Musik im Blick: Visuelle Perspektiven auf auditive Kulturen [1 ed.] 9783205216674, 9783205216650

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Musik im Blick: Visuelle Perspektiven auf auditive Kulturen [1 ed.]
 9783205216674, 9783205216650

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CAROLA BEBERMEIER, SABINE MEINE

Musik im Blick VISUELLE PERSPEKTIVEN AUF AUDITIVE KULTUREN

Carola Bebermeier, Sabine Meine (Hg.)

Musik im Blick Visuelle Perspektiven auf auditive Kulturen

Böhlau Verlag Wien Köln

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln sowie der Mariann Steegmann Foundation, Vaduz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Angelica Kauffman. Self-Portrait Hesitating Between the Arts of Music and Painting.jpg – Wikimedia Commons Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21667-4

Inhalt

Prolegomena Carola Bebermeier, Sabine Meine Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen. Zur Einleitung .............

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Melanie Unseld Bild – Musik – Klang! Intermediale Grenzräume ....................................... 35 Antonio Baldassarre Musik im Blick. Im Dickicht der Positionen .............................................. 49

Bilder als Quellen Jörn Steigerwald Illustrationen musikalischen Vergnügens. Die Bildrhetorik des Grand Divertissement royal (1668) ........................................................... 83 Henrike Rost Musikinstrument vs. Küchengerät. ‚Bildkörper‘ und ‚Körperbilder‘ im Stammbuch von Ignaz Moscheles ........................................................ 109 Dietrich Helms Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild. Eine Korpusanalyse historischer Bildpostkarten......................................... 125 Christoph Müller-Oberhäuser Gruppenbilder (fast) ohne Damen. Überlegungen zur fotografischen (Selbst-)Darstellung von Männergesangvereinen um 1900 ..... 151

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Inhalt

Schrift, Notation und Klang Gesa Finke Zur Interpretation von graphischer Notation. Fragestellungen und Perspektiven ......................................................................................... 187 Elena Minetti Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen .............................................. 201

Bilder in Bewegung Sabine Gebhardt Fink Die Koffermethode in der Kulturanalyse. Eine Untersuchung von Bild-Klang-Relationen in Performances von Adrian Piper (Funk Lessons), Dorothea Rust (L’Animoteur) und Monika Dillier (Re-Performance Damengöttinnen) .......................................................... 217 Maria Fuchs Intermediales Verhältnis von bewegtem Bild, Ton und Affekt. Zu einer frühen Theorie und Ästhetik von Filmmusik ................................ 233

Prolegomena

Carola Bebermeier, Sabine Meine

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen Zur Einleitung

1.

Konvergenzpunkte von Visuellem und Auditivem in der Musikwissenschaft

Über klingende Bildkörper, visuelle Elemente in auditiven Kulturen nachzudenken, erregt heute in der kulturwissenschaftlich orientierten Musikwissenschaft ein verstärktes Interesse. Forschungen zum Verhältnis von Klang und Bild, zu (graphischen) Notationsformen oder Bildern als Quellen der Musikgeschichte erfahren neue Impulse durch jüngere Studien zur visuellen Kultur, die der Musikund Kulturgeschichte ein immenses Spektrum an ‚Praktiken des Zu-Hören- und Zu-Sehen-Gebens‘1 eröffnen. Exemplarisch lässt sich dies etwa an den Publikationen zum Beethoven-Jahr 2020 aufzeigen, bei denen sich Musik-, Kunst- und Kulturwissenschaftler:innen vermehrt (und gewiss nicht zum ersten Mal) explizit mit visuellen Repräsentationen und Mythenbildungen in der Historiographie um den bekannten und bereits aus zahlreichen Perspektiven bespiegelten Komponisten befassten.2 Ebenso ist in der Forschung zum popkulturellen Bereich ein Interesse an der Abbildbarkeit von Musik in visuellen Formen – etwa im Manga – erkennbar.3 In der aktuellen musikalischen Notationsforschung wiederum ist neben der textlichen ebenso die graphische Beschaffenheit des Notenmaterials ein zentra-

1 Dieser Ausdruck bildet eine Referenz an die Bezeichnung Sigrid Schades und Silke Wenks „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“, in: Sigrid Schade, Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 8. 2 Etwa Alessandra Comini, Beethoven – Zur Geburt eines Mythos, Wien 2020 (Orig.: The Changing Image of Beethoven – A Study in Mythmaking, New York 1987); Werner Telesko, Susana Zapke und Stefan Schmidl, Beethoven visuell: Der Komponist im Spiegel bildlicher Vorstellungswelten, Wien 2020; Werner Busch, Martin Geck, Beethoven-Bilder. Was Kunst- und Musikgeschiche (sich) zu erzählen haben, Kassel 2019; vgl. hierzu auch Melanie Unseld, „Aktuelle Publikationen zu ‚Beethoven-Bildern‘“ (Rezension), in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], http://www.sehepunkte.de/2021/03/34416. html (letzter Zugriff: 4.01.2022). 3 Melanie Unseld, Akiko Yamada (Hrsg.), Laute(r) Bilder. Musik in Manga, Comic & Co., Hannover 2022.

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ler wissenschaftlicher Referenzpunkt,4 dem eine eigene „visuelle und imaginative Logik“5 attestiert wird. Die Konvergenzpunkte von Visuellem und Auditiven sind damit im Fach Musikwissenschaft außergewöhnlich breit und vielfältig. Indem visuelle Quellen, neben der Darstellung von etwa musikalischen Praktiken oder Instrumenten, auch auf Musik und Klang in übergeordneter Hinsicht verweisen, unterscheiden sie sich ferner zum Teil deutlich von den im geschichts- oder literaturwissenschaftlichen Bereich relevanten Quellen. Daraus folgt, dass es von Relevanz ist, visuelle Quellen nicht nur als Bebilderung von Musikgeschichte zu verstehen, sondern als eigenständige, vielschichtige und äußerst diverse musikwissenschaftliche Quellenart ernst zu nehmen und eigene methodische Zugänge zum Material zu entwickeln. Um im vorliegenden Band die verschiedenen aktuellen Strömungen visueller Perspektiven auf auditive Kulturen zu bündeln und miteinander in einen methodologischen Austausch zu setzen, haben sich drei Forschungskategorien herausgebildet: 1. Bilder als Quellen 2. (graphische) Notationsformen 3. Visualisierungen von Klängen/Verklanglichung von Visuellem Dezidierter Fokus ist hierbei die methodisch-theoretische Einbettung der musikwissenschaftlichen Ansätze in das transdisziplinäre Forschungsfeld der Studien zu visuellen Kultur/Bildwissenschaften, in dem das Fach bisher lediglich eine marginale Rolle zu spielen scheint. So wird etwa im 2014 von den Philosophen Stephan Günzel und Dieter Mersch herausgegebenen interdisziplinären Handbuch Bild 6 erst im letzten Kapitel auf die Musikwissenschaft eingegangen7 und im 2005 vom Medienwissenschaftler Klaus Sachs-Hombach herausgegebenen Handbuch Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden8 kommt das Fach im Spektrum des insgesamt durchaus divergenten Fächerkanons9 nicht vor.

4 Matteo Nanni, Kira Henkel (Hrsg.), Von der Oralität zum SchriftBild. Visuelle Kultur und musikalische Notation, Paderborn 2020; Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek, Sophie Zehetmayer (Hrsg.), Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen, Paderborn 2019. 5 Matteo Nanni, „Das Bildliche der Musik: Gedanken zum iconic turn“, in: Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Michele Calella und Nikolaus Urbanek, Stuttgart 2013, S. 405. 6 Stephan Günzel, Dieter Mersch (Hrsg.), Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014. 7 Nina Noeske, Matthias Tischer, „Musikwissenschaften“, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. v. Stephan Günzel und Dieter Mersch, Stuttgart 2014, S. 465–471. 8 Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.), Handbuch Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt am Main 2005. 9 U. a. Kognitions- und Kommunikationswissenschaft, Archäologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Neurowissenschaft, Psychologie, Geschichtswissenschaft oder auch Rechtswissenschaft.

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen

Im Folgenden werden wir zunächst die Erforschung des Visuellen in den verschiedenen akademischen Disziplinen beleuchten und mit Beispielen aus der eigenen Forschungspraxis konkretisieren, um im Anschluss daran einen Überblick über die verschiedenen Perspektiven des vorliegenden Bandes zu geben.

2.

Bilder und (Musik-)Geschichte

Vor rund 25 Jahren, in der Mitte der 1990er Jahre, konstatierte der Kulturhistoriker Michael Maurer in dem Aufsatz „Bilder repräsentieren Geschichte. Repräsentieren Bilder Geschichte? – Zur Funktion historischer Bildquellen in Wissenschaft und Öffentlichkeit“: In den Bildquellen der abendländischen Maltradition verfügt die Sozial- und Mentalitätsgeschichte über einen unschätzbaren Fundus menschlicher Zeugnisse, der bisher von historischer Seite noch nicht annähernd auch nur geahnt wird – von einer systematischen Erschließung ganz zu schweigen.10

Für kulturkritisch denkende Musikhistoriker:innen liegt an dieser Stelle die Frage nahe, ob Maurer auch heute noch die „abendländische Maltradition“ so stark betonen würde oder ob der Fokus mit seinem Forschungsschwerpunkt – der Kulturgeschichte Mittel- und Westeuropas – zu erklären ist, denn freilich eignen sich auch visuelle Darstellungen aus anderen kulturellen Kontexten als Quellen. In den Geschichtswissenschaften werden visuelle Repräsentationen fachbedingt zumeist als Quellen zur Erkenntnis über historisch-kulturelle Zusammenhänge genutzt. Eine zentrale Publikation der Disziplin war etwa die um die Jahrtausendwende erschienene Monographie des britischen Historikers Peter Burke Augenzeugenschaft. („Eyewitnessing“) Bilder als historische Quellen (2001/2003)11 . Dieser führte das gestiegene Interesse der historischen Forschung an visuellen Quellen auf eine Ausweitung der Themenfelder der Forscher:innen von einem Fokus auf politische Ereignisse, ökonomische Verhältnisse und soziale Strukturen hin zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie der Geschichte der materiellen Kultur und des Körpers zurück. Diese Forschungen wären mit den klassischen, schriftlichen Archivquellen zum Teil nur schwer realisierbar gewesen.12 Für den deutschsprachigen Raum 10 Michael Maurer, „Bilder repräsentieren Geschichte. Repräsentieren Bilder Geschichte? – Zur Funktion historischer Bildquellen in Wissenschaft und Öffentlichkeit“, in: Historische Faszination. Geschichtskulturen heute, hrsg. v. Klaus Füßmann u. a., Köln u. a. 1994, S. 61–90, hier S. 75 f. 11 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003. Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Eyewitnessing: The Use of Images as Historical Evicence. 12 Burke, Augenzeugenschaft, S. 9.

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prägend war 2006 die Publikation Gerhard Pauls Visual History.13 Vorbereitende Studien hierzu lieferte die sogenannte Historische Bildkunde, namentlich durch die Forschungen Trude und Rainer Wohlfeils14 und Heike Talkenbergs,15 jedoch bereits seit den 1980er Jahren.16 Ein Schwerpunkt der historischen bildbezogenen Forschung lag auf der Entwicklung von methodischem Werkzeug für die Entschlüsselung von Bildern als zusätzliche Quellenart; entsprechende Forschungsfragen besaßen in der Regel eine kulturhistorische Prägung.

3.

Bildwissenschaften und Visual Culture Studies

Zwei sogenannte cultural turns,17 die nahezu zeitgleich zu Michael Maurers obigem Zitat durch den Kunsthistoriker Gottfried Boehm und den Literatur- und Kunstwissenschaftler William John Thomas Mitchell ausgerufen wurden, belegen, dass das Nachdenken über visuelle Kulturen und ihre transdisziplinäre Verflechtung in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Bereichen jenseits ihrer Heimatdisziplin, der Kunstwissenschaft, in den 1990er Jahren ein drängendes Thema war: der iconic (Boehm) und der pictorial turn (Mitchell).18 Mit ihren Publikationen Was ist ein Bild? (1994)19 und Iconology: Image, Text, Ideology (1986)20 bzw. Picture Theory (1994)21 lieferten sie für die Forschungsbereiche der Bildwissenschaften und das anglo-amerikanische Pendant der Visual Culture Studies grundlegende Arbeiten. Obwohl sich beide Forschungsrichtungen unterscheiden, sich in gewisser Weise komplementär ergänzen, ist ihnen die Grundüberzeugung gemeinsam, die westli-

13 Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006. 14 Rainer und Trude Wohlfeil, „Das Landknecht-Bild als geschichtliche Quelle. Überlegungen zur Historischen Bildkunde“, in: Militärgeschichte. Probleme – Thesen – Wege, hrsg. v. Manfred Messerschmidt u. a., Stuttgart 1982, S. 81–99; Rainer Wohlfeil, „Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde“, in: Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, hrsg. v. Brigitte Tolkemitt und ders., Berlin 1991, S. 17–36. 15 Heike Talkenberg, „Von der Illustration zur Interpretation. Das Bild als historische Quelle. Methodische Überlegungen zur Historischen Bildkunde“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 289–313. 16 Ausführlich zum Thema ‚Bilder als historische Quellen‘ u. a. in: Carola Bebermeier, Celeste Coltellini (1760–1828). Lebensbilder einer Sängerin und Malerin, Köln/Wien/Weimar 2015, S. 28–36. 17 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006. 18 Gerhard Paul, „Von der Historischen Bilderkunde zur Visual History. Eine Einführung“, in: Visual History. Ein Studienbuch, hrsg. v. ders., Göttingen 2006, S. 7–36, hier S. 7. 19 Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994. 20 W. J. T. Mitchell, Iconology: Image, Text, Ideology, Chicago 1986. 21 W. J. T. Mitchell, Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago 1994.

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen

che akademische Tradition leide an einer Art von „Bildvergessenheit“,22 die „den Bildern eine eigene Erhellungskraft nicht zu[traut]“.23 Bilder seien vielmehr stets in ihrer textuellen Form als Sprache gedacht worden, nicht aber in einer eigenen Bildlichkeit des Denkens. Als Konsequenz stünden keine adäquaten Begriffe oder Theorien zur Analyse visueller Phänomene bereit. Aufgabe sei es nun, Visuelles aus dem hegemonialen Anspruch, diese Phänomene fortlaufend in Texte umwandeln zu wollen, zu befreien.24 Zu den Unterschieden zählt, neben der geographischen Verortung, auch die akademische Herkunft ihrer Vertreter:innen, die bei den Visual Culture Studies größtenteils aus der Literaturwissenschaft, bei den Bildwissenschaften aus der Kunstgeschichte und zum Teil auch aus der Philosophie stammen. Ferner tragen die Visual Culture Studies einen dezidiert kulturkritischen Zug und schließen die Populärkultur programmatisch mit in ihre Forschungen ein. Während sich die Bildwissenschaften für die Analyse von Bildern interessieren und ihr Material hierbei gegenüber der klassischen kunstwissenschaftlichen Forschung um nichtkünstlerische, etwa naturwissenschaftliche, Bildformen ergänzen, untersuchen Visual Culture Studies den gesamten Bereich des Visuellen. Dieser beschränke sich nicht auf Bilder, sondern schließe den Sehvorgang mit ein, der sowohl historisch als kulturell kodiert und damit eine Variable sei.25 Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen Musik und visuellen Kulturen nun nicht mit der Perspektive auf Visuelles als historisches Quellenmaterial, sondern reflektiert Musik von einer phänomenologischen Seite, so wird zuforderst ihre genuine „Bild-Entzogenheit“26 markant: Jede Setzung einer Beziehung zwischen Klang und Bild ergibt medial und wahrnehmungspsychologisch ein aporetisches Verhältnis: Gründet die Unsichtbarkeit und Bilderlosigkeit von Musik auf der flüchtigen Immaterialität des Klangs, so wohnt dem Sichtbaren des Bildes eine grundsätzliche Anhaftung an das Jetzt der Materie inne.27

Forscher:innen, die sich mit hier anschließenden Forschungsfragen befassen, finden Anschluss vor allem in Gottfried Boehms Konzepten, u. a. der „ikonischen

22 Bernd Stiegler, Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2015, S. 145. 23 Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. ders., München 1994, S. 11–38, hier S. 30. 24 Stiegler, Theorien, S. 145. 25 Ebd., S. 144. 26 Nanni, „Das Bildliche der Musik“, S. 406. 27 Ebd.

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Differenz“28 , oder dem Postulat der gemeinsamen Konstitution von Bild und Musik als Sich-Zeigende, die auf das zeigen, „was nicht gesagt werden kann.“29 Die neuere Notationsforschung betrachtet das Medium wiederum von einer schrifttheoretischen Perspektive aus, die jedoch ebenfalls einen engen Anschluss an die Bildwissenschaften sowie an die darin eingebetteten Studien zur Schriftbildlichkeit der Philosophin Sybille Krämer sucht, auf die in diesem Band in den Beiträgen von Gesa Finke und Elena Minetti näher eingegangen wird. So konstatieren etwa Federico Celestini, Matteo Nanni, Simon Obert und Nikolaus Urbanek in ihrem einleitenden Text zum Band Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen: „Notenschriften weisen visuelle Strategien auf, die genuin ikonisch sind.“ Diesbezüglichen Forschungsfragen sei allerdings bisher, im Gegensatz etwa zu Fragen der „Dechiffrierung und nach der philologischen Systematisierung der Notenzeichen“, zu wenig nachgegangen worden.30

4.

Studien zur visuellen Kultur

Die „Aneignung des Bildes“31 als Forschungsgegenstand durch verschiedene Disziplinen ist wiederum dem akademischen Traditionsfach zur Erforschung visueller Phänomene, der Kunstgeschichte, durchaus bewusst und für das Fach zu einer Herausforderung geworden. Angesichts des gestiegenen Interesses unterschiedlichster Disziplinen an Bildern ist ferner gleichzeitig das Verlangen nach methodischem Werkzeug zur Analyse gewachsen. Gleichwohl sind kunstwissenschaftliche Methoden nicht als reine Instrumente zu betrachten, sondern samt ihrer Entwicklung und Begründungen im disziplinären Kontext. Die Kunsthistorikerinnen Sigrid Schade und Silke Wenk gaben 2011 den Band Studien zur visuellen Kultur heraus und schlagen darin vor, visuelle Kulturen als „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“32 zu verstehen. Damit wird ein Bild nicht auf sein Bildsein reduziert, das eindeutig zu ‚lesen‘ wäre und damit Evidenz zu ermöglichen vorgibt. Vielmehr seien Bilder zu interpretierende Objekte, die in einem Geflecht 28 „Jedes ikonische Artefakt organisiert sich in der Form einer visuellen, intelligenten sowie deiktischen, und das heisst nicht-sprachlichen, Differenz.“ Gottfried Boehm, „Ikonische Differenz“, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170–176, hier S. 171, https://rheinsprung11. unibas.ch/archiv/ausgabe-01/glossar/ikonische-differenz/2/ (letzter Zugriff: 11.01.22). 29 Nanni, „Das Bildliche der Musik“, S. 414. 30 Federico Celestini, Matteo Nanni, Simon Obert, Nikolaus Urbanek, „Zu einer Theorie der musikalischen Schrift. Materiale, operative, ikonische und performative Aspekte musikalischer Notationen“, in: Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen, hrsg. v. Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek und Sophie Zehetmayer, Paderborn 2019, S. 28. 31 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 47. 32 Ebd., S. 8.

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen

aus Akteurinnen und Akteuren existieren. Schade und Wenk entwerfen damit eine theoretische Perspektive, in der Bilder und ihr Gebrauch als kulturelle Praktiken verstanden werden, die an der Generierung und Regelung des „Sichtbaren und Sagbaren“ einer Gesellschaft maßgeblich beteiligt sind.33 In verschiedenen Aspekten ähneln die Studien zur visuellen Kultur damit (nicht nur dem Namen nach) den zuvor beschriebenen anglo-amerikanischen Visual Culture Studies, etwa in der stark politischen, kulturkritischen Ausrichtung. Es werden Fragen gestellt wie: Wer darf wen ansehen? Wie werden normative Muster als (Spiegel-)Bilder wirksam? Nach welchem Blickpunkt richtet sich das sichtbare Feld aus? Welche Perspektive geben Bilder wieder und insofern auch vor? Was macht sie dagegen ungesehen (unsichtbar) und damit auch ungeschehen? Aber auch: […] Welche Möglichkeiten zu einem Anderssehen gibt es und wie lassen sich etablierte Sichtweisen neu konfigurieren?34

Oder in Schade/Wenks eigener, sehr pointierter Formulierung: Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben, oder wo ist wem was und wie unsichtbar gemacht? 35

Deutlich wird hier vor allem die gesellschaftspolitische Dimension der Forschung mit dem Ziel der Aufdeckung von Machtkonstellationen. Einher gehen damit auch Fragen zu einer visuellen Ethik und Überlegungen zur Konzeptualisierung eines verantwortlichen Zu-sehen-Gebens, etwa um den Diskurs um die (Nicht-)Darstellung von Gewalt als Teil von Kriegsberichterstattungen.36 Ethische Forschungsfragen bezüglich des Zu-sehen-Gebens, bzw. Unsichtbar-Machens, stellen sich allerdings nicht erst bei derart drastischen Darstellungen wie Kriegs- oder Folterbildern, sondern beginnen auf der schmalen Schneide von Voyeurismus und Selbstzensur, wie in einem späteren Beispiel gezeigt wird.

5.

Musikikonographie

Bevor die Musikwissenschaft den relativ rezenten Anschluss an die transdisziplinären Felder der Bildwissenschaften, bzw. die Studien zur visuellen Kultur gefunden

33 Sigrid Adorf, Kerstin Brandes, „Studien zur visuellen Kultur“, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. v. Stephan Günzel und Dieter Mersch, Stuttgart 2014, S. 447. 34 Ebd. 35 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 53 (Kursivierung im Orginal). 36 Adorf/Brandes, „Studien zur visuellen Kultur“, S. 451.

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hat, bestand bereits in Teilbereichen des Faches ein intensiver und internationaler Austausch zu einer explizit kunsthistorisch geprägten Methodik: der Ikonographie. Vor allem Forscher:innen, die sich mit Epochen der Musikgeschichte beschäftigten, zu denen wenige Schriftquellen existierten, wie etwa der Antike oder der Frühen Neuzeit, fanden in der Musikikonographie37 eine wesentliche Erweiterung ihres Quellenbestandes. Bereits in den 1970er Jahren institutionalisierte sich dieser Forschungszweig in der internationalen Gesellschaft RIdIM (Répertoire Internationale d’Iconographie Musicale),38 die sich seitdem mit jährlich stattfindenden und thematisch breit gefächerten Konferenzen39 , einer Bild-Datenbank40 und dem Jahrbuch Art in Music der Bildthematik im musikwissenschaftlichen Kontext annimmt. 2006 kam, von Wien ausgehend, mit der IMS Study Group Musical Iconography und dem Jahrbuch Imago musicae, ein weiteres internationales Forschungsnetzwerk hinzu.41 Zu Beginn richtete sich das musikwissenschaftliche Forschungsinteresse hierbei vor allem auf „zur Anschauung gebrachte […] Realien, Musiziersituationen und Aufführungskontexte“, wie auch auf „die Formen symbolischer Sinngebung durch Musikmotive in je einmaligen Repräsentations- und Kommunikationszusammenhängen“, ausgehend von der Einsicht, dass „Darstellungen von Musik in der bildenden Kunst […] das Verständnis musikgeschichtlicher Prozesse auf einzigartige Weise bereichern.“42 Die hier implizierte Unterscheidung der Beschreibung von Quellen und der Deutung ihrer symbolischen Sinngebung sowie das verstärkte Interesse an der Methodik von Musikforscher:innen mit einem Fokus auf der Frühen Neuzeit könnte mit dem ebenfalls auf dieser Epoche liegenden Forschungsschwerpunkt von dessen Entwickler, Erwin Panofsky, liegen. Eine ausführliche,

37 Die diesbezügliche Begriffsbestimmung des Musikwissenschaftlers Tilman Seebass spiegelt eine moderne und offene Methode der Analyse visueller Quellen zur Musik: „Wie aus literarischen Quellen lässt sich Bildern entnehmen, welchen Wert eine Gesellschaft der Musik zugestanden, was sie über Musik gedacht hat und wie sie durch Musik bewegt worden ist. In diesem Sinne ist der Gegenstand der Musikikonographie die Visualisierung von Musik schlechthin, einschließlich des Transfers von Inhalten der Klangwelt in Inhalte von Bildern.“ Seebass, Tilman: Artikel „Musikikonographie“, in: MGG-Online, hrsg. v. Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016 ff., zuerst veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016, https://www.mgg-online.com/mgg/stable/28955 (letzter Zugriff: 07.01.2019). 38 https://ridim.org (letzter Zugriff: 09.04.2020). 39 Etwa „Music, Body and Stage: The Iconography of Music Theater and Opera“ 2008 in New York (USA); „Visual Intersections: Negotiating East and West“ 2013 in Istanbul (Türkei); „The Musical Salon in Visual Culture“ 2016 in St. Petersburg (Russland); „Belonging and Detachment: Representing Musical Identity in Visual Culture“ 2019 in Hobart (Tasmanien). 40 https://db.ridim.org (letzter Zugriff: 09.04.2020). 41 Björn R. Tammen, „Musikikonographie“, in: Musikwissenschaft/Forschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, https://www.oeaw.ac.at/acdh/musikwissenschaft/forschung/musikikonographie (letzter Zugriff: 02.12.2021). 42 Ebd.

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen

kritische Einordung dieser Methode sowie deren späterer Rezeption findet sich im Beitrag von Antonio Baldassarre. An dieser Stelle beschränken wir uns daher auf eine kurze Skizzierung des Konzepts. Panofkys Methodenbildung geht auf die 1930er Jahre zurück. Der Kunsthistoriker jüdischer Herkunft konnte zur Zeit der Nazi-Diktatur rechtzeitig aus Deutschland in die USA emigrieren, seine Forschungen weiterentwickeln und 1939 seine Studies in Iconology publizieren.43 Für die Interpretation von Renaissancekunst setzte er ein dreistufiges Analysemodell zur Dechiffrierung der Semantik eines Kunstwerks voraus und entfaltete dieses in der Einleitung des Buches.44 Generell bezeichnete Panofsky die Ikonographie als „Zweig der Kunstgeschichte, der sich mit dem Sujet (Bildgegenstand) oder der Bedeutung von Kunstwerken im Gegensatz zu ihrer Form beschäftigt“.45 Für seine Anwendung der zentralen Begriffe Ikonographie und Ikonologie auf die Kunstgeschichte und Archäologie sind die griechischen Wortbedeutungen von eíkon für (Ab-)Bild und graphein für (be-)schreiben bzw. lógos für Wort, Rede zu bedenken. In der Antike kann eikonographía die „Beschreibung durch eine figurative Darstellung“ oder – bei Aristoteles (Poetik, 1454 b 9) – im eingeschränkteren Sinne „Porträtdarstellungen“, eikonologia – bei Platon (Phaidros, 267c und 269a) – „das bildliche Reden“ bezeichnen.46 Bereits die Begriffsbasis von Panofskys Studien verweist damit auf verschiedene Deutungswege, die Bildlichkeit als Methode oder als Objekt einbeziehen. Und es wird deutlich, dass Interpretation bereits bei der Beschreibung beginnen kann. In diesem Sinn hat Panofsky als erste Stufe der Bildbetrachtung die sogenannte vorikonographische Beschreibung gesetzt. Sie sieht vor, anfangs so unvoreingenommen wie möglich zu beobachten und zu beschreiben. Im zweiten Schritt erfolgt die ikonographische Analyse. Hierfür sind nun Fachkenntnisse einzubeziehen, die Bildelemente als Symbole, Attribute und Allegorien in ihrem historischen Kontext zu verorten und zu deuten. Doch muss dabei nicht gewährleistet sein, dass uns durch ein ausreichendes Maß an Fachbildung und -kenntnis eine sprechende Analyse des Bildgegenstands gelingt. Denn erst im dritten Schritt der Analyse, der

43 Erwin Panofsky, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939. 44 Die Einleitung des Buches ging bereits auf einen Vortrag aus dem Jahr 1931 zurück. Sie wurde auch in späteren Publikationen Panofskys erneut publiziert, etwa in Meaning in the Visual Arts, New York 1957 bzw. Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975. 45 Hier beziehe ich mich auf die deutsche Übersetzung von Panofskys Einleitung: „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“, in: Ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, S. 36–49, hier S. 36. 46 Vgl. Thomas Noll, „Ikonographie/Ikonologie“, in: Ulrich Pfisterer (Hrsg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Stuttgart 2011. https://doi.org/10.1007/978-3-476-00331-7_76 (letzter Zugriff: 08.09.2021).

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Abb. 1 Lorenzo Lotto, Der schlafende Apoll und die vom Parnass entflohenen Musen, um 1545–1549.

ikonologischen Deutung, geht es um die „eigentliche Bedeutung“ und den „Gehalt“ des Gegenstandes.47

6.

Der schlafende Apoll und die vom Parnass entflohenen Musen von Lorenzo Lotto (1545–1549)

Als Exempel für Panofskys Dreischritt, das uns thematisch zugleich in die Musikikonographie einführt, folgt hier eine kurze Betrachtung eines Renaissancegemäldes des Venezianers Lorenzo Lotto, und zwar seiner ungewöhnlichen Darstellung des göttlichen Musenbergs (Abb. 1). Auf den ersten Blick ist Musik hier über traditionelle Attribute mythologischen Vokabulars Thema. In der Vertiefung der Analyse entsteht der Eindruck, dass die Darstellung der Künste grundlegendere Reflexionen anstößt. Beginnen wir mit der vorikonographischen Betrachtung. Vor uns entfaltet sich eine Szenerie in zwei Teilen: Rechts, in einer Lichtung zwischen dunklen Laubbäumen sitzt im Halbschatten ein junger Mann. Er ist nackt, hat eine entspannte Haltung eingenommen und schläft. Mit seiner linken Hand hält er ein Streichinstrument, womöglich eine Viola da braccio. Am Boden, hinter seinem rechten

47 Ebd. S. 45 und Tabelle S. 50.

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen

Fuß, liegt der Bogen des Streichinstruments. Mit dem linken Fuß berührt er einen von neun Stoffen verschiedener Farben, die ungeordnet am Boden liegen, unter ihnen aufgeschlagene Bücher, womöglich Noten, sowie einige Blockflöten. Über dem Kopf des jungen Mannes und uns nur mit dem Rücken zugewandt, fliegt ein Flügelwesen in blauem Gewand. Es hält Blasinstrumente rechts und links in der Hand, eine Flöte und eine Trompete. In der linken Bildhälfte, getrennt durch einen dickstämmigen Baum im Vordergrund sowie den freien Ausblick auf eine Ebene und Berglandschaft, sehen wir junge Frauen, auch sie nackt, sich in verschiedene Richtungen bewegen, zwei im Bildmittelgrund weisen mit ihren Armen auf die Richtung vorn rechts und hinten links, zwei andere weiter unten zeigen auf Richtungen hinten rechts und vorne links. Ein Baumstamm im Bildmittelgrund der linken Seite ist abgeholzt. Aus dem Vokabular der Zeit und mithilfe des Bildtitels, den der Maler Lorenzo Lotto selbst vergeben hat, ist die ikonographische, zweite Ebene der Bildinterpretation und somit die Zuordnung zu bekannten Bildinhalten und ihren Bedeutungen naheliegend. Lorenzo Lotto hat das Gemälde zwischen 1545 und 1549 gemalt und in sein Arbeitsbuch dazu den Kommentar geschrieben: Apollo dormiente in Parnaso e le Muse andar disperse... quello dorme e quelle confuse/ Apollo, schlafend im Parnass, und die Musen zerstreuen sich, jener schläft, und diese sind konfus.48

Kein anderer also als der Göttervater Apoll macht hier ein Schläfchen. Seine Viola, mit der er – hier angepasst an zeitgenössische Instrumente – seine Herrschaft über die Künste demonstriert, pausiert genauso wie er selbst. Fama, der Ruhmesengel, traditionsgemäß über dem Parnass schwebend, konnte Apollo offenbar auch nicht mit Flöte und Trompete aufwecken. Die dem Göttervater anvertrauten neun Musen haben die Gunst der Stunde genutzt. Weg mit den Kleidern, Büchern und Instrumenten, sind sie nackt in die Landschaft gelaufen, ohne sich offenbar einig zu sein, wohin der Weg gehen soll. (Fünf der neun Musen, die es den anderen vieren gleichgetan haben werden, sind einer Verkleinerung des Gemäldes auf der rechten Bildseite zum Opfer gefallen.49 )

48 Zitiert nach Hans Aurenhammer, „Lorenzo Lotto, Venedig um 1480–1556/57 Loreto, Der Schlafende Apoll und die vom Parnass entfliehenden Musen, um 1545–49 (?), Öl auf Leinwand 44,5 cm (Rechts und wohl auch oben beschnitten), Budapest, Szépmúvészeti Múzeum, Inv. Nr. 947“, in: Tizian und die Renaissance in Venedig. Katalog Städel Museum, hrsg. v. Bastian Eclercy und Hans Aurenhammer, München u. a. 2019, S. 124. 49 Vgl. die vorige Anmerkung.

