primärforschung zu bezeichnen. Darüber hinaus aber lieferte die Ausstellung den Anlaß, die Geschichte Max Emanuels von den verschiedensten Seiten her neu zu beleuchten. Dafür konnten etwa zwanzig ausgewiesene Fachleute verpflichtet werden, die zum Teil die Ergebnisse ihrer bisherigen Arbeit einbrachten, zum Teil aber, aus Anlaß ihrer Katalogbeiträge, einzelne Quellengruppen neu durchsahen und damit auch die geschichtswissenschaftliche Forschung ein Stück weiterbrachten, so daß es nicht nur für den Kunsthistoriker, sondern auch für den Historiker, der künftig über das Thema arbeitet, sinnvoll ist, den Katalog zu konsultieren. Dieser Befund kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch im Fall der Max-EmanuelAusstellung die gesetzte Zeitspanne zu kurz gewesen ist, um die von der Sache her nötige und vom Anlaß her erwünschte quellenmäßige Arbeit der Historiker zu ermöglichen. Eine Parallele zu den Kölner Unternehmungen besteht darin, daß die Forschung sowohl in dem ausstellungsgestaltenden Team durchgeführt wie als Auftragsarbeit vergeben wurde. Ein wesentlicher Unterschied allerdings ist darin zu sehen, daß die begleitende Forschung bereits zum Zeitpunkt der Eröffnung im Katalog vorlag, während sie in Köln sozusagen als Nachtrag publiziert wurde. Der Nachteil der Schleißheimer Lösung besteht darin, daß die Ergebnisse und die Wirkungen der Ausstellung unerörtert blieben; weder wurde das Echo der Präsentation in der Öffentlichkeit und - was wichtiger ist - bei den Besuchern erforscht noch der wissenschaftliche und didaktische Ertrag in einem Kolloquium unter die Lupe genommen.

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Die Staufer-Ausstellung in Stuttgart 1977 unterlag ähnlichen Gegebenheiten wie die Max-Emanuel-Ausstellung. Die Initiative ging vom Staat aus, der sich von dem Unternehmen eine politische Wirkung, einen integrativen Effekt versprach. Die Forschungsintensität ergab sich auch in diesem Fall aus den besonderen Bedingungen des Unternehmens. Ausstellungsleitung und Ausstellungssekretariat konzentrierten sich auf die organisatorische Arbeit. Primäres wissenschaftliches Engagement war von ihnen nicht gefordert. Für die wissenschaftliche Betreuung wurden drei Gremien gebildet, die insgesamt aus etwa fünfzig Mitgliedern bestanden. Diese Gremien, je eines für kunstgeschichtliche und für allgemeingeschichtliche Fragen und eines für die Aufarbeitung des Nachlebens, strukturierten die Ausstellung und bildeten auch die Einzelthemen aus, trugen zu wesentlichen Teilen die Katalogarbeit und halfen auch bei der Beschaffung der Objekte mit. Ihre Arbeit wurde koordiniert und ergänzt durch fünf am Landesmuseum Stuttgart tätige Wissenschaftler. Die im Vergleich mit ähnlichen Unternehmungen ungewöhnlich günstige Haushaltssituation kam auch der vorbereitenden Forschungsarbeit zugute. Vor allem ist in die Katalogbearbeitungen selbst sehr viel Primärforschung eingegangen. Die Ausstellung konnte aus ihrem eigenen Etat den Bearbeitern der Katalognummern Forschungsreisen und damit die vorherige gründliche Begegnung mit den Objekten ermöglichen. Das gilt nicht nur für die Bearbeitung bestimmter Kunstgattungen, etwa Skulptur oder Goldschmiedearbeit, sondern auch für Themen aus den historischen Hilfswissenschaften; als Beispiel sei die Bestandsaufnahme der staufischen Siegel hervorgehoben. Der mit fünfundzwanzig Beiträgen bestückte Aufsatzband (Band III des Katalogwerkes) war vorwiegend erfahrenen Sachkennern anvertraut und diente nicht der Publikation von speziellen Forschungsergebnissen, sondern der Erstellung eines fundierten, breit gefächerten Überblicks. Zur historischen Grundlegung der Ausstellung gehörte daneben das Kartenwerk, das als Anhang zum Katalog veröffentlicht ist (Band IV) und vor allem die Itinerare und die Kanzleitätigkeit der staufischen Herrscher wiedergibt. Schließlich wurde die Ausstellung von einer Folge wissenschaftlicher Veranstaltungen begleitet; ihre Ergebnisse werden möglicherweise in einem Nachtragsband zum Katalog publiziert. Eine statistische und kritische Auswertung der Ausstellung und ihres Echos ist demgegenüber nicht beabsichtigt. Das Resümee aus der Praxis der letzten Jahre läßt sich in sieben Punkten zusammenfassen. 1. Die großen Ausstellungen der letzten Jahre sind durchwegs Initiatoren für wissenschaftliche Forschung, speziell für kunsthistorische und

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historische Forschung geworden. Das Verhältnis von Ausstellung und Forschung scheint zunehmend enger, das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Analyse bisher unzureichend erschlossener Materialkomplexe anläßlich der Vorbereitung von Ausstellungen immer größer zu werden. 2. Der Zusammenhang von Ausstellungen und Forschung besteht, obwohl die großen Ausstellungen, deren Finanzierung in der Regel mit staatlichen Mitteln erfolgt, nicht eigentlich von Forschungsproblemen her, sondern aus einem öffentlichen, politischen oder gesellschaftlichen Interesse heraus unternommen werden. Die der Ausstellung vorausgehende Forschung erfüllt dabei mehrere Funktionen. Sie erhellt die künstlerischen und historischen Zusammenhänge, in denen die Ausstellungsobjekte stehen, gewinnt formengeschichtliche und bedeutungsgeschichtliche Erkenntnisse, steckt den weiteren kunstwissenschaftlichen und historischen Rahmen, das Bezugssystem der Ausstellung, ab, gewinnt schließlich hie und da unbekannte oder als verschollen geltende Objekte zurück. Insgesamt dient sie nicht allein dem Bedürfnis nach umfassender Information und differenzierter objektbezogener Erkenntnis, sondern besonders auch dem Bedürfnis nach Legitimation des Ausstellungsunternehmens. Je deutlicher die öffentliche politische Zielsetzung des Unternehmens zutage tritt, desto nachhaltiger wird das Legitimationsbedürfnis, und desto freigiebiger werden für die Forschung Mittel bereitgestellt. 3. Die Forschung schlägt sich nieder in der Zusammenstellung und der Präsentation der Ausstellungsobjekte, in erster Linie aber im Katalog. Ausstellungskataloge sind Instrumente zur Publikation von Forschungsergebnissen geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig; nicht nur der Ehrgeiz der Veranstalter ist zu nennen, der Wunsch, den Ertrag der von ihnen initiierten Arbeit zusammenzuhalten, sondern auch die Lockerung des Gebots der wissenschaftlichen Strenge. Ein Katalogbeitrag darf sich offenbar eher eine Lücke in der Erfassung des Materials oder in den Fragestellungen, eine saloppe Übertreibung bei der Interpretation, eine noch nicht beweisbare Hypothese leisten als ein - unter das Postulat des Ewig-Gültigen gestellter — Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. So kommt es, daß auch angesehene Wissenschaftler hin und wieder ihre Forschungskapazität in Ausstellungsunternehmungen investieren — auch dann, wenn sie die Tendenz des Ausstellungsunternehmens für problematisch halten. 4. Ausstellungsunternehmungen sind in der Regel kurzfristig terminiert und platzen mit einiger Präpotenz in die vorsichtigen, jahrelangen Vorausplanungen der Museen und Sammlungen, wissenschaftlichen Institute und Organisationen hinein. Wenn ein Museum der Träger der Ausstellung ist, wird in der Regel ein großer Teil seines wissenschaftli-

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chen Personals in den Dienst der Ausstellung gestellt, den eigenen Aufgaben des Museums und der damit verbundenen kontinuierlichen Forschung entzogen, allenfalls statt dessen für ausstellungsbezogene Forschung bereitgestellt: Fremdbestimmung der Forschung durch Ausstellungsvorhaben. Nicht weniger problematisch ist es für die Museen, wenn die Ausstellung ihr Forschungsdesiderat durch Forschungsaufträge abdeckt und das Museumspersonal lediglich für die organisatorischen, technischen und konservatorischen Belange heranzieht; es verschleißt sich in einer aktuellen Anlässen dienenden Betriebsamkeit, während außenstehende, auf dem Markt verfügbare Wissenschaftler der Forschung obliegen dürfen, das heißt, eigentlich die Arbeit leisten, um derentwillen die Museumsleute sich ihren Beruf gewählt haben. 5. Die Zusammenarbeit zwischen Kunsthistorikern und Historikern anläßlich von Ausstellungsunternehmungen bringt einen wissenschaftlich befruchtenden und die Didaktik anregenden Kooperationszwang mit sich. Dennoch wirken sich die Unterschiede in der wissenschaftlichen Methode und im Arbeitsstil deutlich aus. Kunsthistoriker sind in der Regel viel besser auf den Ad-hoc-Einsatz vorbereitet, mit dem Material und den Problemen der Präsentation vertraut, ihre Arbeitsweise ist beweglicher; sie kann unbedenklicher, ohne Verbiegungen in den Dienst eines Ausstellungsunternehmens gestellt werden. Die Fristen, innerhalb deren Ausstellungen geplant und verwirklicht werden, durchschnittlich etwa drei Jahre, sind nicht lang genug, als daß in ihnen historische Forschungsunternehmungen geplant, ausgeführt und in den Ergebnissen gesichert werden könnten. Das ist besonders bedauerlich dann, wenn die Ausstellung sich der Historiker nicht nur aus einem didaktischen Bedürfnis heraus bedient, sondern wenn sie unbezweifelbare Desiderate historischer Forschung aufdeckt. 6. Obwohl für die Vorbereitung von großen kunst- und kulturhistorischen Ausstellungen viel Forschungsenergie eingesetzt und viel Geld ausgegeben wird, endet die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Ausstellung in der Regel am Tag der Eröffnung. Der Veranstalter und seine Mittel sind so erschöpft, daß die Ernte des Unternehmens, soweit sie über die bloße Präsentation hinausgeht, nicht mehr eingebracht wird. Selbst dann, wenn das Ziel der Ausstellung von der Kunstwissenschaft her klar definiert worden ist, bleibt die Sicherung der Ergebnisse dem Zufall, dem spontanen Engagement verfügbarer Fachleute überlassen. Das gilt noch deutlicher für den historisch-didaktischen Aspekt. Die Wirkungen, die von einer gewählten Konzeption, von der Kombination bestimmter Objekte, von in dieser oder jener Weise formulierten Erläuterungen ausgehen, sind nicht oder nur in dilettantischen Ansätzen untersucht. Die Motive der Ausstellungsbesucher, ihre Erwartungen

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und Ansichten bleiben trotz des immer mehr anschwellenden Ausstellungsbetriebes eine Terra incognita. Die fachliche und die didaktische Auswertung von Ausstellungen muß, wenn große Ausstellungsunternehmungen sinnvoll bleiben sollen, viel mehr als bisher in das Ausstellungsprogramm einbezogen, als Gegenstand der von der Ausstellung angeregten Forschung verstanden werden. 7. Der Forschung fließen, wenn sie durch Ausstellungsunternehmungen in Gang gebracht und finanziert wird, beträchtliche zusätzliche Mittel zu. So erfährt die Wissenschaft selbst eine von Fall zu Fall unterschiedliche, aber doch insgesamt spürbare Bereicherung. Das gilt in erster Linie für die Kunstwissenschaft, abgeschwächt auch für die Geschichtswissenschaft. Außerdem bieten große Ausstellungen den beteiligten Wissenschaften eine Gelegenheit, selbst etwas für die Verbreitung ihrer Ergebnisse zu tun, ihre methodischen Ansätze zu überprüfen und zu erweitern und sich im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Sinn zu legitimieren. Allerdings erzwingt die Art der Finanzierung — wie die Anbindung von Forschung an Ausstellungen überhaupt — eine in hektischen Produktionsdruck einmündende Kurzfristigkeit, manchmal auch eine durch kursorische Verfahren bewirkte Kurzatmigkeit der Forschung. Der einzige Weg, aus diesem Dilemma herauszukommen, führt über eine frühzeitige Kontaktnahme zwischen den Veranstaltern von Ausstellungen, also Museen, Kommissionen und staatlichen Verwaltungen, auf der einen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft bzw. den der Forschungsförderung dienenden Stiftungen auf der anderen Seite. Mehr Elastizität bei den Einrichtungen, die Forschung finanzieren, weniger Improvisation bei den Veranstaltern, das sind die Voraussetzungen für eine wirksamere Gestaltung des Verhältnisses von Ausstellung und Forschung. Die Aufgabe ist, ein Bedürfnis, das aus dem gegenwärtigen Kulturbetrieb nicht mehr weggedacht werden kann, nicht nur für den Erwerb von politischem und gesellschaftlichem Prestige und für die Beeinflussung des öffentlichen Bewußtseins, sondern auch für den Fortschritt der Erkenntnis zu nutzen.

Gerhard Ebeling (Zürich)

Zur gegenwärtigen Lage der Theologie im Hinblick auf ihre Partizipation an den Geisteswissenschaften Wenn im Kreise der Geisteswissenschaften die Theologie einem weiten Öffentlichkeitsforum vorgestellt werden soll, so muß in der gebotenen Kürze auf einige grundsätzliche Aspekte sowie auf elementare Sachverhalte hingewiesen werden, bevor auf aktuelle Schwierigkeiten und auf Fragen der Planung eingegangen werden kann.

I. Grundsätzliches zum Verhältnis von Theologie und Geisteswissenschaften Theologie, die Wissenschaft vom christlichen Glauben in seinen geschichtlichen und sachlichen Zusammenhängen, war einst die Mitte der abendländischen Universität. Infolge der kulturellen Wandlungen ist sie an deren Peripherie gerückt. Das spricht aber nicht gegen ihre fortdauernde Bedeutung im Hinblick auf diejenigen Bedingungen und Kräfte, von denen die heutige Universität insbesondere in den sogenannten Geisteswissenschaften zehrt. Der umstrittene Begriff „Geisteswissenschaften", ein Erzeugnis des 19. Jahrhunderts, ist aus methodologischen Abgrenzungsversuchen gegenüber den exakten Naturwissenschaften hervorgegangen und von einem christlich geprägten humanistischen Denken bestimmt. Er ist im Rahmen dieser Publikationen nicht auf eine bestimmte Theorie festgelegt und wird in Offenheit gegenüber seiner Problematik als ein im deutschen Sprachbereich eingebürgerter Terminus verwandt, der bislang nicht durch einen anderen ersetzbar ist. Nicht allein die Theologie, sondern alle Geisteswissenschaften sind gefährdet, wenn durch den Bruch mit dem christlich-humanistischen Konsensus eine der stärksten geistigen und gesellschaftlichen Triebkräfte entfällt, die das Interesse für die Geisteswissenschaften weckt und fördert. Insofern stehen Theologie und Geisteswissenschaften in einer geschichtlich bedingten und sachlich begründeten Schicksalsgemeinschaft.

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Die Theologie ist so vielfältig und intensiv wie kaum ein anderes Fach in alle Bereiche der Geisteswissenschaften verflochten. Für den Nichtkenner sei dies durch knappste Hinweise erläutert. 1 Für das Christentum ist das Verhältnis zu seinem biblischen Ursprung konstitutiv. Seine Identität in der Geschichte und seine Zukunft hängen davon ab. Deshalb ist die wissenschaftlich betriebene Theologie auf Philologie angewiesen: auf das Studium der biblischen Ursprachen Hebräisch und Griechisch sowie des Lateinischen als der Hauptsprache christlicher Tradition. Die Beschäftigung mit diesen drei alten Sprachen erfordert eine weitere Auffächerung zu anderen Sprachen des vorderen Orients, zur Besonderheit des hellenistischen Griechisch (der sogenannten Koine) und ebenso zur Differenz zwischen dem klassischen und dem mittelalterlichen Latein. Die großen Ubersetzungsprozesse vom Hebräischen ins Griechische und von dort ins Lateinische und schließlich in die verschiedenen Nationalsprachen sind Musterbeispiele geistesgeschichtlicher Tragweite von Sprachdifferenzen. Mit dem Hinweis auf das Übersetzungsproblem ist bereits der engste Kreis der Philologie (Grammatik und Semantik) zu denjenigen Aufgaben hin überschritten, an denen die Theologie in hohem Maße Anteil nimmt und sich z. T. bahnbrechend beteiligt hat: der Textkritik als der Rekonstruktion des Urtextes und seiner Überlieferung, der Exegese als der historischen und sachbezogenen Interpretation, und der Hermeneutik als der Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens überlieferter sprachlicher Zeugnisse. Für die Theologie ist darum die historische Arbeitsweise und der Kontakt mit aller historischer Arbeit überhaupt, soweit sie die Theologie tangiert, lebenswichtig. Dabei verbinden die biblischen Fächer eine beispiellose Konzentration auf engsten geschichtlichen Raum (besonders eklatant etwa in der Frage nach dem historischen Jesus) mit ungewöhnlicher Weite geschichtlicher Zusammenhänge (wofür die enge Nachbarschaft vom Alten Testament zur Orientalistik ein Beispiel ist). Die Kirchengeschichte beschreibt den ungeheuer weit gespannten Bogen von der Spätantike über das Mittelalter und die frühe Neuzeit zur Moderne, und dies nicht allein auf dem abendländischen Sektor, sondern in der Breite der Missionsgeschichte, die auch ganz andere Kulturen berührt. Überall stellt sich dabei die untrennbare Beziehung zu den verschiedensten — politischen, sozialen und kulturellen — Bereichen der sogenannten Profangeschichte ein. Um ihrer Sache willen darf die Theologie sich nicht auf bloße Histo1

Zur weiteren Information: G. Ebeling, Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1975, 2 1977 (UTB. 446.); W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, München 1973.

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rie zurückziehen und auf gegenwärtige Rechenschaft über ihre Wahrheit verzichten. Dieser Aufgabe kann sie aber nicht ohne strenge Handhabung historischer Methode gerecht werden. Auch die systematischtheologischen Disziplinen (Religionsphilosophie, Dogmatik und Ethik) sowie die Praktische Theologie, die es mit dem kirchlichen Handeln und den Fragen der Kirchengestalt zu tun hat, sind selbst dort, wo sie ganz auf Gegenwartsprobleme und -phänomene hin ausgerichtet sind, zu deren Behandlung unfähig ohne umfassende historische Bildung. Aber ebenfalls das Spezifische der systematischen Verfahrensweise verbindet die Theologie eng mit benachbarten Wissenschaften. Der Schwerpunkt dieser Veröffentlichung soll zwar in den historischen Geisteswissenschaften liegen. Dennoch seien die darüber hinausgehenden Kontakte wenigstens angedeutet. Auch wenn sich die Theologie nicht als einen Spezialsektor der allgemeinen Religionswissenschaft versteht, spielt diese doch für die Reflexion auf den Wirklichkeitsbezug der Theologie eine enorme Rolle, nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Geschichte der Religionen, die das Christentum genetisch oder konkurrierend berühren, sondern auch in religionsphänomenologischer, religionspsychologischer und religionssoziologischer Erfassung des Christentums selbst. Darüber hinaus weitet sich der Blick zu denjenigen Erfahrungswissenschaften, die man neuerdings als Humanwissenschaften benennt. Ihnen hat sich die Theologie gerade auch dann zu stellen, wenn sie nicht Kompetenzverwischungen und modischen Faszinationen erliegen soll. Obwohl untereinander in einer unaufhebbaren Spannung, befinden sich doch Theologie und Philosophie in einer ebenso untrennbaren Weggenossenschaft und unter den Bedingungen der Gegenwart sogar in einer verwandten Problemsituation. Auch hier kommt die Berührung primär unter historischem Gesichtswinkel in den Blick. Wie sich die Philosophie selbst — nicht erst im Gefolge des Historismus, wenn auch durch ihn in verschärftem Maße - im Gespräch mit ihrer eigenen Geschichte vollzieht, so hat die Theologie auf jeden Fall, obschon keineswegs nur, mit der Wirkungsgeschichte philosophischer Haupttypen zu tun — um nur bekannteste Beispiele zu nennen: dem Piatonismus und Aristotelismus, deren spannungsvolles Beieinander das ganze mittelalterliche Denken prägte, oder dem Kantianismus und Hegelianismus, deren Spuren in die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts tief eingegraben sind. Wenn man berücksichtigt, daß Philosophie legitimerweise nicht als Fertigware übernehmbar ist, sondern den eigenen Vollzug des Philosophierens erfordert, wird deutlich, daß die Theologie selbst an der philosophischen Arbeit beteiligt ist, sowenig sich dadurch der Unterschied beider nivelliert.

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Die Sonderstellung der Theologie hat sich mit der Frage verquickt, ob die Theologie dem modernen Wissenschaftsbegriff genügt. Ein negatives Pauschalurteil erledigt sich hier von selbst, wenn man sich der inneren Problematik des Wissenschaftsbegriffs bewußt ist und wenn man die Theologie nicht vorschnell unter dieser Fragestellung isoliert. Weder ist die nie zur Ruhe kommende Auseinandersetzung um das Wissenschaftsverständnis zu übersehen, der sich zu stellen auch die Theologie verpflichtet ist, noch läßt sich verkennen, daß die gegen die Theologie vorgebrachten methodologischen Einwände weithin auch die Philosophie oder die Geisteswissenschaften insgesamt treffen. Die Forderung der Voraussetzungslosigkeit, Objektivität und methodischen Strenge verändert ihre Bedingungen je nach dem Gegenstand der Wissenschaft. Die Genauigkeit historischer Arbeit ist im Prinzip nicht geringer, obSchon sehr anderer und erheblich schwierigerer Art als die der exakten Naturwissenschaften. Von deren eigener Entwicklung her dürfte sich ein Methodenmonismus erledigt haben. Damit soll das Problem nicht bagatellisiert werden, das für die Theologie aus ihrer Wissenschaftlichkeit erwächst. Gegenüber dem prinzipiellen Verdacht auf Dogmatismus ist geltend zu machen, daß der Theologie nicht bestimmte Forschungsergebnisse vorgeschrieben sind, sondern eine fundamentale geschichtliche Lebenswirklichkeit vorgegeben ist, deren Denkanstößen Raum zu geben und für deren Fortwirken Mitverantwortung zu übernehmen, Sache der Theologie ist. Daß die dazu erforderliche kritische Wachsamkeit leider gewiß nicht stets gewahrt wurde, wohl aber immer wieder zum Durchbruch kommt und sich bewährt, wird durch die Elastizität der Theologiegeschichte veranschaulicht. Die Frage theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten erweist sich im übrigen als eine nicht wissenschaftstheoretische, sondern kulturpolitische Frage. Wie die unterschiedlichen Lösungen in Europa selbst und abweichend davon insbesondere die Verhältnisse in den USA zeigen, ist der institutionelle Aspekt durch verschiedenartige geschichtliche Entwicklungen bestimmt und von der Sache her selbstverständlich variabel. Eine absolute Notwendigkeit der Zugehörigkeit zu staatlichen Universitäten um der Theologie selbst willen kann natürlich nicht behauptet werden, so förderlich diese Organisationsform in vieler Hinsicht sein kann und so notwendig der Theologie auf jeden Fall eine Symbiose mit anderen Wissenschaften ist. Eine Notwendigkeit der Präsenz der Theologie um der Universität willen kann ebensowenig uneingeschränkt behauptet werden, so gut sich eine solche Präsenz im Gespräch der Wissenschaften auswirken kann, was zwar durch die institutionelle Zugehörigkeit nicht garantiert ist. Die Berechtigung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten grundsätzlich zu bestrei-

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ten, verrät entweder ein defizientes Verständnis von Kultur oder ein sektiererisches Verständnis von Theologie. Unter welchen Bedingungen jedoch eine solche Berechtigung in einem gegebenen Fall besteht oder nicht besteht, hängt von der sozialen Präsenz des Christentums und von ihrer Durchsetzung im demokratischen Kräftespiel ab. Die politischen Instanzen tragen aber auf jeden Fall die Verantwortung dafür, daß der intellektuellen Verarbeitung des christlichen Glaubens, auch wenn er sich in der Minorität befinden sollte, in angemessener Weise Raum gegeben wird. Zwar ist der christliche Glaube von sich aus auf offene Wirklichkeitsbegegnung aus und eben darum auf wissenschaftliche Theologie. Dies kann aber durch institutionelle Formen gefördert oder gehemmt werden. In einer freiheitlichen kulturellen Atmosphäre kann der Austausch mit anderen Wissenschaften für die Theologie zu der höchst fruchtbaren Provokation werden, sich auf die rechte Wahrnehmung ihrer Wissenschaftlichkeit zu besinnen. Anderseits muß aber unter totalitärem Dirigismus die Theologie nicht zwangsläufig der Gettoisierung oder Gleichschaltung verfallen. Die Theologie kann unter solchen erschwerten Bedingungen erfahrungsgemäß zu einem wichtigen Faktor im Kampf um die Freiheit der Wissenschaft überhaupt werden. Die Förderung wissenschaftlicher Theologie kommt keineswegs einseitig nur der Theologie und den Kirchen (und damit zugleich einem gesunden Gegenüber von Theologie und Kirche) zugute. Sie ist auch von allgemein politischer Bedeutung als Aufarbeitung des geschichtlichen Erbes sowie als gedankliche Durchdringung der so oder so auf jeden Fall weiterwirkenden religiösen Überlieferung. Entsprechend kommt der Theologie auch im Kontext der Wissenschaften eine wichtige Rolle zu. Unter dem Gesichtspunkt der Interessenüberschneidungen drängt sich begreiflicherweise in erster Linie die Bereicherung der Theologie durch die Kommunikation mit anderen Wissenschaften auf. Doch bekommen auch alle Geisteswissenschaften in geringerem oder stärkerem Maße mit solchen Stoffen und Fragen zu tun, um die sich von Haus aus vornehmlich die Theologie kümmert und deren zusammenhängende Erforschung durch andere Wissenschaftszweige allein nicht gewährleistet werden könnte. Darüberhinaus bleibt zu bedenken, ob der Gesamtverantwortung der Wissenschaft für das Leben voll Rechnung getragen werden kann, wenn diejenigen Zusammenhänge vernachlässigt werden, die zwischen Wissen und Glauben in Hinsicht auf das Leben bestehen. Dieser Aspekt mag im Blick auf die ethische Verantwortung etwa den Problemen der Umweltgefährdung gegenüber stärker die Beziehung von Theologie und Naturwissenschaften betreffen. Man unterschätzte aber das Gewicht, das dem Lebensbezug der Geisteswissenschaften zukommt, wenn man den Umgang mit ihnen nicht im Horizont der sie

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umgreifenden Lebensproblematik überhaupt bedächte. Dafür steht der Theologie nicht etwa das Recht zu Direktiven zu, wohl aber die Funktion eines kompetenten Gesprächspartners neben anderen. II. Zur gegenwärtigen Situation Aus dem, was über das Verhältnis zu den Geisteswissenschaften umrißhaft bemerkt wurde, ergibt sich für die Theologie ein ungewöhnlich universales Aufgabenspektrum. Wer sich für sie verantwortlich weiß, wird dies nicht anspruchsvoll, sondern eher erschrocken feststellen. Das Studium der Theologie steht unter Anforderungen, denen der Durchschnitt seiner Absolventen nicht von ferne so entspricht, wie es sein müßte. Durch Spezialisierung ist dem nur sehr begrenzt abzuhelfen, wenn nicht das Hauptziel des Theologiestudiums, die Gewinnung theologischer Allgemeinbildung und Urteilskraft, verfehlt werden soll. Aber auch dann, wenn man hier die Fragen der Studiumsgestaltung ausklammert und allein die Erfordernisse der Forschung bedenkt, wird ein Dilemma besonders stark spürbar, das auch in anderen Wissenschaftszweigen auftritt. Der Fortgang der Forschung nötigt überall zu fortschreitender Spezialisierung, die zusammen mit der Vervielfachung des sich international ausweitenden Publikationsausstoßes die Kommunikationsschwierigkeiten steigert und die Übersicht über die Gesamtzusammenhänge eines Fachs erschwert. Für die Theologie, die als ein Bündel verschiedener Wissenschaftszweige angesehen werden kann, wachsen die Schwierigkeiten entsprechend. Das fällt umso stärker ins Gewicht, weil für die Theologie die Integration zur Ganzheit von wesentlicher Bedeutung ist. Das Verhältnis der klassischen theologischen Disziplinen zueinander wird unter diesen Umständen prekär. Wie kann z. B. der Systematiker in den biblisch-exegetischen Fächern so auf dem Laufenden sein, daß er ihre Ergebnisse mit eigenem Urteil sichtet und in seinen Zuständigkeitsbereich integriert? Sogar der Zusammenhalt der einzelnen Disziplinen in sich selbst wird in Frage gestellt. Unbestreitbar muß die Kirchenhistorie der Spezialisierung ebenso Raum geben wie die sogenannte Profanhistorie. Niemand kann mehr Patristiker, Mediävist, Reformationsforscher und Neuhistoriker in einer Person sein. Dennoch würde es die Aufgabe des Kirchenhistorikers in weit stärkerem Maße als die des Profanhistorikers beeinträchtigen, wenn er die durchlaufenden Problemzusammenhänge und die epochalen Differenzen nicht mehr überschaute. So drängt sich für die Theologie die Aufgabe interdisziplinärer Zusammenarbeit bereits als internes Kontaktproblem auf und nicht erst nach außen hin als die ebenfalls dringend erforderliche Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften.

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Der Versuch, die gegenwärtige Gesamtsituation der deutschsprachigen Theologie — und zwar gemäß der Zuständigkeit des Verfassers vornehmlich der evangelischen Theologie — im Hinblick auf Probleme der Forschungspolitik zu charakterisieren, kann in diesem Rahmen nur grobschlächtig und nicht ohne subjektive Note ausfallen. Der Eindruck einer diffusen Lage entsteht heute insbesondere im Kontrast zu der Zeit von Anfang der zwanziger bis etwa Ende der fünfziger Jahre, die von großen theologischen Schulbildungen und international klangvollen Namen bestimmt war (Barth, Bultmann, Tillich u. a.), sowie zu den letzten zwei Jahrzehnten, in denen überwiegend einige einander schnell ablösende Extremismen Schlagzeilen machten (Gott-ist-tot-Theologie, Politische Theologie, Theologie der Revolution, Schwarze Theologie und dergleichen). Dabei wurden Problemkontakte zu den allgemeinen Sozialwissenschaften, zur Psychologie und zur Linguistik hin angesprochen, ohne daß sich deutliche Umrisse einer soliden gesamttheologischen Verarbeitung abzeichneten. Im Kontrast zu jenen beiden Phasen scheint sich der Schwerpunkt wissenschaftlicher Forschung verstärkt in das historische Detail zu verlagern, womit sich durchaus die Offenheit für neue methodologische Gesichtspunkte verbinden kann. Noch strukturieren nicht zündende Programme und wegweisende Leistungen die Situation. Im Blick auf den Verlauf der Theologiegeschichte dieses Jahrhunderts könnte man dies aber als eine ganz gesunde Entwicklung einschätzen. Für die katholische Theologie müßte die Situationskennzeichnung erheblich anders ausfallen, da hier vornehmlich die Auswirkungen des 2. Vaticanum die Szene bestimmen, wobei das Aufholen in historisch-kritischer Hinsicht besonders bemerkenswert ist. Gegenseitige ökumenische Aufgeschlossenheit hat zu beachtlicher Zusammenarbeit der beiden konfessionellen Ausprägungen von Theologie geführt, besonders auf exegetischem Gebiet durch die Initiative zu einem gemeinsamen Katholisch-evangelischen Kommentar zum Neuen Testament, dessen Erscheinen vor kurzem begonnen hat. Die erfreuliche Tatsache, daß sich das Klima im interkonfessionellen Gespräch aufs Ganze gesehen gewandelt hat, erlaubt aber noch keine konkreten Prognosen für die Veränderung der theologischen Gesamtsituation. Der Zustrom zum Theologiestudium ist neuerdings in der Bundesrepublik überraschend angestiegen und hat ein fast beunruhigendes Ausmaß angenommen. Das läßt sich wohl nur zu geringem Teil als Auswirkung des numerus clausus in anderen Fächern erklären. Eine wichtige Rolle scheint dabei die noch tastende Umorientierung in der nachrückenden Generation zu spielen, wobei das richtige Empfinden wirksam ist, daß die Zukunft der Gesellschaft nur dann gesichert ist, wenn den menschlichen, musischen und religiösen Betätigungen mehr Raum

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gegeben wird. Von daher erklärt sich auch das Mißtrauen gegen die akademische Theologie, soweit sie als bloße Fachwissenschaft technischkompliziert und unzugänglich wirkt. Mit dem Urteil, wieweit daraus der wissenschaftlichen Theologie positive Impulse erwachsen, muß man bislang vorsichtig sein. Zweifellos hat die Herkunft aus unkritischfundamentalistischer Einstellung einen erheblichen Anteil. An der Doppelfront des — abgekürzt: laizistischen und pietistischen — Mißtrauens gegen die akademische Theologie in der Öffentlichkeit ändert sich durch den augenblicklichen Nachwuchsboom sicher noch nichts. Dieses Bündnis gegensätzlicher Motive kennzeichnet die hermeneutische Aufgabe, die der Theologie langfristig gestellt ist: die Transformation und Auseinandersetzung zu verarbeiten, zu der die christliche Überlieferung im Kontext der Moderne herausfordert und die ihr selbst abverlangt ist. Den Problemen standzuhalten, die daraus erwachsen, ist für die deutschsprachige Theologie der letzten zwei Jahrhunderte spezifisch. Die Namen Lessing, Semler und Schleiermacher deuten die dafür erforderliche Einstellung an: die rückhaltlose Offenheit für kritisches historisches Forschen mit der Strenge der systematischen Wahrheitsfrage zu verbinden. Darauf beruht das internationale Ansehen der deutschsprachigen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. Die Leben-Jesu-Forschung, deren Geschichte Albert Schweitzer klassisch dargestellt hat, sowie das Werk so verschiedenartiger Theologen wie Ernst Troeltsch und Rudolf Bultmann können dafür als repräsentativ gelten. Für die Auswirkungen der gegenwärtigen Schul- und Bildungspolitik der Bundesrepublik ist es ein alarmierendes Signal, daß eine ausländische Universität wie die Zürcher das deutsche Reform-Abitur nicht als Ausweis der Hochschulreife anerkennt und eine zusätzliche Prüfung in vier Fächern verlangt, während diejenigen, die mit diesem Abitur bereits an einer deutschen Hochschule studiert haben, nur als Gasthörer zugelassen werden. Das ist freilich ein Aspekt, der in einem weiteren Rahmen zu erörtern wäre. Für die Theologie wird unmittelbar spürbar, daß die Kenntnis der alten Sprachen einem erschreckenden Schrumpfungsprozeß unterliegt, was durch die Oberstufenreform zwar nicht initiiert, aber verschärft worden ist. Nur noch sehr wenige bringen Griechisch oder gar Hebräisch von der Schule her mit. Selbst das SchulLatein ist nur noch bei etwa der Hälfte der Studierenden vorauszusetzen, dazu qualitätsmäßig oft dürftig. Selbstverständlich hat dieser Vorgang kulturell tiefere Gründe, als daß man demgegenüber dafür eintreten könnte, das Bildungsideal des alten humanistischen Gymnasiums zu restaurieren. Und er hat eine viel weitere Ausstrahlung, als daß nur die Vorbildung für das Fach Theologie dadurch beeinträchtigt wäre. Die Geisteswissenschaften insgesamt sind von dem Traditionsbruch im Ver-

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hältnis zur klassischen Antike und zum abendländischen Humanismus betroffen. Erst die sich darin abzeichnenden Veränderungen verursachen entscheidende Folgen für die Theologie. Der Theologe muß einen erheblichen Teil seiner Kraft auf die Erwerbung von Sprachen verwenden, die nur noch verhältnismäßig wenige Spezialisten erlernen. Er befindet sich damit in einem Bereich, der aus der Allgemeinbildung so gut wie ausgeschieden ist. Dies muß man gegebenenfalls hinnehmen als den bemerkenswerten Tatbestand, daß unter den Universitätsfächern und akademischen Berufsvorbildungen außer der klassischen Philologie, der Philosophie und der Archäologie der Theologie sozusagen die kulturelle Nebenrolle zufällt, die Kontinuität mit der Antike und ihrem Bildungsgut aufrechtzuerhalten. Die technische Frage, wie das Nachholen der Sprachenkenntnisse in das theologische Studium einzubauen ist, läßt außer didaktischen Aspekten das Problem akut werden, ob nicht nach amerikanischen Vorbildern eine stufenweise Gestaltung und eine gewisse Differenzierung des Ausbildungsweges erforderlich wird. Die bisher mit guten Gründen noch festgehaltene Regelung, daß jeder Theologiestudent außer zumindest einer ohnehin zu erwartenden modernen Fremdsprache drei alte Sprachen erlernt, birgt zunehmend Schwierigkeiten in sich, über die man sich auch dann Rechenschaft geben muß, wenn man von dieser Forderung nicht abgeht. Abgesehen von dem zweifelhaften Effekt eines sprachlichen Schnellkursus, sinkt der wissenschaftliche Wert etwa der Griechisch-Kenntnis, wenn nicht mehr das klassische, sondern nur noch das neutestamentliche Griechisch betrieben wird. Im übrigen zieht in dem tatsächlichen Gebrauch durch die Studierenden am ehesten das Latein den Kürzeren, wodurch ein bedenkliches Überspringen der Kirchengeschichte und der dogmatischen Denktradition zugunsten einer rein biblizistischen Einstellung begünstigt wird. Anderseits muß man sich nüchtern eingestehen, welche anderen Bildungshorizonte, die dem Theologen im Blick auf seine Gegenwartsaufgaben nötig sind, unter der Sprachanforderung zu kurz kommen. Jedoch wäre es wissenschaftlich unvertretbar, das Studium der Bibel und der kirchengeschichtlichen Tradition ohne Zugang zur originalen Textgestalt der Quellen zu betreiben. Die Lösung des Ausbildungsproblems steht hier nicht zur Diskussion, obwohl seine Erwähnung notwendig war. Denn im Zusammenhang des Themas „Geisteswissenschaften" kommt der Frage Beachtung zu, welche Folgen sich daraus ergeben, wenn die normale theologische Ausbildung der im öffentlichen kirchlichen Amt Tätigen unter das akademische Niveau sinkt. In gewissem Grade muß darunter auch die Forschung leiden, wenn eine zu große Kluft zwischen dem Durchschnittstheologen mit einer reduzierten Ausbildung und dem hochqualifizierten

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Spezialisten entsteht. Bezeichnenderweise geht in den USA, wo dies früher zutraf, neuerdings eine Wendung zur Verschärfung der akademischen Anforderungen der Pfarrerausbildung mit einer Intensivierung der theologischen Forschung einher. Überwiegend unter Leitung europäischer Theologen, vornehmlich deutschsprachiger Herkunft, hat die amerikanische Theologie in Spezialforschungen z . T . einen hohen Stand erreicht. Es wäre nun aber verhängnisvoll, wenn durch die Entwicklung der deutschsprachigen Theologie die Voraussetzung einer solchen Dienstleistung entfiele, wie sie auf lange Sicht weltweit — man denke auch an Südamerika, Japan und Afrika — immer noch in erster Linie von der Theologie des deutschen Sprachraums dank ihrer spezifischen Bildungstradition erwartet wird und erbracht werden muß. Wenn hier die wissenschaftliche Theologie nicht mehr in anspruchsvollster Weise die gesamttheologische Ausbildung durchdringt, würde eine solche Einbuße zur Verkümmerung des theologischen Problembewußtseins fuhren. Damit ginge eine Eigentümlichkeit der deutschsprachigen Theologie nicht nur für diese selbst, sondern auch als kritischer und antreibender Faktor in der protestantischen Ökumene verloren.

III. Organisationsfragen Die folgenden Bemerkungen zu Fragen der Organisation und Planung theologischer Forschung erheben nicht den Anspruch, umfassend über die bestehenden Verhältnisse, über laufende Vorhaben und über Desiderien zu informieren. Es handelt sich um eine unautorisierte Umschau, die nur für eine erste Orientierung Anhaltspunkte und Beispiele vermittelt. Die Träger theologischer Wissenschaft sind in der Bundesrepublik vornehmlich die staatlichen theologischen Fakultäten bzw. Fachbereiche und die ihnen angegliederten Institute. Die relativ wenigen kirchlichen theologischen Lehrstätten („Kirchliche Hoschulen" auf evangelischer, „Philosophisch-theologische Hochschulen" auf katholischer Seite) befinden sich, obwohl z. T. in Konkurrenz zur Universitätstheologie entstanden, heute in vollem Einvernehmen mit ihr. Bei den Evangelischen und Katholischen „Akademien" handelt es sich dagegen um Zentren der Begegnung mit verschiedenen Berufsschichten. Nur in Ausnahmefällen werden hier zuweilen begrenzte, meist praxisorientierte Forschungsprojekte betrieben. Die vereinsartigen Zusammenschlüsse einzelner Gelehrter wie z. B. die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie oder in internationalem Rahmen die Studiorum Novi Testamenti Societas oder die Societas Ethica dienen nur dem wissenschaftli-

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chen Austausch und besitzen keine eigenen Forschungsmittel, organisieren darum auch keine Forschungsvorhaben. Die kirchlichen Behörden stellen gelegentlich in bescheidenem Umfang Druckkostenzuschüsse zur Verfügung, haben aber keine Möglichkeit zur Finanzierung wissenschaftlicher Unternehmungen. Aus grundsätzlichen Erwägungen wäre es auch nicht unproblematisch, wenn die theologische Forschung in direkte Abhängigkeit von bestimmten kirchlichen Geldgebern geriete. In welchem Maße die jetzigen Zustände und organisatorischen Maßnahmen im Hochschulwesen (Überhäufung mit Verwaltungsarbeit, Stelleneinsparungen, Erhöhung der Pflichtstundenzahl usw.) die Forschung an den Universitäten einschränken, müßte in weiterem Rahmen erörtert werden. Die planmäßige Forschungsarbeit in der Theologie über das Wenige hinaus, was neben oder in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lehrtätigkeit geleistet werden kann, ist im wesentlichen auf Förderung durch die DFG (in sehr viel kleinerem Maße auf die Stiftung Volkswagenwerk und die Thyssenstiftung) angewiesen und gegebenenfalls — dieses Problem befindet sich im Hinblick auf langfristige Unternehmen z. T. noch in der Schwebe - auf die Übernahme durch eine Akademie der Wissenschaften. Wie für alle geistesgeschichtliche Arbeit stellen auch für die Theologie die Editionsaufgaben die entscheidende Basis dar und machen den Hauptanteil der langfristig organisierbaren Vorhaben aus. Bedeutende Texte in zuverlässiger Gestalt zugänglich zu machen und durch textkritische und erläuternde Apparate zu erschließen, ist die unumgängliche Vorarbeit für den weiteren wissenschaftlichen Umgang mit ihnen. Für den Bereich der Patristik wurden die großen Editionscorpora einst von der Berliner (für die griechischen Kirchenväter) und der Wiener Akademie (für die lateinischen Kirchenväter) betreut. Heute unterhalten die fünf Akademien der Bundesrepublik eine gemeinsame Kommission mit mehreren Arbeitsstellen, die mit Editionsarbeiten an patristischen Texten beschäftigt sind. Dazu kommt neuerdings die Herausgabe der Vetus Latina (der lateinischen Bibelübersetzung vor der Vulgata) in Beuron. Für scholastische Texte lag der Schwerpunkt editorischer Arbeit nie im deutschsprachigen Bereich. Bemerkenswerte Ausnahmen stellen jetzt jedoch die Edition der Opera omnia des Albertus Magnus, die Eckhart-Ausgabe, die Cusanus-Ausgabe sowie die Edition der Hauptwerke des Spätscholastikers Gabriel Biel dar. Ein starkes Gewicht liegt dagegen auf kritischen Editionen der Werke der Reformatoren, insbesondere Martin Luthers, Philipp Melanchthons, Martin Bucers, Johannes Brenz' und Andreas Osianders. Das dringendste Desiderat aus dem Bereich neuerer evangelischer Theologie, eine kritische Edition der Werke Schleiermachers, befindet sich erst in einem noch ungesicherten

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Vorbereitungsstadium. Eine großangelegte Reihe Texte zur Geschichte des Pietismus (Fr. Chr. Oetinger / A. H. Francke / N. L. Graf von Zinzendorf / u. a.) ist im Erscheinen begriffen. Dimensionen und Umfang derartiger Editionsvorhaben seien kurz an zwei Beispielen erläutert. Es wurden solche theologischen Autoren ausgewählt, deren geschichtliche Bedeutung über die Theologie im engeren Sinne weit hinausreicht und in das allgemeine geistige, kulturelle und soziale Leben ausstrahlt. Die Kritische Gesamtausgabe der Werke Martin Luthers ist seit dem Beginn ihres Erscheinens im Jahre 1883 auf insgesamt 103 Foliobände angewachsen (aufgeteilt in vier Abteilungen: Werke, Tischreden, Deutsche Bibel, Briefe). Es stehen noch zwei Nachtragsbände und ein Band mit dem Gesamtinhaltsverzeichnis (unter verschiedenen Gruppierungen) aus. Einen Sonderfall bildet die bisher in einigen Lieferungen erschienene, sich aber noch auf lange Zeit erstreckende Neuedition der frühesten Vorlesung Luthers (erste Psalmenvorlesung), wobei abgesehen von wesentlichen Textverbesserungen die Genesis von Luthers Theologie durch einen minutiösen traditionsgeschichtlichen Apparat erkennbar wird. Hinzu kommt endlich das Register zur Abteilung Briefe sowie vor allem ein mit ungeheurem Arbeitsaufwand in Vorbereitung befindliches mehrbändiges Register zur Abteilung Werke, dessen Schwerpunkt im Sachregister liegt und das zunächst in Gestalt eines Archivs in dem Tübinger Institut für Spätmittelalter und Reformation erstellt wird. Die Weimarer Lutherausgabe ist in ihrem Ausmaß und mit ihrer Entstehungsdauer in zweierlei Hinsicht ein besonders instruktives Beispiel. Zum einen hat hier die Editionsaufgabe in geradezu dramatischer Weise zu enormen Textfunden geführt und die Lutherforschung stimuliert, was wiederum die Ansprüche an die Editionstechnik außerordentlich gesteigert hat, sodaß diese Ausgabe gewissermaßen an sich selber gewachsen ist. Es liegt hier ein charakteristisches Beispiel für die wissenschaftsgeschichtliche Relevanz der Editionsgeschichte vor. Zum anderen dürfte die Weimarer Lutherausgabe im Bereich der deutschsprachigen Theologie das monumentalste Dokument der Interessenberührung verschiedenster Wissenschaftsgebiete sein, wie denn an der Edition selbst in hohem Maße auch Germanisten und Historiker beteiligt sind. Die einzige bisherige Gesamtausgabe von Schleiermachers Werken stammt aus den Jahren 1836 bis 1864. Sie weist schon gegenüber ihrer eigenen Planung Lücken auf, ist aber darüber hinaus erheblich ergänzungsbedürftig. Um nur einiges zu erwähnen: Außer den dort nicht berücksichtigten verschiedenen Auflagen der Druckschriften wäre der umfangreiche bisher unedierte handschriftliche Nachlaß zu veröffentlichen sowie der in nur ganz unzureichenden Ausgaben verstreut vorlie-

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gende, z. T. aber überhaupt noch nicht publizierte Briefwechsel aufzunehmen. Daß die alte Gesamtausgabe in ihrem Editionsverfahren nicht entfernt wissenschaftlichen Grundsätzen genügt, haben seither verschiedene Neuausgaben einzelner Schriften demonstriert, ohne doch durchweg zu befriedigen. Der empfindliche und beschämende Mangel einer kritischen Gesamtausgabe hat schon verschiedene Vorstöße ausgelöst. Im Jahre 1927 scheiterte eine von zahlreichen Gelehrten unterzeichnete Eingabe an die Preußische Akademie der Wissenschaften an finanziellen Schwierigkeiten. Bemühungen bei der Heidelberger Akademie im Jahre 1961 kamen ebenfalls zum Erliegen. Seit 1972 ist eine kleine vorbereitende Kommission, die auf einer von der DFG einberufenen Sitzung konstituiert wurde, mit bescheidensten Mitteln an der Arbeit und hofft, demnächst das Planungsstadium mit der Publikation eines ersten Teilbandes beenden zu können. Die beschleunigte Fortführung wäre umso dringender, als die Schleiermacherforschung seit etwa 15 Jahren einen neuen Aufschwung erfahren hat. Beachtlicherweise ist das Interesse an Schleiermacher in USA besonders lebhaft. Im Jahre 1968 fand anläßlich der Zweihundertjahrfeier seines Geburtstages nicht in Deutschland, wohl aber in USA ein Schleiermacher-Kongress statt. Und zwei Jahre zuvor erschien in Princeton die heute maßgebende Schleiermacher Bibliographie. Bedenkt man die Vielseitigkeit von Schleiermachers geistigem Schaffen: außer exegetischer, kirchengeschichtlicher, systematischer und praktischer Theologie verschiedene Bereiche der Philosophie (Dialektik, Ethik, Hermeneutik, Pädagogik, Ästhetik und Staatslehre, dazu seine Piatonübersetzung), vergegenwärtigt man sich ferner seine geschichtliche Stellung in der Zeit der Friihromantik, des Deutschen Idealismus und der Restauration und berücksichtigt man seine überragende Bedeutung für die seitherige Theologie- und Geistesgeschichte, so kann an der Vordringlichkeit dieser Aufgabe und an dem weitgestreuten Interesse kein Zweifel bestehen. Der Nachdruck, mit dem auf editorische Aufgaben verwiesen wurde, soll das Gewicht darüber hinausgehender Forschungsvorhaben nicht abschwächen. Als Beispiele seien nur genannt: Aufarbeitung der neutestamentlichen Textgeschichte, Untersuchung des Spätaugustinismus im ausgehenden Mittelalter oder Pietismusforschung. Hier jedoch ins einzelne gehen zu wollen, überschritte die Kompetenz des Verfassers und verfiele leicht der Gefahr willkürlicher Auswahl. Die Darlegungen seien mit einer Reflexion grundsätzlicher Art abgeschlossen. Bei aller Forschungsplanung im Bereich der Geisteswissenschaften muß man sich darüber im Klaren sein, daß es auf die schöpferischen Impulse und auf die Konzentration des einzelnen Gelehrten entscheidend ankommt. Das schließt für bestimmte Arbeitsprozesse,

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zu denen wiederum vornehmlich die großen Editionen gehören, die Notwendigkeit geordneter Teamarbeit nicht aus, ohne die solche Aufgaben nie zu bewältigen wären. So dringend notwendig im übrigen finanzielle Förderungen sind, wird man sich dabei doch vor einem Übermaß an Planung hüten und darauf achten müssen, daß der Initiative des Einzelnen gebührend Spielraum bleibt. Forschungsplanung darf nicht zu einem Wissenschaftsdirigismus werden. Dafür ist vielleicht die Theologie in besonders hohem Maße empfindlich. Es widerspricht dem nur scheinbar, wenn als Richtpunkte für Forschungsplanung und -förderung im Bereich der Theologie folgendes zu bedenken gegeben wird. Man sollte zum einen die Offenheit zur allgemeinen kulturellen Situation und die Beziehung zu den übrigen Wissenschaften im Auge haben und zum andern nicht die Ausrichtung auf dasjenige aus dem Auge verlieren, was die so ungemein vielfältigen Aufgaben theologischer Forschung zur Einheit der Sache der Theologie verbindet. 2

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Einzelne Anregungen und Formulierungen verdanke ich H. D. Betz (Claremont, Calif./USA), H. J. Bilkner (Kiel), G. Klein (Münster) und B. Moeller (Göttingen).