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Abb. 2 Raffael, Parnass (1510–1511), Szene im Wandfresco der Stanza della Segnatura im Vatikan für Papst Julius II, Rom, Vatikanische Museen.

Wie ungewöhnlich diese Szenerie für die Darstellung ihrer traditionsreichen Protagonisten für die zeitgenössischen Betrachter:innen gewesen sein muss, zeigt die Gegenüberstellung mit dem Parnass von Raffaels Deckenfresko in den Stanzen des Vatikan, wenige Jahrzehnte früher entstanden (Abb. 2):50 Mittig und aufrecht bestimmt Apollo hier die gesamte Szene, während sich die neun Musen um ihn gruppiert haben und ihre Aufmerksamkeit konzentriert auf sein Saitenspiel richten. So heißt es auch in den Metamorphosen des Ovid, der entscheidenden Referenz für mythologische Darstellungen der Neuzeit: […] was ist und was war und was sein wird | Ich enthüll es; daß Leier und Lied harmonieren, ist mein Werk. | Wohl trifft sicher mein Pfeil [...]. Auch die Arzneien sind meine Entdeckung: der Helfer, so nennt man | Mich auf der Erde, die Wirkung der Kräuter, sie ist mir zu eigen.51

50 Hans Aurenhammer bemerkt, dass Lotto Raffaels Parnass womöglich selbst in Rom gesehen hat, da er 1509 dort war oder aber es durch Marcantonio Raimondis Nachstich kannte. Aurenhammer, Lorenzo Lotto, wie Anm. 48, S. 124, Anm. 2. 51 Ovid, Metamorphosen, Stuttgart 1986, I. Buch, S. 517–522.

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Abb. 3 Franchino Gaffurio, Frontispiz der Practica Musicae, Mailand 1496.

Die Ikonographie der Musen sieht gemeinhin deren geordnete, auf Apollo gerichtete Darstellung vor, über die ein Sinnbild der Harmonie der Himmelsphären entsteht, der sogenannten Sphärenharmonien. So sehen wir Apollo bei dem Musiktheoretiker Gaffurius vom Ende des 15. Jahrhunderts als Herrscher über die Sphärenharmonien: Er thront über den Tonskalen, mit denen er über die einzelnen Musen verbunden ist (Abb. 3).52 Auf Lottos Darstellung hingegen erscheint Apollo nicht als Herrscher seiner Künste. Er pausiert und lässt somit den Musen einen Freiraum, der im Zentrum des Bildes eine bemerkenswerte Leerstelle hinterlässt und seine eigene, unkonventionelle Dynamik entfaltet. Damit kommen wir zur dritten Ebene der Deutung. Die Motive für diese ungewöhnliche Parnassdarstellung führen zunächst zur Situation des Malers: Lotto war ein Akteur, der jenseits der großen Malerschulen eine Außenseiterposition innehatte. Er war Venezianer und hatte die Stadt verlassen, da sie weitgehend unter dem Einfluss des großen Konkurrenten Tizian stand. Lotto

52 Vgl. das Faksimilie des Traktats von Farnborough: Gregg International Publishers, Ltd. 1967, vgl. die Abbildung des Frontispizes bei James Haar, „The Frontispiece of Gafori’s Practica Musicae (1496)“, in: Renaissance Quarterly, Vol. 27, 1 (Spring, 1974), S. 7–22, S. 10, fig. 2.

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war nach langen Wanderjahren zurück nach Venedig gekehrt, als er das ApolloGemälde erstellte, wohl zwischen 1545 und 1549 und wahrscheinlich ohne Auftrag, es ist zumindest nichts über einen solchen bekannt. Semjon Aaron Dreiling, Autor einer jüngeren, profunden Interpretation des Gemäldes, geht davon aus, dass Lotto es „zu seinem Privatvergnügen“ angefertigt hat.53 Hinter der Lust, den Gott der Künste allzu menschlich, ja autoritätslos darzustellen, mag ein Reflex der beruflichen Konditionen stecken. Wer Apollo schlafend und in einem herrschaftsfreien Raum darstellt, hat offenbar keinen Malauftrag zu erwarten, aber auch entsprechende Freiräume. Bedeutender, da über die individuelle Situation hinausreichend, scheint jedoch Dreilings Hinweis auf die Tradition der Parnassdarstellung sowie zeitgenössische Konnotationen. In seiner Studie zu den „klassischen Göttern auf Abwegen“ erinnert Dreiling an interessante zeitgenössische Konnotationen zur Darstellung des Parnass. Daran, dass die treue Begleitfunktion der Musen an der Seite Apollos auf keiner antiken Grundlage basierte. Dies war erst eine neue Konstruktion des 14. Jahrhunderts, um die Vorbildfunktion des antiken Göttervaters zu bestärken. Die Musen wurden also extra auf den Parnass umgesiedelt, um die Rolle der Künste und die zivilisatorische Macht Apollos aufzuwerten. Erst durch sie wurde das Bild Apollos als Herrscher über ein ganzes Regelwerk an Künsten perfekt.54 Für die Deutung unseres Bildes ist nun besonders interessant, dass Lotto sich seit den 1530er Jahren seitens der Literatur auf humoristische Kritiken an den idealisierten Mythen beziehen konnte, hinter denen die Kritik am damaligen gesellschaftlichen Verfall stand. Er soll Pietro Aretino gekannt haben, dessen Satire Im Traum zum Parnass von der Leichtigkeit und dem Vergnügen erzählt, mit denen der Autor den Berg der Künste erklommen habe und dabei weder Regeln befolgen noch Mühen auf sich habe nehmen müssen.55 Lottos wachem Witz wäre zuzutrauen, Aretinos Lesart malerisch reflektiert zu haben. Bedenken wir dann noch, dass in der venezianischen Malerei im Umkreis Tizians die reine Farbe an Bedeutung gewann, so wie in der Musik parallel der Klang,56

53 Semjon Aaron Dreiling, Die klassischen Götter auf Abwegen. Launige Götterbilder in den italienischen und nordalpinen Bildkünsten der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2016, S. 147. 54 Ebd. S. 42. 55 Die Traumsatire in Briefform lautet im Original Al Parnaso in sogno. Pietro Aretino an Signor Gianiacopo Lionardi, Gesandter des Herzogs von Urbino, Brief vom 6.12.1537, in: Ders., Lettere, hg. von Sergio Ortolani, Turin 1945, Band 1, S. 70–78, hier S. 70. Zitiert nach Dreiling, Die klassischen Götter, wie Anm. 53, S. 45. 56 Auf die Verflechtungen von Klang und Farbe im Umfeld Tizians geht Nicola Suthor u. a. im Rekurs auf den antiken Traktat Vitruvs De Architectura und die dortige Begrifflichkeit von „Chroma“ ein, die in der Musiktheorie des Cinquecento bei Giuseppe Zarlino aufgegriffen wird. Vgl. Nicola Suthor, Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption sensueller Malerei in der Frühen Neuzeit, München 2004, S. 142/143.

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dann fragt sich, ob in Lottos Bild nicht auch die Idee einer vom Regelwerk befreiten Malkunst schlummert. Die Kleider der Musen sind wie eine Malerpalette arrangiert, die den Aspekt der Farbe und der Betrachtung offensichtlich ins Spiel bringen. Es ist kaum anzunehmen, dass Lotto über die Malerei hinaus auch der Musik eine Metaebene im Bild einräumte. Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sowohl die stille Lichtung des träumenden Apollo wie auch die Landschaft der losgelassenen Musen ebenso musikalische Assoziationen eröffnen, die dem Gemälde als Gegenstand der Musikikonographie einen originellen, geradezu modernen Status verschaffen – Jahrhunderte, bevor innerhalb der Musik die Befreiung des Klangs ein Thema wurde. Trotz der traditionellen Sujets und der Malweise eröffnet Lotto somit über das Wie der Darstellung eine Metaebene, die zur ebenso kritischen wie befreienden Reflexion über die Künste und ihre Stellung in der Gesellschaft einlädt. In der neueren Ausrichtung der Musikikonographie, in die auch „Forschungsansätze zu Intermedialität und visueller Kultur“ eingezogen sind, „die sich auf alternative Konfigurationen von Musik und Bild richten“, wären solche Fragestellungen zweifellos willkommen.57

7.

Paesiello regardant chanter la Coltellini von Celeste Coltellini (1780er Jahre)

Im zweiten forschungspraktischen Beispiel liegt der Fokus nicht auf dem, was der/ die Maler:in uns zu sehen gibt, sondern auf dem, was nicht gezeigt und damit unsichtbar gemacht wird. Auf die diesbezüglichen forschungsethischen Implikationen wurde zuvor bereits aufmerksam gemacht. Darüber hinaus rücken wir innerhalb der Geschichte zeitlich ein wenig voran und befinden uns am Ende des 18. Jahrhunderts und wechseln darüber hinaus die Art des Quellenmaterials. Im Blick befindet sich kein Gemälde, sondern ein künstlerisches Alltagsmaterial – eine Zeichnung in einem Skizzenbuch. Die Skizze stammt aus einem der zehn Skizzenbücher der Sängerin und Malerin Celeste Coltellini (1760–1828).58 Dieses Material gibt u. a. einen Einblick in die

57 Tammen, „Musikikonographie“, wie Anm. 41. https://www.oeaw.ac.at/acdh/musikwissenschaft/ forschung/musikikonographie (letzter Zugriff: 02.12.2021). 58 Ausführliche Analysen zur Quelle u. a. in Bebermeier, Celeste Coltellini, S. 242 ff. und Carola Bebermeier, „‚[…] denn wenn die erste Sängerin die Oper nicht hebt, so ist alles verloren.‘ Musikkulturelle Praktiken im Opernbetrieb des 18. Jahrhunderts und Celeste Coltellinis Verkörperung der Nina in Giovanni Paisiellos Nina ossia la pazza per amore (UA 1789)“, in: Aufklärung! Musik und Geschlecht im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Cornelia Bartsch und Katharina Hottmann, Münster/New York, im Druck.

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Abb. 4 Celeste Coltellini, Paesiello regardant chanter la Coltellini, Lavierung, späte 1780er Jahre (Detail).

Lebens- und Arbeitswelt einer Opernsängerin des späten 18. Jahrhunderts. Auf dieser konkreten Zeichnung gibt uns Coltellini eine musikalische Szenerie zu sehen (Abb. 4), der drei Personen, eine Frau und zwei Männer, angehören. Die Frau sitzt sowohl im Zentrum als auch im Vordergrund an einem Tasteninstrument und schaut konzentriert auf ein Blatt – vermutlich ein Notenblatt. Ihre Hände berühren die Tasten. Sie trägt bürgerliche Kleidung. Ein Mann sitzt direkt hinter ihr und schaut ihr beim Spielen über die Schulter. Ein zweiter Mann sitzt auf ihrer linken Seite, hat den Ellbogen auf die linke Seite der Tastatur abgelegt und seinen Kopf mit der Hand gestützt. Er schaut der Frau direkt ins Gesicht: intensiv und gleichzeitig ein wenig verträumt. Die Kleidung der Männer – Mantel und Weste – kann ebenfalls als bürgerlich eingeordnet werden. Unter der Zeichnung befindet sich eine Handschrift von Celeste Coltellinis Ururenkelin Beatrice Gruber-Meuricoffre: „Paesiello regardant chanter la Coltellini“. Nach der Familientradierung handelt es sich bei der Frau im Zentrum demnach um Celeste Coltellini, bei dem Mann auf

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Abb. 5 Celeste Coltellini, Paesiello regardant chanter la Coltellini, Lavierung, späte 1780er Jahre.

der rechten Seite um Giovanni Paisiello. Nur die Identität des zweiten Mannes auf der linken Bildseite war stets fraglich. Betrachtet man die Skizze noch genauer und bezieht die Komposition und die Platzierung des Bildes auf der Skizzenbuchseite mit ein (Abb. 5), so fällt auf, dass das Zentrum der Skizze auf irritierende Weise von der Mitte des Bildes auf die linke Seite verschoben liegt, was bei einer versierten Zeichnerin wie Coltellini nicht aus Versehen passiert sein kann. Denkt man sich allerdings den zweiten Mann am linken Bildrand weg, so entsteht eine harmonische Bildkomposition mit dem Zentrum zwischen der Frau und dem Mann in der Bildmitte. Den zweiten Mann links scheint Coltellini also im Nachhinein zur Skizze hinzugefügt zu haben, wobei sie die eng gebundenen Skizzenbuchseite kräftig auseinandergepresst haben muss, um die Figur in die schmale Lücke zwischen den Rücken der Frau und der Seitenkante zu platzieren. Erst danach hat sie die gesamte Graphitstift-Skizze mit einer Lavierung versehen. Warum jedoch dieser Aufwand, um aus einer ausgewogen komponierten Zeichnung eine weniger harmonische zu gestalten? An dieser Stelle ist die Entstehungszeit des Bildes von Interesse: Das Skizzenbuch, aus dem die Zeichnung stammt, kann auf das Ende der 1780er Jahre datiert

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werden.59 In dieser Zeit war Celeste Coltellini auf dem Hochpunkt ihrer Bühnenkarriere. Sie war seit rund zehn Jahren die angesehene Primadonna am Teatro dei Fiorentini, dem renommiertesten Opera-buffa-Theater Neapels, und hatte 1785/86 und 1788 knapp zwei Spielzeiten am Hofburgtheater in Wien gesungen, ebenfalls als Primadonna.60 Ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten Giovanni Paisiello, der ebenfalls auf der Skizze zu sehen ist, war Ende der 1780er Jahre besonders eng. Nach seiner Rückkehr aus St. Petersburg 1784 schrieb er jährlich eine Oper für das Fiorentini, zumeist mit Coltellini als Hauptrolle. Die Oper, die heute noch zu einem der bekanntesten Werke Paisiellos gehört, Nina ossia la pazza per amore, stand kurz vor der Uraufführung 1789. Coltellini konnte, aufgrund der häufigen Zusammenarbeit in Neapel, als eine Art Paisiello-Spezialistin, und anders herum Paisiello, aufgrund der hohen Stellung der ersten Sänger:innen am Theater sowie der damaligen Theaterpraxis, die Werke speziell für die ausführenden Künstler:innen zu gestalten,61 als ein Coltellini-Spezialist gegolten haben. Coltellini zeichnete sich selbst – die Künstlerin – und Paisiello – den Komponisten – auf Augenhöhe und im ursprünglichen Bild zu zweit auf engem Raum. Diese Darstellung war am Ende der 1780er Jahre offensichtlich zeigbar62 und daher „Sichtbar und Sagbar“63 . Was hat sich danach geändert? Coltellini heiratete 1792 und zwar in die bürgerliche Oberschicht Neapels, was im 18. Jahrhundert bei Sänger:innen in der Regel undenkbar war. Wie auch in anderen Berufs- bzw. Standesgruppen üblich, verbanden sich Musikerinnen und Musiker zu der Zeit in erster Linie untereinander zu weiten Familiennetzwerken.64 Dadurch, dass Coltellini nun aber durch ihre Heirat gesellschaftlich aufgestiegen war, waren verschiedene Details aus ihrer Vergangenheit nicht länger zeig- und sagbar, und sie beging bei Selbstdarstellungen innerhalb ihrer Skizzenbücher eine aktive und zum Teil recht drastische Erinnerungsverzerrung. In einem weiteren Skizzenbuch mit dem Titel

59 Zur Datierung der Skizzenbücher Celeste Coltellinis vgl.: Bebermeier, Celeste Coltellini, S. 20 ff. 60 Vgl. ebd., Kapitel 2, 3 und 4. 61 Vgl. ebd., S. 116 ff., 242 ff.; Daniel Brandenburg, Thomas Seedorf (Hrsg.), „Per ben vestir la virtuosa.“ Die Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Komponisten und Sängern, Schliengen 2011. 62 Bei den Skizzenbüchern handelt es sich um eine halböffentliche Quelle. Obwohl die Zeichnungen nicht öffentlich ausgestellt wurden, zeugen eine Vielzahl fremder Einträge davon, dass die Skizzenbücher als kommunikatives Medium, ähnlich einem Stammbuch, im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis Coltellinis kursierten und der Inhalt in diesen Kreisen bekannt war. Vgl. Bebermeier, Celeste Coltellini, S. 20 ff. 63 Adorf/Brandes, „Studien zur visuellen Kultur“, S. 447. 64 Vgl. Melanie Unseld, „Musikerfamilien. Kontinuitäten und Veränderungen im Mikrokosmos der Musikkultur um 1800“, in: Beethoven und andere Hofmusiker seiner Generation, hrsg. v. Birgit Lodes, Elisabeth Reisinger und John D. Wilson, Bonn 2018, S. 25–54.

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Livre d’Ischia & autres souvenirs65 aus der Zeit um 1820 ist beispielsweise eine Graphitstiftzeichnung eines herrschaftlichen Landhauses zu sehen, zu der Coltellini selbst handschriftlich eine Erklärung hinzufügte: „Notre maison champagne paternelle all’Arenella où j’ai passé d’heureux jours de jeunesse jusqu’à 32 ans que je me suis mariée pour continuer la plus heureuse vie.“66 Das Familienanwesen der Coltellinis war hier demnach noch zeigbar, ihre künstlerische Laufbahn als Sängerin, die sie nach Wien, Florenz, Venedig und viele andere italienische Städte führte, jedoch nicht länger sagbar. Ähnlich ging Coltellini bei der Korrektur des Selbstporträts mit dem Komponisten Giovanni Paisiello vor. Interessanterweise ließ sie dieses Mal, um ein den gesellschaftlichen Seh-Normen entsprechendes und dadurch zeigbares Bild anzufertigen, nichts aus, sondern fügte etwas hinzu. Die dritte Person hinter ihrem Rücken sorgt dafür, dass die angesehene, mittlerweile verheiratete Bankiersgattin Celeste Meuricoffre nicht länger allein, eng und in vertrauter Pose mit einem Mann abgebildet ist, bei dem es sich nicht um ihren Ehemann handelt. Durch das Hinzufügen des anonymen Dritten wird die ursprünglich vertrauliche Zweierdarstellung Coltellins und Paisiellos unsichtbar gemacht, wodurch das gesamte Bild wiederum den gesellschaftlichen Konventionen entsprach und zeigbar wurde. Welches Bild zeigen, bzw. heben wir in der Forschung hervor? Die ursprüngliche Zeichnung oder das von Coltellini im Nachhinein bewusst korrigierte Bild? Diese Frage sollte ein vom offenen Blick geleiteter Forschungskontext entscheiden. An dieser Stelle stand das Zeigen der Polarität von Zu-sehen-Geben und Unsichtbar-Machen im Fokus, die Celeste Colltelini bemerkenswerterweise durch ein Hinzufügen manifestierte. Bei Fragen des Zu-sehen-Gebens, bzw. Zeigens gilt es demnach ebenso die Praktiken und Sehgewohnheiten zur Zeit der Bildproduktion sowie ihre Rezeption mit einzubeziehen.67 Durch diese Perspektivierung gelangt schließlich auch die Zirkulierung und Vermittlung von Bildern zwischen den Medien, zwischen individuellen und kollektiven Anschauungen, zwischen Zeiten, Orten und Kulturen in den Blick. Vor diesem Hintergrund warnen Sigrid Schade und Silke Wenk allerdings auch hinsichtlich des zunehmenden Engagements verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen um Bilder ausdrücklich vor dem Mythos ihrer unmittelbaren Verständlichkeit:

65 „Buch von Ischia und andere Erinnerungen“. 66 „Unser väterliches Landhaus in Arenella, wo ich glückliche Jugendtage verbrachte habe, bis ich mich mit 32 Jahre verheiratet habe, um das glücklichste Leben fortzuführen.“ Celeste Coltellini, Skizzenbuch 8, Bild 48. (Übersetzung CB) Vgl. auch Bebermeier, Celeste Coltellini, S. 62 f. 67 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 53.

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Der Glaube an die unmittelbare Verständlichkeit von Bildern setzt […] voraus, dass Bilder in ihren je spezifischen Formen immer das Gleiche bedeuten, unabhängig davon, aus welcher historischen Periode sie stammen und in welchen Kontexten sich diese Formen mit anderen verbinden. Bilder, die als natürliche Zeichen angesehen werden, werden als selbsterklärend betrachtet, als wüssten die Betrachterinnen und Betrachter von Natur aus, was diese zu bedeuten haben.68

8.

Chez Arensberg von André Raffray (1984)

Die vermeintliche Selbsterklärbarkeit und Authentizität von Bildern ist bei der Analyse von Fotografien und Porträts besonders verführend, wie in den Beiträgen von Melanie Unseld und Christoph Müller-Oberhäuser in diesem Band noch ausführlich diskutiert wird. Peter Burke spricht in diesem Zusammenhang von den „Versuchungen des Realismus“.69 Denn selbst Fotografien zeigen lediglich einen (oftmals arrangierten) Ausschnitt von Realität und geben zudem einen bestimmten Blick vor. Dass ein Bild Geschichte nicht nur abbildet, sondern immer auch in einer historiographischen Tradition steht und damit Geschichte (fort-)schreibt, zeigt der Kontext der Entstehung sowie die Rezeption des Gruppenporträts Chez Arensberg (1984) des französischen Malers André Raffray (1925–2010).70 Abgebildet ist hier der Künstler:innen-Kreis von Louise und Walter Arensberg, der sich ca. 1915–1921 im New Yorker Appartement des Ehepaares zu regelmäßigen Salongeselligkeiten traf. Das Gemälde entstand im Auftrag des New Yorker Kunsthändlers und Dada-Spezialisten Francis Naumann und gehört dem Bilderzyklus Marcel Duchamp: La vie illustrée an, ein Zyklus, der sich verschiedenen Episoden des Lebens des Malers Duchamps widmet. Das Porträt des Künstler:innen-Salons entstand in einer Zusammenarbeit von Naumann und Raffray, in der Naumann dem Maler Informationen und Dokumente, u. a. Skizzen und Fotografien, zu den Personen des Künstler:innen-Kreises sowie zur Wohnung der Arensbergs zuschickte.71 André Raffray verweist in vielen seiner Werke ausdrücklich und offensiv auf die Werke anderer Künstler:innen. Diese Referenzen stellen einen derart dominanten Teil seiner Arbeit dar, dass der Kunsthistoriker Wenzel Jacobs als Raffrays

68 Ebd., S. 13. Hervorhebung im Original. 69 Burke, Augenzeugenschaft, S. 23. 70 Eine ausführliche Analyse des Bildes findet sich in: Carola Bebermeier, „The Arensberg Salon in Visual Representation. Chez Arensberg by André Raffray and the Historiography of Dada“, in: Music in Art XLV/1–2 (2020), S. 193–200. 71 Francis Naumann in einem E-Mail-Austausch mit Carola Bebermeier, 14.07.2016.

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Abb. 6 André Raffray, Chez Arensberg, Gouache und Tempera auf Papier, 1984, 38 x 71 cm. Besitz: Collection Francis M. Naumann and Marie T. Keller, Yorktown Heights, New York.

wiederkehrendes Thema „die Kunst anderer Künstler“72 herausstellte und eine Ausstellung mit Werken André Raffrays in der Bundeskunsthalle Bonn 1999 den Titel Lob der anderen trug. Für seine künstlerische Arbeit spürte Raffray beispielsweise Landschaften auf, die als Sujets früherer Kunstwerke anderer Künstler:innen dienten und versuchte den genauen Standpunkt des/der Maler:in einzunehmen und abzubilden, was er selbst in diesem historisch späteren Moment sah. Auf verschiedenen Ebenen spielt auch bei Chez Arensberg (Abb. 6) das Zitat, bzw. die Nachahmung eine grundlegende Rolle. Betrachtet man das Bild, so fallen zunächst einmal die mit Kunstwerken überfüllten hohen Wände auf. Den Raum und die Gemälde fertigte Raffray sowohl auf Grundlage von Fotografien des amerikanischen Fotografen Charles Sheeler (der ebenfalls ein Mitglied des Arensbergs-Kreises war) als auch nach Skizzen Francis Naumanns an.73 Ins Zentrum des Bildes platzierte Raffray Walter Arensberg, eingerahmt von seiner Frau Louise und dem Künstler Marcel Duchamps. Neben dieser Troika im Zentrum des Bildes sind 14 weitere Künstler:innen auf dem Porträt zu sehen. Von links nach rechts: die Malerin und Töpferin Beatrice Wood, der Maler Joseph Stella (mit der Gitarre), der Komponist Edgard Varèse, der Boxer und Dichter Arthur Craven, die Schriftstellerin Mina Loy, der Neuropsychiater und Autor Elmer Ernst Southard, der Künstler und Philosoph Albert Gleizes, die Maler:innen Juliette Roche, Francis Picabia und John Covert,

72 Wenzel Jacob, „Vorwort“, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hrsg.), Lob der anderen. Eloge des autres, Köln 1999, S. 7. 73 Francis Naumann, New York Dada. The Arensberg Circle of Artists, New York 2019, S. 19 f.

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Abb. 7 Francis Naumann, Chez Arensberg. Cast of Characters, Bleistift auf Transparentpapier, um 1980.

die Musikerin und Schriftstellerin Gabrielle Buffet Picabia, der Künstler Man Ray, der Autor Henri-Pierre Roché und schließlich die Dichterin und PerformanceKünstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven. Tatsächlich war der Arensberger Künstler:innen-Kreis größer als die hier dargestellten Personen, wobei Raffray auf wichtige Akteur:innen verzichtet hat, etwa die Graphikerin Clara Tice, die Malerin Georgia O’Keeffe, den Komponisten und Pianisten Leo Ornstein, den Fotografen Charles Sheeler oder die Übersetzerin Louise Norton. Wie aus einer Skizze Francis Naumanns ersichtlich wird (Abb. 7), hatte dieser ursprünglich an eine ambitioniertere Version des Bildes mit deutlich mehr Personen gedacht, die Raffray allerdings ablehnte, da ihm der Raum zu überfüllt erschien.74 Es ist nicht ganz klar, nach welchen Kriterien Raffray bei der Reduzierung der Personen auf dem Bild vorging. Möglicherweise fokussierte er sich, als großer Bewunderer Marcel Duchamps, auf die Künstler:innen, die später als Mitglieder des New-York-Dada bekannt wurden. Darüber hinaus ist auffällig, dass, mit elf zu sechs, die Anzahl der Künstler die der Künstlerinnen deutlich übersteigt. Diese Darstellung wiederum folgt der traditionellen Historiographie der New Yorker Dada-Bewegung, wie unter anderen der Kunsthistoriker Paul Franklin hervorhebt:

74 Francis Naumann in einem E-Mail-Austausch mit Carola Bebermeier, 14.07.2016.

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Traditionally, the history of Dada tells the tale of male artists and writers grappling with the moral bankruptcy of modern civilization in the aftermath of World War I. In this gendered narrative, men’s experiences […] have taken precedence over those of women. If and when women gained entry into this exclusive Boy’s Club they did so as artistic muses rather than as active participants. The hypermasculine and confrontational rhetoric espoused by most male Dadaists successfully muted the voices of these female muses and marginalized many of their Dada sisters who dared to call themselves artists.75

Daraus folgte, dass die Positionen der Künstlerinnen innerhalb der Avant-GardeBewegung in eine doppelte Marginalität gerieten. Nichtsdestotrotz wirkten Frauen innerhalb der Dada-Bewegung, trotz ihres Rufes als „Bad Boy’s Club“, von Beginn an aktiv als Künstlerinnen, Performerinnen, Fördererinnen und Dokumentarinnen mit.76 Die Reduzierung der Anzahl der Personen auf die Zahl 17 kann ferner eine symbolische Bedeutung haben. Denn Naumann zufolge bezieht sich Raffray mit seiner Darstellung auf einen Abend bei den Arensbergs im Jahr 1917.77 In der Forschung zum New-York-Dada wird dieses Jahr häufig als Entstehungszeit der Bewegung genannt,78 wodurch es plausibel erscheint, dass Raffray die Personenzahl 17 bewusst mit einem Verweis auf dieses Entstehungsjahr wählte. Der Künstler:innen-Kreis sowie der Salon der Arensbergs war in der Tat ein Nährboden des New-York-Dada, doch die künstlerische Produktion, die innerhalb des Zirkels entstand, beschränkte sich keinesfalls auf Dada-Kunst. Zu erkennen ist dies etwa daran, dass sich einige der mit den Arensbergs verbundenen Künstler:innen, wie etwa der Komponist Edgard Varèse, dezidiert vom Dada distanzierten.79 Teile der Historiographie des New-York-Dada, ebenso wie die Darstellung auf dem Gemälde André Raffrays, identifizieren Varèse dennoch immer wieder als einen

75 Paul B. Franklin, „Beatrice Wood, Her Dada … and Her Mama“, in: Women in Dada, hrsg. v. Naomi Sawelson-Gorse, Cambridge 1998, S. 105. 76 Vgl. Linda Lappin, „Dada Queen in the Bad Boy’s Club: Baroness Elsa Von Freytag-Loringhoven“, in: Southwest Review, Vol. 89, No. 2/3 (2004), S. 308. 77 Francis Naumann in einem E-Mail-Austausch mit Carola Bebermeier, 15.07.2016. 78 Etwa Olivia Mattis, Edgard Varèse and the Visual Arts, Stanford 1992, S. 123. 79 „I have been called a Futurist, a Dadaist, a Cubist composer – erroneously I believe. I have always avoided groups and isms … As for the Dada movement, I had several Dadaist friends, Tzara and Marcel Duchamp among them. However, in music I was not interested in tearing down but in finding for myself new means by which I could compose with sounds outside the tempered system that existing instruments could not play. Unlike the Dadaists, I was not an iconoclast.“, Varèse an Thomas H. Greer, in: Thomas H. Greer, Music and its relation to futurism, cubism, dadaism, and surrealism, 1905 to 1950, PhD diss., North Texas State University 1969, S. 409 f.

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Repräsentanten der Kunstbewegung.80 Möglicherweise um belegen zu können, dass Dada nicht nur die bildenden Künste und die Literatur, sondern eben auch die Musik mit einschloss. Die Diskussion um die sichtbaren und nicht-sichtbaren Personen auf dem Gruppenporträt Chez Arensberg wiederum verdeutlicht, wie sich Kunstwerke aktiv in eine bestimmte historiographische Narration einschreiben können und dadurch Historiographie gestalten. Indem Raffray nur Künstler:innen abbildet, die später durch die New Yorker Dada-Bewegung bekannt wurden, perpetuiert er das traditionelle Dada-Narrativ. Diese Form der Historiographie drängte Künstler:innen, die nicht exakt in die Dada-Szene passten, wie etwa Leo Ornstein oder Clara Tice, (metaphorisch) aus dem Bild oder führte, wie bei Varèse, dazu, dass er als Mitglied der Bewegung gezählt wurde, während er eigentlich in erster Linie ein Mitglied eines Freundeskreises war. In der Folge wurde die große künstlerische Vielfalt des Arensberg-Zirkels verkürzt und zu einer Erzählweise, die sich auf die Dada-Bewegung zuspitzt, vereinheitlicht. Als visuelle Quelle des New-York-Dadas sowie des Arensbergs-Kreises und seiner Salongeselligkeiten ist Chez Arensberg, trotz der dokumentarischen Konzeption bzw. Anscheins, daher vor allem dann zu nutzen, wenn Fragen der Rezeption oder Historiographie im Zentrum stehen. Die Tücken bei der Analyse von Porträts, seien sie fotografisch oder gemalt, Gruppenoder Einzelbilder, kennzeichnet Peter Burke auf folgende Weise: „Portraits […] dokumentieren nicht so sehr soziale Wirklichkeit als vielmehr soziale Illusionen, nicht normales Leben, sondern besondere Vorstellungen.“81

9.

Musik und visuelle Kulturen

Im vorliegenden Band versuchen wir die innerhalb der Musikwissenschaft vielfältigen Strömungen der Forschungen am Visuellen aufzuzeigen, zusammenzuführen und methodisch einzuordnen, sei es die Ikonographie, Notationsforschung, Bildwissenschaften, Visual History oder Studien zur visuellen Kultur. Die Methodenfrage ist daher in allen Beiträgen zentral und zielt darauf, Anknüpfungspunkte für die eigene Forschung zu finden. Wichtig war uns ebenfalls, alle drei zu Beginn beschriebenen Teilbereiche visueller Perspektiven auf auditive Kulturen – Bilder als Quellen | (graphische) Notationen | Visualisierung von Klängen – einzubinden, um ein möglichst diverses Materialspektrum zu präsentieren. Wissend, dass Seh-

80 Etwa Louis Aragon [o. T.], in: Les Lettre Françaises, 11.11.1965, S. 11; Mattis, Edgard Varèse, S. 147 f.; Francis Naumann, New York Dada, 1915–1923, New York 1994, S. 105–108. 81 Burke, Augenzeugenschaft, S. 31.

Klingende Bildkörper. Musik und visuelle Kulturen

und Ausdrucksgewohnheiten auch historisch geprägt sind („Period Eye“82 ), war es uns ferner ein Anliegen, einen Überblick über verschiedene Epochen zu schaffen. Melanie Unseld und Antonio Baldassarre setzen die in dieser Einleitung aufgeworfenen Vorüberlegungen bzw. grundlegende Reflexionen zur Beziehung von Musik und visuellen Kulturen fort und setzen dabei individuelle Schwerpunkte. Melanie Unseld diskutiert die Frage intermedialer Grenzräume zwischen Musik, Bild und Klang, während sich Antonio Baldassare der Vielschichtigkeit (fach-)historischer Positionen widmet. In vier Beiträgen stehen historische Bilder als Quellen im Zentrum. Jörn Steigerwald würdigt die komplexe Bildrhetorik des Grand Divertissement royal am Hof von Ludwig XIV. aus dem Jahre 1688, die die musikalischen Vergnügungen als Teil dieser multidisziplinären Performances einfängt. Henrike Rosts Interpretation von musikbezogenen Darstellungen im Stammbuch von Ignaz Moscheles lebt von der produktiven begrifflichen Ambivalenz von Bildkörpern und Körperbildern. Während Rosts Bildobjekte variabel und originell ausfallen, liegt der Reiz von Dietrich Helms Beitrags zu einer Korpusanalyse historischer Bildpostkarten darin, dass diese stets das „gleiche Bild“ von „Frauen am Klavier“ zeigen. Hingegen widmet sich Christoph Müller-Oberhäuser (Selbst-)Darstellungen von Männern, und zwar Gruppenfotografien von Gesangsvereinen um 1900, die „(fast) ohne Damen“ auskommen. Den liminalen Räumen, in denen Schrift, Notation und Klang aufeinandertreffen, widmen sich zwei Beiträge: Elena Minetti wählt Werke der Komponistin Daphne Oram, Gesa Finke Kompositionen von Anestis Logothetis und Roman Haubenstock-Ramati der 1950er bis 1970er Jahre, um kategorische Fragen zur Interpretation graphischer Notation zu stellen und Forschungsperspektiven zu entwickeln. So unterschiedlich Sabine Gebhardt Finks Untersuchung von Bild-KlangRelationen in zeitgenössischen Performances und ihre diesbezügliche Darstellung der „Koffermethode in der Kulturanalyse“ von Maria Fuchs Beitrag zum ersten Allgemeinen Handbuch der Filmmusik von 1927 in Beziehung zur musikalischen Hermeneutik des Musikwissenschaftlers Hermann Kretzschmar und somit einer frühen Ästhetik der Filmmusik ist, eint sie der Blick auf Bilder in Bewegung. Das Spektrum an Zugängen und Themen dieses Bandes verdeutlicht, dass die Musikwissenschaft sehr eigene und vielfältige visuelle Quellenarten vorzuweisen hat und dass es sich lohnt, die Reflexion über die Zusammenhänge zwischen der scheinbar am wenigsten materialisierten Kunstform Musik und der scheinbar eher materiellen, visuellen Kultur zu vertiefen. Als Auftakt für die folgende Lektüre

82 Michael Baxandall, Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1972, S. 29 f.

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Carola Bebermeier, Sabine Meine

schließen wir mit einer pointierten Botschaft aus Nina Noeskes und Matthias Tischers Artikel „Musikwissenschaft“ im erwähnten Handbuch Bild, die unsere Arbeit bestärken mag: „Musik ist der Prüfstein für eine Bildwissenschaft, die mehr sein möchte als eine Kunstgeschichte mit Internetzugang.“83

83 Noeske/Tischer, „Musikwissenschaften“, S. 465.

Melanie Unseld

Bild – Musik – Klang! Intermediale Grenzräume Musik ist ein visuelles Medium. Zugegebenermaßen provokant könnte man auf diese Weise Überlegungen zu intermedialen Grenzräumen zwischen Bild und Musik beginnen. Denn Musik kann – neben ihren möglichen Existenzformen als Klang, als Vorstellung, als körperliches Erleben etc. – auch sichtbar sein: Wir sehen Noten, Instrumente und Musizierende, können Frequenzen oder musikanalytische Befunde visualisieren, kennen Abbildungen von Menschen und Objekten, von denen Musik ausgeht, die mit Musik in Verbindung stehen usw. Es wäre also durchaus möglich, Musik bzw. musikalische Phänomene als visuelle Phänomene zu diskutieren. Heraus kämen Überlegungen eigenen Rechts, die nicht zuletzt Grundfragen an den Musikbegriff hervorbrächten – was ist Musik? – und die, eingedenk der „Doppelidentität“1 von Musik, auf Imagination und Reflexion (also Gedachtes, das in Schrift oder Graphiken zu sehen gegeben werden kann), auf Aufführung (also Gehört-Gesehenes), auf Notate (also Sicht- und Lesbares), auf Musik hervorbringendes oder tragendes Material (also Gegenständliches) und nicht zuletzt auf sichtbare und hörbare Praktiken einzugehen hätten. Die Dimension dieser Überlegungen sei damit angedeutet, ebenso die Notwendigkeit, diese Dimension im hier gesteckten Rahmen zu verkleinern. Der vorliegende Beitrag stellt sich einer wesentlich kleiner dimensionierten Frage, wohl wissend, dass damit eine gewisse definitorische Leerstelle bleibt. Er stellt sich der Frage, welche bi- oder intermedialen Räume dort zu finden sind, wo Musikwissenschaften mit visuellen Quellen umgehen, bzw. welche methodischen Herausforderungen sich hier auftun, wenn Musikwissenschaften visuelle Quellen in den Blick nehmen.2 Mithilfe ausgewählter Beispiele soll diskutiert werden, welche methodischen Umgangsweisen sinnvoll

1 Christian Grüny, Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014, S. 340; dazu vgl. auch Melanie Unseld, „Im Denken über Musik eingewoben: Materialität“, in: Von der Autonomie des Klangs zur Heteronomie der Musik. Musikwissenschaftliche Antworten auf Musikphilosophie, hrsg. v. Nikolaus Urbanek und Melanie Wald-Fuhrmann, Stuttgart/Weimar 2018, S. 23–32. 2 Davon unbenommen ist, dass sich Musikwissenschaften selbst auch visuell ausformen können – etwa in Schaubildern und Graphiken, Tabellen und Darstellungen statistischer Erhebungen u. v. m. Diese Produktion visueller Kommunikation von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist hier nicht Gegenstand, auch wenn grundlegende Fragen der Evidenzproduktion qua Visualisierung an den folgenden Überlegungen partizipieren könnten.

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Melanie Unseld

sein können, um visuelle Quellen für eine Wissenschaft fruchtbar zu machen, die sich – um es vorläufig allgemein zu formulieren – primär mit Hörbarem beschäftigt.

1.

Ein kurzer Rückblick in die Fachgeschichte

Warum aber ist es überhaupt notwendig, diese Umgangsweisen (neuerlich) zu diskutieren? Ist es nicht selbstverständlich für eine Disziplin, die sich der Musik zuwendet, einer Kunstform, die – wie oben skizziert – immer wieder auch sichtbar in Erscheinung tritt, sich ein methodisches Verhältnis zu ihren visuellen Quellen zu erarbeiten? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Denn fachgeschichtlich lässt sich beobachten, dass sich die Musikwissenschaft (zumindest ihre historische Teildisziplin) als Textwissenschaft entwarf. Musik wurde in ihrer Textförmigkeit ins Zentrum gestellt und sowohl Musikpraktiken als auch das konkrete Material deutlich in den Hintergrund verschoben. Gerade auch Letzteres, die Abkehr vom Materialen, erlaubte der Musikwissenschaft die Integration in den akademischen Kreis der anderen Geistes- und Kunstwissenschaften, die mit dem Anspruch einer Material-Überwindung eine bereits seit der Antike virulente Abwertung von Materialem auch wissenschaftstheoretisch umsetzten: Die Hierarchie der Künste […] orientierte sich seit der Antike an der Überwindung des je nach Kontext als roh, häßlich, natürlich oder auch weiblich – jedenfalls als niedrig – bewerteten Materials. An seiner „Vernichtung“ (Schiller), „Aufhebung“ (Hegel) oder „Immaterialisierung“ (Lyotard) durch die Form mißt sich bis heute das, was allgemein als Kunst gilt. Die kunstgeschichtliche Forschung hat die Marginalisierung des Materials fortgeschrieben3 ,

so die Kunstwissenschaftlerin Monika Wagner, die nicht zuletzt auch den Geschlechterdiskurs hierbei abgebildet sieht: die dem Material eingeschriebene Vorstellung von Weiblichkeit […], die von der Form als Ausdruck des männlich gedachten Schöpfers unterworfen bzw. gelöscht wird, [zieht] sich als Spur durch die abendländische Philosophie […]. Die von Aristoteles überlieferte Denkfigur, das Material sehne sich nach der Form „so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem“ begehrt […], läßt sich jahrhundertelang als Subtext

3 Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 12. Siehe auch: Monika Wagner, „Form und Material im Geschlechterkampf – Aktionismus auf dem Flickenteppich“, in: Das Geschlecht der Künste, hrsg. v. Corinna Caduff und Sigrid Weigel, Köln 1996, S. 175–196.

Bild – Musik – Klang!

abendländischer Kunsttheorie verfolgen. Aus dieser Konstruktion einer Geschlechterdualität erklärt sich, warum Material stets als Niedriges, die Form dagegen als das Überlegene angesehen wurde.4

Nicht zuletzt als Legitimationsinstrument war daher die Konstituierung als Textwissenschaft für Musikwissenschaft von Bedeutung. Das Klangliche und das Visuelle (jenseits von Text) rückte in den Hintergrund, so dass auch das ‚Bild‘ als Quelle zunächst nicht im Zentrum musikwissenschaftlichen Interesses stand. „Abbildungen [besaßen] keineswegs eine selbstverständliche Legitimation innerhalb des musikhistoriographischen Diskurses“5 , betont daher auch Ute Lemm, die die Publikationsprojekte rund um das Konzept Musikgeschichte in Bildern6 vor dem Hintergrund musikwissenschaftlicher Diskurse in Westdeutschland nach 1945 analysiert hat. Sie seien den „‚eigentlichen‘ musikhistorischen Quellen (handschriftliche und gedruckte Notenmaterialien, schriftliche Zeugnisse)“7 quasi als Konkurrenz gegenübergestanden und „um den Einsatz von Bildmaterial zu rechtfertigen“, sei „zumeist ein Zusammenhang zwischen der Quellenlage für bestimmte Phänomenbereiche und wissenschaftlichen Aussagemöglichkeiten hergestellt“8 worden. Bilder dienten mithin insbesondere dort als Quelle, wo andere (Schrift)quellen fehlten. Lemm verweist auch darauf, dass sich über die In- bzw. Exklusion von Bildern als Quellen fachgeschichtliche Diskurse konturieren ließen, etwa die sozialgeschichtliche Positionierung der Musikwissenschaft in der DDR bzw. der diesen funktionalen Zugriff auf Musik kritisierende Ansatz westdeutscher Provenienz. Dass damit auch ein Vermittlungsaspekt in Verbindung stand – „Musikgeschichte in Bildern“ als einem breiteren Publikum zugänglich versus eine rein textbasierte Musikwissenschaft als Experten-Diskurs –, sei nur am Rande vermerkt und an Monika Wagners Beobachtungen zum Material rückgebunden. Lemm verweist in ihrer Studie auf drei Publikationsprojekte, wobei insbesondere die von Heinrich Besseler und Max Schneider 1961 in der DDR begründete Musikgeschichte in Bildern zwar durchaus prominent im Fachdiskurs stand, aber eher den Ausnahmestatus des Quellenfokus auf Bilder bekräftigte: „Fotografische und bildnerische Quellen wurden in der Musikwissenschaft nicht selbstverständlich

4 Wagner, „Material“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, S. 866–882, hier: S. 868. 5 Ute Lemm, Musikwissenschaft in Westdeutschland nach 1945: Analysen und Interpretationen diskursiver Konstellationen, Diss., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, 2005, S. 88. 6 Georg Kinsky (Hrsg.), Geschichte der Musik in Bildern, Leipzig 1929; Karl Michael Komma, Musikgeschichte in Bildern, Stuttgart 1961; Heinrich Besseler/Max Schneider [Begründer]/Werner Bachmann (Hrsg.), Musikgeschichte in Bildern, Leipzig 1961–1989. 7 Lemm, Musikwissenschaft in Westdeutschland, S. 90. 8 Ebd., S. 91.

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Melanie Unseld

in der historischen Forschung genutzt.“9 Ihre wissenschaftliche Relevanz musste immer wieder aufs Neue ausverhandelt und argumentiert werden. Auch Tilman Seebass bemerkt, dass nur dort mit dem Quellentypus ‚Bild‘ operiert wurde, wo es als Abbild von Musizierenden, Instrumenten oder anderen Realien verstanden werden konnte, aus denen „Informationen über den Bau von Musikinstrumenten und die Aufführungspraxis [.] extrahier[t]“10 werden sollten. Das Abbildhafte dieser Quellen, vorwiegend sozialgeschichtlich gedeutet, gehörte in den Bereich der Musikikonographie, ein Teil- oder Sonderbereich der historischen Musikwissenschaft oder auch der Ethnomusikologie, der sich bis zum Zweiten Weltkrieg (und relativ unberührt von zeitgenössischen bildwissenschaftlichen Entwicklungen) vorwiegend als „Realienforschung [verstand], die sich für Bilddenkmäler interessierte“.11 Erst ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich, so Seebass weiter, „die Musikforschung zunehmend auch mit anderen Aspekten der Verbildlichung von Musik und der Musik als Bildthema beschäftigt, so daß heute der Begriff Musikikonographie von den meisten Wissenschaftlern umfassend verwendet wird und z. B. auch die Erforschung von Bühnenbildern oder synästhetischen Beziehungen zwischen Musik und Bildender Kunst einschließen kann“.12 Damit wurde dennoch nicht notwendigerweise die Brücke zu einem interdisziplinären Dialog geschlagen, der sich, besonders seit den 1980er/90er Jahren, insbesondere aus einer sich etablierenden Medienwissenschaft heraus entwickelte. Auch die kulturwissenschaftlichen Impulse der Kunstwissenschaften wurden nur zögerlich rezipiert, und eher schüchtern blieb auch die Partizipation an der Intermedialitätsforschung. Nüchtern stellen Corina Caduff, Sabine Gebhardt Fink, Florian Keller und Steffen Schmidt noch 2006 fest, dass die Musik „in der vorliegenden Intermedialitätsforschung nur eine marginale Rolle spielt.“13 Dies verwundert umso mehr, als sich – mit Blick auf das eingangs Umrissene – Musik als intermedialer Gegenstand sui generis oder zumin-

9 Ebd., S. 80. 10 Tilman Seebass, Art. „Musikikonographie, Begriff, Fachgeschichte und Methodenfragen, Begriff “, in: MGG Online, hrsg. v. Laurenz Lütteken, Kassel/Stuttgart/New York 2016 ff., zuerst veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg-2online-1com-10047904s0004.han.onb.ac.at/ mgg/stable/48805, letzter Zugriff: 28.10.2021. 11 Ebd. 12 Ebd. vgl. dazu exemplarisch etwa die 1995 erschienene Festschrift für Elmar Budde: Elisabeth Schmierer/Susanne Fontaine/Werner Grünzweig/Matthias Brzoska (Hrsg.), Töne – Farben – Formen. Über Musik und die bildenden Künste, Laaber 1995. 13 Corina Caduff/Sabine Gebhardt Fink/Florian Keller/Steffen Schmidt, „Intermedialität“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/2 (2006), S. 211–237. Es ließe sich zu Recht nach Gründen für diese Abstinenz der Musik in den verschiedenen Intertextualitätsdebatten fragen, doch dies sei hier zurückgestellt.

Bild – Musik – Klang!

dest als monomedialer Gegenstand mit intermedialen Bezügen verstehen lässt.14 Diese Scheu vor der theoretisch-methodischen Auseinandersetzung mit Visuellem in der Musikwissenschaft ist cum grano salis gesprochen bis heute spürbar, auch wenn sich die Musikikonographie weiterentwickelt, das Interesse zwischen Kunstund Musikwissenschaft gerade auch anlässlich künsteübergreifender Phänomene gewachsen ist15 und eine kulturwissenschaftliche Interdisziplinarität Raum für Diskussionen geboten hat.16

2.

Bild als picture und image

Welche theoretisch-methodischen Angebote liegen nun seitens kulturwissenschaftlicher Nachbardisziplinen bereit, um dieser Scheu etwas entgegenzusetzen? Zunächst ist zu beobachten, dass Reflexionen über den Begriff selbst fruchtbar gemacht werden: Im engeren Sinne der bildenden Kunst steht der Begriff Bild für eine (künstlerisch) bearbeitete Fläche, wobei die Art der Flächenbearbeitung (Maltechniken u. a.) und das verwendete Material nachrangig sind und allenfalls Differenzierungen des Bildbegriffs (Gemälde, Fresco, Zeichnung, Fotografie etc.) nach sich ziehen.

14 Innerhalb der Intermedialitätsforschung wird Musik als eine von verschiedenen Künsten apostrophiert, die mit anderen Künsten in Beziehung treten kann, um bi- oder intermediale Schnittstellen zu erzeugen: Filmmusik, Lied, Musiktheater, Musikvideo etc. Kennzeichen des Intermedialen sei, so Corinna Caduff, Sabine Gebhardt Fink, Florian Keller und Steffen Schmidt, ein Zeichensystem (Medium), das Informationen überliefert und das aus der Perspektive verschiedener Künste verwendet wird. Dies können zwei oder mehrere Künste sein (bimedial/intermedial). Caduff et al. betonen bei ihren Beobachtungen zur Bi- bzw. Intermedialität, dass „aus der gezielten Bezugnahme zwischen zwei Medien […] zwangsläufig ein Effekt in ihrem hierarchischen Verhältnis zueinander [resultiert], der sich als ‚Dominanz‘ niederschlägt. Das eine Medium wird dabei gegenüber dem anderen nicht nur als das vorherrschende, sondern auch als das beherrschende definiert.“ (Ebd., S. 212) Zugleich diskutieren die Autor:innen das Phänomen der ‚monomedialen Darstellung‘, will heißen der mediale Verbleib innerhalb einer Kunst, in der allerdings intermediale Bezüge hergestellt werden: „Im Gegensatz zur Bimedialität manifestieren sich intermediale Bezüge hier also nicht in zwei Medien, sondern lediglich in einem einzigen Medium.“ (Ebd.) Intermedialität sei freilich, auch darauf verweisen die Autor:innen, nicht nur im Gegenstand gegeben, sondern auch eine Aufgabe der Wahrnehmung: Inter-, bimediale oder auch monomediale Darstellungen mit intermedialen Bezügen fordern zu Veränderungen im Wahrnehmungsmodus heraus, wozu nicht zuletzt auch Veränderungen im analytischen Wahrnehmungsmodus gehören, mithin der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit inter-, bi- oder monomedialen Phänomenen. 15 Vgl. Melanie Unseld, „Aktuelle Publikationen zu ‚Beethoven-Bildern‘“ (Rezension), in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], http://www.sehepunkte.de/2021/03/34416.html, letzter Zugriff: 28.10.2021. 16 U. a. Tim Shephard/Anne Leonard (Hrsg.), The Routledge Companion to Music and Visual Culture, New York/London 2019. Gabriele Groll/Stephanie Probst/Julia H. Schröder (Hrgs.), Visual Music and Beyond. Musikalisierung und Visualisierung in den Künsten, in: Kunsttexte Nr. 4 (2022).

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Als dem Bild eigen wird seine Flächigkeit (Zweidimensionalität) verstanden, wobei die Tatsache, dass auf ihm etwas zu sehen gegeben wird, von anderen möglichen Formen des Bearbeitens einer Fläche, etwa dem Inskribieren, mehr oder weniger trennscharf unterschieden wird. Im weiteren Feld der Künste, etwa in den performativen Künsten, ist auch dort von Bild die Rede, wo ein Teil eines Bühnenstücks in einem (Szenen-)Bild zusammengefasst wird. Dieser zeitliche Bild-Begriff leitet sich von dem jeweiligen Abschnitt des Bühnenstücks ab, der innerhalb einer gleichbleibenden Dekoration (Bühnenbild) aufgeführt werden soll/kann. Eine dritte Ebene des Bild-Begriffs umfasst die Vorstellung von etwas, eine Imagination. Damit greift der Bild-Begriff nach Immateriellem, gleich, ob auf materialer Grundlage (etwa im Sinne einer inneren Vorstellung von etwas, das als Bild existiert) oder nicht. Dieser Bild-Begriff inkludiert (nicht notwendigerweise sichtbare) Vorstellungen, Werte, Narrative, Klischees, kulturelle Codes etc. Daher wird in der Bildwissenschaft sinnvollerweise Bild als Abbild (picture) und andererseits Imagination (image) verstanden; Konkretion und Abstraktion, mimesis und imitatio – im Bild können sich sowohl die Idee eines Widerscheins als auch die Idee eines ohne Bezug auf Reales geschaffenen Bildes konkretisieren. Während Ersteres auch auf Fragen der visuellen Authentizität abzielt, kann Letzteres immaterielle Vorstellungen inkludieren, die sich im Bild materialisieren (können/sollen). Dass sich die beiden Begriffsbedeutungen nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen, und dass es gesellschaftlichen wie ästhetischen Diskursen geschuldet ist, welchem Prinzip Vorrang gegeben wird, braucht kaum eigens betont zu werden. Dass sich der Bild-Begriff so verstanden aus zwei Dimensionen zusammensetzt, ist im musikikonographischen Kontext nicht immer trennscharf wahrgenommen bzw. unterschieden worden. Dabei spielt diese Doppeldimension des Begriffs gerade auch im Zusammenhang mit der Darstellung von Musikerinnen und Musikern eine wichtige Rolle. Blickt man allein auf das Feld des (historischen wie aktuellen) Star-/ Virtuosenwesens, wird deutlich, dass das Image des Stars bzw. des Virtuosen/der Virtuosin sich in visuellen Quellen abbilden mag, dass es aber über rein Visuelles weit hinausgeht, indem auch im Schreiben über den Virtuosen oder die Virtuosin oder in seiner/ihrer Karrierestrategie (Repertoire, Art und Häufigkeit der Auftritte, Selbst- und Fremdinszenierungen, Mediengebrauch etc.) die Konstruktion eines Images zum Ausdruck kommt.17

17 U. a. Silke Borgstedt, Der Musik-Star. Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams, Bielefeld 2007; Beatrix Borchard, Stimme und Geige. Amalie und Joseph Joachim. Biographie und Interpretationsgeschichte, 2. Bd., unveränderte Auflage, Wien 2007; Janina Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, Köln/Weimar/Wien 2009; Sandra Danielczyk, Diseusen in der Weimarer Republik. Imagekonstruktionen im Kabarett am Beispiel von Margo Lion und Blandine Ebinger, Bielefeld 2017.

Bild – Musik – Klang!

Im Zusammenhang mit der begrifflichen Ausdifferenzierung des Bild-Begriffs ist auch daran zu erinnern, dass sich die moderne Kunstwissenschaft länger schon mit den Grenzen des Abbildhaften auseinandergesetzt hat.18 Hierbei geht es um die Kritik an einer unmittelbaren Auslesbarkeit/Verstehbarkeit bzw. Evidenz von Bildern.19 Dies trifft die Musikikonographie insofern im Kern, als sie Bilder als sozialgeschichtliche, aber auch aufführungshistorische oder spielpraktische Quellen heranzieht. Doch Bilder stellen nicht bloß dar, sondern sind, worauf kulturwissenschaftlich orientierte Bildwissenschaften von Aby Warburg über Gottfried Boehm bis hin zu Sigrid Schade, Silke Wenk oder Sigrid Weigel immer wieder betonen, vor allem eingebunden in Bildpolitiken. Sie entstehen in jeweiligen Diskursräumen, die das Sichtbare mit dem Sagbaren ins Verhältnis setzen. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel betont, dass es bei der Bildgebung „um mehr […] als einen bloßen Übergang aus der Sphäre des Nichtsichtbaren in die des Visuellen“20 gehe, wobei sie darauf verweist, dass dies nicht nur für visuelle Künste zu beobachten sei, sondern auch für Wissenschaften, die zu Visualisierungsstrategien greifen, um Evidenzen zu kommunizieren. Die Kunstwissenschaftlerinnen Sigrid Schade und Silke Wenk gehen von einer ähnlichen Betrachtung von visuellen Artefakten aus. In ihren 2011 erschienenen Studien zur visuellen Kultur 21 formulieren sie ihre Kritik an der Annahme einer unmittelbaren Evidenz. Bilder können, so Schade und Wenk, nicht danach befragt werden, was sie aussagen, sondern nur danach, was in ihnen zu sehen gegeben wird – und was nicht. Zugleich betonen die Autorinnen, dass dieses Potential nicht nur in der Bildherstellung liegt, sondern sich auch auf die Überlieferung bzw. Rezeption erstreckt. Auch diese Phasen des Bild-Seins geben Auskunft darüber, welche Evidenzen qua Bild möglich werden. Die Autorinnen fächern daher eine weite kunstwissenschaftliche Agenda auf, wenn Bilder als Quelle betrachtet werden: (1) Bilder nicht isoliert zu betrachten, sondern als Bildfolge bzw. Bildgruppe, (2) die Medialität des Visuellen, die spezifischen ästhetischen wie materialen Eigenschaften ihrer Medien, ernst zu nehmen, (3) neben der Überlieferung (Sammlung, Archivierung, Ausstellung, Reproduktion, Rezeption etc.) auch

18 Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild?, München 1994; ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens, Berlin 2007; den französischen Diskurs im Überblick beschreibend: Kathrin Busch/Iris Därmann (Hrsg.), Bildtheorien aus Frankreich. Ein Handbuch, München 2011. 19 Vgl. dazu auch die epistemologischen Fragen, die daran anschließen und „das Bild als ‚Logos‘, als sinnstiftenden Akt […] verstehen“. Gottfried Boehm, „Iconic Turn. Ein Brief “, in: Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, hrsg. v. Hans Belting, München 2007, S. 25–36, hier: S. 29. Einen wissenschaftstheoretischen Überblick gibt dazu Bernd Stiegler, „‚Iconic Turn‘ und gesellschaftliche Reflexion“, in: Trivium [Online], 1/2008 (online erschienen am 4. Februar 2015); DOI: https://doi. org/10.4000/trivium.391, letzter Zugriff: 24.09.2022. 20 Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, Berlin 2015, S. 11. 21 Sigrid Schade/Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011.

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die Nicht-Überlieferung zu berücksichtigen, dabei (4) die Akteur:innen der Bildproduktion, -überlieferung, -kommentierung und -rezeption mit ihren je eigenen Agenden in den Blick zu nehmen, und schließlich (5) soweit als möglich auch jenes in Betracht zu ziehen, was als Nicht-Sichtbares Teil der Bildpolitiken ist (damnatio memoriae, Zerstörung, Zensur, Nicht-Archivierung, Marginalisierung etc.).22

3.

Bildwissenschaftliche Perspektiven auf Bilder mit Musikbezug

Nimmt man Schade/Wenk beim Wort und wendet ihre Ideen beispielsweise auf den Untersuchungsgegenstand Porträt, hier insbesondere Porträts von Komponistinnen und Komponisten, an, ist zunächst diese Bildgruppe als Gattung interessant. Dabei wird deutlich, dass in der bisherigen Forschung einmütig das Spätmittelalter als Beginn der Gattung „Komponistenporträt“ in Europa reklamiert wird.23 Dieser Beginn korrespondiert mit dem Beginn des Konzepts von (musikalischer) Autorschaft.24 Auffallend aber ist hier im Sinne des Unsichtbar-Machens, dass jene Personen nicht in eine Gattungsgeschichte der „Komponistenporträts“ mit aufgenommen werden, die das Konzept nicht vorsieht: Menschen, die Musik zwar erfinden, aber sich nicht im emphatischen Sinne als Tonkünstler exponieren (oder als solche exponiert werden), und Frauen. Denn mit einigem Recht kann man bereits die Darstellungen der Sappho als Dichter-Sängerin oder spätestens die Darstellung

22 Vgl. auch Melanie Unseld, „Händel-Bilder. Oder: Wann ist ein Bild ein Künstlerporträt?“, in: HändelJahrbuch 2021, S. 33–46. 23 „Sie setzt am frühesten in Ostasien ein. In China ist schon in der Zeit vom 3. bis 5. Jh. n. Chr., also vor der Tang-Dynastie, der Musiker zum porträtwürdigen Künstler aufgestiegen. In Europa tritt dies erst im Spätmittelalter ein. Die ersten Musikerporträts sind in Grabplatten eingehauen worden und zeigen die beiden blinden Instrumentalvirtuosen Fr. Landini in San Lorenzo von Florenz (1397) und K. Paumann in der Frauenkirche in München (1476). Das erste Tafelbild ist Jan van Eycks Bildnis eines ‚Tymotheos‘ (1432, London, National Gallery), mit dem höchstwahrscheinlich G. Binchois gemeint ist“. Seebass, Art. „Musikikonographie“. Auch Stephen A. Bergquist schreibt, dass die Geschichte der Komponistenporträts rund fünfhundert Jahre umfasse: „Over the past five hundred years, composers have been depicted in all the major media – painting, drawings, prints, and sculpture.“ Stephen A. Bergquist, „Composer Portrait Prints“, in: The Routledge Companion to Music and Visual Culture, hrsg. v. Tim Shephard und Anne Leonard, New York/London 2019, S. 95–102, hier: S. 95. 24 Michele Calella, Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Mittelalter und Neuzeit, Kassel 2014; Melanie Unseld, Art. „Komponist“, in: Lexikon der Musikberufe, hrsg. v. Martin Lücke, Lilienthal [im Druck]. Der Begriff der „Autorschaft“ ist hier bewusst gewählt, geht das zugrunde liegende Konzept doch in erheblichem Maße von einer explizit männlichen Autorschaft aus. Vgl. dazu u. a. Beatrix Borchard, „Beethoven: Männlichkeitskonstruktionen im Bereich der Musik“, in: Kunst, Geschlecht, Politik. Männlichkeitskonstruktionen und Kunst im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, hrsg. v. Martina Kessel, Frankfurt am Main 2005, S. 65–84.