Hellmut Flashar (Bochum)

Zur Situation der Klassischen Philologie Die Klassische Philologie - der sachliche und organisatorische Oberbegriff der Universitätsdisziplinen „Griechisch" und „Lateinisch" blickt auf eine lange Forschungstradition zurück, die in vielen Wandlungen und doch fast ununterbrochener Kontinuität bis auf die alexandrinische Philologie des 3. Jahrhunderts v. Chr. zurückreicht. 1 Bei der Neugestaltung des Universitätswesens im Zusammenhang mit den Humboldtschen Reformen kam der Klassischen Philologie eine hervorragende Rolle zu. Sie war neben der Philosophie selbst das Zentrum der Philosophischen Fakultät, ihr Rang war unbestritten. Zu neuem, auch theoretisch fundiertem Selbstbewußtsein verhalfen ihr Methodologien und Enzyklopädien (Friedrich August Wolf, Friedrich Ast, August Boeckh), in denen sie sich als Altertumswissenschaft und Philologie zugleich präsentierte. „Die Klassische Philologie", formuliert Franz Schnabel, „war im Zeitalter Hegels die einzige Konkurrentin der Philosophie. Sie war Vorkämpferin der neuen induktiven Forschung". 2 Als das zentrale Glied einer Altertumswissenschaft war sie auf das engste mit der Archäologie und der Geschichtswissenschaft verbunden, vielfach in der Personalunion der Lehrstuhlvertreter. In der Archäologie stand die literarische Quelle stark im Vordergrund; die entscheidenden Ausgrabungen, deren Ergebnisse die Entwicklung der griechischen Kunst gelehrt haben, begannen erst um die Jahrhundertmitte. 3 Ein selbständiges Fach: „Alte Geschichte" gab es noch nicht; J. G. Droysen, selbst Philologe und Historiker in einer Person, hat durch seine in der Formulierung an Boeckhs Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften angelehnte, 1857 gehaltene Vorlesung Enzyklopädie und Methodologie der historischen Wissenschaft zu verstehen ge1 2 3

Vgl. R. Pfeiffer, History of Classical Scholarship, Bd. I, Oxford 1968 (dtsch.: Geschichte der Klassischen Philologie, Reinbek 1970); II Oxford 1976. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Freiburg 3 1954, 34 f. Über die Wandlungen von Gegenstand und Aufgabe der Archäologie vgl. auch N. Himmelmann, Utopische Vergangenheit, Berlin 1976.

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geben, wie sehr ihm bei der theoretischen Besinnung auf eine Geschichtsforschung die Philologie Modell gewesen ist. 4 Zugleich verstand sich die „Klassische Philologie" als „Philologie" schlechthin. Die neueren Philologien haben sich als Sache und organisatorische Einheit erst relativ spät etabliert, die Germanistik war in ihrer Anfangsphase auf das engste mit der Klassischen Philologie verknüpft, — für die Orientalistik mit einer ganz anderen Tradition liegen die Verhältnisse anders und komplizierter. Entsprechend der dominanten Stellung der Klassischen Philologie im 19. Jahrhundert war sie auch bahnbrechend hinsichtlich zentral geförderter Forschungsvorhaben in den Geisteswissenschaften. Die großen Inschriftencorpora (Corpus inscriptionum Graecarum bzw. Latinarum), Textcorpora (z. B. Corpus Medicorum Graecorum bzw. Latinorum) sind noch im 19. Jahrhundert begründet worden; das gewaltige Unternehmen des Thesaurus Linguae Latinae (das bis heute noch nicht vollendet ist) stammt aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Ohne jede Subvention wurde 1893 eine Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft in Angriff genommen und in kontinuierlicher Arbeit 1974 mit 66 (Halb-)Bänden und 14 Supplementbänden abgeschlossen. Der gewichtigen Stellung der Klassischen Philologie entsprach das Gymnasium Humboldtscher Prägung mit seiner vor allem an den Alten Sprachen (d. h. Griechisch und Lateinisch) orientierten Bildungsidee. Zwar sahen sich die Alten Sprachen schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in die Defensive gedrängt (die Schulkonferenzen von 1890 und 1900 sind dafür ein beredtes Zeugnis), doch blieb der prägende Einfluß des Lateinischen und des Griechischen auf den gymnasialen Bildungsgang beträchtlich, dessen Absolventen die deutsche Universität bezogen. Wie immer man beide Institutionen, die Philosphische Fakultät und das humanistische Gymnasium, im Rückblick beurteilen mag, es ist unbestritten, daß sie im 19. Jahrhundert Weltgeltung erlangten und für eine Reihe von europäischen Ländern modellhaftes Vorbild wurden. 4

Gedruckt dann als Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von R. Hübner, Darmstadt 5 1967. Noch nicht ersetzt ist das allerdings erneuerungsbedürftige Werk von J. Wach, Das Verstehen, 3 Bde., Tübingen 1926-33 (Nachdruck Hildesheim 1966). Teilweise wird die Lücke gefüllt durch einen von mir herausgegebenen, im Druck befindlichen Band: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Göttingen 1977, aus dem für den hier erörterten Zusammenhang die folgenden Beiträge wichtig sind: U. Muhlack, Zum Verhältnis von Klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert', Vi. Stackmann, Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik-, K.-H. Stierle, Die Bedeutung der altertumswissenschaftlichen Hermeneutik für die Entstehung der Neueren Philologien.

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Für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation der Klassischen Philologie im Kontext der Geisteswissenschaften ist kennzeichnend, daß die skizzierten Rahmenbedingungen heute nicht mehr vorhanden sind, obwohl die Klassische Philologie wie kaum eine andere geisteswissenschaftliche Disziplin aus der Kontinuität ihrer eigenen Tradition lebt und sich versteht. Hinsichtlich ihrer Stellung als Altertumswissenschaft hatte zwar Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) noch einmal eine gewiß positivistische, theoretisch-methodisch unbeschwerte, aber doch großartige Konzeption von Philologie selbst verwirklicht, die sich ausdrücklich als Altertumswissenschaft verstand. Aber in den 20er Jahren wurden andere Akzentuierungen dominant; Werner Jaegers Dritter Humanismus dachte - in Verengung der Betrachtungsweise - der Klassichen Philologie die Funktion der Neubelebung des griechischen Kultur- und Bildungsgutes in der Gegenwart zu. Wenn auch heute die Klassische Philologie nicht mehr von einem programmatisch humanistischen Impuls getragen ist, so sind doch die Bindungen zu den übrigen Gliedern der Altertumswissenschaft (Archäologie, Alte Geschichte) erheblich lockerer geworden, gegenwärtig wohl in einer für alle Teile gefährlichen Weise. Dies liegt nicht nur an einer unvermeidlich immer stärker voranschreitenden Spezialisierung, die eine wissenschaftlich verantwortbare Vertretung mehrerer altertumswissenschaftlicher Disziplinen in Personalunion von vornherein ausschließt, sondern an „zentripalen" Tendenzen ihrer einzelnen Glieder selbst. Die Archäologie, die sich in einer gegenüber der Mitte des 19. Jahrhunderts völlig veränderten Situation hinsichtlich ihrer Gegenstände sieht, neigt dort, wo sie über die hochspezialisierte und technisierte Einordnung ihrer Funde hinausgeht, betont zu einer „Kunstwissenschaft" und nähert sich damit der Kunstgeschichte. Sie erfreut sich der Gunst eines optischen Zeitalters und ist teilweise einem modischen Zustrom ausgesetzt. Die früher gängige Fächerkombination von Archäologie (Hauptfach) und Klassischer Philologie ist die Ausnahme geworden. Die Alte Geschichte spürt seit einiger Zeit einen erheblichen Nachholbedarf an sozialgeschichtlichen, wirtschaftsgeschichtlichen, geschichtstheoretischen Fragestellungen, — und dies mit gewissem Recht. Im ganzen zeigt sich hierin eine stärkere Hinwendung des Faches zur allgemeinen Geschichte, wiederum unter gleichzeitiger Desintegration von der Altertumswissenschaft und hier insbesondere der Klassischen Philologie. Die Desintegration zwischen den altertumswissenschaftlichen Disziplinen wird gefördert und beschleunigt durch ein ganz handgreifliches Phänomen: den Rückgang der alten Sprachen auf der Schule. Die

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Kenntnis jedenfalls des Griechischen dürfte in althistorischen Seminaren und Proseminaren heute die Ausnahme sein; eine von der Sache her wohl auch heute noch naheliegende Fächerverbindung wird auch deshalb nicht gewählt, weil sie das Nachlernen eines früher vom Gymnasium erbrachten Pensums voraussetzt. Aber selbst innerhalb der Klassischen Philologie machen sich desintegrative Erscheinungen bemerkbar. Zunächst liegt es auch hier im Zuge der voranschreitenden Spezialisierung, daß der noch vor zwei Generationen häufig anzutreffende Typ des „Klassischen Philologen", der in Lehre und Forschung das Griechische und das Lateinische gleichermassen vertritt, selten geworden und an seine Stelle weitgehend der „Gräzist" oder der „Latinist" getreten ist, der gewiß — in „Klassischer Philologie" habilitiert - in der jeweils anderen Philologie sich als nicht inkompetent ausgewiesen hat und natürlich in der Tradition einer institutionell, wissenschaftsgeschichtlich und forschungspolitisch zusammengehörigen Klassischen Philologie lebt und wirkt. Eine programmatisch geforderte relative Verselbständigung von Gräzistik und Latinistik bei stärkerer Einbeziehung der Byzantinistik in eine Griechische und des Mittellateins sowie Neulateins (Humanismus) in eine Lateinische Philologie um den Preis der Lockerung der gegenseitigen Bindungen der beiden in der „Klassischen Philologie" zusammengefaßten Disziplinen 5 hat sich institutionell kaum durchsetzen können, aber in der stärkeren Hinwendung der Latinistik auf die Erforschung auch der nachantiken lateinischen Literatur und in der Forderung einer inneren Reform insbesondere der Latinistik belebend und z. T. erfolgreich gewirkt. 6 Ein faktisches Auseinandertreten der beiden Philologien jedenfalls im Lehr- (und Lern)betrieb der Universität kommt aber heute von einer anderen Seite, nämlich durch die Fächerwahl der Studenten, die wiederum von der Art der gymnasialen Vorbildung beeinflußt ist. Studierende,

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Vgl. M. Fuhrmann, Die Antike und ihre Vermittler. In: Konstanzer Universitätsreden. 1969, Heft 9; M. Fuhrmann/H. Tränkle, Wie klassisch ist die klassische Antike?, Zürich 1970. M. Fuhrmann, Zur lateinischen Philologie, In: Gebremste Reform, Konstanz 1977, 201 ff. (dort stärkere Differenzierung zwischen Griechisch und Latein hinsichtlich der Reformaufgaben). Eine internationale Gesellschaft für neulateinische Studien ist 1971 in Amsterdam gegründet worden. Eine von ihr auf Anregung von M. Fuhrmann gebildete Kommission für Unterricht hat unter dem Vorsitz von W. Ludwig den Seminaren bzw. Departments für Klassische Philologie empfohlen, „ihr Lehrprogramm durch neulateinische Kurse zu bereichern, die den Studenten bewußt machen, daß vom 14. bis 18. Jahrhundert eine lateinische Literatur entstanden ist, die ein wesentliches und wichtiges Element der europäischen Kulturgeschichte darstellt." (W. Ludwig, in: Gnomon 49 (1977), 100-102.

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die das Fach Latein, aber nicht gleichzeitig Griechisch belegen, gab es in Deutschland schon seit längerer Zeit (in einer Reihe ost- und westeuropäischer Länder ist freilich die Kombination beider Fächer zwingend vorgeschrieben), aber die Akzente haben sich insofern verschoben, als die Fächerkombination Griechisch und Latein heute die Ausnahme geworden ist. Ferner verfugen die Studierenden des Lateinischen heute in der Regel nicht mehr über die Elementarkenntnisse im Griechischen, die früher als selbstverständliche Voraussetzung angesehen werden konnten. Trotz aller Bemühungen, Einseitigkeiten dieser Art während des Studiums auszugleichen, muß sich eine innere Isolierung dieser Art über kurz oder lang auch in der Forschung auswirken. Auch die Stellung der Klassischen Philologie zu den anderen Philologien ist seit dem 19. Jahrhundert einem tiefgreifenden Wandel unterworfen gewesen. Mag sie im Bereiche der Textkritik, Textüberlieferung und Editionstechnik noch vorbildlich genannt werden können, so haben die Neueren Philologien, wenn auch in unterschiedlichem Maße (besonders stark Romanistik und Slavistik, kaum Anglistik), längst eigene literaturwissenschaftliche Theorien und Methoden, vielfach in betonter Emanzipierung von traditionellen Fragestellungen, entwickelt. Diese Entwicklung hat seit einiger Zeit zu einem Überschäumen an Theorie- und Methodenbildung (gelegentlich mit ideologiekritischen Akzent, dies besonders in der Germanistik 7 ) geführt, der gegenüber die Klassische Philologie sich auffalllend zurückgehalten hat, auch im Wahrnehmen einer kritischen Funktion, die ihr aufgrund ihrer eigenen Tradition hätte zukommen können. Erst neuerdings beginnt sie zögernd in das Gespräch einzutreten und sich mit Theorien und Methoden anderer Provenienz im Bereiche der Literaturwissenschaft auseinanderzusetzen. Unterdessen haben sich die Ansätze zu einer allgemeinen Literaturwissenschaft vielfach nicht den Erwartungen entsprechend entwikkeln lassen; ein Rückzug in die Einzelphilologien läßt sich neuerdings beobachten. 8 7

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Vgl. hierzu bes. die beiden Bände: Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1969; Neue Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1973. Die Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Studienmodell von W. Iser (zuerst veröffentlicht in: Konstanzer Blätter fiir Hochschulfragen 22 (1969), 2 5 - 3 9 ) mit ihren weitreichenden Folgerungen für das „Lehramt an Höheren Schulen" haben sich jedenfalls nicht verwirklichen lassen. Das gleiche gilt für linguistische Studienmodelle (H. Weinrich). Inwieweit dabei administrative Maßnahmen von außen eine Rolle spielen, zeigt der Sammelband „Gebremste Reform", hrsg. von H. R. Jauss und H. Nesselhauff, Konstanz 1977 über das weitgehende Scheitern der Konstanzer Reformpläne auf vielen Gebieten. Für die Literaturwissenschaft vgl. dort bes. W. Iser, Literaturwissenschaft in Konstanz, 1 8 1 - 2 0 0 . „Literaturwissenschaft in Konstanz hat als

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Zu den Rahmenbedingungen unter denen sich die Klassische Philologie im 19. Jahrhundert besonders entfalten konnte, gehörte auch die Institution der Philosophischen Fakultät, wegen der inneren Verflechtung der Gegenstände der Klassischen Philologie mit vielen anderen Fächern. Der Prozeß der Auflösung der Philosophischen Fakultäten ist heute (von wenigen Ausnahmen abgesehen) abgeschlossen. In den neuen Fachbereichen ist die Klassische Philologie im günstigsten Falle entweder in den Verbund mit den übrigen Philologien oder mit den übrigen altertumswissenschaftlichen Fächern gestellt. In einer Reihe von Universitäten ist nicht einmal eine dieser Varianten erreicht, sondern eine rein zufällige Kombination mit einigen anderen Disziplinen oder einem sonst nicht unterzubringenden Rest kleinerer Fächer getroffen worden. Vielfach lagen bei der Einteilung der Fachbereiche Entscheidungen zugrunde, die überhaupt nicht auf konzeptionellen Überlegungen beruhten. Alle Erfahrung mit den neuen Fachbereichsstrukturen hat inzwischen gelehrt, daß diese keine bloßen Verwaltungsgrenzen sind, sondern auf die Situation des Faches nicht ohne Einfluß sind, insbesondere dann, wenn die Fachbereiche verhältnismäßig klein gehalten sind, gelegentlich sogar nur aus einem Fach (Germanistik, Anglistik) bestehen. Es ist dies ein Problem vor allem der Geisteswissenschaften der (ehemaligen) Philosophischen Fakultät, denn Theologie, Jurisprudenz und Medizin haben in dieser Hinsicht keine oder nur wenig strukturelle Veränderung erfahren, während bei den Naturwissenschaften die Problematik weitgehend anders sein dürfte. Was diese Veränderungen für die Geisteswissenschaften (hier ist die Klassische Philologie wieder besonders betroffen) bedeuten, wird erst in Zukunft sichtbar werden. 9 Schließlich tragen zur Situation der Klassischen Philologie nicht unProgramm nicht überlebt" (200). - Selbstverständlich soll damit nicht in Abrede gestellt werden, daß sich in den letzten Jahrzehnten unter starker Beteiligung gerade der Konstanzer Philologen international eine systematische Literaturwissenschaft entwickelt hat, deren Ansätze und Ergebnisse für die Einzelphilologien bedeutsam sind. ® U. Hölscher hatte seiner 1972 an der Universität München gehaltenen Antrittsvorlesung Das existentiale Motiv der frühgriechischen Philosophie eine Einleitung vorangestellt, in der er u. a. ausführte: „Meine Aufnahme in diese Universität fällt zusammen mit dem Untergang der Philosophischen Fakultäten an den deutschen Hochschulen, von dessen Tragweite noch kaum ein Bewußtsein besteht. Ich bin dankbar, einer Institution anzugehören, die diesen Schritt noch nicht getan hat und damit den Wissenschaften eine Chance läßt, ihrer tödlichen Isolierung zu entgehen." Als die Antrittsvorlesung (mit diesen Sätzen) gedruckt war (in: Probata-Probanda, hrsg. von F. Hörmann, München 1974, 5 8 - 7 1 ) gab es in München keine Philosophische Fakultät mehr.

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wesentlich die schon mehrfach angedeuteten Veränderungen im Schulwesen bei, denn Schule und Hochschule sind hier besonders eng verbunden, weil es für die Klassische Philologie in weit geringerem Maße als für die meisten anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen Berufsfelder außerhalb von Schule und Hochschule gibt. Die Reformen im gymnasialen Schulbereich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren weitgehend darauf abgestellt, neue und gegenwartsbezogene Fächer zu ihrem Recht kommen zu lassen und andere Bildungsgänge als den des Humanistischen Gymnasiums alternativ zu ermöglichen. Aber auch in diesen war zumindest das Lateinische bis zu einem gewissen Maße integriert; daneben blieb der an den Alten Sprachen orientierte Bildungsgang weitgehend unangetastet. Selbst die Umwandlung der Gymnasien in „Deutsche Oberschulen" im „Dritten Reich" hat diese Situation im Strukturellen kaum verändert. Sie lag grundsätzlich noch 1958 den (freilich nie verwirklichten) Empfehlungen des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen mit seinem Konzept einer „Studienschule" in einem Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens zugrunde, wobei die „Studienschule" insbesondere die geschichtliche Tradition des Abendlandes vermitteln und lebendig erhalten sollte. Von der Mitte der 60er Jahre an traten jedoch neue Zielsetzungen im sekundären Bildungswesen in den Vordergrund: soziale Integration, gesellschaftliche Veränderung, Durchlässigkeit der Bildungsgänge, Ausschöpfen von Bildungsreserven, Erhöhung der Abiturientenzahlen usw. Diese Tendenzen führten zu einer immer stärkeren Betonung der horizontalen Gliederungselemente (Sekundarstufe I, Sekundarstufe II) und entsprechend gleichzeitig zu einem Zurückdrängen der stark differenzierenden Fächer innerhalb des Sekundarstufenbereiches. Dazu gehören aber in erster Linie die Alten Sprachen, die in mancherlei Hinsicht den neuen Zielsetzungen zuwiderzulaufen scheinen. Diese Tendenzen finden ihre verstärkte Fortsetzung in den neuesten Reformvorhaben und -versuchen (integrierte Gesamtschule, Stufenschule, Kooperative Schule NRW, gymnasiale Oberstufe mit sehr weitgehenden Abwählmöglichkeiten von Fächern). Sie verbanden sind mit den geschichtsfeindlichen Bestrebungen der späten 60er Jahre und brachten insgesamt den Prozeß der Umwandlung von Bildungsanstalten in Auswahlstätten auf den Weg. Hier liegt vielleicht der tiefgreifendste Fehler der Bildungspolitik. 10 Diese Entwicklung führte sofort zu spürbaren Konsequenzen im Be10

Vgl. H. Dichgans, Konsens in der Bildungspolitik. In: Materialien zur Bildungspolitik hrsg. vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 1977, Heft 4, 26: „Unsere Gymnasien, früher einmal Bildungsanstalten, haben sich in riesige Auswahlmechanismen für Studienberechtigungen verwandelt."

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reiche der Klassischen Philologie an den Universitäten. Sie hat in einem insgesamt antizyklischen Verlauf in den 10 Jahren von 1964—1974 bei gleichzeitigem enormen Ansteigen der allgemeinen Studentenzahlen einen Rückgang der absoluten Zahlen der Studierenden der Klassischen Philologie um mindestens 60% gebracht. Mag man darin in gewissem Maße ein „Gesundschrumpfen" erblicken, so geriet doch die Gräzistik in eine elementare Existenzgefährdung, da sich die Zahl der Studierenden des Griechischen an manchen Universitäten bedenklich der Nullgrenze näherte. Daß die bayerischen Universitäten von dieser Entwicklung relativ am wenigsten tangiert wurden, hängt evident mit den in dieser Hinsicht günstigen Situation an den Gymnasien Bayerns zusammen. Die Verdrängung der alten Sprachen aus dem Gymnasium führt aber noch zu weiteren Konsequenzen. Die meisten Universitäten und Kultusministerien halten in akademischen und staatlichen Prüfungsordnungen für eine Reihe von Fächern (Theologie, Geschichte, Romanistik usw.) an der Forderung von Lateinkenntnissen (in einigen Fällen auch Griechischkenntnissen) fest. Werden diese Kenntnisse nicht durch das Reifezeugnis nachgewiesen, können sie in Universitätskursen nachträglich erworben werden (Latinum). Der nachträgliche Erwerb dieser Kenntnisse war als Ausnahme gedacht, ist aber inzwischen zur Regel geworden. Diese Entwicklung hat an den meisten Universitäten zu einer unerträglichen Uberfüllung der Kurse geführt, die das kurzfristige Erlernen einer Sprache fast unmöglich macht, abgesehen davon, daß die Verwendung der kostspieligen Universität als Stätte eines gymnasialen Repetitoriums unökonomisch ist. Wenn es nicht gelingt, diese Aufgabe wenigstens teilweise wieder an das Gymnasium zurückzugeben, wird das gegenwärtig noch weitgehend praktizierte System auch angesichts der Studienzeitbegrenzung zusammenbrechen. Es muß dann damit gerechnet werden, daß eine Reihe von geisteswissenschaftlichen Disziplinen sich in ihrem Charakter allein wegen des elementaren Fehlens der sprachlichen Grundlage ihrer historischen Stufen nachhaltig ändert. Da auch im Zusammenhang der jetzt fast überall eingeführten reformierten Oberstufe mit ihrem Kurssystem die Eingangsvoraussetzungen für das eigentliche Studienfach (jedenfalls sofern ihm ein spezifisches Schulfach korrespondiert) höchst unterschiedlich sind und demnach das Grundstudium mit Propädeutica vollgestopft zu werden droht, hat die Westdeutsche Rektorenkonferenz eine Korrektur der entsprechenden Schulreform in Richtung auf einen etwas stärker verbindlichen Kanon von Fächern (vor allem Deutsch, Fremdsprachen, Geschichte) gefordert, die ganz auf der Linie der aus der Sicht der Klassischen Philologie zu fordernden Maßnahmen liegt.

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All diese Entwicklungen beginnen sich erst langsam auf die Forschungssituation auszuwirken. Die Forschung in der Klassischen Philologie lebt z. Zt. noch weitgehend aus ihrer eigenen Tradition. Sie ist vielfältig und von unterschiedlichem Niveau. Sie bezieht sich auf zentral geförderte Unternehmungen (Thesaurus Linguae Latinae, Thesaurus Linguae Graecae mit dem Lexicon des frühgriechischen Epos und dem Hippokratesindex), auf gemeinschaftlich organisierte Vorhaben wie z. B. die Arbeit an den Papyrussammlungen, unter denen neuerdings Köln einen auch international angesehenen Platz einnimmt, 11 und auf z. T. imposante Einzelleistungen. Im ganzen kann die deutsche Forschung in der Klassischen Philologie im internationalen Vergleich noch einen guten Platz behaupten, wenn sie auch nicht mehr für andere Nationen in dem Maße als vorbildlich angesehen wird, wie dies im 19. Jahrhundert der Fall war. Doch kann kein Zweifel sein, daß die gegenwärtig abträglichen Rahmenbedingungen sich langfristig auch auf die Forschung auswirken müssen, und zwar auch über die Verminderung von Forschungspotential durch Stellenstreichungen infolge von Sparmaßnahmen hinaus. Ein Blick auf andere Länder bzw. Systeme mag dies verdeutlichen. Das völlige Verschwinden des Griechischen und die sehr weitgehende Dezimierung des Lateinischen auf den Schulen z. B. in Schweden hat in diesem Lande im Zuge der Einsparung von Stellen und Mitteln zu einem erheblichen Rückgang der Forschung in der Klassischen Philologie im internationalen Vergleich geführt. Ähnliches gilt von der DDR. Hier sind durch die bald nach Kriegsende begonnenen sozialistischen Schulreformen freigewordene Kapazitäten in der Klassischen Philologie zunächst durch die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen und in einem neu gegründeten Institut für griechisch-römische Altertumskunde für die Forschung gewonnen worden. 12 Doch war dies keine langfristig tragfähige Grundlage für ein Weiterleben der Klassischen Philologie. Inzwischen ist das Institut unter starker Beschränkung seiner philologischen Komponente in ein Zentralinstitut für Alte Geschichte 11 12

Vg. L. Koenen, Papyrology in the Federal Republik of Germany. In: Studio Papyrologica 15 (1976), 3 9 - 5 0 . Das Protokoll der Eröffnungstagung findet sich in dem Sammelband Das Institut für griechisch-römische Altertumskunde, Berlin 1957. Die Begrüßungsansprachen beschwören die „Unteilbarkeit der deutschen Wissenschaft" und die Kontinuität einer Tradition, die mit den Namen von August Boeckh, Theodor Mommsen, Hermann Diels, Adolf Harnack, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff verbunden ist. Davon ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Umso bewunderungswürdiger bleibt, daß einzelne Philologen in der DDR hervorragende Arbeit leisten.

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und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR umgewandelt worden. Entsprechend den gewandelten „Bedürfnissen" ist Lehre und Forschung in der Klassischen Philologie stark dezimiert; an der alten Berliner „Humboldt-Universität" ist eine Immatrikulation in Klassischer Philologie derzeit nicht möglich. Auch aus Gründen nationaler Repräsentanz kann vor einer solchen Entwicklung in der Bundesrepublik nur gewarnt werden. Nachdem in den letzten Jahren die Phase der Geschichtsfeindlichkeit überwunden zu sein scheint und sich ein neues Interesse am Geschichtlichen auch in Sprache und Literatur zu regen beginnt, auf der anderen Seite die Ziele mancher Bildungsreform nicht erreicht werden konnten und viele Reformpläne als solche auch in der Öffentlichkeit mehr und mehr umstritten sind, ist ein Anwachsen des Interesses auch ain den Alten Sprachen an Schule und Universität zu beobachten. Ob diese Tendenz von Dauer sein und der Klassischen Philologie einen angemessenen Platz im Gleichgewicht der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Strömungen sichern bzw. zurückgewinnen kann, hängt einerseits davon ab, ob sich auf lange Sicht die institutionellen Rahmenbedingungen in einer inzwischen vielfach geforderten Kurskorrektur der Bildungspolitik sinnvoll gestalten lassen und andererseits davon, ob es der Klassischen Philologie selbst gelingt, die Herausforderung der Zeit auch in ihren Chancen anzunehmen und sich im kulturellen Kontext der Gegenwart offensiv zu etablieren.

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Die Chance des Unbehagens ist der Titel, unter dem U. Hölscher 1965 drei Essais zur Situation der klassischen Studien zusammengefaßt hatte. Daß die Chance der Klassischen Philologie nicht nur in einem „Unbehagen" besteht, dürfte indessen evident sein, vgl. z. B. K. von Fritz, The Relevance of Ancient Social and Political Philosophy for our Times, Berlin 1974. Zu den „Chancen" gehört auch die Möglichkeit, neue Impulse in Richtung auf eine umfassendere Einbeziehung der antiken Literatur in das Phänomen „Literatur" überhaupt in einer methodisch sachgerechten Weise für den Schulunterricht (hier insbesondere im Lateinischen) und seinen (z. T. neuen) Aufgaben zu vermitteln. Vgl. bes. M. Fuhrmann, Alte Sprachen in der Krise? - Analysen und Programme, Stuttgart 1976.

August Buck (Marburg) Zur Lage der Renaissance- u n d Humanismusforschung in Vergangenheit u n d Gegenwart Im Spektrum der geisteswissenschaftlichen Forschungszweige nimmt die Renaissance- und Humanismusforschung insofern eine Sonderstellung ein, als sie in bezug auf ihren Forschungsgegenstand wie auf ihre Methode an keine bestimmte wissenschaftliche Disziplin gebunden ist. Als die moderne Renaissance- und Humanismusforschung mit dem Erscheinen von Georg Voigts Wiederbelebung des classischen Althertums oder das erste Jahrhundert des Humanismus (1859) und Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien (1860) begann, wurde sie von einem Historiker und einem Kultur- und Kunsthistoriker begründet. An ihrer weiteren Entwicklung bis zur Gegenwart sind alle Geisteswissenschaften beteiligt, soweit sie sich mit dem Zeitraum zwischen 1300 und 1600 befaßt haben: die Geschichtswissenschaft in ihren verschiedenen Sparten, einschließlich der Kirchengeschichte, sowie der Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin, die Philosophie, Pädagogik, Jurisprudenz, Alt- und Neuphilologie und Soziologie. Obgleich die Schwerpunkte der Forschung im historisch-philologischen Bereich liegen, haben demgegenüber die anderen Disziplinen keineswegs die Funktion von Hilfswissenschaften, da man zu der Einsicht gelangt ist, daß die der Forschung gestellten Aufgaben nur mittels einer interdisziplinären Zusammenarbeit der verschiedenen Geisteswissenschaften bewältigt werden können. Erst die Pluralität der methodischen Ansätze, die sich in den Geisteswissenschaften zwangsläufig aus der Beschäftigung mit den Äußerungen des weitgehend irrational bestimmten Humanen in der Kultur ergibt, macht eine Erhellung der Renaissance und des Humanismus in der großen Variationsbreite ihrer Phänomene und der zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkungen möglich. Eine solche Auffassung der Renaissance- und Humanismusforschung ist das Ergebnis eines wissenschaftlichen Prozesses. Indem Jacob Burckhardt die Kultur als die Gesamtheit der Lebensäußerungen einer geschichtlichen Epoche begriffen hatte, war damit die Forderung nach einer alle einschlägigen Wissenschaften integrierenden Renaissance- und

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Humanismusforschung gestellt, die freilich Burckhardt selbst nicht erfüllt hat, da sie — ganz abgesehen vom damaligen Forschungsstand — wohl überhaupt nur auf der Grundlage des Teamworks erfüllt werden kann. Wenn diese Möglichkeit beim heutigen Forschungsstand realisierbar erscheint, war an der dafür notwendigen wissenschaftlichen Entwicklung die deutsche Forschung während des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zunächst führend und später noch maßgebend beteiligt. Nur wer sich diese internationale Rolle vergegenwärtigt, welche die deutsche Renaissance- und Humanismusforschung ein halbes Jahrhundert über gespielt hat, kann ihren Verfall ermessen, dessen Folgen bis in die Gegenwart spürbar sind. In der Generation von Forschern, die auf Voigt und Burckhardt folgte und in der Auseinandersetzung mit deren Werken zu neuen Fragestellungen vordrang, dominieren die deutschen Namen, darunter Wilhelm Düthey (geb. 1833), Ludwig Geiger (geb. 1848), Friedrich von Bezold (geb. 1848), Eberhard Gothein (geb. 1853), Robert Davidson (geb. 1853), Ludwig von Pastor (geb. 1854), Henry Thode (geb. 1857), Konrad Burdach (geb. 1859). Als richtungsweisend für die künftige Forschung erwiesen sich vornehmlich die Bemühungen eines Friedrich von Bezold, eines Henry Thode und eines Konrad Burdach um die Erhellung der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance, die namentlich in Burckhardts in sich ruhendem Renaissancebild vernachlässigt worden war. Obwohl weder die von Thode in seinen auch außerhalb der Fachwelt viel gelesenen Monographien über Franz von Assisi (1885) und Michelangelo (1903) vertretene Auffassung vom Ursprung der Renaissance im religiösen Individualismus des Heiligen Franziskus noch Burdachs Rückverlegung der Renaissance mittels des schillernden Begriffs der „Wiedergeburt" in die mystischen Strömungen des 13. Jahrhunderts einer Nachprüfung haben standhalten können, gingen doch von diesen Forschungen eintscheidende Anstöße auf die seit Burckhardt nicht mehr abreißende Diskussion über die Stellung der Renaissance in der europäischen Geistesgeschichte aus. Auf dem Boden einer vertieften Kenntnis des Mittelalters erwuchs eine neue Richtung der Renaissanceforschung, die der amerikanische Historiker Ferguson als „the revolt of the medievalists" treffend gekennzeichnet hat. In ihr, die sich im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts entfaltet, ist allerdings nicht mehr die deutsche, sondern die außerdeutsche, vornehmlich die nordamerikanische Forschung führend. Auch die durch von Pastor, Thode, Burdach und von Bezold aufgeworfene Frage nach den christlichen Elementen in der Renaissance erwies sich als ein fruchtbarer Neuansatz für spätere Forschungen, schloß

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doch die weltliche Grundtendenz der Renaissance als Ganzes weder die persönliche Frömmigkeit im Einzelfall noch die kritische Reflexion über die christliche Lehre aus. Es lag nahe, daß zunächst im Heimatland der Reformation deutsche Theologen wie Ernst Troeltsch (geb. 1865) und Heinrich Hermelink (geb. 1877), nebst dem Deutschschweizer Paul Wernle (geb. 1872) das Verhältnis zwischen Renaissance und Reformation zu klären suchten. Um Troeltschs Untersuchung über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (München/Berlin 1906; 5. Aufl. 1926), die nach wenigen Jahren bereits in englischer Übersetzung in New York (1912) erschien, entspann sich eine anhaltende lebhafte Diskussion. Auch bei der Interpretation der Renaissance aus ihrem Verhältnis zum Christentum verlagerte sich allmählich der Forschungsschwerpunkt ins Ausland, wo etwa schon in den dreißiger Jahren Giuseppe Toffanin mit seiner Storia dell'umanesimo (1933) eine stark beachtete katholische Lösung des Renaissanceproblems bot und damit Schule machte. Nachdem Karl Borinski (geb. 1861) als einer der ersten die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Poetik und die Kunsttheorie der Renaissance (1884 und 1914) gelenkt hatte und deren Verwurzelung in der Antike nachgegangen war, begann er damit ein vorher nicht hinreichend beachtetes Deutungszentrum des Renaissancebildes zu erschließen. Zwar fand er in bezug auf die Poetik in Deutschland nur wenig Nachfolge ; sehr viel mehr in der Erforschung der Kunsttheorie der Renaissance. Unabhängig von Borinski im Rückgriff auf die kunsttheoretische und die ihr entsprechende poetologische Literatur studierte Aby Warburg (geb. 1866) die Funktion der Antike in der Kunst der italienischen Renaissance und kam damit von der ikonologischen Analyse her zu einer neuen umfassenden Konzeption der Nachlebenforschung, in deren Dienst er die von ihm in Hamburg begründete und aufgebaute Bibliothek Warburg stellte. Sie beruht auf einer letzten Endes auf den von Warburg bewunderten Jacob Burckhardt zurückgehenden Vorstellung einer universalen Kulturwissenschaft, welche die Bücherbestände sowie deren Aufstellung widerspiegeln. Damit wurde zum erstenmal ein Arbeitsinstrument für eine interdisziplinär konzepierte Renaissance- und Humanismusforschung geschaffen. Keinem unter den Pionieren der Renaissance- und Humanismusforschung aus dem 19. Jahrhundert ist es vergönnt gewesen, eine Schule zu begründen, deren Bedeutung sich mit dem Kreis von Forschern vergleichen läßt, welcher in der Bibliothek Warburg seinen geistigen Mittelpunkt besaß. Zu ihm gehörten — um nur die prominenten Mitglieder zu nennen - Gertrug Bing, Ernst Cassirer, Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Ernst Saxl, der 1921 die Bibliothek in ein öffentliches For-

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schungsinstitut umwandelte, und Edgar Wind. In den beiden von der Bibliothek herausgegebenen Publikationsreihen, den Studien der Bibliothek Warburg (bis 1933 einundzwanzig Bände) und den Vorträgen der Bibliothek Warburg (bis 1933 neun Bände), erschienen Beiträge, die der weiteren Forschung unentbehrlich geworden sind; dafür nur zwei Beispiele: Cassirers monumentales Werk Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance von 1926 und der im gleichen Jahr gehaltene Vortrag Rudolf Pfeiffers Humanitas Erasmiana (1931). In der Widmung, mit der Cassirer sein Werk Aby Warburg zum 60. Geburtstag dediziert, hat er die „Maxime" formuliert, in deren Zeichen die Bibliothek Warburg als Organon der kulturwissenschaftlichen Forschung steht: „In ihrem Aufbau und in ihrer geistigen Struktur hat sie den Gedanken der methodischen Einheit und des methodischen Zusammenschlusses aller Gebiete und aller Richtungen der Geistesgeschichte verkörpert." Als die Bibliothek unter dem nationalsozialistischen Regime ihre Arbeit nicht mehr fortsetzen konnte, übersiedelte sie im Dezember 1933 nach London, wo sie später in die Universität eingegliedert wurde. Infolge dieser unvermeidlichen Emigration gingen Deutschland nicht nur 60000 Bände, tausende von Diapositiven und Photographien einer hochspezialisierten Bibliothek und eine einzigartige Forschungsstätte verloren, sondern zugleich auch eine Reihe hervorragender Wissenschaftler, denen mit der Bibliothek der geistige Lebensraum entzogen worden war. Der 1934 noch in Deutschland verlegte erste Band der vom Institut herausgegebenen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek zum Nachleben der Antike, der die Erscheinungen des Jahres 1931 umfaßte, mußte schon damals einem von ideologischen Vorurteilen freien deutschen Leser zum Bewußtsein bringen, wie schwer der Verlust eines Institus wog, das von Deutschland aus der internationalen Forschung einen ebenso originellen wie zukunftsträchtigen Weg gewiesen hatte. Wenn die interdisziplinäre Gliederung der Bibliographie nach Sachgebieten (Folklore, Religion und Mythologie, Magie und Naturwissenschaften, Philosophie, Recht und Staat, Festwesen, Theatergeschichte, Bildtradition, Schrift und Sprache, Musik) und nach Epochen (dabei der umfangreichste Abschnitt über „Renaissance, Humanismus, Reformation") mit der Blickrichtung auf die Gesamtkultur sozusagen ein Forschungsprogramm für die Zukunft implizierte, war an dessen Realisierung in Deutschland nach 1933 nicht mehr zu denken. Denn das nationalsozialistische Regime zwang nicht nur die Bibliothek Warburg zum Weggang, sondern zerstörte auch andere viel versprechende Forschungsansätze. Eine Reihe von Forschern mußte aufgrund der nationalsozialistischen Rassegesetze emigrieren oder wurden aus politischen Motiven in ihrer Arbeit behindert.

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Von diesem Schicksal betroffen waren u.a. Leonardo Olschki, der mit seiner dreibändigen Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur (1919—1927) einen bis dahin kaum beachteten Aspekt der Technik und der angewandten Wissenschaften in der Renaissance untersucht hatte; der Dilthey-Schüller Bernhard Groethuysen, dessen philosophische Anthropologie (1928) grundlegende Einsichten in die humanistische Menschenkunde von Petrarca bis Montaigne enthielt; Paul Oskar Kristeller, der seine 1931 begonnenen Studien über Marsilio Ficino und die Platonische Akademie in Florenz nur im Ausland fortsetzen konnte, um später dank seiner umfassenden Arbeiten zur Renaissance in diesem Bereich einer der fuhrenden Vertreter der internationalen Forschung zu werden; Alfred von Martin, der als einer der ersten in seiner Soziologie der Renaissance (1932) die Renaissancegesellschaft einer soziologischen Analyse unterwarf; eine Problematik, die viel später von der außer deutschen Forschung aufgegriffen wurde und auch heute bei weitem noch nicht bewältigt worden ist. Walter Goetz konnte zwar seine gesammelten Studien über die italienische Renaissance in einem deutschen Verlag veröffentlichen (1942), aber die von ihm herausgegebenen Reihen Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance und Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der Renaissance kamen zum Erliegen, wodurch die Publikationsmöglichkeiten eines Kreises jüngerer Forscher am Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte weitgehend eingeschränkt wurden. Zu diesen Forschern gehörte auch Hans Baron. In dem ersten und einzigen Band der vom Institut geplanten Quellen-Editionen hat er im Zusammenhang mit einer Ausgabe von Leonardo Brunis humanistisch-philosophischen Schriften seinen Begriff des Bürgerhumanismus entwickelt, den er nach der Emigration seinen Arbeiten über das 15. Jahrhundert in Italien zu Grunde legte und der zu einem international anerkannten Schlüsselbegriff in der Erforschung der Beziehungen zwischen Humanismus und Politik geworden ist. Die angeführten Namen sind paradigmatisch für andere nicht genannte mehr oder weniger bekannte Forscher. Wichtiger als deren vollständige Aufzählung erscheint die Frage nach den Ursachen, die zum Verfall der Renaissance- und Humanismusforschung in Deutschland nach 1933 geführt haben. Dabei wird man zunächst an die erwähnte Emigration namhafter Gelehrter und die daraus resultierende Verarmung der deutschen Forschung zu denken haben. Aber abgesehen von diesem nicht rückgängig zu machenden Aderlaß muß man sich bewußt sein, daß die nationalsozialistische Ideologie als solche an der Erforschung von Renaissance und Humanismus weitgehend desinteressiert war, sofern sie ihr nicht sogar ablehnend gegenüberstand, was bei einer

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staatlich dirigierten Wissenschaft jede offizielle Forschungsförderung von vornherein ausschloß. Eine solche Einstellung stand im Zusammenhang mit dem antirömischen Affekt, der weit in die Geschichte des deutschen Selbstverständnisses zurückreicht und dessen sich die nationalsozialistische Ideologie bemächtigte und sich von ihm in ihrer Kulturpolitik leiten ließ. Seit den Versuchen, im 16. Jahrhundert einen nationalen Humanismus im Gegensatz zu Rom zu begründen, war der antirömische Affekt stets mehr oder weniger im deutschen Bewußtsein lebendig geblieben und hatte sich etwa am Arminiuskult von Hutten über Lohenstein bis zu Klopstock und Kleist genährt. Der von Winckelmann initiierte deutsche Neuhumanismus strebte danach, sich von einem römisch geprägten Antikebild zu befreien, um sich am genuinen Griechentum zu orientieren. Unter neuhumanistischem Einfluß neigte man noch im 19. Jahrhundert dazu, den römischen Anteil am europäischen Bildungsprozeß gering einzuschätzen, und selbst ein Mommsen konnte sich dieser Tendenz bei seiner Cicero-Kritik nicht entziehen. Dem geringen Verständnis für Cicero als Schlüsselfigur des europäischen Humanismus entsprach die Abwertung Vergils zum Homer-Epigonen. Im Vergleich mit dem Griechischen wurde das Römische als abgeleitet, nachgeahmt, unoriginell abgetan. Insofern der Neuhumanismus dazu beitrug, das Klischee von der angeblichen Wesensfremdheit der Deutschen gegenüber Rom zu rechtfertigen, hat er, ohne es zu wollen, jenen „geistigen Zwiespalt zwischen Deutschland und Europa" gefördert, in dem Benedetto Croce am Ausgang des Zweiten Weltkriegs die Tragik der deutschen Geschichte gesehen hat. Als der Nationalsozialismus die absolute Überlegenheit der germanischen Rasse proklamierte, isolierte er bewußt Deutschland von der im wesentlichen lateinisch-christlich bestimmten Kulturtradition des Abendlandes. Eine Verbindung zu ihr bestand für die Germanomanen eigentlich nur dort, wo sie in der Entfaltung schöpferischer Kräfte außerhalb Deutschlands germanische Einflüsse entdecken zu können meinten. Es war kein Zufall, daß 1936 die Werke L. Woltmanns neu aufgelegt wurden, der in seiner Studie über die Germanen und die Renaissance in Italien behauptet hatte, wenigstens 80 bis 90% der genial veranlagten Italiener der Epoche wären ganz oder in einem sehr hohen Grad der nordischen Rasse zuzurechnen. Welche Folgen die Forderung nach einer aus den völkischen Kraftquellen gespeisten kulturellen Autarkie für das Verhältnis zur Antike haben mußte, offenbarte einer breiteren Öffentlichkeit der Kampf, den der Nationalsozialismus im Namen des deutschen Volksrechts gegen das römische Juristenrecht führte. Obschon der Streit um die Rezeption

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des Römischen Rechts bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entbrannt war, implizierte er nunmehr die Tendenz, sich grundsätzlich von der Antike loszusagen. Wenn noch im Jahr der nationalsozialistischen „Machtergreifung" Karl Jaspers festgestellt hatte, das griechischrömische Altertum habe „faktisch begründet, was wir im Abendland als Menschen sein können" {Die geistige Situation unserer Zeit, Berlin 1933, 102), berief sich demgegenüber die nationalsozialistische Ideologie auf die in der „völkischen Erneuerung" wurzelnden Wertbegriffe, war es doch nach Hitlers eigenen Worten die Aufgabe des völkischen Staates, diejenigen „rassischen Urelemente" zu erhalten, „die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde eines höheren Menschentums schaffen" (Mein Kampf, II, 2). Der völkische Staat, welcher in der Wissenschaft „ein Hilfsmittel... zur Förderung des Nationalstolzes" erblickte und in welchem daher von diesem Gesichtspunkt aus ,.nicht nur die Weltgeschichte, sondern die gesamte Kulturgeschichte gelehrt werden" sollte (Mein Kampf, ebd.), bot keinen Raum für eine ideologiefreie Erforschung der Renaissance und des Humanismus. Wenn sie — und sei es auch in bescheidenem Umfang — zwischen 1933 und 1945 noch gepflegt worden ist, darf man wohl daraus folgern, daß die nationalsozialistische Ideologie nicht die ganze Wissenschaft zu durchdringen vermocht hat. So ist trotz vieler Lücken die Kontinuität der Forschung nie völlig abgerissen. Immerhin erschienen, allerdings noch vor dem zweiten Weltkrieg, wichtige Arbeiten wie G. Ritters für die deutsche Bildungsgeschichte grundlegende Monographie über die Heidelberger Universität {1936), H. Rüdigers umfassende Synthese Wesen und Wandlung des Humanismus (1937; Neudruck 1966) und M. Wackernagels für die Kunstsoziologie bedeutsame Untersuchung über den Lebensraum des Künstlers in der florentinischen Renaissance (1938). Selbst unter den Veröffentlichungen offizieller Institutionen wie des Deutschen Historischen Instituts und des KaiserWilhelm-Instituts für Kulturwissenschaft in Rom, sowie des PetrarcaHauses in Köln finden sich hier und da bemerkenswerte Beiträge über Themen aus Renaissance und Humanismus. Jedoch wurde im Laufe der Jahre die notwendige Kommunikation mit der internationalen Forschung zunehmend erschwert und hörte seit Kriegsbeginn fast völlig auf. Mit dem Ende des Krieges und dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes waren theoretisch die Voraussetzungen für einen Neubeginn in der deutschen Wissenschaft und damit auch in der Renaissance- und Humanismusforschung gegeben. Aber die der Katastrophe von 1945 folgende weitgehende Lähmung vieler geistiger Aktivitäten, die verheerenden Zerstörungen von Bibliotheken, Archiven

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und Forschungseinrichtungen, sowie die materielle Not erschwerten zunächst den Wiederaufbau der Wissenschaft und damit auch die neue Anknüpfung internationaler Kontakte und die Ausfüllung der in der erzwungenen Isolierung entstandenen kaum übersehbaren Informationslücken. Man konnte mit gewissem Recht daran zweifeln, ob Deutschland überhaupt imstande sein würde, den Anschluß an die internationale Forschung zu finden, geschweige denn jenes wissenschaftliche Ansehen in der Welt, dessen es sich lange Zeit hatte erfreuen können, auch nur zu einem Teil zurückzugewinnen. Verglichen mit anderen Forschungsbereichen befand sich die Renaissance- und Humanismusforschung in einer besonders schwierigen Situation. Die Woge der Renaissance-Begeisterung, die im Gefolge Nietzsches am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weite Kreise der Gebildeten in Deutschland erfaßt gehabt und ein Unternehmen wie die für ein breiteres Leserpublikum von Marie Herzberg herausgegebenen Quellen zur italienischen Renaissancekultur (1910 ff.) gerechtfertigt hatte, war schon vor dem Nationalsozialismus abgeebbt. Die Impulse der großen wissenschaftlichen Vergangenheit waren nicht in der deutschen, sondern in der ausländischen Forschung wirksam geworden. Daher war ein Wiedererwachen des Interesses für die Renaissance weder in der Öffentlichkeit noch in der Forschung zu erwarten, zumals diese aufgrund ihres interdisziplinären Charakters auf eine Regeneration der gesamten Geisteswissenschaften angewiesen war und ihr Maßnahmen zur Förderung der spezifischen Forschungen einzelner geisteswissenschaftlicher Disziplinen nicht unmittelbar zugute kamen. Infolge der aus dieser Situation resultierenden geringen Kapazität kam die deutsche Forschung vollends ins Hintertreffen, als nach 1945 das Studium der Renaissance und des Humanismus im Ausland, vornehmlich in den Vereinigten Staaten - und hier z. T. unter dem Einfluß deutscher Emigranten — einen erstaunlichen Aufschwung nahm, der sich in der Gründung neuer, bzw. der Reorganisation bereits bestehender Institute, in der Herausgabe neuer Zeitschriften und Schriftenreihen, sowie der Veranstaltung von Kongressen und Kolloquien manifestierte. Angesichts der ständig wachsenden Intensivierung und Differenzierung der Forschung sucht man allenthalben deren Organisationsformen zu verbessern und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene zu fördern. Diesem Zweck dienen eine 1957 konstituierte internationale Dachorganisation, die Fédération internationale des Sociétés et des Instituts pour l'étude de la Renaissance, die zur Zeit 26 Institutionen umfaßt, und die im Auftrage der Fédération jährlich erscheinende Bibliographie Internationale de l'Humanisme et de la Renaissance.

Zur Lage der Renaissance- und Humanismusforschung

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Eine erste Anregung zur Institutionalisierung der Humanismusforschung in der deutschen Universität nach dem Zweiten Weltkrieg kam vom Ausland. Der italienische Philosoph Enrico Castelli, Direktor des Istituto di Studi Filosofici in Rom, gründete an den Universitäten Heidelberg (1947) und München (1948) Zentren für das Studium des Humanismus. Während die Heidelberger Gründung bald der Vergessenheit anheimfiel, entwickelte sich im Zusammenhang mit dem Münchener Zentrum, das mit einem Lehrstuhl für „Philosophie des Humanismus" verbunden wurde, das heutige Institut für Geistesgeschichte des Humanismus an der Universität München. Dank der Initiative seines ersten Direktors Ernesto Grassi erscheinen seit 1968 in Verbindung mit dem Institut unter dem Titel Humanistische Bibliothek Abhandlungen, Texte und Skripten, deren Thematik sich innerhalb der humanistischen Tradition von der Antike bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts bewegt. Unter der Leitung von Grassis Nachfolger hat sich der Forschungsschwerpunkt des Instituts weiter in die Neuzeit verschoben. Als Forschungsvorhaben sind neben der Auswirkung des Nominalismus auf das Denken der italienischen Humanisten der Methodenansatz des Cartesianismus, die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft und die zeitgenössische Wissenschaftstheorie in Aussicht genommen. Obwohl das unter Fritz Schalk reorganisierte Petrarca-Institut, das über eine ausgezeichnete Forschungsbibliothek verfugt und eng mit der Universität zusammenarbeitet, nicht auf die Erforschung einer bestimmten Epoche der italienischen Geschichte beschränkt ist, behandeln viele seiner seit 1953 veröffentlichten Schriften und Vorträge Themen aus dem Bereich der italienischen Renaissance. Das gilt auch für einige Bände der vom Kölner italienischen Kulturinstitut seit 1959 herausgegebenen Studi Italiani. Getreu seiner Tradition hat das Archiv für Kulturgeschichte nach seinem Wiedererscheinen weiterhin der Renaissanceforschung besondere Aufmerksamkeit gewidmet und seit 1955 die laufende Berichterstattung über Neuerscheinungen auf diesem Gebiet, die vor 1933 Hans Baron oblegen hatte, dem Schreiber dieser Zeilen übertragen. So erfreulich auch solche Versuche einer Förderung der Renaissanceund Humanismusforschung waren, blieben sie vereinzelt und voneinander isoliert. Es ist irrig zu meinen, die nach 1945 gerade in Deutschland in einer breiten Öffentlichkeit sich abspielende Diskussion über den Humanismus hätte ein günstiges Klima für die entsprechende Forschung herbeigeführt. Zwar bekannte man sich gern zum Humanismus, sofern dieser eine humane Gesinnung impliziert; aber infolge einer solchen und anderer ähnlich vager Definitionen entartete der Begriff zu einem bloßen Schlagwort, mit dem Humanismen ganz verschiedener

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Provenienz sich als Heilmittel für die Kulturkrise empfahlen. Gleichzeitig artikulierte sich auch die Kritik an einem Humanismus, der den Menschen zum Maß aller Dinge erhebt und damit Gefahr läuft, einer verderblichen Hybris zu verfallen. Kein Zweifel: Die von Humboldts Ideal der Humanität geprägte Bildung war fragwürdig geworden; die Rückbesinnung auf die Antike als schöpferischer Antrieb für die Gegenwart erschien unzeitgemäß in der modernen Industriegesellschaft, die ohne geschichtliches Bewußtsein auskommen zu können glaubte. Wenn man angesichts eines solchen „Verlusts der Geschichte" vom „Ende des Humanismus" sprach (E. R. Curtius), überrascht es nicht, daß eine Forschung, die sich mit dem historischen Phänomen des Nachlebens der Antike in der Renaissance befaßt, auf kein Echo in der öffentlichen Meinung rechnen konnte und ihr in den Augen vieler die sogenannte gesellschaftliche Relevanz zu fehlen schien. So war also nach wie vor von der Öffentlichkeit kein Antrieb zu einer Wiederaufnahme der Renaissance- und Humanismusforschung auf breiter Grundlage zu erwarten. Die notwendigen Voraussetzungen für eine solche Neubelebung der Forschung waren die Vermittlung einer umfassenden Information über den jeweiligen Forschungsstand, ferner eine langfristige Planung von Forschungsvorhaben und deren Koordinierung zur Vermeidung eventueller Doppelarbeit, schließlich die Bereitstellung finanzieller Unterstützung. Diese Voraussetzungen zu schaffen war nur eine Organisation wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Lage. Im Bewußtsein ihrer Verantwortung für die Förderung auch solcher Wissenschaften, die nicht unmittelbar im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehen, betreute die Deutsche Forschungsgemeinschaft seit 1965 einen Humanismus-Arbeitskreis und setzte 1970 eine Senatskommission für Humanismusforschung ein mit dem Auftrag, einschlägige wissenschaftliche Arbeiten anzuregen, bzw. zu koordinieren und zu fördern, wissenschaftliche Tagungen zu veranstalten und die Zusammenarbeit mit der internationalen Forschung zu pflegen. In Anknüpfung an den Aufbau der Bibliothek Warburg und nach dem Vorbild des „Council" der Renaissance Society of America, der größten und aktivsten Institution dieser Art, ist die Senatskommission interdisziplinär strukturiert: Ihr gehören jeweils ein Vertreter der Kirchengeschichte, der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte, der Kunstgeschichte, der Geschichte der Medizin und Pharmazie, und der Naturwissenschaften, der Soziologie, der Deutschen und der Romanischen Philologie an; eine Ergänzung um einen Vertreter der Rechtsgeschichte soll in naher Zukunft erfolgen. Um die ihr übertragene Pflege internationaler Kontakte so effektiv wie möglich zu gestalten, hat die

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Senatskommission einerseits zu ihren Arbeitstagungen jeweils ausländische Gelehrte eingeladen und ist anderseits der genannten Fédération internationale des Sociétés et des Instituts pour l'étude de la Renaissance beigetreten. Zu der unter den Auspizien der Fédération erscheinenden Bibliographie Internationale de l'Humanisme et de la Renaissance liefert die Senatskommission ein Verzeichnis der jährlich in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Bereich der Humanismusforschung erscheinenden Publikationen. In ihren Arbeitstagungen sucht die Senatskommission aktuelle Forschungsprobleme auf der Basis interdisziplinärer Kooperation in Referaten und daran anschließenden Diskussionen zu erhellen, wobei die Zusammensetzung des bewußt klein gehaltenen Kreises der Teilnehmer sich jeweils an der wissenschaftlichen Kompetenz in bezug auf das ausgewählte Thema orientiert. Von den bisher behandelten Themen sind in den Mitteilungen der Senatskommission erschienen, bzw. sollen dort erscheinen: Der Kommentar in der Renaissance, Die Humanisten in ihrer politischen und sozialen Umwelt, Das Verhältnis der Humanisten zum Buch und Ethik im Humanismus-, ein Sonderband fax Mitteilungen enthält einen interdisziplinär gegliederten Bericht Humanismusforschung seit 1945 mit Beiträgen von sechs Kommissionsmitgliedern. Außer den Mitteilungen erscheint in Verbindung mit der Senatskommission eine Schriftenreihe Veröffentlichungen zur Humanismusforschung-, ebenfalls in Verbindung mit der Senatskommission werden eine Edition des Pirckheimer-Briefwechsels und die Ausgabe eines Incipitariums aus dem Nachlaß von Ludwig Bertalot vorbereitet. Obgleich schwer abzuschätzen ist, welche Auswirkungen die Tätigkeit der Senatskommission bisher in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit gehabt hat, ist doch zweifellos das Interesse an der Renaissanceund Humanismusforschung in den letzten Jahren erheblich gewachsen. Als im Rahmen des Forschungsprogramms der Herzog August Bibliothek zur europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit Anfang Juli 1976 in Wolfenbüttel ein Kolloquium über Forschungsprobleme der europäischen Renaissance stattfand, zeigten sich die deutschen wie die ausländischen Teilnehmer davon überzeugt, daß die weitere Erforschung der Renaissance und deren Organisation in Deutschland ein dringendes Desiderat sei. In dieser Überzeugung gründeten sie den Wolfenbüttler Arbeitskreis für Renaissanceforschung, der als loser Zusammenschluß von allen an der Renaissance wissenschaftlich Interessierten unter der Leitung eines Komitees in enger Anlehnung an die Herzog August Bibliothek die Renaissanceforschung anregen und fördern will. Dazu sollen Arbeitsgespräche und Tagungen, sowie ein Informationsblatt Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen dienen.

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Die Zahl der seit der Gründung des Arbeitskreises laufend eingehenden Beitrittserklärungen läßt darauf schließen, daß die Initiative ein nachhaltiges Echo gefunden hat und einem echten Bedürfnis entspricht. Mit einer Tagung, auf der an Hand der Rezeption der Antike das Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance zur Diskussion gestellt werden soll, wird sich der Arbeitskreis der Öffentlichkeit präsentieren. Das erste Heft der Renaissance-Mitteilungen ist der Darstellung der Renaissance im Selbstverständnis der im Gründungskomitee vertretenen vierzehn Forschungszweige gewidmet. Das mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk durchgeführte Forschungsprogramm der Herzog August Bibliothek eröffnet sowohl den bereits ausgewiesenen Forschern als auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs die Möglichkeit, in längeren Studienaufenthalten für eigene Forschungsvorhaben die überaus reichen Bestände der Bibliothek auf dem Gebiet der Renaissance-Literatur auszuwerten. Ob abgesehen von diesen außeruniversitären Forschungseinrichtungen die Renaissance- und Humanismusforschung in den Universitäten institutionalisiert werden könnte, wie es bisher in einem einzigen Fall, dem erwähnten Institut für Geistesgeschichte des Humanismus an der Universität München geschehen ist, stellt eine offene Frage dar, deren Beantwortung von nicht genau bestimmbaren Faktoren abhängt. Die Errichtung von einschlägigen Lehrstühlen und Instituten würde nicht nur erhebliche finanzielle Aufwendungen von Seiten des Staates erfordern, sondern auch die Sicherung eines wissenschaftlichen Nachwuchses voraussetzen, der infolge der interdisziplinären Struktur der Renaissance- und Humanismusforschung sich im wesentlichen aus verschiedenen historischen Geisteswissenschaften zu rekrutieren hätte. Damit würde sowohl für die Ausbildung dieses Nachwuchses als auch für das Studium des neuen Faches selbst die für die Geisteswissenschaften im allgemeinen abträgliche Reduktion des altsprachlichen Unterrichts auf der Sekundärstufe sich nachteilig auswirken; eine Auswirkung, unter der bereits jetzt die Renaissance- und Humanismusforschung leidet. Einen ersten Schritt auf dem Wege zur Institutionalisierung der Renaissance- und Humanismusforschung könnte die Bildung von Arbeitskreisen zwischen den interessierten Disziplinen sein, deren Zusammenhalt weniger durch definitiv fixierte Organisationsformen als durch gemeinsame Lehrveranstaltungen und, wenn möglich, durch gemeinsame Forschungsvorhaben gewährleistet werden sollte. Da die lateinische Philologie des Mittelalters in Forschung und Lehre bis in die Renaissance reicht, könnten die Lehrstühle und Institute dieser an vielen Universitäten vertretenen Disziplin die Aufgaben einer Philologie der Re-

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naissance wahrnehmen, bis in einer nicht abzusehenden Frist sich Möglichkeiten ergeben, die Institutionalisierung der Renaissance- und Humanismusforschung an der Universität zu realisieren. Wenn auch die bereits eingeleiteten Förderungsmaßnahmen eine weitere erfolgversprechende Entfaltung der deutschen Renaissance- und Humanismusforschung erhoffen lassen, bleibt noch viel zu tun, um auf der Ebene der internationalen Forschung dem deutschen Beitrag zu der Bedeutung zu verhelfen, welcher der der Forschung anderer Länder ebenbürtig ist. Dabei ist zu denken an die deutsche Mitarbeit an dringend anstehenden Forschungsaufgaben wie u. a. die kritische Edition von Werken der Renaissance-Autoren, im Zusammenhang damit die Erforschung der handschriftlichen Überlieferung dieser Autoren, Initienverzeichnisse, Untersuchungen über das Humanisten-Latein in bezug auf seinen Wortschatz, seine Syntax und seinen Stil; die Aufarbeitung der umfangreichen Kommentarliteratur, die Erhellung des soziologischen Substrats der Autoren und Künstler der Renaissance. Daß die deutsche Forschung damit die fuhrende Rolle von einst zurückgewinnen könnte, erscheint - ganz abgesehen davon, ob die deutsche Forschungskapazität dazu ausreichte - nicht mehr möglich; denn wie auch in anderen Bereichen hat die internationale Erforschung der Renaissance und ihres Humanismus einen Umfang angenommen, der eine absolute Priorität einer Forschung innerhalb nationaler Grenzen ausschließt: Allein für das Jahr 1973 verzeichnet der zuletzt erschienene 9. Band der Bibliographie Internationale de l'Humanisme et de la Renaissance nicht weniger als 7944 Titel. Da die Renaissance- und Humanismusforschung wie jede andere Forschung sich im Rahmen der sie tragenden Gesellschaft vollzieht, hängt ihre Förderung durch die Gesellschaft weitgehend davon ab, wie die Forschung sich selbst versteht und die Relevanz ihrer Fragestellung einer interessierten Öffentlichkeit verständlich macht, ohne dabei in den Verdacht zu geraten, nach einer billigen Aktualität im wechselvollen Streit der Tagesmeinungen zu streben. Indem die Renaissance- und Humanismusforschung die schöpferische Anverwandlung des antiken Erbes in einer bestimmten Epoche untersucht und zugleich deren gesamte Kultur als historische Erscheinung würdigt, schafft sie die wissenschaftlich gesicherte Grundlage für eine Begegnung des Menschen mit sich selbst in der Geschichte, die als produktive Rückbesinnung für die Gegenwart fruchtbar werden kann. Aufgrund ihrer Methoden darf die Renaissance- und Humanismusforschung als paradigmatisch gelten für die interdisziplinäre Zusammenarbeit, welche die unaufhaltsam fortschreitende Spezialisierung der Forschung zu kompensieren vermag und dabei die innere Einheit der Geisteswissenschaften hauptsächlich

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unter ihrem historisch-philologischen striert.

Aspekt eindrucksvoll

demon-

Literatur Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike, I. Band. Die Erscheinungen des Jahres 1931, Hg. v. d. Bibliothek Warburg, Leipzig/Berlin 1934. B. Croce, Il dissido spirituale della Germania con l'Europa, Bari 1944, (deutsch: Europa und Deutschland. Bekenntnisse und Betrachtungen, Bern o. J.). W. K. Ferguson, La Renaissance dans la pensée historique, Paris 1950. D. Wuttke, Aby Warburg und seine Bibliothek. Zum Gedenken anläßlich Warburgs 100. Geburtstag am 13. Juni 1966. In: Arcadia 1 (1966), 319-333. A. Buck, Zu Begriff und Problem der Renaissance. Eine Einleitung, In: Zu Begriff .und Problem der Renaissance, Hrsg. v. A. Buck, Darmstadt 1969, 1 - 3 6 (Wege der Forschung CCIV). P. O. Kristeller, Renaissanceforschung und Altertumswissenschaft. In: Kristeller, Humanismus und Renaissance /, Hrsg. v. E. Keßler, München 1974, 195-209. A. Buck, Die Senatskommission für Humanismusforschung. In: Mitteilungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1975, Heft 4, 32-35. Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht, Kommission für Humanismusforschung, Mitteilung II, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Boppard 1975. F.-R. Hausmann, Selektive Edition. Die Edition der Werke italienischer Humanisten als interdisziplinäre Forschungsaufgabe - zugleich ein Plädoyer für die Begründung eines Fachs „Neulateinische Philologie". In: Edition und Wirkung, Hrsg. v. W. Haubrichs, Göttingen o. J., 160-169.

Walter Müller-Seidel (München) Die Erforschung der deutschen Literatur Zur Situation in einem sogenannten Massenfach In der Hochschulpolitik der letzten zehn Jahre wurde die Lehre gegenüber der Forschung deutlich aufgewertet. Das leuchtet ein; denn durch die Lehre in erster Linie — nicht durch Forschung — waren die praktischen Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen, auf die es ankam und weiterhin ankommt. Neue Lehrstühle für die Didaktik der Schulfächer wurden eingerichtet. Aber kaum waren sie besetzt, verstanden sich ihre Inhaber ihrerseits als Forscher: als solche nämlich, die das Lehren und Lernen erforschen - wogegen im Prinzip nichts zu sagen ist. In solchen Tendenzen äußert sich die Prävalenz der Forschung, die in der Tradition der deutschen Universität angelegt ist. Sie bestätigt sich in der Praxis heutiger Universitätsarbeit noch insofern, als man eine Gruppe von „Lehrpersonen" mit Lehrdeputaten überhäuft, während man einer anderen die Vorzüge eines Forschungsfreisemesters bis auf weiteres beläßt. Daß man damit trennt, was eigentlich zusammengehört, ist keine Frage. Dennoch läßt sich der gewisse Vorrang, den man im Prinzip der Forschung zuerkennt, auch heute noch rechtfertigen. Forschung bedeutet in allen Wissenschaften Innovation, Fortschritt und damit Kreativität. Gleichwohl ist sie kein Wert an sich; und am wenigsten in den Geisteswissenschaften ist sie es. Forschung ist nicht unabhängig von ihren Gegenständen zu definieren, und diese Gegenstände sind auch innerhalb der Geisteswissenschaften von höchst unterschiedlicher Art. Sie sind es erst recht in einem sogenannten Massenfach, wie man bestimmte Lehramtsfacher der früheren Philosophischen Fakultäten zu bezeichnen pflegt. Um deren Situation und um das, was Forschung unter solchen Umständen eigentlich heißt, soll es hier gehen, und dabei wird auch die konkrete Lage des einzelnen Hochschullehrers zu bedenken sein - nicht nur das, was Forschung allgemein bedeutet. Der Gegenstand, von dessen Erforschung hier gehandelt werden soll, ist die Literatur. Klassische Philologie wie neuere Philologie haben ihn gemeinsam: die einen wie die anderen verstehen sich als Vertreter einer historisch-philologischen Disziplin. Im Gebiet der deutschen Literatur

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werden zwei Abteilungen unterschieden: die ältere, die mittelalterliche Literatur einerseits und die neuere Literatur seit der Reformation zum anderen. Gegenüber den Vertretern fremdsprachlicher Literatur unterscheiden sich die Vertreter der deutschen Literatur durch ihre „Muttersprachlichkeit", die sich auf die Zahl der Studierenden auswirkt. Unterschiede in der Verantwortlichkeit kommen hinzu. Sie betreffen vorzugsweise das editorische Gebiet wie den kulturpolitischen Bereich. Literatur ist als Gegenstand der Forschung zugleich ein Gegenstand der Kunstwissenschaften mit allen Aporien, die sich aus der „Konfrontat i o n " von Kunst und Wissenschaft ergeben. Doch geht es mit dem „sprachlichen Kunstwerk" in der Erforschung von Literatur zugleich um Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft; und hier besonders haben sich die Verhältnisse im letzten Jahrzehnt von Grund auf geändert. Sprache zu erforschen ist nicht mehr allein der Kompetenz einer historisch-philologischen Disziplin überlassen. Im Fach Deutsch oder Deutsche Philologie oder Germanistik hat sich durch die Emanzipation der Linguistik eine Dreiteilung ergeben. Die Studierenden des Faches, die eine Lehramtsprüfung anstreben — und das waren bis vor kurzem die meisten — werden in älterer und in neuerer Literatur sowie in Sprachwissenschaft geprüft. Als heutige Linguistik ist Sprachwissenschaft nur in begrenztem Umfang — wenn überhaupt — an Sprache als einem ästhetischen Gegenstand interessiert. Die moderne Sprachwissenschaft hat Methoden und Denkformen entwickelt, die der Naturwissenschaft oder der empirischen Soziologie näher stehen als den Geisteswissenschaften im überlieferten Sinn. Sie arbeitet mit Zeichen und Formeln und bedient sich einer Metasprache, mit der sie die gebildete und an Sprache interessierte Öffentlichkeit immer weniger erreicht, aber sicher auch gar nicht erreichen will. Dem Erforscher der deutschen Literatur stehen daher nicht selten die Erforscher fremdsprachlicher Literaturen von der Sache her um vieles näher als die Linguisten des eigenen Fachs. Die „geisteswissenschaftliche" Einheit des Faches, die es gab, ist somit aufgebrochen. Das Fach ist - wie andere Fächer — o f f e n geworden. Der Gegenstand Literatur erweist sich als ein solcher, in dem verschiedene Forschungsgebiete mit teilweise sehr unterschiedlichen Denkformen und Methoden zusammentreffen. Aber auch innerhalb der Literaturwissenschaft ist die Erforschung der Literatur nur ein bescheidener Teil der Aktivitäten, die in ihr zu leisten sind. Diese der Forschung nicht unmittelbar zugute kommenden Aktivitäten sind jedem Hochschullehrer vertraut. Sie beruhen vornehmlich in Verwaltung und Lehre, einschließlich der Verpflichtungen zu Prüfungen aller Art. Die Forschung muß in Anbetracht solcher Verpflichtungen nicht selten sehen, w o sie bleibt.

Die Erforschung der deutschen Literatur

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Was aber heißt Forschung innerhalb einer Literaturwissenschaft? Was heißt Erforschung der Literatur? Sicher nichts Endgültiges und Abschließendes in dem Sinn, daß wir endlich ein literarisches Werk in seiner Bedeutung „erschöpfen"; daß wir es als erledigt „abbuchen". Das Zeitmoment ist in den Geisteswissenschaften anders nebensächlich als in Technik oder Medizin. Es ist eben nicht alles so einheitlich und „einheitswissenschaftlich", wie hier und da behauptet wird. Auch geht es in unserem Fach nicht nur um den erschlossenen Gegenstand, sondern um diejenigen, die ihn erschließen nicht minder. Das Tun, der Umgang mit dem Text kann wichtiger sein, als das Resultat, das man vorweist oder nach Hause trägt. Erforschung der Literatur gibt es auf mehreren Ebenen. Sie bedeutet zum ersten die Erschließung bisher unbekannten Materials; und sie bedeutet zum zweiten die Auslegung des jeweils erschlossenen Materials. Die Begriffe, die hierfür mit wechselnder Beliebtheit gebraucht werden, sind: Exegese, Deutung, Interpretation, Analyse usf. Es gilt noch immer — und nicht unberechtigt — als Forschung im guten alten Sinn, wenn in einem Archiv neue, bisher unbekannte Materialien entdeckt werden, von denen wir keine Kenntnis hatten. Solche Entdeckungen - wie diejenige des Barockpoeten Johann Beer durch Richard Alewyn - können unser Bild einer Epoche maßgeblich verändern. Aber sie können auch für das Gesamtbild eines Zeitalters höchst unmaßgeblich sein — Quisquilien, die nicht viel erbringen. Dem Bereich der Texterschließung ist in erster Linie die Edition zuzurechnen. In jeder Philologie ist sie die Basis wissenschaftlicher Arbeit schlechthin. Gleichwohl versteht es sich nicht ganz von selbst, der Edition von Texten in jedem Fall den Rang einer vollgültigen Forscherleistung zuzuerkennen. Das zeigt sich daran, daß Editionsarbeit als eine selbständige Habilitationsleistung an unseren Universitäten nicht überall anerkannt wird. Man mag das bedauern, weil zu wünschen ist, daß Vertrautheit mit editorischer Praxis in wissenschaftliche Qualifikationen einbezogen wird. Andererseits ist vor einer ausschließlich editorischen Qualifikation zu warnen, weil es sein kann, daß nach erfolgter Erarbeitung von Editionsgrundsätzen vorwiegend Anweisungen befolgt werden — erlernbare Techniken, an der sich „Kreativität" nur bedingt erkennen läßt. Eine Abwertung der Editionsarbeit ist damit nicht ausgesprochen. Sie wäre schon deshalb nicht zu verantworten, weil sie zu den entsagungsvollsten Tätigkeiten im Gebiet der Literaturwissenschaft gehört, die zudem wenig Glanz verheißen. Echte Forscherleistungen auf dem Gebiet des Editionswesens liegen aber dort vor, wo eine bisher geübte Editionstechnik neu durchdacht, verändert und verbessert wird — wie es sich in den zurückliegenden Jahrzehnten vor allem an der Ausgabe der Werke Hölderlins (durch Friedrich Beißner) und Conrad Ferdi-

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nand Meyers (durch Hans Zeller) gezeigt hat. Hier — wie andernorts — sind es bestimmte innovatorische Momente, die uns berechtigen, von Forschung im eigentlichen Sinn zu sprechen. Der Interpretation von Texten hat die Philologie lange Zeit mißtraut. Sie galt als eine vorwiegend subjektive Tätigkeit, die der Evidenz ermangelt, wie man meinte. Als sich die Literaturwissenschaft in den dreißiger Jahren zunehmend der Interpretation von Texten zuwandte, erledigten sich solche Vorbehalte von selbst. Die Rechtfertigung der neuen Methode als einem Kernstück literaturwissenschaftlicher Forschung war damals Emil Staiger zu danken, der in seinem Buch Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1939) aussprach, was längst spruchreif geworden war: „Aus diesen Gründen haben wir uns entschlossen, mit aller Behutsamkeit das einzelne Kunstwerk zu beschreiben. Eine wissenschaftliche Beschreibung nennen wir Auslegung. Wir legen also Dichtungen aus." 1 Kaum zwanzig Jahre später konstatierte einer der damals führenden Literarhistoriker (Wolfgang Kayser) den Überdruß der seinerzeit neuen Methode: „Die als Baumschulen aufgereihten Interpretationen beginnen langweilig zu werden, man sehnt sich wieder in die Wälder." 2 Damit sind die literarhistorischen Zusammenhänge gemeint, in der Terminologie des russischen Formalismus: „die literarischen Reihen", und deren Forschungscharakter wurde kaum je bestritten. Er wäre allenfalls gegenüber Literaturgeschichten einzuschränken, die vorwiegend aus zweiter Hand arbeiten und kompilatorisch fertige Urteile aneinanderreihen, die sie oft ungeprüft übernehmen. Daß Literaturgeschichtsschreibung als wissenschaftliche Leistung eine Theorie der Literatur voraussetzt, hat Hans-Robert Jauß in seiner bekannten Schrift Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft überzeugend begründet. 3 Im Grunde setzt jede Darbietung literarhistorischer Zusammenhänge Theorie voraus, und es sollte sich schon aufgrund der innovatorischen Momente verbieten, dieser (der Theorie) den Charakter von Forschung zu bestreiten. In den letzten Jahren haben sich neue Fragestellungen durch Einbeziehung benachbarter Forschungsgebiete ergeben. Der „Kontext" ist fast so wichtig geworden wie der Text selbst. Damit stehen Probleme der Vermittlung zur Diskussion, die sich vor allem im Verhältnis von Literatur und Gesellschaft aufdrängen.

1 2 3

Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich und Leipzig 1939,18. Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg 1957,10. Zuerst in einer Konstanzer Universitätsrede: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967, bes. 5f.

Die Erforschung der deutschen Literatur

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Aber nicht nur mit solchen Problemen hatte es die Literaturwissenschaft des letzten Jahrzehnts zu tun. Es ging und geht um Vermittlungen mit den verschiedensten Gegenstandsbereichen und Wissenschaftsgebieten, wie schon einigen Buchtiteln zu entnehmen ist: Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz*, Mathematik und Dichtung5, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft6, Literaturwissenschaft und Linguistik1 und so fort. Die von einem Verlag initiierte Reihe Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften hat es inzwischen auf 6 Bände gebracht; der erste ist 1971 erschienen. 8 Wir fassen zusammen: materielle Erschließung einschließlich Edition, Auslegung von Texten und Herstellung von Zusammenhängen, die Theorie erforderlich machen, sind die hauptsächlichen Tätigkeiten literaturwissenschaftlicher Forschung. In allen diesen Gebieten wurden beträchtliche Leistungen erbracht. Obwohl die Erforschung der deutschen Literatur (als Universitätsfach) noch immer ein Massenfach ist, kann von einer Schrumpfung des Forschungspotentials nicht entfernt die Rede sein, sieht man dabei auf das, was zahlreiche Verlage als „Erforschtes" verbreiten und verkaufen. Die herausragenden Leistungen auf editorischem Gebiet sind an erster Stelle zu nennen. Hier, wenn irgendwo, hat die neuere Germanistik eine führende Stellung erlangt. Von den Methoden der klassischen Philologie hat sie sich dabei aufgrund des anders beschaffenen Textmaterials nicht selten entfernt, was immer sie dieser verdanken mag. Diese erneute Hinwendung zu editorischer Arbeit und die Bereitschaft zu ihr ist in hohem Maße der Besinnung auf Philologie als Wissenschaft zu danken, wie sie nach den zweiten Weltkrieg im Werk von Ernst Robert Curtius ihren Ausdruck fand. „Um meine Leser zu überzeugen, mußte ich die wissenschaftliche Technik anwenden, die das Fundament der Geschichtsforschung ist: die Philologie. Sie bedeutet für die Geisteswissenschaften dasselbe wie die Mathematik für die Naturwissen-

4 s 6

1 8

Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die ,zwei Kulturen', Hg. von Helmut Kreuzer, Stuttgart 1969. Mathematik und Dichtung. Versuche zur Frage einer exakten Literaturwissenschaft. Hg. von Helmut Kreuzer und Rul Gunzenhäuser, München 1965. Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen. Hrsg. von Bernd Urban, Tübingen 1973. - Peter von Matt, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Eine Einführung, Freiburg i.Br. 1972. Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Hrsg. von Jens Ihwe, 2 Bd, Frankfurt 1972. Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Grundlagen und Modellanalysen, Stuttgart 1971. (Kein genannter Herausgeber; die Vorbemerkungen sind mit „Lektorat" unterzeichnet).

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Schäften." So steht es im Vorwort zu dem Ruch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter9. Solche Besinnung auf Philologie kam in den folgenden Jahren vorzüglich der editorischen Arbeit zugute. Eine ganze Generation jüngerer Nachwuchskräfte interessierte sich für sie. Als ein Angehöriger dieser Generation äußerte sich Manfred Windfuhr 1957 in einem Forschungsbericht über neugermanistische Edition und stellte fest: „Das Interesse für editorische Fragen hat sich in den letzten Jahren auffallend neu belebt . . . Es entspricht dieser Lage, daß der Mut zu großen kritischen Ausgaben wieder im Wachsen ist." 10 Aber nicht nur der Mut zu solchen Ausgaben ist gewachsen, sondern die Ausgaben ihrerseits haben ein Wachstum erreicht, das hier und da an gewisse Grenzen denken läßt. Diese verstärkte Hinwendung beschränkte sich auf die „klassischen" Autoren, auf die Dichter der deutschen Klassik, keineswegs. Sie ist gleichermaßen „antiklassischen" Epochen, der Barockliteratur wie der Literatur der Moderne, zugute gekommen. In den meisten Fällen werden die Editionsvorhaben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und „betreut". Ihr steht eine zu Anfang der sechziger Jahre gebildete Kommission zur Seite, die Germanistische Kommission, die gutachtlich und empfehlend die Arbeit begleitet. Diese Kommission, als eine Art Selbstkontrolle des Faches, hatte in den zurückliegenden Jahren keinen Anlaß, über nicht geförderte Editionen ungehalten zu sein. Es war ihre Aufgabe weit mehr, allzu umfangreich geplante Projekte in den Grenzen des „Machbaren" zu halten, damit womöglich auch die Leser und Liebhaber auf ihre Kosten kommen - im doppelten Sinne des Wortes. Denn wenn es richtig ist, woran Hans-Robert Jauß in seiner schon genannten Schrift erinnert — daß Literatur nicht für Philologen geschrieben werde — dann sollte es rechtens sein, den Leser und Liebhaber in den Veranstaltungen einer kritischen Ausgabe nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren. Mit anderen Worten: in den Begriff „Forschung", wie er in der Literaturwissenschaft angewandt wird, ist der an Literatur interessierte Leser und Liebhaber einzubeziehen. Eine historisch-kritische Ausgabe, wie exakt auch immer, die man erstellt, um sie in Bibliotheken zu deponieren, ist nicht eigentlich das, was man sich um der lebendigen Literatur willen wünscht. Der Begriff „Forschung" ist mithin in bestimmten geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht völlig unabhängig vom gebildeten Leser zu definieren. 9

10

Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 1948, 10. Manfred Windfuhr, Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Deutsche Vierteljahresschrift. 31 (1957), 425.

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Erst recht wäre es leicht, eine Erfolgsbilanz im Bereich der Interpretation zu erstellen; und wenn auch Interpretation Forschung bedeuten kann, wie wir einmal unterstellen wollen, so hat die Forschung in der Geschichte der deutschen wie in der außerdeutschen Germanistik noch nie so geblüht wie in den Jahrzehnten zwischen 1945 und 1965. Aber gewisse Anfälligkeiten eines Massenfaches zeigten sich auch hier; sie zeigten sich in einer wissenschaftlichen Produktion, die mehr und mehr von Verlegern programmiert wurde. Unter dem Eindruck dieser Methode, der „werkimmanenten Interpretation", war die Literaturgeschichte als Lehre von den größeren Zusammenhängen in den Hintergrund getreten. Kaum zehn Jahre später kehrte sie mit einer Reihe neuer Epochendarstellungen zurück. In Sammelwerken und im organisierten teamwork wurden die Epochen des 20. Jahrhunderts — die Zeit des Expressionismus, der Weimarer Republik und des Faschismus — vorgestellt. Aber auch einzelne Forscher haben den Mut zur Synthese aufgebracht und versucht, das Bild einer Epoche aus ihrer Sicht zu sehen. Solche Darstellungen gibt es für die Zeit der Renaissance und des Humanismus (von Heinz Otto Burger), für die Epoche der Aufklärung (von Gerhard Kaiser) und für die moderne Literatur seit dem Naturalismus (von Klaus Günther Just), um nur sie zu nennen. Die allein dem Umfang nach gewaltigste Darstellung ist Friedrich Sengle zu danken. Sie behandelt die Zeit der Restauration, die er als Biedermeierzeit bezeichnet. Dafür sind insgesamt drei Bände vorgesehen, von denen seit 1970 zwei Bände mit zusammen 1800 Seiten erschienen sind. Es sollte angemerkt werden, daß es sich zwar um Einzelforschung handelt, sofern ein Einzelner das Ganze organisiert und sich die Darstellung vorbehält. Aber zugleich handelt es sich um organisierte Forschung, die darin beruht, daß sie durch Forschungsassistenzen erleichtert werden kann, für die in begründeten Fällen die Deutsche Forschungsgemeinschaft zu Hilfe kommt. Ein Gebiet für sich ist das Gebiet der DDR: ihre Literatur wie ihre Literaturwissenschaft. Es ist seit längerem alles andere als eine terra incognita. Besonders jüngere Forscher kennen sich in beiden Bereichen aus und beziehen sie als selbstverständliche Gegebenheiten in ihre Forschung ein. Gewisse Annäherungen zwischen „marxistischer Literaturwissenschaft" dort und „bürgerlicher Literaturwissenschaft" hier hat es seit dem folgenreichen „Paradigmawechsel" gegeben, wie man im Anschluß an Thomas S. Kuhn die veränderte Welt der Literaturforschung in der Bundesrepublik mit gutem Grund bezeichnen kann. Infolge dieses Paradigmawechsels hat sich die Situation des Faches ohne Frage belebt - trotz aller Anfechtungen und Beschädigungen, die es gegeben hat. Russischer Formalismus, Textlinguistik, Strukturale Anthropologie, Rezeptionsästhetik, Psychoanalyse, kritischer Rationalismus, Frankfur-

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ter Schule, Soziologie oder marxistische Gesellschaftslehre: das sind nur einige Stichworte, die andeuten, in welchem Maße sich auch die Philologen — nicht nur die Philosophen — einer veränderten Welt gegenübersehen. Und solcher Veränderungen — gleichviel, ob wir sie als Methodenwandel oder Paradigmawechsel etikettieren - sind zumal in den Geisteswissenschaften notwendig, wenn lebendige Forschung weiterhin sein soll. Sie machen aber zugleich deutlich, mit welcher Vielfalt neuer Gebiete der einzelne Forscher sich fast über Nacht konfrontiert sah und weiterhin konfrontiert sieht. Inzwischen hat sich die Lage einigermaßen konsolidiert. Es sieht ganz so aus, als seien die Soziologie — als Literatursoziologie — oder als Sozialgeschichte der Literatur die weithin anerkannten neuen Forschungsgebiete, die eine Vielzahl neuer Fragestellungen einschließen. Dieser verhältnismäßig junge Zweig der Literaturwissenschaft hat in dem von Friedrich Sengle begründeten Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der Literatur ein eigenes Organ erhalten, in dessen wissenschaftlichen Beirat neben zahlreichen Literarhistorikern auch Volkskundler, Historiker, Kunsthistoriker, Soziologen und Romanisten vertreten sind. Die interdisziplinäre Verflechtung des Faches ist offenkundig. Diese soweit positive „Erfolgsbilanz" ist nach der personalen Seite hin noch zu ergänzen. Zwar ist die Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses denkbar schlecht, aber die Möglichkeit für Nachwuchskräfte, sich durch Forschung zu qualifizieren, besteht nach wie vor, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Es gibt sie durch Vergabe von Stipendien der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die im allgemeinen für zwei Jahre gewährt werden. In einem Fach, in dem die Nachwuchskräfte durch vorzeitige Belastungen in der Lehre gegenüber anderen Fächern benachteiligt sind, wird damit ein Ausgleich bewirkt, der nicht hoch genug einzuschätzen ist; und was ein „Massenfach" wie die Germanistik diesem Programm verdankt, ist beträchtlich. Aber damit nicht genug! Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat sich außerdem durch Veranstaltung von Kolloquien als hilfreich erwiesen, die vor allem dem wissenschaftlichen Nachwuchs zugute kamen und zugute kommen. Seit der Zeit der stürmischen Expansion am Ende der sechziger Jahre zeichnete sich eine Krise der großen Kongresse ab. Sie sind inzwischen immer weniger begehrt, zumal sie nur mit überhöhtem Zeitaufwand Einzelner zu organisieren sind. Um so begehrter sind die Vorträge und Aussprachen in überschaubarem Kreis. Der editorischen Arbeit waren diese Kolloquien zunächst vorbehalten. Später wurden Probleme der Kommentierung erörtert. Die spezifischen Fragen einer Briefedition wurden im September 1975 in einem Kolloquium behandelt, an dem sich auch Vertreter der Philosophie, der Musikwissenschaft, der Theologie und

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anderer Disziplinen beteiligten. 11 Zur Zeit wird ein interdisziplinäres Romantik-Kolloquium vorbereitet, das im September 1977 stattfinden soll. Diese Veranstaltungen werden seit geraumer Zeit durch die Aktivitäten der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel und seines einfallsreichen Leiters Paul Raabe ergänzt. Humanismusforschung, Barockforschung, 18. Jahrhundert haben hier eine inzwischen organisierte Heimstatt gefunden. Dabei wurden wiederholt neue Formen der wissenschaftlichen Aussprache erprobt: man verzichtet auf Vorträge und sendet den Teilnehmern die Vortragsmanuskripte ins Haus, so daß genügend Zeit für Diskussionen zur Verfugung steht. Alle diese betont forschungsrelevanten Veranstaltungen finden außerhalb der Universitäten statt: in Bad Godesberg, Marbach, Wolfenbüttel oder Frankfurt. Die „Auswanderung" der Forscher aus den Räumen der Universität vollzieht sich still und unbemerkt, aber sie vollzieht sich. Damit ist der Punkt erreicht, der zum Innehalten zwingt. Denn die „Erfolgsbilanz" hat Kehrseiten, die nicht ganz nebensächlich sind. Eine dieser Kehrseiten ist die Summierung des Erforschten, die längst bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Diese steigende Publikationsflut hat etwas Lähmendes. Sie erzeugt eine Art von Depression. Die Studenten unseres Faches, von denen wir wünschten, daß sie sich bei uns wohlfühlen, bekommen sie als erste zu spüren, aber sie nicht allein. Die Grenzen des Wachstums — des Bücherwachstums! — sind zumal in den sogenannten Massenfächern der Geisteswissenschaften ein seit langem gravierendes Problem; oder mit einer Formulierung Wolfgang Clemens: sie sind ein „Krisenphänomen erster Ordnung". 12 Wie Sekundärliteratur die Literatur zu überwuchern droht, hat der namhafte Anglist höchst anschaulich beschrieben. Dabei werden Zahlen genannt, die für sich selber sprechen: „Über Goethe sind von 1955 bis 1964 an die 2500 Abhandlungen erschienen, die Shakespeare-Forschung produziert jährlich etwa 1000 Titel, während . . . allein über den Doktor Faustus Thomas Manns in den 15 Jahren zwischen 1953 und 1968 nicht weniger als 450 Abhandlungen (mit insgesamt 30 000 Seiten) erschienen sind." Solches Zahlenmaterial ist nahezu für jedes „überlaufene" Forschungsgebiet bereit zu stellen, und die Summierung dessen, was allein in den letzten beiden Jahrzehnten hinzugekommen ist, ist höchst aufschlußreich. Klopstock ist in der Erforschung der deutschen Literatur ein nicht besonders heimgesuchter Autor: das 11 12

Veröffentlicht in dem Band Probleme der Briefedition, hrsg. von H. Boldt, Boppard 1977. Keine Grenzen des Bücherwachstums? Wie Sekundärliteratur die Literatur zu überwuchern droht. In: Süddeutsche Zeitung vom 30./31. März 1974.

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Schrifttum über ihn hält sich in Grenzen. Die innerhalb der historischkritischen Ausgabe 1975 erschienene Bibliographie enthält ohne das Verzeichnis der Werkausgaben 1900 Titel. Aber sie stammen aus fast zwei Jahrhunderten. Ein im Jahre 1974 erschienener Forschungsbericht über Kafka-Literatur nennt in der beigefügten Bibliographie 1300 Arbeiten, die in den letzten 50 Jahren verfaßt wurden. Der weitaus größte Teil dieser Sekundärliteratur ist neuesten Datums und kaum älter als 20 Jahre. Das erinnert an eine Schrift des amerikanischen Wissenschaftsforschers Derek de Solla Price, der in einem einleitenden Kapitel, „Prolog zu einer Wissenschaftswissenschaft", feststellt: „daß ein großer Teil aller jemals angestellten wissenschaftlichen Bemühungen jetzt, in unserer Generation, erfolgt. Anders ausgedrückt, wie immer man auch Wissenschaftler' definiert, wir können sagen, daß 80—90% aller Wissenschaftler, die je gelebt haben, heute leben." 1 3 Es verdient angemerkt zu werden, daß es den sogenannten kleinen Fächern nicht sehr viel besser als den sogenannten Massenfächern zu gehen scheint. Hans Georg Beck äußert sich über sie in einem Vortrag Byzantinistik heute: „Der unmenschliche Druck zu publizieren, der mancherorts zu Hause ist und immer wieder Quantität an die Stelle von Qualität setzt, hat ja zum trostlosen Slogan gefuhrt: Publish or perish! Aber selbst in diesem Slogan ist von ,republish' nicht die Rede." 1 4 Solche Summierungen mögen für „handfeste" Wissenschaften noch allenfalls erträglich sein. Aber Kunstwissenschaften sind von dieser Flut auf ihre Weise betroffen. Betroffen davon sind ihre Gegenstände. Das literarische Kunstwerk ist gegenüber solchen Zahlen nicht in gleicher Weise widerstandsfähig wie Festkörper, Gammastrahlen oder chemische Stoffe. Es ist einer Ausbeutung durch „Sekundärliteratur" ausgesetzt, die nach dem Sinn von Forschung fragen läßt; denn ein solcher Sinn kann ja nicht allein schon darin beruhen, daß wir an Texten Erkenntnis üben und daß wir diese (die Texte) in erster Linie als Objekte solchen Erkennens behandeln — als Mittel zum Zweck. Sprachliche Kunstwerke, um diesen etwas altmodischen Begriff einmal mit Bedacht zu gebrauchen, sind ihrerseits Zweck. Der Forschung aber kommt es zu, sie lebendig zu erhalten und anderen einsichtig zu machen, damit sie nicht als tote Dinge aufgefaßt werden. Indem Forschung immer

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Derek J. de Solla Price, Little Science, Big Science. Von der Studierstube zur Großforschung, Frankfurt 1974, 13. Hans-Georg Beck, Byzantinistik heute, Berlin/New York 1977, 8/9. Von „republish" und wie man mit dieser „Methode" Erfolg haben kann, handelt in amüsanter und allzu amüsanter Form: Frieder Lauxmann, Weniger Wissen - mehr verstehen. Die Eindämmung der Wissensflut, Stuttgart 1977.

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Neues an ihnen wahrnimmt, kann eine solche Lebendigkeit bewirkt werden. Aber allen Wahrnehmungen am literarischen Text sind Grenzen gesetzt, wenigstens was das einzelne Werk angeht. Durch fortwährende Befassung wird eine Dichtung — nennen wir die Duineser Elegien — bis zu einem gewissen Grade „verbraucht". Forschung deckt nicht nur auf, sie deckt auch zu, und an manchen historisch-kritischen Ausgaben neuesten Datums wäre wohl zu zeigen, daß der Perfektionismus der Editionstechnik ein übriges tut, literarische Werke nicht unbedingt in die lebendige Gegenwart zurückzuholen, sondern sie als Denkmäler von uns zu entfernen. Die Rede von der Unerschöpflichkeit des sprachlichen Kunstwerks ist bestreitbar: es ist nicht alles so unerschöpflich, wie es scheint. Auch der These, daß jede Zeit ihre Vergangenheit neu sieht, kommt nur begrenzte Geltung zu; denn nicht alles erledigt sich, was einmal wahrgenommen und entdeckt worden ist. Wenn innerhalb weniger Jahre etwa 15 eindringende Untersuchungen einem einzigen Gedicht wie Goethes Altersgedicht Der Bräutigam gewidmet werden, so sind solche Untersuchungen nicht beliebig fortzuführen. Man muß gar nicht in Abrede stellen, daß mit jeder dieser Untersuchungen neue Seiten an dem in Frage stehenden Gedicht aufgefunden wurden. Aber nun sind sie auch aufgefunden, und die Zahl künftiger Entdeckungen hat sich damit verringert. Die Konzentration auf Einzelnes — auf einzelne Texte oder einzelne Dichter — ist für viele in der Forschung Tätige die „leichtere" Forschung, die sie betreiben. Ein einziger Autor — wer es auch sei — ist um vieles besser zu „bewältigen" als eine ganze Epoche. Aber gerade die Einzelforschung zeigt Sättigungen, die zu anderen Fragestellungen zwingt. Mehr noch als auf die Erforschung einzelner Texte oder einzelner Dichter kommt es künftig darauf an, sie in immer neue Zusammenhänge zu stellen, um sie eben dadurch lebendig zu machen oder lebendig zu erhalten. Das setzt Theoriebewußtsein voraus, Einfallsreichtum und die Fähigkeit zur Synthese. Es setzt ganz andere Fähigkeiten voraus als diejenigen, die erforderlich sind, einen literarischen Text im begrenzten Rahmen lediglich zu interpretieren. Aber gerade Synthesen werden heutzutage durch grenzenloses Wissenschaftswachstum über die Maßen erschwert. Die Betroffenen dieser Entwicklung — alle lädierten Gegenstände in Ehren! — sind neben den Studenten in erster Linie die einzelnen Hochschullehrer: die Forscher als diejenigen, die sehen müssen, wie sie mit solchen Entwicklungen fertig werden. Dem Zuviel an Forschung in der Summierung des Erforschten entspricht auf der Seite des einzelnen Forschers ein Zuwenig an Möglichkeiten der Kenntnisnahme, der Übersicht und der Verarbeitung. Versetzen wir uns für einen Augenblick in die Lage des solcherart Betroffenen!

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Die Flut, die sich täglich in Institute und Privatwohnungen ergießt, über Schreibtische hinweg und in diverse Schränke hinein, besteht aus Büchern aller Art, bestellten und geschenkten, aus Prospekten und Katalogen; sie besteht aus Sonderdrucken, die man gern lesen möchte, und aus Manuskripten, die man in jedem Fall lesen muß. Über jede Zeile möchte man sich freuen, aber die nicht endende Flut verdirbt einem die Freude nur allzu oft. Die Lage ist ja bekannt. Aber ist sie auch den Hochschulgesetzgebern und Planungskommissaren in Bund und Ländern bekannt? Weiß man in der Öffentlichkeit, unter Landtagsabgeordneten und Ministerialbeamten über das Bescheid, was da vor sich geht — was da in den letzten zwanzig Jahren vor sich gegangen ist und voraussichtlich weiter vor sich gehen wird? Man muß annehmen, daß man von dieser Wissensexplosion in Amtsstuben und anderen Räumen nur sehr undeutliche Vorstellungen hat. Die Festsetzung von Lehrdeputaten und die Erhöhung von Regellehrverpflichtungen beweist es. Alle diese Maßnahmen wurden in völliger Verkennung der Wissenschaftssituation verordnet, in Unkenntnis der Forschungsquantität und mit einseitiger Betonung einer bloß quantitätsmäßig bemessenen Lehre. Denn auch Lehre muß unter dem Forschungsüberfluß leiden, obwohl man gerade sie in erster Linie favorisiert. Aber Lehre kann — wie Forschung auch — sehr Unterschiedliches bedeuten. In der offiziellen Hochschulpolitik unseres Landes wird mit einem antiquierten Begriff von Lehre operiert, als sei sie noch das, was sie einmal vor einigen Jahrzehnten gewesen sein mag: ein Wissensstand und Wissensbestand, den man nur erarbeitet haben muß, um ihn ein für allemal zu besitzen. Wenigstens in den Geisteswissenschaften ist ein solcher Begriff von Lehre obsolet. Wir können als verantwortliche Hochschullehrer nicht damit einverstanden sein, daß man ihn unbesehen kolportiert und zu politischen Zwecken mißbraucht. Die berechtigte Sorge um die Forschung berechtigt uns nicht, die Bedeutung der Lehre zu vernachlässigen. In der Hochschulpolitik sind aber Tendenzen unverkennbar, Lehre gegen Forschung auszuspielen; wie manche Hochschullehrer dazu neigen, Lehre gering zu schätzen, um statt dessen Forschung einseitig zu favorisieren. In Wirklichkeit sind die Verflechtungen von Lehre und Forschung so eng, so kompliziert und so untrennbar geworden, daß man sich scheut, davon zu sprechen, weil man als verkappter „Humboldtianer" angesehen werden könnte. Es mag in den Naturwissenschaften etwas anders sein. Dort muß man lange lernen, ehe an Forschung zu denken ist. In den sogenannten Geisteswissenschaften sind die Verflechtungen von Anfang an gegeben, und sie sind eher enger geworden als vordem. Die enger gewordene Verflechtung von Forschung und Lehre hat sich an der Vorlesungskrise überdeutlich gezeigt. Ihre Demontage am

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Ende der sechziger Jahre war ja nicht völlig unberechtigt; denn es zeigte sich, daß das System dieser Lehrveranstaltungen — man trägt vor, was man sich irgendeinmal erarbeitet hat — immer weniger zu rechtfertigen war. Natürlich war in der Demontage auch sehr viel ideologischer Eifer im Spiel, und schon damals hätte man den Eiferern zuvorkommen können: verändert und erneuert konnte die Vorlesung schon vor Jahren und könnte sie heute erst recht eine der zentralen und nicht einmal unökonomischen Veranstaltungen im Lehrbetrieb der Universitäten sein und damit auch der Forschung dienen. Die didaktischen Verbesserungen in den großen Massenfächern, die es gegeben hat, sind zahlreich, und noch immer hat die Vorlesung gegenüber dem Handbuch die unmittelbare Nähe zum jeweiligen Forschungsstand voraus, von der Darbietung durch die Person, die sich für den Gegenstand der Forschung „verwendet" ganz abgesehen. Eine solche Erneuerung würde aber voraussetzen, daß man in Ministerien und andernorts nicht alles über einen Leisten schlägt, sondern Vorlesungen von Fall zu Fall anders bemißt und unterschiedlich wertet. Sie würde voraussetzen, daß der Hochschullehrer die Möglichkeit erhält, sich den neuesten Forschungsstand zu erarbeiten. Ein Forschungsfreisemester wird ihm zugestanden, wenn er nachweisen kann, daß er die Forschung durch eigene Produktion zu vermehren gedenkt — publish or perish. Aber zur Verarbeitung des Erforschten werden ihm solche oder andere Vergünstigungen nicht eingeräumt. Unser System von Qualifikation und Publikation ist einseitig eingerichtet und nur auf Vermehrung eigener Forschung bedacht, wobei ein enger Forschungsbegriff zu implizieren ist. Aber sich den jeweiligen Forschungsstand zu erarbeiten, ihn übersichtlich zu ordnen und kritisch zu notieren, ist eine Forscherleistung nicht minder. Um es etwas deutlicher zu sagen: mit einer systematischen Erfassung des Schrifttums über Thomas Mann in einem bestimmten Zeitraum ist uns mehr gedient als mit einer allenfalls geistvollen Umschreibung dessen, was wir längst wissen. 15 Dieses einseitig funktionierende und deshalb schlecht funktionierende System von Qualifikation und Publikation hat zur Folge, daß die Qualifikationskontrolle zu wünschen übrig läßt. In solcher Lage verlangt man gewöhnlich nach Bibliographien, und daß sie nützlich sein können, wollen wir nicht leugnen. Aber ihr Nutzen ist begrenzt. Ihre vielfach auf Vollständigkeit bedachten Verfasser sichten nicht, was sie mit Bienenfleiß zusammengetragen haben. Und doch käme es weit mehr auf Sichtung als auf Vollständigkeit an: auf orientierende oder kommentierende 15

Hierzu das vorzügliche, eben erschienene Buch von Hermann Kurzke, ThomasMann-Forschung 1969-1976. Ein kritischer Bericht, Frankfurt 1977.