Bild – Musik – Klang!

der Hildegard von Bingen (Frontispiz des Liber Scivias aus dem Rupertsberger Codex, um 1180) als Teil jener Bildgruppe verstehen, die sich zur Gattung des Komponist:innenporträts zusammenfassen lässt. An dieser Stelle wird markant deutlich, dass das Nicht-Sichtbare Teil von Bildpolitiken ist. Da weder Sappho noch Hildegard von Bingen „als Komponist“ unhinterfragt sind,25 werden ihre Abbildungen nicht in die Gattungsgeschichte des „Komponistenporträts“ aufgenommen, obwohl sie im Sinne der Konventionen der Zeit als Komponierende abgebildet werden. Damit wird deutlich, dass das „Komponistenporträt“ (picture) dann als solches wahrgenommen wird, wenn es die Vorstellung des Komponist-Seins (image) in sich trägt. Umgekehrt ließe sich fragen, ob das Porträt eines komponierenden Menschen per se zur Bildgruppe Komponist:innenporträt zu zählen ist – und wenn nicht, was dies über die Hermetik des Begriffs „Komponist“ aussagt. Auffallend auch bei der Betrachtung von Komponist:innenporträts als Bildfolge ist, dass sich – entlang der Vorstellung (imaginatio) des musikalisch schöpferischen Mannes – eigene visuelle Codes etabliert haben. So ist etwa im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Verzicht auf konkrete Musiziersituationen (und Musikinstrumente) zu beobachten. Damit konnte die Idee des einsamen Schöpfers autonomer Werke ins Bild gesetzt werden. Wie umstritten dabei die Frage der ‚wahren‘ Abbildung war, hat die Kunsthistorikerin Alessandra Comini am Beispiel Ludwig van Beethoven herausgearbeitet: „Die ikonographische Suche nach einem ‚vollständigen‘ Abbild Beethovens, dessen äußere Erscheinung mit dem Inneren in Einklang steht“26 , war schon zu Beethovens Lebzeiten in Gang gesetzt worden, immer wieder befeuert durch Zeitgenossen, die die Wahrhaftigkeit der Bilder bescheinigten oder kritisch vermissten, wobei ‚Wahrhaftigkeit‘ mimetische Genauigkeit, ästhetischer Einklang mit Beethovens Kompositionen, sichtbare Übereinstimmung mit Beethovens (vermeintlichen) Charaktereigenschaften oder anderes meinen konnte. Dass hier sowohl die eigene Zeitzeugenschaft in Position gebracht werden sollte als auch am „Mythos Beethoven“ kräftig mitgewirkt wurde, ist den Schriftquellen, die die Bilder kommentieren, unschwer zu entnehmen, so dass die Akteure (seltener: Akteurinnen) der Bildkommentierung als Teil der Bildpolitiken rund um Beethoven auftreten. So leitete die Beethoven-Rezeption gerade auch von August von Kloebers 1818 entstandenen Bleistift- und Kreidezeichnungen ikonische Elemente des Heroischen ab („Löwenmähne“), obwohl Anton Schindler just zu diesen Porträts befand, an ihnen sei „nicht einmal die Kontur richtig“. Dass für den an einer bürgerlichen Beethoven-Idealisierung arbeitenden Schindler gerade das Unangepasste nicht wahrhaftig war, ist daher zu erwarten: Man erkenne in 25 Zur Frage, ob Hildegard von Bingen als Komponist(in) zu verstehen sei vgl. auch Stefan J. Morent/ Marianne Richert Pfau, Hildegard von Bingen. Der Klang des Himmels, Köln/Weimar/Wien 2005. 26 Alessandra Comini, Beethoven. Zur Geburt eines Mythos, Wien 2020, S. 54 (amerikan. Original: The Changing Image of Beethoven – A Study in Mythmaking, New York 1987).

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den Kloeber-Porträts nur „grobe Züge“, aber keine „Spur von geistigem Inhalte. Das ist das Antlitz eines ehrlichen Bierbrauers, aber keines Künstlers“.27 Hier wird deutlich, wie stark in Komponist:innenporträts nicht das Bild als picture, sondern als image verhandelt wird und dass in der visuellen Repräsentation des images zugleich auch der Grenzraum zum Hörbaren aufscheint: Ein zentraler Rezeptionsstrang von Beethovens Musik folgte dem (bzw. bekräftigte das), was im Ikonischen à la Kloeber greifbar war: dem Heroischen.28 Und so nimmt auch Cominis Studie, die vom Komponistenporträt (picture) ausgeht, die in verschiedenen Medien sich ausprägende Image-Bildung in den Blick – nicht umsonst lautet der amerikanische Originaltitel ihrer Studie: The changing Image of Beethoven – und analysiert dabei, die materialen Eigenschaften der Medien ernst nehmend, die verschiedenen Medienformate des mythmaking (Bilder, Literatur, Musik, Monumente etc.). Und sie geht der Frage der Überlieferung nach, der Rezeptionsstränge und ihrer jeweiligen Narrative (Meisterschaft, Monument, Apotheose/Erlösung, der ‚globale‘ Beethoven). Auf diese Weise arbeitet Comini die Porträts des Komponisten in die Bildpolitiken ihrer Zeit und in die intermediale Mythenproduktion ein. Dass Komponistinnen und Komponisten selbst an diesen Produktionen beteiligt waren,29 und die Frage der Selbstinszenierung damit nicht nur in Texten (Egodokumenten, Werkstattberichten, ästhetischen Schriften etc.), sondern auch in Bildern (Komponist:innenporträts) relevant werden, ist zumindest seit Beethoven zu beobachten. Dass sich diese Selbstinszenierungsstrategien auch in Porträts oder anderen (auch audio-)visuellen Dokumenten zu erkennen geben, liegt auf der Hand und steht, nimmt man Komponist:innenporträts als musikwissenschaftliche Quelle ernst, für eine kritische Bild-Analyse – etwa mit den von Schade und Wenk bereitgestellten Tools – bereit. Damit sind etwa die Hanfstengl-Fotografie-Serie von Richard Wagner oder das Gehende Selbstporträt von Arnold Schönberg eben keine bloße Bebilderung einer womöglich ‚bloß biographischen‘, popularisierenden Lesart, sondern Quellen eigenen Rechts, die über das künstlerische Selbstverständnis und die Codierungen ihrer Rezeption im Wechselverhältnis zu den jeweiligen Diskursen in Kunst und Gesellschaft Auskunft geben. Die Analysetools nach Schade/Wenk helfen darüber hinaus auch, solche Bildquellen für die Musikwissenschaft fruchtbar zu machen, die bislang insbesondere für sozialgeschichtliche Fragestellungen oder Fragen der historischen Aufführungspraxis herangezogen wurden. Hier spielte ja zunächst die Auslesbarkeit (einzelner) Bilder hinsichtlich sozialer oder künstlerischer Praktiken eine wichtige Rolle. Wenn wir aber davon ausgehen, dass visuelle Quellen zu sehen geben, nicht abbilden, 27 Zit. nach Comini, ebd., S. 72, vgl. dort auch die Analyse der Kloeber-Porträts, S. 66–74. 28 Dazu noch immer zentral: Scott Burnham, Beethoven Hero, Princeton/NJ 1995. 29 Carl Pletsch, „On the Autobiographical Life of Nietzsche”, in: Psychoanalytic Studies of Biography, hrsg. v. George Moraitis und George Pollock, New York 1987, S. 405–434.

Bild – Musik – Klang!

wird klar, dass auch in diesem Zusammenhang Bilder im Spannungsverhältnis zwischen picture und image betrachtet werden müssen und dass insbesondere auch Bildkonventionen und Bildpolitiken helfen, Bilder als musikhistorische Quellen zu verstehen. In diesem Zusammenhang etwa sind die musikbezogenen Karikaturen von James Gillray nicht Abbild der englischen Musikkultur des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, sondern gehören zu einem medial diversen Korpus, anhand dessen sich der zeitgenössische Geschlechter- und Ehe-Diskurs ebenso analysieren lässt wie Formen der Musikpraktiken im Haus.30 Nicht dass Letztere realiter abgebildet wären – Karikaturen sind per definitionem Überzeichnungen –, aber doch lassen sich an ihnen detaillierte Studien zur Londoner Musikkultur um 1800 entwickeln. Ihr karikatureskes Potential spielen diese (im Grunde ja monomedialen Darstellungen) aber erst in ihren intermedialen Anspielungen aus: Indem sie im Detail auf konkrete Noten oder Aufführungen, auf konkretes Repertoire, Akteur:innen oder Orte verweisen, entsteht ein intermediales Verweisspiel. Das Sichtbare wird (imaginiert) verklanglicht oder knüpft an Gehörtes/musikalisch Erlebtes unmittelbar an. Auf diese Weise wird musikalisches Erleben visuell rezipiert und die Agenden der Akteur:innen offengelegt (Bildpolitiken), wobei die Überspitzung sowohl durch Sichtbarmachen als auch durch Nicht-Sichtbarmachen gelingen kann.

4.

Noten, sichtbar! – Bilder, hörbar!

Musikalische Noten galten in der Musikwissenschaft gemeinhin als Textquellen. Erst in jüngerer Zeit wurde vermehrt darüber nachgedacht, dass ihnen eine eigene Visualität eigen ist, die über das Lesbare (einer Notenschrift) hinausgeht. Ausgehend von einer Aufwertung von kompositorischen Skizzen für die musikwissenschaftliche Forschung31 waren es dabei insbesondere Einflüsse der graphischen Notation seit den 1960er Jahren, die zu einer Neubetrachtung von Notation Anlass gaben.32 Inzwischen ist, u. a. angeregt durch die Philosophin Sybille Krämer, über Schriftbildlichkeit in der Musik nachgedacht worden: Jegliche Notenschrift ist zunächst die Bearbeitung einer zweidimensionalen Fläche, damit diagrammatisch aufgebaut,

30 Siehe dazu auch Melanie Unseld (Hrsg.), Delights of Harmony: James Gillray als Karikaturist der englischen Musikkultur um 1800, Köln/Wien/Weimar 2017. 31 Dazu u. a. Stefanie Acquavella-Rauch/Birger Petersen (Hrsg.), Neue Ansätze zur Skizzenforschung für die Musik des langen 19. Jahrhunderts, Berlin u. a. 2020. 32 U. a. Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notation, hrsg. v. Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek und Sophie Zehetmayer, Paderborn u. a. 2020; Susana Zapke (Hrsg.), Notation. Imagination und Übersetzung, Wien 2020.

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und daher nicht nur unter Aspekten der Lesbarkeit diskutierbar (Notation als Text), sondern auch als Flächendisposition (Notation als Bild und als Denkzeug).33 Neben den eindeutig als Notation konzipierten Medien – wobei sich die Eindeutigkeit durch Verwendung einer Notenschrift und/oder paratextuell ergibt – sind verschiedene andere bildliche Formen denkbar, die sichtbar Hörbares vermitteln. Zu denken ist dabei etwa an Text-Bild-Medien wie Comic, Manga oder Graphic Novels, deren „graphische Tonspuren“34 (Soundwords, Onomatopoesie, sichtbare Geräusche, Schallwellen, Klänge, Stimmen) nicht selten besonders ‚laut‘ sind. Aus literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektive wird hierbei auf den „sensorische[n] Spalt“ zwischen Musik und Bild verwiesen,35 der sich mit der Faszination paart, „mit den Augen hören“36 zu können. Dabei kann das Sichtbare – ähnlich der Notation – Appellcharakter einer Verklanglichung in sich tragen. Nicht zuletzt bedien(t)en sich auch bildende Künstler:innen einer Vielfalt von Möglichkeiten eines bimedialen Dialogs zwischen Sicht- und Hörbarem (oder zumindest hörend zu Imaginierendem). Jorinde Voigt etwa transformierte Beethovens 32 Klaviersonaten in visuelle Gebilde, die zwischen der Systematik musikanalytischer Graphiken, graphischer Notation und eigener visueller Ästhetik vagabundieren. Die Bilderfolge der 32 Sonaten ist aber weder mit Spielanweisungen versehen noch liegt ihr musikanalytisches Erkenntnisinteresse zugrunde. Stattdessen geht es um eine Abstraktion der bereits als Code verstandenen Notation von Beethovens Klaviersonaten. Die Zeichnungen sind damit weder Illustration noch visuelle Interpretation, sondern visuelle Übersetzung des Notentextes oder, wie Voigt selbst schreibt: „Extraktion“.37 Charlotte Salomon wiederum schöpft narrative Potentiale intermedial aus, wenn sie in ihrem Bilderzyklus Leben? Oder Theater? verschiedene Medien ineinanderfließen lässt, um in diesem intermedialen Raum die eigene Lebensgeschichte und

33 Sybille Krämer, „Schrift, Schriftbildlichkeit, Musik“, in: Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notation, hrsg. v. Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek und Sophie Zehetmayer, Paderborn u. a. 2020, S. 67–86. 34 Lukas R. A. Wilde, „Die Sounds des Comics. Fünf mal mit den Augen hören“, in: spiel. Neue Folge. Eine Zeitschrift zur Medienkultur. Journal of Media Culture 3/2 (2017), S. 127–161, hier: S. 127. 35 Christian A. Bachmann, Macht der Musik. Musik in Karikatur, Bildergeschichte und Comic. 1830–1930, Berlin 2017, S. 14. Vgl. auch Scott McCloud, Understanding Comics. The Invisible Art, New York 1993; Nina Mahr, „AWopBopaLooBopAlopBamBoom – Musik im Comic“, in: „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. Festschrift für Helmut Schmied, hrsg. v. Helga Arend, Bielefeld 2010, S. 219–228; Melanie Unseld/Akiko Yamada (Hrsg.), Laute(r) Bilder. Musik in Manga, Comic & Co. (= Jahrbuch Musik und Gender), Hildesheim [im Druck]. 36 Wilde, „Die Sounds des Comics“, S. 127. 37 Jorinde Voigt, Ludwig van Beethoven Sonatas 1–32, hrsg. v. David Nolan, Einführungstext von Franz W. Kaiser, Ostfildern 2015. Zitat ebd., S. 94.

Bild – Musik – Klang!

die ihrer Familie nachzuerzählen.38 Sie geht dabei von Medien wie Film, Comic, Roman, Drama, Bild, Oper, Lied, Papiertheater u. v. m. aus, und nutzt hierbei nicht nur die visuellen und dramaturgischen Elemente, sondern auch die akustische Ebene, indem sie musikkulturelles Handeln bildlich darstellt, indem sie benannte Musikstücke als quasi Filmmusik (sowohl diegetisch als auch extradiegetisch) einsetzt, aber auch, indem sie visuelle Grundstrukturen musikalischer Medien (etwa den diagrammatischen Aufbau einer Partitur) auf die bildliche Darstellung von Zeitverläufen überträgt. Die Bilderfolgen lassen sich in diesen Passagen ‚wie eine Partitur‘ lesen, wobei das zu Lesende passenderweise das Monologisieren über musikalische Themen vorstellt. Die Bilder fordern hier zu veränderten Wahrnehmungsmodi auf: Die im diagrammatischen Setting erprobte Erfahrung beim Lesen einer Partitur wird übertragen auf eine Folge von Bildern und verweist so auf die bimediale Schnittstelle zwischen Bildlesen/Musiklesen. Der Beispiele wären noch viele anzufügen: Akustische Anteile in bi- oder intermedialen Zusammenhängen sind vielfältig, wobei die Art und die Konkretheit der Verweise auf Hörbares sehr unterschiedlich ausfallen können und zudem die Anforderungen an die Wahrnehmungsmodi divergieren können. Unter welchen Umständen aber, um auf die eingangs eingegrenzte Frage zurückzukommen, ist eine visuelle Quelle eine musikhistorische, für die Musikwissenschaft relevante Quelle? Konkret: Sind Komponist:innenporträts, Karikaturen, Musik-Mangas, Jorinde Voigts Beethoven-Zyklus oder Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? Quellen für die Musikwissenschaft? Die skizzierten Beispiele dürften deutlich gemacht haben, dass weder der/die Urheber:in noch das Dargestellte per se für eine Entscheidung hinreichende Bedingungen sind, denn selbstredend können alle genannten Beispiele auch aus nicht-musikwissenschaftlichen Frageperspektiven betrachtet werden. Auch der Kontext oder die Überlieferung/Rezeption machen visuelle Quellen noch nicht zu musikwissenschaftlichen. So bleibt nur das musikwissenschaftliche Erkenntnisinteresse, das federführend dazu beiträgt, visuelle Quellen musikwissenschaftlich zu perspektivieren. Umso dringlicher ist es aber, das methodische Werkzeug auf eine solche Doppelperspektive hin auszurichten: auf die die Musik adressierende Fragestellungen einerseits und die bildwissenschaftlichen Analysemöglichkeiten andererseits – eingedenk ihrer inter- oder zumindest bimedialen Grenzräume.

38 Inwiefern es sich hier um eine auto|biographische Erzählung handelt, ist nicht ohne Friktionen zu bestimmen, diese Frage steht freilich hier nicht im Zentrum. Vgl. dazu auch Julia Watson, „Autobiography as Cultural Performance. Charlotte Salomon’s Life? Or Theatre?“, in: Interfaces. Woman, Autobiography, Image, Performance, hrsg. v. Sidonie Smith und Julia Watson, Ann Arbor 2002, S. 342–382.

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Musik im Blick Im Dickicht der Positionen

… c’est ce motif de l’homogénéité, motif théologique par excellence, qu’il faut décidément détruire …   Jacques Derrida1     Images show us a world but not the world itself. Richard Leppert2

Die nachfolgenden Überlegungen sind das Ergebnis des Umstands, dass – im Gegensatz zur Auseinandersetzung in stark durch das Bild geprägten Disziplinen3 – in der musikikonographischen Forschung eine fundierte und kritische Theoriebzw. Methodendiskussion erst in Ansätzen stattfindet.4 Die anschließenden Ausführungen sind daher als ein dynamisches, teilweise gar mäandrisches Herantasten zu verstehen und nicht als abschließendes Fazit, das dem Ruf nach Orientierung gerecht werden würde.

1.

Die Anfänge musikikonographischer Forschung

Ein grundsätzlicher Aspekt musikikonographischer Forschung betrifft die Frage nach dem epistemologischen Mehrwehrt visueller Quellen für eine zwar primär 1 Jacques Derrida, Positions. Entretiens avec Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, Paris 1972, S. 86. 2 Richard Leppert, Art and the committed eye: the cultural functions of imagery, Boulder (CO) 1996, S. 3 (Hervorhebungen im Original). 3 Bereits 1966 diagnostizierte Wolfgang Brückner, dass „die Literatur zum Problem ‚Bild‘ Legion“ sei und dass „jede Disziplin von einer eigenen Fragestellung auf seine Existenz“ stoße, „so daß jeweils eine andere Seite des Phänomens im Vordergrund der Betrachtung steht.“ Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch, Berlin 1966, S. 15. Vgl. dazu auch Gillian Rose, Visual methodologies: an introduction to researching with visual material, London 4 2016. 4 Erste Erkenntnisse dieser sowohl theoretischen als auch wissenschaftspraktischen Auseinandersetzung liegen in meinem Beitrag „Navigating the Maze: Challenges to Current Music Iconography Research“ vor und werden hier aufgegriffen, weitergedacht bzw. relativiert oder gar verworfen, in: Belonging and detachment: representing musical identity in visual culture, hrsg. v. Antonio Baldassarre und Arabella Teniswood Harvey, Wien im Druck.

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nicht durch visuelle Medien definierte, sich aber immer wieder auf solches Quellenmaterial und die damit verbundene Kulturtechnik des Betrachtens beziehende Disziplin wie die Musikforschung. Zwar hat man im Zusammenhang mit musikalischen Themen und Sachverhalten immer wieder auf visuelle Objekte rekurriert bzw. referenziert. Berühmte Beispiele in diesem Zusammenhang sind etwa Musica getutscht (1511)5 von Sebastian Virdung (um 1465 – nach 1511) und der zweite Band von Michael Praetorius’ (1571–1621) Syntagma musicum von 16196 oder das mehrbändige Werk Musurgia Universalis, sive Ars Magna Consoni et Dissoni (1650) Athanasius Kirchers (1602–1680)7 und die im frühen 19. Jahrhundert verfassten Studien zur historischen und zeitgenössischen Musikpraxis in Griechenland, Vorderasien und Ägypten von Guillaume André Villoteau (1759–1839).8 Gemeinsam ist diesen und vielen anderen Quellen, dass die Visualisierung von musikalischen Themen oder Sachverhalten einzig dem Zweck der Illustration dient. Die Tatsache, dass der epistemologische Wert ikonographischer Quellen unterschätzt wird, wird paradoxerweise auch dann bestätigt, wenn der Hauptfokus gerade auf solche Quellen gerichtet ist, wie beim zweiten Band des Neuen historischbiographischen Lexikons der Tonkünstler von Ernst Ludwig Gerber (1746–1819), der 1814 erschien und im Anhang eine umfangreiche Liste von Komponistenund Musikerporträts9 anführt, ohne allerdings die ikonographischen Belege selbst nachzuweisen.10 Mit Recht kann man fragen, „what good was this catalogue to anybody without having access to pictures themselves?“11 Und welche Erkenntnisse lassen sich aus Beiträgen mit den belangvollen Titeln Was lehren uns Bildwerke des 14.–17. Jahrhunderts über die Instrumentalmusik ihrer Zeit? oder Die musikalischen

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Sebastian Virdung, Musica getutscht und außgezogen, Basel 1511. Michael Praetorius, Syntagma musicum, Bd. 2, Wolfenbüttel 1619. Athanasius Kircher, Musurgia Universalis, sive Ars Magna Consoni et Dissoni, Rom 1650. Dazu etwa Guillaume André Villoteau, De l’État actual de l’art musical en Égypte, ou Relation historique et descriptive des recherches et observations faites sur la musique en ce pays, Paris 1812; ders., Description historique, technique et littéraire des instruments de musique des Orientaux, Paris 1813; ders., Dissertation sur les diverses espèces d’instrumens de musique que l’on remarque parmi les sculptures que décorent les antiques monumens de l’Égypte, et sur les noms que leur donnèrent en leur langue propre les premiers peuples de ce pays, Paris 1822. 9 Vgl. den Text von Melanie Unseld in diesem Band. 10 Ernst Ludwig Gerber, Anhang welcher Nachrichten von Bildnissen, Büsten und Statuen berühmter Tonlehrer und Tonkünstler. Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, Leipzig 1814, Bd. 2, Sp. 659–743. 11 Zdravko Blažeković, „The early years of the Répertoire International d’Iconographie Musical“, in: Musical history as seen through contemporary eyes, hrsg. v. Benjamin Knysak und Zdravko Blažeković, Wien 2021, S. 345–379, hier S. 346.

Musik im Blick

Instrumente in den Miniaturen des frühen Mittelalters ziehen, wenn kein einziges Bild bzw. nur wenige Handzeichnungen mit abgedruckt werden?12 Die Vorstellung, dass visuelle Quellen auch eigenständige Analyseinstrumente zur Generierung von Erkenntnissen sind, ist im musikforschenden Kontext relativ jung. Und Ausnahmen bestätigen die Regel. Etwa der Einsatz Edward Dents (1876–1957), der bereits 1929 als Mitglied des Direktoriums der Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft und als deren späterer Präsident (1931–1949) sich für ein internationales Repertorium musikonographischer Quellen einsetzte,13 ebenso wie drei vorerst folgenlos gebliebenen Publikationen: einerseits die fast 200 Schwarz-Weiß-Reproduktionen umfassende und von Max Sauerlandt 1922 zusammengestellte Sammlung Die Musik in fünf Jahrhunderten der europäischen Malerei,14 andererseits der 1929 veröffentliche Aufsatz „Die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abtei zu Cluny“15 von Leo Schrade und schließlich die im selben Jahr bei Breitkopf & Härtel erschienene und von Georg Kinsky unter Mitarbeit von Robert Haas und Hans Schnorr herausgegebene Publikation Geschichte der Musik in Bildern16 mit über 1500 Illustrationen, die später mit einer Einleitung von Eric Blom auch in einer englischen Übersetzung17 aufgelegt wurde. Der Optimismus, den man schließlich vor gut 70 Jahren mit den neuen fächerübergreifenden Ansätzen verband, spiegelt sich, soweit es die musikikonographische Forschung betrifft, in der 1961 begonnenen Publikation der zahlreiche Themenbände umfassenden Reihe Musikgeschichte in Bildern18 und der 1971 erfolgten Gründung des Répertoire International d’Iconographie Musicale,19 besser

12 Hugo Leichtentritt, „Was lehren uns Bildwerke des 14.–17. Jahrhunderts über die Instrumentalmusik ihrer Zeit?“, in: Sammelbände der internationalen Musikgesellschaft VII/3 (1906), S. 315–364; Edward Bühle, Die musikalischen Instrumente in den Miniaturen des frühen Mittelalters, Leipzig 1903. 13 Antonio Baldassarre, „Quo vadis music iconography? The Répertoire International d’Iconographie Musicale as a case study“, in: Fontes Artis Musicae 54/2 (2007), S. 440–452, hier S. 441. 14 Max Sauerlandt, Die Musik in fünf Jahrhunderten der europäischen Malerei: etwa 1450 bis etwa 1850, Leipzig 1922. 15 Leo Schrade, „Die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abteikirche zu Cluni [sic!]. Ein Beitrag zum Symbolismus mittelalterlicher Kunst“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 229–266. 16 Geschichte der Musik in Bildern, hrsg. v. Georg Kinsky u. a., Leipzig 1929. 17 History of Music in Pictures, hrsg. v. Georg Kinsky u. a., London/Toronto 1930. 18 Musikgeschichte in Bildern, hrsg. v. Heinrich Besseler und Max Schneider, später fortgesetzt von Werner Bachmann, Leipzig 1961–1989. 19 Dazu u. a. Barry S. Brook, „RIdIM: A new international venture in music iconography“, in: Notes XXVIII/4 (1972), S. 652–663; Victor Ravizza, „Zu einem internationalen Repertorium der Musikikonographie“, in: Acta Musicologica XLIV (1972), S. 101–108; Antonio Baldassarre, „The actual situation of RIdIM“, in: Musique, Images, Instruments. Revue française d’organologie et d’iconographie musicale 7 (2004), S. 223–225; Blažeković, „The Early Years of the Répertoire International d’Iconographie Musical“.

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bekannt unter dem Akronym RIdIM, und einer damit einhergehenden Institutionalisierung musikikonographischer Aktivitäten.20 Zudem ist an die optimistische Aussage von Emanuel Winternitz (1898–1983), dem ersten Direktor der Musikinstrumentensammlung des New Yorker Metropolitan Museum of Art und einem der Gründervater der „modernen“ Musikikonographie, zu erinnern: […] die musikikonographische Forschung hat ein sehr wichtiges Nebenprodukt. Sie trägt dazu bei, die Musikwissenschaft aus jener Isolation zu befreien, in welche so viele spezialisierte Forschungszweige in unserer überspezialisierten Zeit geraten sind.21

Dem Autor dieser Äusserung wissenschaftliche Unbedarftheit oder gar Naivität zu unterstellen, verkennt die Tragweite der Bedeutung, welche man dem Einbezug von visuellen Quellen in den Wissenschaften außerhalb der angestammten Disziplinen der Kunstgeschichte in dieser Zeit zuzumessen begann, dies vor allem unter Vertreter:innen, die die etablierten Grenzen zwischen den an den Hochschulen institutionalisierten Wissenschaften zu hinterfragen, wenn nicht gar zu verachten begannen: Als Verkörperung einer solchen geistigen Offenheit galt vielen zu jener Zeit der durch die Publikation von Ernst Gombrich verfassten Biographie wiederentdeckte Aby Warburg (1866–1929),22 den Walter Benjamin seiner außerordentlich intellektuellen und geistigen Unabhängigkeit wegen pries.23 Begriffe wie „interdisziplinär“ und „Interdisziplinarität“ wurden allerdings erst behutsam und ohne wirkliche theoretische Fundierung verwendet.24

20 Dazu u. a. Barry S. Brook und Richard Leppert, „RCMI/CUNY: The Research Center for Musical Iconography of the City University of New York“, in: College Music Symposium XIII (1973), S. 103–113; Sylvette Milliot, „Le Centre d’iconographie musicale de la Recherche Scientifique a Paris“, in: Revue de musicologie LXIX/1 (1983), S. 85–98. 21 „[…] iconological research in music has a very important by-product. It helps to free musicology from that isolation into which so many specialized branches of research have fallen in our overspecializing times.“ Emanuel Winternitz, „The Iconology of Music: Potential and Pitfalls“, in: Perspectives in Musicology, hrsg. v. Barry S. Brook u. a., New York 1972, S. 80–90, hier S. 90. Übersetzungen in diesem Beitrag sind, sofern nicht anders vermerkt, vom Autor selbst. 22 Ernst Gombrich, Aby Warburg: an intellectual biography, London 1970. Deutsch als Aby Warburg: eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 1981. 23 Walter Benjamin, „Johann Jakob Bachofen“ [französisch, entstanden 1934/1935], in: Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften, Bd. 2.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 219–233, hier S. 225. 24 Dazu ausführlicher Julie Thompson Klein, Interdisciplinarity: history, theory, and practice, Detroit 1990; Susanne Schregel, „Interdisziplinarität im Entwurf: Zur Geschichte einer Denkform des Erkennens in der Bundesrepublik (1955–1975)“, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, 24/1 (2016), S. 1–37. Der Schritt zur Interdisziplinarität geschah trotz oder gar wegen der für die kybernetische Forschung relevanten sogenannten Macy Conferences – jenen zwischen 1946 und 1953 veranstalteten zehn interdisziplinären Konferenzen, die die Grundstei-

Musik im Blick

Man war sich indes bereits damals bewusst, dass die Verwendung von Bildern als Instrumente der Erkenntnisgewinnung alles andere als ein leichtes Unterfangen ist. Bereits 1972 wies der bereits erwähnte Winternitz auf diese Herausforderung hin: Wir können nicht einfach ein Gemälde mit Streichinstrumenten betrachten und sagen ‚keine Bordune‘, oder ein Engelskonzert auf einem Gemälde anschauen und meinen ‚fünf Streicher plus sieben Sänger und zwei Trompeten.‘ Die Dinge sind in der Regel weitaus komplexer.25

Angesichts des zwischenzeitlich durch die intensivierte bildwissenschaftliche Auseinandersetzung in zahlreichen Disziplinen erreichten Wissensstands und der damit einhergehenden vervielfachten Herausforderungen könnte der letzte Satz von Winternitz’ Einschätzung problemlos dahingehend modifiziert werden, dass unterdessen die durch das „Bild“ verursachten Herausforderungen nicht nur in der Regel, sondern ganz grundsätzlich viel komplizierter sind – und in diesem Zusammenhang nicht unwesentlich ist die Warnung Didi-Hubermans, dass die Erweiterung disziplinärer Perspektiven um „Bilder nicht nur die Anerkennung neuer Gegenstände“ bedeute, „sondern auch, diese gefangen zu nehmen und sie unter eine gemeinsame, zuvor schon bestehende Verwaltung zu stellen.“26

2.

Erwin Panofsky und die Folgen

Bei den ersten Gehversuchen in das noch unbekannte, aber immerhin vielversprechende Gebiet musikikonographischer Forschung hielt man sich einerseits an Objekte, welche mit verschwindend wenigen Ausnahmen dem Bereich der bildenden Künste angehörten und in Museen und öffentlichen Sammlungen zugänglich waren, und andererseits an die Kunsttheorie Erwin Panofskys, der in der akademi-

ne zur modernen Kybernetik legten. Cybernetics | Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, 2 Bände, hrsg. v. Claus Pias, Zürich 2003. Dazu auch Steve P. Heims, „Gregory Bateson and the mathematicians: from interdisciplinary interaction to societal functions“, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences, 13/2 (1977), S. 141–159; Paul N. Edwards, The closed world: computers and the politics of discourse in Cold War America, Cambridge Mass. 1996, S. 187–196. 25 „We cannot simply look at a painting showing string instruments and say ‚no drones‘, or look at an angel concert in painting or sculpture and say ‚five strings plus seven singers and two trumpets‘. Things are usually much more complex.“ Winternitz, „The Iconology of Music: Potential and Pitfalls“, S. 80. 26 Didi-Huberman, „Die leichtfüßige Dienerin“, in: Warburgs Denkraum, hrsg. v. Martin Treml u. a., Leiden/Boston 2014, S. 259–273, hier S. 259.