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Auswahl. Wichtiger sind Rezensionen, die es selbstverständlich gibt. Aber es gibt sie zu wenig, und vor allem gibt es diejenigen Rezensenten zu selten, auf deren Wort es ankäme und die in der Lage sein könnten, eine Diskussion mit Rede und Gegenrede zu entfachen. Das Rezensionswesen als Qualifikationskontrolle wirkt zufällig; und gemessen an der Fülle dessen, was Jahr für Jahr erscheint, erhält die Forschung zumal in den sogenannten Massenfächern einen zunehmend monologischen Charakter. Weder die Verarbeitung noch die Aussprachen, die man sich wünschte, finden statt. In einer solchen Situation sind Forschungsberichte unersetzbar. Es gab sie einmal nach dem zweiten Weltkrieg in einer Art Reihe für ganze Wissenschaftsgebiete mit Überblicken über mehrere Jahrzehnte: für die Literaturwissenschaft (von Max Wehrli) und für die Archäologie (von Karl Schefold). Sie sind unvergessen, und man möchte wünschen, daß für möglichst viele Fächer die zur Synthese befähigten Forscher freigestellt würden — nicht nur für ein Semester, sondern gegebenenfalls für längere Zeit — damit solche Berichte wieder zustande kommen. Sie sind wichtiger als so manche Publikation sonst. Neben diesen Berichten über größere Zeiträume könnten kurzfristige und „mittelfristige" Forschungsberichte eine große Hilfe sein — Berichte, die in gedrängter Form über das in Fluß Befindliche orientieren, Tendenzen aufzeigen und erste Ordnungen versuchen. Daß alles getan werden sollte, um den Wissenschaftsmarkt zu entlasten — auch durch Beseitigung des Druckzwangs von Dissertationen — sei wenigstens am Rande vermerkt. Solche und andere Maßnahmen könnten ein wenig helfen, den einzelnen Forscher zu entlasten. Aber daß es die Kollegen in aller Welt sind, die bekannten wie die unbekannten, die ihn belasten, ist das Absurde der Situation. Denn natürlich liegen die eigentlichen Schwierigkeiten hier: in der explosionsartigen Vermehrung von Stellen und Stühlen aller Art. Hierzu einige Zahlen, die man von Zeit zu Zeit zu lesen bekommt: „Im Herbst 1850 gab es schätzungsweise eine Million Wissenschaftler. 1950 waren es 10 Millionen. Im Jahr 2000 könnten es 100 Millionen sein." 16 Im Kleinen spiegelt sich wider, was im Großen geschieht. Vor 1960, ehe die geplante und zugleich planlose Expansion einsetzte, lehrten an den Universitäten der Bundesrepublik 65 Professoren und Dozenten im Fachgebiet neuere deutsche Literatur. Heute, gut anderthalb Jahrzehnte nach Beginn dieser Expansion, sind es ca. 220 Professoren, habilitierte oder als habilitiert geltende Dozenten. Für andere Länder liegen vergleichbare Zahlen vor. In England gab es noch zu Beginn der dreißi-

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ger Jahre eine wissenschaftliche Germanistik nur in Ansätzen. Nach einem Verzeichnis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für das Jahr 1974 lehren heute an den Universitäten Großbritanniens und Irlands 230 Neugermanisten, die allesamt auch publizierend tätig sind und publizieren müssen. Eine stürmische Entwicklung, trotz mancher Rückschläge und Reduzierungen, hat es nach dem zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten gegeben. Die Erforschung der deutschen Literatur ist eine weltweite Angelegenheit geworden, und das wirkt sich verständlicherweise im Schrifttum aus, das der einzelne Forscher bewältigen soll. Trotz dieser Expansion - oder auch ihretwegen - befindet sich der Nachwuchs des Faches in einer Krise, die in ihrem Verlauf noch nicht abzusehen ist. Das ohnehin verzerrte Verhältnis von Forschung und Lehre hat sich damit zusätzlich verzerrt. Denn es geht nicht nur um die Befähigten, die man abweisen muß; es geht dabei darüber hinaus um Strukturschwierigkeiten besonderer Art. Als die Expansion um die Mitte der sechziger Jahre einsetzte, bekamen die Fachvertreter zu hören, es würden zu wenige habilitiert. Tatsächlich gelangten im Fach Germanistik um die Mitte der sechziger Jahre im Gebiet der Bundesrepublik kaum mehr als 10 Nachwuchskräfte zur Habilitation. Das Verhältnis zwischen Hochschullehrer und wissenschaftlichem Mitarbeiter war noch Ende der fünfziger Jahre etwa 1 : 1 ; im Jahre 1972 war es 1 : 6 ; es hat sich inzwischen zuungunsten der Nachwuchskräfte verschlechtert. Die damals zur Habilitation ermuntert wurden, finden nunmehr besetzte Stellen vor, wenn sie ihre Habilitation abgeschlossen haben oder demnächst abschließen werden;und diese Stellen — solche auf Lebenszeit — wurden in nicht unerheblichem Maße an diejenigen vergeben, die von Forschung planmäßig ferngehalten werden. Das betrifft jene Personengruppe, für die der Begriff „Mittelbau" erfunden und in die Hochschulpolitik eingeführt wurde. Seine Angehörigen sind zwar gut versorgt, aber sie sind fast gnadenlos zur Lehre verurteilt. Es wird also zu einem beträchtlichen Teil eine von der Forschung abgeschnittene Lehre sein, die man in den nächsten Jahrzehnten an deutschen Universitäten lehrt; und es wird eine große Zahl der zu Forschung Befähigten sein, die von den Universitäten für lange Zeit abgeschnitten sind. Dies alles angesichts einer Wissenschaftssituation, die sich mit den Jahren um vieles schwieriger darstellen wird, als sie sich zur Zeit der manchmal unbekümmert vorgenommenen Berufungen dargestellt hat. Weil aus den Wissenschaften vielfach etwas ganz anderes geworden ist gegenüber dem, was sie noch vor zwanzig oder dreißig Jahren gewesen sind, wird es zunehmend auch auf Hochschullehrer anderer Art ankommen: auf solche vor allem, die sich nicht nur in eng begrenzten Gebieten auskennen, sondern zur Synthese und zum

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Erkennen von Zusammenhängen befähigt sind. Synthese aber verweist auf diejenige Stätte, an der sie stattfinden sollte: auf die Universität. Angesichts so divergierender Interessen, wie sie für die Forschungslage der meisten Fächer seit längerem bezeichnend ist, sollte die Universität die Stätte sein, an der wieder zusammengeführt wird, was getrennt wurde. Aber ein solcher Ort der Kooperation und der Integration ist die Universität heute weniger denn je. Forschung und Lehre streben auseinander, und nicht einmal die Lehrerbildung kann man als integriert bezeichnen: die Vertreter der Fachwissenschaften wissen kaum noch, was in der Pädagogik geschieht, und die Pädagogen verlieren den Kontakt mit dem, was in den Fachwissenschaften erörtert wird. Die Zerschlagung der Philosophischen Fakultäten und die Aufgliederung in Fachbereiche, in universitäre Kleinstfamilien, ist in ihren Folgen für die geisteswissenschaftlichen Fächer unabsehbar. Daß in den engen Zirkeln alles vorzüglich funktioniert, täuscht über die Folgen hinweg, die zu befürchten sind. Die Hochschullehrer der nächsten Jahre werden anderes als solche Zirkel nicht mehr kennen. Sie werden zur „Kleinräumigkeit" des Denkens förmlich erzogen. So gesehen sind die neuen Hochschulgesetze Maßnahmen von gestern: sie werden der Wissenschaftssituation nicht gerecht. Interdisziplinäre Arbeit, auf die es ankäme, findet zunehmend außerhalb der Universitäten statt: in evangelischen und katholischen Akademien, in Museen, Bibliotheken und andernorts. Eine so wenig forschungsfreundliche Situation könnte den Ruf nach einem „reinen" Forschungsinstitut begünstigen: nach einem Max-PlanckInstitut für Literaturwissenschaft, Literaturtheorie oder Editionstechnik. Es gibt zahlreiche Gründe, die dafür sprechen, daß ein solcher Ruf laut und vernehmlich erhoben wird. Man sollte ihn nicht erheben, sondern alles tun, um die verwaltete und verplante Universität als eine Stätte des lebendigen Geistes zurückzugewinnen — als Universität im eigentlichen und ursprünglichen Sinn.

Bernard Andreae (Bochum)

Über die Lage der Archäologie im Rahmen der philologischhistorischen Fächer und der Kunstwissenschaft Eine Reihe von Faktoren k o m m t zusammen, u m Archäologie als Sachgebiet außerordentlich populär, ja geradezu modisch zu machen und zugleich das Fach Archäologie an den Universitäten 1 und den anderen Forschungsstätten, wie den Zentralinstituten 2 und den großen Kunstmuseen 3 , in Gefahr zu bringen. Der erstaunliche Publikumserfolg der Archäologie hat ganz verschiedene innere und äußere Ursachen, die sich in ihrer Wirkung j e d o c h gegenseitig verstärken.

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Gemäß dem alljährlich zweimal erscheinenden Verzeichnis der Vorlesungen und Übungen der Archäologischen Institute und Seminare des Deutschen Archäologenverbandes (Redaktion der Vorlesungsankündigungen Dr. N. Kunisch / B. Stödter, Institut für Archäologie der Ruhr-Universität Bochum) ist Archäologie an folgenden Universitäten der Bundesrepublik Deutschland und Westberlins vertreten: Berlin, Freie Universität und Technische Universität, Bochum, Bonn, Darmstadt, Erlangen, Frankfurt, Freiburg, Gießen, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, Kiel, Köln, Mainz, Mannheim, Marburg, München, Münster, Regensburg, Saarbrücken, Trier, Tübingen, Würzburg. Das Deutsche Archäologische Institut hat seine Zentraldirektion in Berlin und Abteilungen in Frankfurt, München, Rom, Athen, Istanbul, Kairo, Bagdad, Teheran und Madrid. An folgenden Museen in Deutschland existieren Archäologische Abteilungen: Augsburg, Städtische Kunstsammlungen; Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Antikenabteilung; Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum; Bonn, Rheinisches Landesmuseum\ Frankfurt/M., Städtisches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Liebieghaus; Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe; Karlsruhe, Badisches Landesmuseum; Kassel, Staatliche Kunstsammlungen; Köln, Römisch-Germanisches Museum; Mainz, Römisch-Germanisches Zentralmuseum; München, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek; Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum; Trier, Rheinisches Landesmuseum; Xanten, Regionalmuseum. Hinzu kommen folgende Universitätsmuseen, an denen eigene Kustodenstellen existieren: Bochum, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität; Bonn, Akademisches Kunstmuseum; Göttingen, Archäologisches Institut; Heidelberg, Archäologisches Institut; München, Archäologisches Institut; Münster, Archäologisches Institut; Tübingen, Archäologisches Institut Würzburg, Martin-von-Wagner-Museum der Universität.

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Den ersten Grund möchte ich in der inzwischen historisch begründeten und begrifflich faßbaren Tatsache erkennen, daß in der antiken Kunst durch die künstlerische Gestaltung ein beispielloser Zyklus der schrittweisen Eroberung der natürlichen Erfahrungswelt für das menschliche Bewußtsein durchlaufen wurde, der die Grundlage aller Naturerfahrung darstellt. Nicht von ungefähr hat. N. Himmelmann4 seiner kritischen und eindringlichen Studie über Archäologie und moderne Kultur, der er den bezeichnenden Titel Utopische Vergangenheit gegeben hat, als Motto einen Satz von R.W. Emerson vorangestellt: „Unsere Bewunderung für die Antike ist keine Bewunderung des Alten, sondern des Natürlichen." Die antike und insbesondere die klassische Kunst ist daher ein Rückkoppelungspunkt von nicht geringerer Bedeutung als die Natur selbst. Besonders in einer Zeit, in der die Kunst sich aufgemacht hat zu unvordenklichen Erfahrungen durch Konkretisierung von in der sichtbaren Natur nicht vorgefundenen und daher mimetisch nicht erfaßbaren Anschauungsformen, ist es eine verständliche Schutzbewegung des vor diesen oft noch undeutlichen Erfahrungen zurückschreckenden Bürgers, daß er in die vermeintlich klar faßbare Welt der mimetischen Kunst zurückflüchtet. Es ist zu befurchten, daß diese Haltung sowohl der modernen als auch der klassischen Kunst nicht gerecht wird, weil sie, obwohl weit verbreitet, in den meisten Fällen nicht aus einer echten Auseinandersetzung resultiert. Zu dem ersten, innersten Grund der allgemeinen Anerkennung der Archäologie und ihres Gegenstandes, der antiken Kunst, kommt eine Fülle weiterer Gründe hinzu, die hier nur ganz kurz angedeutet werden können. Durch die technischen Errungenschaften der Optik und der Bildvervielfältigung in Fotografie, Buchdruck, Film und Fernsehen ist an die Stelle der früher vorherrschenden Form der Erweiterung des Wissenshorizontes und der Bildung durch Hören und Lesen eine visuelle und audiovisuelle getreten, die einen viel größeren Interessentenkreis erreicht, weil die Sinne in weit unmittelbarerer und im allgemeinen unwiderstehlicher Form angesprochen werden. Die Überflutung der Welt mit Bildern, die vielfach von der Ausdruckst sigkeit eines gewöhnlichen, die Naturschönheiten verstellenden Stadtbildes ablenkt, führt zu einer neuen Form des Bilddenkens, das leicht zu manipulieren ist. Der Blick wird von der nur allzu häufig reizlosen Umgebung des engeren Lebensraumes auf künstliche und kunstvolle Bilder gelenkt, unter denen die Bilder antiker Kunst einen bedeutenden Rang einnehmen. Wenn ein Reiseunternehmen mit einem monumentalen Plakat wirbt, das das Erechtheion in einer das natürliche 4

N. Himmelmann, Utopische Berlin 1976.

Vergangenheit. Archäologie und moderne Kultur,

Über die Lage der Archäologie

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Sehbild suggerierenden Größe unter der Überschrift „Antike ist immer aktuell" zeigt, dann kann man dies auch als Zeichen eines Syndroms werten, durch das die historisch bedingte Bereitschaft, sich aufs Neue dem Rückkoppelungspunkt Antike zuzuwenden, verstärkt wird. Die Rolle, die in diesem Prozeß die Freizeitgesellschaft und der Tourismus spielen, ist evident. Werden hier ungezählte Menschenmassen an die Objekte herangeführt, so werden umgekehrt in Wanderausstellungen, bei denen solche archäologischen Inhalts vorherrschen, auch die „durchs Auge aufnehmbaren Teile der Menschheitsgeschichte" 5 an die Menschen herangebracht. Gefördert wird dies durch spektakuläre Entdeckungen, die häufig nicht das Resultat zielstrebiger archäologischer Bemühungen sind, sondern Entdeckungen, die durch die unermeßlich gesteigerte Bautätigkeit nach dem 2. Weltkrieg ermöglicht wurden. Nicht nur das, was mit der Aura der Schatzgräberei und Kriminalistik zu tun hat, hält das Interesse des Publikums an Archäologie wach, sondern auch die im modernen Spezialfach der Archäometrie zusammengefaßten technischen Möglichkeiten der Spurensicherung und -analyse 6 . Insbesondere die archäologische Prospektion, die Luftbild- und Unterwasserarchäologie haben ihren Teil zu einer unvorhersehbaren Erweiterung des Wissenstoffs beigetragen, wodurch das allgemeine Interesse immer wieder erneuert aber auch ungeahnte wissenschaftliche Probleme aufgeworfen werden. Als Beleg sei hier noch einmal ein Satz aus der oben erwähnten Abhandlung von N. Himmelmann 7 zitiert: „Hier ist allerdings eine Gefahr unverkennbar: In anderen historischen Wissenschaften, die auf ein fest umgrenztes, praktisch unveränderliches Material angewiesen sind, stumpfen sich handwerkliche Verfahrensweisen alsbald ab und verlangen nach methodischer Vertiefung. In der Archäologie hingegen lassen sie sich auf die ständig neu hinzukommenden Denkmäler nützlich und erfolgreich anwenden, so daß ihr Wert lange Zeit nicht in Frage gestellt und das Problembewußtsein überhaupt geschwächt wird." Zum Schluß ist noch auf einen Faktor in dem ganzen Prozeß hinzuweisen, der dessen Ausmaß gerade in der ans Lächerliche grenzenden Verzerrung deutlich macht. Gemeint ist der z. B. von F.G. Maier als solcher bezeichnete „Däniken-Effekt in seiner zeittypischen Mischung von Weltraumforschung, Pseudoarchäologie und Okkultismus" 8 , die Ex5 6 7 8

E. Buschor, Begriff und Methode der Archäologie. Handbuch der Archäologie, I, 1, München 1950, 3. F.-G. Maier, Neue Wege in die alte Welt. Moderne Methoden der Archäologie, Hamburg 1977. A.a.O. 189. Neue Züricher Zeitung. Nr. 253 v. 29.10.1976.

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tremvariante eines allgemeineren Trends, sich nach dem „Verlust der Mitte" und nach dem „Tode Gottes" so etwas wie eine Ersatzreligion zu verschaffen. Die Kommerzialisierung des Trends trägt das ihre dazu bei, seine Richtung und Stoßkraft zu verändern, ohne daß das Fach genügend Abwehrkräfte entwickelte, die diese Ablenkung auffangen könnten. Eine starke Bewegung unserer Zeit ist die sogenannte NostalgieWelle, die man nicht nur als einen Modetrend abtun darf, denn sie scheint mir aus den tiefsten Schichten unbewußten Kulturantriebes durch Rückkoppelung zu stammen. Wenn man die Nostalgie als reine Modewelle ansieht, trägt man dazu bei, sie abzuflachen und zu verhindern, daß das kulturelle Ziel einer Erneuerung durch Rückbesinnung verfehlt wird. Man degradiert diese Bewegung zum puren Eskapismus. Zum Glück sind die hier ausschnitthaft angedeuteten Gründe des Interesses, das die Archäologie heute nicht nur, wie zu Beginn dieses Jahrhunderts, in den Kreisen einer elitären Schicht klassisch Gebildeter, sondern in den breitesten Bevölkerungsschichten genießt, durchaus nicht von vornherein als negativ zu beurteilen, wenn sich in ihnen auch Nützliches und Schädliches nahe beieinander finden. Es gibt also Gefahren, die nicht zu übersehen sind und die nicht deshalb gebannt werden sollten, weil das Fach gerettet werden muß, sondern weil man die Menschen, die von der Archäologie etwas erwarten, um die Früchte einer Entwicklung bringen würde, für die Opfer gebracht worden sind, und von denen unsere Kultur eine dem Umfang der ganzen Bewegung angemessene Wirkung erwarten darf. Es kommt vor allem darauf an, die negativen Begleiterscheinungen der die Entwicklung vorantreibenden Faktoren zu erkennen und auszugleichen. Die Gefahren bestehen darin, daß die Konsumenten, oder wie man seine Zeitgenossen bezeichnen möchte, in allgemein menschlicher Weise den Weg des geringsten Widerstandes gehen und dort Zerstreuung suchen, wo sie Erkenntnis finden sollten. Wenn ein großer, aber in seinem Programm leider wahlloser und allein auf den kommerziellen Erfolg ausgerichteter Verlag mit dem Slogan: „Nichts ist spannender als Geschichte!" Werbepropaganda treiben kann, dann dürfen die Historiker nicht achtlos vorbeigehen und lamentieren, unsere Zeit wolle geschichtslos sein. Vielmehr zeichnen sich ganz deutlich zwei miteinander streitende Tendenzen ab. Die eine ist der Drang, dem eigenen, ephemeren und besonders in der industriellen Leistungs- und Konsumgesellschaft frustrierenden Leben, eine historische Dimension zu verleihen. Dieser Drang verlangt nach gründlicher und aktueller historischer Information. Die andere Tendenz wird aus der Opposition gegen die Verpflichtungen, welche die Tradition

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auferlegt, gespeist. Je stärker das Bewußtsein ist, daß man sich historischen Erfahrungen nicht ohne harte Konsequenzen für das eigene Leben stellen kann, desto vehementer wird auch die Ablehnung alles Geschichtlichen. Diesen circulus vitiosus gilt es von Seiten der Geschichtswissenschaft zu durchbrechen durch das Aufzeigen der Notwendigkeit und der Möglichkeit aktiven und innovatorischen Handelns aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens. Alfred Heuss hat im Vorwort zu seiner Römischen Geschichte9 eine Forderung erhoben, die deutlich ist und doch niemanden von Kauf und Lektüre des Buches abgehalten hat. „Wir brauchen ein zielstrebiges und sachgemäßes Bemühen um die Geschichte, eine spezifische Energie des Denkens und des Wissens, eine ursprüngliche Gespanntheit auf die Menschheit in ihrer historischen Dimension." In einem audiovisuell bestimmten Zeitalter kommt denjenigen Wissenschaften, die durch Anschauung bilden können, eine unbestreitbare Bedeutung zu. Die Meinung ist dabei keineswegs die nach dem Vorhergehenden möglicherweise naheliegende, daß man die philologische und historische durch eine kunstgeschichtliche Bildung ersetzen solle. Es geht vielmehr darum, das Interesse an der philologischen und historischen Bildung durch eine erweiterte kunstgeschichtliche Bildung neu zu beleben und einen vertiefenden Zugang zur Geschichte zu ermöglichen. Schon Goethe war der Meinung, Denken sei interessanter als Wissen, aber nicht als Anschauen. Dabei kann natürlich nicht das bloße, von Brecht nicht zu unrecht als kulinarisch bezeichnete Anschauen „erhabener" Kunstwerke gemeint sein, sondern die innere Anschauung, die nur durch eine Erziehung zum Sehen erreicht werden kann. Das Dilemma muß an dieser Stelle deutlich angesprochen werden: „Sehen" ist ein so selbstverständlicher Vorgang im menschlichen Leben, daß allzu leicht „Erkennen" als eine selbstverständliche Folge von „Sehen" angesehen wird. „Erkennen" kann aus „Sehen" aber nur erfolgen, wenn es auf der Grundlage des Wissens um die historischen Zusammenhänge der Entstehung einer anschaulich gewordenen Form geschieht. Erziehung zum Sehen ist also nur eine zeitgemäße Art und Weise einer allgemeinen kulturhistorischen Bildung. Eine solche Erziehung ist daher nicht eine rein sachlogische, sondern sie wird erst im Zusammenhang mit der philologischen und historischen Erziehung im eigentlichen Sinn möglich. Klar ist dabei, daß eine Ausweitung der Erziehung zum Sehen nicht eine rein zusätzliche Sache sein kann, sondern, daß man diesen Gewinn mit einem Verlust erkaufen muß. Ich meine allerdings, daß dieser Verlust sowieso bereits eingetreten ist. In den historischen und hu'

A. Heus, Römische Geschichte, Göttingen 2 1964, XII.

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manistischen Fächern wird an den Schulen nur noch ein Minimalprogramm angeboten, das zur Aufrechterhaltung unseres Kulturstandes nicht mehr ausreicht. Die humanistischen Fächer werden vielfach als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Die Frage ist, ob die Fächer als solche nicht mehr zeitgemäß sind, oder ob nicht vielmehr die Form der Vermittlung ihrer Inhalte von unserer optisch bestimmten Zeit abgelehnt wird. Es geht daher eigentlich darum, über eine neue Motivation durch die Anschauung die unverzichtbaren Inhalte philologischer und historischer Bildung zu retten. Die Forderung, die sich aus diesen Prämissen ergibt, kann von vornherein mit dem größten Widerstand rechnen, denn sie richtet sich zunächst an eine Institution, die sowieso schon hoffnungslos überlastet erscheint: die Schule. Es ist unmöglich, daß Literaturwissenschaftler durch Vorträge oder andere Arten der Vermittlung im Rahmen der Erwachsenenbildung das Verständnis des ganzen Volkes für Literatur wecken, wenn nicht schon Sprachen, insbesondere Deutsch und überhaupt „Lesen" auf der Schule gelehrt wird. Wenn heutzutage „Sehen" einen Teil dessen einnimmt, was früher „Lesen" bedeutete, oder wenn zumindest ein nicht geringer Teil von Erkenntnisaufnahme heute auf „audiovisuelle" Weise erfolgt, dann muß eine Erziehung zum „Sehen" Raum in der allgemeinen Erziehung, das heißt auch in den Schulen, bekommen. Die im ersten Anlauf gescheiterten Bemühungen, ein Lehrfach „Kunstwissenschaft" an den Schulen einzurichten und einen entsprechenden Lehrgang mit dem Staatsexamensfach „Kunstwissenschaften" in den universitären Lehrplan aufzunehmen, müssen erneut angegangen und zum Erfolg gebracht werden. Anders sind meines Erachtens die Gefahren nicht zu bannen, die sich abzeichnen in der widersprüchlichen Situation eines ungeheuren Publikumsinteresses auf der einen und einer strukturellen Unfähigkeit des Faches auf der anderen Seite, sachgerecht darauf zu reagieren. Das Bedürfnis ist unbestreitbar und im Einzelnen mit Zahlen zu belegen, denen gegenüber das Fach weitgehend machtlos sein muß, weil die Ursachen und das Ziel der Bewegung noch nicht oder zumindest noch nicht in ihrer ganzen Tiefe gedeutet sind. Davon abgesehen, wäre das Fach in seiner Organisationsform aber auch überfordert, wenn es die Erziehung des ganzen Volkes zum Sehen und zur Formung einer inneren Anschauungsmöglichkeit übernehmen sollte. An dieser Stelle ist die Frage unausweichlich, ob die traditionellen Universitätsfächer, die sich mit der Geschichte der Kunst in all ihren Bereichen befassen und deshalb vorrangig für die Ausbildung von Kunstwissenschaftlern herangezogen werden müßten, welche als Multiplikatoren eingesetzt werden könnten, für diese Aufgabe vorbereitet sind

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und wie sie bewältigt werden sollte. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Der Verfasser dieses Beitrages kann hier sowieso nur für die Archäologie sprechen und er kann auch in diesem Fach nur auf Tendenzen hinweisen, die sich jedoch in vergleichbarer Weise auch bei den Nachbardisziplinen beobachten lassen und als Indiz dafür gedeutet werden können, daß diese Fächer durchaus in der Lage wären, einen Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe zu leisten. Im Jahre 1970 hat sich der Deutsche Archäologenverband konstituiert, der es sich zur ersten Aufgabe gesetzt hat, die Lage des Fachs und sein Selbstverständnis zu klären. Auf den Mitgliederversammlungen der folgenden Jahre wurden zu diesem Thema jeweils Vorträge gehalten und ausführlich diskutiert. 10 Daraus geht klar hervor, daß die Archäologie sich als eine Wissenschaft von der Geistes- und Kulturgeschichte der Menschheit versteht, soweit diese ihr Fundament in der anschaulichen Hinterlassenschaft des Altertums gefunden hat und wegen dieser grundlegenden Bedeutung auch für den heutigen Menschen noch relevant ist. Wenn man zum Beispiel die Liste von 586 Forschungsvorhaben deutschsprachiger Archäologen durchsieht, die zwischen 1970— 1972 in einer Umfrage des Deutschen Archäologenverbandes zusammengestellt 11 worden sind und von denen inzwischen ein Großteil abgeschlossen ist, so zeigt sich, daß neben den notwendigen traditionellen Themen und Denkmälervorlagen sich nicht wenige sowohl im theoretischen Ansatz neuartige als auch aus der auf den gesellschaftlichen Zusammenhang ausgehenden zeitgemäßen Forschungsrichtung finden. Die Archäologie, die wegen ihrer Begründung im Zeitalter des Deutschen Idealismus und wegen ihrer entscheidenden Beeinflussung durch Johann Joachim Winckelmann immer in Gefahr war, eine esoterische und normative Wissenschaft zu sein, hat diese Gefahr gesehen und sich, ohne nun in das Gegenteil zu verfallen, den modernen Tendenzen

10

11

W. D. Heilmeyer, Zur Stellung der Klass. Archäologie als Lehrfach an den westdeutschen und Westberliner Hochschulen. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologenverbandes. 2 (1971), Heft 2, 2 1 - 2 8 . Referate zum Thema Archäologie und Öffentlichkeit, gehalten auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Deutschen Archäologenverbandes, erschienen in der Beilage zu Mitteilungen des Deutschen Archäologenverbandes. 2 (1972), Heft 3, Vgl. bes. B. Andreae, Zum Selbstverständnis der Archäologie, a.a.O. 2 7 - 3 1 ; ein Referat, das zuerst auf der Jahrestagung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft am 1. April 1971 in München gehalten wurde. Sonderheft der Mitteilungen des Deutschen Archäologenverbandes e.V. Dez. 1973. Archäologische Forschungsvorhaben 1 9 7 0 - 7 2 , Auswertung der Umfrage.

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der Geschichtsforschung nicht verschlossen. Sie kann als ein zeitgemäßes Fach gelten, das, wie die erstaunlich, ja man kann sagen, erschreckend ansteigenden Studentenzahlen, aber auch die in die Höhe schnellenden Besucherzahlen in den Museen und die hohen Auflagenziffern archäologischer Sachbücher zeigen, sein Wissen auch in moderner, ansprechender Form vermitteln kann. Das Fach ist auch nicht völlig unvorbereitet auf die Übernahme einer Aufgabe, wie sie oben angedeutet wurde. Eine Kommission des Deutschen Archäologenverbandes hat den Entwurf einer Diplomprüfungsordnung erarbeitet, der auch schon mit den zuständigen Organen der Westdeutschen Rektorenkonferenz besprochen wurde, dessen Verabschiedung aber keinen Sinn hat, solange kein Arbeits- und Betätigungsfeld für Diplomarchäologen existiert. Damit sind wir bei dem eigentlichen Dilemma des Faches angekommen, in dem es sich von der Situation anderer Fächer kaum abheben wird, mit dem einzigen Unterschied, daß die Lage sich hier dank gründlicher und sorgfältiger Untersuchungen des Deutschen Archäologenverbandes sehr viel genauer überschauen und mit Zahlen belegen läßt, als dies meines Wissens in anderen Fächern der Fall ist. Das mag zum Teil an der relativen Kleinheit und Überschaubarkeit des Faches liegen, es liegt vielleicht aber auch an der zur Systematik neigenden Denkstruktur der Archäologen. Schon sehr bald nach seiner Begründung hat der Deutsche Archäologenverband mehrere Umfrageaktionen gestartet, um sich auch statistisch über die Lage des Fachs klar zu werden. Besonders aufschlußreich waren die Umfrage zur beruflichen Situation jüngerer deutscher Archäologinnen und Archäologen, die I. Pini im Oktober 1975 12 ausgewertet hat, und die von K. Lehnstaedt und D. Pinkwart ausgewertete Untersuchung Die Klassischen Archäologen der Examensjahrgänge 1945-1970. Studium und Beruf. 13 Aus beiden Studien geht eindeutig hervor, daß die Lage der Archäologen zum augenblicklichen Zeitpunkt infolge der Expansion der Deutschen Universitäten in den 60er und frühen 70er Jahren, infolge der allerdings begrenzten Stellenvermehrung beim Deutschen Archäologischen Institut sowie bei den Museen und Denkmalämtern nicht ungünstig ist, daß die Zukunftsaussichten jüngerer Archäologen aber geradezu katastrophal sind. Ein Satz aus dem Gutachten von I. Pini kann 12 13

Als Umdruck an die Mitglieder des Deutschen Archäologenverbandes versandt im Oktober 1975. Erschienen in den Schriften des Deutschen Archäologenverbandes, I, Köln 1975.

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das mit Zahlen belegen, die deshalb eindeutiger kalkulierbar sind als in anderen Fächern, weil sie im Ganzen klein und von rasch veränderlichen anderen Größen unabhängig sind. „Fest steht, daß die Altersstruktur der unbefristet beschäftigten Archäologen in den letzten Jahren außerordentlich stark verjüngt wurde. Einige Zahlen mögen dies verdeutlichen: Von den 52 unbefristeten Stellen an den deutschen Hochschulen sind 29 über das Jahr 1990 hinaus besetzt, von den 12 Beamten und Angestellten beim DAIerreichen 9 erst nach 1990 die Altersgrenze, von den 36 Beamten und Angestellten an den Museen bleiben gar 28 über das Jahr 1990 hinaus beschäftigt und von diesen 28 nochmals 20 bis über das Jahr 2000 hinaus. 38 von insgesamt 108 festen Stellen, d. h. etwa 30% werden erst nach dem Jahr 2000 frei." 1 4 In einer Pressenotiz des Deutschen Archäologenverbandes vom 6. Juli 1977 ist diese Situation neuerdings noch einmal ebenso deutlich wie erschrekkend angesprochen worden. Die komplexe Situation, in der sich das Fach Archäologie heute befindet, scheint deshalb die folgende zu sein: Wegen des ständigen, unvorhersehbaren Zustroms neuen Forschungsstoffes von allgemeinem und anerkannten Interesse ist die Archäologie keineswegs in einer Legitimations- oder Identitätskrise, auch wenn die mit einem solchen enormen Stoffzuwachs verbundenen Probleme durchaus nicht verkannt werden. In einem deutlichen Mißverhältnis zum öffentlichen Interesse, das auch die Studentenzahlen anwachsen läßt, stehen die Berufsaussichten von Archäologen mit abgeschlossener Hochschulausbildung, von denen nach den heutigen Zahlen nur jeder 7. eine unbefristete Beschäftigung in seinem Fachgebiet finden kann. In der Kunstgeschichte ist es nicht wesentlich anders. Hier ist ein Reservoir gründlich und umfassend ausgebildeter Hochschulabsolventen vorhanden, dessen sich die Gesellschaft bedienen sollte, um einem Bedürfnis abzuhelfen, das man angesichts des öffentlichen Interesses an anschaulicher Kultur nicht leugnen sollte. Öffentliches Interesse und Lage des Faches scheinen sich hier zu treffen, so daß es nun bei den Politikern liegt, Entscheidungen herbeizufuhren und Strukturen zu schaffen, deren Ziel nicht etwa nur die Einführung von Kunstwissenschaftsunterricht an den Schulen

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Umfrage zur beruflichen Situation, 7; Zum folgenden vgl. Die Welt Nr. 154 vom 6. Juli 1977. S. 19. In diesem Bericht findet sich folgende Feststellung: „Zur Zeit gibt es etwa 200 aktive Archäologen in diesem Lande. Nach vorsichtigen Schätzungen werden bis zum Jahr 2000 aber nur etwa 70 Prozent davon ihre Stelle geräumt haben, das heißt, daß von den 1000 Archäologiestudenten, die sich gegenwärtig auf ihren Beruf vorbereiten, nur 140 eine Anstellung finden werden".

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ist. Durch das bewußt gemachte und geschulte visuelle Kultur- und Bildungserlebnis soll eine zeitgemäße Bereitschaft zur Kulturentwicklung gestärkt werden, die sich auch auf die traditionelle Bildung durch Lesen, Sprachenlernen und Nachvollzug historischer Vorgänge förderlich auswirken muß. Um zum Schluß die Dringlichkeit der Erziehung zum Sehen noch einmal zu unterstreichen, sei an den bereits angesprochenen Punkt der Frustration des Menschen durch die moderne städtische Umwelt erinnert. Wenn das Ungenügen an der steinernen Monotonie wie überhaupt an der Formlosigkeit des optischen Gegenübers solche Ausmaße annimmt, daß sich die sozialen Krankheitssymptome häufen und gleichsam ein Ersticken ankündigen, muß es höchste Zeit sein, nach wirklich eingreifenden Gegenmitteln zu suchen. Als ein solches bietet sich die Erziehung zum Sehen an, denn von ihr darf erwartet werden, daß sie eine weitere Zuspitzung der Lage nicht nur verhindern, sondern vielleicht auch zu einer gewissen Rekultivierung unserer Umwelt und damit des Lebens überhaupt führen wird.

Georg Feder (Köln)

Zur Situation der Musikforschung

Es gab in letzter Zeit von Seiten der Musikwissenschaft verschieden akzentuierte forschungspolitische Veröffentlichungen. Das Memorandum über die Lage der Musikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland fordert einen stärkeren Ausbau der „systematischen" Musikwissenschaft und der Musikethnologie und behandelt die Musikgeschichte eher beiläufig. Eine Ergänzung zu dem Memorandum weist demgegenüber auf die unverminderte Bedeutung der Musikgeschichte und besonders auf ihre dokumentarischen, materialerschließenden Aufgaben hin. Vorher war schon den Gesamtwerkausgaben der großen Meister der Musik ein eigenes Buch gewidmet worden, das auch außerhalb des Faches Anklang fand, und eine hektographierte Denkschrift hatte auf die oft nicht sehr rosige soziale Lage der für solche und ähnliche Forschungsunternehmungen angestellten Musikwissenschaftler hingewiesen. 1 Diese Veröffentlichungen fügen sich nicht ganz widerspruchslos zusammen. Sie provozieren die Frage nach ihrem wissenschaftstheoretischen Fundament. Ist dieses Fundament tragfähig genug, um über zentrale und periphere Stoffgebiete, über den Rang der Methoden und insgesamt über das Profil des Faches zu entscheiden? Ist das Verhältnis von historischer, ethnologischer und systematischer, von geschichtsund gegenwartsbezogener Musikforschung, von geistes- und naturwissenschaftlichen Methoden, von Dokumentation und Interpretation, von Kunst- und Kulturwissenschaft, von „europazentrischer" und

1

Memorandum über die Lage der Musikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In: Die Musikforschung 29 (1976). - Ergänzung zu dem Memorandum über die Lage der Musikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In: Die Musikforschung 30 (1977). - Musikalisches Erbe und Gegenwart, Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, Kassel 1975. - Zur Lage der außeruniversitären musikwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen von überregionaler Bedeutung, vor allem der nicht etatisierten Institute. Denkschrift der Gesellschaft für Musikforschung, April 1974, revidiert Februar 1975.

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kosmopolitischer Einstellung und überhaupt das Verhältnis von praktischer Musiktheorie, Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Gesamtheit der Wissenschaften hinreichend geklärt? Die neueren wissenschaftstheoretischen Beiträge spezieller Art, z. B. der von F. L. Harrison / M. Hood / C. V. Palisca, der von W. Wiora, die 0 . Elscheks, und die einschlägigen Diskussionen auf den letzten internationalen musikwissenschaftlichen Kongressen in Bonn und Kopenhagen lassen dies zweifelhaft erscheinen. 2 Der Musikwissenschaft werden so viele Aufgaben und Methoden zugeschrieben und dies mit so unterschiedlicher Bewertung, daß die Identität des Faches darunter zu verschwinden droht. Würde nicht die tatsächliche Forschungspraxis ein weit homogeneres Bild zeigen, so müßte man, von manchen programmatischen und theoretischen Verlautbarungen ausgehend, eine zunehmende Diversifikation und Desintegration des Faches befurchten. In dieser unübersichtlichen Situation wird eine neue Aussage, auch wenn sie nur pragmatischer Art sein will, fast unvermeidlich auch die Grundlagendiskussion auf irgendeine Weise weiterfuhren, denn pragmatische Ziele müssen doch wohl, um glaubwürdig zu sein, im Rahmen eines abgestuften Gesamtbildes einsichtig gemacht werden, damit sie für das Fach zu forschungspolitischen Prioritäten werden können. Und wenn ein solches Gesamtbild noch nicht als gesichert vorausgesetzt werden kann, dann ist es so, wie es sich aus der Forschungspraxis in persönlicher, wenn auch sicherlich keineswegs esoterischer Sicht zu ergeben scheint, wenigstens in groben Umrissen aufzuzeigen. Es wird hier nicht von den Institutionen der Lehre ausgegangen, deren Situation an Universitäten, Musikhochschulen und Pädagogischen Hochschulen ein Thema für sich wäre. Thema ist vielmehr fast durchweg die Forschung. Ihre Organisation erstreckt sich auch auf Einrichtungen außerhalb der Hochschulen.

2

F.L. Harrison, M. Hood, C.V. Palisca, Musicology (Humanistic Scholarship in America, The Princeton Studies), Princeton 1963. - W. Wiora, Methodik der Musikwissenschaft. In: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden. 6. Lieferung: Methoden der Kunst- und Musikwissenschaft, München und Wien 1970. - O. Elschek, Gegenwartsprobleme der musikwissenschaftlichen Systematik. In: Acta Musicologica 45 (1973). Ders., Entwurf einer neuen musikwissenschaftlichen Systematik. In: Die Musikforschung 26 (1973). - Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bonn 1970: Reflexionen über Musikwissenschaft heute, Kassel o.J. - International Musicological Society. Report of the eleventh congress Copenhagen 1972, Vol. I, Musicology to-day, Kopenhagen 1974.

Zur Situation der Musikforschung

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Die Musikwissenschaft geht von dem Verstehen der Musik aus, das irrationale und rationale Züge verbindet. Es ist nicht absolut gegeben, sondern wird durch das Aufwachsen in einer Kultur erworben. Normalerweise ist dies die abendländische Kultur, denn die Musikwissenschaft ist von Haus aus eine westliche Wissenschaft. Das Verständnis bloß notierter, nicht klingend realisierter Musik hängt überdies von eigener Erfahrung im Ausüben und wenigstens ansatzweisen Schaffen von Musik ab. So bildet die kulturelle Tradition notwendigerweise den zwar erweiterungsfähigen, aber nicht grundlegend zu ändernden oder gar beliebig zu manipulierenden Horizont des Fachs, und die Musikpraxis bildet die engere fachliche Grundlage. Ohne die irrationale Komponente im Musikverstehen preiszugeben, knüpft die Musikwissenschaft an dessen rationale Züge an und führt sie auf ihre Art weiter. Während z. B. der theoretische Musikunterricht einschließlich der Kompositionslehre die überlieferten Kategorien der musikalischen Praxis mehr oder weniger dogmatisch vorträgt und quasi schöpferisch abwandelt — Entsprechendes gilt wohl auch für die Lehre vom Musikunterricht selbst (Musikdidaktik) —, befaßt sich die Musikwissenschaft mit den historischen Veränderungen und den geographischen und funktionalen Verschiedenheiten dieser Lehren. Sie erforscht unter solchen Gesichtspunkten die Tonsysteme, die Notenschriften, die unterschiedliche musikalische Terminologie, die Kompositionsstile, die wechselnden Formen der Aufführungspraxis, die Musikauffassungen, auch (in ihrer noch nicht klar definierten musikpädagogischen Fachrichtung) die sich ändernden Voraussetzungen und Gegebenheiten des Musikunterrichts. Die an aktuelle Situationen gebundene Musikalienrezension und Musikkritik objektiviert sie in ihren Werkinterpretationen durch quellenbezogene Historisierung und methodische Systematisierung. Ähnlich hält sie es auch mit den sonstigen rationalen Verfahrensweisen, die im Musikleben eine Rolle spielen. Die von dem herkömmlichen Archiv-, Bibliotheks- und Verlagswesen schon immer durchgeführte Katalogisierung der Werke berichtigt und vervollständigt sie in historischer, nicht mehr unmittelbar auf die Praxis gerichteter Sicht, und anstatt verlagsüblicher, nur für die Praxis revidierter Ausgaben legt sie historisch-kritische Ausgaben vor, die primär der Erkenntnis des Originaltextes dienen. Die Lehre vom Bauen und Stimmen der Musikinstrumente verwertet sie für eine von den technischen Zwecken absehende, vergleichende Musikinstrumentenkunde. Und so weiter. Dies alles geschieht unter Heranziehung der Methoden und Erkenntnisse anderer Wissenschaften. Für die quellenmäßige Dokumentation macht die Musikwissenschaft von den historischen und philologischen Methoden Gebrauch. Für die Deutung der Musik selbst ermittelt sie

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einschlägige fremdfachliche Erkenntnisse, die sich auf die Musik beziehen oder sich auf sie anwenden lassen (z. B. solche der philosophischen Ästhetik, des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus, der Kommunikationstheorie usw.)- Es läßt sich nicht voraussagen, welche Methoden und Erkenntnisse für die Musikwissenschaft noch fruchtbar werden können. Deshalb braucht das Fach den engen Kontakt mit der Gesamtheit der Wissenschaften, besonders mit den Geisteswissenschaften, so wie es andererseits ständig die Impulse der Musikpraxis und des Musiklebens aufnehmen muß. Auf die einfachste Form zurückgeführt, stellt sich musikwissenschaftliches Forschen dar als ein auf methodische Weise deutendes und vergleichendes Lesen, Betrachten, Hören — oder als ein lesendes, betrachtendes, hörendes Deuten und Vergleichen - von auf die Musik bezogenen Quellen. Bald liegt der Akzent mehr auf der Dokumentation, bald mehr auf der Interpretation. Immer handelt es sich — wenn auch in verschiedenem Mischungsverhältnis — um die Verbindung beider. Reine Dokumentation ohne eine von wertenden und ordnenden Vorstellungen geleitete Interpretation ist kaum denkbar, es sei denn als bedeutungslose Ansammlung von zufälligen Befunden. Umgekehrt gründet jede Interpretation letztlich auf beglaubigten Quellen und wäre ohne diese nur leere Spekulationen. Für die Notwendigkeit der Interpretation braucht man heute kaum etwas zu sagen; sie steht fast übermächtig im Vordergrund der Diskussion. Die Dokumentation erfordert dringender eine Begründung, nicht pragmatisch im Einzelfall (darüber ist meist Einigung zu erzielen), sondern wissenschaftstheoretisch, denn der generelle Verdacht „positivistischen Leerlaufs" ist allgegenwärtig. Nur selten wird ihm grundsätzlich begegnet, obwohl man leicht zeigen kann, daß die Aufgabe der Dokumentation ebensowenig abschließbar ist wie die der Interpretation. Wer könnte übersehen, daß immer wieder neue Dokumente entdeckt werden, die dann auch die Interpretation beeinflussen? Welcher Forscher würde leugnen, daß auch die bekannten Dokumente immer wieder kritisch überprüft werden müssen, wie das soeben mit der Aufdeckung von Fälschungen in Beethovens Konversationsheften erneut bewiesen wurde? Unser Bild von der Vergangenheit ist auch in bezug auf die Quellen nicht statisch, sondern dynamisch. Die musikalischen und überhaupt die musikhistorischen Dokumente sind nicht endgültig entzifferbar, die dunkle Vergangenheit ist nicht abschließend erhellbar, und man wird nie ausrufen können: „So hat diese Philologie ein Ende". 3 3

K. Boehmer in Report of the eleventh congress Copenhagen, Vol. I, 169.

Zur Situation der Musikforschung

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Die Notwendigkeit der Quellenkunde ergibt sich schon aus dem Wesen der abendländischen Musik, deren einzigartiger Vorzug es ist, seit dem Mittelalter die durchgängige Schriftlichkeit der Kunstmusik entwickelt zu haben. Die Schriftlichkeit ermöglicht es, noch lebendige historische Musik auf richtige Überlieferung hin zu prüfen und vergessene, in den Archiven schlummernde Musik wiederzuerwecken. Von beiden Möglichkeiten macht die Musikwissenschaft vielfältigen Gebrauch. Aufgrund der immer vollständiger erfaßten, bis an die Gegenwart heranreichenden Quellen sucht sie das überlieferte Musikrepertoire nach Zeit, Ort, Autor, Gattung, Werk und Fassung zu bestimmen und den originalgetreuen Text einer immer größeren Auswahl von Werken festzustellen. Wenn dabei trotz langer Bemühungen ein ähnlicher Stand der Materialerschließung wie in den Literaturwissenschaften noch nicht erreicht worden ist, so vor allem, weil die Quellen der Musik vor dem 19. Jahrhundert größtenteils ungedruckt sind und meist nur in Stimmen und oft in veralteten Notenschriften vorliegen, die erst — nach ständig diskutierten Methoden — übertragen und in Partitur gesetzt werden müssen. Die Erschließung der übrigen musikhistorischen Quellen weist ebenfalls noch große Lücken auf, weniger bei den musiktheoretischen Schriften als bei den anderen schriftlichen Dokumenten und literarischen Zeugnissen sowie den bildlichen und figürlichen Darstellungen, die sich auf die Musik beziehen. Auch diese Quellen müssen in immer vollständigerer Auswahl und in authentischer Wiedergabe zugänglich gemacht oder in den Publikationen anderer Wissenschaften nachgewiesen werden. (Ein Repertoire International d'Iconographie Musicale ist geplant.) In ähnlicher Weise werden die übrigen erhalten gebliebenen Gegenstände, die Stätten und Baulichkeiten behandelt, die in der abendländischen Musikkultur eine Rolle gespielt haben, besonders die Musikinstrumente. Auch Schallaufnahmen können in bestimmter Weise als Quellen aufgefaßt werden. Die wichtigsten quellenerschließenden Unternehmungen sind z. Z. das vielbändige, alle früheren Versuche überbietende Repertoire International des Sources Musicales, das aufgrund weltweiter Zusammenarbeit in zwei westdeutschen Verlagen erscheint, und die Neubearbeitung oder erstmalige Erstellung der Gesamtausgaben der Werke von Bach, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Wagner und anderen Meistern — heute eine der international am meisten beachteten Tätigkeiten der Musikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland.4 Ausgehend von 4

Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft. 1978, Boppard 1976, 97.

Aufgaben und Finanzierung V, 1 9 7 6 -

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umfassender Ermittlung und Sichtung alles geschriebenen und gedruckten Materials (Autographen, signierten, korrigierten oder auf andere Weise beglaubigten Abschriften, autorisierten Erstausgaben, sonstigen frühen Ausgaben und Abschriften sowie der Hilfsquellen) werden die Fragen der Vollständigkeit, Systematik und Chronologie des jeweiligen Gesamtwerks, der Echtheit, Vorlagen, Skizzen, Originalgestalt, Fassungen und Varianten der Einzelwerke untersucht und die Ergebnisse in Partituren und Kritischen Berichten niedergelegt. Dabei gelangen die Editoren aufgrund ihrer Quellenforschungen in aller Regel zu Ergebnissen, die über das engere Editionsziel hinausführen und wesentlich den wissenschaftlichen Wert solcher Ausgaben bestimmen. Beispielhaft ist die neue Chronologie der Vokalwerke Bachs, die A. Dürr und G. v. Dadelsen aufgrund papier- und schriftkundlicher Befunde ermittelt haben. So ist das dem Editor adäquate Berufsbild nicht dasjenige eines Spezialisten für routinemäßige Editionstechnik, sondern schließt das Bild des Forschers notwendigerweise ein. Die von Seiten anderer Fächer entwickelten Vorstellungen über das Berufsbild des Editors berücksichtigen dies. Die Auswirkung ihrer Vorstellungen auch auf das Berufsbild des musikwissenschaftlichen Editors wäre zu begrüßen. Vielleicht würde sich dann auch dessen sozialer Status verbessern. Minimale Existenzsicherung, unbefriedigende Rechtsform des privaten Anstellungsverhältnisses, geringe Aufstiegschancen und zu enge Begrenzung des Arbeitsmarktes bei oft fehlender Verbindung zur Hochschule sind einige der Stichworte, die im allgemeinen die Unterprivilegierung dieses Berufsstandes kennzeichnen. Auch gleichwertige oder höhere Forschungsleistungen verschaffen dem Editor nicht den Schutz und die Fürsorge, die der Staat den Hochschullehrern aller Art gewährt. Im ganzen entsteht der Eindruck, daß manchmal mehr die musikwissenschaftliche Lehre als die musikwissenschaftliche Forschung honoriert wird und daß die zu geringe Einschätzung der materialerschließenden historischen Forschung zu entsprechend negativen forschungspolitischen Konsequenzen gefuhrt hat. Es ist eine praktische Wende zum Besseren eingetreten, indem für einige der musikhistorischen Editions- und Dokumentationsvorhaben, darunter die Denkmäler-Reihe Das Erbe deutscher Musik und das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, ein verwaltungsmäßiger Schwerpunkt bei der Konferenz der Akademien der Wissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland teilweise schon geschaffen worden, teilweise vorgesehen ist. Dieser Schwerpunkt wird langfristig wechselnde Vorhaben aber wohl nur dann dauernd ermöglichen und personell sicherstellen können, wenn die grundlegende und bleibende Bedeutung

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der musikhistorischen Quellenerschließung klarer erkannt wird, als es heute von mancher, auch fachlicher Seite noch der Fall ist. Es darf übrigens nicht der Eindruck entstehen, als sei die musikalische Quellenforschung die ausschließliche Domäne der genannten Stellen, die die größten dieser Vorhaben betreuen. Es gibt auch sonst eine stattliche Fülle von einschlägigen Publikationen. Neue hervorragende Leistungen sind z. B. die Gesamtausgabe der Mozart-Briefe, die Ausgabe der Bach-Dokumente, die Ausgabe des Meyerbeer-Briefwechsels und die beginnende Ausgabe der MendelssohnBriefe. Engstens mit der Quellenforschung verbunden sind auch die Dokumentar-Biographien, wie sie 0 . E. Deutsch mit Werken über Schubert, Händel und Mozart in die Musikwissenschaft eingeführt hat, und die chronologischen oder systematischen Werkverzeichnisse, unter denen der klassische Kochel in vielfach bearbeiteter Auflage vorliegt ; von ähnlichem Rang sind das Beethoven-Verzeichnis von G. Kinsky / H. Halm und der Haydn-Katalog von A. van Hoboken. Noch manche Standardwerke dieser und ähnlicher Art wären zu nennen. Sie fußen ihrerseits zum Teil wieder auf den in großer Zahl erscheinenden Spezialstudien über die dokumentierbaren Einzelheiten des Lebens und Schaffens der betreffenden Komponisten und über die Einfluß- und Rezeptionsgeschichte ihrer Werke. Nur am Rande sei vermerkt, daß die sich mehrenden Spezialstudien andererseits, rein technisch, die Voraussetzungen für zusammenfassende Arbeiten wieder erschweren, was sich namentlich darin auswirkt, daß eigentliche Biographien großen Stils, die an den letzten Stand der Forschung anknüpfen, nur selten geschrieben werden. Die Verfügbarmachung objektiv vorhandenen, aber nicht genügend akkumulierten Wissens ist ein schwieriges Organisationsproblem geworden. Auf schmalerer Quellenbasis wiederholen sich Forschungen solcher Art auch für weniger bekannte Komponisten. Daneben werden Untersuchungen über musikalische Gattungen, Formen, Stile, über musiktheoretische Begriffe, über historische Musikanschauungen, über musikalische Epochen und Schulen geschrieben, meist nicht als Gesamtdarstellungen, sondern als Beiträge zu diesen Themen, bis zur musikalischen Lokal- und Vereinsgeschichte. Ein gewisser Anteil an Irrelevanz, auf den von mancher Seite gern hingewiesen wird, ist in Kauf zu nehmen, denn die relevanten Ergebnisse überwiegen bei weitem, mögen sie auch Kritikern, die von der Musikwissenschaft nur letzte Wahrheiten über das Wesen der Musik erwarten, noch nicht bedeutsam genug erscheinen. Die Ergebnisse wirken auch über das Fach hinaus. Die Musikforschung hat vor allem durch ihre Editionen, Handbücher, Lexika, Enzyklopädien — alle überwiegend musikhistorisch orientiert — einen

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erheblichen Einfluß auf die Musikpraxis wie auf die musikalische Allgemeinbildung, z. B. durch das als Informationsvermittler mit an führender Stelle stehende Riemann-Musiklexikon, das in zwölfter, völlig neu bearbeiteter Auflage fünf Bände umfaßt, und durch F. Blumes sechzehnbändiges Werk Die Musik in Geschichte und Gegenwart, das unter Mitarbeit von über tausend Musikforschern aus der ganzen Welt entstand. „Historical Musicology" stellt in dem periodisch erscheinenden Répertoire International de Littérature Musicale gut die Hälfte aller Titel. Zählt man die in den übrigen Spalten (z. B. Music and Liturgy, Performance Practice and Notation, Reference and Research Materials) vorkommenden Titel, die die musikhistorische Forschung betreffen, hinzu, so fällt der Löwenanteil unter allen wissenschaftlich bemerkenswerten Publikationen über Musik (pro Jahr vier- bis fünftausend Bücher, Aufsätze und Rezensionen) auf die abendländische Musikgeschichte. Kritiker sprechen von „eingeschliffenen Gleisen", von „übermäßig entwickelter Musikgeschichtsforschung" oder möchten die Musikgeschichte auf eine regionale Disziplin „Euromusikologie", Richtung Kunstmusik, herabstufen, wenn nicht gar als „antiquarisch" abtun. Einige meinen, die heutige westliche Umgangs- oder Breitenmusik (Schlager, Rock-Musik usw.) sei für die Forschung ebenso wichtig wie die gehobene und hohe Kunstmusik der abendländischen Tradition oder die traditionelle Volksmusik. Solche Äußerungen des Unbehagens an der Kultur lassen sich nicht einfach ignorieren, dürfen aber auch nicht überschätzt werden. Sicherlich kann die vergleichende Betrachtung der Erzeugnisse der musikalischen Unterhaltungsindustrie aufschlußreich sein; manches darunter mag sich sogar als Kunst bewähren. Es stimmt auch, daß das Volkslied ein umstrittener Begriff geworden ist. Aber übersieht nicht der „wertfreie" ebenso wie der „anti-elitäre" Standpunkt etwas sehr Wichtiges? Mächtiger als Modeströmungen und parteiische Ansichten ist die Tradition. Wir haben es in der Musik mit Artefakten zu tun, die historisch sind oder es schnell werden. Ihr unterschiedlicher Wert - weit davon entfernt, in jedem Einzelfall erst bestimmt werden zu müssen - steht aufgrund objektiver Wirkungsgeschichte mehr oder weniger fest, ohne deshalb der Diskussion entzogen zu sein. Und das Musikverständnis — obzwar es einerseits auf „klassenspezifischer" Grundlage erwachsen mag - ist andererseits entwicklungsfähig und auf ein allgemeines Bildungsziel gerichtet, das aus den Resultaten eben jener Wirkungsgeschichte, nicht aber aus partikularer Ideologie hervorgeht. Ähnliches läßt sich zu dem abgemildert „wertfreien" Standpunkt sa-

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gen, wenn er vor dem „Heroenkult" der großen Meister warnt und ein verstärktes Eingehen auf die kleineren Komponisten mit ihren oft beachtlichen Ausnahmewerken fordert. Gewiß besteht die Aufgabe und der Reiz der Musikgeschichtsforschung gerade auch darin, die Bedeutung der einzelnen Komponisten klarer zu erkennen und differenzierter darzustellen. Trotzdem herrscht über den Bildungswert großer Musik unter denen, die sich mit ihr beschäftigen, ein Konsens, der durch ein immer neue Aspekte erschließendes, mehr und mehr auch andere Musik vergleichend einbeziehendes Studium im großen und ganzen nur vertieft wird, mögen sich auch über größere Zeiträume hin oder am Rande Wandlungen vollziehen, die dann selbst wieder historisch wirksam werden, wofür die seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmende Popularität der Werke Bachs und der Barockmusik überhaupt das Paradigma darstellt. Die musikhistorische Forschung wird von ihren Kritikern wohlwollender beurteilt, wenn sie sich nicht so sehr mit dem Wechsel individueller Ereignisse, als vielmehr in diachroner Perspektive mit Strukturen befaßt und unter idealtypischen Gesichtspunkten Fragen stellt wie nach den bleibenden Erscheinungen des musikalischen Rhythmus oder der Melodiebildung, nach den Grundlagen des musikalischen Schaffens, nach dem Verhältnis von Komposition und Improvisation, von Wort und Ton, von Gattung und Einzelwerk, von konstitutiven und ornamentalen Kompositionselementen, von Komponist und Publikum, von Musik und Gesellschaft usw. So wünschenswert die Förderung systematischer Fragestellungen ist, so sollte sie doch nicht dahin fuhren, daß zu ihrer Behandlung thematisch festgelegte Planstellen, wie sie jüngst für musikalische Sozialgeschichte vorgeschlagen worden sind, geschaffen werden. Eine freie Behandlung dieser wie jeder Strukturfrage im Rahmen der Musikgeschichte wird den vielfältigen Möglichkeiten systematischen Forschens besser gerecht und unterliegt weniger den Gefahren der Spezialisierung und der Ideologisierung, für die besonders das unklare Suchen nach einem „soziologischen Konzept von Musikwissenschaft" anfällig ist, das denn auch vereinzelt in schlichter marxistischer Doktrin mündet. Ein anderer Punkt der Kritik ist die Beschränkung der musikgeschichtlichen Perspektive auf das Abendland. Auch außereuropäische Völker, heißt es, haben eine Geschichte und mindestens zu einem gewissen Grade eine Musikgeschichte, mag diese auch oft nicht oder nur sehr unsicher zu rekonstruieren sein. Ihre Musik habe eigenständigen Wert und dürfe nicht nur als Vergleichsmaterial für europäische Musik dienen. Es wird beklagt, daß die Musikethnologie, der zweite Zweig der

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Musikwissenschaft, weit weniger als die abendländische Musikgeschichte entwickelt ist, und unter Berufung auf wissenschaftliche Vorurteilslosigkeit wird verlangt, daß wir diesen Zustand bessern und uns den musikalischen Erscheinungen aller Kulturen in gleichem Maße zuwenden sollen. Die Musikethnologie (musikalische Volks- und Völkerkunde, englisch Ethnomusicology) sucht dieser Aufgabe gerecht zu werden, indem sie die rezenten schriftlosen Musiktraditionen in und außerhalb Europas und die historische Musik der orientalischen Hochkulturen einschließlich der Zeugnisse der Musik untergegangener Kulturen zu ihrem Gegenstand wählt. Die zur Verfugung stehenden Quellenarten sind nur teilweise die gleichen wie bei der abendländischen Musikgeschichte. Hauptquellen sind Schallaufnahmen ursprünglich nicht notierter Musik. Hier offenbart sich bereits ein Hindernis, das den geringeren Entwicklungsstand dieser Forschungsrichtung gegenüber der abendländischen Musikgeschichte verständlich erscheinen läßt. Denn die Transkription der Phonogramme in Notenschrift ist wegen der Verschiedenheit jeder aufgezeichneten Aufführung des gleichen Stücks und wegen der oft bestehenden Ungewißheit über das jeweils zugrundeliegende musikalische Kategoriensystem mit Problemen behaftet, wie sie so in der abendländischen Musikforschung nicht vorkommen. (Dort ist umgekehrt die Rekonstruktion des historischen Klangs der notiert überlieferten Musik problematisch.) Dem Musikethnologen müssen sich die jeweils gültigen musikalischen Kategorien also erst durch Einübung in die betreffende Musikpraxis und durch Studium der eventuell vorhandenen Musiktheorie erschließen. Er muß mit Sprache, Sitten und Gebräuchen der fremden Kultur vertraut werden, sich dabei an die Erkenntnisse der Orientalistik, Indologie, Sinologie usw. anlehnen und die Methoden der Ethnologie, Anthropologie, orientalischen Archäologie usw. anwenden. Angesichts der Vielzahl fremder Musikkulturen ist das alles eine immer nur fallweise zu lösende Aufgabe, so daß von Einheitlichkeit der Forschungsrichtung in gleichem Maße, wie sie bei der mit dem europäischen Kulturraum befaßten Musikgeschichte besteht (außer wenn sie sich mit archaischen Sondertraditionen befaßt), nicht die Rede sein kann. Ob die Schwierigkeiten am ehesten durch zunehmende Spezialisierung und Erweiterung unserer Forschungskapazität oder durch Ausbildung autochthoner Musikforscher behoben werden, ist eine offene Frage. Bei der ersten Lösung dürfte vielleicht nicht in jedem Fall das Ergebnis den Aufwand rechtfertigen. Der zweiten Lösung steht der Mangel an theoretischem und historischem Bewußtsein in manchen Musikkulturen entgegen. So findet der kosmopolitische Standpunkt reale Grenzen, die einstweilen noch am ehesten auf dem Weg internationaler

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Arbeitsteilung unter den westlichen Musikforschern überwunden werden. Trotz der Ungleichheit der Voraussetzungen und Gegebenheiten kann aber die Einheit von abendländischer Musikforschung und Musikethnologie sowenig wie das Postulat eines systematischen Musikbegriffs preisgegeben werden. Einen solchen Musikbegriff hat die Musikethnologie in ihren Anfängen gesucht, als sie unter dem Namen „Vergleichende Musikwissenschaft" auf die Erkenntnis von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet war, bis sie merkte, daß vom Museum und Schreibtisch aus keine gültigen Einsichten zu gewinnen waren. Seitdem hat sie sich oft damit begnügt, Feldforschung zu betreiben und die individuellen Phänomene in den jeweils unterschiedlichen kulturellen Zusammenhang einzuordnen. Damit muß es aber nicht sein Bewenden haben. Mit Recht wird daraufhingewiesen, daß die vergleichende Methode unter gewandelten Voraussetzungen sehr wohl wiederbelebt werden kann. Es wird speziell vorgeschlagen, nicht nur musikgeschichtliche Betrachtungsweisen auf die Musik fremder Kulturen, sondern auch umgekehrt musikethnologische auf die abendländische Musikgeschichte anzuwenden. Durch wechselseitige Durchdringung könnte so eine neue vergleichende Musikwissenschaft zustande kommen, als Dialog, den Musikhistoriker mit Musikforschern fremder Kulturen über Fragen führen würden, die beide gemeinsam zu formulieren in der Lage sind. Die Synthese der gefundenen Erkenntnisse würde vielleicht auch Antworten auf Grundfragen von der Art: „Inwieweit hat die Musik eine allgemeine Natur oder Physis?" (W. Wiora)5 oder „Was ist eine Musiksprache?" (O. Kinkeldey) 6 ermöglichen und schließlich in eine systematische Theorie und universale Geschichte der Musik übergehen, die, beide in Wechselwirkung miteinander verbunden, das ideale Ziel musikwissenschaftlichen Forschens darstellen. Die Gegenwart ist von solcher Integration der Erkenntnisse weit entfernt. Die Integration wird manchmal sogar ausdrücklich abgelehnt, weil sie zu Lasten nicht integrierbarer Fragestellungen gehe. Dadurch kann der Eindruck entstehen, als strebe die Musikwissenschaft danach, ihren Gegenstandsbereich beliebig auszuweiten. Ein Systematiker des Fachs stellte 1973 fest: „Man kann die Musikwissenschaft als ein Konglomerat von Spezialfächern bezeichnen, die im Endresultat kein

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International Musicological Society. 1961, Vol. II, Kassel 1962, 159. A.a.O., 157.

Report of the eighth congress New York

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Ganzes ergeben, aus dem sich die einzelnen Disziplinen ableiten ließen." 7 Wenn diese Feststellung den jetzigen Zustand umschreibt, dann wäre eine Verstärkung der zentrifugalen Kräfte, ein weiteres Drängen zur Peripherie hin kaum angebracht und eine Besinnung auf den zentralen Gegenstand des Fachs wohl nötig. In dieser Situation ist es heilsam, sich auch als Musikwissenschaftler die Kritik, die R. Jakobson 1921 an der damaligen Literaturwissenschaft geübt hat, vor Augen zu halten: „Den Gegenstand der Literaturwissenschaft bildet nicht die Literatur, sondern das Literarische, das heißt: das, was das vorliegende Werk zu einem Werk der Literatur macht. Indessen verhielten sich die Literarhistoriker bisher meistens wie die Polizei, welche, in der Absicht, eine bestimmte Person zu verhaften, auf alle Fälle sämtliche Leute festnimmt, die sich in der Wohnung aufhalten - und noch einige Straßenpassanten dazu. In ähnlicher Weise konsumierten die Literarhistoriker alles, was ihnen zwischen die Finger kam: das Milieu, die Psychologie, die Politik, die Philosophie. Statt einer Wissenschaft von der Literatur entstand ein Konglomerat hausgemachter Disziplinen. Man vergaß gleichsam, daß diese Fächer selbständige Wissenschaften darstellen: die Philosophiegeschichte, die Kulturgeschichte, die Psychologie usw.; man vergaß, daß diese letzteren natürlich auch Denkmäler der Literatur zu nutzen vermögen: als defekte Dokumente zweiten Ranges." 8 Den Kern musikwissenschaftlicher Forschung — und das stimmt mit Jakobsons Blickrichtung überein — bildet seit langem die Innenbetrachtung der Musik, also die Betrachtung der sich primär der Gehörsvorstellung erschließenden musikalischen Praxis: des Schaffens, Ausübens und Verstehens von Musik, mit dem Ziel einer spezifischen Kunstwissenschaft. Damit ist allerdings - und das geht über Jakobsons Standpunkt hinaus — immer schon die Außenbetrachtung verbunden, die den vor allem sieht- und greifbaren Erscheinungen des Musiklebens gilt: also den Personen, Gruppen und Einrichtungen, die das Musikleben tragen, den Veranstaltungen und Orten, in und an denen es sich abspielt, und den Dingen, die im Musikleben gebraucht werden. Insofern ist die Musikwissenschaft auch eine spezifische Kulturwissenschaft. Musik und Musikleben sind ihrerseits wieder in größere Zusammenhänge eingebettet. Die Musik als Kunst ist mannigfach mit anderen Künsten, wie Dichtung, Theater, Tanz, verbunden. Vielseitig sind vor allem die Erscheinungen des Musiklebens mit anderen Kulturerschei7 8

O. Elschek in Acta Musicologica 45 (1973), 18. Nach B. Eiehenbaum, Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Frankfurt 1965. 14.

Literatur,

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nungen verknüpft; z. B. hängen die geschriebenen und gedruckten Noten über Papier, Schrift und Druck mit den historischen Gewerben der Papiermacher, Kopisten und Notenstecher zusammen. Es kommt hinzu, daß die Musik sowohl hinsichtlich ihrer inneren wie äußeren Aspekte auch Widerhall und Darstellung in anderen Künsten, vor allem in bildender Kunst und Literatur findet. Auch diese Verflechtungen zieht die Musikwissenschaft in Betracht — obwohl dies dem von Jakobson kritisierten Verfahren schon nahekommt — indem sie musikalische Befunde ermittelt, die als Nebensachen in verwandten Kunst- und Kulturwissenschaften vorkommen, und sie ihrem eigenen Bereich einordnet und indem sie bestrebt ist, Befunde aus verwandten Wissensbereichen, die sie als Nebensachen in ihrem eigenen Bereich antrifft, nach dem Erkenntnisstand jener Wissenschaften zu behandeln. Das macht oft nebenfachliche Forschung, manchmal interdisziplinäre Zusammenarbeit mehrerer Forscher nötig, ohne daß die Fachgrenzen hierdurch aufgehoben würden. Forschungen auf dem eigenen oder einem fremden Gebiet bleiben prinzipiell unterscheidbar; ebenso ist der Unterschied zwischen eigener Forschung und Anwendung oder auch bloß Vermittlung fremdfachlicher Forschung nicht zu verwischen. Allerdings dürften Abgrenzungsfragen nicht allzu gravierend sein, solange das gemeinsame Terrain der historischen Fächer nicht verlassen wird. Dringlicher stellen sich solche Fragen, wenn die Musikwissenschaft die der Musik zugrunde liegenden Naturtatsachen oder das Musikerlebnis heutiger Individuen und deren Teilnahme am Musikleben empirisch experimentell untersuchen will. Hier steht nicht wissenschaftlich zur Diskussion, welcher Art die Erkenntnisse sind, zu denen solche Untersuchungen fuhren. Unsere wissenschaftstheoretische und vor allem forschungspolitische Frage lautet vielmehr: Fallen solche Untersuchungen in das Gebiet der Musikforschung? Im offiziellen Selbstverständnis der Musikwissenschaft wird die Frage bejaht: Die „systematische" Musikwissenschaft sei dafür zuständig, vor allem für die Lehren vom Klang, von seiner Wahrnehmung durch das Ohr, von der Struktur der Tonempfindung und von den elementaren Verhaltensmustern beim Erleben von Musik. Dementsprechend entlehnen manche Verfasser von Einführungen in das Fach einen großen Teil des dargestellten Wissens von der Physik, Physiologie und Psychologie. Durch die Einrichtung von akustischen Abteilungen an einzelnen musikwissenschaftlichen Universitätsinstituten und durch die entsprechende Ausgestaltung des einzigen großen außeruniversitären staatlichen Instituts für Musikforschung in Deutschland, hat man dem Mangel an eigener Forschung auf diesen Gebieten abzuhelfen gesucht. Den vor-

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läufigen Höhepunkt der naturwissenschaftlich objektivistischen Strömung im Bereich der Musik zeigen die Berichte von dem Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique in Paris an (Direktor: Pierre Boulez). Ein Seitenzweig solcher Interessen ist die quantitative, statistische Musikanalyse, die sich bei uns hauptsächlich mit dem Namen des Physikers W. Fucks verbindet und wohl nur interdisziplinär weiterentwickelt werden kann. Zur Rechtfertigung der naturwissenschaftlichen Aufgaben des Fachs wird geltend gemacht, daß die Musikwissenschaft ursprünglich keine historische, sondern eine mathematische Wissenschaft von den Intervallproportionen, dem Skalenaufbau und den Stimmungen war. Das ist nicht zu bezweifeln. Aber nachdem die antike und mittelalterliche Theorie, mag sie auch heute gelegentlich spekulativ weitergeführt werden, nicht mehr den ursprünglichen Rang eines Organons ontologischer Erkenntnis einnimmt, sondern in wissenschaftlicher Sicht zunächst nur zur Erklärung der historischen Voraussetzungen der abendländischen Musik beiträgt, ist die Frage ihres übergeschichtlichen Gehalts von vergleichender Musikwissenschaft urd in der Tat auch von Naturwissenschaften zu prüfen, nicht unbedingt jedoch von der „systematischen" Musikwissenschaft. Die Kompetenz für die naturwissenschaftliche Klangforschung ist im Lauf der letzten dreihundert Jahre der Physik zugefallen, die seit dem 17. Jahrhundert zuerst die mechanische Akustik, dann die Elektroakustik entwickelt hat. Elektroakustiker haben z. B. Geräte erfunden, mit denen sich die akustischen Eigenschaften von Musikinstrumenten, von Musikauffuhrungen und von Räumen, die zu Musikaufflihrungen dienen, messen lassen. Musikwissenschaftler, die sich die nötigen elektroakustischen Kenntnisse aneignen, können mit diesen Geräten weitere solche Messungen vornehmen. Ob sie musikalisch relevant sind, ist eine andere Frage. Selbst eine so naheliegende Untersuchung wie die Tonmessung an exotischen Musikinstrumenten durch die ältere „vergleichende" Musikwissenschaft, die auf diese Weise und durch Errechnung von Mittelwerten die jeweils zugrundeliegenden Tonsysteme konstruieren wollte, ist nicht unumstritten. Es scheint, daß nur das physikalische Substrat der Musik streng nomologischen Verfahren zugänglich ist, während die Deutung musikalischer Phänomene mehr oder weniger von Funktion und Kontext abhängt. Die neuere physikalische, anatomische, physiologische und psychologische Erklärung der Geräusch-, Ton-, Klang- und Intervallempfindung wird grundlegend ebenfalls von den betreffenden Wissenschaften geleistet. Diese Sachlage spiegelt sich in den Literaturverzeichnissen von Arbeiten entsprechend orientierter Musikwissenschaftler wider. Ihre Ar-

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beiten erscheinen auch nur in sehr geringer Zahl in den Organen z. B. der Akustik oder Physiologie. Umgekehrt scheinen Arbeiten der Akustiker und Physiologen in musikwissenschaftlichen Publikationen für bestimmte Themen unersetzlich zu sein. Auch der Anspruch auf Zuständigkeit für experimentelle Methoden der Psychologie und Soziologie, wie ihn die „systematische" Musikwissenschaft erhebt, ist nicht unbestreitbar. Fällt nicht die Beobachtung und Befragung von Versuchspersonen in bezug auf experimentell hervorgerufene Klangreize oder Musikerlebnisse (unterschieden von deren phänomenologischer Betrachtung) in das große Gebiet der Psychologie? Wenn z.B. durch Befragungen anhand „semantischer Differentiale" oder „Polaritätsprofile" (nach den Methoden der Psychologen Osgood und Hofstätter) rein affektive oder andere außerästhetische Wirkungen von Musikstücken, etwa für Zwecke der Musiktherapie, untersucht werden, so bedarf es dazu der Beherrschung psychologischer und statistischer Verfahren, aber keiner über die Allgemeinbildung hinausgehenden musikwissenschaftlichen Kenntnisse. Über die Musik als Kunst haben solche Befragungen aber schwerlich etwas Verbindliches ermitteln können; sie sagen in dieser Hinsicht allenfalls etwas über die musikalischen Kenntnisse und Fähigkeiten der an dem Experiment beteiligten Personen aus. Die Beobachtung und Befragung von repräsentativen Bevölkerungsquerschnitten, auch in bezug auf das Musikleben, ist wohl ebenso eindeutig Sache der alle Gebiete des Lebens umfassenden empirischen Sozialforschung. Wohin es führen kann, wenn Musikwissenschaftler statt Sozialgeschichte der Musik Musiksoziologie im Sinne empirischer Tests betreiben wollen, dafür ist ein Buch mit dem Titel Musik und Sozialstruktur. Theoretische Rahmenstudie und Forschungspläne, bezeichnend, das 1974 als Veröffentlichung des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, Berlin, erschienen ist: Es entstand an der Forschungsstelle der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg. So nähern wir uns am Schluß dem Standpunkt von Jakobsen wieder an. Nicht alles, auf was die Musik in irgendeiner Weise Einfluß hat oder was von ihr in irgendeiner Weise beeinflußt wird, ist Gegenstand der Musikwissenschaft. Untersuchungen, die nach Stoff und Methode in die Bereiche anderer Wissenschaften fallen, scheiden aus der eigentlichen Zuständigkeit des Fachs aus und gehören, sofern die Ergebnisse die Musikwissenschaft interessieren, allenfalls zu deren Hilfsfächern. Nicht dadurch, daß sie solche Wissenschaften ausschnitthaft institutionalisiert, entwickelt sich die Musikwissenschaft weiter. Sie legitimiert

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u n d entwickelt sich nach wie vor nur durch k o m p e t e n t e Erforschung ihres spezifischen, durch Geschichte u n d Kultur ihr vorgegebenen Gegenstands. In diesem k o n k r e t e n Sinne bleibt sie trotz immerer u n d äußerer A n f e c h t u n g e n in erster Linie eine Geisteswissenschaft.

Hermann Lübbe (Zürich)

Über den Grund unseres Interesses an historischen Gegenständen Kulturelle und politische Funktionen der historischen Geisteswissenschaften Die Wissenschaften sehen sich wie nie zuvor in Relevanznachweispflicht genommen. Zur Erklärung dieses Faktums genügt zunächst der Hinweis auf die vordergründige, aber harte Tatsache einer beispiellosen Expansion der öffentlichen Wissenschaftshaushalte seit Beginn der sechziger Jahre. Die staatlichen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sind in diesem Zeitraum prozentual rascher als alle anderen Staatsausgaben gestiegen. Das macht heute das Verlangen nach härterer Begründung von Anforderungen an öffentliche Kassen, dem sich die Instanzen der Wissenschaft heute ausgesetzt sehen, billig und unabweisbar. Wie erbringt man bei Anträgen auf Wissenschaftsförderung den fälligen Nötigkeitsnachweis? In der Beantwortung dieser entscheidenden Frage zeigt sich bekanntlich der unterschiedliche institutionelle, wirtschaftliche und kulturelle Status unserer Wissenschaften besonders deutlich. Die Vertreter der historischen Geisteswissenschaften sind es gewohnt, daß ihnen das schöne und wirkungsvolle Nutzbarkeitsargument anwendungsfähiger theoretischer Wissenschaften nicht zur Verfügung steht, und es ist oder war doch ein Teil ihres Selbstgefühls, für Zwecke da zu sein, deren Förderung sich nicht nach Analogie lohnender Investitionen rechtfertigen läßt. Der Vorwurf, für die Besonderheit dieser Zwecke blind zu sein, wäre der Vorwurf einer Kulturdefizienz, und gegen unsere Wissenschaftspolitik kann diesen Vorwurf nach Maßgabe dessen, was den Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zugute gekommen ist, niemand erheben. Auch die Geisteswissenschaften haben an der allgemeinen Förderung der Wissenschaften und an der expansiven Entwicklung ihrer Einrichtungen durchaus teilgehabt. Das gilt zumal für die euphorischen frühen Jahre unserer Universitätspolitik, und nie zuvor sind, beispielsweise, in so kurzer Zeit so viele Professuren auch für geisteswissenschaftliche Disziplinen neu geschaffen worden wie in Verwirklichung der ersten Empfehlungen des Deutschen Wissen-

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schaftsrats vom Jahre 1960. Man versteht sogar jenen prominenten Industriemann aus der Familie des einzigen Nobelpreisträgers unter den deutschen Historikern, der damals, mit einigem Mißverstand, klagte, an unseren Hochschulen wären Forscher, die professionell mit der Vergangenheit sich zu beschäftigen haben, inzwischen nach Hundertschaften abzählbar, während für Futurologen noch kein einziger Lehrstuhl ausgebracht sei. Im Rückblick muß man sagen, daß die Stellenvermehrung auch in den Geisteswissenschaften zeitweise sogar zu rasch geschah — mit der wichtigsten Folge einer massenhaften Besetzung von Dienstposten mit jungen Forschern, die jetzt, wo die Personalhaushalte stagnieren, dem noch jüngeren Nachwuchs für lange Jahre die Karriereausschichten verderben. Das Heisenberg-Programm soll bekanntlich diesen Schaden kompensieren. Kurz: auch die historischen Geisteswissenschaften genossen in den vergangenen Jahren durchaus die Gunst ihrer Förderung durch den Staat oder durch staatlich finanzierte Förderungsorganisationen, und die privaten Stiftungen boten überaus wertvolle Ergänzungshilfen. Maßnahmen der staatlichen Wissenschaftsadministration sind es also nicht, über die sich der Eindruck verbreitet hat, die Einsicht in den Sinn einer öffentlichen Kultur unseres Verhältnisses zur Vergangenheit schwinde. Die Weigerung, dieser Kultur historistischer Tradition noch „gesellschaftliche Relevanz" zuzuerkennen, ist von ganz anderen Kräften und Instanzen erklärt worden. Die Dekultivierung des historischen Bewußtseins fand zuerst im Milieu unserer akademischen Kulturrevolution statt. Es ist die Herausforderung dieser Revolution, die dann unsere Historiker dutzendfach zum Thema „Wozu noch Historie?" sich äußern ließ und entsprechend auch unsere Philosophen, während analoge Titel über Arbeiten von Soziologen oder Politikwissenschaftlern nicht zu lesen waren. Die akademische Kulturrevolution begann vor zehn Jahren. Die mit ihr verbundene Orientierungskrise hat sich seither durch viele öffentliche Einrichtungen bis in die Politik hinein durchgefressen. Die Generation, der Ende der sechziger Jahre die neomarxistische Anweisung auf eine ganz andere Zukunft ein intellektuelles und moralisches Erwekkungserlebnis bereitete, lehrt heute in Schulen und Volkshochschulen, redigiert Rundfunkprogramme und Parteitagsresolutionen. Sie sitzt auch in ministeriellen Beratergremien und ist in Referentenpositionen gelangt. Der kultur- und wissenschaftspolitische Einfluß der zukunftsflüchtigen Intelligenz war, regional differenziert, zeitweise erheblich, und es ließe sich historisch erklären, wieso in unserem System die geistige und politische Potenz des direkten und entschiedenen Widerspruchs gegen die Sprüche dieser Intelligenz über Jahre hin auffällig schwach blieb. So wurde es möglich, daß schließlich sogar Kultusmini-

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ster sich nicht mehr gehemmt fanden, drucken zu lassen, „daß die Beschäftigung mit Geschichte sich durch einen Nachweis ihrer Beziehung zu den jeweils relevanten politisch-gesellschaftlichen Problemen" der Gegenwart „legitimieren" müsse. Das ist der Ausdruck behördlichen Respekts vor der progressiven pädagogischen Theorie, einzig „durch Verlängerung in die aktuellen Entscheidungsprozesse" sei die Zuwendung zur Vergangenheit „didaktisch" sinnvoll. In der Konsequenz solcher Sätze wurde dann die berühmte Hessische Rahmenrichtlinienpolitik exekutiert, die als eine Denkwürdigkeit in unsere Schul- und Kulturgeschichte eingehen wird. Historische Museen wurden eingerichtet, die auf Besucher wie eine revolutionsdidaktische Seminarveranstaltung wirkten, und selbst auf Historiker-Kongressen sah man jüngere Professoren ihrer Intellektuellen-Pflicht zur einschlägigen Zeitgeistverstärkung genügen. Als Universallegitimation für diese Vorgänge fungierte eine bedeutende Philosophie, die in ihrer Parallelisierung von Wissenschaftsorten und Erkenntnisinteressen die historisch-hermeneutischen Disziplinen auf ein „praktisches Erkenntnisinteresse" bezog, nämlich auf das Interesse der Herstellung von „Konsensus" Handelnder „im Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses". Was immer diese Anweisung der Historie aufs Interesse der Praxis des näheren heißen soll —: sie entzieht dem historischen Interesse historistischer Tradition den Boden. Ein ikonoklastischer Fanatismus gegen das emanzipatorisch Irrelevante verbreitete sich, und Resignation unter Gelehrten, die unter solchen Bedingungen studentisches Interesse für die philosophiehistorische Metaphorologie der nackten Wahrheit oder für römische Sarkophage wecken sollten. Diese Resignation liegt über vielen der zahllosen Schriften zur „Krise des Geschichtsbewußtseins", die in den vergangenen Jahren erschienen. Unsere akademischen Zustände sind gewiß nicht der einzige Grund dieser Krisenliteratur. Aber die Erfahrung eines kulturellen Zerfalls des Geschichtsinteresses bezog sich vor allem auf diese Zustände. Indessen: das enthistorisierende Verlangen nach praktischer Relevanz, das die akademischen Massen auch den Geisteswissenschaften gegenüber ergriffen hatte und das bis in die Gegenwart hinein nachwirkt, korreliert mit kulturellen Erscheinungen durchaus gegenläufiger Art. Die erwähnte hessische ministerielle Liquidation des selbständigen Geschichtsunterrichts zu Gunsten einer „Gesellschaftslehre", die auf historisches Wissen selektiv nach Gesichtspunkten seiner emanzipatorischen Dienstbarkeit rekurriert, blieb ja nicht ohne Antwort. Der Elternprotest gegen die kulturrevolutionäre Enthistorisierung unserer Schulbildung wurde sogar wahlwirksam, und der verantwortliche Minister amtiert nicht mehr.

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Unsere kulturhistorischen Museen haben eine Attraktivität gewonnen, die sich mit der Anziehungskraft zoologischer Gärten durchaus vergleichen läßt, und es ist mit Sicherheit nicht der Wunsch, Anleitung für den Marsch in die Zukunft zu gewinnen, die die Kölner in Scharen zu den Relikten der römischen Vergangenheit ihrer Stadt treibt. Die Wellen der Nostalgie sind gewiß modisch bewegt, und ein blühender Markt hat sich darauf eingestellt. Aber das Interesse, Vergangenes als solches gegenwärtig zu halten, ist älter als diese Mode, nämlich so alt wie der Fortschritt; der Historismus gehört zur modernen Gesellschaft als das Komplement ihrer Modernität. Das Museum als Ort der öffentlichen Gegenwart dessen, was historisch geworden, nämlich in seinen früheren Funktionen in aktuellen Systemen nicht mehr friktionslos verwendungsfähig ist, hat seine private Entsprechung in der Zugehörigkeit von Altertümern zum Ambiente Gebildeter. Elemente ihrer Bildung sind über Volksbildung längst Allgemeingut geworden, und die Erhebung abgelegter Gebrauchsgegenstände in den Adelstand marktfähiger Antiquitäten verläuft exponentiell. Ein Interesse für eigene und fremde Vergangenheit, dessen Praxisbezug durchaus dunkel ist, meldet sich in den Massen ganz ungebrochen, die auf der Akropolis in Athen, ja vor der Porta Nigra in Trier den Sight-Seeing-Bussen entsteigen. Einige Intelligenz mokiert sich darüber, aber zu Unrecht. Der Geist, der diesen Andrang führt, ist Geist vom Geist der historischen Kultur, die zur modernen Zivilisation gehört, und differenziert sind nur die Grade der akademischen und wissenschaftlichen Disziplin dieses Geistes. Auch die Sachbücherkonjunktur lebt ersichtlich nicht allein von der Notwendigkeit, für Lebensbewältigungszwecke sich fortzubilden. Das erste deutsche Nachkriegsexempel der literatursoziologischen Bestseller-Gattung war ein Buch populärer Archäologie, und ähnlich erfolgsträchtig sind heute Historien über Phönizier und Römer, ja über alte Germanen und Kelten. Asterix ist davon die gemeineuropäisch erfolgreiche Comic-Version. Es ist durchaus richtig, diese Erscheinungen als kulturelle Epiphänomene unserer von Soziologen so genannten nivellierten Mittelstandsgesellschaft anzusehen. „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft" —: Progressive schätzen diesen Begriff nicht, weil er die bürgerliche Klassenherrschaft verschleiere. Das kann hier auf sich beruhen. Meßbar bleibt, daß unsere Gesellschaft nicht pyramidenförmig gebaut ist — schmale Spitze, breite Basis - , vielmehr die Gestalt einer Zwiebel hat: mehr als zwei Drittel der Bürger befinden sich in deren schichtentheoretisch entdifferenzierter Mitte. Es ist wahr, daß in Gesellschaften dieser Struktur bei anwachsender sozialer Mobilität die Geltung der Oberschichtenstandards sich abschwächt und die kulturellen, moralischen und sozialen Orientierungen sich gegen eine Mittellage hin nivellieren. Nostalgische

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intellektuelle Marxisten verachten dieses nivellierte Kulturmilieu als „spätbürgerlich", womöglich als „kleinbürgerlich", und sie kultivieren stattdessen die Vision eines Proletkults. Aber das ist eine Reminiszenz an ein ephemeres Intellektuellen-Konstrukt, während in der historischen Realität von den Arbeiterbildungsvereinen des neunzehnten Jahrhunderts bis zu den Ruhr-Festspielen heute die Dominanz bürgerlicher Kulturtradition im Resultat ungebrochen blieb. Der Historismus ist ein integrales Element dieser Tradition, und er gehört damit zu den Verbindlichkeiten, deren inzwischen erreichte Massengeltung gerade das Spezifische unseres gegenwärtigen kulturellen juste milieu ausmacht. Es wäre ein schwerwiegendes Mißverständnis anzunehmen, mit diesem Milieu sei eine Absenkung des Niveaus unserer Ansprüche an kulturelle Leistungen verbunden. In gewisser Weise ist das Gegenteil der Fall. Die Zwänge weltweiter Publizität und Vergleichbarkeit haben überall das Erwartungsniveau angehoben. Die Leistungen der Solisten, der großen Orchester und Künstler, die Leistungen auch in der Kunst der Exposition entsprechen dem, und auch in den Wissenschaften sind diese Zwänge wirksam. So gilt auch für die historischen Wissenschaften, daß sie in ihrer sammelnden, dokumentierenden, editorischen und präsentierenden Tätigkeit Maßstäbe der Perfektion und Vollständigkeit folgen wie nie zuvor, und dem geschilderten kulturellen Historismus des Publikums entspricht, insoweit, auch eine Blüte der historischen Wissenschaften. Eklatante materielle und organisatorische Mängel, unter denen die Praxis dieser Wissenschaften in vielen Bereichen leidet, verstehen sich in Relation zu gestiegenen Erwartungen und gehobenen Leistungsansprüchen. Von einer allgemeinen Krise unserer historischen Kultur kann keine Rede sein. Anmerkungsweise füge ich noch hinzu, daß ich das Wort „Historismus" nicht als Namen für eine spezifisch deutsche Epoche in der Geschichte der Geschichtswissenschaften verwende, vielmehr als Kennzeichnung der kulturellen Funktion, die generell im System unserer dynamisch sich entwickelnden Zivilisation vom historischen Bewußtsein erfüllt wird. Selbstverständlich ist auch der deutsche Historismus — was immer ihn sonst noch charakterisieren mag — auf diese generell zur modernen Gesellschaft gehörende kulturelle Funktion des historischen Bewußtseins bezogen. Von dieser Lage müssen auch die Begründungen für eine Verbesserung der materiellen und organisatorischen Voraussetzungen dieser Kultur ausgehen. Versuche, in der Erfüllung der heute den Wissenschaften unabweisbar angesonnenen Relevanznachweispflichten die historischen Wissenschaften zu „praktischen" Wissenschaften zu erheben, stehen im Widerspruch zur Natur des Interesses an der Gegenwart der Vergangen-

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heit, wie es vom exoterischen Bürgerwillen, der heute die Restauration von Altstadtfassaden fordert, bis zur Esoterik historischer Forschungen zur Geschichte des Begriffs der Naturgeschichte zu unserer modernen Gesellschaft gehört. Wer die Zuwendung zur Vergangenheit durch deren „Verlängerung in die aktuellen Entscheidungsprozesse" rechtfertigen möchte, muß konsequenterweise Publikum und Wissenschaft politpädagogischer Schulung unterwerfen, und die ideologische Penetranz der erwähnten Hessischen Rahmenrichtlinien und anderer analoger Dokumente entspricht dem. Die Reduktion des Geschichtsinteresses auf ein „praktisches Erkenntnisinteresse" wird der Realität unserer historischen Kultur nicht gerecht, und für unsere Kulturpolitik müßte es auf die Dauer schwerwiegende destruktive Folgen haben, wenn „Praxis" als Legitimationsinstanz für Historie dominante Geltung gewänne. Deswegen waren die ideologiepolitischen Auseinandersetzungen im Kontext der geschichtswissenschaftstheoretischen Grundlagenerörterungen in den vergangenen Jahren von großer kulturpolitischer Wichtigkeit, und im Rückblick können wir mit Genugtuung feststellen, daß das Geschieh tsinteresse, wie es sich in unserer historischen Kultur exoterisch und esoterisch frei von politischer Dienstverpflichtung wirklich betätigt, rehabilitiert worden ist. Es ist keineswegs leicht, die Natur unseres Interesses an historischen Gegenständen explizit zu machen. Dazu gehört eine ganze Philosophie, und eine Renaissance der Philosophie der Historie hat sich in den letzten Jahren ereignet. Auf Resümees dieser Philosophie ist heute auch die Kulturpolitik angewiesen. Sie braucht sie zur Selbstverständigung über den praktischen Sinn der öffentlichen Förderung eines Geschichtsinteresses, das nicht praktisch ist; sie braucht sie zur Ausbildung von Resistenzen gegen die kulturrevolutionäre Zumutung, die guten Zwecke der Emanzipation zum Kriterium der Förderungswürdigkeit historischer Kultur erheben zu sollen. Also: was ist der Grund unseres Interesses an historischen Gegenständen? Historiker, die uns mit der Natur historischer Gegenstände bekanntmachen wollen, schätzen als Exempel, die dafür didaktisch besonders geeignet sind, alte Städte. Der Anblick von Städten bietet ja in Silhouette, Prospekt oder Straßenführung synchrone Präsenz von architektonischen und städtebaulichen Elementen verschiedener Zeiten, und man sieht, daß die Unverwechselbarkeit ihrer Individualität, über die wir sie identifizieren, Resultat einer Geschichte ist. Indem etwas Resultat einer Geschichte ist, läßt es sich nicht als Resultat eines Handlungswillens von in sich geschlossener, ungestörter Rationalität verständlich machen. Was etwas durch seine Geschichte ist, ist es nicht als Produkt eines Willens zur Hervorbringung dieses Produkts. Das städtebauliche Genie gibt es nicht, das in seinen Plänen Berlin oder auch nur

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Buxtehude erdacht haben könnte. Gewiß haben in jeder städtebaulichen Phase die Mächtigen und Verantwortlichen ihre handlungsrational verstehbaren Absichten gehabt. Aber die jeweils Späteren haben aus sekundär intervenierenden Anlässen andere Absichten gehabt, die sich in die Zwecke und Pläne der Älteren nicht ohne weiteres fügten und also zu jenen Interferenzphänomenen von Zwecken und Verrichtungen führten, als deren steingewordene Realität die Städte dem gegenwärtigen Anblick sich bieten. Die Geschichten, die sie hinter sich haben und denen die Unverwechselbarkeit ihres historischen Profils sich verdankt, sind nicht einfach abgelaufene Zeit. Geschichten sind, in genereller Formulierung, Prozesse der Individualisierung von Systemen durch zweck- oder erhaltungsdienliche Umbildung dieser Systeme unter Ereignisbedingungen, die zum ursprünglichen Funktionssinn der Systeme sich kontingent verhalten. Allerdings gibt es Karlsruhe oder die Erlanger Neustadt und somit Beispiele städtebaulicher Planrealisation aus der Vernunft mächtiger Willen, die sich irresistibel zu betätigen vermochten. Aber die bis heute sichtbaren alten Pläne fügen sich in den Funktionalismus gegenwärtiger Lebensund Handlungszusammenhänge nicht bruchlos, und genau das ist es, was sie heute zur historischen Charakteristik dieser Städte gehören läßt. Kurz: historisch ist, was in den Funktionen gegenwärtiger Handlungssysteme nicht aufgeht, so daß es eben nicht funktional, sondern einzig historisch, nämlich durch Erzählen seiner Geschichte erklärt werden kann. Darum brauchen wir fürs Verständnis einer jeden Stadt nicht nur die Kenntnis der Zwecke, denen ihre Institutionen gegenwärtig sich widmen, und Einsicht in die Pragmatik der materiellen und cognitiven Produktionen und Distributionen, die gegenwärtig ihr Leben bestimmen. Wir brauchen, um sie zu verstehen, auch Erklärungen genetischer Art, und die Stadthistorie liefert sie uns. Historisch erklären wir, was sich zu den gegenwärtigen Funktionen eines Systems kontingent verhält — Relikte zum Beispiel, einen Torbogen also, der heute als Verkehrshindernis auf der Straße steht, in Quakenbrück oder in Freiburg im Breisgau oder auch umgekehrt eine Magistrale, deren breite und großzügige Führung gleich neben Altstadtgewinkel, so in Zürich, überrascht, bis man erfährt, daß hier ein Stadtgraben umfunktioniert worden ist. Ersichtlich sind historische Erklärungen genetischer Individualität ungeeignet, zur Beantwortung von Fragen der Sorte „Was tun?" beizutragen. Die Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte, die uns erklärt, wieso dutzende nordwestdeutscher Dörfer von Kanälen durchzogen sind, die niemand befährt, hilft den Gemeinderäten schlechterdings nicht, das dringliche Problem ihrer Erhaltungslasten zu lösen. Die Sache verhält