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schen Kunstwissenschaft weitum als Großmeister der modernen Kunstgeschichte verehrt wurde.27 Es war insbesondere Panofskys 1939 publiziertes Werk Studies in Iconology,28 das ihn für mehrere Jahrzehnte zu einer fast unangefochtenen Autorität machte und in welchem er ein Konzept der Ikonologie entwickelte, das in der Substanz das Resultat einer reichlich einseitigen Aneignung bzw. einer durch eine sprachlich und kulturell veränderte Kontextualisierung verursachten Transformation29 von Aby Warburgs noch heute in seinen facettenreichen Dimensionen erst ansatzweise erforschtem kulturwissenschaftlichem Modell darstellt.30 Was sich in Bezug auf die durch Panofskys Modell bestimmte theoretische Fundierung zunächst als Erweiterung herkömmlicher Methoden darstellte, erwies sich später allerdings als dessen Gegenteil, insbesondere angesichts bestimmter epistemologischer Schwächen von Panofskys Modell. Das hat die musikikonographische Forschung allerdings bis heute nicht davon abgehalten, sich weiterhin – wenn auch weniger explizit als in den Gründerjahren – auf Panofskys dreistufiges Analysemodell zu stützen.31 Die außerordentliche Erfolgsgeschichte von Panofskys analytischem Verfahren ermisst sich auch daran, dass es nicht nur mit besonderem Akzent in geisteswissenschaftlichen und theoriebasierten sozialwissenschaftlichen

27 Dazu Michael Ann Holly, Panofsky and the foundation of art history, Ithaca (N.Y.) 1985. 28 Erwin Panofsky, Studies in iconology: humanistic themes in the art of the Renaissance, New York 1939. Deutsch als Studien zur Ikonologie: Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1962. Eine Art Vorstudie dazu bildet Panofskys Beitrag „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“, in: Logos 21 (1932), S. 103–119. 29 Diese Transformation wird besonders deutlich in Panofskys Studie Meaning in the visual arts: papers in and on art history, Garden City (N.Y.), 1955. 30 Dazu Salvatore Settis, „Zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Empfehlungen für eine Heimkehr“, in: Aby Warburg. Akten des internationalen Symposiums Hamburg 1990, hrsg. v. Horst Bredekamp u. a., Weinheim 1991, S. 115–123, hier S. 121; Giovanna Targia, „‚Bilderwanderung‘ und Sprachmetamorphose: Untersuchungen zur Transformation des Forschungsansatzes von Aby Warburg (1866–1929) durch seine Nachfolger“, Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2014, http://www. mpg.de/6807978/BH_JB_2014?c=8236817 (letzter Zugriff: 21.12.2021); Martina Sauer, „Panofsky – Warburg – Cassirer: from iconology to image science“, in: Homo pictor: image studies and archaeology in dialogue, hrsg. v. Jacobus Bracker, Heidelberg 2020, S. 159–171. Zu Warburg im Spezifischen vgl. Warburgs Denkraum, hrsg. v. Martin Treml u. a., Leiden/Boston 2019. 31 Als jüngstes Beispiel sei hier erwähnt Thilo Hirsch und Marina Haiduk, Zur Interpretation und Rekonstruktion von Musikinstrumenten in Bildquellen: Versuch eines methodisch-praktischen Leitfadens, Bern 2021.

Musik im Blick

Disziplinen,32 sondern auch und oft in leicht angepasster Form in der qualitativen Forschung Anwendung gefunden hat bzw. weiterhin adaptiert wird.33 Es war ironischerweise bereits Panofsky selbst, der zur Vorsicht bei der Applikation seiner Methode gemahnt hatte, indem er meinte: „Allerdings besteht

32 Vgl. dazu beispielsweise für die Anthropologie, Ethnologie und Ethnographie: Walter Leimgruber u. a., „Visuelle Anthropologie: Bilder machen, analysieren, deuten und präsentieren“, in: Europäischethnologisches Forschen: Neue Methoden und Konzepte, hrsg. v. Sabine Hess u. a., Berlin 2013, S. 243–277, insb. S. 249–253; Franziska Nyffenegger, „Komische Kühe. Die Oberfläche von Souvenirobjekten als (inter-)kulturelle Schnittstelle“, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXVI/ 115(1+2) (2013), S. 39–58; für die Archäologie und Geschichtswissenschaft: Rainer Wohlfeil, „Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde“, in: Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 12), hrsg. v. Brigitte Tolkemitt und Rainer Wohlfeil, Berlin 1991, S. 17–35; Ulrich Schädler, „Ikonologie und Archäologie“, in: Antike und Abendland 39/1 (1993), S. 162–187; Klaus Topitsch, „Bilder als historische Quelle: Eine Interpretation der Moskauer Bilderchronik ‚Licevoj Letopisnj Svod‘ (16. Jahrhundert)“, in: „Der Schuß aus dem Bild“: Frank Kämpfer zum 65. Geburtstag, Digitale Osteuropa-Bibliothek: Reihe Geschichte 11 (2004), online unter https://epub.ub.uni-muenchen.de/558/8/merten-bildkunde.pdf (letzter Zugriff: 22.11.2021); für die Soziologie: Bildinterpretation und Bildverstehen: Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive, hrsg. v. Winfried Marotzki und Horst Niesyto, Wiesbaden 2006; Helmut Bremer und Christel Teiwes-Kügler, „Die Muster des Habitus und ihre Entschlüsselung. Mit Transkripten und Collagen zur vertiefenden Analyse von Habitus und sozialen Milieus“, in: Bild und Text: Methoden und Methodologien visueller Sozialforschung in der Erziehungswissenschaft, hrsg. v. Barbara Friebertshäuser u. a., Opladen 2007, S. 81–104; Florian Schumacher, „Bourdieus Adaption von Erwin Panofskys kunsttheoretischem Entwurf epochaler ‚Mental Habits‘“, in: Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus, hrsg. v. Alexander Lenger u. a., Wiesbaden 2013, S. 109–122; für die Filmwissenschaften: Wiesław Godzic, „Iconographic-Iconological Method in Film Research“, in: Artibus et Historiae, 2/3 (1981), S. 151–157; Norbert M. Schmitz, „Arnheim versus Panofsky/Modernismus versus Ikonologie. Eine exemplarische Diskursanalyse zum Verhältnis der Kunstgeschichte zum filmischen Bild“, in: Image 17/1 (2013), S. 85–104; Lutz Hieber, „Kunstwissenschaftliche Methodik für Hollywoodfilme“, in: Die Herausforderungen des Films, hrsg. v. Alexander Geimer u. a., Wiesbaden 2018, S. 357–388; Andrea Pinotti, „Towards aniconology: the image as environment“, Screen 61/4 (2020), S. 594–603; für die Medienwissenschaft: Amr Abu Zeid, Islam und Orient im Bild der Presse: Zur Suggestivkraft multimodaler Berichterstattung, Marburg 2016; Stefka Hristova, „Notes on the iconography of mediated gestures“, in: Hau: Journal of Ethnographic Theory 7/1 (2017), S. 415–422; Steffi Sam Achilles, Queer_sehen: queere Bilder in U.S.-amerikanischen Fernsehserien von 1990–2012, Berlin 2018, S. 85–98. 33 Dazu etwa Ralf Bohnsack, „Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation“, in: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis, hrsg. v. Ralf Bohnsack u. a., Wiesbaden 2001, S. 67–89. René Tuma und Bernt Schnettler, „Videographie“, in: Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, hrsg. v. Nina Bauer und Jörg Blasius, Wiesbaden 2014, S. 875–886; Wivian Weller u. a., „Fotografie als Gegenstand qualitativer Sozialforschung: Dokumentarische Analyse eines Familienfotos aus Ceará, Brasilien“, in: Zeitschrift für Qualitative Forschung 16/2 (2015), S. 265–277.

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zugegebenermaßen eine gewisse Gefahr, daß sich Ikonologie nicht wie Ethnologie zu Ethnographie, sondern wie Astrologie zu Astrographie verhalten wird.“34 Aus heutiger Sicht erweisen sich vor allem zwei Dimensionen von Panofskys Modell als problematisch. Erstens ist kritisch anzumerken, dass Panofsky visuelle Quellen oft als Dokumente bzw. „corpora delicti“ in einer auf einen vermeintlichen Zeitgeist ausgerichteten Beweisführung behandelte, in welcher das Bild innerhalb des Erkenntnisgewinnungsprozesses wie in einem Ermittlungsverfahren einzig als zusätzliches Beweismittel zugelassen wird.35 Nicht übergangen werden sollte in diesem Zusammenhang Panofskys Empfänglichkeit für nominalistische Ideen, wie sie etwa in der folgenden Aussage greifbar wird, in welcher er gleichsam sein methodisches Credo umreißt: Der Kunsthistoriker unterzieht sein ‚Material‘ einer rational archäologischen Analyse, die zuweilen so akribisch genau, umfassend und aufwändig ist wie jede physikalische oder astronomische Untersuchung. Aber er konstituiert sein ‚Material‘ mittels einer intuitiven ästhetischen Nachschöpfung, einschließlich der Wahrnehmung und der Beurteilung der ‚Qualität‘, wie jeder ‚gewöhnliche‘ Mensch, wenn er oder sie ein Bild betrachtet oder eine Sinfonie hört.36

Nicht näher sei hier auf die Idee der „intuitive aesthetic re-creation“ eingegangen, denn sie wurde bereits hinlänglich kommentiert.37 Die nominalistischen Prämissen

34 „There is admittedly some danger that iconology will behave, not like ethnology as opposed to ethnography, but like astrology as opposed to astrography.“ Panofsky, Studies in Iconology, S. 32. Hier zitiert nach der deutschen Fassung, Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, in: Sinn und Deutung in der Bildenden Kunst, Köln 1975, S. 36–67, hier S. 42. 35 Darin zeigt er sich nicht unwesentlich beeinflusst von Karl Mannheims dokumentarischer Methode. Dazu Karl Mannheim, Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation, Wien 1923; ders., „Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit (Konjunktives und kommunikatives Denken)“ [1924], in: Strukturen des Denkens, hrsg. v. David Kettler u. a., Frankfurt am Main 1980, S. 155–322; ders., Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie, Tübingen 1932. Siehe auch Joan Hart, „Erwin Panofsky and Karl Mannheim: a dialogue on interpretation“, in: Critical Inquiry, 19/3 (1993), S. 534–566; Irene Schütze, „Schicht um Schicht: Zum Aufbau von bildlichen Sinnstrukturen bei Erwin Panofsky und Karl Mannheim,“, in: Kunst und Kognition: Interdisziplinäre Studien zur Erzeugung von Bildsinn, hrsg. v. Fabienne Liptay u. a., Boston 2008, S. 197–214. 36 „The art-historian subjects his ,material‘ to a rational archaeological analysis at times as meticulously exact, comprehensive and involved as any physical or astronomic research. But he constitutes his ‚material‘ by means of an intuitive aesthetic re-creation, including the perception and the appraisal of ‚quality,‘ just as any ‚ordinary‘ person when he or she looks at a picture or listens to a symphony.“ Erwin Panofsky, „The history of art as a humanistic discipline“, in: Meaning in the visual arts, Chicago 1955, S. 1–25, hier S. 14–15. 37 Panofsky meint hier, nach Holger Simon, eine Form des ästhetischen Erlebens, bei dem nicht das Bildthema, „das Sujet, nicht die zugrunde liegenden Mythologien oder Quellen im Vordergrund“

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sind, wie sie etwa Benedetto Croce vertreten hat38 , für die ideen- und geistesgeschichtliche Rahmung und Kontextualisierung von Panfoskys Theorie ebenso relevant wie die Nähe zu Warburg und Mannheim.39 Das belegt auch die Kritik von Max Imdahl.40 Er verdächtigte Panofskys Analyseverfahren, reinen Reduktionismus zu betreiben: Auf der Grundlage unserer praktischen Erfahrungen werden Objekte oder Ereignisse identifiziert. Eine über das mitgebrachte Vorwissen und Identifikationsvermögen hinausführende Perspektive enthält Panofskys Formbegriff (hier jedenfalls) nicht: Entweder man erkennt nichts, oder doch nur schon Bekanntes. Es entfallen sämtliche visuellen Evidenzen, die über das bloß wiedererkennende Gegenstandsehen hinaus sind und einem sehenden Sehen offenbar werden. Diese Reduktion auf das wiedererkennende Sehen kennzeichnet – ganz logischerweise – auch Panofskys Begriff von der Bildkomposition.41

Zweitens ist kritisch von der logozentristischen Prägung von Panofskys Denken zu sprechen. Zwar hat Panofskys ikonologisches Modell einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung der Besonderheit von Bildproduktion und des visuellen Sinns geleistet, aber dabei das Potential von visuellen Objekten, aus sich selbst heraus Sinn zu erzeugen, nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Bereits 1982 wies Georg Kubler auf die stark logozentristische Profilierung der Ikonologie hin, wenn er meinte, dass „in der Ikonologie das Wort Vorrang vor dem Bild“ habe und dass „ein Bild, das nicht durch einen Text erläutert wird, dem Ikonologen schwerer zugänglich“ sei „als ein Text ohne Bild“.42

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stünden, sondern er „meint damit eine rein visuelle Perzeption der formalen Erscheinung und nennt diese die ‚ästhetische Bedeutung‘ eines Kunstwerks.“ Holger Simon, Die Morphologie des Bildes: Eine kunsthistorische Methode zur Kunstkommunikation, Weimar 2021, S. 36. Dazu auch Margaret Iversen und Stephan Melville, Writing art history, Chicago 2010; Whitney Davis, A general theory of visual culture, Princeton (NJ) 2011. Dazu besonders Benedetto Croces wirkungsmächtige Ästhetik: Benedetto Croce, Filosofia come Scienza dello Spirito. Bd. 1: Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, Mailand 1902, Bd. 2: Logica come scienza del concetto puro, Bari 1909, Bd. 3: Filosofia della pratica: economica ed etica, Bari 1909, Bd. 4: Teoria e storia della storiografia, Bari 1917. Übrigens handelt es sich hierbei um einen Sachverhalt, den Panofksy mit zahlreichen seiner britischen Kolleg:innen teilte. Dazu Sam Rose, Formalism, aestheticism and art writing in England, PhD dissertation, Courthauld Institute of Art, London 2014. Max Imdahl, Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur, München 1979. Wiederabgedruckt in: Max Imdahl, Gesammelte Schriften. Bd. 3: Reflexion – Theorie – Methode Frankfurt am Main, 1996, S. 424–455. Imdahl, Giotto. 431–432. Georg Kubler, Die Form der Zeit: Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt am Main 1982, S. 198.

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Der Logozentrismus hat besonders bei den Vertretern poststrukturalistischer Erkenntnismodelle, wie sie insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren in Frankreich entwickelt wurden, Anlass zu heftiger Kritik gegeben43 und zu einer Einschätzung des Logozentrismus als ein hegemonialer, imperialistischer und unterdrückender Diskurs. Ebenso wurde kritisiert, dass der Logozentrismus eine bestimmte Affinität dazu habe, das zu überbrücken, was beispielsweise Jean-François Lytoard mit Blick auf das Verhältnis von Bild und Sprache für eine unüberwindbare Differenz zwischen zwei inkommensurablen symbolischen Regimen hält.44 Denn „zwischen der figurativen Ordnung des Bildes und der diskursiven Ordnung der Sprache existiert ein Abstand, der durch nichts überbrückt werden kann,“ wie Sarah Kofman ausführte.45 War Panofskys Theorie in den 1980er Jahren noch Objekt kritischer, teilweise auch polemischer Lektüre, zeichnet sich sowohl in der Kunstgesichte als auch in der Philosophie seit den 1990er Jahren eine Entwicklung ab, die sich wieder auf das Erbe Panofskys zu besinnen begann, ihn aber nicht mehr kanonisch behandelt – was allerdings die Kritik nicht vollends verstummen ließ: Für Didi-Huberman etwa blieb Panofsky der „große exorzistische Hohepriester“,46 da er mit seinem auf den ideengeschichtlichen Kategorien von „Einfluss“ und „Typisierung“ basierenden Konzept der neueren Kunstgeschichte zwar eine robuste durch Hierarchisierung und Periodisierung gekennzeichnete theoretische Rahmung verliehen, damit aber zugleich den „anarchischen“ Geist seines Lehrmeisters Warburg aus ihr vertrieben hat, besonders durch die durch Panofskys Operationen betriebene Entledigung der theoretischen Fundierung von Warburgs „Nachleben“, nämlich der Vorstellung darüber, dass Bilder nicht nur abbilden, sondern erst kraft der Wirkung und Übernahme von Motiven das entstehen lassen, was sie zeigen.47 Darüber hinaus 43 Dazu beispielsweise Roland Barthes, „La mort de l’auteur“, in: Monteia, 5/4 (1968), S. 12–17; ders, Le plaisir du texte. Paris 1973; Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967; Jean-François Lyotard, L’inhumain: causeries sur le temps, Paris 1988; Jean-François Baudrillard, L’échange symbolique et la morte, Paris 1976. 44 Dazu ausführlicher Pierre Billouet, Paganisme et postmodernité: J.-Fr. Lyotard, Paris 1999. 45 „Entre l’ordre figuratif du tableau et l’ordre discursif du langage existe un écart que rien ne saurait combler.“ Sarah Kofman, La mélancolie de l’art, Paris 1985, S. 22; Deutsche Übersetzung: Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, Wien 3 2008, S. 21 (Hervorhebung im Original). 46 „[…] le grand prêtre exorciste […].“ Georges Didi-Huberman, L’image survivante: histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 96. Dazu auch Georges Didi-Huberman, „L’exorciste“, in: Relire Panofsky, hrsg. v. Matthias Waschek u. a., Paris 2008, S. 67–87. 47 Ausführlicher dazu Didi-Huberman, L’image survivante, S. 96–102. Zentral sind in diesem Zusammenhang Warburgs folgende Vorträge: Aby Warburg, „Dürer und die italienische Antike“, in: Verhandlungen der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Hamburg vom 3. bis 6. Oktober 1905, Leipzig 1906, S. 55–60, „Italienische Kunst und internazionale [sic!] Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara“, in: Atti del X. congresso internazionale di storia dell’arte in Roma. L’Italia e l’arte straniera, Rom 1922, Reprint Nendeln 1978, S. 179–193; sowie „Die italienische

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hat Didi-Huberman Panofskys Abhängigkeit von Ideen Warburgs und deren Simplifizierung herausgearbeitet.48 Für einen neuen Blick auf Panofsky stehen vorwiegend die Arbeiten von Audrey Rieber, Muriel van Vliet und Maud Hagelstein.49 Das um die Jahrtausendwende wachsende Interesse an Panofsky ist vor allem vor dem Hintergrund einerseits der Entdeckung von Panofskys verschollen geglaubter Habilitationsschrift im Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte50 und andererseits der allgemein verstärkten Rezeption seiner Schriften in der französischen Geisteswissenschaft, insbesondere der Philosophie, zu verstehen. Die Eigenheit dieser Rezeption besteht darin, dass sie, wie Rieber es in einem Gespräch formuliert hat, von Philosophen geprägt ist, „die gleichzeitig W. J. T. Mitchell, Gottfried Boehm und Erwin Panofsky lesen.“51

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Logos und Bild

Es war besonders der von W. J. T. Mitchell in einem Aufsatz von 1992 als „pictorial turn“52 bezeichnete Perspektivenwechsel innerhalb der kunst- bzw. bildwissenschaftlichen Forschung, der eine intensive „transdisziplinäre Bilddebatte“ auslöste, „die für zwei Jahrzehnte um die Jahrhundertwende im akademischen Feld tonan-

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Antike im Zeitalter Rembrandts“ (1926), in: Nachhall der Antike, vorgestellt v. Pablo Schneider, Zürich 2012, S. 69–101. Gerade an Panofskys Studie „Dürers Stellung zur Antike“, Wien 1922, sowie an dem zusammen mit Fritz Saxl verfassten Aufsatz „Classical mythology in mediaeval art“, in: Metropolitan Museum Studies 4/2 (1933), S. 228–280, lassen sich aufzeigen, wie Panofsky nicht nur in der Tradition der Warburg’schen Arbeiten weiterschreibt, sondern deren theoretische Fundierung geradezu auch umschreibt. Ausführlicher dazu Didi-Huberman, L’image survivante, S. 100. Audrey Rieber, Art, histoire et signification. Un essai d’épistémologie d’histoire de l’art autour de l’iconologie d’Erwin Panofsky, Paris 2012; dies., Rezension von Erwin Panofsky „Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels“, in: Revue Regard Croisés 5 (2016), S. 128–134; Muriel van Vliet, „L’histoire de l’art: un paradigme pour penser la logique des sciences de la culture? Autour des épistémologies d’Ernst Cassirer et de Michel Foucault“, in: Appareil 9 (2012), online: http://journals.openedition.org/appareil/1435 (letzter Zugriff: 21.09.2021); dies., „Rituel et mythe chez Warburg, Cassirer et Lévi-Strauss. La place du corps dans la pensée mythique“, in: Appareil, online: http://journals.openedition.org/appareil/2074 (letzter Zugriff: 21.09.2021); Maud Hagelstein, Origine et survivances des symboles: Warburg, Cassirer, Panofsky, Hildesheim 2014. Erwin Panofsky, Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels, Berlin 2014. „Aby Warburg und Erwin Panofsky im Wechselverhältnis: Ein Gespräch mit Steffen Haug und Audrey Rieber, Moderation Muriel Van Vliet“, in: Regards Croisés 8 (2018), S. 188–199, hier S. 194. W. J. T. Mitchell, „The pictorial turn“, in: Artforum, 30/7 (1992), S. 89–94.

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gebend war“,53 und zwar mit einer solchen Wirkungsmacht, die den Philosophen Alberto Martinengo dazu veranlasste, in dieser Wende zum Bild eine dritte Kopernikanische Revolution zu vermuten.54 Dem „pictorial turn“ stellte zwei Jahre später Gottfried Boehm den „iconic turn“ zur Seite,55 der – wie bei Mitchell – aus einer intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit Panofskys Theorie entsprang und die Notwendigkeit nach einer Neuorientierung in der Ikonologie beinhaltet, d. h. „den Logos des Bildes in seiner historischen, wahrnehmungsbezogenen und bedeutungsgesättigten Bedingtheit zu verstehen und auszulegen.“56 Ausgehend von einer kritischen Würdigung der Errungenschaften Panofskys, zielen sowohl Boehm als auch Mitchell darauf, das Vermächtnis Panofskys von dem „in der geisteswissenschaftlichen Tradition“ stark verbreiteten „‚ikonophoben‘ Logozentrismus“ zu befreien.57 Immerhin hat auch Mitchell Panofskys Ikonologie dafür kritisiert, dass sie „eine Ikonologie“ sei, „in der das ‚Ikon‘ durch und durch vom ‚Logos‘ absorbiert wird, der als rhetorischer, literarischer oder sogar (weniger überzeugend) als wissenschaftlicher Diskurs verstanden wird.“58

53 Beat Wyss, „Die Wende zum Bild: Diskurs und Kritik“, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, hrsg. v. Stephan Günzel und Dieter Mersch, Stuttgart/Weimar 2014, S. 7–15, hier S. 10. 54 Alberto Martinengo, „From the linguistic turn to the pictorial turn – hermeneutics facing the ‚Third Copernican Revolution‘“, in: Proceedings of the European Society for Aesthetics, Bd. 5, hrsg. v. European Society for Aesthetics, S. 302–312. 55 Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. Gottfried Boehm, München 4 2006, S. 11–38. Vgl. auch Gottfried Boehm, „Iconic Turn. Ein Brief “, in: Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, hrsg. v. Hans Belting, München 2007, S. 27–36. Siehe dazu auch ders., „Der stumme Logos. Elemente einer Bildwissenschaft“, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Institute for Advanced Study 2001/02, S. 188–208; und ders. „Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder“, in: Iconic Turn. Die Neue Macht der Bilder, hrsg. v. Christa Maar und Hubert Burda, Köln 2004, S. 28–43. 56 Boehm, „Iconic Turn. Ein Brief “, S. 31. 57 Wyss, „Die Wende zum Bild“, S. 11. Siehe auch Habbo Knoch, „Renaissance der Bildanalyse in der Neuen Kulturgeschichte. Beitrag zum H-Soz-u-Kult-Forum ‚Sichtbarkeit der Geschichte. Beiträge zu einer Historiographie der Bilder‘“, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-393 (letzter Zugriff: 21.09.2021). 58 „Panofsky’s is an iconology in which the ‚icon‘ is thoroughly absorbed by the ‚logos‘, understood as rhetorical, literary or even (less convincingly) a scientific discourse.“ W. J. T. Mitchell, Picture Theory, Chicago 1994, S. 28. Eine ganz ähnliche Kritik erfuhr die mit Panofskys Theorie verwandte Prämisse des französischen Kunsthistorikers Émile Mâle (1862–1954), wonach „das Mittelalter eine Leidenschaft für Ordnung“ hatte: „Es organisierte die Kunst, wie es zuvor das Dogma, das menschliche Wissen und die Gesellschaft organisiert hatte. [...] Die Kunst des Mittelalters ist zunächst eine heilige Schrift, deren Elemente jeder Künstler erlernen muss.“ („Le Moyen Âge eut la passion de l’ordre. Il organisa l’art comme il avait organisé le dogme, le savoir humain, la société. […] L’art du Moyen Âge est d’abord une écriture sacrée dont tout artiste doit apprendre les éléments“) Émile Mâle, L’art religieux du XIIIe siècle en France. Etude sur l’iconographie du Moyen Age et sur ses sources

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Aus einer solchen für das Ikonische eher krisenhaften Konstellation zieht Mitchell den Schluss, dass „eine kritische Ikonologie sicherlich den Widerstand des Ikons gegenüber dem Logos feststellen würde.“59 Die Tragweite einer solchen Erkenntnis zeigt beispielsweise ein Beitrag von Christian Heck über die mittelalterlichen illuminierten Handschriften De laudibus sanctae crucis (fertiggestellt 814) des Fuldaer Abtes Hrabanus Maurus (um 780–856) und De gradibus humilitatis (1124) von Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153).60 In beiden Manuskripten kann kaum mehr von einer eindeutigen Grenze zwischen Text und Bild gesprochen werden, wodurch zugleich die vermeintliche Bindung zwischen medialer Manifestation – Bild versus Text – und epistemischer Praxis (Figuratives versus Deskriptives) infrage gestellt wird. Mitchell, Boehm und andere betonen, dass das visuelle Objekt in erkenntnistheoretischer Hinsicht Sinn aus sich selbst zu generieren vermag. „Was der Satz (der ‚Logos‘) kann, das muß auch dem bildnerischen Werke zu Gebote stehen“61 – so Boehm in dem einflussreichen Aufsatz „Die Wiederkehr der Bilder“ von 1994. Dreizehn Jahre nach diesem Aufsatz unterstreicht Boehm seinen axiomatischen Grundsatz nochmals in einen offenen Brief an Mitchell: […] es ist … ganz offensichtlich, dass wir uns […] in der Einschätzung treffen, dass die Bilderfrage die Fundamente der Kultur berührt und an die Wissenschaft ganz neuartige Anforderungen stellt, die sich nicht – mir nichts, dir nichts – befriedigen lassen. Denn das ‚Bild‘ ist nicht irgend ein neues Thema, es betrifft vielmehr eine andere Art des Denkens, das sich imstande zeigt, die lange gering geschätzte kognitiven Möglichkeiten, die in nicht verbalen Repräsentationen liegen, zu verdeutlichen, mit diesen zu arbeiten.62

Solche und ähnliche Aussagen verkörpern die normative Vorstellung vom Bild als ein der Sprache gleichberechtigtes Merkmal der conditio humana, ungeachtet dessen ob visuelle Phänomene unabhängig von konkreten kulturellen Kontexten gedacht werden. Aus anthropologischer Sicht letztlich verdinglichen sich im Bild die

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d’inspiration, Paris 1925, S. 1–2. Zur Kritik vgl. Michael Camille, The Gothic Idol: Ideology and Image-Making in Medieval Iconogrpahy in Medieval Art, Cambridge 1989. „One thing a critical iconology would surely note is the resistance of the icon to the logos.“ Mitchell, Picture Theory, S. 28. Christian Heck, „Raban Maur, Bernard de Clairvaux, Bonaventure: expression de l’espace et topographie spirituelle dans les images médiévales“, in: The mind’s eye. Art and theological argument in the Middle Ages, hrsg. v. Jeffrey F. Hamburger und Anne-Marie Bouché, Princeton (NJ), 2006, S. 112–132. Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, S. 31. Boehm, „Iconic Turn. Ein Brief “, S. 27.

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dem Menschen eigenen instinktiven Bedürfnisse nach Darstellung, Repräsentation, Identifizierung, Inszenierung, Imagination und Erinnerung.63 Boehm und Mitchell unterscheiden sich allerdings in ihren Bildkonzepten signifikant. Bei Mitchell weitet der Fokus sich auf soziale und politische Fragen und konsequenterweise sind die Grenzen zwischen Kunstwerken im emphatischen Sinne und nicht-künstlerischen visuellen Objekten nicht mehr starr, wie beispielsweise seine 2011 publizierte wegweisende Studie Cloning Terror: The War of Images, 911 to the Present dokumentiert.64 Ein derart konturiertes Bildkonzept versteht das Bild „als Antwort auf die soziale Praxis und nicht nur als deren Gestaltung“65 und rückt in die Nähe jener Kategorie von Bild, die Jacques Rancière als „nacktes Bild“ bezeichnet hat, „das keine Kunst produziert“, aber durch die Idee definiert ist, dass darin „eine Spur der Geschichte und des Zeugnisses über eine Wirklichkeit“ enthalten sei, „von der man gemeinhin annimmt, daß sie keine andere Art der Präsentation tolerieren könnte.“66 Im Gegensatz zu Mitchell hält Boehm am künstlerischen Werk als dem erkenntnistheoretischen Paradigma fest. „Nicht-künstlerische Bilder“ sind bei Boehm „nur insofern relevant, als sie Anteil an den Eigenschaften des künstlerischen Bildes haben.“67 So bewegt sich Boehm in die Richtung der Frage „Was ist ein Bild?“68 ,

63 Dazu etwa Hans Belting, Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 7 2011. Das vielleicht eindrücklichste aktuelle Beispiel für den menschlichen Drang, sich die Welt visuell anzueignen, ist sicherlich die weltweit geteilte imaginäre Visualisierung des COVID19-Virus aus der Feder der medizinischen Illustratoren Alissa Eckart, Dan Higgins und ihrem Team am US Center of Disease Control and Prevention. Die Darstellung verlieh dem Virus nicht nur eine „Identität“, sondern wurde auch zu einer Ikone mit hohem Wiedererkennungswert sowie zur Vorlage ästhetischer Aneignung und Transformation, wofür etwa die Titelblatt-Illustration von Christoph Niemann (The New Yorker, 16.03.2020) ein beeindruckendes Beispiel bietet, ebenso wie die jüngsten Aquarelle von David S. Goodsell (https://ccsb.scripps.edu/goodsell/, letzter Zugriff: 21.10.2022). 64 W. J. T. Mitchell, Cloning Terror: The War of Images, 9/11 to the Present, Chicago 2011. Vgl. auch ders., „The Violence of Public Art: ‚Do the Right Thing‘“, in: Critical Inquiry, 16/4 (1990), S. 880–899. 65 „… as responding to, not simply shaping, social practice.“ Jeffrey F. Hamburger, Einleitung zu The mind’s eye, S. 6. 66 „… image nue: qui ne fait pas d’art […] la trace d’histoire, du témoignage sur un réalité dont il est communément admis qu’elle ne tolère pas d’autre forme de présentation.“ Jacques Rancière, Le destin des images, Paris 2003, S. 31–32. Deutsche Übersetzung nach Jacques Rancière, Politik der Bilder, Berlin 2005, S. 35–36. 67 Bernadette Collenberg-Plotnikov, Bild und Kunst. Zur Bestimmung des ästhetischen Mediums, S. 6. Online: https://docplayer.org/13324690-Bild-und-kunst-zur-bestimmung-des-aesthetischen-mediums.html (letzter Zugriff: 21.10.2022). 68 So der Titel einer von Gottfried Boehm erstmals 1994 herausgegebenen Sammelpublikation: Was ist ein Bild?, hrsg. v. Gottfried Böhm München 1994; dazu auch ders., „Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder,“ in: Iconic Turn. Die Neue Macht der Bilder, S. 28–43.

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während Mitchells Forschungsinteresse den Fokus nach anfänglichen ontologischen und allgemeinen erkenntnistheoretischen Fragestellungen69 zunehmend auf die Frage „What do pictures want?“ ausgerichtet hat.70 Diese erkenntnistheoretischen Unterschiede sind keineswegs von akzidentieller Bedeutung, was die in ganz unterschiedliche Richtungen sich entwickelnden jüngsten kritischen Reflexionen mit bildwissenschaftlichen Aspekten und Themen und damit korrespondierenden methodischen Ansätzen deutlich belegen.71 Und ihr Verständnis ist auch für die theoretische Orientierung musikikonographischer Forschung relevant, was sich mitunter in unterschiedlichen Zugriffen manifestiert, etwa der eher sozialund kulturkritischen Perspektive in den Studien von Richard Leppert72 und der eher an erweiterten kunsthistorischen und organologischen Prämissen orientierten Arbeiten von Florence Gétreau.73

69 W. J. T. Mitchell, „What is an image?“, in: New Literary History, 15/3 (1984), S. 503–537; ders., Iconology: Image, Text, Ideology, Chicago 1986. 70 W. J. T. Mitchell, What do pictures want? Chicago 2005. Dazu auch ders., Picture Theory. 71 Dazu beispielsweise Iconic Turn. Die Neue Macht der Bilder; Studien zur visuellen Kultur. Einführung in eine transdisziplinäres Forschungsfeld, hrsg. v. Sigrid Schade und Silke Wenk, Bielefeld 2011; Bredekamp, Theorie des Bildakts; Sigrid Weigl, Grammatologie der Bilder, Berlin 2015. 72 Dazu beispielsweise Richard Leppert, „Music, domestic life, and cultural chauvinism: images of British subjects at home in India“, in: Music and Society: the politics of composition, and representation, hrsg. v. Richard Leppert und Susan McClary, Oxford/New York 1987, S. 63–104; ders., „Music, representation, and social order in early-modern Europe“, in: Cultural Critique 12 (1989), S. 25–55; ders., Music and image: domesticity, ideology and socio-cultural formation in eighteenth-century England, Cambridge 1993; ders., The sight of sound: music, representation, and the history of the body. Berkeley (CA) 1995; ders., Art and the committed eye: the cultural functions of imagery, Boulder (CO) 1996; ders., „Seeing music“, in: The Routledge Companion to Music and Visual Culture, hrsg. v. Tim Shephard und Anne Leonard, New York 2014, S. 7–12; ders., „A sound world seen“, in: The art of music, hrsg. v. Patrick Coleman, New Haven (CT) 2015, S. 61–86, ders., Aesthetic technologies of modernity, subjectivity, and nature: opera, orchestra, phonograph, film, Oakland (CA) 2015. 73 Etwa Florence Gétreau, „Les ensembles de violons en France à travers les sources visuelles (1650–1715)“, in: L’orchestre à cordes sous Louis XI: instruments, répertoires et singularités, hrsg. v. Jean Duron und Florence Gétreau, Paris 2015, S. 65–91; dies., Voir la Musique, Paris 2017; dies., „The portrait of a violist and a young lady: seeking their identity and paternity“, in: Music cultures in sounds, chords and images: essays in honor of Zdravko Blažeković, hrsg. v. Antonio Baldassare und Tatjana Marković, Wien 2018, S. 517–534; dies., „Omnia Vanitas: Peter Claesz in Haarlem, Paris and Nuremberg“, in: Hinter den Tönen: Musikinstrumente als Forschungsgebiet. Festschrift für Friedemann Hellwig zu seinem 80. Geburtstag, hrsg. v. Eszter Fontana u. a. Nürnberg 2018, S. 115–119; dies., „Deux couvercles de clavecins des ateliers Ruckers au siècle de Rubens“, in: Rubens et la musique, hrsg. v. Céline Drèze und Fabien Guilloux, Turnhout 2019, S. 137–181; dies., „Images des cirques parisiens comme lieu de concerts dans la seconde moitié du XIXe  siècle: exprimer le gigantisme, la prolifération et le vertige par la miniaturisation dans la presse illustrée et la stylisation dans la peinture d’avant-garde“, in: Music in figurative arts in the nineteenth century, hrsg. v. Roberto Illiano, Turnout, 2020, S. 113–149.

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4.

Sprachlosigkeit der Bilder

Im Kontext einer Theoriebildung ist auch die inspirierende und zugleich beunruhigende Herausforderung der erkenntnistheoretisch höchst relevanten Idee von der prinzipiellen Sprachlosigkeit der Bilder bzw. des generellen Unvermögens von Bildern, narrative Dimension zu entfalten, ernsthaft und unvoreingenommen zu reflektieren. Sarah Kofman stellte in diesem Zusammenhang die These auf: Ohnehin ist es nicht das Bild, das einen ‚Diskurs führt‘. Ein Bild will nichts aussagen. Wenn das sein Vorhaben wäre, wäre es tatsächlich dem Wort unterlegen und müsste von der Sprache ‚aufgehoben‘ werden, um eine Bedeutung, und klare mitteilbare Bedeutung zu erhalten.74

Auf ähnliche Weise insistiert bereits Jean-François Lyotard darauf, dass „man nicht malt, um zu sprechen, sondern um zu schweigen.“75 Kofman und Lyotard opponieren, ebenso wie Jacques Derrida,76 gegen die Vorstellung, dass das Bild bloßes Vehikel eines stummen Diskurses ist, der in Worte übersetzt werden kann bzw. – um mit Panofsky zu denken – dessen „immanenter Sinn“ („intrinsic meaning“) durch analytische Operationen sich erschließen lässt. Dass es sich bei der Vorstellung von der Sprachlosigkeit des Bildes keineswegs um eine postmoderne Phantasmagorie handelt, mag die theoretische Erkundung Theodor W. Adornos über etruskische Vasen verdeutlichen, die sich in der Ästhetischen Theorie findet, die bekanntlich viele kennen, aber – wie Karl Marx’ Kapital – kaum einer je gelesen hat. Etruskische Krüge in der Villa Giulia sind sprechend im höchsten Maß und aller mitteilenden Sprache inkommensurabel. Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos, ihr sprachloses Moment hat den Vorrang vor dem signifikativen der Dichtung, das auch der Musik nicht ganz abgeht. Das Sprachähnliche an den Vasen berührt sich am ehesten mit

74 „Aussi bien n’est-ce pas le tableau qui ‚discourt‘. Un tableau ne veut rien dire. Si tel était son projet il serait effectivement inférieur à la parole et aurait besoin d’être relevé par le langage pour recevoir un sens et un sens clairement communicable.“ Kofman, La mélancolie de l’art, S. 22. Deutsche Übersetzung: Kofman, Melancholie der Kunst, S. 21 (Hervorhebungen im Original). 75 „… on ne peint pas pour parler, mais pour se taire …“ Jean-François Lyotard, „Freud selon Cézanne“ (1971), in: Des dispositifs pulsionnels, Paris 1973, S. 67–88, hier S. 88. Dazu auch Bernard Vouilloux, „La peinture dans la rumeur du langage“, in: Images Re-vues 5 (2016), S. 1–19. 76 Jacques Derrida, La vérité en peinture, Paris 1978, S. 23, 133, 178.

Musik im Blick

einem Da bin ich oder Das bin ich, einer Selbstheit, die nicht erst durchs identifizierende Denken aus der Interdependenz, des Seienden herausgeschnitten ward.77

Adorno könnte man – wenn man denn wollte – vieles vorwerfen, aber gewiss nicht, dass er mit postmodernen Ideen geliebäugelt hätte. Vielmehr bekommt die Sprachlosigkeit der Kunst im angeführten Zitat einen anderen Sinn. Es verweist auf die mit der Moderne offenkundig gewordene dialektische Spannung zwischen mitteilender Sprache, der Sprache als Medium, und einer in Kunst verdinglichten „Chiffrensprache“, „die das Unsagbare der Sprache von Natur imitiert“78 bzw. verweist es auf die „nichtbegriffliche Sprache“ der Kunst, die danach trachtet, die stumme Sprache der Natur mit den nur der Kunst immanenten Mitteln „zum Sprechen zu bringen.“79 „Sprachlos“ ist Kunst nach Adorno, weil sie nach Ausdruck und Bedeutung drängt, allerdings nicht im Sinne eines rationalen Akts der begrifflichen Bestimmung bzw. Klarheit oder der Nachahmung von Natur an sich, sondern als Akt der „Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist,“80 und zwar durch Zurücknahme der Kunst auf sich selbst. Als Resultat dieses Prozesses entsteht „begriffslose Erkenntnis“81 bzw. entstehen Kunstwerke verstanden als Monade – als Ergebnis eines „stillgelegten, kristallisierten, immanenten Prozesses“82 . Gleichwohl reichen Kunstwerke „verflochten mit Geschichte und Gesellschaft“ über das „Monadische (hinaus), ohne dass sie Fenster hätten.“83 Adorno geht es um den im „guten“, d. h. „wahren“ Kunstwerk84 verdinglichten und sichtbaren Bruch zwischen der gegenwärtigen Gesellschaft und einer potentiell immer möglichen anderen Gesellschaft. Denn Kunst ist „als ein Versuch“ zu verstehen, eine „Sondersphäre herzustellen und in dieser Sondersphäre dem Unterdrückten, dem also, was nicht

77 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (1970), in: Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt am Main 1997, S. 171. 78 Ebd., S. 114. 79 Ebd., S. 121. 80 Ebd., S. 113. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorimsen, Wiesbaden 1959, S. 94. 81 Martin Zenck, Kunst als begriffslose Erkenntnis: Zum Kunstbegriff der ästhetischen Theorie W. Adornos, München 1977. 82 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 268. 83 Ebd., S. 268. 84 „Der Begriff eines schlechten Kunstwerks hat etwas Widersinniges: wo es schlecht wird, wo ihm seine immanente Konstitution misslingt, verfehlt es seinen Begriff und sinkt unter das Apriori der Kunst herab. In der Kunst sind relative Werturteile, Berufung auf Billigkeit, Geltenlassen von halb Gelungenem, alle Excusen des gesunden Menschenverstandes, auch der Humanität, schief: ihre Nachsicht schadet dem Kunstwerk, indem sie stillschweigend seinen Wahrheitsanspruch kassiert.“ Ebd., S. 246.

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Ratio ist, zu seiner Stimme zu verhelfen.“85 Das Kunstwerk hält die „Negativität der Realität fest und bezieht zu ihr Stellung.“86 Ivan Nagel schließlich argumentierte entschieden gegen die Auffassung vom narrativen Potential von Bildern: „Die altverehrte, wieder modisch gewordene These, dass ‚Bilder erzählen‘, stammt vom ersten und bleibendsten Sündenfall der europäischen Ästhetik der Malkunst ab.“87 Dieser vermeintliche Sündenfall nahm – nach Nagel – seinen Ausgang in dem von Plutarch dem Simonides von Keos zugeschriebenen Ausspruch, wonach die Malerei stumme Dichtung und die Dichtung sprechende Malerei sei.88 Die Tradierung dieser Idee geschah nicht widerspruchslos89 und sah Variationen und Modifikationen in der gesamten abendländischen Ideengeschichte von Horaz bis Hegel vor,90 die maßgeblich zum Primat des Verbalen über das Non-Verbale bzw. der Sprache über das Bild beitrug. In der jüngeren Diskussion über Bilddiskurse hat Karin Knorr Cetina mit dem Konzept des „Viskurses“ einen neuen und anregenden Ansatz präsentiert, der zwar eine Verschiebung

85 Theodor W. Adorno, Ästhetik (1958/59), in: Nachgelassene Schriften, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 3, hrsg. v. Eberhard Ortland, Frankfurt am Main 2009, S. 83–84. 86 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 25. 87 Ivan Nagel, Gemälde und Drama: Giotto, Masaccio, Leonardo, Frankfurt am Main 2009, S. 15–16 (Hervorhebungen im Original). 88 „πλὴν ὁ Σιμωνίδης τὴν μὲν ζωγραφίαν ποίησιν σιωπῶσαν προσαγορεύει, τὴν δὲ ποίησιν ζωγραφίαν λαλοῦσαν.“ Plutarch, De gloria Atheniensium, 346–347. Vgl. dazu Gabriele K. Sprighat, „Das Dictum des Simonides. Der Vergleich von Dichtung und Malerei“, in: Poetica 36/3–4 (2004), S. 243–280. 89 Dies belegt schon Leonorado da Vincis Haltung: „Se tu dimanderai la pittura muta poesia, ancora il pittore potrà dire la poesia orba pittura. Or guarda qual è piú dannoso mostro, o il cieco, o il muto?“, Leonardo da Vinci, Trattato della Pittura, parte prima, § 15 Come la pittura avanza tutte le opere umane per sottili speculazioni appartenenti a quella, ca. 1480–1516 (Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Urbinus Latinus 1270), zitiert nach der Ausgabe Leonardo da Vinci: Trattato della Pittura. Condotto sul Cod. Vaticano Urbinate 1270, hrsg. v. Ettore Camesasca, Vicenza 1995, S. 12. Es ist allerdings relevant darauf hinzuweisen, dass dieser Text bis 1817 kaum bekannt war, da er nur in Manuskriptform greifbar war; siehe dazu Henryk Markiewicz, „Ut pictura poesis: a history oft he topos and the problem“, in: New Literary History 18 (1987), S. 535–558, hier S. 538. 90 Genannt seien etwa Horaz’ „Ut pictura poesis“, Horace, Ars Poetica, l. 361, Gotthold Ephraim Lessings wegweisender Essay Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte (1776), Stuttgart 1994, sowie die ästhetischen Konzepte von Immanuel Kant in Kritik der Urteilkraft (1790), Frankfurt am Main 1974, § 53, S. 265–277, und von Georg Wilhelm Friedrich Hegel in: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 13–15, Werke in Zwanzig Bänden. Frankfurt am Main 1986; in Bd. 15, S. 94–95 definiert Hegel „Verständlichkeit“ als das oberste Gesetz der Malerei.

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Abb. 1 Andrea Mantegna, Die Grablegung Christi, vor 1475, Kupferstich und Kaltnadel, 29,0 × 41,6 cm. New York: Metropolitan Museum of Art (Inv.-Nr. 37.42.30).

im Text-Bild-Verhältnis markiert, das Bild aber nicht gänzlich von der Sprache abkoppelt und daher implizit seine Sprachlosigkeit untermauert.91 Die Ansicht, dass visuelle Objekte nicht fähig seien, eine Geschichte zu erzählen, scheint sich durch bestimmte Beispiel bestätigen zu lassen, insbesondere durch solche, die sprachliche Mittel explizit verwenden, wie etwa die Integration von Texten oder Sprechblasen und Sprachrollen sowie Bildunterschriften.92 Beispielhaft dafür ist der vor 1475 entstandene Kupferstich Die Grablegung Christi von Andrea Mantegna (1431–1506) mit der in der Tradition der antiken Epigraphik stehenden Inschrift „HVMANI GENERIS REDEMPTORI“. Eine solche Technik war keineswegs auf visuelle Kulturen und Traditionen des Westens beschränkt. Man findet sie bereits im vorkolumbianischen Mittelamerika. Ein bemerkenswertes Beispiel bietet etwa die Wandmalerei im Wohnkomplex

91 Karin Knorr Cetina, „‘Viskurse‘ der Physik. Konsensbildung und visuelle Darstellung“, in: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, hrsg. v. Bettina Heintz und Jörg Huber, Zürich 2001, S. 305–320. 92 Ausführlicher dazu Christof L. Diedrichs und Carsten Morsch, „Bewegende Bilder: Zur Bilderhandschrift des Eneasromans Heinrichs von Veldeke in der Berliner Staatsbibliothek“, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hrsg. v. Horst Wenzel und Stephen C. Jaeger, Berlin 2006, S. 63–89.

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Abb. 2 Wandgemälde, Tepantitla (Detail), Nr. 3, Der Regengott Tlaloc in der Überwelt, zwischen 100 v. u. Z. und 700 u. Z., Fresko auf Gips. Archäologische Stätte von Teotihuacán, Mexiko.

Tepantitla von Teotihuacán im heutigen Mexiko, der größten Stadt Mesoamerikas während der sogenannten klassischen Epoche. Die Wandbilder zeigen zwanzig Sprechrollen ohne spezifische sprachliche Angaben in Fresko-Technik auf Gips.93 Das Hinzufügen einer in der Tradition der mittelalterliche Tituli94 stehenden Titels – der in vielen Fällen nicht von der Künstlerin bzw. dem Künstler autorisiert ist, sondern vielmehr durch Museumskurator:innen, Auktionär:innen Kunsthändler:innen und Wissenschaftler:innen dem Objekt hinzugefügt wurde, oftmals veranlasst durch einen unmerklichen Zwang, das Bild zum Sprechen zu bringen, gehört zu den Strategien, den Frei- bzw. Leerraum zwischen der figurativen Ordnung des Bildes und der diskursiven der Sprache zu überbrücken – eine Praxis, worüber sich

93 Edwin R. Littmann, „The physical aspects of some Teotihuacán murals“, in: The mural painting of Teotihuacan, hrsg. v. Arthur G. Miller, Washington D.C. 1973, S. 175–189; Hasso von Winning, La iconogafía de Teotihuacan: Los dioses y los signos, 2 Bände, Mexiko-Stadt 1987; La Pintura Mural Prehispánica en México I: Teotihuacán, hrsg. v. Beatriz de la Fuente, Mexiko-Stadt 1996; Pierre Robert Colas, „Writing in space: glottographic and semasiographic notation at Teothihuacan“, in: Ancient Mesoamerica 22/1 (2011), S. 13–25. 94 Dazu Nicolas Bock, De titulis: zur Vorgeschichte des modernen Bildtitels, Berlin 2017.

Musik im Blick

bekanntlich noch Pablo Picasso mokierte, wenn er sich gemäß Antonina Vallentin folgendermaßen äußerte: Es sind keine Symbole, die ich mir vorgenommen hatte zu malen. Ich hatte einfach Bilder gemalt, die vor meinen Augen erschienen: Es liegt an anderen, einen verborgenen Sinn darin zu finden. Für mich spricht ein Bild für sich selbst. Was nützt es, nachträglich Erklärungen hinzuzufügen? Ein Maler hat nur eine Sprache.95

Trotzdem sind Titel nicht nur die naheliegendste Strategie, um Bilder mit Bedeutung aufzuladen und deren Rezeption zu lenken, sondern dienen auch dazu, visuelle Objekte in einen bestimmten kulturellen, politischen oder sozialen Kontext einzuordnen, was besonders dann deutlich wird, wenn sich zugeschriebene Titel im Laufe der Zeit ändern.96 Titel haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, wie visuelle Objekte gesehen, wahrgenommen und interpretiert werden.97 Unter den fünf von Heinrich Besseler (1900–1969), dem Leipziger Ordinarius für Musikwissenschaft, 1956 als echte Porträts von Johann Sebastian Bach (1685–1750) eingestuften Bildern98 befindet sich auch jenes vermutlich von Johann Ernst Rentsch d. Ä. (gest. 1723) gemalte und erst 1877 auf einem Erfurter Dachboden gefundene Bildnis eines jungen Mannes, dessen Authentizität als Bach-Porträt schon länger bezweifelt wurde,99 was Besseler bzw. den Bärenreiter Verlag aber nicht daran gehindert hatte, es als Titelbild für die Publikation zu verwenden – übrigens erwiesen sich letztlich alle von Besseler als echt deklarierten Bildnisse als nicht authentisch. Dennoch wird das Porträt jenes jungen Mannes weiterhin für Bücher und Tonträger verwendet.100 95 „Ce ne sont pas des symboles que je me suis proposé de peindre. J’ai peint simplement des images qui surgissaient devant mes yeux: à d’autres d’y trouver un sens caché. Pour moi, un tableau parle de lui-même. A quoi bon y ajouter après-coup des explications? Un peintre n’a qu’un seul langage.“ Antonina Vallentin, Pablo Picasso, Paris 1957, S. 42. 96 Ruth Bernard Yeazell, Picture titles: how and why Western painting acquired their names, Princeton (NJ) 2015. 97 Dazu etwa Margery B. Franklin u. a., „The influence of titles on how paintings are seen“, in: Leonardo 26/2 (1993), S. 103–108. 98 Heinrich Besseler, Fünf echte Bildnisse Johann Sebastian Bachs, Kassel/Basel 1956. 99 Vgl. dazu Georg von Dadelsen, Rezension „Fünf echte Bildnisse Johann Sebastian Bachs von Heinrich Besseler; Probleme des Bachporträts von H. O. R. Baron van Tuyll van Serooskerken“, in: Die Musikforschung 10/2 (1957), S. 314–320. Dazu auch Christopher Wolff et al., Bach: eine Lebensgeschichte in Bildern, Kassel 2017. 100 Dazu beispielsweise Hans Rudolf Jung, Johann Sebastian Bach in Weimar, 1708 bis 1717: Tradition und Gegenwart, Weimar 1985; Konrad Küster, Der junge Bach, Stuttgart, 1996; Hans Maier, Die Orgel: Instrument und Musik, München 2013; Johann Sebastian Bach – Brandenburgische Konzerte 3 & 4, Neues Bachisches Collegium Musicum – Max Pommer, CAPRICCIO/LC 5624, 1988; Johann Sebastian Bach, Franz Liszt, Max Reger – Romantischer Bach, Quantaphon 20.299, 1994; Bach

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Abb. 3 Titelbild von Heinrich Besseler, Fünf echte Bildnisse Johann Sebastian Bachs, Kassel u. Basel 1956.

– Early Organ Works – Harald Vogel, Naxos, 2012. Siehe zu diesem Themenkomplex Christoph Wolff, „Images of Bach in the Perspective of Basic Research and Interpretative Scholarship“, in: The Journal of Musicology 22/4 (2005), S. 503–520. Ein anderes beeindruckendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist ein Porträt eines Cellospielers aus dem 18. Jahrhundert, das sich seit 1962 in der National Gallery of Victoria in Melbourne befindet. Weder die Autorenschaft des Gemäldes noch die Identität des Künstlers sind bis heute restlos geklärt, und dennoch findet sich auf der Objektbeschriftung der Hinweis, dass es sich um ein Porträt von Luigi Boccherini (1743–1805) handeln solle; und so erstaunt es denn auch kaum, dass trotz des aktuellen Forschungsstand, der eine solche Zuschreibung noch immer nicht eindeutig belegen kann, weiterhin an dieser Zuschreibung festgehalten wird. Vgl. dazu Mark Shepheard, „‚Will the real Boccherini please stand up‘: New light on an eighteenth-century portrait in the National Gallery of Victoria“, in: Melbourne Art Journal 9/10 (2006–07), S. 172–193; Hans Reiners, „Barockbögen“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung (SIM) Preußischer Kulturbesitz 2000, S. 289–309, hier S. 301.

Musik im Blick

Abb. 4 René Magritte, La trahison des images (Ceci n’est pas une pipe), 1929, Öl auf Leinwand, 63,5 × 93,98 cm. Los Angeles: Los Angeles County Museum of Art (Inv.-Nr.: 78.7).

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„Écart“ – Eigenleben – Blicke

Kofman bezeichnete den offenen Raum zwischen der figurativen und diskursiven Ordnung mit dem Wort „écart“, das im Französischen sowohl ein Verhältnis der Distanz als auch der Differenz bezeichnet. Wie gezeigt kann nach Kofman und anderen Vertreter:innen des Poststrukturalismus dieser Raum durch nichts ausgefüllt werden.101 Vielleicht bietet ein Gemälde von René Magritte (1898–1967) mit dem vom Künstler autorisierten Titel La trahison des images das wohl provokativste und zugleich bekannteste Beispiel für Kofmans „écart“, indem das Gemälde gleichsam das kritische Verhältnis zwischen dem Objekt als Medium, seiner deskriptiven Benennung und seiner visuellen Repräsentation erkundet. Kaum erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass Michel Foucault dieses Gemälde als Ausdruck von Magrittes visuell inszenierter Sprachkritik gedeutet hat.102

101 Kofman, La mélancolie de l’art, S. 22. 102 Michel Foucault, Ceci n’est pas une pipe: Sur Magritte, Montpellier 1973.

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Die in Szene gesetzte Inkommensurabilität zwischen figurativen und diskursiven Elementen in Magrittes Gemälde ist eine für visuelle Objekte charakteristische Dimension oder Ebene, die als „semiotische Störung“ gefasst werden kann; am effektivsten und häufigsten wird sie in der Werbung eingesetzt. Solche semiotischen Störungen – die nicht mit den Formen der Pathosemiotik verwechselt werden dürfen103 – resultieren nicht nur aus der inkommensurablen Beziehung figurativer und diskursiver Elemente oder dem Aufeinanderprallen zweier ganz unterschiedlicher figurativer Zeichenregime (wie sie Serge Gruzinski in seiner bahnbrechenden Studie über die Rolle und Funktion von Bildern im kolonialen Mexiko dargestellt hat)104 , sondern können sich auch auf der Ebene des rein figurativen Regimes in einem einzelnen visuellen Objekt ereignen: Dann liegt eine im Bild immanente Störung des aus den figurativen Einzelelementen geformten Zeichensystems oder des durch die „visual literacy“ erzeugten Erwartungshorizonts vor.105 Mit Blick auf solche Fragen und Aspekte der Theoriebildung bringt schließlich Horst Bredekamp eine weitere Dimension ins Spiel, wenn er die Herausforderung von Bildern im Doppelspiel zwischen „Anorganik und Eigenleben“ verortet.106 Allerdings ist die Hypothese vom Eigenleben von Bildern beziehungsweise einer ihnen inhärenten „rhetorischen Kraft“107 eine äußerst verschlungene Angelegenheit, deren Komplexität in den unterschiedlichen Perspektiven besteht, die auf Bilder gerichtet werden. Dass Bildern ein Wollen, ja sogar Propaganda eingeschrieben sein kann, zeigt sich beispielsweise auf der Titelseite der Musikzeitschrift The Etude Music Magazine für die Ausgabe vom August 1924. Die Zeitschrift wurde während ihrer langen Erscheinungszeit von 1883 bis 1957 vor allem von privat unterrichtenden Klavierlehrerinnen gelesen und hatte sowohl auf deren Unterricht als auch deren kulturpolitische Ansichten einen starken Einfluss.108 Die Ablehnung des Jazz manifestiert sich in einer eindeutigen visuellen Sprache: Wie eine Bombe schlägt „The Jazz Problem“ auf einen roten Grund auf, in dem ungeordnet charakteristische Jazzinstrumente herumliegen. Jazz wird als Problem für die abendländische Musikkultur konstruiert und visuell als Bedrohung für die (weiße) amerikanische Kultur inszeniert. In dem von James Francis

103 Dazu ausführlicher Günter Peuser, Sprachstörungen: Einführung in die Patholinguistik, Stuttgart 2000. 104 Serge Gruzinski, La guerre des images, Paris 1990. 105 Vgl. die Studie eines Porträts von Ludwig XIV. in Antonio Baldassarre, „The jester of musicology, or The place and function of music iconography in institutions of higher education“, in: Music in Art 35/1–2 (2010), S. 9–35, hier S. 14–16. 106 Bredekamp, Theorie des Bildaktes, S. 21. 107 Ebd., S. 22. 108 Wm. Keith Heimann, Evil at a Glance: The Etude Educational Cartoons from The Etude Music Magazine. Dissertation, Boston University 2019.

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Abb. 5 William S. Nortenheim, „The Jazz Problem“, Lithographie, Titelseite The Etude Music Magazine 42/8 (1924).

Cooke, dem Chefredaktor von The Etude, verfassten Editorial mit dem Titel „Where The Etude stands on Jazz“ wird dieser Standpunkt auch mit deutlichen Worten dargelegt. In seiner ursprünglichen Form hat er [= der Jazz] keinen Platz in der musikalischen Ausbildung und verdient auch keinen. Er wird noch viele Male umgestaltet werden müssen, bevor er sich für die Walhalla der Musik qualifiziert. [...] Weil ‚The Etude‘ weiß, was ihr sehr großes Publikum von sehr wachen Lesern über alle musikalischen Leitfragen zu wissen wünscht, legt sie in dieser Hochsommerausgabe die wichtigsten Meinungen zu diesem Thema vor, die bisher veröffentlicht wurden. Wir haben gerade die ‚Jazzmania‘ aufgegriffen und verabschieden sie mit dieser Ausgabe.109

109 „In its original form it has no place in musical education and deserves none. It will have to be transmogrified many times before it can present its credentials for the Walhalla of music. […]

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So sehr das Bild „The Jazz Problem“ einen Standpunkt visualisiert (indem es die für die Textkohärenz wesentlichen Parameter – wie etwa logische und lineare Argumentationsketten, Ursache-Wirkung Zusammenhänge usw. – in eine „Ordnung des Zeigens“ mit einer „affirmativen Struktur der Evidenz“ überführt)110 , so sehr bedarf es der Betrachtung bzw. der Entgrenzung über seine rein mediale Daseinsform, die durch das Betrachten geleistet wird. Denn „Bilder entstehen“, wie Hans Belting herausgearbeitet hat, „diesseits des Mediums, in unserem Blick. Sie lassen sich weder alleine ‚dort‘, auf Leinwand oder Foto, noch ‚hier‘ im Kopf des Betrachters verorten. Der Blick erzeugt die Bilder im Intervall zwischen hier‘ und dort‘.“111 Das aktive Schauen ist eine fundamentale Voraussetzung jeder Art der Bildproduktion, -rezeption und -reflexion.112 Damit erweist sich der Blick bzw. das Sehen als der eigentliche Agent, der eine Begegnung zwischen Betrachtung und

Because ‚The Etude‘ knows what its very large audience of wide-awake readers desires to keep informed upon informed about all leading musical questions, it presents in this midsummer issue the most important opinions upon the subject yet published. We have just taken up the ‚Jazzmania‘ and dismiss it with this issue.“ James Francis Cooke, „Where The Etude stands on Jazz“, in: The Etude Music Magazine 42/8 (1924), S. 515. Wie sehr der Jazz als Bedrohung der moralischen Werte der weißen amerikanischen Kultur empfunden wurde, bekundet sich in einem ebenfalls aus der Feder von Cook stammenden und einige Monate früher publizierten Beitrag mit dem Titel „What’s the matter with Jazz“: „First, Jazz, at its worst, is an unforgivable orgy of noise, a riot of discord, usually perpetrated by players of scant musical training who believe that their random whoops, blasts, crashes and aboriginal tomtoming is something akin to genius. Second, Jazz, at its worst, is often associated with vile surroundings, filthy words, unmentionable dances and obscene plays with which respectable Americans are so disgusted that they turn with dismay at the mere mention of ‚Jazz,‘ which they naturally blame for the whole fearful caravan of vice and near-vice.“ („Erstens ist Jazz in seiner schlimmsten Form eine unverzeihliche Lärmorgie, ein Aufruhr der Zwietracht, der meist von Musikern mit geringer musikalischer Ausbildung begangen wird, die glauben, dass ihr wahlloses Poltern, Knallen, Krachen und eingeborenes Getrommel so etwas wie Genie ist. Zweitens wird der Jazz in seiner schlimmsten Form oft mit einer abscheulichen Umgebung, schmutzigen Worten, nicht zu erwähnenden Tänzen und obszönen Stücken in Verbindung gebracht, die den ehrbaren Amerikanern derart zuwider sind, dass sie bei der bloßen Erwähnung von ‚Jazz‘ sich angewidert abwenden und ihn selbstredend für die ganze schreckliche Karawane an Laster und Beinahe-Laster verantwortlich machen.“) James Francis Cooke, „What’s the matter with Jazz?“ in: The Etude Music Magazine 42/1(1924), S. 6. 110 Martina Heßler und Dieter Mersch, „‚Bildlogik‘ oder Was heißt visuelles Denken?“, in: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, hrsg. v. dies., Bielefeld 2009, S. 8–62, hier S. 12–30. 111 Hans Belting, „Blickwechsel mit Bildern“, in: Bilderfragen, S. 49–75, hier S. 59 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch Daria Pezzoli-Olgiati, „Sichtbare Religion: Bilder, Blicke und Visualität als Grundthemen der Religionswissenschaft“, in: Swiss Academies Communications, 11/6 (2016), S. 18–24. 112 Einen phänomenologisch sowie epistemologisch äußerst interessanter Bereich bilden alle Fragen um die Bildproduktion und -rezeption sehbehinderter und blinder Menschen, die im kunst- und bildwissenschaftlichen Bereich kaum Beachtung findet.

Musik im Blick

betrachtetem Medium vermittelt, da mit dem Sehen die kognitive Leistung zur doppelten Abstraktion gekoppelt ist, und zwar die Absetzung des in-sich-selbstbeschlossenen Gegenstandes vom affektiven Zustand der Empfindung, und die Wahrung seiner Identität und Einheit über die ganze Spannweite seiner möglichen Transformationen der Erscheinung, deren jede bereits in sich eine synthetisch-simultane Mannigfaltigkeit ist.113

Ein solcher Standpunkt ist eine grundlegende Herausforderung an die traditionelle, objektbezogene Musikikonographie, da er zu einem eigentlichen Perspektivenwechsel drängt: von einer Ikonologie des Objekts zu einer auf den Blick gerichteten visuellen Epistemologie.114 Damit verbunden ist das Wissen darum, dass im Bild nie der ursprüngliche Gegenstand, sondern immer nur dessen Repräsentation wahrgenommen werden kann115 , und dass „in jedem Akt des Sehens die Erwartung von Bedeutung [liegt]“, wobei diese Erwartung von dem Wunsch nach einer Erklärung zu unterscheiden [ist]: Derjenige, der schaut, mag vielleicht hinterher erklären; aber vor jeder Erklärung steht die Erwartung dessen, was die Erscheinungen selbst offenbaren könnte.116

113 Hans Jonas, „Homo pictor und die differentia des Menschen“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 15/2 (1961), S. 161–176, hier S. 171. 114 Vgl. Schade/Wenks Konzept des „Zu-Sehen-Gebens“ in der Einleitung dieses Bandes, S. 14 f. Diese Überzeugung von einem solchen Perspektivenwechsel hat sich spätestens mit einer eingehenden Auseinandersetzung der unterdessen in den Status einer Ikone erhobenen Fotografie von Pete Souza gefestigt. Sie zeigt Präsident Barack Obama und Vizepräsident Joe Biden mit Mitgliedern des National Security Teams im Situation Room des Weißen Hauses in Washington D.C., wie sie den Ereignissen vom 1. Mai 2011 auf einem nicht sichtbaren Monitor folgen, die zur Tötung von Osama Bin Laden durch ein amerikanisches SEAL-Team führte – eine Fotografie, die auf einzigartige Weise das Sehen an sich inszeniert. Dazu Antonio Baldassarre, „The politics of images: considerations on French nineteenth-century Orientalist art (ca. 1800 – ca. 1880) as a paradigm of narration and translation“, in: Narrated communities – narrated realities: narration as cognitive processing and cultural practice, hrsg. v. Hermann Blume u. a., Leiden/Boston 2015, S. 185–247, hier besonders S. 210–212. 115 Dazu auch Jonas, „Homo pictor und die differentia des Menschen“, S. 172–174. 116 „In every act of looking there is an expectation of meaning. This expectation should be distinguished from a desire for an explanation. The one who looks may explain afterwards; but, prior to any explanation, there is the expectation of what appearances themselves may be about to reveal.“ John Berger und Jean Mohr, Another way of telling, New York 1982, S. 117 (Hervorhebung im Original).