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sich umgekehrt. Es bedarf schon einer historischen Kultur von öffentlich wirksamer Ausgeprägtheit, um die Räte zu veranlassen, die Kanäle, deren Existenz sich nur historisch erklären läßt, zu konservieren, anstatt sie mit Straßentrassengewinn zuzuschütten,und man wünscht ihnen, daß bootstouristischer Fremdenverkehr demnächst ihren historischen Sinn honorieren möge. Somit ergibt sich die Frage, welcher Pragmatik denn das historische Interesse gehorcht, das uns heute bereiter denn je zuvor solche Konservierungslasten tragen läßt, wenn es nicht die Pragmatik der ökonomischen oder sozialen Probleme der Gegenwart ist und auch nicht die Pragmatik der politischen Emanzipation, die nach hessischer Lehre allein Akte der Vergegenwärtigung des Vergangenen „legitimiert". Zunächst: es ist die Beschleunigung im gerichteten Wandel der Verhältnisse, die mit jeder neuen Gegenwart die Vergangenheit des Vergangenen in ihr auffälliger werden läßt. Der gerichtete soziale Wandel — das ist, sofern wir ihn für zustimmungsfähig oder sogar für zustimmungspflichtig halten, der „Fortschritt", und die historische Thematisierung der Geschichte ist das Komplement der Fortschrittserfahrung. Was immer um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert die reale Basis der Erfahrung einer Beschleunigung im Ablauf der Dinge gewesen sein mag — vom exponentiellen Anstieg der Produktion wissenschaftlicher Literatur bis zu den Auffälligkeiten des beginnenden Industrialisierungsprozesses —: für unser eigenes Jahrhundert hat dieser Zusammenhang von Historisierung und sozialem Wandel Evidenzcharakter. Wiederum ist es der Anblick unserer Städte, der uns dafür die exemplarische Anschauungshilfe bietet, und es gibt sogar schon Versuche, für den Wandel des Anblicks, der das historische Bewußtsein weckt, Meßgrößen zu entwickeln. Wenn in unseren Städten pro Jahr mehr als 2 bis 3% der Bausubstanz in nicht-konservierender Absicht erneuert wird., so verlieren sie, meint ein Zürcher Städtebauer, für ihre Bewohner die Anmutungsqualität der Vertrautheit. Sie werden vor den eigenen Augen zu fremden. Das ist eine Erfahrung, die inzwischen nicht nur die Bewohner des Frankfurter Westends machen konnten, und der Rekurs auf diese Erfahrung genügt, um zum Beispiel den außerordentlichen Erfolg des europäischen Denkmalschutzjahres zu erklären. Beschleunigung des sozialen Wandels —: das bedeutet, im Spiegel der Erfahrung von Zeitgenossen, Verkürzung der Zeiten, über die hin wir Gegenwart in der Vergangenheit als strukturgleich nicht mehr wiedererkennen. Das, was wir bereits als historisch erfahren, ist immer weniger alt, und längst ist der architektonische Historismus von der Historisierung eben dieses Historismus überboten. Selbst Industriebauten der dreißiger Jahre sind inzwischen zu Objekten öffentlichrechtlichen Denkmalschutzes avanciert, und Bürgerinitiativen erheben

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sich, wie gegen die Kernkraft als Zukunftsenergie, für die Erhaltung von Stuckfassaden aus wilhelminischer Vergangenheit. Was uns das Beispiel der Städte anschaulich macht, gilt für unsere Lebensverhältnisse, soweit sie unserer zivilisatorischen Evolution unterworfen sind, insgesamt - von den Wissenschaften über unsere institutionenbezogenen Moralsysteme bis zur Kochkunst. Unsere historische Kultur ist der Versuch, die Erfahrung dieser Evolution zu kompensieren. Vergangenheiten, die nicht allein durch den altbekannten Gang der Zeiten als entschwunden, vielmehr darüberhinaus durch die neue Erfahrung von Distanzen verschiedener Epochen strukturverändernder Evolutionen vor unseren Augen zu fremden zu werden drohen, werden durch das historische Bewußtsein zu vergegenwärtigungsfähiger Geschichte redintegriert. Das historische Bewußtsein konserviert museal, was funktional ortlos geworden ist. Es rettet Bestände, deren Reproduktionsprozesse beendet sind. Es hält genetisch zuschreibungsfähig, was als zugehörig ohne spezielle, institutionell gesicherte kulturelle Bemühung nicht mehr erfahren werden könnte. Traditionen dagegen konserviert es nicht. Traditional gilt, wessen Geltung durch den Ablauf der Zeiten nicht erschüttert, sondern bekräftigt wird. Mit dem sozialen Wandel zerfällt die Bestimmungskraft traditionaler Geltung, und nicht allein zähe Traditionalismen, vielmehr Schwierigkeiten, unter den Bedingungen dieses Wandels Traditionen neu zu bilden, sind in mobilen Gesellschaften das moralische und politische Orientierungsproblem. Die historische Kultur ist nicht das Medium zur Bewältigung der entsprechenden Orientierungskrisen, und es sind nicht die Historiker, die uns in dieser ihrer Rolle über Fälligkeiten zukunftsbezogenen gegenwärtigen Handelns belehren könnten. Das historische Bewußtsein konserviert nicht Traditionen, sondern kompensiert ihre evolutionär bedingte Geltungsschwäche. Wie geschieht das? Es geschieht durch Identitätssicherung, und abermals macht das Städteexempel anschaulich, was das heißt. Wir identifizieren ja Städte, wie andere Individuen auch, über das, was an ihnen unverwechselbar ist, und ersichtlich sind es genau diese Elemente ihrer Unverwechselbarkeit, auf die sich die Aktivitäten unserer Denkmalschützer beziehen. Die historischen Geisteswissenschaften, so hat man gesagt, erfüllen die kulturelle Funktion der Kompensation der „realen Geschichtslosigkeit" der modernen Zivilisation. Was in diesem Satz „reale Geschichtslosigkeit" heißt, sollte man, unmißverständlicher, die historisch beispiellose Geschichtlichkeit, nämlich strukturverändernde Dynamik unserer Zivilisation nennen. Evolutionär unvergleichlich erfolgreich überzieht diese Zivilisation gegenwärtig Kulturen unterschiedlichster Herkunftsgeschichte global mit funktionsidentischen techni-

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sehen, partiell auch ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen, die auch im Phänotyp weltweit analog sind und universal ohne Rekurs auf Herkunftsgeschichten verständlich. Was wir dagegen, komplementär zu diesen sich ausbreitenden zivilisatorischen Universalitäten, jeweils gerade für uns im Unterschied zu den anderen sind — das ist ohne Rekurs auf unsere Herkunftsgeschichten nicht einmal aussagbar, und so erfüllt die historische Kultur in der modernen Gesellschaft die Funktion, eigene und fremde Identität zu vergegenwärtigen und darstellungsfähig zu halten. Erst unter der geschichtlichen Voraussetzung raschen sozialen Wandels, der in der subjektiven Erfahrung der Zeitgenossen sich niederschlägt, Traditionen verflüssigt und uns andere zu werden zwingt, wird reflexive Vergegenwärtigung unserer Identität in diesem Wandel zu einer Notwendigkeit, und in der Ausbildung einer historischen Kultur entspricht die moderne Gesellschaft dieser Notwendigkeit. In Prozessen raschen sozialen Wandels verliert die Zukunft ihre Deckung durch Erfahrungen der Vergangenheit, und wer jene meistert, entfremdet sich dieser. In der historischen Zuwendung zu ihr restituieren wir die Vergangenheit nicht, sondern halten sie in Relation zu den Subjekten des sozialen Wandels zuschreibungsfähig. Um diese Leistung des historischen Bewußtseins mit einem Schlagwort zu benennen, das auch den sprachlichen Sonderbedürfnissen heutiger akademischer Diskussionen gerecht werden dürfte —: das historische Bewußtsein kompensiert die Gefahr temporaler Identitätsdiffusionen. Man erkennt: der Historismus moderner Kultur befindet sich zu den Ansprüchen ihrer Modernität nicht in einem Verhältnis des Widerspruchs. Er ist nicht ein Relikt der Vergangenheit, vielmehr die Form unseres Verhältnisses zur Vergangenheit unter den geschichtlichen Bedingungen dieser Modernität. Je rascher der Modernisierungsprozeß sich evolutionär durchsetzt, um so mehr sind wir auf Leistungen des historischen Bewußtseins angewiesen. Dieser Funktionszusammenhang von Modernität und historischer Kultur ist nicht eine standespolitische Behauptung professioneller Historiker, sondern eine Realität, deren Mächtigkeit bis in unseren politischen Lebenszusammenhang hineinreicht. Es sind die Erhaltungsansprüche von Identitäten, deren Präsentation nur historisch möglich ist, die sich, beispielsweise, im aktuellen Phänomen der europäischen Regionalismen melden — von Wales über Lothringen bis nach Schaumburg-Lippe. Das steht nicht im Widerspruch zur anwachsenden politischen Bestimmungskraft von funktionalen Erfordernissen kontinentaler oder globaler Reichweite, sondern verhält sich zu ihnen komplementär und demonstriert die kulturelle und politische Nötigkeit dieses Komplements. Der anwachsende Widerstand der Bür-

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gerschaften gegen Gebietsverwaltungsreformen, die lokalen und regionalen Identifikationsmöglichkeiten ihre körperschaftlich-institutionelle Sicherung nimmt, demonstriert uns dasselbe, und wer es heute riskiert, aus Giessen und Wetzlar „Lahn" zu machen, wird niedergestimmt. Dem entspricht auf der wissenschaftlichen Ebene eine neue Blüte der landesgeschichtlichen Forschung einschließlich ihrer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Komponente, die ja auf dieser Ebene wohltuend konkret begegnen. Niemals haben sich unsere Lebensverhältnisse und das Gesicht unserer Städte und Landschaften rascher gewandelt als in der Gegenwart. Gleichzeitig nimmt die Historizität unserer öffentlichen Kultur zu. Genau das ist der Zusammenhang, den man nach Einsicht in den Grund unseres Interesses an historischen Gegenständen erwarten muß. Es bleibt wahr, daß in politischen Zusammenhängen das historische Bewußtsein auch als Ideologieproduzent tätig ist. Aber gegen historische Mythenbildung, für die es von den historiographischen Nationalismen des neunzehnten Jahrhunderts bis zur historizistischen Selbsternennung marxistischer Parteien zur organisierten Vorhut der Zukunftsmenschheit unabzählbar zahlreiche Beispiele gibt, helfen nicht Versuche, von der Geschichte Abschied zu nehmen, sondern einzig kulturund wissenschaftspolitische Förderungen unseres Bemühens, das manifeste historische Interesse durch Wissenschaft und Bildung zu disziplinieren und aufklärungsbereit zu halten. Es muß in diesem Zusammenhang gesagt sein, daß das historische Bewußtsein auch die Instanz ist, ohne die es nicht möglich wäre, die ideologische Konfrontation, die gemäß offizieller Doktrin bekanntlich wesentlicher Teil der Koexistenzpolitik ist, zu bestehen. Utopia steht als anerkannte Intellektuellen-Residenz nur im Westen zur Verfügung. In der östlichen Welt ist die kulturelle Atmosphäre eher historistisch als utopisch geprägt. Der kompakte Historismus, wie er vor allem in der Sowjetunion herrscht, ist eindrucksvoll. „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen", heißt es in einer in Rußland vielzitierten Zeile über dem Tor zum Kriegsmuseum im Kreml zu Nowgorod. Wo ein solcher Spruch gilt, haben die Historiker zu tun. Sie tun ihre Arbeit in einem Kontext von Erinnerungen, in welchem Wörter wie „Vaterland" oder „Tapferkeit" dissonanzfrei auftreten können, und man bemerkt dann auch, daß das hohe Wort, die eigene Frau sei zu lieben und nicht der Staat, seine Wirkung der Assoziation des falschen Zitats verdankt: nicht der Staat, sondern das Vaterland wird ja geliebt, und zwar gerade auch dann, wenn es unter dem Staat leidet. Wie immer sonst der Besucher aus der Fremde des Westens sich in Rußland befinden mag — für kritische Distanz gegenüber der Präsenz von Geschichte in seiner Öffentlichkeit gibt es zunächst keinen

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Ansatzpunkt und für Deutsche erst recht nicht, und man erkennt, daß die Randständigkeit, in die in unserer eigenen politischen Kultur die Denkmäler geraten sind, weniger kritische Souveränität als Schwierigkeiten bezeugt, die wir politisch mit unserer eigenen Vergangenheit haben. Bis zur Rührung wirkt der Anblick des restaurierten altstädtischen Warschau, und die Geschichte Polens hat dafür gesorgt, daß dort an der Rolle der Historie für die Behauptung nationaler Identität niemand zweifelt, und selbstverständlich ist die Historie in dieser Rolle nicht unpolitisch. Dem entspricht in den kommunistischen Ländern eine gezielte Geschichtskulturpolitik. Das reicht, im Extrem, vom 1946er Auftrag des polnischen KP-Chefs an die Adresse der Historiker in einer denkwürdigen Rede vor der Akademie der Polnischen Kultur zu Breslau, die vordeutsche Geschichte Schlesiens zu rekonstruieren, bis zur Verpflichtung der DDR-Archivare aufs Ziel, über ihre historische Praxis „heilige Liebe zum Vaterland" im Volk zu erwecken - so bereits 1952. Solche Politisierung historischer Kultur, die sich in Polen historisch verstehen läßt, wirkt in der DDR natürlich verkrampft, und es ist für Deutsche verblüffend, von Deutschen geschrieben auf Transparenten Mülhausener Thälmann-Pioniere den Satz zu lesen „Wir sind die Sieger der Geschichte". So plakatierten die jungen Pioniere im Gedenken an Thomas Münzer, der vor 450 Jahren vor ihrer Stadt groß gewirkt und dann in der Sache vorerst gescheitert war, als deren Vollender sich nunmehr die jungen Pioniere wissen. „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte", lautet das einschlägige Erzzitat aus einem frühen Marx-Text, und ihm entspricht die Politik konsequenter historischer Bewußtseinsbildung, wie sie Marxisten überall, wo sie herrschen, betreiben. Ihrem revolutionären Anspruch widerspricht das gar nicht. Ikonoklastisch sind Revolutionen nur in den Stadien ihrer Vorbereitung und der Machtumwälzung. Waren sie erfolgreich, so erweist sich, daß sie eine neue historische Kontinuität stifteten. Der Sturz von Denkmälern ist von emanzipatorischem Reiz. Hinterher stellt sich heraus, daß man tätig war, für die Installation einer neuen Denkmälergeneration die Sockel zu räumen. Es wäre ein grober politischer Irrtum anzunehmen, daß die ideologiepolitische Herausforderung des marxistisch-leninistischen Historismus keiner Antwort bedürfe. Die de-facto-Anerkennung des prätendierten Alleinvertretungsanspruchs auf historische Kultur unserer zustimmungsfähigen Vergangenheiten müßte schwerwiegende Identitätskrisen zur Folge haben, und wer auf seine nicht-zustimmungsfähige Vergangenheit sich absetzen ließe, würde zukunftsunfähig. Für die Zurückweisung der entsprechenden Zumutung stehen allerdings Nicht-Marxisten kon-

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kurrenzfähige historizistische Geschichts-Titel nicht zur Verfugung. Nicht die Suche nach einem solchen Titel ist fällig, sondern die Kultur einer aufklärenden historischen Bildung, die gegen die Besetzung des historischen Bewußtseins mit historizistischen Doktrinen immunisiert. Was in der hessischen Geschichtsunterrichtspolitik geschah, war dagegen ein Akt der Einladung zu solcher Besetzung. Historische Aufklärung — sie verläuft nicht allein über wissenschaftliche und bildungsmäßige Sicherung von Möglichkeiten, gegenüber politisch-ideologischen Identitätspräsentationen festhalten zu können, wie es wirklich gewesen ist. Sie setzt auch Distanz zur Geschichte voraus und damit die Ausbildung eines Interesses für Geschichten, die nicht eigene Geschichten sind und auch nicht Geschichten anderer, mit denen man es gegenwärtig zu tun hat, sondern Geschichten Fremder und Früherer, die es gar nicht mehr gibt und deren Relikte nur noch als Quellen ihrer historischen Erforschbarkeit sprudeln, sonst aber spurlos vorbei sind. Als Kultur, die auch noch dieses Interesse festhält, ist die Historie Kontingenzerfahrungskultur. Diese entpolitisiert tatsächlich unser Verhältnis zur Geschichte. Aber diese Entpolitisierung ist ihrerseits politisch bedeutsam; denn sie erst hält uns historisch aufklärungsfähig, indem sie Resistenz gegen die Neigung erzeugt, über Geschichten, die wir und die mit uns Gleichzeitigen als die Konstituentien unserer Identität hinter uns haben, Prozesse zu fuhren. Die Pragmatik der Weiß- und Schwarzbücher ist eine andere als die der Historie. Verantwortet werden Taten; Identität dagegen wird festgestellt und nicht zugerechnet, was auch dann gilt, wenn schlimme Taten zu der Geschichte gehören, über deren Historie wir die Identitätsfeststellung treffen. Es ist diese Unterscheidung, durch deren Geltung erst Historie als Medium der Konsensbildung tauglich wird. Solche Konsensbildung, die übers historische Bewußtsein verläuft, ist tatsächlich ein wesentliches Element der Beziehung zwischen Institutionen und Gruppen, ja zwischen Nationen. Konsens, den Historie stiften oder doch explizit machen kann, ist abermals nicht ein Konsens in Interessen und Handlungsabsichten. Die hessische Idee, Historie durch ihre „Verlängerung in die aktuellen Entscheidungsprozesse" praktisch zu machen und so sie zu legitimieren, bleibt eine dekultivierende Illusion. Historischer Konsens ist erreicht, wenn die wechselseitige historische Fremddarstellung zwischen Betroffenen wechselseitig akzeptabel geworden ist. Genau das ist die Pragmatik, an der sich, beispielsweise, die Tätigkeit internationaler Schulbuchkommissionen orientiert, und sie macht den Sinn, wenn sich sowjetische und deutsche Historiker in Leningrad treffen. Was zu tun ist, weiß man noch lange nicht, wenn man wechselseitig anderer Historie eigener Geschichte zustimmen kann, und gemeinsame Ziele hat man damit auch noch nicht. Man hat sich lediglich wechselseitig verstanden.

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Es ist also unangemessen, unser Interesse an historischen Gegenständen und damit die historischen Disziplinen, über die wir dieses Interesse kultivieren, als ein praktisches Erkenntnisinteresse interpretieren zu wollen. Unter dem Druck des Verlangens, Relevanz nachweisen zu sollen, bietet diese Interpretation sich an. Aber als kultur- und wissenschaftspolitisch akzeptierte Erfüllung der Relevanznachweispflicht würde sie destruktiv wirken. Die Erwartung, durch Förderung der historischen Geisteswissenschaften, in der Politik und wo immer sonst „aktuelle Entscheidungsprozesse" gefördert zu sehen, würde sich mit Sicherheit enttäuscht finden, und diese Enttäuschung müßte wissenschaftspolitisch unsere Geschichtskultur schädigen. Nicht Konsensbildung in praktischen Fragen, vielmehr die kompensatorische kulturelle Sicherung von Möglichkeiten, unter Bedingungen beschleunigter zivilisatorischer Evolution Subjekte über ihre Herkunftsgeschichten zu identifizieren — das ist die Leistung, die wir von den historischen Geisteswissenschaften erwarten dürfen. Dabei sind diese Geisteswissenschaften selbst ein wesentlicher Teil der Geschichte unserer Nationalkultur, die nicht zuletzt über diesen Teil anerkannte allgemeine Wirkung gehabt hat, und ohne ihren gegenwärtigen Beitrag wäre die Aneignungsfähigkeit dieser Kultur gar nicht möglich. Wie es unserer zivilisatorischen Situation entspricht, ist das historische Interesse in der Öffentlichkeit lebhaft, und nicht ein Mangel dieses Interesses, sondern seine kulturpolitisch mißweisende Deutung, in der man auch noch die historischen Geisteswissenschaften auf Praxis verpflichten möchte, gefährdet heute diese. Über die Abwendung dieser Gefährdung hinaus sind die übrigen geisteswissenschaftspolitischen Fälligkeiten eher pragmatischer, vor allem organisatorischer und dann finanzieller Natur. Das bliebe auf der Ebene der einzelnen historischen Fächer und unserer kulturhistorischen Einrichtungen im Detail darzutun. An den Universitäten haben, wie eingangs gesagt, die historischen Wissenschaften personell und materiell an der allgemeinen Hochschulentwicklung, wie sie zu Beginn der sechziger Jahre einsetzte, durchaus teilgehabt. Die Mängel liegen heute eher im Bereich von Aufgaben, zu deren Erfüllung die Hochschulen institutionell nicht optimal prädisponiert sind. Drei dieser Aufgaben will ich abschließend nennen. Erstens: wir brauchen zusätzliche geisteswissenschaftliche Forschungseinrichtungen, die instand setzen, Vorhaben von nationaler Bedeutung in kulturpolitisch verantwortungsfähigen Fristen durchzuführen. Im Exempel heißt das: die Edition der Werke Leibniz', die der Welt gehören, sollte ein Jahrhundertwerk nicht der Jahrhunderte wegen genannt werden müssen, die unter gegenwärtigen Arbeitsbedingungen für ihren Abschluß benötigt werden. Zweitens: wir brauchen eine institutionelle Repräsentanz unserer Nationalkultur. Es ist wahr,

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daß wir dem kulturpolitischen Föderalismus und seinen politischen Traditionen die regionale Dichte kultureller Differenzierung verdanken, die unseren deutschen Reichtum an Möglichkeiten kultureller Unterscheidung und Wiedererkennung ausmacht. Aber es hieße, unser politisches Gemeinwesen kulturell zu einem Provisorium auf Dauer zu erklären, wenn wir ihm auf Dauer Möglichkeiten verweigern würden, kulturell das Ganze zu repräsentieren. In den Überlegungen, wie sie gegenwärtig zur Gründung einer deutschen Nationalstiftung angestellt werden, steckt die richtige Intention. Drittens: wir brauchen für die Geisteswissenschaften auf nationaler Ebene eine Vertretung, wie sie in anderen Ländern in zentralen Akademien oder in analogen Collegien gewährleistet ist. Dabei sollte die Mitgliedschaft in dieser Vertretung nicht ehrenhalber, sondern professionell sein. Nur auf diese Weise würde die Geltung der in ihr tätigen Forscher mit einer kulturpolitisch wirksamen Geltung der nationalen geisteswissenschaftlichen Vertretungskörperschaft eins werden können.

Geza Alföldy (Heidelberg)

Beobachtungen zur Lage der Althistorie in der Bundesrepublik Die Althistorie versteht sich als eine selbständige Wissenschaft, die aufgrund ihres Gegenstandes, ihrer Methodik und ihrer Zielsetzung sowohl zu den Altertumswissenschaften als auch zu den historischen Wissenschaften gehört. Ihr Gegenstand ist die griechisch-römische Welt, ferner die vor allem durch griechische und römische Quellen erhellte Geschichte der Randgebiete dieser Welt, außerdem — in geringerem Maße und in besonderer Anlehnung an die orientalistischen Disziplinen — auch die Geschichte des Alten Orients. Ihre Zielsetzung und ihre Forschungsmethoden unterscheiden sie von den übrigen Altertumswissenschaften durch die historische — und nur historische — Fragestellung: Sie möchte das griechisch-römische Altertum mit dessen Rand- und Nachbargebieten als Geschichte, d. h. die überlieferten Ereignisse und Zustände der antiken Welt als Teile eines kontinuierlichen Prozesses — unter ihren zeitbedingten Voraussetzungen und als eine Kette von Ursachen und Wirkungen — erfassen. Aus dieser Natur der Althistorie ergibt sich, daß dieses Fach seine meisten Probleme und Schwierigkeiten einerseits mit den übrigen Altertumswissenschaften, andererseits mit der übrigen Geschichtswissenschaft teilt. Die heutige Situation der Althistorie in der Bundesrepublik wird durch die Verflechtung älterer und neuerer Faktoren bestimmt. Als ältere Faktoren sind die traditionelle Stellung dieser Disziplin in der deutschen Wissenschaft und im Fächerkanon der deutschen Universität, ferner die traditionelle wissenschaftliche Ausrichtung der deutschen Althistorie zu nennen. Als neuere Faktoren müssen einerseits die bildungspolitische Entwicklung in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren, andererseits die Verbreitung neuer wissenschaftlicher Interessen, Fragestellungen und Methoden im gleichen Zeitraum hervorgehoben werden. Seit ihrer Trennung von der Klassischen Philologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß die Althistorie in Deutschland als wissenschaftliches Fach, insbesondere nachdem sie mit derartig nam-

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haften Gelehrten aufwarten konnte wie schon Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) und dann von allem Theodor Mommsen (1817-1903), im allgemeinen Bildungsbewußtsein und an der Universität einen vornehmen institutionellen Platz. Ihre Aufmerksamkeit galt seit den ersten Forschergenerationen, entsprechend den Wertvorstellungen des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, hauptsächlich den großen politischen und kulturellen Leistungen der Antike, d. h. den staatlichen Institutionen als Grundlagen jeder antiken Ordnung, den politisch-ideologischen Normen für öffentliches wie privates Handeln und dem politischen Geschehen selbst, aus dem durch ihre einzigartigen Leistungen die großen Politiker, Feldherren und Herrscher herausragten. An dieser Vorliebe der deutschen Althistorie für die Verfassungsgeschichte, Geistesgeschichte und politische Geschichte des Altertums hat sich auch während der Weimarer Republik nichts geändert. Auch der Nationalsozialismus hat sie im wesentlichen weder ändern können noch ändern wollen. Das gleiche gilt auch für die Stellung des Faches an der Universität. Dementsprechend lief die Geschichte des Faches nach 1945 bald wieder in der gleichen geordneten und traditionellen Bahn weiter wie vor 1933 und — von einigen zeitbedingten, doch im ganzen gesehen eher als Randerscheinungen wirkenden Exzessen abgesehen — auch von 1933 bis 1945. Als in den sechziger Jahren die Welle für die Gründung neuer Hochschulen einsetzte, war es selbstverständlich, daß die Alte Geschichte in die neuen Universitäten mit einzog und zugleich an zahlreichen älteren und neuen Hochschulen einen zweiten Lehrstuhl erhielt, wobei die Gründungsausschüsse und Fakultäten zumeist eher die Fortführung traditioneller Forschungs- und Unterrichtsrichtungen als eine neue Konzeption des Faches verlangten. Nichtsdestoweniger erlebt die Althistorie in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren einen tiefgreifenden Wandel. Er ist zum guten Teil auf die Umwälzungen im Bildungswesen und somit insbesondere an den Universitäten zurückzuführen, und das um so mehr, als die Alte Geschichte institutionell, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Geisteswissenschaften, von sehr begrenzten Ausweichmöglichkeiten abgesehen nur im Bereich der Universitäten existiert. Infolge der Zunahme der Studentenzahlen im Fach Geschichte erwuchsen die früher normal gefüllten althistorischen Proseminare und Hauptseminare an vielen Hochschulen zu wenig erfreulichen Massenveranstaltungen 1 . Zugleich gaben

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Im Wintersemester 1976/77 wurde der „Rekord", soweit ich informiert bin, an der Universität Münster erreicht, und zwar mit einem Proseminar in Alter Geschichte mit 180 Teilnehmern.

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sie nicht selten Anlaß zur Unzufriedenheit mit den traditionellen Themen und Unterrichtsmethoden der Althistorie oder gar zur Diskussion „wozu überhaupt Alte Geschichte", entsprechend auch dem weitverbreiteten Unbehagen gegenüber Werten der Vergangenheit und überhaupt gegenüber der Geschichte in der Epoche der Studentenrevolte und hektischer Reformen. Parallel dazu schwanden bei den Studenten ganz rapide die für das Studium der Alten Geschichte wichtigsten Voraussetzungen, nämlich die Kenntnis der alten Sprachen und die historischen Grundkenntnisse. Zu diesen Problemen kamen auch noch andere. Durch die Aufspaltung der Philosophischen Fakultäten an den meisten Universitäten wurde die Alte Geschichte in der Regel entweder von den übrigen altertumswissenschaftlichen Fächern oder vom Fach Mittlere und Neue Geschichte institutionell getrennt, was für die Zusammenarbeit zwischen den Nachbardisziplinen in Forschung und Lehre oft unvorhersehbare schlimme Folgen hatte; und bei der Verknappung finanzieller Mittel in den letzten Jahren wurden althistorischen Lehrstühlen oder Instituten manchmal größere Opfer abverlangt als anderen Fächern, die sich entweder auf noch viel größere Studentenzahlen berufen konnten oder eben als sog. kleine Fächer verschont blieben. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung erlebte aber die Althistorie in der Bundesrepublik auch einen inhaltlichen Umwandlungsprozeß. Vor allem bei jüngeren Kollegen — um von den Studenten gar nicht zu sprechen — regte sich immer mehr Interesse für die Fragen der antiken Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und damit für strukturalistische Fragestellungen, manchmal verbunden mit einer ausgesprochenen Gleichgültigkeit für die traditionellen Hauptthemen des Faches. Die Gründe hierfür lagen nur zum Teil in der Entwicklung im Hochschulbereich, die zahlreiche Althistoriker zur Beschäftigung mit „aktuellen" Themen im Unterricht und auch in der Forschung veranlaßte. Hier wirkten mehrere weitere Komponenten zusammen: der Einfluß oder die Herausforderung der marxistischen Geschichtstheorie, verstärkt durch die Existenz der sprachlich hindernisfrei rezipierbaren marxistischen Althistorie in der DDR, ferner der allgemeine starke Einfluß der Soziologie, der Ökonomie und der Politikwissenschaft auf die gesamte Historie, und schließlich die engen internationalen Beziehungen in der Altertumsforschung mit der Konsequenz, daß die in mehreren westlichen Ländern, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und auch in Frankreich, schon etwas früher recht intensiv betriebenen sozial- und wirtschaftsgeschichtlich orientierten Forschungen auch in der Bundesrepublik eine bemerkenswerte Resonanz fanden. Dieser rasche Wandel der äußeren und inneren Bedingungen für die althistorische Forschung und Lehre bewirkte im Fach eine gewiße Ver-

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unsicherung und zugleich das Bedürfnis einer Neubesinnung. Beides zeigt sich recht deutlich in der Reflexionsliteratur am Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre: Zwischen 1968 und 1973 wurden über den Sinn, die Aufgaben und die theoretischen Positionen der Althistorie vermutlich mehr Schriften veröffentlicht als im Verlauf der gesamten früheren Geschichte dieser Wissenschaft in Deutschland. 2 Die akute Krisenstimmung hat sich inzwischen allerdings gelegt, da sich das in den letzten Jahren spürbar neu belebte allgemeine Interesse für die historische Tiefendimension der Gegenwart auch für die Alte Geschichte als günstig erwies, und da es sich gezeigt hat, daß die „aktuellen" Themen der Althistorie, z . B . Themen der antiken Sozialgeschichte, dieses Fach an der Universität durchaus populär machen können. Dadurch wurden aber die meisten Probleme des Faches, welche seit den sechziger Jahren entstanden waren, keineswegs gelöst; zugleich verstärkten sich in den letzten Jahren infolge der Verknappung der Finanzmittel und infolge der zunehmenden administrativen Maßnahmen der Kultusverwaltungen in der Hochschulpolitik manche Gefahren, die zu Beginn der siebziger Jahre noch kaum zu erkennen waren. So läßt sich die heutige Situation der Althistorie in der Bundesrepublik im ganzen gesehen als offen und zwiespältig charakterisieren: Durch das Zusammenspiel nach wie vor starker Traditionen und „Erbschaften", einer

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Siehe etwa Chr. Meier, Was soll uns heute noch die Alte Geschichte. In: Entstehung des Begriffs „Demokratie". Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, Frankfurt 1970, 151 ff; R. Werner, Über Begriff und Sinn der Geschichte des Altertums. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 (1971), 322 ff.; U. Emrich, Was halten Schüler von der Alten Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 (1971), 340 ff.; K. Christ, Zur Entwicklung der Alten Geschichte in Deutschland. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 (1971), 577 ff.; D. Timpe, Alte Geschichte und die Fragestellung der Soziologie. In: Historische Zeitschrift 213 (1971), 1 ff.; D. Nellen, Bemerkungen zur Diskussion in der westdeutschen Altertumswissenschaft. In: Blätter des Landfermann-Bundes Duisburg (Mai 1972), 1 ff.; G. Alföldy, Der Sinn der Alten Geschichte. In: Probleme der Geschichtswissenschaft. Hrsg. v. G. Alföldy, F. Seibt, A. Timm, Düsseldorf 1973, 28 ff. In der DDR begann eine vergleichbare Diskussion bereits früher; siehe bes. E. Ch. Welskopf, Die wissenschaftliche Aufgabe des Althistorikers. In: Sitz.-Ber. d. Deutschen Akad. d. Wiss. zu Berlin. Kl. f. Phil., Gesch., Staats-, Rechts- und Wirtschaftswiss. (1965) Nr. 2. In der Bundesrepublik wurde die Diskussion über die Lage der Altertumswissenschaft von Vertretern der Klassischen Philologie eingeleitet, siehe bes. U. Hölscher, Die Chance des Unbehagens. Drei Essais zur Situation der klassischen Studien, Göttingen 1965; M. Fuhrmann, Die Antike und ihre Vermittler, Konstanz 1969; M. Fuhrmann / H. Tränkle, Wie klassisch ist die klassische Antike? Eine Disputation über die gegenwärtige Lage der Klassischen Philologie, Zürich/Stuttgart 1970.

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widerspruchvollen bildungspolitischen Entwicklung sowie neuer wissenschaftlicher Strömungen und Orientierungsversuche, befindet sich diese Wissenschaft in der Bundesrepublik zur Zeit auf einem unsicheren Weg, von dem man nicht weiß, ob er zur weiteren Pflege bester Forschungstraditionen und zugleich zu einer Erneuerung des Faches, oder aber zu einer kulturpolitischen Katastrophe führen wird. Im einzelnen läßt sich diese widersprüchliche Lage wie folgt beschreiben: Die institutionellen Voraussetzungen für die wissenschaftliche Aktivität in der bundesrepublikanischen Althistorie sind augenblicklich, sowohl am tatsächlichen Bedarf als auch am Vergleich mit der Lage anderer geisteswissenschaftlicher Fächer gemessen, im ganzen gesehen als ausreichend zu bezeichnen; das gilt auch für den Vergleich mit der Situation dieses Faches in anderen — westlichen und östlichen — Industriestaaten. Stellen sind an den Universitäten und — in geringer Zahl — an der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Institutes (München) vorhanden. Die Unterbringung der qualifizierten Fachkräfte bereitete bis in die jüngste Zeit zumeist kaum Schwierigkeiten, und die Zahl der habilitierten Kollegen ohne Lehrstuhl ist relativ niedrig. Die Kapazität der wissenschaftlichen Publikationsorgane des Faches erscheint ebenfalls als genügend. Für die Finanzierung verschiedener Forschungsvorhaben konnte man sich bis in die jüngste Zeit zumeist mit Erfolg an entsprechende Institutionen (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Akademien, Universitäten, Stiftungen, Deutsches Archäologisches Institut einschließlich der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik) wenden, wobei betont werden muß, daß die Kosten für die althistorische Forschung im Vergleich mit den Ausgaben in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern eher niedrig als hoch einzustufen sind. In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch ein ungünstiger Wandel mit teilweise sehr düsteren Zukunftsperspektiven ab. Die Einrichtung althistorischer Lehrstühle an einigen jungen Universitäten in letzter Zeit dürfte für eine längere Zukunft den Abschluß der Erweiterung des Stellenbestandes in diesem Fach bedeuten; dafür wurden an einigen anderen Universitäten Lehrstühle und Stellen gestrichen, und an weiteren Hochschulen droht die gleiche Gefahr. Nach einem zu erwartenden Personenwechsel auf zahlreichen Lehrstühlen in den nächsten Jahren infolge von Emeritierungen muß damit gerechnet werden, daß in diesem Fach dann bis zum Ende unseres Jahrhunderts keine Mobilität in nennenswertem Umfang möglich sein wird; die gegenwärtig jüngsten Fachkollegen und dann zahlreiche weitere Jahrgänge, eigentlich eine ganze Generation, werden also ausgesprochen schlechten Berufsaussichten ausgesetzt. Dabei nimmt die Zahl der jungen Althistoriker seit einigen Jahren deutlich zu: Die ersten Schüler-

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jahrgänge, die in den um 1970 geschaffenen zahlreichen neuen Instituten ausgebildet wurden, treten als qualifizierte Fachkräfte jetzt in Erscheinung und vergrößern dadurch plötzlich den althistorischen „Mittelbau". Bezeichnenderweise lassen sich seit etwa 1975 in der Geschichte der Bundesrepublik erstmals, wenn auch einstweilen noch in geringer Zahl, junge Althistoriker ausfindig machen, die trotz entsprechender Qualifikation keine Stelle im erlernten Beruf erhalten können. Zugleich werden auch die Forschungs- und Bibliotheksmittel knapp, wobei die Kostenentwicklung den Mittelkürzungen diametral entgegengesetzt verläuft; von ablehnenden Entscheidungen über Finanzierungsanträge blieben in jüngster Zeit leider nicht einmal derartige höchst aktuelle und erfolgversprechende Projekte verschont wie z. B. das Projekt zur Erstellung eines Handbuches der antiken Sklaverei. Die Forschungsarbeit der Althistoriker in der Bundesrepublik ist im ganzen betrachtet recht aktiv und genießt in der internationalen Fachwelt hohe Anerkennung. Unter den Hauptthemen der Forschung nimmt die griechische und römische Verfassungsgeschichte, bedingt durch die Tradition der deutschen Althistorie, nach wie vor einen besonders wichtigen Platz ein; demgegenüber ist das Interesse für ideengeschichtliche Untersuchungen und für die auf große Persönlichkeiten bezogene politische Geschichte spürbar zurückgegangen. Desto deutlicher nimmt das Interesse für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums zu, und vor allem infolge dieser Interessenverlagerung wurde auch die Forschungsarbeit in den sogenannten Hilfswissenschaften der Alten Geschichte, hauptsächlich in der Epigraphik und in der Numismatik, stark intensiviert (das gilt auch für die Papyrologie, die jedoch eher im Rahmen der Klassischen Philologie als im Rahmen der Althistorie betrieben wird). Diese Vielfalt der Forschung ist erfreulich, und grundsätzlich könnte man sich für die zukünftige wissenschaftliche Entwicklung der Althistorie kaum eine günstigere Ausgangsposition vorstellen als jene, in welcher die solide deutsche Forschungstradition und die neuen wissenschaftlichen Richtungen vereint sind. Doch ist die Lage in Wirklichkeit bei weitem nicht so rosig. Manche weiterhin modische herkömmliche Forschungsrichtungen wirken - etwa auf ausländische Kollegen - hoffnungslos veraltet; umgekehrt sind die neuen wissenschaftlichen Strömungen in das Fach keineswegs voll integriert und ihre theoretischen wie methodischen Schwächen machen deutlich, daß in der bundesrepublikanischen Althistorie nicht nur keine einheitliche theoretische Konzeption der Alten Geschichte existiert, sondern daß dieses Fach auch noch keinen Versuch unternommen hat, jene wissenschaftstheoretischen und methodologischen Probleme, welche die Entwicklung der Althistorie seit den sechziger Jahren mit sich gebracht hatte, syste-

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matisch und in irgendeiner Zusammenarbeit zwischen den zahlreichen Forschungszentren zu bewältigen. Der gleiche Mangel an Kommunikation innerhalb des Faches ist im übrigen auch für die Einstellung gegenüber den bildungspolitischen Herausforderungen charakteristisch. Bezeichnenderweise gibt es in der Althistorie in der Bundesrepublik, etwa im Gegensatz zu der Archäologie, auch kaum koordinierte Forschungsprojekte und Forscherteams, obwohl die wenigen Arbeitskreise mit einem gemeinsamen Forschungsthema — so der Arbeitskreis für die Erforschung der antiken Sklaverei mit dem Zentrum Mainz und der (international zusammengesetzte) Kreis der Historia-Augusta-Forscher mit dem Zentrum Bonn — deutlich genug bewiesen haben, daß die Zusammenarbeit zahlreicher Kollegen trotz des letztlich individuellen Charakters der althistorischen Forschung auch in diesem Fach fruchtbar und erfolgreich sein kann. Insbesondere die systematische Aufnahme und Edition epigraphischer und numismatischer Quellen, die durch ihre ständige Vermehrung und durch ihre Bedeutung für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen für die Weiterentwicklung der Althistorie so wichtig sind, ist sonst kaum vorstellbar. Freilich sind gerade diese heute besonders aktuellen Forschungen am ehesten kostspielig, da sie zusätzliche Mittel (für Forschungsreisen, Fotoaufnahmen, reichlich bebilderte Publikationen) verlangen; die Verknappung der finanziellen Mittel bedroht also in der Althistorie am ehesten diese Projekte, die jedoch kaum auf zukünftige Epochen verschoben werden können, da vor allem die inschriftlichen Denkmäler heutzutage durch Bautätigkeit und weitere Eingriffe in die Umwelt ähnlich wie etwa archäologische Fundplätze stark gefährdet sind. Zu allen diesen Problemen der Forschung kommen freilich auch noch weitere wie die kaum vermeidbare Spezialisierung innerhalb des Faches — verbunden mit einer zum Teil kaum vertretbaren „Überproduktion" 3 . 3

Ein leider eher erschreckendes als erfreuliches Beispiel für die Produktionsfülle in der deutschen - und in der internationalen - Althistorie ist das geschäftstüchtige Unternehmen Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Berlin/New York 1972 ff. Diese monumentale Publikation wurde ursprünglich als eine dreibändige Festschrift konzipiert, beansprucht inzwischen jedoch einen Umfang von mehreren Zehntausenden von Seiten. Sie will von möglichst vielen Altertumswissenschaftlern aus der internationalen Fachwelt über möglichst viele Themen der römischen Geschichte (in breitestem Sinne des Wortes, einschließlich des „Nachlebens") Forschungsberichte bringen, von denen nicht wenige mehrere Hunderte von Seiten umfassen. Dabei ist das Niveau dieser Beiträge sehr unterschiedlich; es reicht von hervorragenden Leistungen bis zu ziemlich überflüssigen Kompilationen, in denen nicht selten nur längst Bekanntes steht - gelegentlich mit zahlreichen Wiederholungen in ein und demselben Band und trotzdem mit unzureichender Widergabe des Forschungsstandes.

Zur Lage der Althistorie in der Bundesrepublik

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Der Unterricht der Alten Geschichte an den Universitäten und dadurch auch die Ausbildung des Nachwuchses in diesem Fach ist ebenso bedroht wie die Forschung. Gewiß begegnet der Althistoriker in seiner Lehrtätigkeit manchmal geradezu erstaunlich breiten studentischen Interessen, und begabte Nachwuchskräfte gibt es heute ebenso wie früher. Die Zunahme der Studentenzahlen im Fach Geschichte und der gleichzeitige Rückgang sprachlicher und historischer Kenntnisse haben jedoch eine sehr schwierige Lage geschaffen. Wohl fühlt sich jeder in der Lehre tätige Althistoriker dazu verpflichtet, sowohl im Rahmen der Lehre des Staatsexamensfaches Geschichte als auch in der Ausbildung des Nachwuchses im eigenen Fach sein Bestes zu geben. Nur sind das zwei Aufgabenbereiche, die leider immer weniger miteinander zu tun haben, da die Voraussetzungen und die Ziele des Unterrichtes im einen und im anderen Fall sehr verschieden sind. In dieser Hinsicht ist die Lage der Althistorie viel ungünstiger als etwa diejenige der Archäologie, in der es letztlich nur ein Studienziel gibt, nämlich die wissenschaftliche Qualifikation im eigenen Fach, oder in der Klassischen Philologie, in der der Staatsexamenskandidat und der Doktorand weitgehend die gleichen Lehrveranstaltungen besuchen sollen und können. So ist der Althistoriker, wenn er seine Lehrverpflichtung nicht nur im Sinne bürokratischer Vorschriften ernst nimmt, praktisch durch eine doppelte Lehrtätigkeit belastet. Und dabei fällt ihm die vorgesetzte Kultusbehörde mit ihren administrativen Maßnahmen manchmal geradezu in den Rücken, wenn seine Lehrverpflichtung nach wirklichkeitsfremden und stumpfsinnigen Deputats- und Kapazitätsverordnungen festgeschrieben wird, und indem er etwa - wie der Verfasser dieser Zeilen für die Anerkennung eines Forschungsseminars als „deputatsrelevante Lehrveranstaltung" noch einen nervenaufreibenden Kampf führen muß. Dazu kommt noch, daß die Festsetzung der Regelstudienzeiten das sinnvolle Studium der Alten Geschichte als akademisches Hauptfach praktisch unmöglich machen wird: Der Kandidat muß während einer viel zu kurzen Studienzeit nicht nur die erforderlichen Fachkenntnisse erwerben, sondern sich zuerst auch die nötigen Sprachkenntnisse aneignen und am Schluß noch eine selbständige Forschungsleistung erbringen. So droht wirklich die Gefahr, daß der Althistoriker an der Universität bald nur noch zu dem Zweck da sein wird, daß er — in einer möglichst großen Stundenzahl - mit Staatsexamenskandidaten ausgewählte Kapitel der Alten Geschichte als Prüfungsthemen — etwa „die Gracchen", ausgehend von der leicht zugänglichen englischen Übersetzung Appians — exerziert. Um sich die Folgen vorzustellen, bedarf es keiner Phantasie. Die Lage, in der sich die Althistorie in der Bundesrepublik gegen-

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wärtig befindet, ist also recht zwiespältig. Ihre Aktivität beruht auf einer soliden Tradition, ihr „Besitzstand" im Hinblick auf Stellen und Forschungsmittel wurde seit den sechziger Jahren erheblich vermehrt (die Zahl der Ordinariate hat sich seit 1965 beinahe verdoppelt), ihre Leistungen in der Forschung — und auch in der Lehre — beanspruchen und erhalten zu Recht Anerkennung, und sie ist gerade dabei, durch die Aufnahme und Verarbeitung neuer Impulse eine gewisse inhaltliche Einseitigkeit endgültig aufzugeben. Zugleich ist aber dieses Fach theoriebedürftig und zugleich organisatorisch viel zu zersplittert, und seine Zukunft ist durch ungünstige bildungs- und finanzpolitische Maßnahmen sehr ernsthaft bedroht. Um den zum Teil recht deutlich erkennbaren Gefahren vorzubeugen, muß einerseits an die Vertreter dieses Faches selbst appelliert werden, für die wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Orientierung der Althistorie in der Bundesrepublik in mehr Koordination mehr zu tun als bisher. Hauptadressat dieses Appels ist die Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik als einziges zentrales Organ in diesem Fach, zumal die Alte Geschichte in wissenschaftlichen Verbänden — in der Mommsen-Gesellschaft und im Historikerverband — trotz aller Bemühungen einzelner Fachkollegen nur am Rande erscheint und dort auch über keine finanziellen Mittel verfügt. Andererseits muß an die Einsicht derjenigen appelliert werden, die für die Bildungspolitik in diesem Lande Verantwortung tragen: Um die sinnvolle Existenz der althistorischen Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin zu sichern, muß vermieden werden, daß finanz- und hochschulpolitische Maßnahmen die Forschungsmöglichkeiten in einem nicht vertretbaren Umfang einschränken und die Ausbildung des Nachwuchses verhindern. Geld könnte dabei bis zu einem gewissen Grade durch die bessere Koordination verschiedener Forschungsprojekte durchaus gespart werden, und die Bemühungen, mit Problemen wie Studentenlavine und Numerus clausus fertig zu werden, würden durch eine sinnvolle, nicht nur auf Quantitäten fixierte Regelung der Lehrverpflichtungen und Studienordnungen in diesem Fach keineswegs beeinträchtigt. Wenn jedenfalls der Althistorie gegenüber der Anspruch erhoben wird, daß sie ihre Funktion auch in einer hochentwickelten Industriegesellschaft erfüllt, nämlich, daß sie als Altertumswissenschaft und als historische Wissenschaft die Geschichte einer der wichtigsten Epochen in der menschlichen Vergangenheit unseren heutigen Fragestellungen entsprechend erhellt, dann müssen alle Verantwortlichen, die Vertreter des Faches ebenso wie die Kultusbehörden, ihre Pflichten diesem Fach gegenüber eben nach den Maßstäben einer modernen Industriegesellschaft erfüllen. Dazu gehören nicht nur Begabung, Fleiß, fachliches Wissen und guter Wille, sondern auch lei-

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stungsfáhiges Management und entsprechende Mittel für sinnvoll geplante Funktionen.

Konrad Repgen (Bonn)

Die Lage der Geschichtswissenschaft

1. Vorbemerkungen Mein Thema ist umfangreicher als viele andere dieser Tagung. Ich muß also mehr generalisieren als die Autoren der spezielleren Beiträge. Dies birgt ohne Zweifel Fehlermöglichkeiten; denn Geschichte ist keine systematische Wissenschaft, was auch für Geschichte der Geschichtswissenschaft gilt, und eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft neueren Datums gibt es nicht. 1 Das Wagnis, sich in dieser Kürze, bei diesem „Forschungsstand", über ein so allgemeines Thema zu äußern, muß aber unternommen werden, wenn die Historie ihre Verpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit nicht verfehlen will. „Geschichtswissenschaft" meint im Folgenden die Geschichte unseres Mittelalters, der Neuzeit und der Neuesten Zeit mit den traditionellen (und angreifbaren, aber gängigen und in praxi auch benutzbaren) Periodengrenzen um ca. 1500 (Mittelalter/Neuzeit) und 1800 (Neuzeit/Neueste Zeit) und den vier großen, durchgehenden Sachbereichen der geistigen Bewegungen, der Institutionen, des (Außen-)

1

Die letzte Geschichte der deutschen Histographie, welche die Mittelalterund Neuzeitforschung einschließt, ist H. von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bände, München/Salzburg 1950. F. Wagner, Geschichtswissenschaft, Freiburg/München 1951, ist nicht auf die deutsche Forschung beschränkt, reicht zeitlich aber nur bis Troeltsch und Max Weber. Noch mehr international orientiert ist F. Stern, Geschichte und Geschichtsschreibung. Möglichkeiten, Aufgaben, Methoden. Texte von Voltaire bis zur Gegenwart, München 1966; zuerst amerikanisch 1956. - G.G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971; zuerst amerikanisch 1968, behandelt nicht die Geschichtswissenschaft, sondern die Geschichtsphilosophie. Eine Monographie über die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, zugleich als Einfuhrung in neue Forschungsniethoden, plant K.F. Werner. Vgl. Jahrbuch der historischen Forschung 1975, Stuttgart (1976), 166 (Nr. 76).

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Politischen sowie der Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. „Geschichte" ist dabei als „ganze Geschichte" (W. Scheel) verstanden: sowohl Ereignisgeschichte wie Strukturgeschichte. Aus wohlerwogenen Gründen, die ich hier nicht entwickeln möchte, halte ich den Satz: „Geschichte ist eine historische Sozialwissenschaft" für falsch, dagegen den Satz: „Geschichte ist auch eine historische Sozialwissenschaft" für richtig. Vor allem muß davor gewarnt werden, ausgesprochen oder unausgesprochen, die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts, besonders seit 1945, mit dem Teil der Geschichtswissenschaft gleichzusetzen, der sich mit der (deutschen) Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt. Diese Verwechslung ist weit verbreitet. 2 Sie ist aber unzulässig und liefert ein ganz verzerrtes Bild. Um die Tendenzen und Strömungen der gesamten deutschen Geschichtswissenschaft der Gegenwart richtig zu erkennen, ist es mindestens ebenso wichtig, sich mit der mittelalterlichen und (früh-)neuzeitlichen Forschung zu beschäftigen wie mit der Forschung, welche die Neueste Zeit behandelt. In jedem Falle ist eine absolute Eingrenzung auf „deutsche" Geschichte (als Forschungsobjekt) nicht angängig; daß hingegen die deutsche Geschichte (im Rahmen des Europäischen und im Rahmen der Berührung Europas mit und dem Ausgreifen Europas auf die übrige Welt) im Vordergrund stehen muß, ist selbstverständlich. In den letzten zehn Jahren ist von den Historikern eine halbe Bibliothek „Theorie-Diskussion" zusammengeschrieben worden. An dieser Diskussion waren vornehmlich Kollegen beteiligt, die an Neuester Geschichte interessiert sind. Im Folgenden wird diese Grundlagen-Diskussion beiseite gelassen. Dies ist insofern erlaubt, als der deutschen Theorie-Diskussion keine genügend klare Konzeption von „Theorie" zu Grunde gelegen hat weil über das, was „Theorie" sein kann und sein soll, noch zu wenig nachgedacht und gesprochen worden ist. Die Diskussion wurde, um wirklich Erkenntnis-„Theorie" zu bieten, zu viel von PhilosophieAmateuren bestimmt; in dieser Hinsicht fehlte es nicht an Anspruch, wohl aber an Kompetenz. Andererseits wurde, wo Sachkompetenz un2

So ist bei R. Vieihaus, Zur Lage der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Jahrbuch der historischen Forschung 1974. Stuttgart (1974), 1 7 - 3 2 die Mittelalterforschung nicht behandelt worden; darüber dann H. Beumann, Zur Lage der Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Jahrbuch der historischen Forschung 1975. Stuttgart (1976), 13-25. Der Schlußvortrag vom Mannheimer Historikeitag, W. Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse. In: Historische Zeitschrift. 225 (1977), 1 - 2 8 , befaßt sich mit der Behandlung der Neuesten Geschichte.