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Antonio Baldassarre

6.

„Picture“ und „Image“

Gerade deshalb erweist sich die in vielen Kultursprachen auch sprachlich deutlich markierte Differenzierung, dass bei der Betrachtung eines Bildes immer zwei Agenten im Spiel sind, als äußerst relevant. Denn die Unterscheidung zwischen dem, was beispielsweise im Englischen mit „picture“ bzw. „image“ bezeichnet wird, ist in theoretischer Hinsicht belangvoll. Die Unterscheidung betrifft – wie Mitchell ausführt – den Unterschied zwischen einem konstruierten konkreten Objekt oder Ensemble (Rahmen, Träger, Materialien, Pigmente, Aufbau) und der virtuellen, phänomenologischen Erscheinung, die es dem Betrachter bietet; den Unterschied zwischen einem bewussten Akt der Repräsentation (‚abbilden oder darstellen‘) und einem weniger bewussten, vielleicht sogar passiven oder automatischen Akt (‚sich ein Bild machen oder vorstellen‘); den Unterschied zwischen einer spezifischen Art der visuellen Repräsentation (dem ‚bildlichen‘ Bild) und dem gesamten Bereich der Ikonizität (verbale, akustische, mentale Bilder).117

In diesem Kontext tritt das Konzept von „image“ nicht nur in ein enges Verhältnis zu dem, was Mary Warnock als „the faculty of image making and visualization“118 definiert hat, sondern es befreit zugleich das Objekt aus seiner physischen (medialen) Gefangenschaft und öffnet die Perspektive hin zu einem Bildverständnis, das sich zwischen Objekt und Betrachtung konstituiert und in welchem das visuelle Objekt seinen vermeintlich ontologischen Status als ein in sich selbst ruhendes Original unwiderruflich verliert bzw. sich eine solche Vorstellung definitiv als „ideological phantasm,“ demaskiert, um an dieser Stelle auf Mitchells Kritik am Begriff vom „‚genuine‘ image“ zu referieren.119

117 „… the difference between a constructed concrete object or ensemble (frame, support, materials, pigments, facture) and the virtual, phenomenal appearance that it provides for a beholder; the difference between a deliberate act of representation (‚to picture or depict‘) and a less voluntary, perhaps even passive or automatic act (‚to image or imagine‘); the difference between a specific kind of visual representation (the ‚pictorial‘ image) and the whole realm of iconicity (verbal, acoustic, mental images).“ Mitchell, Picture Theory, S. 4, Fussnote 5 (Hervorhebungen im Original). Siehe auch Mitchell, „What is an image?“, S. 503–537. 118 Mary Warnock, Imagination, London 1976, S. 10. 119 W. J. T. Mitchell, „Realismus im digitalen Bild“, in: Bilderfragen, S. 237–255, hier S. 243.

Musik im Blick

7.

Original, Kopie, Modell, Abbild, Realität und Imagination

Verstärkt durch die technologischen Errungenschaften des digitalen Zeitalters ist zudem das traditionelle Begriffsfeld von Original, Kopie, Modell, Abbild, Realität und Imagination gleichsam implodiert, was jüngst auch durch das Projekt Le mostre impossibili aufs Deutlichste vorgeführt wurde.120 Das im Sinne einer herkömmlichen Kunstausstellung als Wanderausstellung konzipierte Projekt präsentiert Werke der italienischen Renaissance und des Frühbarock, die sich in ganz unterschiedlichen Museen und Sammlungen befinden. Allerdings werden nicht die Kunstwerke selbst ausgestellt, sondern nur Reproduktionen mit Bildqualität in Originalgröße. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das nach Bekunden des Kunsthistorikers Ferdinando Bologna, „eine Annäherung an die Originale ermögliche, welche die Originale selbst unter den Bedingungen, unter denen sie normalerweise vorgefunden werden […] nicht zulassen.“121 Einmal abgesehen von der hier vertretenen paradoxen Vorstellung vom „Original“, erweist sich das Projekt als ein höchst kunstvolles Vexierspiel mit dem Konzept einer herkömmlichen Kunstausstellung – einschließlich ihrer Liturgie des stillen Betrachtens –, ohne damit allerdings eine bloße Kopie davon zu bieten. Vielmehr verwischt das Projekt die Grenzen zwischen Original und Kopie, zwischen der Realität einer Kunstausstellung und deren Simulation. Das Projekt Le mostre impossibili erweist sich – im Sinne von Jean Baudrillard122 – als hyperreal und als Simulakrum, in welchem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Simulation gleichsam ausradiert sind. Damit wird aber unweigerlich die Frage nach der Bedeutung bzw. dem Status der physischen Natur des Mediums, seiner Materialität virulent. Die materielle Beschaffenheit und Merkmale eines visuellen Objekts spielen zwar eine nicht zu unterschätzende Rolle im Prozess der betrachtenden Aneignung des Objekts, aber man kann nicht behaupten, dass sie die Bedeutung des Mediums vollständig determinieren,123 wie Marshall McLuhan mit seinem berühmt gewordenen Diktum „The media is the message“ postulierte124 (vielleicht einmal abgesehen von jenen Fällen, in welchen die physische Natur zu einem Teil des Mediums selbst transformiert ist, 120 Dazu http://www.mostreimpossibili.it/ilprogetto (letzter Zugriff: 27.12.2021). 121 „[…] consente un approccio agli originali che gli originali stessi, nelle condizioni in cui normalmente si trovano, […] non consentono.“ http://www.mostreimpossibili.it/dicono?id=2 (letzter Zugriff: 27.12.2021). 122 Jean Baudrillard, Simulacres et Simulation, Paris 1981. 123 Dazu beispielsweis Raymond Williams, Television: technology and cultural form, London 1974; Paul Grosswiler, The method is the message: rethinking McLuhan through ciritical theory, Montréal 1998; Paul Beynon-Davies, Communication: The medium is not the message, London 2011, S. 58–76. 124 So der Titel des ersten Kapitels von Marshall McLuhan, Understanding media: The extension of man, New York 1964; dazu auch Marshall McLuhan und Quentin Fiore, The medium is the message: an inventory of effects, New York/London 1967.

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wie etwa bei Fahnen oder Tattoos).125 Die Vorstellung von der besonderen Bedeutung der Materialität „beruht auf einer Art vulgärem technischem Determinismus, der meint, die Ontologie eines Mediums sei durch die Beurteilung seiner Materialität und seines technisch-semiotischen Charakters angemessen festgelegt.“126

8.

Conclusio

Eine Ikonologie des Blickes127 und der damit verbundenen inhaltlichen Tiefenschärfe, etwa einer wissenschaftlichen, künstlerischen, medialen, politischen oder religiösen Einstellung, hat davon auszugehen, dass ein in der Welt seiendes visuelles Objekt sich nur in der Welt befindet, weil es empfangen bzw. angeeignet wird. Diese Erkenntnis schließt das Ende des distanzierten Betrachtens bzw. Beobachtens ein (lediglich Objektivierung von Beobachtungen und Erinnerungen bleibt möglich) und akzeptiert, dass Beobachtende unweigerlich immer in das involviert sind, was Clifford Geertz als den „I-witnessing“-Zugriff bezeichnet hat.128 Damit sei keinem wie auch immer gearteten Relativismus das Wort gesprochen. Vielmehr geht es darum, einen Richtungswechsel ernsthaft zu bedenken: weg von der Vorstellung einer dem visuellen Objekt immanenten Bedeutung, hin zu einem Verständnis von Ikonologie, welches die Art und Weise, wie visuelle Objekte in die Welt treten und wie sie empfangen werden, in den Blick nimmt, und die kommunikativ-viskursiven Dynamiken ernst nimmt, die sich zwischen Bild und Betrachtung einstellen und woraus Interpretationen und Narrative mit spezifischen Merkmalen resultieren. Diese Interpretationen dringen allerdings nie zu der vermeintlich inhärenten Bedeutung vor, weil es sich dabei um einen Mythos handelt – eine Funktion, die ikonographische/ikonologische Forschung lange dem Bild aufgebürdet, wenn nicht gar aufgezwungen hat. Darauf hat bereits Roland Barthes hingewiesen, wenn er warnend meinte, dass bei einem Bild die Unterscheidung zwischen der buchstäblichen und der symbolischen Mitteilung rein operational sei und dass man nie einem „buchstäblichen Bild im Reinzustand“ begegne.129 Diese Prämisse trifft sich mit 125 Joshua R. Adams, Transient bodies, pliable flesh: culture, stratification, and body modification, Dissertation, The Ohio State University, 2007; Tom Holert, „Heterologien des Nationalen. Zur Mentalität und Medialität der Flagge – Mali 2013“, in: Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, hrsg. v. Nadja Elia Borer u. a., Bielefeld 2013, S. 327–350; Tatoueurs, tatoués, hrsg. v. Céline Martin-Raget, Arles/Paris 2014. 126 Mitchell, „Realismus im digitalen Bild“, S. 241. 127 Vgl. das Konzept des „Zu-Sehen-Gebens“ von Schade/Wenk in der Einleitung dieses Bandes S. 14 f. 128 Clifford Geertz, Works and lives: the anthropologist as author, Cambridge 1989, S. 78. 129 „On a vu que dans l’image proprement dite, la distinction du message littéral et du message symbolique était opératoire; on ne rencontre jamais […] une image littérale à l’état pur.“ Roland Barthes, „Rhétorique de l’image“, in: Communications 4 (1964), S. 40–51, hier S. 45. Deutsche

Musik im Blick

Jonas’ Argument, wonach es eine konstitutive Grundeigenschaft des Bildes sei, dass dessen Ähnlichkeit mit dem dargestellten Ding an sich nicht vollständig sein kann und dass diese „Unvollständigkeit der Ähnlichkeit merklich sein“ müsse;130 denn eine Verdoppelung aller Eigenschaften des Originals würde die Verdoppelung des Dinges selbst ergeben, d. h. ein neues Exemplar derselben Art von Ding. Wenn ich einen Hammer kopiere, erhalte ich einen weiteren Hammer, nicht ein Bild des Hammers.131

Die in diesem Beitrag präsentierten Gedanken und Überlegungen sind Denkanstöße, nichts weniger und nichts mehr. Sie wollen dazu einladen, über Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Ikonographie nachzudenken, sich zu positionieren. Wem sie als Ratgeber zur Ratlosigkeit erscheinen, die/der liegt nicht ganz falsch, jedoch hoffentlich einer Ratlosigkeit, die produktive Unruhe und schließlich eine Form von Melancholie erzeugt, von welcher Sarah Kofman in ihrem Essay spricht. Es geht darum, sich von den Verfahrensweisen zu befreien, die das Bild „einer peinlichen Befragung unterziehen“, als wäre es ein Beschuldigter in einem Prozess, und sich stattdessen auf das Risiko und die damit verbundene Faszination einzulassen, welche die durch den Kollaps eingefahrener bzw. versteinerter Ideen und Ansichten ausgelöste(n) Freiheit(en) eröffnen.

Übersetzung: Roland Barthes, Der entgegenkommende und stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 28–46, hier S. 37. 130 Jonas, „Homo pictor und die differentia des Menschen“, S. 163. Vergleiche dazu auch Jacques Rancières Definition von „Bild“ als Kunst in Rancière, Le destin des images, S. 11–19. 131 Jonas, „Homo pictor und die differentia des Menschen“, S. 163.

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Bilder als Quellen

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Illustrationen musikalischen Vergnügens Die Bildrhetorik des Grand Divertissement royal (1668) ‚Musik in den Blick zu nehmen‘ erscheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, wenn man sich mit Musik in Theorie und/oder Praxis beschäftigt. Doch wird dann häufig ein metaphorischer Gebrauch des Blicks im Speziellen sowie des Syntagmas im Allgemeinen zugrunde gelegt, so dass es weiterer Konkretisierungen bedarf, um aus dem Abstraktum ein Konkretum werden zu lassen. Geht man hingegen vom Syntagma ‚Musik im Blick‘ aus, dann stellen sich unmittelbar drei Fragen, um die vorhandenen Ellipsen auszufüllen und dergestalt eine gleichermaßen sinnvolle wie verständliche Paraphrase zu bilden. Denn zunächst einmal ist zu fragen, um wessen Blick es sich dabei handelt, wobei dann weitergehende Fragen mindestens nach Ethnie, Klasse und Geschlecht der Blickenden zu stellen sind. Darüber hinaus ist nach dem Modus des Blicks zu fragen, der durch einen spezifischen Ort resp. einen spezifischen Raum oder durch eine spezifische Tages- und/oder Jahreszeit geprägt oder durch spezifische, auch epistemisch gebundene Kulturtechniken vorgebildet sein kann.1 Schließlich ist nach dem Tempus des Blicks zu fragen, was bereits ersichtlich wird, wenn man die möglichen Verbalkonstruktionen betrachtet: Musik ‚in den Blick nehmen‘ geht vom Präsens aus, formuliert indes eine futurische Aufgabe, demgegenüber fokussiert ‚Musik im Blick halten‘ oder gar ‚behalten‘ eine Handlung, die auf einer bereits erfolgten Tätigkeit des Blickens aufbaut, die eigentliche Aufgabe also als bereits erledigt präsentiert und auf die Fortsetzung in der Gegenwart bzw. in der Zukunft abhebt. Geht man hingegen von den visuellen Perspektiven auf auditive Kulturen aus, ändert sich die Blick- und damit auch die Fragerichtung. Während das Syntagma ‚Musik im Blick‘ latent eine Unmittelbarkeit der optischen Wahrnehmung suggeriert, die durch den Blick eines spezifischen Subjekts auf die ihm kopräsente Musik gewährleistet wird, wird durch die Betonung der visuellen Perspektiven eine mittelbare Wahrnehmung der Musik nahegelegt, wobei zwei weitergehende Fragen im Raum stehen. Denn zum einen ist nach den verschiedenen Medien zu fragen, die eine je eigene Visualisierung der Musik ermöglichen bzw. ausprägen, und zum anderen ist nach den je eigenen Perspektivierungen der Musik zu fragen, die durch

1 Siehe hierzu Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996 und ders., Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002.

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spezifische Genre- und/oder Gattungskonventionen und dem jeweiligen Umgang mit ihnen hervorgebracht werden – ein Tafelbild, ein Historiengemälde oder ein Genregemälde unterliegen je eigenen Gattungskonventionen, die sowohl die Angemessenheit des Bildgegenstandes als auch diejenige der visuellen Inszenierung regeln.2 Nimmt man schließlich die ‚auditiven Kulturen‘ zum Ausgangspunkt der Überlegungen, dann ändert sich die Blickrichtung nochmals, was leicht anhand der Genitivkonstruktion der ‚Visualisierung der Musik‘ ersichtlich wird. Denn zu fragen ist dann, ob hier ein Genitivus objectivus vorausgesetzt werden kann, der darauf abzielt, dass die Musik visualisiert wird, oder ob ein Genitivus subjectivus möglich ist, so dass die Musik ganz oder teilweise zur Visualisierung eines oder einer Dritten beiträgt. Vor diesem Fragehorizont möchte ich mich einem genauso bekannten wie, zumindest meines Wissens nach, bisher kaum untersuchten Gegenstand zuwenden, um die Fragen nach der ‚Musik im Blick‘ gleichermaßen exemplarisch und konkret zu beantworten. Dabei bewirkt die Wahl der den Beschreibungen des Grand Divertissements royal (1668) von André Félibien beigegebenen Druckgraphiken, in denen die Visualisierung der Musik dominant ist, dass aufgrund des Gegenstandes nur ein kleiner Teil der zuvor allgemein aufgeworfenen Fragen berücksichtigt werden kann, wie auch keineswegs definitive Antworten auf die behandelten Fragen zu erwarten sind, sondern allenfalls Annäherungen an diese.3 Ich gehe dabei von zwei schlichten Beobachtungen aus, insofern zum einen die Druckgraphiken im Besonderen sowie die Festbeschreibungen André Félibiens im Allgemeinen eine doppelte Perspektivierung in Szene setzen, die im Blick des Königs kulminieren:

2 Verwiesen sei in diesem Kontext nur auf die entsprechenden, vom kunsthistorischen Institut der FU Berlin herausgegebenen Bände zur Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, die im Reimer Verlag publiziert wurden: Historienmalerei, Bd. 1, hrsg. v. Thomas W. Gaethgens und Uwe Fleckner, Berlin 1996; Porträt, Bd. 2, hrsg. v. Rudolf Preimesberger u. a., Berlin 1999; Landschaftsmalerei, Bd. 3, hrsg. v. Werner Busch, Berlin 1997 und Genremalerei, Bd. 4, hrsg. v. Barbara Gaehtgens, Berlin 2002. 3 Im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe André Félibien, Relation de la feste du Versailles. Du dixhuitième juillet mil six cens soixante-huit, Paris 1668. Es handelt sich hierbei um die zweite Ausgabe der Félibien’schen Relation, die indes im Gegensatz zur ersten Ausgabe Druckgraphiken enthält. Einen guten Überblick über die höfischen Divertissements und die verschiedenen Ausgaben der Festbeschreibungen bieten die Websites https://merveilles17.huma-num.fr (abgerufen am 15.06.2021) und https://www.chateauversailles-recherche.fr/francais/ressources-documentaires/corpus-electroniques/corpus-raisonnes/livrets-recits-et-partitions/le-grand-divertissement-royal-1668.html (abgerufen am 15.06.2021). Zudem sei verwiesen auf die neueren Ausgaben des Grand Divertissement royal, die jedoch in den deutschsprachigen Bibliotheken nur sehr selten zu finden sind: Siehe André Félibien, Les feste di Versailles, hrsg. v. Alberto Ausoni, Rom 1992; ders., Les fêtes de Versailles. Chroniques de 1668 et 1674, hrsg. v. Martin Meade, Maisonneuve 1994 und ders., Les fêtes de Versailles, hrsg. v. Michel Jeanneret, Paris 2012.

Illustrationen musikalischen Vergnügens

Der Blick des realen Betrachters ist perspektivisch auf den Blick des Königs ausgerichtet, der wiederum den Bildraum im eigentlichen Sinne fokussiert.4 Zum anderen unterliegen Félibiens Festbeschreibungen der Redegattung des genus demonstrativum, der Festrede, bzw. des genus laudativum, der Lobrede, so dass sie weniger als Wiedergabe der faktischen Ereignisse und mehr als Lobpreis des Festes sowie des Gastgebers zu verstehen sind.5 Dadurch wird indes von vornherein der Primat auf die Rhetorik der Darstellung gelegt, die die textliche und die bildliche Darstellung gleichermaßen betrifft, wobei der stumme Diskurs der Bilder und der beredte Diskurs der Sprache komplementär zueinander stehen, da sie beide durch die spezifische Redegattung der Festrede vorgeprägt sind.6 Die dezidiert rhetorische Prägung der publizierten Divertissements, die den Diskurs und die Druckgraphiken gleichermaßen betrifft, ermöglicht es mir wiederum, so die leitende Überlegung, die Rhetorik der Bilder im Sinne von Roland Barthes zu analysieren und dabei zwei Funktionen der Darstellung besonders in den Blick zu nehmen, die aus der spezifischen Rhetorik der Divertissements als Fest- und Lobrede resultieren. Denn zum einen werden hierdurch Genre- und Gattungskonventionen konkret sichtbar, die erst eigentlich die Perspektivierung der Musik in den Bildern hervorbringen und zugleich legitimieren.7 Zum anderen verdeutlicht diese Prägung von Text und Bild, dass beide nicht einfach als Quellen oder als Zeugnisse im historiographischen Sinne zu verstehen sind,8 sondern als elementa-

4 Siehe hierzu grundlegend René Demoris, „Le corps royal et l’imaginaire au XVIIe siècle. Le portrait du Roy par Félibien“, in: Revue des sciences humaines 172 (1978/4), S. 9–30 und Louis Marin, Le portrait du roi, Paris 2001. 5 Siehe hierzu weiterführend Thomas Rahn, Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel von höfischen Hochzeiten (1568−1794), Tübingen 2006, besonders Kapitel III „Theorie der Festbeschreibung. Gattungstheoretische Spuren in den Paratexten“, S. 43−58. 6 Ich baue hierfür auf Überlegungen von Roland Barthes auf, erweitere sie jedoch im Sinne der Rhetorik als Institutio orationis. Siehe Roland Barthes, „Rhetorik des Bildes“, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 28−46. Hervorzuheben ist in diesem Kontext der Band Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der italienischen Kunst der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Valeska von Rosen u. a., Berlin 2003. 7 Siehe Roland Barthes, „Die alte Rhetorik“, in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 15−101. Barthes hebt in diesem Text die Bedeutung der rota Vergilii als rhetorisch basiertem Modell der Gattungseinteilung hervor und expliziert die daraus resultierenden Gattungskonventionen, siehe S. 36−37 und S. 98. 8 Siehe hierzu grundlegend Francis Haskell, Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit, München 1995 und Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003, darin Die Einleitung „Bilder als Zeugnisse“, S. 9−21, besonders den Abschnitt „Quellen und Spuren“, S. 13–16.

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re Bestandteile eines Fabrikationsnarrativs, dessen Ziel die In-Szene-Setzung des Königs Louis XIV ist.9 Vor diesem Hintergrund werde ich im Folgenden die These diskutieren, dass in den Druckgraphiken der Divertissements die Musik in den Blick genommen wird, um unmittelbar die Größe des Königs zu illustrieren und um mittelbar die Pracht des französischen Hofes anhand der musikalischen Illustrationen zu vergegenwärtigen. Dabei interagieren sprachliche und bildliche Illustration, auch wenn sie zum Teil inhaltlich deutlich divergieren, da ihr Ziel, ganz im historischen Sinne des Begriffs ‚illustration‘ darin besteht, jemanden und/oder etwas Illustres, mithin in all seiner herausgehobenen Pracht und Bedeutung sichtbar zu machen.10 Um diese These zu plausibilieren, betrachte ich die fünf Elemente der Rhetorik, inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio der Illustrationen nacheinander, um die Erfindung des königlichen Blicks, das Verhältnis von Referenz und Deixis, die Relation von Metonymie und Metapher (in) der Darstellung, die Funktionen der Erinnerung sowie die Verfahren der Vergegenwärtigung herauszuarbeiten. Ich konzentriere mich hierfür auf die Relation de la feste de Versailles. Du dix-huitiéme juillet mil six cens soixante-huit von André Félibien, die als Grand Divertissements royal in die Geschichtsbücher einging, und die darin beigegebenen Druckgraphiken.

1.

Inventio – die Erfindung des königlichen Blicks

Das Premier Versailles kennt drei große Feste, die in jeder Hinsicht kulturstiftend in ihrer Zeit waren und bis heute kulturprägend sind, nämlich die vom 7. bis 13. Mai 1664 stattfindenden Plaisirs de l’île enchantée, der am 18. Juli 1668 in Szene gesetzte Grand Divertissement royal und schließlich die am 4. Juli, 11. Juli, 19. Juli, 28. Juli,

9 Zum Konzept der Fabrikation siehe grundlegend Peter Burke, The Fabrication of Louis XIV, New Haven/London 1992, zum darauf aufbauenden Modell des Fabrikationsnarrativs siehe Jörn Steigerwald, „Karl Albrechts Diarien oder: Was ist ‚ein‘ Reisetagebuch?“, in: Prinzen auf Reisen. Die Italienreise von Kurprinz Karl Albrecht 1715/16 im politisch-kulturellen Kontext, hrsg. v. Andrea Zedler und Jörg Zedler (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte), Köln u. a. 2017, S. 271−290. Verwiesen sei zudem auf die für den Hof von Louis XIV grundlegende Studie von Jean-Marie Apostolidès, Le roi-machine: spectacle et politique au temps de Louis XIV, Paris 1981. 10 Dementsprechend verfolge ich weniger die von Sigrid Schade und Silke Wenk in ihren Studien zur visuellen Kultur prägnant formulierte Frage: „Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben, oder wo ist wem was und wie unsichtbar gemacht?“ und konzentriere mich, dem gewählten Gegenstand entsprechend, auf die Frage: Wie interagieren sprachliche und bildliche Illustration (im historischen Sinne), um die Pracht und den Glanz des Königs Louis XIV und seiner Hofkultur (bild-)rhetorisch vor Augen zu stellen und dergestalt, im Sinne Burkes, allererst zu fabrizieren. Siehe Sigrid Schade/ Silke Wenk, Studien zur Visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 53.

Illustrationen musikalischen Vergnügens

18. August und 31. August 1774 aufgeführten Divertissements de Versailles. Bereits die unterschiedlichen Daten der einzelnen Feste verdeutlichen, dass nicht von einer Einheitlichkeit der Festkultur unter Louis XIV gesprochen werden kann, da die Dauer der jeweiligen Feste sowie die Zusammenstellung der Festtage höchst unterschiedlich sind. Allerdings wäre es ein Fehlschluss, Dauer, Pracht und Kosten in ein direktes Verhältnis zueinander setzen zu wollen, da die Kosten des eintägigen Grand Divertissements royal höher waren als diejenigen der Plaisirs de l’île enchantée oder der Divertissements de Versailles. Hinzu kommt, dass die Anlässe für die jeweiligen Feste divergieren: Können die Plaisirs de l’île enchantée als erster FestAkt und damit auch kulturpolitischer Gründungsakt des relativ neuen Königs Louis XIV angesehen werden, die ohne weiteren, unmittelbaren Anlass abgehalten werden, bilden die Kämpfe gegen die Niederlande sowie der damit verbundene Friedensschluss von Aachen 1668 und die Annektierung der Franche-Comté 1674 den jeweils unmittelbar vorausliegenden Anlass der Feste, die dadurch den König als militärischen Triumphator und friedensstiftenden König zugleich präsentierten.11 Diese spezifischen Voraussetzungen sind zu bedenken, wenn man die Musik in den Blick nimmt, wie sie auf den Graphiken der Festbeschreibungen zur Darstellung kommt, weil hierdurch gleichermaßen ein Rahmen und eine Perspektivierung vorgegeben werden. Denn eine Vielzahl von Festbeschreibungen sind gebunden an höfische Hochzeitsfeierlichkeiten und/oder Herrscherreisen, wodurch mindestens zwei Herrscherdynastien, wenn nicht gar zwei Höfe miteinander in Kontakt kamen und bei den Feierlichkeiten im Idealfall als gleichberechtigte Akteure des Festes zu würdigen waren. Demgegenüber sind die Versailler Feste direkt auf den König Louis XIV zugeschnitten und dienen zugleich der Fabrikation eines Herrscherbildes, das erst eigentlich vermittelt über die Feste produziert wird, auch wenn die Festbeschreibungen suggerieren, dass dieses präexistent sei. Konzeptionell gerahmt werden alle drei großen Feste des Premier Versailles entsprechend dadurch, dass sie im Allgemeinen dazu genutzt wurden, das Modell Frankreich zu etablieren, das die beiden zuvor dominierenden Kulturmodelle

11 Mit der folgenden Lektüre führe ich Überlegungen fort, die sich seit Längerem dem Zusammenspiel von sozialer und ästhetischer Praxis der höfischen Festkultur widmen. Siehe „Soziale und ästhetische Praxis der höfischen Fest-Kultur: Eine Problemskizze“, in: Soziale und ästhetische Praxis der höfischen Fest-Kultur im 16. und 17. Jahrhundert, hrsg. v. Kirsten Dickhaut, Jörn Steigerwald und Birgit Wagner, Wiesbaden 2009, S. 17−30 und ders., „Das Fest der Feste − die „Plaisirs de l’île enchantée“ oder Versailles als Maßstab“, in: Fürstliche Feste: Höfische Festkultur zwischen Zeremoniell und Amüsement (= Jahrbuch der Thüringer Schlösser und Gärten 23), Petersberg 2020, S. 20−31. Verwiesen sei zudem auf die grundlegenden Studien von Marie Christine Moine, Les fêtes à la cour du Roi Soleil (1653−1715), Paris 1984, Sabine du Crest, Des fêtes à versailles. Les divertissements de Louis XIV, Paris 1990 und den Sammelband Die Inszenierung des Absolutismus: politische Begründung und künstlerische Gestaltung höfischer Feste im Frankreich Ludwigs XIV, hrsg. v. Fritz Reckow, Erlangen 1992.

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Abb. 1 Druckgraphik Festes de L’Amour et de Bacchus, in: André Félibien, Relation de la feste de Versailles, Paris 1668.

Kontinentaleuropas, das Modell Italien und das Modell Spanien, ablöst und durch ein neues, zeitgemäßes und französisches ersetzt. Im Speziellen konkretisiert sich dieses neue Modell Frankreich in der Figur des Königs Louis XIV, so dass genauer von der Fabrikation des Sonnenkönigs gesprochen werden kann, die mit und über die Feste ge-, wenn nicht sogar erschaffen wird. Der Fokus auf den König Louis XIV und nicht auf die Königsfamilie oder gar den Fürstenhof, wie dies noch für das Modell Italien prägend war, geht mit der Einführung einer spezifischen Perspektive einher, nämlich dem Blick des Königs, auf den alles zusteuert und von dem alles ausgeht.12 Betrachtet man die Druckgraphik, die innerhalb von André Félibiens Relation de la feste de Versailles die Inszenierung der Festes de L’Amour et de Bacchus bebildert, dann fällt auf, dass hier eine bemerkenswerte Umsetzung der Raumordnung vorliegt. Der eigentliche Bühnenraum, auf dem die Comédie en musique von JeanBaptiste Lully aufgeführt wird, liegt auf den ersten Blick im Bildmittelgrund und

12 Zum Modell Italien siehe die klassische Studie von Fernand Braudel, Modell Italien. 1450−1650, Stuttgart 1991.

Illustrationen musikalischen Vergnügens

wird perspektivisch in den Bildhintergrund hinein verlängert, während das Publikum im Bildvordergrund versammelt ist. Auf den zweiten Blick fällt indes auf, dass der Bildvordergrund selbst zweigeteilt ist, insofern die versammelten Hofleute um fünf Personen, den König und die Königin, die Königsmutter sowie Monsieur und Madame, herum positioniert sind, die sowohl räumlich als auch symbolisch von den anderen Personen getrennt sind.13 Diese fünf Personen sitzen nicht nur separiert von allen anderen Gästen des Grand Divertissements, sie ziehen auch selbst zahlreiche Blicke der Anwesenden auf sich oder einfacher gesagt: Sie bilden den Blickmittelpunkt des Bildes. Bemerkenswert sind hier drei Momente: 1. Die fünf Personen sitzen mit dem Rücken zu den bildexternen Betrachter:innen und bleiben dadurch für diese gleichermaßen sichtbar und unsichtbar. Können andere Anwesende – faktisch oder nicht – anhand ihrer Physiognomie von Dritten erkannt werden, fehlt diese Möglichkeit bei den fünf zentral gesetzten Personen vollständig, so dass sie nur aufgrund ihres Rangs und ihrer damit verbundenen Position innerhalb des höfischen Interdependenzsystems wiedererkannt werden können.14 Das Fehlen eines visuellen Erkennens wird entsprechend durch die vorgestellte symbolische Ordnung des Zeremoniells überkompensiert, wobei harte Unterschiede in der Sozialraumordnung, die durch die Einteilung des Publikums nach verschiedenen Rängen gegeben ist, mit feinen Unterschieden einhergehen, da die Anordnung der fünf Personen einen deutlichen Fokus auf die mittlere Person, eben den König, erkennen lässt.15 2. Der Blick der bildexternen Betrachter:innen auf die fünf Rückenfiguren verändert zugleich die Perspektive auf das Bild sowie die Perspektivierung des Bildes. Denn die bildexternen Betrachter:innen sehen keineswegs über den König hinweg auf die Bühne und nehmen dementsprechend die dort gebotene Musik in Augenschein, vielmehr nehmen sie die Perspektive des königlichen Blicks ein und organisieren auf diese Weise auch die perspektivische Ordnung des Bildes neu. Im Bildvordergrund sitzen nun die Hofleute, die hinter dem König und dessen Entourage im engeren Sinne positioniert sind, die leicht in den Bildvordergrund

13 Die Zuordnung der betreffenden Figuren baut auf André Félibiens Festbeschreibung auf; in der Druckgraphik werden keine Angaben zu den abgebildeten Personen gemacht, wie auch in der Beschreibung der theatralen Aufführung dergleichen Angaben fehlen. Sie lassen sich jedoch über die Nennung der einzelnen Personen, insbesondere im Rahmen der Fahrten zwischen den einzelnen Stationen sowie der Darstellung des Festin herausarbeiten. 14 Zum Konzept des höfischen Interdependenzsystems siehe grundlegend Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (= Gesammelte Schriften, Bd. 2), Amsterdam 2002. 15 Siehe hierzu besonders Marian Füssel, „Fest – Symbol – Zeremoniell. Grundbegriffe zur Analyse höfischer Kultur in der Frühen Neuzeit“, in: Soziale und ästhetische Praxis der höfischen Fest-Kultur, S. 31−53.