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bezweifelbar hätte eingebracht werden können, im Bemühen um die Geschieh ts-Methodologie, die Chance wenig genutzt, weil man zu philosophisch argumentierte. Der Unterschied zwischen der (methodologischen) Frage nach dem, was ein Historiker tut (oder tun und vermeiden soll) von der (philosophischen) Frage nach dem, was Geschichte (und Geschichtswissenschaft) ihrem Wesen nach ist und sein kann, wurde dadurch verwischt. Das große Wort „Historik" ist in den letzten Jahren zwar wieder modern geworden. Ein neuer Droysen aber ist noch kaum in Sicht. Wie die Theorie-Diskussion lasse ich auch die Frage nach der „Relevanz" der Geschichtswissenschaft, des Geschichtsunterrichts und des Geschichtsbewußtseins beiseite; ich setze voraus, daß diese Frage — wenigstens im Prinzip — positiv zu beantworten (und beantwortet worden) ist, auch in bezug auf den am meisten „gefährdeten" Bereich unserer Geschichte, das Mittelalter. Leider beschäftigen sich die deutschen Mittelalter-Historiker mit diesem Problem wenig. Die großen bildungspolitischen Auseinandersetzungen über den geeigneten Anteil des Mittelalters an dem Geschichtsunterricht der Schulen oder der universitären Ausbildung der künftigen Geschichtslehrer in Hessen und Nordrhein-Westfalen sind nicht von den „ e i g e n t l i c h z u n ä c h s t Zuständigen, den Mediävisten, geführt worden. Diese sind auch, was die Probleme des Gesamtfachs, der übergreifenden „ganzen" Geschichte betrifft, eher zurückhaltend. Es ist bezeichnend daß die Vorsitzenden des Historikerverbandes seit 1958 immerzu Neuhistoriker sind. Beim letzten Historikertag (Mannheim, September 1976) fand sich trotz guten Willens und eifriger Bemühungen von vielen Seiten kein Mediävist als Kandidat für die Bürden dieses Amtes. Für das Gesamtfach und besonders für die Mediävisten ist das sehr schade. Ich behandle mein Thema in drei Schritten: — Allgemeine Situation der Geschichtswissenschaft (2); — Organisation der Forschung (3); — Führungs- und Nachwuchsprobleme (4).

2. Die allgemeine Situation der Geschichtswissenschaft Im 19. Jahrhundert hatte die deutsche Geschichtswissenschaft sich durch ihre Leistungen und ihre Organisation eine in der ganzen Welt anerkannt führende und viel bewunderte Position geschaffen. Um 1900 ging es unter den Oxforder Historikern um die Frage, ob sie das .¿deutsche" System übernehmen müßten oder nicht. Daran würde heute niemand mehr denken. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat ihre führende

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Stellung im 20. Jahrhundert nicht behaupten können. Mißt man ihre Leistungen heute an den besten internationalen Standards, so schneidet sie nicht gerade schlecht ab; sie gehört (noch und wieder) in die Gruppe derjenigen, deren Ansehen im Fach unbestritten ist; aber „Spitzenreiter", wie im 19. Jahrhundert, ist sie nicht mehr. Die wichtigsten neuen Fragen, Methoden und Forschungsorganisationen der Geschichtswissenschaft kamen in den letzten fünfzig Jahren nicht aus Deutschland. Daß die deutsche Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten merklich aufgeholt und wieder internationalen Anschluß gefunden hat, darf nicht als eine Selbstverständlichkeit angesehen werden. Der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen, danach der Einbruch der Jahre 1933-1945, bedeuteten schwere Vorbelastungen, wenngleich die Geschichtswissenschaft als Ganzes sich in der Hitler-Diktatur wohl nicht so anfällig für das damals „Moderne" gezeigt hat wie etwa die Germanisik. Aber die Verluste durch Emigration und Krieg, durch Einschränkung und Ausfall der kontinuierlichen Wissenschaftspflege und durch Abkapselung vom internationalen Leben der übrigen wissenschaftlichen Welt waren beträchtlich. Es kam hinzu, daß ein großer Teil dieser Belastungen nach 1945 lange fortdauerte und neue hinzutraten, von denen andere Disziplinen nicht oder nicht so zentral betroffen sind. Der Verlust des deutschen Nationalstaates durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Europas durch die Elbe-Linie beseitigten ein Fundament des geschichtlichen Selbstverständnisses der Deutschen und machten viele Historiker orientierungslos. Das war und ist bis in die MittelalterForschung hinein zu spüren — als Belastung, aber auch als Herausforderung, der man sich stellte. Eine vor allem für die Neueste Geschichte in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Behinderung der Forschung war der Verlust der erhaltenen Teile der zentralen deutschen Archive und Akten (Reich und Preußen) durch das Kriegsende. Diese Akten sind erst ab 1958 wieder in deutsche Hände zurückgegeben worden. Dabei kamen ca. 90 % des Erhaltenen nach Mitteldeutschland (Potsdam und Merseburg). Dort sind sie bis heute nicht frei zugänglich, und auch, wenn von den dortigen Behörden Benutzungserlaubnis erteilt wird, bleiben Arbeitserschwernisse, die wir in unserer Welt nicht kennen: so werden z. B. die Findbücher nicht zu eigenen Durchsicht ausgegeben. Diese Archiv-Situation hat für die Forschung erhebliche negative Konsequenzen. Ein Ende ist noch nicht abzusehen. Die Folgen dieser Umstände belasten die einzelnen Bereiche der gesamten Geschichtsforschung sehr unterschiedlich. Am wenigsten und sicher nicht bedrohlich wird dadurch die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte erschwert. Anders sieht es schon bei der Erforschung der Neuzeit aus, die in einigen Teilbereichen mit erheblichen, oft un-

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überwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, als Ganzes aber doch noch möglich bleibt. A m schlimmsten steht es um die Erforschung der Neuesten Geschichte. Es gibt zentrale Bereiche unserer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die wegen der ungünstigen ArchivSituation mehr oder minder brachliegen müssen. Insgesamt ist die Intensität der deutschen Geschichtsforschung größer als j e zuvor. Zahlenmäßig steht die Neueste Geschichte — und innerhalb dieser die „Zeitgeschichte" ( = Zeitbereich v o m Ersten Weltkrieg an) — im Vordergrund, w o b e i die Quantität mit der Qualität nicht immer Schritt hält. Insgesamt gilt für diesen Teil der Neuesten Geschichte, daß ihre Ergebnisse erfahrungsgemäß wegen der Änderung der Fragestellung und des Forschungsinteresses am schnellsten überholt sind. Als durchaus positiv sollte jedoch gewertet werden, daß sehr viele deutsche Historiker sich keineswegs zu „schade" sind, auch (oder vornehmlich) die unmittelbare Vergangenheit zu behandeln. Seit einigen Jahren tritt an die Geschichtswissenschaft als ganz neue A u f g a b e die historische Erforschung der Zeit nach 1945 heran, da staatliche Quellen sukzessiv zugänglich werden (30-Jahresfrist für Archiv-Benutzung). Ob und wie die deutsche Geschichtswissenschaft mit dieser Herausforderung fertig wird, läßt sich j e t z t noch nicht sagen. Sicher ist, daß wir wegen der hinzutretenden neuen Überlieferungsformen und der ungewöhnlichen Massenhaftigkeit der A k t e n auch ganz neue Sichtungs- und Arbeitsverfahren entwickeln resp. anwenden müssen. Die bedeutendsten, weil dauerhaftesten Leistungen der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg dürften im Bereich der Mediävistik erzielt worden sein, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens hat die resolute Anwendung landesgeschichtlicher Methodenhervorragende Resultate für die mittelalterliche Verfassungsgeschichte (was zugleich Sozial- und Rechtsgeschichte bedeutet) erbracht, also für die Geschichte des inneren Gefüges der mitteralterlichen Welt. Das Neue läßt sich zwar nicht mehr, wie vor 50 und 100 Jahren, in bequeme, einfache Formeln fassen. Auch aus diesem Grunde hat die Öffentlichkeit von dieser außerordentlichen Vertiefung und Verfeinerung unseres Wissens ( n o c h ) wenig Kenntnis genommen.Das schmälert aber nicht ihre wissenschaftliche Bedeutung. Zweitens sind in den letzten vierzig Jahren die den handlungsbestimmenden Intentionen vorausliegenden allgemeinen Denkweisen (mentalités) in einer früher unbekannten Präzision erforscht und beschrieben worden. Beides zusammen wirkt ungemein befruchtend auch auf die Ereignisgeschichte, die sich mit den handelnden Personen und der Politik des Mittelalters beschäftigt. Überhaupt ist anzumerken, daß der deutschen Mediävisik

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diese Leistungen kaum möglich gewesen wären, wenn nicht die bewährten älteren Forschungsstationen, zu denen der gesamte Apparat der hilfswissenschaftlichen Methoden gehört, kontinuierlich weitergepflegt worden wären. Das bedeutsame Neue hat das Alte nicht ersetzt sondern ergänzt; es ist hinzugetreten. In zweiter Linie wäre die Erforschung unseres 16. Jahrhunderts, die Reformationsgeschichte, zu nennen. Ihr kam das Schwinden des konfessionellen Antagonismus unter der gemeinsamen Verteidigungslast gegen den Nationalsozialismus und unter den veränderten politischen Gegebenheiten nach 1945 sehr zu Gute. Die Erforschung des 16. Jahrhunderts konnte daher viel unbefangener betrieben werden als früher wofür übrigens die vielgeschmähte positivistische Detailforschung unersetzliche Voraussetzungen geschaffen hatte (und schafft). Ob der erreichte Forschungsstand gehalten werden kann, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Viel dürfte davon abhängen, ob trotz der rapiden Dechristianisierung unserer Welt das historische Interesse an Christentum und Kirche(n) lebendig bleibt. Außerhalb der Zunft ist die Meinung weit verbreitet, daß die größte Leistung der letzten Jahrzehnte, besonders der letzten zehn Jahre, im Zurückdrängen der Politischen Geschichte und im Aufgreifen wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Probleme und Fragen liege, besonders für den Bereich der Neuesten Geschichte, in der (die) Ereignisgeschichte durch (die) Strukturgeschichte mehr und mehr ersetzt worden sei und werde. Die gleiche Ansicht wird auch von einem Teil der Historiker vertreten, vor allem von manchen, die sich dieser Forschungsrichtung zugewendet haben. Zweifellos sind auf diesem Felde anerkennenswerte Bemühungen zu konstatieren. Parteien-Geschichte und OrganisationenGeschichte, auch von unten, sind relativ junge, aber ungemein schnell blühende Zweige der deutschen Geschichtswissenschaft geworden und liefern nützliche Einsichten. Insgesamt wird die dauerhafte Bedeutung dieser Forschungsansätze wohl etwas überschätzt. Die deutsche Geschichtswissenschaft war auch fiiher nicht so einseitig politisch-geistesgeschichtlich orientiert wie manche meinen, so daß ihr „Nachholbedarf" geringer war, als Außenstehende vermuten könnten. Außerdem ist „reine" Strukturengeschichte kaum möglich; sie kann nicht an Stelle der Ereignisgeschichte treten, sondern diese nur (wirkungsvoll) ergänzen. Ganz im Anfang steht in Deutschland noch die Benutzung quantifizierender Methoden, die seit einiger Zeit in den USA (New Economic History), in England und in Frankreich Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden haben. Sie werden, besonders für die Geschichte der Neuzeit und die Neueste Geschichte, eine wichtige, allerdings sehr arbeits-aufwendige, Hilfswissenschaft werden, wie sich jetzt schon abzeichnet.

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Neben den Leistungen der historischen Forschung muß auch von Schwächen gesprochen werden, die sich zeigen. Die einzelnen Teilbereiche der Geschichtswissenschaft sind davon ebenfalls sehr unterschiedlich betroffen, und bei der Mannigfaltigkeit unseres Wissenschaftsbetriebes ist es oft sehr schwer zu erkennen, was denn das am meisten Charakteristische sei. Ganz allgemein - also notwendig sehr vergröbernd — gesprochen, darf die Mediävistik wohl als eine im Ganzen intakte Wissenschaft gelten; für die frühneuzeitliche Geschichte, besonders aber für die Neueste Geschichte kann das nicht mit der gleichen Bestimmtheit behauptet werden. Grundlage dieses (harten) Urteils ist die Frage nach den potentiellen Folgen wissenschaftlicher Fehlleistungen, also nach dem Niveau und der Funktion des Rezensionswesens. Dieses ist im Bereich der Mittelalterforschung soweit Menschenwerk überhaupt als „intakt" bezeichnet werden darf, offenkundig intakt. Der Nachweis evidenter Methodenfehler, unzureichender Quelleninterpretation und falscher Frageansätze hat dort für den Betroffenen in der Regel wirklich Konsequenzen. Eine vernichtende Kritik kann das Ende einer wissenschaftlichen Karriere bedeuten und/oder die Reputation des Betroffenen in der Zunft entscheidend beeinträchtigen. Offenbar gibt es in diesem Bereich der Geschichtswissenschaft allgemein anerkannte Kriterien, deren Berücksichtigung auf diese Weise erzwungen und garantiert wird. Die Rezension fungiert als unbestrittenes und unerläßliches Regulativ der Mediävistik. Diese regulierende Funktion haben die Rezensionen in dem Bereich der Geschichte der Neuzeit und der Neuesten Geschichte nicht (mehr). Wissenschaftliche Blamage wird für den Blamierten zusehends ungefährlicher, weil folgenloser. Dies mag zum (wie ich glaube: geringeren) Teil mit der Politisierung des Faches zusammenhängen; wichtiger scheint mir, daß die Menge des Produzierten es nahezu unmöglich macht, daß jedes wichtige Werk wirklich sachkundig und unvoreingenommen kritisch (= wissenschaftlich überzeugend) rezensiert werden kann. Für die Wissenschaftlichkeit der Neueren und der Neuesten Geschichte ist dies überaus bedrohlich; denn je mehr genuin wissenschaftliche, also generell überprüfbare und daher akzeptierbare Kriterien ausfallen, um so mehr kommen para- und metawissenschaftliche Kriterien zum Zuge. - Selbstverständlich gilt dieses Urteil nicht für die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft, die sich mit der Zeit ab ca. 1500 befaßt. Aber die Tendenz geht in diesem Bereich der Forschung in die besagte Richtung. Alleindies ist lebensgefährlich genug. Dem leistet Vorschub der deplorable Zustand unseres historischen Bibliographiewesens. Wir verfügen zwar über viel mehr Bibliographien

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als unsere Väter, wissen dadurch mehr aber nur von immer weniger, weil das Gesamte nicht mehr laufend und zuverlässig erschlossen wird und daher immer schlechter überblickt werden kann. Der „DahlmannWaitz", für Generationen deutscher Historiker das tägliche Handwerkzeug, ist seit langem veraltet (letzte Auflage 1931). Eine neue Auflage, die bis 1960 fuhren soll, erscheint seit 1965, wird aber fast zwei Jahrzehnte benötigen, ehe sie abgeschlossen ist. Wenn sie einmal fertig sein wird, fehlt die Grundbibliographie für das Vierteljahrhundert 1960-1985, in dem mehr produziert worden sein dürfte als in den fünfzig Jahren zuvor. Da gleichzeitig die laufenden Jahresbibliographien der allgemeinen Geschichte immer untauglicher geworden sind, geraten wir immer tiefer in einen chaotischen Zustand. Er wird nur teilweise durch gute Spezialbibliographien beseitigt, weil auch diese mit dem Problem der Menge des zu Erfassenden und der Schnelligkeit der Berichterstattung nicht immer fertig werden können, wofür die Bibliographie zur Zeitgeschichte (seit 1953; bisher ca. 39000 Titel) markante Beispiele bietet. Wie bei dem Rezensionswesen gilt auch hier, daß generelle Urteile für die gesamte Geschichtswissenschaft nicht angebracht wären. Wer Erforschung des Mittelalters oder der frühen Neuzeit betreibt, kann sich (mit relativ geringen Mühen) auf dem Laufenden halten; die landesgeschichtliche Berichterstattung, die einen erheblichen Anteil an der gesamten geschichtswissenschaftlichen Produktion ausmacht, ist bei uns gut ausgebaut. Die laufende Dokumentation für die Gesamtgeschichte aber liegt im Argen wie nie seit 150 Jahren. Als sehr gravierender Mangel unseres geschichtswissenschaftlichen Forschungsbetriebes muß schließlich die überlange Dauer vieler,.materialerschließender geisteswissenschaftlicher Projekte", wie die Editionen in der Wissenschaftsverwaltungs-Sprache neuestens heißen, bezeichnet werden. Der wissenschaftliche Fortschritt ist in der Historie sehr an die Existenz zuverlässiger Quellenpublikationen geknüpft, besonders auch an Aktenpublikationen zentraler Bestände oder über zentrale Probleme. Stagnieren solche Publikationen, so wird in deren gesamten „Einzugsbereich" die monographische Erforschung schwer behindert, vieles sogar verhindert. Solchem Stagnieren ließe sich in den meisten Fällen mit gezielt konzentiertem, mittelfristigem Einsatz entsprechender Mittel relativ leicht abhelfen. Daran fehlt es aber oft. Ich erinnere etwa an die Publikation der Reichstagsakten des 15. und 16. Jahrhunderts, die seit 120 Jahren im Gange ist und deren Abschluß wir kaum erleben werden; oder an die Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918—1945, deren Erscheinungsrhythmus sich erheblich verlangsamt hat, nachdem das unmittelbare politische Interesse an der

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Dokumentierung der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges nachließ. Damit sind wir bereits beim nächsten Punkt:

3. Die Organisation der Geschichtswissenschaft Eine Gesamtorganisation der deutschen Geschichtswissenschaft gibt es nicht. Sie wäre auch kaum wünschenswert. Der Verband der Historiker Deutschlands (Vorsitz: G.A. Ritter/München) organisiert nicht die Forschung, sondern die Forscher. Er tritt vor allem mit dem Deutschen Historikertag an die Öffentlichkeit, der in zwei resp. dreijährigem Abstand abgehalten wird. Satzungsgemäß ist der Historikerverband auch für die Vertretung der deutschen Geschichtswissenschaft nach außen zuständig, besonders gegenüber dem Comité international des sciences historiques (Vorsitz: K.D. Erdmann/Kiel) das in fünfjährigem Abstand Internationale Historikerkongresse organisiert und in ungefähr 10 Sonderkommissionen (z. B. für Ständegeschichte, für vergleichende Kirchengeschichte usw.) weitere Tagungsaktivitäten entwickelt, dadurch auch Forschung anregt, aber nicht selbst betreibt. Wie in den übrigen Geisteswissenschaften wird die monographische Forschung zu einem großen Teil (noch) an den Universitäten geleistet. Daneben spielen für die Geschichtswissenschaft die Archivare eine erhebliche Rolle, die im Verein deutscher Archivare organisiert sind (Vorsitz: E. Franz/Darmstadt), während die im Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Vorsitz: S. Graßmann/Ahrensburg) zusammengeschlossenen Historiker der Schulen für die Forschung im Unterschied zu früher, nur noch ausnahmsweise in Betracht kommen. Charakteristisch ist außerdem für die deutsche Geschichtswissenschaft schon seit dem 19. Jahrhundert eine große Zahl von lokalen, regionalen und überregionalen Institutionen, insgesamt mehrere Hundert. Sie sind in drei Dachorganisationen zusammengefaßt: — dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine (Vorsitz: W. Heinemeyer/Marburg) mit 202 Vereinen als Mitgliedern, — der Arbeitsgemeinschaft historischer Kommissionen und landesgeschichtlicher Institute (Vorsitz: H. Stoob/Münster) mit 54 Institutionen als Mitgliedern, sowie — der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland (AHF) mit 53 Institutionen als Mitgliedern (Vorsitz: F. Wagner/München). Mitglied der letztgenannten Arbeitsgemeinschaft sind die überregionalen Forschungsinstitutionen. 3 Unter diesen befinden sich (relativ) große Behörden wie das Bundesarchiv und die drei historischen Auslands-

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institute in Rom, Paris und London, auch die mit weniger Personal ausgestatteten, 1819 gegründeten Monumenta Germaniae Histórica, Zentralinstitut der deutschen Mittelalterforschung, sowie die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (gegr. 1858), die für mehr als ein Dutzend Projekt-Komplexe der deutschen Geschichtsforschung, vom Mittelalter bis zur Neuesten Zeit, zuständig ist. Für die Zeitgeschichte ist (seit 1950) im (Münchener) Institut für Zeitgeschichte eine relativ große Forschungseinrichtung aufgebaut worden. Es fehlt in Deutschland ein für den Zeitbereich zwischen 1500 und 1900 — also zwischen Monumenta Germaniae Histórica und Institut ßr Zeitgeschichte — zuständiges zentrales Forschungsund Editionsinstitut, eine Aufgabe, die das Göttiner Max-PlanckInstitut für Geschichte mit seinen speziellen Aufgaben (Mittelalter, Neuzeit) nicht leisten kann. Nach 1945 ist mehrfach versucht worden, über die Aktivitäten des Internationalen Historiker-Komitees und seiner Unterkommissionen hinaus Geschichtsforschung als internationale Kooperation zu institutionalisieren. Diese Versuche sind insofern wenig erfolgreich verlaufen, als es in keinem Falle gelungen ist, eine dauerhafte internationale Finanzierung zu erreichen, da sich die einzelnen Staaten dafür als ebenso unzuständig erklärten wie die zwischen- und überstaatlichen Organisationen. Die über dreihundert lokalen, regionalen und überregionalen historischen Institutionen, für die es in den übrigen Geisteswissenschaften keine Parallele gibt, leisten und erbringen einen nicht unerheblichen Teil der Forschung. Das gilt auch für die ehrenamtlich geführten Geschichts- und Altertumsvereine, die insgesamt im Jahresdurchschnitt etwa 1000 bis 1500 Vortragsveranstaltungen abhalten und fast immer eine (keineswegs dilettantisch redigierte) wissenschaftliche Zeitschrift, daneben oft auch eine Monographien-Reihe, publizieren. Die in der genannten Arbeitsgemeinschaft zusammengefaßten landesgeschichtlichen Forschungs- und Publikationsinstitute werden natürlich professioneller betrieben und haben sei langem einen festen, anerkannten Platz in der Zunft. Ihr institutionelle und personelle Verbindung zu den Universitäten ist unterschiedlich; das Spektrum reicht von völliger Integration bis zu ganz lockerem Nebeneinander. Ein beträchtlicher Teil der ungefähr 70 geschichtswissenschaftlichen Tagungen, die im jährlichen Durchschnitt in Deutschland abgehalten werden, wird von diesen

3

Mitgliederliste: Jahrbuch 135 ff.

der historischen

Forschung

1975.

Stuttgart ( 1 9 7 6 ) ,

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Kommissionen und Instituten, oder in Zusammenarbeit mit ihnen, veranstaltet. Die in der AHF vertretenen Institutionen stehen dagegen neben den Universitäten. Sie werden jedoch fast ausnahmslos von Hochschullehrern ehren- oder nebenamtlich geleitet. Fast alle beschäftigen hauptamtliche Mitarbeiter und betreiben in der Regel ,»materialerschließende geisteswissenschaftliche Projekte". Für diese Editionsunternehmungen gilt mutatis mutandis das gleiche, was an anderer Stelle über die philosophischen Editionen gesagt worden ist: —Editionstätigkeit kann heute nur selten noch „nebenbei" geleistet werden, sondern setzt, wenigstens zum Teil, hauptamtliche Kräfte voraus, die sich diesem schweren Geschäft wirklich ungeteilt widmen können. — Gute Editionsleistungen können auf die Dauer nicht in einem institutionalisierten Elfenbeinturm erbracht werden, sondern setzen kontinuierlichen, lebendigen Kontakt mit dem „meta-editorischen" Leben der übrigen Wissenschaft voraus. — Deshalb ist für hauptamtliche Editionen irgendeine Form von universitärer Lehrtätigkeit in der Regel eine unersetzbare, höchst wünschenswerte Ergänzung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit: — Derzeit gibt es für die positive Lösung dieses Problems viele defacto-Lösungen, kaum aber juristisch fixierte, also institutionalisierte Vereinbarungen und Möglichkeiten. Ziemlich ungelöst ist in vielen außeruniversitären Forschungseinrichtungen die Frage nach den Aufstiegsmöglichkeiten (Stellenkegel) und nach der Tätigkeitsdauer. Ein großer Teil dieser Institutionen hat nur wenige oder gar keine Planstellen. Man ist von jährlichen Zuschüssen abhängig und kann daher die Mitarbeiter (aus zwingenden arbeitsrechtlichen Gründen) nicht über fünf Jahre hinaus beschäftigen. Das ist ein schweres Handikap. Bislang konnten solche Mitarbeiter ihre Zugehörigkeit zu einer angesehenen Forschungs-Institution als ein Durchgangsstadium betrachten und fanden einen Übergang in andere Berufe (Universität, Archiv, Schule). Ein solches Überwechseln wird demnächst, wie zu vermuten ist, auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen, weil der Stellenmarkt für derartige Gelehrte sich rapide verschlechtert. Die Folge wird sein, daß man für die Durchgangsstellen in den Forschungseinrichtungen die besten Kräfte immer schlechter gewinnen kann, da sie die Sicherheit in einem endgültigen Beruf mit den üblichen leistungsprämierenden Aufstiegschancen der Ungewißheit in einem Institut vorziehen. Dies ist um so garavierender, als — aus gänzlich anderen Gründen — die lebenslange Zugehörigkeit zu einer PublikationsInstitution ohnehin nicht immer wünschenswert ist; für solche Institu-

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tionen ist ein gewisser ständiger Personalwechsel ein wirksames Mittel, um schädliche Erstarrung im Althergebrachten zu vermeiden. Da außerdem der Stellenkegel der meisten Institutionen viel zu klein ist, um überdurchschnittliche Leistungen wirklich honorieren zu können, stellt sich hier ein auf die Dauer sehr heikles Problem. Forschungsinstitutionen, die geistig erstarrte, doch gleichwohl unkündbare Mitarbeiter jähre- und jahrzehntelang mitschleppen müssen, sind ein Greuel. Die AHF, 1972 gegründet, kann sich nur zu einem geringen Teil aus Beiträgen ihrer Mitglieder finanzieren. Sie lebt bisher im Wesentlichen von Zuschüssen des Stifterverbandes und hat, als oberste ClearingStelle, für die historische Forschung eine bereits sehr wirkungsvolle Tätigkeit entwickelt. Die Öffentlichkeit erfuhr das im Winter 1973/74, als die Bundesregierung Etat-Beschlüsse faßte, die für eine Reihe der außeruniversitären überregionalen Forschungsinstitutionen das Ende zu bedeuten schienen. Die Zusammenarbeit aller Institutionen hat erheblich dazu beigetragen, daß der Kampf für die Erhaltung dieser Institutionen erfolgreich durchgestanden werden konnte. Das BundLänder-Ab kommen von 1976 scheint sich insgesamt, was die historischen Forschungseinrichtungen betrifft, zu bewähren. Neben und vor dieser notwendigen, vom Augenblick erzwungenen „Defensiv-Politik" der AHF steht von Anfang an selbstverständlich auch positive, nicht wissenschaftspolitisch, sondern wissenschaftlich motivierte Tätigkeit. Sie entfaltet sich einerseits in Arbeitskreisen, die allgemein interessierende Probleme behandeln. Eine Denkschrift Zur Edition zeitgeschichtlicher Quellen 4 ist 1976 verabschiedet und dem Internationalen Historikerkongreß in San Francisco vorgelegt worden; eine ähnliche Denkschrift für frühneuzeitliche Quellen (16./17. Jahrhundert) ist in Arbeit. Druck- und Verlagsfragen werden regelmäßig erörtert, ebenso Strukturprobleme der Forschungseinrichtungen. Die wichtigste Aktivität der AHF gilt dem Informationswesen. Einmal beliefert sie die Massenmedien mit regelmäßigen Presseinformationen über die Tätigkeit ihrer Mitglieder. Vor allem aber sucht sie, das wissenschaftliche Informationswesen im Fach Geschichte modern und leistungsfähig aus- und aufzubauen. Dem dient besonders ein bisher zweimal (1974,1976) erschienenes Jahrbuch der historischen Forschung. Es enthält Forschungs- und Tagungsberichte, eine Chronik, Mitteilungen der AHF sowie — als wichtigstes — den Index der Forschung, eine Aufstellung der in Deutschland auf dem Gesamtgebiet

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der Geschichte laufenden Forschungsprojekte. Dieser Index basiert auf umfangreichen Befragungen bei den Universitäten und den außeruniversitären Institutionen. Er enthält im Jahresband 1975 ca. 6000 Titel. Damit ist gewiß noch nicht die gesamte geschichtswissenschaftliche Forschungs-Aktivität titelmäßig erfaßt, obgleich der Rücklauf der Erhebungsbögen relativ hoch war. Aber ein guter Anfang ist gemacht. 1976 traten erhebliche Finanzierungsschwierigkeiten für dieses neue Unternehmen ein. Sie können als überholt gelten, nachdem nunmehr der Index der Forschung in das Informations- und Dokumentationsprogramm der Bundesregierung aufgenommen worden ist. Damit stehen ausreichend Mittel zur Verfügung, die eine kontinuierliche Fortführung sichern und das Ausmerzen der Kinderkrankheiten, die — auch wegen der bisher verfugbaren Mittel — nahezu unvermeidlich waren, erleichtern. In naher Zukunft wird damit eine für Wissenschaft, Wissenschaftsverwaltung und Öffentlichkeit eine ungemein bedeutsame, laufende Informationsquelle verfugbar werden. Es ist daran gedacht, auch für die erschienene Literatur auf die Dauer ein ähnliches Informationsmittel zu schaffen, um so den vorerwähnten Mängeln auf bibliographischem Gebiete abzuhelfen. Dies erfordert jedoch ziemliche Vorarbeiten und Mittelzuweisungen, die einstweilen nicht verfügbar sind. Geprüft wird zur Zeit in einem Pilot-Verfahren, ob eine umfassende Dokumentation ungedruckter Quellen unter Zuhilfenahme der EDVMöglichkeiten realisierbar ist.

4. Führungs- und Nachwuchsprobleme Wie sich ergibt, lebt die deutsche Geschichtswissenschaft direkt nicht ausschließlich von und in den Universitäten, wohl aber indirekt, da fast das gesamte Führungs- und Leistungspersonal der außeruniversitären wissenschaftlichen Unternehmungen aus hauptamtlichen Hochschullehrern besteht. Was eintreten wird, wenn diese Schicht für diese Funktion wegen der bevorstehenden Veränderungen im Hochschulbereich einige Zeit hindurch ausfällt, ist öffentlich bis zur Stunde kaum erörtert worden. Es bedarf aber keiner großen Phantasie, um sich die wahrscheinlichen Folgen auszumalen, die eintreten müssen, wenn die Forschung insgesamt an den Universitäten in Zukunft weiter tabuisiert wird und schließlich erlischt. Werden hier nicht rechtzeitig Auffangund/oder Ausweichstellungen vorbereitet, dürfte es um Leben und Tod der deutschen Geschichtswissenschaft gehen. Die universitären Nachwuchsprobleme stellen sich für die Geschichtswissenschaft ähnlich wie für die anderen Geisteswissenschaften, welche

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Schulfächer vertreten. Vermutlich böte der sog. Finkenstaedt-Plan für die kommenden zehn Jahre den (relativ) besten Ausweg aus der Kalamität. Aussichten für eine baldige Realisierung zeichnen sich anscheinend aber noch nirgendwo ab. In teilweisem Unterschied zu den anderen Geisteswissenschaften muß aber noch auf zwei Probleme aufmerksam gemacht werden, die speziell unseren Nachwuchs betreffen und bis vor kurzem unbekannt waren. Erstens ist hier an die Folgen der früheren Familiengründung für die Ausbildung des gelehrten Nachwuchses zu erinnern. Konsequenz ist in vielen, wenn nicht den meisten Fällen eine erheblich verminderte Mobilitäts-Bereitschaft und Mobilitäts-Möglichkeit der Jüngeren. Der Historiker aber bedarf der Anschauung und Erfahrung die nur durch wirkliche „Wandeijahre" zumal in fremden Landschaften und Ländern, erworben werden kann. Urlaubs- und Bildungsreisen können das nicht ersetzen. Verbringt das Gros unserer jungen Nachwuchskräfte nicht einige Zeit forschend und/oder lehrend im Ausland, ist eine geistige Provinzialisierung der Geschichtswissenschaft kaum zu vermeiden. Das Zweite läßt sich noch nicht mit der gleichen Sicherheit prognostizieren, obgleich sich Einiges bereits abzeichnet: die Folgen der veränderten Schulausbildung in der Sekundarstufe II (Einführung des Kurs-Systems) sind für die Gewinnung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses vermutlich nicht gering. Es besteht erstens ernsthaft die Gefahr, daß viele Abiturienten in steigendem Maße viel zu viel von viel zu wenig wissen, aus Mangel an grundlegendem Überblickswissen ihr tatsächliches Wissen und Können immer schlechter einzuordnen und zu mehren vermögen und die wissenschaftlichen Sandkastenspiele der Oberstufe mit Wissenschaft verwechseln. Die Enttäuschung an der Universität muß dann groß sein. Das zweite ist die veränderte sprachliche Vorbildung. Mit drei, vier Fremdsprachen wissenschaftlich umgehen zu können, ist für einen Historiker das Minimum. Diese Fähigkeiten vermittelt die Schule nur noch in Ausnahmefällen. Welcher Student aber wird in der Lage sein, seine fehlenden Sprachqualifikationen während des Hochschulstudiums in ausreichendem Maße zu ergänzen, zumal, wenn die Regelstudienzeiten eingeführt werden? Eine düstere Aussicht für die Geschichtswissenschaft, die nur bei rechtzeitiger institutionalisierter Vorsorge und Abhilfe vermieden werden kann. Noch wäre es Zeit. Ob diese genutzt wird, läßt sich im Augenblick kaum sagen.

Gerhard Kegel (Köln) Z u r Lage d e r R e c h t s w i s s e n s c h a f t

I. Die Rechtswissenschaft als Teil der Geisteswissenschaften Daß die Jurisprudenz überhaupt eine Wissenschaft sei, hat man geleugnet. Schon 1848 hielt ein Staatsanwalt von Kirchmann einen Vortrag „Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft". Die Frage kann indes nur für einen Teil der Rechtswissenschaft, freilich den wichtigsten Teil, zweifelhaft sein: Für die Erforschung, Auslegung und Systematisierung des geltenden Rechts, nicht für Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung. Die ganze Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz ist aber müßig. Denn hier, wie in der Wissenschaft überhaupt, sind Wissen, Denken und Methode nötig. Teilt man die Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften, dann ist die Jurisprudenz, wenn sie Wissenschaft ist, Geisteswissenschaft. Daher steht sie mit den anderen Geisteswissenschaften in Schicksalsgemeinschaft, wenn auch Werden, Glück und Ende der verschiedenen Wissenschaften zugleich eigene Züge tragen. Ihre Existenzberechtigung können die TVatarwissenschaften legitimieren mit ihrem Nutzen (außer gegenüber den Verfechtern des einfachsten Lebens). Die Geisteswissenschaften müssen ihren Wert ins Feld führen. Diesen Wert könnte man in der Leistung erblicken: Wir wollen auf dieser Welt nicht dahindämmern, sondern Leistungen sehen im Sport, in der Technik, in der Kunst, in der Wissenschaft. Aber das genügt nicht. Die Leistung muß auch erwünscht sein, anerkannt von communis oder doch dominans opinio. Leistungen im Schlagballspiel zählen nicht, wenn das Spiel aus der Mode gekommen ist. In den Naturwissenschaften braucht man sich über die Erwünschtheit keine Gedanken zu machen, weil sie nützlich sind. Die Erwünschtheit der Geisteswissenschaften, ihr Wert, beruht wie der Wert meist, z. B. im Handel und im Steuerwesen, auf übereinstimmendem Urteil, auf consensus. Die Geisteswissenschaften brauchen daher ein Klima. Dies finden sie, geschichtlich bedingt, in den meisten Ländern des Westens, wenngleich es sich vielerorts abschwächt. Sie finden es nicht mehr (oder

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doch nicht hinreichend) in kommunistischen Staaten, in denen der Geist weithin mißachtet und politisch mißbraucht wird. Die Geisteswissenschaften finden ein Klima noch nicht in vielen Entwicklungsländern, die ganz im Kampf um das Notwendigste aufgehen. Aber auch im freien Westen hat ein Schwund eingesetzt. Das Egalitäre, der Neid haben z . B . den Adel beseitigt, die humanistischen Gymnasien weit zurückgedrängt und gehen der Bildung selbst zu Leibe. Zwar glaubt man, man könne, oder sagt doch, man wolle allen die Bildung zugänglich machen: Keiner soll von hoher Schule und Hochschule ausgeschlossen sein. Aber massenhafte Begabung gibt es nicht. Zu vielen höheren Schülern stehen zu viele Studienräte, zu vielen Studenten stehen zu viele Assistenten und Professoren gegenüber: Das Niveau fällt. An den Hochschulen macht sich die Lehre breit. Sie muß auch noch verdünnt werden, um der großen Menge von Studenten faßlich zu bleiben. So muß man im Rechtsunterricht, obwohl sich unser Privatrecht zum Teil vom römischen Recht herleitet, auf den Gebrauch unersetzbar schlagkräftiger lateinischer Formeln verzichten. Trotz allzu langer „Verweildauer" der Studenten an den Universitäten sinken die Examensergebnisse. Die zunehmende Lehre mindert die Forschung nicht nur quantitativ, indem sie Zeit zum Forschen beschränkt. Ihretwegen müssen auch Lehrstühle für „Nebenfächer" zurücktreten gegenüber denen für Hauptfächer. Eine juristische Fakultät, z. B. wird Mühe haben, Lehrstühle für Versicherungsrecht, Ostrecht, Luftrecht - so wichtig alle diese Dinge im Rechtsleben sind - auf die Dauer zu halten. Die „grossen" Fächer werden größer, die „kleinen" kleiner; die Kleinen müssen sich vermehrt legitimieren. Auch führt die Vermehrung der Assistenten und Professoren, die alle fleißig publizieren, - jedenfalls in der Jurisprudenz — zu einer Verflachung in der Forschung selbst. Das Mittelmaß füllt Bücher und Zeitschriften und belastet durch seine Ausmaße diejenigen, die besseres leisten können, aber Berge von Papier durchackern müssen, das sie mehr hemmt als fördert. Die Kunst des Vergessens, Verdrängens, Ignorierens scheint wichtiger zu werden als das Suchen, Finden und Behalten. Von den Einbußen, die der geisteswissenschaftlichen Forschung durch die „Gruppenuniversität" und ihre „Gremien" zugefügt werden, braucht hier nicht erst geredet zu werden. Eine besondere Schwierigkeit bereitet den Geisteswissenschaften das Unverständnis vieler Außenstehender dafür, daß eine notwendige Bedingung ihrer Arbeit (wie in der Kunst und in anderen schöpferischen Tätigkeiten) die Einsamkeit ist: Spontaneität und Ungestörtheit des Individuums sind nötig, um wirkliche Leistungen hervorzubringen. Das will nicht passen zu der alten Prophezeiung Spencers, in 100 Jahren würden die Leute mit den Zähnen klappern, wenn ihrer nicht 100 bei-

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sammen wären, und es stößt sich an dem von David Riesman gezeigten Zunehmen der „other-direction" gegenüber der „inner-direction". Wie in amerikanischen Universitäten die Professoren von 9—5 Uhr präsent sein müssen und ihre Türen zum Gang offenstehen, damit jeder von den vielen Vorbeigehenden sagen kann: „Hallo, Frank, how are you this morning", und damit immer der Kontakt zu den anderen gewahrt bleibt, aber auch, damit der Mann hinter dem Schreibtisch nichts Verbotenes treibt, so herrscht in den Förderungsinstitutionen die Vorstellung, Wissenschaftler müßten nicht jeder für sich, sondern gemeinsam arbeiten. „Cooperation is the name of the game." Man hat in Amerika gesagt, wer über den Kongo arbeiten und dafür von einer Stiftung Geld haben möchte, müsse das einkleiden: Er wolle ein Gemeinschaftsunternehmen; manche beschäftigten sich mit dem Norden, andere mit dem Süden des Kongos; das müsse jetzt endlich zusammengebracht werden. Verständlich, daß Stiftungen nicht Grundausstattungen, sondern nur Projekte und möglichst Gemeinschaftsprojekte fördern. Denn sie müssen sich gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen und brauchen dafür „interessante" Themen. Aber, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft ihre Sonderforschungsbereiche, die ursprünglich dazu dienen sollten, an einzelnen Universitäten zu fördern, wo Förderung an allen zu aufwendig ist, auf „interdisziplinäre" Vorhaben beschränkt, kann man nicht gutheißen. Weder der Ausschluß von Grundausstattungen noch das Beharren auf Einbeziehung verschiedener Fächer entsprechen dem wirklichen Bedürfnis. Was insbesondere die Kooperation mehrerer Fächer anlangt, so ist sie sicher ebenso nützlich wie Kongresse Symposien, Reisen und alles, was die Leute zusammenführt. Doch in den Geisteswissenschaften entscheidend ist die einsame Arbeit am Schreibtisch. Sie ist die Mitte. Das andere regt nur an, bereichert, korrigiert, ist erwünscht, muß aber im richtigen Verhältnis bleiben: darf nur der Sonntag sein, nicht der Alltag. Deswegen darf richtige Forschungspolitik in den Geisteswissenschaften nicht auswählen mit vorgefaßten Meinungen, mit Vor-Urteilen, die von den Naturwissenschaften stammen und dort zutreffen mögen. Vielmehr muß unvoreingenommen gehört werden, was die einzelnen Forscher herantragen, und dann die oft schwierige Frage entschieden werden, was am wichtigsten scheint und den größten Erfolg verspricht.

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II. Die Rechtswissenschaft in Deutschland Das Recht ordnet das menschliche Zusammenleben. Es geht um den Menschen täglich und stündlich. Das Bürgerliche Gesetzbuch fängt an mit dem Eintritt ins Erdendasein (§ 1: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt") und es endet mit dem Schluß des Lebens (§ 1922: „Mit dem Tode einer Person . . . geht deren Vermögen . . . auf . . . andere . . . über"). Ein „Legitimations"-Problem gibt es daher nicht. Jedenfalls nicht für Forschung im geltenden Recht einschließlich der Rechtsvergleichung, die sich mit geltendem ausländischen Recht befaßt. Nur die Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte sitzen im gleichen Boot wie die philosophischen, philologischen und historischen Geisteswissenschaften, aber dennoch etwas bequemer, weil sie in das geltende Recht hineinragen, z. B. rechtsgeschichtliche Arbeiten hin und wieder die Meinungen über Fragen des geltenden Rechts ändern und Rechtsvergleichung nicht ohne Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung der verglichenen Rechte möglich ist. Das Recht teilt mit der Medizin die „Kanonisierung" des Wissens. Daher sind auch einer Studienreform enge Grenzen gesetzt. Was nötig ist, muß nun einmal so oder so gelernt werden. Die für die Reformer „verteilbare Masse" ist bescheiden. Sie müssen sich hauptsächlich auf das Wie des Lernens stürzen (vor allem zwei- oder einphasige Ausbildung [erst Universität, dann praktische Ausbildung oder beides durcheinander]). Es herrscht sogar Einverständnis darüber, daß schon in den Schulen ein gewißer Rechtsunterricht erteilt werden sollte. Der Gedanke ist übrigens nicht ganz neu. Um 1900, als die Verbindung zwischen Gymnasium und Universität noch eng war und viele Studienräte forschten, unterrichtete der berühmte Berliner Rechtslehrer Theodor Kipp wöchentlich zwei Stunden am Joachimsthal'schen Gymnasium. Gleichwohl ist eine Rechtswissenschaft nicht selbstverständlich. Das zeigt sich in den kommunistischen Staaten, von deren „Klima"-Mangel schon die Rede war (oben I S. 219). Das Recht wird dort stark vereinfacht. Z. B. umfaßt das Erbrecht der DDR 66 Paragraphen (§§ 362— 427 ZGB), das der Bundesrepublik 464 (§§ 1922-2385 BGB); der Rechtsstoff ist also auf 7% gesunken. Durchaus denkbar ist, daß auch bei uns die Uhr rückwärts läuft. Wie in der glänzenden Berliner Juristischen Fakultät der zwanziger Jahre die Überzeugung verbreitet war, man habe nicht mehr das Niveau der Jahrhundertwende, so läßt sich die gleiche Frage ganz allgemein für unseren Rang im Vergleich mit jener Blütezeit aufwerfen. Die Vermehrung der Schreibenden könnte ebenso hinabziehen wie die Vermehrung und Abflachung des Unter-

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richts und wie die „Gremien" der Gruppenuniversität. Auch die forschenden juristischen Praktiker, unter denen es viele vorzügliche gibt, würden dann, ihres Vorbilds und Rückhalts beraubt, mutmaßlich nachlassen. Ist die „Legitimierung" der Jurisprudenz von selbst einsichtig und muß nur die Existenzberechtigung von Philosophie und Geschichte des Rechts dem Unkundigen bewiesen werden, so liegen die Engpässe der Forschung und demgemäß die Ausgangspunkte für Forschungspolitik in der Rechtswissenschaft unterschiedlich. Wir lassen hier die normale Pmo«a/ausstattung der juristischen Fakultäten, Fachbereiche und Institute und die Erfüllung geringerer Personalwünsche im Normalverfahren der Deutschen Forschungsgemeinschaft bei Seite und beschränken uns auf die Fachgebiete, die einen größeren und dauerhaften Einsatz von Personal für die Forschung nötig machen. Personelle Probleme liegen fast ausschließlich auf dem internationalen Felde. Das hat seinen Grund im geschichtlichen Wachstum des Rechts, das heute im wesentlichen staatliches Recht und damit nach Staaten verschiedenes Recht ist, mögen auch die Norminhalte weithin übereinstimmen. Daher kümmern sich die französischen Universitäten um französisches, die deutschen um deutsches Recht usw. Was die Erforschung unseres eigenen Rechts angeht, haben wir an den deutschen Universitäten keine überdurchschnittlichen Personalbedürfnisse. Sie treten erst auf, wenn wir in fremde Rechte eindringen müssen, die mit der Ausbildung der Normaljuristen des eigenen Landes nichts mehr zu tun haben, ihr allenfalls als Schmuck dienen können und nur für die Ausbildung vergleichsweise weniger Spezialisten bedeutsam sind. Daß die internationale Verflechtung heute stärker ist denn je, spürt jeder. Nicht ganz so deutlich war das nach dem Ersten Weltkrieg. Aber die Wahrung der deutschen Interessen unter dem Versailler Vertrag, vor allem in den Verfahren vor den internationalen gemischten Schiedsgerichten, verlangte eine internationale juristische Ausrüstung. Die Kaiser-Wilhelm-Qetzt Max-Planck-)Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften gründete daher 1925 und 1926 ihre beiden ersten juristischen Institute: Das Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und das Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, die beide im Berliner Schloß Quartier bezogen und heute in Heidelberg bzw. Hamburg sitzen. Ihnen folgten nach dem Zweiten Weltkrieg die Max-Planck-Institute für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, für internationalen gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht in München und für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt.

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Den Max-Planck-Instituten entspricht eine Reihe wesentlich kleinerer Universitätsinstitute, vor allem für das in der Rechtspraxis wichtigste Gebiet des ausländischen und internationalen iV/Vairechts. Damit ist jedoch der Bedarf nicht gedeckt. So ist man bemüht, ein Institut für internationales Steuerrecht zu gründen. In Betracht zu ziehen ist auch die Gesetzgebungsioischang, die von Amerika (Legislation") nach Europa herübergeschlagen ist und in internationaler Breite zu betreiben wäre. Verhältnismäßig günstig steht es um das Europarecht, das in einer Anzahl von Universitätsinstituten gepflegt wird. Dagegen ist ein Sorgenkind die Rechtsvereinheitlichung. Sie marschiert mit mächtigen Schritten in zahlreichen mehrseitigen Staatsverträgen. Allein schon die Entwicklung zu verfolgen — die sich auf die verschiedensten Gebiete erstreckt und eine Fülle unterschiedlicher Reformprobleme einschließt — ist ein schwieriges Unterfangen, geschweige denn, sie wissenschaftlich durchzuarbeiten. Eine etwas größere Gesamtdarstellung gibt es bisher nur aus Frankreich, einen „Allgemeinen Teil" bei uns. Im Rechtsunterricht machen wir die ersten Gehversuche. Die Fritz Thyssen Stiftung hat sich durch Anlaufsförderung bedeutende Verdienste erworben. Aber die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat einen Antrag, einen Sonderforschungsbereich für Rechtsvereinheitlichung zu errichten, abgelehnt. Hier muß dringend etwas geschehen. Man könnte erwägen, ein Max-Planck-Institut für Rechtsvereinheitlichung zu errichten. Doch ergäben sich wohl zu starke Überschneidungen mit den vorhandenen internationalrechtlichen Max-Planck-Instituten. Besser wird man daher ein Universitätsinstitut gründen oder eines der vorhandenen internationalrechtlichen Universitätsinstitute um eine starke Rechtsvereinheitlichungs-Abteilung erweitern. Während eine Personallücke auf dem Gebiet der Rechtsvereinheitlichung klafft, herrscht Materialbedarf bei allen internationalrechtlichen Universitätsinstituten, voran den privatrechtlichen. Denn das Recht steht in Büchern: In Gesetzen, Entscheidungssammlungen, Zeitschriften, Lehrbüchern, Monographien. In dem Augenblick, da man das Inland verläßt, vervielfacht sich das, was man braucht, erheblich: An Stelle einer Landesbibliothek braucht man eine Weltbibliothek. Das wollen die fördernden Stellen oft nicht wahrhaben. Verwöhnt durch die ziemlich geringen Bedürfnisse der Geisteswissenschaften verglichen mit den Naturwissenschaften, will es ihnen nicht in den Kopf, daß es auch Geisteswissenschaften gibt, die Geld kosten, obschon immer noch weit weniger als Naturwissenschaften. Sicher müssen nicht alle internationalrechtlichen Universitätsinstitute umfangreich ausgestattet sein, aber doch eine Reihe, nach dem gegenwärtigen Stande etwa München, Freiburg, Heidelberg, Bonn, Köln, Hamburg, Kiel und Berlin.

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Mängel bleiben dann; z. B. kann man in Marburg nur schwer ein Lehrbuch des internationalen Privatrechts schreiben. Den größten Geldbedarf haben die Institute des internationalen und ausländischen Privatiechts (internationales Privatrecht sagt, welchen Staates Recht anzuwenden ist; ausländisches (oder deutsches) Recht sagt, wie ein Fall zu entscheiden ist). Das hängt damit zusammen, daß viele Institute von den Gerichten als Sachverständige in Anspruch genommen werden, und zwar in großem Umfang (für Auslandsgeschäfte, Verkehrsunfälle im Ausland und für Familien- und Erbrecht von Ausländern im Inland und Inländern im Ausland). Die Folge ist, daß auch Bücher beschafft werden müssen, die für reine Forschung nicht nötig wären, z. B. die Gesetze von Hongkong. Gegen solche Inanspruchnahme durch die Gerichte gibt es keinen Rechtsschutz. Sie hat den Vorteil, den forschenden Juristen vor Weltfremdheit zu bewahren, und ist daher, wenn in Grenzen gehalten, zwar schmerzhaft, aber segensreich. Der Bibliotheksetat des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg beträgt zur Zeit rund 450.000,DM im Jahr. Die Fachbibliothek eines größeren internationalrechtlichen Universitätsinstituts würde mindestens ein Drittel dieser Summe brauchen, doch bleiben die meisten weit dahinter zurück. Zusätzliche Bibliothekskosten für die Förderung der Rechtsvereinheitlichung entstehen nicht. Denn die erforderlichen Bücher decken sich. Ohnehin empfiehlt sich, die internationalrechtlichen Buchbestände einer Universität — internationales und ausländisches Privat-, Straf- und öffentliches Recht sowie Völkerrecht und Europarecht — und die dazugehörigen Institute räumlich zu vereinigen, um Kosten zu sparen und den Zugang zu den Büchern zu erleichtern. Außer den Universitätsinstituten steckt ein Großprojekt in Finanzschwierigkeiten: Die International Encyclopedia of Comparative Law (IECL). Das auf 18 Bände angelegte, in englischer Sprache erscheinende Werk, an dem fast alle Fachleute der Welt mitarbeiten, wird vom Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht organisiert. Hier wird nicht nur die Summe der bisherigen rechtsvergleichenden Forschung gezogen, vielmehr weithin Neuland erschlossen. Gebraucht werden hier nicht Bücher, sondern Mittel für Auslagen, Honorare und vor allem Druckkosten. Sicherung des Fortgangs ist geboten gleichermaßen von der Sache her wie im Hinblick auf das deutsche wissenschaftliche Ansehen, das hier auf dem Spiel steht. Während bisher von Engpässen auf der Personalseite (vor allem für die Rechtsvereinheitlichung) und auf der Materialseite (hauptsächlich internationalrechtliche Universitätsinstitute und International Encyclopedia of Comparative Law) die Rede war und damit von spezifisch

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juristischen und sogar spezifisch internationalrechtlichen Dingen, muß noch ein Punkt berührt werden, der nicht nur die juristischen Forscher, sondern die meisten Geisteswissenschaftler betrifft und am allerwichtigsten ist: die Zeit, die heute ein Hochschullehrer für die Forschung erübrigen kann. Auf das Gebot der Einsamkeit wurde schon hingewiesen. Forschung verlangt volle, nicht halbe Kraft. Sie erfordert das Ethos, wirklich etwas zu leisten. Darum muß jedenfalls denen, die das Mittelmaß, das durch die Vermehrung von Professoren und Assistenten stark gewachsen ist, erheblich übersteigen, mehr Zeit für Forschung eingeräumt werden. Hier genügen nicht gelegentliche Freisemester, die allen gewährt werden. Vielmehr muß die Lehrverpflichtung der führenden Forscher radikal gesenkt werden. Auch müssen sie von Prüfungen und Verwaltungstätigkeit möglichst ganz befreit werden. Über den Weg kann man streiten. In den Max-Planck-Instituten hat man das Ziel erreicht. Aber sie sind nicht beliebig vermehrbar. Im Ostblock hat man Akademien. Allein die unsrigen, denen man gegenwärtig Langfristvorhaben überträgt, eignen sich hierfür gar nicht. Der richtige Weg sind die Universitäten. Die Einheit von Forschung und Lehre kann dann wenigstens zu einem Teil erhalten bleiben und der Zusammenhang mit einer lebendigen Organisation ist gewährleistet. So wie man ,,Heisenberg"-Professoren plant, um wenigstens Spitzenbegabungen des Nachwuchses nicht durch seßhaftes Mittelmaß von den Universitäten auszuschließen, sollte man „Einstein" — oder „Humboldt" — (oder anders genannte) Professuren einrichten, um namhaften Gelehrten, die nach Charakter und Leistung die Gewähr bieten, daß sie die ihnen gebotene Freiheit mit Forschung von Rang entgelten, den Eintritt in diese Arena zu eröffnen. Die Zahl muß klein bleiben. Vielleicht wäre für juristische Fakultäten ein Fünftel der H4-Professoren ein tauglicher Richtsatz. Man sollte sie von auswärts berufen wie andere Professoren ebenfalls. Mindestens müßte man bedeutenden Gelehrten mehrjährigen Forschungsurlaub zugestehen.

III. Ergebnis 1. Als (in Deutschland und im Ausland) noch nicht entwickeltes neues Forschungsfach muß die Rechtsvereinheitlichung gefördert werden, und zwar am besten durch Errichtung eines Universitätsinstituts oder durch kräftige Erweiterung eines bestehenden internationalrechtlichen Universitätsinstitu ts.

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2. Die vorhandenen größeren internationalrechtlichen Universitätsinstitute sind mit ausländischen Büchern nicht hinreichend ausgestattet; ihre Bibliotheksetats sollten auf mindestens 150.000,-- DM im Jahr angehoben werden. 3. Das vom Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht betreute Großunternehmen der International Encyclopedia of Comparative Law, an dem die ganze Welt mitarbeitet, muß finanziell abgesichert werden. 4. Wegen der Belastung der Hochschullehrer mit anderen als Forschungsaufgaben sollte für erprobte Spitzenkräfte in allen Fakultäten eine Anzahl von Forschungsprofessuren errichtet werden, deren Inhaber von Verwaltungsaufgaben freigestellt und nur in geringem Umfang zur Lehre verpflichtet sein sollten; mindestens müßte solchen Leuten mehljähriger Forschungsurlaub ermöglicht werden.

Dieter Grosser (München)

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik — Aufgaben und Belastungen 1. Zur Entwicklung der Politikwissenschaft in Deutschland Entgegen einer verbreiteten Ansicht hat das akademische Fach „Politik" in Deutschland eine lange, wenn auch gebrochene Tradition. Schon an mittelalterlichen Universitäten wurde Unterricht in Politik als Teil der philosophischen Ausbildung erteilt. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert gab es Lehrstühle für „Ethik und Politik". Allerdings war diese akademische Lehre wenig mehr als der Versuch, die Ethik des Aristoteles mit christlicher Dogmatik zu verbinden. Im 18. Jahrhundert verdrängte die „Ökonomische, Policey- und Cameralwissenschaft" die Lehrstühle für „Ethik und Politik"; sie wurde notwendig, weil der merkantilistische Staat eine systematische Wirtschaftslehre, Finanz-und Verwaltungswissenschaft brauchte. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien die Kameralistik überholt; sie konnte weder das neuerwachte Interesse an der äußeren Machtpolitik noch an der Sozialphilosophie befriedigen; außerdem wurde mit dem Vordringen des Wirtschaftsliberalismus auch die merkantilistische Ökonomik überflüssig. Die ökonomischen Teile der Kameralistik wandelten sich zur Volkswirtschaftspolitik; die Verwaltungslehre drohte zu verkümmern; Lorenz v. Steins Versuch, sie 1865 in einem verwaltungswissenschaftliche und politikwissenschaftliche Elemente umgreifenden Konzept zu systematisieren, hatte keinen dauerhaften Erfolg. 1 Die Verwaltungslehre wurde bald von der Rechtswissenschaft okkupiert; politische Philosophie ebenso wie die Frage nach den sozialen und politischen Grundlagen des Staates verschwanden oder wurden von der allgemeinen Staatslehre am Rande einer juristischen Betrachtung des Staates aufgegriffen. Politikwissenschaft im Sinne der aristotelischen Tradition mit ihrer Frage nach der dem Menschen angemessenen Ordnung war ebenso in Vergessenheit ge-

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L. v. Stein, Die Verwaltungslehre,

8 Bde., Stuttgart 1 8 6 5 - 1 8 8 4 .

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raten wie die technokratische, ökonomische, finanzpolitische und verwaltungstechnische Aspekte verbindende Kameralwissenschaft. An ihre Stelle waren historische, juristische und ökonomische Einzeldisziplinen getreten. Bedeutende Vertreter dieser Einzeldisziplinen empfanden das als Verlust; Dahlmann, Sybel und Treitschke lasen Politik und suchten eine neue wissenschaftliche Grundlegung für das alte, umfassende Konzept. Eine institutionalisierte akademische Förderung des Fachs gab es jedoch nicht mehr. Ein neuer Anfang schien sich in der Weimarer Republik abzuzeichnen, als die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin internationales Ansehen gewann. Außerhalb der Universität organisiert, blieb ihre Wirkung jedoch begrenzt. So konnte in den 50er Jahren der Eindruck entstehen, als handele es sich bei dem mit Förderung der amerikanischen Besatzungsmacht eingeführten Fach „Politische Wissenschaft" oder „Politologie" um etwas Neues, das vielleicht der amerikanischen Wissenschaftsorganisation entsprach, in Deutschland sich aber in die Arbeitsgebiete der Staatslehre, Geschichte und Soziologie eindrängte. Diese Auffassung war kurzsichtig. Die „Integrationswissenschaft" von der Politik, so wie sie, im Grundsätzlichen übereinstimmend, Arnold Bergsträsser in Freiburg, Ernst Fraenkel und Otto Heinrich v. d. Gablentz in Berlin, Carl Joachim Friedrich in Cambridge (Mass.) und dann in Heidelberg verstanden, konnte eher als Wiederaufnahme der klassischen, die politische Phüosophie seit Aristoteles durchziehenden Frage nach der dem Menschen angemessenen, guten Ordnung aufgefaßt werden, die von den etablierten akademischen Disziplinen kaum noch beachtet wurde. Diese normative Fragestellung wurde jetzt allerdings verbunden mit systematischen empirischen Untersuchungen der Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkungen politischen Gestaltens, wobei politische, soziologische, juristische, ökonomische und historische Aspekte miteinander verbunden wurden. Politikwissenschaft war nie unter dem Gesichtspunkt reiner Erkenntnis, sondern stets auch mit dem Blick auf politische Praxis betrieben worden. Die aristotelische Frage nach der guten Ordnung zielt auf Praxis; die Fürstenspiegel des Mittelalters boten dem dominierenden politischen Akteur Herrschaftswissen; die Kameralistik des 18. Jahrhunderts war praxisbezogene Verwaltungswissenschaft. In der Demokratie gewann Politikwissenschaft nun eine neue politische Qualität. Nach verbreiteter Meinung läßt sich ohne selbständiges Urteilsvermögen der Bürger über Politik Demokratie nicht verwirklichen. Politikwissenschaft muß daher nicht nur den Regierenden Analyse der politischen Realität und Handlungsalternativen liefern; sie muß auch Informationen über Politik für die Bürger bereitstellen und vor allem die wissenschaftliche

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Grundlage für politische Bildung legen. Im Selbstverständnis der Gelehrten, die sie in der Bundesrepublik wieder aufbauten, war sie nicht nur Wissenschaft von der Freiheit, sondern auch Wissenschaft für die Freiheit und eine Voraussetzung dafür, daß die Demokratie überhaupt funktionieren konnte. Politikwissenschaft hätte daher in besonderem Maße der verständnisvollen Förderung durch Staat und Universitäten bedurft. Quantitativ blieb der Ausbau der Politikwissenschaft, verglichen mit Disziplinen wie Soziologie oder Geschichte, bis zum Ende der 60er Jahre aber unzureichend. Ausgerechnet in einer Zeit, in der, nicht ohne Verschulden der Regierungen in Bund und Ländern, viele Universitäten hohe Qualitätsmaßstäbe bei der Selektion des wissenschaftlichen Personals nicht mehr durchsetzen konnten, erfolgte dann ein rascher Ausbau; zwischen 1968 und 1976 hat sich die Zahl der Lehrstühle an wissenschaftlichen Hochschulen mehr als verdoppelt und beträgt heute über 120. Infolge der bis Ende der 60er Jahre an den meisten Universitäten unzureichenden Förderung der Politikwissenschaft gab es nicht genügend qualifizierte Politologen, die die neuen Dauerstellen hätten besetzen können; hinzu kam, daß nach Einführung der Gruppenmitbestimmung in vielen Fällen politische Gesinnung und nicht wissenschaftliche Qualität eines Bewerbers den Ausschlag gab. Seit 1974 stagniert der Ausbau der Politikwissenschaft; zur Zeit ist sie, wie andere Lehramtsfächer auch, von Stellenstreichungen bedroht. Eine größere Zahl von jungen Politikwissenschaftlern, die sich trotz der politischen Kontroversen, die die meisten Institute in den letzten Jahren belasteten, durch international wettbewerbsfähige Forschungsarbeiten qualifizieren konnten, werden keine Dauerstellen erhalten; zugleich sind Hochschullehrerstellen auf Jahrzehnte durch fachlich nicht genügend ausgewiesenes Personal blockiert.

2. Wichtige Arbeitsgebiete der Politikwissenschaft Eine Wissenschaft, die Politik als Gestaltung der öffentlichen Ordnung untersucht, muß sich auch mit Modellen der angemessenen Ordnung beschäftigen. Wer den traditionellen Theoriebegriff verwendet, wird keinerlei Bedenken haben, dieses Forschungsgebiet als „politische Theorie" zu bezeichnen; wer unter Theorie ein in sich konsistentes System von Hypothesen zur Erklärung von Kausalbeziehungen versteht, wird eher von „Politischer Philosophie" oder von „Geschichte der politischen Ideen" sprechen. Ein Rückstand der deutschen Politikwissenschaft gegenüber amerikanischen, englischen oder französischen Leistungen ist in diesem Bereich nicht festzustellen. Überraschend ist allen-

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falls, daß dem seit Mitte der 60er Jahre enorm gestiegenen Interesse an Marx und dem Marxismus nur eine begrenzte Ausweitung der seriösen Marxismus-Forschung, wie sie z. B. von Iring Fetscher betrieben wird, gefolgt ist. Ausnahmen wie die Bemühungen zur Analyse sozialistischdemokratischer Ideen bestätigen die Regel. 2 Im Gegensatz zu Untersuchungen zur Geschichte der politischen Ideen fehlen originelle Neukonzeptionen zur politischen Philosophie. Auch die Sozialphilosophie von Habermas ist mehr ein Kommentar zur Philosophiegeschichte als ein Neuentwurf. Die Innovationen in diesem Bereich kommen meist aus den USA. 3 Zahlreich sind inzwischen die Einzeluntersuchungen über Themen der Innenpolitik. Die bis zum Ende der 60er Jahre vernachlässigte Parlamentarismusforschung hat durch die Deutsche Gesellschaft für Parlamentsfragen Impulse erhalten; zum wichtigen, lange übersehenen Thema Opposition gibt es inzwischen beachtenswerte Forschungsergebnisse. 4 Trotzdem bleibt in der Parlamentarismusforschung noch vieles zu wünschen. Es fehlen Studien zum Länderparlamentarismus und breit angelegte empirische Untersuchungen der Karrieremuster und Tätigkeitsfelder der Bundestags- und Landtagsabgeordneten; die vorzügliche Studie von Dietrich Herzog erfaßt nur einen kleinen Kreis politischer Führungskräfte und bedarf dringend der Ergänzung. 5 Die von Wilhelm Hennis schon 1965 geforderte ,.moderne Regierungslehre", die die Realität des modernen Regierens durchsichtiger macht und die Leistungsfähigkeit des Regierungs- u n d Verwaltungsapparates prüft, 6 liegt allenfalls in Bruchstücken vor; offenbar erschien vielen Politikwissenschaftlern die Analyse der Realität des Regierens und Verwaltens weniger wichtig als die Diskussion über Alternativen zum bestehenden, von vornherein als unbefriedigend abgewerteten, aber nur oberflächlich bekannten System. Die maßgebenden theoretischen Arbeiten über die Verwaltung lieferte der Soziologe Luhmann; Aufgabe der Politikwissenschaft wäre mindestens, das Verhältnis von Verwaltung und politischer Führung einer intensiven empirischen Prüfung zu unterziehen. Auch hier fehlen entsprechende Untersuchungen. Der Entwicklung von Modellen u n d Techniken politischer Planung wurde in den letzten Jahren

1 3 4

s 6

Z. B. Cesine Schwan, Leszek Kolakowski, Stuttgart 1971. Z. B. Rawls,/! Theory of Social Justice, Oxford 1972. So Hans-Peter Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Frankfurt 1974; Heinrich Oberreuter (Hg.), Parlamentarische Opposition, Hamburg 1975. D. Herzog, Politische Karrieren, Opladen 1975. Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre. (1965), 422 ff.

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231

viel mehr Arbeitskraft gewidmet 7 als der detaillierten Analyse von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen im Bereich von Regierung und Verwaltung. Auch die Parteienforschung steht noch vor ungelösten Aufgaben. Zwar gibt es inzwischen einen guten Überblick über das bundesdeutsche Parteiensystem 8 ; doch wer sich gründlich und auf dem neuesten Stand über Entwicklung, Organisation und Zielsetzung der einzelnen Parteien informieren will, findet allenfalls für die CSU die Studie von Alf Mintzel. 9 Dringend erforderlich wäre auch die Fortsetzung der von Ossip K. Flechtheim begonnenen Reihe Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Erstaunlich ist der Mangel an empirischen Untersuchungen über die Möglichkeiten und Grenzen der so leidenschaftlich umstrittenen „Demokratisierung" von Staat und Gesellschaft. Es gibt einzelne Untersuchungen zur Bürgerbeteiligung bei Planungsprozessen und zur Wirkung von Bürgerinitiativen. Die Chance, die Einführung von Mitbestimmungsregelungen in den Hochschulen durch wissenschaftliche Begleituntersuchungen einer Uberprüfung zu unterziehen, dürfte vertan sein, obwohl sich dabei reiches Material für die Demokratietheorie ergeben hätte. Die gesamte „Demokratisierungsdebatte" wird überwiegend normativideengeschichtlich geführt; das ist nicht nur arbeitstechnisch bequemer, sondern ermöglicht es auch, Thesen aufzustellen, die politisch interessant sein mögen, die aber nicht aufgestellt werden könnten, wenn sie mit der bereits vorliegenden Erfahrung konfrontiert worden wären. Ein Beispiel für die Verzerrung, die auch empirisch abgesicherte Untersuchungen bei einseitig wertenden Prämissen erhalten können, ist die für die „kritische" Parteienforschung der letzten Jahre repräsentative Aufsatzsammlung Parteiensystem in der Legitimationskrise (herausgegeben von Dittberner und Ebbighausen, Opladen 1973). Die publikumswirksame Prämisse von der „Legitimationskrise" wird von den Detailuntersuchungen nicht gedeckt; begründet wird sie lediglich normativ, nämlich mit der Behauptung, eine stärkere Berücksichtigung des Klasseninteresses der Arbeiterschaft sei notwendig, scheitere aber an den Realitäten des politischen Systems. Allenfalls könnte die gegenwärtig deutlich zunehmende Staatsverdrossenheit und Kritik an der Planungs- und Entscheidungsunfähigkeit von Parteien und Regierungen als „Legitimationskrise" gewertet werden; sie hat allerdings ganz andere Ursachen als die von Dittberner u. a. behaupteten. 7

8

9

Z. B. Carl Bohret, Grundriß der Planungspraxis, Opladen 1 9 7 5 ; Fritz Scharpf, Planung als politischer Prozeß. In: Die Verwaltung 1 / 1 9 7 1 . Heino Kaack, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971. Alf Mintzel, Die CSU, Opladen 1975.

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Das Erstarken neomarxistischer Ideen nach 1968 förderte das Interesse an den Interdependenzen zwischen Politik und Wirtschaft. Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, die Konjunktur durch staatliche Globalsteuerung zu stabilisieren, und der nach 1974 offenkundigen Zusammenhänge zwischen der Regierbarkeit des demokratischen Sozialstaats und ausreichendem wirtschaftlichem Wachstum gewinnt dieser Forschungsbereich auch für nichtmarxistische Sozialwissenschaftler an Bedeutung. Auch hier wurden Chancen versäumt. Der einzige Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre, den Gert von Eynern am Otto-Suhr-Institut in Berlin aufgebaut hatte, ging nach der Emeritierung seines Gründers verloren. Der Versuch einer systematischen und differenzierten Analyse des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft schlug in neomarxistische Interpretation des „spätkapitalistischen" Systems um oder wurde durch Planungstheorie verdrängt, dürfte aber für künftige Untersuchungen von großer Bedeutung bleiben. Die anregendsten Arbeiten zum Thema „Politik und Wirtschaft" kommen heute von Ökonomen wie Herbert Giersch und Erik Boettcher oder von Wirtschaftshistorikern wie Knut Borchardt, die aber in der Wirtschaftswissenschaft eher Ausnahmen darstellen. Mit der zunehmenden Bedeutung der Bundesrepublik im internationalen Kräftefeld hat die Analyse der internationalen Beziehungen auch in der deutschen Politikwissenschaft an Gewicht gewonnen. Die Expansionsphase der Politikwissenschaft nach 1968 schuf die Voraussetzung für eine gewisse Spezialisierung und damit auch für die Errichtung von auf internationale Beziehungen spezialisierten Hochschullehrerstellen; hinzu kommt, daß die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ein leistungsfähiges Forschungsinstitut besitzt. Bei der Analyse der internationalen Beziehungen wird heute ein hochdifferenziertes Spektrum theoretischer Ansätze und methodischer Instrumente verwendet, von der allgemeinen Systemtheorie über die politische Kybernetik, die Spieltheorie und Simulationstheorie bis zu neomarxistischen Dependenz- und Imperialismustheorien. Der Beitrag der deutschen Politikwissenschaftler zu der Entwicklung des Fachs „internationale Beziehungen" war bisher relativ gering. Die neueste Übersicht über die wichtigsten theoretischen Konzepte und ihre Vertreter enthält über 60 Namen zeitgenössischer Wissenschaftler, die Grundlegendes zur Analyse der internationalen Politik beigetragen haben, davon die meisten Amerikaner, nur 6 Deutsche. 10 Nicht ganz so überwältigend wie bei den grundlegenden Innovationen ist der Vorsprung des Auslands bei der Analyse 10

Helga Haftendorn, Art. ,.Theorie der internationalen Beziehungen" In: W. Woyke (Hg.), Handwörterbuch Internationale Politik, Opladen 1977.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik

233

von Einzelproblemen, die für die Außenpolitik der Bundesrepublik zentral sind. Auch dabei bestehen allerdings nach wie vor empfindliche Lücken. Wer sich über die Beziehungen der Bundesrepublik zu den wichtigsten Ländern Afrikas, des Nahen Ostens, Südamerikas informieren will, findet keine umfassenden und gründlichen Studien deutscher Autoren. Über die Europäische Gemeinschaft gibt es zahlreiche Detailstudien, aber keine repräsentative und umfassende Analyse aus deutscher Sicht. Der Ostpolitik nach 1969 wurden nur wenige umfassende und kritische Untersuchungen gewidmet. Lediglich in der — ebenfalls in den USA entstandenen — „Friedens- und Konfliktforschung" liefert die deutsche Politikwissenschaft mindestens quantitativ einen Beitrag, der international ins Gewicht fällt. Ziel der Friedensforschung ist es, die „organisierte Friedlosigkeit" (Senghaas) des gegenwärtigen Weltstaatensystems überwinden zu helfen. Dazu sollen die grundlegenden Bedingungsfaktoren dieser Friedlosigkeit ermittelt werden; die Interessengegensätze der Staaten werden dabei meist als Oberflächenphänomene angesehen, die auf sozioökonomische Faktoren zurückgeführt werden müßten. In der Friedensforschung dominiert der von der historisch-dialektischen Theorie beeinflußte Ansatz; Wissenschaftler wie Carl-Friedrich von Weizsäcker, die eher der „realistischen" Schule der internationalen Politik zuzurechnen wären, befinden sich in einer Minderheitsposition. Kennzeichnend für den ,.kritischen" Ansatz ist z. B. die von Klaus Jürgen Gantzel, früher Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, heute Ordinarius in Hamburg, geschriebene Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Buch Herrschaft und Befreiung in der Weltgesellschaftn: „Es wurde bereits angedeutet, dalS die Weltgesellschaft als eine hierarchische zu begreifen ist, und zwar im doppelten Sinne. Erstens sind die ökonomischen, technologischen und militärischen Kapazitäten sowie die politischen Einflußmöglichkeiten ungleich unter den Nationen verteilt. Allen voran sind die Gesellschaften des sogenannten Zehnerklubs privilegiert. . . Diese internationale Hierarchisierung wird durchwoben von einer Klassenstruktur, sozusagen von der internationalen Verlängerung der je nationalen Klassenstrukturen. Auf der einen Seite stehen die Verfügungsgewaltigen des Kapitals und mit ihnen die aus Eigeninteresse oder wegen mangelnder alternativer Handlungsmöglichkeiten verbundenen politischen, militärischen, wissenschaftlichen und anderen Eliten. Wie immer wiederum in sich geschichtet, so bilden sie doch zusammen ein internationales Zentrum mit einer relativ hohen Kommunikations"

Klaus Jürgen Gantzel (Hg.), Herrschaft Frankfurt/New York 1 9 7 5 , 11

und Befreiung

in der

Weltgesellschaft,

234

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dichte. Manifester Ausdruck dieser Tendenz sind unter anderem die multi- oder transnationalen Konzerne. Mit diesem Zentrum müssen auch die sozialistischen Eliten partiell kooperieren. Auf der anderen Seite stehen die Lohnabhängigen, Kleinbauern, Kleingewerbetreibenden, einfachen Soldaten, verelendeten Massen usw., die nicht nur national oder sogar ethnisch voneinander getrennt, sondern auch innerhalb der einzelnen nationalen Gesellschaften keinesfalls integriert sind." Tendenziell monokausale, undifferenzierte Betrachtungsweisen dieser Art sind in der „kritischen" Friedensforschung kein Einzelfall. Die politikwissenschaftliche Analyse von Problemen der Entwicklungspolitik wird meist als Teilbereich der internationalen Politik aufgefaßt, obwohl dabei vor allem die politischen und sozioökonomischen Bedingungen eines Entwicklungslandes beachtet werden müssen und das Thema „Entwicklungspolitik" daher am besten als selbständiger Teilbereich aufgefaßt würde. Für die Politikwissenschaft geht es in diesem Bereich nicht so sehr darum, den ökonomischen und soziologischen Analysen Konkurrenz zu machen; vielmehr steht im Mittelpunkt die Frage nach den politischen Steuerungssystemen, die für solche Länder angemessen sind, und nach der Zielsetzung, Organisation und Wirkung der geleisteten Hilfe. In der Entwicklungsländerforschung beginnt die deutsche Politikwissenschaft einen erheblichen Forschungsrückgang gegen eine übermächtige Stellung der Amerikaner, Engländer und Franzosen allmählich aufzuholen. 12 Eigene empirische Untersuchungen erfordern im Bereich der Entwicklungsländerforschung besonders hohe Aufwendungen; das Argument, kostspielige Paralleluntersuchungen zu vorhandenen amerikanischen Studien lohnten nicht, überzeugt heute weniger denn je, weil angesichts der zunehmenden Schärfe des Nord-Süd-Konflikts und der Heterogenität der Interessen der westlichen Industrieländer die Bundesrepublik zu einer eigenen Konzeption gezwungen ist, für die wissenschaftliche Vor- und Kontrolluntersuchungen notwendig sind. Analysen der Entwicklungsproblematik sind von der Vergleichenden Politikwissenschaft nicht zu trennen. Gerade die neuen politischen Systeme, die nach dem Abzug der Kolonialmächte entstanden, haben entscheidende Anregungen zur Fortentwicklung der „Komparatistik" gegeben. Wiederum kamen die wichtigsten theoretischen und methodischen Impulse aus den USA. Ob die mit systemtheoretischen Kategorien arbeitende, auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zielende „compara12

Das Ausmaß des Rückstandes in der empirischen Entwicklungsländerforschung zeigt deutlich die von Dirk Berg-Schlosser herausgegebene Aufsatzsammlung Die politischen Probleme der Dritten Welt, Hamburg 1972. Seither hat sich die Lage nur geringfügig gewandelt.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik

235

tive politics", als deren Hauptvertreter Almond gelten kann, die einzig angemessene Methode zum Beschreiben der politischen Systeme darstellt, ist nach wie vor umstritten. Vergleiche, die historische, kulturelle, ökonomische und soziale Eigentümlichkeiten und Unterschiede etwa durch Typenbildung sehr viel differenzierter herausarbeiten, könnten mehr zum Verständnis anderer Systeme beitragen als das Suchen nach zwangsläufig sehr allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Für den stärker individualisierenden, vorwiegend mit den Instrumenten der historischen Methode arbeitenden Vergleich gibt es in der Bundesrepublik weithin anerkannte Beispiele, etwa die Untersuchungen Ernst Fraenkels. 13 Lücken sind auch im Bereich der vergleichenden Politikwissenschaft sehr deutlich; es dürfte nicht so wichtig sein, welche theoretische Konzeption oder welche Methode angewendet wird, vielmehr müssen bestimmte Bereiche überhaupt systematisch erfaßt werden. So werden die Untersuchungen zum politischen System der DDR, bei denen Peter Christian Ludz 14 bahnbrechend war, heute nicht mit gleicher Intensität fortgesetzt. Das britische Regierungssystem, für dessen Verständnis die Arbeiten von Gerhard A. Ritter 15 maßgebend waren, findet heute kaum noch Beachtung, es sei denn in einführenden Darstellungen. Untersuchungen über die Sowjetunion und andere sozialistische Systeme werden weitgehend der ausländischen Forschung überlassen. Eine wichtige Ausnahme stellt Klaus v. Beymes Versuch dar, Indikatoren für die sozioökonomische und politische Entwicklung in sozialistischen Ländern zu erfassen und zu interpretieren. 16 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die deutsche Politikwissenschaft vor einer großen Zahl von Forschungsaufgaben steht, die sie nicht nur im Interesse der systematischen und vollständigen Erfassung ihres Wissensgebietes, sondern im Interesse der Bürger der Bundesrepublik bewältigen sollte. Von ihrer personellen und materiellen Ausstattung her wäre die deutsche Politikwissenschaft heute eher als vor zehn Jahren in der Lage, der Fülle dieser Aufgaben nachzukommen. Daß die Forschungslücken nach wie vor beträchtlich und die vorliegenden Leistungen nicht immer international wettbewerbsfähig sind, liegt an politischen, administrativen und wissenschaftstheoretischen Problemen, 13

14 Is

16

Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964; ders., Das amerikanische Regierungssystem, Köln 1962. Peter Chr. Ludz, Parteielite im Wandel, Opladen 1968. Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. In: G. A. Ritter, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus, Göttingen 1976: ders., Parlament und Demokratie in GB., Göttingen 1972. Klaus v. Beyme, Ökonomie und Politik im Sozialismus. Ein Vergleich der Entwicklung in sozialistischen Ländern, München/Zürich 1975.

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die diese in besonderem Maße von politischer Praxis beeinflußte und auf politische Praxis gerichtete Wissenschaft stärker als andere Geistesoder Sozialwissenschaften belasten.

3. Die Schwäche der wissenschaftsimmanenten Kontrolle als Problem einer auf Praxis zielenden Politikwissenschaft Das Ziel, Erkenntnisse von praktischer Bedeutung zu gewinnen, war für die Politikwissenschaftler stets eine Selbstverständlichkeit. Das gilt nicht nur für die Anhänger der historisch-dialektischen Theorie, für die die Einheit von Theorie und Praxis Prinzip ist. Es gilt ebenso für Anhänger des normativ-essentialistischen Theorietyps, die eine dem Menschen gemäße Ordnung fördern wollen und sich dabei der Denkfiguren der traditionellen Ontologie bedienen. Es gilt sogar auch für die Anhänger empirisch-analytischer Wissenschaftstheorien; auch sie betonen die Leistungsfähigkeit ihrer Wissenschaft für die Praxis und erklären, allein ihre Wissenschaftskriterien garantierten die intersubjektive Kontrolle von Aussagen über Voraussetzungen und Folgen politischen Handelns. In einer Zeit starken politischen Interesses und scharfer Konflikte mußte diese Praxisbezogenheit einer Wissenschaft in besonderem Maße Personen anziehen, die zur notwendigen Distanz zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischem Engagement nicht bereit waren und Wissenschaft als Mittel der Durchsetzung ihrer eigenen politischen Präferenz ansahen. Die international auch heute noch dominierende, durch die alleinige Entscheidungskompetenz der ausgewiesenen Wissenschaftler über Berufungsfragen gekennzeichnete Universitätsstruktur hätte einem Überwuchern des politischen über das wissenschaftliche Engagement entgegenwirken können; die Einführung der Gruppenmitbestimmung an den Universitäten der Bundesrepublik mußte unter den politischen Bedingungen nach 1967 dieses Kontrollsystem beeinträchtigen. Nun gibt es in den Geistes- und Sozialwissenschaften ein zweites Kontrollsystem, mit dem Scharlatanerie von wissenschaftlicher Leistung unterschieden werden kann: die Überprüfung von Hypothesen durch gesicherte Fakten. Dieses Kontrollsystem hat sich in der Geschichtswissenschaft als Damm gegen politisch motivierte Spekulation bewährt, und es hat auch dazu beigetragen, daß die empirischen Teildisziplinen der Soziologie und Politologie, etwa die Meinungs- und Wählerverhaltensforschung, ein im internationalen Vergleich hohes Niveau erreichen oder halten konnten. Als gefährdeter erwiesen sich die Teile der Soziologie und Politikwissenschaft, in denen die sozialphilosophische Reflexion dominiert. In ihnen lassen sich die für empirische Aussagen brauch-

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik

237

baren Überprüfungsverfahren, so das Falsifizierungsprinzip, nur mit Einschränkung anwenden. Es gibt aber bisher keine intersubjektiv zwingenden Überprüfungsverfahren bei nicht-empirischen Aussagen. So haben die verschiedenen Richtungen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zwar hervorragende Leistungen beim Interpretieren sozialer Phänomene aufzuweisen; doch präzise, operationalisierbare Kriterien dafür, daß ein Phänomen „verstanden" worden ist, liegen nicht vor; es bleibt letzten Endes dem subjektiven Urteil des Lesers überlassen, ob er sich von der Sicht des Interpretierenden beeindrucken läßt oder nicht. Solange die Geisteswissenschaftler sich gemeinsam ethischen Grundwerten und einem unbestrittenen methodisch-technischen Anspruchsniveau verpflichtet fühlen, ist eine rationale Diskussion zwischen Vertretern unterschiedlicher, nicht eindeutig überprüfbarer Meinungen noch möglich. Wenn dieser Konsens aber zerbrochen ist, stehen sich im sozialphilosophischen Bereich antagonistische Meinungen gegenüber, und die Diskussion bricht ab. Den Vertretern normativ-essentialistischer Theorieansätze, etwa Wilhelm Hennis, Hans Maier, vorher Erik Voegelin, ist es daher auch nicht gelungen, dem Bild des Menschen und seiner Geschichte, wie es Habermas zeichnet, etwas anderes entgegenzusetzen als ihr Bild des Menschen und seiner Geschichte. Welches Bild das „richtige" ist, bleibt der subjektiven Entscheidung überlassen. Die wissenschaftstheoretische Gegenposition zur historisch-dialektischen Theorie fiel damit dem „Kritischen Rationalismus" Poppers und Alberts zu, der normative Grundentscheidungen als wissenschaftlich nicht ableitbar ausklammert, seine Leistungsfähigkeit bei der Analyse der Voraussetzungen und Folgen der Verwirklichung bestimmter Normen aber bewiesen hat. Zwar liegt in dieser Analyse der Voraussetzungen und Folgen von Entscheidungen eine zentrale Aufgabe einer auf Praxis zielenden Politikwissenschaft. 17 Doch es läßt sich nicht leugnen, daß die Selbstbeschränkung der Wissenschaft, wie sie der „Kritische Rationalismus" fordert, für viele Politikwissenschaftler nicht akzeptabel ist, weil sie das Zentrum sozialphilosophischer Reflexion der vorwissenschaftlichen Phantasie überläßt. Die Folge dieser Mängel eines jeden der für die Politikwissenschaft wichtigen Theorieansätze ist, daß die Rationalität der Auseinandersetzung über Wissenschaftlichkeit nicht mehr gewährleistet ist, da keine allgemein verbindlichen Maßstäbe für Wissenschaftlichkeit und Qualität mehr existieren.

17

Ähnlich Nikolaus Lobkowicz, Theorie und Praxis. In: Politische heute, Hrsg. von L. Reinisch, München 1971, 24.

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4. Zur praktischen Bedeutung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Wenn Politikwissenschaft mit dem Anspruch auftritt, nicht nur die Frage zu beantworten, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen Freiheit, Gerechtigkeit und Friede möglich ist, sondern auch durch die Beantwortung dieser Frage einen Beitrag zur Funktionsfähigkeit einer demokratischen Gesellschaft zu leisten, so muß sie sich die Prüfung gefallen lassen, ob sie diesem Anspruch gerecht wird. Ihrer allgemeinen Aufgabe, Informationen bereitzustellen, die die Grundlage für ein rationales Urteil der Bürger über Politik und damit Voraussetzung für Partizipation bieten, kommt die Politikwissenschaft der Bundesrepublik heute erst mit Einschränkungen nach. Die Defizite im Bereich der Demokratieforschung, der Regierungslehre und der internationalen Politik sowie in der Analyse der Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft dürften hier besonders ins Gewicht fallen. Etwas günstiger ist die Bilanz im Bereich spezieller Politikberatung. Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen sowie die möglichen Verfahren bei der Politikberatung sind relativ gut untersucht; Erfolge bei der empirischen Untersuchung des Wählerverhaltens und bei der Beratung von Parteien über die Wahlkampfstrategie (Wildenmann, Kaltefleiter, Infas-Institut Allensbach) sind unbestreitbar. Das ehrgeizigste Beratungsobjekt, die Regierungs- und Verwaltungsreform auf Bundesebene mit Hilfe einer Beratergruppe von Politikwissenschaftlern und Soziologen, Ende 1968 begonnen, zwischen 1969 und 1972 zeitweise großzügig gefördert, scheiterte zwar vor allem am Widerstand der Ressorts gegen eine beim Bundeskanzleramt angesiedelte Planungsgruppe. 18 Doch das dabei entwickelte Modell hätte, konsequent angewendet, notwendige Bedingungen und Folgewirkungen politischer Entscheidungen deutlicher herausstellen können, als es in der gegenwärtigen Praxis der Regierung und Verwaltung offenbar möglich ist. Unbefriedigend ist die Bilanz in der politischen Bildung im engeren Sinne, d. h. in der Einwirkung auf den politischen Unterricht an Schulen. Die überwiegende Zahl der Politikstudenten erstrebt ein Lehramt; größere Anteile an Studenten, die Tätigkeiten in Massenmedien, Parteien und Verbänden oder der öffentlichen Verwaltung anstreben, haben lediglich das Otto-Suhr-Institut in Berlin und das Geschwister-SchollInstitut in München. Der hohe Anteil an Lehramtsstudenten birgt die Gefahr, daß die Lehr- und Forschungstätigkeit überwiegend auf die 18

Dazu Renate Mayntz/Fritz Scharpf, Planungsorganisation, Die Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung des Bundes, München 1973.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik

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Themen ausgerichtet wird, die für die Schulpraxis wichtig scheinen. Andererseits hat die Politikwissenschaft ihre Chance, über ihre Stellung bei der Ausbildung der Sozialkundelehrer nun wenigstens auch auf die Didaktik der politischen Bildung einzuwirken, kaum genutzt. Didaktik, d. h. die Bestimmung der Ziele, Inhalte, Methoden und Kontrollverfahren des Lernens, wird im Bereich der politischen Bildung überwiegend von Pädagogen oder Schulpraktikern, nicht von Fachwissenschaftlern beeinflußt. Die handgreifliche Folge besteht in der Vernachlässigung der sozialwissenschaftlichen Forschung und in einseitiger Berücksichtigung der jeweils modischen theoretischen Ansätze. Seit 1968 dominiert der historisch-dialektische Theorieansatz, und zwar nicht zuletzt, weil er von Pädagogen, die die Ziele der Erziehung begründen müssen, meist als der einzige moderne wissenschaftliche Ansatz zur Begründung von Zielen angesehen wird. Den Schülern wird damit ein negatives Urteil über bestehende Ordnungen vorgegeben; das Ziel, sie zu selbständigem Urteil zu erziehen, wird verfehlt. Diese Mängel und Versäumnisse können mit der immer noch im Verhältnis zu vergleichbaren Fächer unzureichenden Personal- und Sachausstattung der Disziplin allein nicht erklärt werden. Sie sind auch nicht den Politikwissenschaftlern in ihrer Gesamtheit anzulasten. Trotz aller Schwierigkeiten sind an einer ganzen Reihe von Lehrstühlen auch nach 1968 Forschungsarbeiten von internationalem Niveau entstanden. Der wissenschaftliche und politische Verfall von Teilen der Disziplin ist vielmehr nicht zuletzt den Regierungen und Parlamenten anzulasten, die eine noch nicht gefestigte Wissenschaft zunächst unzureichend förderten, sie aber dann, in einer besonders kritischen Expansionsphase, dem Einfluß radikaler Gruppen wissentlich aussetzten.

Teilnehmer des Arbeitskreises „Geisteswissenschaften und Forschungspolitik" Der Arbeitskreis „Geisteswissenschaften und Forschungspolitik", angeregt von Herrn Professor Dr. Gerd Brand, wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung unterstützt. Teilnehmer waren: Géza Alföldy Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg Seminar für Alte Geschichte, Marstallhof 4, 6900 Heidelberg Gunnar Andersson Dr. phil., wiss. Ass. am Institut für Philosophie an der Universität Trier Philosophisches Institut der Universität Trier, Postfach 3825, 5500 Trier Bernard Andreae Prof. für Archäologie an der RuhrUniversität Bochum; ab 1.4.78 an der Philipps-Universität Marburg (Lahn) Vorsitzender des Deutschen Archäologen-Verbandes von 1971-1973, 4630 Bochum; Roomersheide 73, ab 1.4.78; Archäologisches Seminar der Philipps-Universität Marburg, Biegenstr. 11, 3550 Marburg (Lahn) Kurt Böhner Geschäftsfuhrender Direktor des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz; Honorarprofessor an der JohannesGutenberg-Universität Mainz Vorsitzender des West- und Süddeutschen Verbandes für Altertumsforschung; Mitglied der Zentraldirektion und der Römisch-Germanischen-Kommission des Deutschen Archäologischen Institutes; Mitglied des Comité Exécutiv de l'Union International des Sciences Préhistoriques et Protohistoriques

Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Ernst-Ludwig-Platz 2, 6500 Mainz August Buck Professor für Romanische Philologie an der Philipps-Universität Marburg (Lahn) Präsident der Deutschen Dante-Gesellschaft; Stellvertretender Präsident der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt a.M.; Vorsitzender der Senatskommission für Humanismusforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Studienzentrums in Venedig e.V. Georg-Voigt-Straße 5, 3550 Marburg (Lahn) Gerhard Ebeling Professor für Fundamentaltheologie und Hermeneutik an der Universität Zürich Präsident der Kommission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers Mühlehalde 5, CH-8032 Zürich Georg Feder Dr. phil. Wissenschaftlicher Leiter des Joseph Haydn-Instituts Köln Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Musikforschung Am Kielshof 2, 5000 Köln 90 (Proz-Westhoven) Ludwig Finscher Professor für Musikwissenschaft an

Teilnehmer des Arbeitskreises der Universität Frankfurt a.M. Präsident der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft; Vizepräsident der Gesellschaft für Musikforschung priv.: Grüner Weg 18, 6365 Rosbach l;dienstl.: Musikwissenschaftliches Institut der Universität, 6000 Frankfurt a.M. Hellmut Flashar Professor für Klassische Philologie (Graezistik) an der Ruhr-Universität Bochum Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Thyssen-Stiftung; Erster Vorsitzender der Mommsen-Gesellschaft 1970-1976 dienstl.: Ruhr-Universität Bochum Seminar für Klassische Philologie Bochum-Querenburg, Universitätsstr. 150; priv.: Voßkuhlstr. 24 b, 4630 Bochum 1 Herbert Franke Professor für Ostasiatische Kulturund Sprachwissenschaft an der Universität München Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Fliederstr. 23, 8035 Gauting Annemarie Gethmann-Siefert Dr. phil., lic. phil., wiss. Ang. am Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum Hegel-Archiv, Overbergstr. 17, Postfach 102148, 4630 Bochum 1 Hubert Glaser Professor für Didaktik am Institut für Bayerische Geschichte der Universität München, Schellingstr. 9, 8000 München 22 Dieter Grosser Prof. für Didaktik der Sozialkunde und Politikwissenschaft an der Universität München 1972-1974 Präsident des Hochschulverbandes dienstl.: Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Universität München Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Didaktik der Sozialkunde

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Schellingstr. 7, 8000 München 40 priv.: Bismarckweg 5, 8131 Allmannshausen Gerhard Kegel Professor für internationales Recht an der Universität Köln Präsident des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht; geschäftsführendes Präsidialmitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften Gyrhofstr. 19a, 5000 Köln 41 Hermann Klings Professor für Philosophie an der Universität München Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Zuccalistr. 19a, 8000 München 19 Nikolaus Lobkowicz Professor für Politische Theorie und Philosophie; Präsident der Universität München Westpreußenstr. 7,8000 München 81 Hermann Lübbe Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zu Düsseldorf; 1974-1977 Vorsitzender der Hegel-Kommission der Düsseldorfer Akademie; Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz; seit 1975 Vorsitzender der Kommission für Philosophie und Begriffsgeschichte der Mainzer Akademie; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Thyssen-Stiftung, Köln; 1969-1970 Mitglied des Wissenschaftsrats; 1966-1969 Staatssekretär im Kultusministerium Nordrhein-Westfalen; 1969-1970 Staatssekretär beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Amtschef des Geschäftsbereichs Hochschulwesen; 1964-1966 Mitglied im Gründungsausschuß für die Universität Bielefeld

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Teilnehmer des Arbeitskreises

Birchli, Haus Claudia, CH-8840 Einsiedeln Ekkehard Mai Dr. phil. Stipendiat der ThyssenStiftung, Rhodiusstr. 3, 5000 Köln Eberhard Freiherr von Medem Ministerialdirigent im Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes NRW Vertreter des MWF im Hauptausschuß und im Bewilligungsausschuß für die Sonderforschungsbereiche der DFG dienstl.: Völklinger Str. 49; 4000 Düsseldorf; priv. Ernst Poensgen Allee 5, 4000 Düsseldorf 12 Walter Müller-Seidel Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität München Wissenschaftlicher Beirat des Goethe-Instituts; Germanistischer Beirat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes; Mitglied der Germanistischen Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (von 1967-1973); Mitglied des Kuratoriums der Evangelischen Akademie in Tutzing (seit 1964); ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1974); Schellingstr. 3, 8000 München 40 Otto Pöggeler Professor für Philosophie; Direktor des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum Paracelsusweg 22,4630 Bochum 1 Gerard Radnitzky Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Trier Membre correspondente de l'Académie Internaitonale de Philosophie des Sciences dienstl.: Philosophisches Institut der Universität Trier, Postfach 3825, 5500 Trier; priv.: Im obersten Garten 48, 5501 Gutweiler Koniad Repgen Professor der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte an der Rheini-

schen-Wilhelms-Universität zu Bonn 1958-1975 Sekretär der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. seit 1976 Vorsitzender; 1962-1977 Vorsitzender der Kommission für Zeitgeschichte [bis 1972: „bei der Katholischen Akademie in Bayern", seither selbständig]; seit 1972 Mitglied des „Ausschusses" der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland; seit 1959 Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicum; seit 1973 Mitglied des Vorstandes der Görres-Gesellschaft dienstl.: Konviktstr. 11,5300 Bonn 1; priv.: Saalestr. 6, 5300 Bonn 1 Stephan Waetzoldt Generaldirektor der Staatl. Museen Preußischer Kulturbesitz; Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der freien Universität Berlin Vorsitzender des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft; Mitglied des Kuratoriums der Biblioteca Hertziana; Mitglied des Zentralinstituts für Kunstgeschichte; Mitglied des Verwaltungsrates des Germanischen Nationalmuseums; Mitglied des Wissenschaftlichen Beiratesder ThyssenStiftung; Präsident des Deutschen Nationalkommitees des „Corpus Vitrearum Medii Aevi"; Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Mainz; Vorsitzender des Ausschusses für Ausstellungen im Ausland beim Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland; Korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts; Mitglied des Goethe-Instituts u. a. Stauffenbergstr. 41,1000 Berlin 30 Bernhard Zeller Prof. Dr. Dr. h. c.; Direktor des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Vorsitzender des Beirats der Stif-

Teilnehmer des Arbeitskreises tung Preußischer Kulturbesitz; Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz; Ordentliches Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde, Stuttgart; Zweiter

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Vorsitzender des Württ. Geschichtsund Altertumsvereins, Stuttgart dienstl.: Schillerhöhe, 7142 Marbach a. N.; privat: Kerner Str. 45, 7142 Marbach a. N.

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Walter de Gruyter Berlin-Newark Grundlagen der Kommunikation Herausgegeben von Roland Posner

Herman Parret (Editor)

History of Linguistic Thought and Contemporary Linguistics 1976. Large-octavo. X, 816 pages. Cloth D M 180,ISBN 3 11 005818 9 (Library Editions)

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Semantik und künstliche Intelligenz

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Beiträge zur automatischen Sprachbearbeitung II O k t a v . V I I I , 244 Seiten. 1977. Kartoniert D M 32,— ISBN 3 11 005721 2 (de Gruyter Studienbuch)

Preisänderungen vorbehalten

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Walter de Gruyter Berlin-Newark G r u n d l a g e n der K o m m u n i k a t i o n Herausgegeben von Roland Posner

G. H . von Wright

Handlung, N o r m und Intention Untersuchungen zur deontischen Logik Oktav. X X I X , 158 Seiten. 1977. Kartoniert DM 28 — ISBN 3 11 004930 9 (de Gruyter Studienbuch)

Franz von Kutschera

E i n f ü h r u n g in die intensionale Semantik Oktav. XII, 187 Seiten. 1976. Kartoniert DM28,— ISBN 3 11 00668 4 X (de Gruyter Studienbuch)

Carl G. H e m p e l

Aspekte wissenschaftlicher Erklärung Oktav. IX, 240 Seiten. 1977. Kartoniert DM 28,— ISBN 3 11 004630 X (de Gruyter Studienbuch)

Chr. Hubig/ W. von Rahden

K o n s e q u e n z e n kritischer W i s s e n s c h a f t s theorie Oktav. VIII, 398 Seiten. 1977. Kartoniert DM 34,— ISBN 3 11 007079 0 (de Gruyter Studienbudi)

D a v i d K. Lewis Konventionen Eine sprachphilosophische Abhandlung Oktav. X, 368 Seiten. 1975. Kartoniert DM 28,— ISBN 3 11 004608 3 (de Gruyter Studienbuch) Preisänderungen vorbehalten