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verschobene Bildmitte wird hingegen von den fünf Rückenfiguren gebildet, während der Bildhintergrund durch die Theaterbühne begrenzt wird. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Die bildexternen Betrachter:innen folgen zum einen dem bildinternen königlichen Blick und nehmen entsprechend in dessen Gefolge diejenige Musik in den Blick, die dem König auf der Bühne geboten wird. Zum anderen findet eine räumliche Stauchung statt, insofern die dreidimensionale, tendenziell in die Tiefe greifende Raumdimension der Bühne so stark verkürzt wird, dass sie zu einem Bild im Bild wird, was besonders deutlich wird, wenn man sich die handelnden Bühnenfiguren ansieht: Gut erkennbar sind die Akteur:innen im Bühnenvordergrund sowie diejenigen Figuren auf der rechten und linken Seite der Bühne, die auf deren Höhe stehen. Unklar bleibt hingegen, wie weit in den Raum hinein diese positioniert sind, wodurch die Frage offenbleibt, ob hier eine künstliche Bühne mit entsprechender Bühnenillusion geschaffen wurde oder aber ein unsichtbarer Übergang vom theatralen Bühnenraum zum Naturraum des Parks vorgestellt wird, was durch die Bildunterschrift: „representé dans le petit Parc de Versailles“ insinuiert wird. 3. Die latente Stauchung des dreidimensionalen Naturraumes geht mit einer Dehnung des zweidimensionalen Bildraumes einher, insofern der Raum nach links und rechts deutlich erweitert wird. Auf diese Weise wird vorderhand die Musik im Bildhintergrund weniger in Szene gesetzt als die versammelten Hofleute im Bildvordergrund, wie auch die Anzahl der deutlich erkennbaren Figuren der höfischen Gesellschaft durch die Anordnung und vor allem durch die Erweiterung des Zuschauerraumes deutlich gesteigert wird. Hinzu kommt, dass die Zuschauer:innen nicht wie der zentral positionierte König ausschließlich die Musik in Augenschein nehmen, sondern im Gegenteil durch drei Blickrichtungen charakterisiert werden: Sie blicken erstens den König als das eigentliche Zentrum des Grand Divertissements royal an. Zweitens wenden zahlreiche Figuren, insbesondere diejenigen, die im Bildvordergrund sind, den Blick auf die bildexternen Betrachter:innen, als ob sie kontrollieren wollten, ob diese auch wirklich dorthin und entsprechend so schauen, wie es von ihnen gefordert wird, nämlich auf den Blick des Königs. Drittens gibt es, wenn auch nur in sehr geringem Maße, Bildfiguren, die sich gegenseitig ansehen oder direkt ihren Blick auf die Musik richten. Es dominiert indes der Blick des Königs, auf den alle anderen Blicke ausgerichtet sind oder zu dem sie hinleiten. Verständlich wird der spezifische Fokus auf den König in den Druckgraphiken, wenn man zum einen die Genrekonventionen der ‚relation‘ beachtet und zum anderen den besonderen Status der ‚illustration‘. Denn unter einer ‚relation‘, wie sie André Félibien anlässlich des Grand Divertissement royal verfasste, wird allgemein ein „recit de quelque adventure, histoire, bataille“ verstanden, wobei die Bedeutung der jeweiligen Ereignisse die Voraussetzung dazu bildet, dass sie überhaupt erzählt werden. Dies betrifft die beschriebenen Begebenheiten, wie die „ceremonies du

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couronnement de l’Empereur“, und die ausgewählten Personen gleichermaßen, insofern stets eine „temoignage d’une personne publique“ vorliegt.16 Hinzu kommt, dass im 17. Jahrhundert in Frankreich eine ‚illustration‘ keineswegs als Abbildung oder Bebilderung im modernen Sinne verstanden wird, sondern als ein besonderer Akt, nämlich als „action ou ouvrage qui rend une chose illustre“.17 Unter ‚illustre‘ versteht man entsprechend „rendre une chose illustre“.18 Dabei gilt es eine wichtige Differenz festzuhalten: Das Adjektiv ‚illustre‘ dient zur Bezeichnung von etwas oder jemandem, „qui est eslevé par dessus les autres par son merite, par sa vertu, par sa noblesse, par son excellence“, wobei einer illustren Person der Primat zugeordnet wird.19 Die ‚illustration‘ sowie das Verb ‚illustrer‘ beziehen sich hingegen auf eine Sache, die wahlweise ein bestimmter Gegenstand oder ein Ereignis sein kann, das dazu dient, etwas ‚illustre‘ zu gestalten und/oder vorzustellen. Das ‚illustre‘ Subjekt, die ‚illustration‘ und die ‚relation‘ gehen dementsprechend eine logische Verbindung miteinander ein und produzieren resp. fabrizieren eine spezifische, höfische Repräsentationslogik: Eine herausragende Persönlichkeit wie der König wird durch ein illustres Ereignis, das Grand Divertissements royal, auf besondere Weise gewürdigt, was dann durch die ‚relation‘, die im Anschluss an das Fest erzählt wird, erneut gesteigert wird, insofern Text und Bild die Würdigung und den Lobpreis fortführen, wenn sie nicht beides nochmals steigern. Denn sowohl die ‚relation‘ als auch die ‚illustration‘ bewirken die Distinktion einer herausragenden Persönlichkeit und nicht einer Gruppe oder gar einer größeren Gemeinschaft wie des Hofes. Text und Bild müssen sich dieser Repräsentationslogik folgend auf den ersten Höfling des Hofes, nämlich den König, konzentrieren und dessen Blick in Szene setzen, um die Macht des Herrschers und seine Pracht angemessen zur Darstellung zu bringen.

2.

Dispositio – Referenz und Deixis der ‚illustration‘

Das Grand Divertissements royal versammelte verschiedene Divertissements, die aufeinander folgten und entsprechend dem Hof sukzessive, verschiedene Vergnügen boten, wie sie auch umgekehrt dem König ermöglichten, mitsamt seinen Gästen den Park von Versailles abzuschreiten, um dessen Pracht und Größe zu erleben. Dabei konzentrierten sich die Festivitäten gemäß der Bildlegende der Relation auf

16 Siehe: „Relation“, in: Antoine Furetiere, Dictoinnaire universel, contenant generalement tous les mots francois tant vieux que modernes, et les termes de toutes les sciences et des arts. Divisé en trois tomes, Tome III, La Haye/Rotterdam 1690, o. S. 17 „Illustration“, in: Furetière, Dictionnaire universel, Tome II, o. S. 18 „Illustrer“, in: Ebd., o. S. 19 „Illustre“, in: Ebd., o. S.

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fünf Höhepunkte, von denen zwei die Musik in den Blick nahmen: Eingeleitet wurde das Grand Divertissement mit einer Collation donnée dans le petit Parc de Versailles, auf die dann Les festes de l’Amour et de Bacchus, Comedie en Musique représentée dans le petit Parc de Versailles folgten, bevor ein Festin donné dans le petit Parc de Versailles den kulinarischen Höhepunkt des Abends setzte. Im Anschluss daran wurde den Gästen ein Bal donné dans le petit Parc de Versailles geboten, bevor das Divertissement mit den Illuminations du Palais et des Jardins de Versailles zum Abschluss kam.20 Die Anordnung der Illustrationen scheint vorderhand der Ordnung des Grand Divertissement royal zu folgen, doch lässt bereits der Vergleich von Text und Bild erkennen, dass hier deutliche Unterschiede festzuhalten sind, was insbesondere die Musik betrifft, die in den Blick genommen wird. Während die Illustrationen der Collation, des Festin sowie der Illuminations den Vorgaben der Félibien’schen Relation folgen, werden zwei bedeutende Differenzen zwischen Festbeschreibung und seiner Bebilderung ersichtlich, wenn man die in Augenschein genommene Musik betrachtet. Augenfällig wird dies bereits, wenn man die zweite Druckgraphik der Relation betrachtet, da die Comédie en musique Lullys gemäß der Festbeschreibung Félibiens zusammen mit Molières Comédie-ballet Georges Dandin den dramatischen Höhepunkt des Grand Divertissement royal bildete, während die Illustration allein eine Szene aus Lullys Werk präsentiert. Noch bemerkenswerter sind die Unterschiede zwischen der Beschreibung des Balls und dessen bildlicher Inszenierung. Denn nach der sehr ausführlichen Erläuterung der Architektur und vor allem des Dekors des Ballsaals, die sich auf immerhin gut sieben Seiten der Festbeschreibung erstreckt,21 wird der eigentliche Ball ausgesprochen kurz abgehandelt, wobei die vorgenommene Perspektivierung von Bedeutung ist. In der Relation André Félibiens wird der Ball zudem als vergnügliches, retardierendes Moment vor dem Höhe- und Schlusspunkt des Divertissements gesetzt: Pendant que dans un sejour si charmant, Leurs Majestez & toute la Cour prenoient le divertissement du Bal, à la veuë de ces beaux objets, & au bruit de ces eaux qui n’inter-

20 So die französischen Bildunterschriften der Druckgraphiken, denen jeweils eine lateinische an die Seite gestellt wird. Die Druckgraphiken sind unpaginiert und befinden sich in der genannten Reihenfolge zwischen S. 8 und S. 9, zwischen S. 16 und S. 17, zwischen S. 30 und S. 31, zwischen S. 44 und S. 45 sowie zwischen S. 54 und S. 55. 21 Siehe Félibien, Relation, S. 44−52. Zu André Félibien sei verwiesen auf die mittlerweile klassische Studie von Stefan Germer, Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV, München 1997. Zu den Versailler Festbeschreibungen Félibiens siehe besonders Andreas Gipper, „Höfische Festkultur und Öffentlichkeit. Die Festberichte des André Félibien“, in: Soziale und ästhetische Praxis der höfischen Fest-Kultur, S. 149–167.

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rompoit qu’agreablement le son des instruments; l’on preparoit ailleurs d’autres spectacles dont personne ne s’estoit apperceu, & qui devoient surprendre tout le monde.22

Geht man vom Syntagma „Leurs Majestez & toute la Cour prenoient le divertissement du Bal“ aus, dann stellt sich zunächst einmal die Frage, ob der König sowie der ganze Hof aktiv als Tänzer:innen in Erscheinung treten, diese mithin diejenigen sind, die sich aktiv am Ball beteiligen, oder ob sie nur als Publikum fungieren, vor dem getanzt wird, wobei dann zu fragen wäre, inwiefern in diesem Fall von einem Ball im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Bedenkt man die Leidenschaft von Louis XIV für das Tanzen sowie den Umstand, dass er erst 1669, also ein Jahr nach dem Grand Divertissement royal, zum letzten Mal als Tänzer in einem Ballett auftrat, dann stünde zu vermuten, dass die Illustration den tanzenden König in den Blick nimmt. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall. Betrachtet man die entsprechende Druckgraphik (Abb. 2), dann fällt zunächst auf, dass der König einem Paar beim Tanz zuschaut, wobei er erneut in der Rückansicht dargestellt wird, so dass die bildexternen Betrachter:innen dazu angeleitet werden, den königlichen Blickwinkel einzunehmen und quasi durch dessen Perspektive den Ball zu genießen. Dabei fallen zwei resp. drei weitere Besonderheiten auf, die im Vergleich mit der zuerst betrachteten Druckgraphik hervortreten. Waren auf der ersten Druckgraphik fünf dominante Figuren zu sehen, so finden sich nun nur noch vier, so dass die Raumordnung verändert wird, was auch Folgen für die Gestaltung der Graphik selbst hat. Die Druckgraphik zur Comédie en musique von Lully (Abb. 1) setzt den König zentral in die Mitte, so dass er beim Öffnen der Seiten mittig erscheint. In der Druckgraphik, die den Ball bebildert, trennt hingegen die Faltung der Druckseiten das königliche Paar, die nun links und rechts des Mittelfalzes positioniert sind und die von jeweils einer weiteren Person, wahrscheinlich Monsieur und Madame, arrondiert werden. Die namenlos bleibenden Tänzer:innen in der Bildmitte werden wiederum von zahlreichen Figuren in den Blick genommen. Dabei ist weitergehend zu bemerken, dass das Publikum fast ganz um die Tanzenden herum angeordnet ist, so dass sie wie von einem Kreis umschlossen sind, mit einer wichtigen Ausnahme: Denn der Blick der Königin ist der perspektivischen Ausrichtung folgend direkt auf das tanzende Paar gerichtet, während der Blick des Königs an diesem Paar vorbeigeht bzw. dieses tangiert und diesen Bildmittelpunkt transgrediert, um den Bildhintergrund, mithin den Park mittelbar mit zu erfassen. Er hat demnach eine doppelte Ausrichtung auf das unmittelbar präsente Paar und mittelbar auf das zukünftige Divertissement, das im Bildhintergrund eben erst vorbereitet wird, nämlich die Illuminations.

22 Félibien, Relation, S. 52.

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Abb. 2 Druckgraphik Ball, in: André Félibien, Relation de la feste de Versailles, Paris 1668.

Am auffälligsten an der Illustration des Balls ist jedoch das Fehlen der Musik, da sich die Frage stellt, wer die Musik spielt, zu der hier getanzt wird. Hebt Félibien in seiner Festbeschreibung das synästhetische Zusammenspiel von instrumentaler Musik und Wasserspiel hervor, so stellt sich bei der vorliegenden Illustration die Frage, wo die Musiker mitsamt ihren Instrumenten verortet sein sollen. Denn diese finden sich weder im Bildvorder- oder -mittelgrund, die vom zuschauenden Hofstaat eingenommen werden, noch im Bildhintergrund, so dass vorderhand das Paradoxon eines nicht musikalisch gefüllten Ballsaales und vor allem eines musiklosen Balls vor Augen geführt wird. Das Auslassen realer Musiker und damit verbunden faktisch ausgeführter Musik führt indes dazu, dass diejenigen Figuren besonders in den Blick geraten, die für die Musik selbst einstehen, nämlich die sechs Frauenfiguren auf den sechs Pilastern. Félibien hebt deren Bedeutung für die Repräsentationslogik dieser höfischen Festkultur eigens hervor in seiner Beschreibung:

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Contre les huict pilastres qui formoient ces arcades, & sur des pieds d’estaux de marbre l’on avoit posé huict grandes figures de Femmes, qui tenoient dans leurs mains divers Instruments, dont elles sembloient se servir pour contribuer au divertissement du Bal.23

Denn die weiblichen Figuren sind, wie über die Majuskel von „Femmes“ ausgestellt wird, als Personifikationen zu verstehen, die entsprechend dem ihnen jeweils zugeordneten Instrument für acht Formen der Instrumentalmusik einstehen, die, das ist der entscheidende Punkt, gemeinsam zum Vergnügen des Balls beitragen.24 Dementsprechend wird in der vorliegenden Druckgraphik die Musik im ganz wörtlichen Sinne in den Blick genommen: Dieser wird auf die Versinnbildlichungen der Instrumente und damit verbunden auf die jeweilige Instrumentalmusik gerichtet, die dadurch zwar nicht hörbar, wohl aber seh- und damit verbunden erlebbar wird für die bildexternen Betrachter:innen. Diese Ersetzung der realen Musik durch die versinnbildlichte Musik hat grundlegende Folgen für die Konzeption der Illustration und damit für deren Verständnis. Denn die Druckgraphik ist keineswegs als bildliches Supplement des Textes anzusehen, wie sie auch nicht als schlichte Abbildung eines spezifischen Ereignisses zu verstehen ist: Jedwede Bildlektüre, die davon ausgeht, dass das im Bild Dargestellte wahlweise als Zeugnis oder Quelle gefasst werden kann, setzt voraus, dass die referentielle Funktion der Sprache dominant ist, mithin eine klare Referenz auf eine historisch eindeutig situierbare außersprachliche Wirklichkeit gegeben ist.25 Die Substitution der realen Musik durch die sinnbildliche Musik, wie sie in der Druckgraphik vorliegt, verdeutlicht hingegen, dass die Musik weder von den bildexternen Betrachter:innen noch vom anvisierten bildinternen Betrachter, nämlich dem König und/oder dem Hof, unmittelbar in Augenschein genommen wird. Vielmehr werden die Personifikationen der Instrumente in den Blick genommen, wodurch sowohl die sprachliche als auch die bildliche Referenz durch die Deixis, durch das Verweisen ersetzt werden.

23 Ebd., S. 46. Die bewusste Perspektivierung auf den Blick des Königs in der Druckgraphik wird deutlich, wenn man bedenkt, dass auf der Illustration sechs weibliche Statuen auf sechs Pilastern zu sehen sind, wohingegen im Ballsaal gemäß Félibien acht weibliche Statuen auf acht Pilastern positioniert wurden. 24 Unter Personifikation versteht man eine spezifische Handlung, nämlich: „Feindre une personne. Les Poëtes ont personnifié toutes les passions, & en ont fait des Divinitez que les Payens ont adorées, comme la Deesse de la Persuasion, le Dieu du Sommeil la Vengeance & les Furies, La Mollesse, l’Envie, la Discorde, La Gloire, la Fortune, la Victoire, &c.“ Siehe: „Personifier“, in: Furetière, Dictionnaire universel, Tome III, o. S. 25 Ich folge hierfür der Einteilung Roman Jakobsons, der sechs Funktionen der Sprache bestimmt, von denen eine die referentielle Funktion ist. Siehe Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921−1971, hrsg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt am Main 1979, S. 83−121.

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Bemerkenswert dabei ist, dass in Félibiens Text die Sinnbilder der Instrumente im Sinne der anaphorischen Deixis gebraucht werden, da sie auf die im Ballsaal aufgeführte Musik vorverweisen, während sie in der Illustration, aufgrund des Fehlens der realen Musik, als Deixis am Phantasma anzusehen sind.26 Denn anstelle eines bewussten Zeigens einer Hier-Jetzt-Ich-Origo, wird ein Punkt, nämlich der Blick des Königs, zum Ausgangspunkt der Darstellung des Geschehens genommen, wobei das Geschehen, nämlich der Ball, über den Blick des Königs imaginativ aufgerufen und über die Personifikationen der Instrumente in Szene gesetzt werden. Einfacher gesagt: Die Druckgraphik bildet gerade nicht den Ball ab, sondern inszeniert im Gegenteil die Größe und Pracht des Balls über die Versinnbildlichungen der Instrumente und deren imaginären Zusammenspiels. Das einzig Konkrete der Illustration ist dementsprechend das tanzende Paar, das im Sinne der anaphorischen Deixis unmittelbar auf den Ball verweist, indes durch die Deixis am Phantasma des Balls überlagert wird. Hinzu kommt ein weiterer Effekt der bildlichen Darstellung, den es zu bedenken gilt. Versteht man unter ‚illustration‘ den Akt, etwas hervorzuheben resp. herauszustellen, das würdig ist, gepriesen zu werden, dann wird ersichtlich, dass die appellative Funktion der bildlichen Darstellung, aber auch die emotive Funktion an Bedeutung gewinnen. Denn anvisiert werden, das verdeutlichen auch die bildinternen Figuren, die ihren Blick auf ein Jenseits des Bildraumes richten, die bildexternen Betrachter:innen, die ihrerseits den inszenierten Ball würdigen sollen, wobei der Blick des Königs als Orientierungspunkt für die Wahrnehmung und damit verbunden für das Verständnis des Dargestellten dient. Es wird dementsprechend an die bildexternen Betrachter:innen appelliert, sich die Größe und die Pracht der Musik anhand der „grandes figures de Femmes“ zu vergegenwärtigen und über deren Status als Sinnbilder der jeweiligen Instrumente, die Musik gleichermaßen sinnlich und imaginativ zu erleben. Dabei unterstreicht die Wahl der Personifikationen, die mit der Auslassung der realen Musik einhergeht, dass die Illustration von der poetischen Funktion der bildlichen Darstellung geprägt wird, insofern die vermittelte Botschaft, der Ball und das musikalische Vergnügen, selbst zum Thema gemacht werden und nicht die Darbietung einer spezifischen Musik oder die Präsentation bestimmter Musiker:innen.

26 Zur Deixis im Allgemeinen sowie zur Unterscheidung zwischen anaphorischer Deixis und Deixis am Phantasma siehe die klassische Studie von Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 2 1965, besonders S. 121−140.

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3.

Elocutio – Metapher und Metonymie

Die Verwendung von musikalischen resp. instrumentalen Personifikationen in der Druckgraphik des Balls sowie deren Funktion als Deixis am Phantasma kontrastiert latent mit der Aufgabe zur ‚illustration‘, die wiederum die Grundlage bildet für die Fabrikation von Louis XIV, die über die Darstellung des Grand Divertissement royal geleistet werden soll. Denn die Personifikationen gehören in den Bereich der Redefiguren und stehen entsprechend außerhalb der außersprachlichen Wirklichkeit, während die Fabrikation eines spezifischen Herrscher-Image zunächst einmal einer konkreten, realen Person der Wirklichkeit gilt. Die Darstellung der Musik in den Druckgraphiken der Relation erhält vor diesem Hintergrund einen mehrfachen medialen Charakter: Denn das Medium Musik wird in ein zweites Medium, die Druckgraphik überführt, das wiederum elementarer Bestandteil eines dritten Mediums, des Buches resp. der Relation, ist, dessen Aufgabe schließlich ist, eine multimediale Illustration der Größe und Pracht des königlichen Hofes zu leisten, um dergestalt das Image des Königs Louis XIV zu fabrizieren. Die Wahl eines bestimmten Ereignisses oder eines bestimmten Augenblicks geschieht folglich nicht willkürlich oder unbewusst, sondern ist im Gegenteil Produkt vorausliegender Strategien, die allererst den im Bild manifestierten Blick auf die Musik hervorbringen.27 Dabei sind Sujet und Modus der Darstellung gleichermaßen von Bedeutung, da sie auf je eigene Weise erlauben, visuelle Perspektiven auf auditive Kulturen zu werfen. Besonders deutlich wird dies, wenn man die divergierenden bildlichen und sprachlichen Darstellungen der theatralen Aufführungen betrachtet. Geht man von einer unmittelbaren Bild-Text-Relation aus, dann lässt sich das gewählte Sujet der Druckgraphik wie folgt bestimmen: Es handelt sich um das Finale der Comédie en musique von Lully, was anhand der auftretenden Figuren und deren Attributen evident wird: Tous les Danseurs se meslent ensemble, 6 l’on voit parmy les Bergers & les Bergeres quatre des suivans de Bachus* avec des thyrses, & quatre Bacchantes avec des especes de tambours de Basque, qui representent ces cribles qu’elles portoient anciennement aux festes de Bachus. De ces thryses les suivans frapent sur les cribles des Bacchantes, 6 font differentes postures pendant que les Bergers & les Bergeres dansent plus serieusement.28

Geht man von dieser Beschreibung Félibiens aus, dann lässt sich nicht nur der gewählte Ausschnitt des theatralen Divertissements benennen, auch die Figuren

27 Zum Begriff der ‚Strategie‘ siehe besonders Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, darin besonders Kapitel 3: „Gebrauchsweisen und Taktiken: Etwas benutzen“, S. 77−103. 28 Félibien, Relation, S. 28.

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auf der Bühne lassen sich weiter konkretisieren. Im Vordergrund der Bühne werden nun zwei Vierergruppen erkennbar, die aus jeweils zwei Dienern des Gottes Bacchus sowie zwei Bacchantinnen gebildet werden, die zusammen tanzen und musizieren. Zugleich fällt auf, dass die im Zitat von Félibien genannten tanzenden Hirt:innen zurücktreten bzw. genauer: am Rand der Bühne positioniert werden, wo sie gleichsam Spalier stehen für die Diener:innen des Bacchus. Auffällig ist die sich hieraus ergebende Differenz zwischen bildlicher und textlicher Darstellung, insofern Félibien dieses Finale der Comédie en musique zum Anlass nimmt, deren Wirkungsästhetik den Leser:innen vor Augen zu stellen, was in der bildlichen Darstellung vollkommen fehlt: On peut dire que dans cet ouvrage le sieur de Lully a trouvé le secret de satisfaire & de charmer tout le monde; car jamais il n’y a rien eu de si beau ny de mieux inventé. Si l’on regarde les danses, il n’y a point de pas qui ne marque l’action que les Danseurs doivent faire; & dont les gestes ne soient autant de paroles qui se fassent entendre. Si l’on regarde la Musique, il n’y a rien qui n’exprime parfaitement toutes les passions & qui ne ravisse l’esprit des Auditeurs. Mais ce qui n’a jamais esté veu, est cette harmonie de voix si agreable, cette symphonie d’instruments, cette belle vnion de differens chœurs, ces douces chansonnettes, ces dialogues si tendres & si amoureux, ces échos, & enfin cette conduite admirable dans toutes les parties, où depuis les premiers recits l’on a veu toûjours que la Musique s’est augmentée, & qu’enfin après avoir commencé par vne seule voix, elle a finy per vn concert de plus de cent personnes que l’on a veuës toutes à la fois sur vn mesme Theatre joindre ensemble leurs instruments, leurs voix & leurs pas, dans vn accord & une cadence qui finit la Piece, en laissant tout le monde dans vne admiration qu’on ne peut assez exprimer.29

Ausgehend von Félibiens Beschreibung des vorliegenden Divertissements, müsste die Wahl des Bildsujets als verfehlt angesehen werden. Zwar stimmen Text und Bild darin überein, dass sie Lullys Comédie en musique gegenüber Molières Comédieballet privilegieren, allerdings kulminiert die musikalische Inszenierung gemäß Félibien im Zusammenspiel von über einhundert Personen, die zusammen singen, tanzen und Instrumente spielen, da dieses beim Publikum eine über das Sagbare hinausgehende Bewunderung hervorrief. Einfacher gesagt: Die Leistung von Lullys Comédie en musique besteht darin, dass sie die ‚admiration‘ des höfischen Publikums hervorrief und dergestalt ihren Beitrag zur ‚illustration‘ des Grand Divertissement royal und damit verbunden zur Fabrikation von Louis XIV leistete. Die Wahl der acht tanzenden Diener:innen des Bacchus, die im Mittelpunkt der Druckgraphik stehen, könnte demgegenüber zunächst einmal damit erklärt werden,

29 Ebd., S. 29.

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dass im Bild der Tanz, im Text hingegen, wie Félibien explizit hervorhebt, die Musik in den Blick genommen wird. Dergestalt würde die Musik erneut nur mittelbar perspektiviert werden, da sie die Grundlage oder zumindest den Hintergrund bildet für den sichtbar im Vordergrund stehenden Tanz. Allerdings würde damit außer Acht gelassen werden, dass der Tanz selbst musikalisch bedeutungstragend ist, insofern die Tänzer Rispen tragen, mit denen sie die Tambourine der Tänzerinnen schlagen, so dass sie zugleich tanzen und tanzend musizieren. Bedenkt man zudem, dass die Druckgraphik zwischen den Druckseiten 16 und 17 eingefügt wurde, die kurze Beschreibung der im Bild vorgestellten Szene auf Seite 28, die ausführliche Wiedergabe der musikalischen Inszenierung auf Seite 29 zu finden ist, dann wird deutlich, dass eine unmittelbare Text-Bild-Relation gerade nicht anzusetzen ist, da diese eine unmittelbare Nähe von beiden erfordern würde, die eben nicht gegeben ist. Die texträumliche Differenz zwischen bildlicher und textlicher Darstellung der Comédie en musique legt es nahe, nicht nur die unterschiedliche Wahl der Sujets der Darstellung in den Blick zu nehmen, sondern auch bzw. vor allem die differenten Modi der Darstellung. Folgt man Félibiens Beschreibung, dann wird leicht ersichtlich, dass hier das Augenmerk auf die Ähnlichkeit der dargestellten Elemente gelegt wird, was insbesondere im abschließenden Satz des Zitats zum Ausdruck kommt: Mais ce qui n’a jamais esté veu, est cette harmonie de voix si agreable, cette symphonie d’instruments, cette belle vnion de differens chœurs, ces douces chansonnettes, ces dialogues si tendres & si amoureux, ces échos, & enfin cette conduite admirable dans toutes les parties, où depuis les premiers recits l’on a veu toûjours que la Musique s’est augmentée, & qu’enfin après avoir commencé par vne seule voix, elle a finy per vn concert de plus de cent personnes que l’on a veuës toutes à la fois sur vn mesme Theatre joindre ensemble leurs instruments, leurs voix & leurs pas, dans vn accord & une cadence qui finit la Piece, en laissant tout le monde dans vne admiration qu’on ne peut assez exprimer.30

Die Wahl der Adjektive – „agréable“, „doux“, „tendre“, und „amoureux“– ist hierfür genauso bezeichnend wie diejenige der Substantive – „harmonie“, „symphonie“, „union“, „dialogue“ und „échos“ –, da sie basale Elemente der galanten Liebesethik bzw. der ‚esthétique galante‘ sind, die auf das genauso zivilisierte wie harmonische Miteinander der Liebenden im Namen der dezidiert französischen Galanterie abzielen.31 Die Musik, die hier explizit in den Blick genommen wird –„Si l’on regarde 30 Ebd. 31 Zum Konzept der ‚esthétique galante‘ siehe grundlegend Alain Viala, „Les Signes galants. A Historical Reevaluation of Galanterie“, in: Exploring the Conversible World: Text and Sociability from the Classical Age to the Enlightenment (= Yale French Studies 92), hrsg. v. Elena Russo, New Haven 1997, S. 11–29, und ders., La France galante. Essai historique sur une catégorie culturelle de ses origines jusqu’à la

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la musique“ – fokussiert die Leidenschaften und vergnügt die Zuhörer:innen, wobei entscheidend ist, dass hier der ‚esprit des auditeurs‘ explizit genannt wird und nicht deren Sinnlichkeit.32 Lullys Comédie en musique Les Festes de l’Amour et de Bacchus steht demnach paradigmatisch ein für die musikalische Inszenierung der galanten Liebesethik, als deren höchster Repräsentant der König Louis XIV seit den Plaisirs de l’île enchantée fungiert.33 Betrachtet man demgegenüber die Inszenierung der Druckgraphik, dann fällt zunächst einmal auf, dass der ganze Bildhintergrund, der von der Theaterbühne und dem Theaterraum gebildet wird, bebildert ist, wobei zwischen dem, wenn man so sagen kann, lebenden Bild, das von der Theaterbühne geboten wird, und den stummen Bildern, die an den Wänden und Deckenüberhängen angebracht wurden, zu unterscheiden ist. Sie alle stehen jedoch über die gewählten Sujets sowie über die Form der Präsentation in einer bildkonstituierenden Relation zueinander, insofern sie der gleichen semantischen Ebene, nämlich der Darstellung von Liebesgeschichten angehören. Die Ähnlichkeitsrelation des Textes wird entsprechend durch eine Kontiguitätsrelation des Bildes ersetzt. Entscheidend hierbei ist weiterhin, dass die dargestellten Liebesgeschichten auf Kombination abzielen und entsprechend ein Syntagma ausbilden, das als Zivilisierung der Liebe gefasst werden kann. Evident wird dies, wenn man sich die Differenz zwischen der tradierten Liebesgeschichte von Bacchus und Venus und der im Bild anhand von Lullys Comédie en musique vorgestellten Version bewusst macht. Denn gemäß dem Dictionnaire universel von Furetière ist Bacchus zunächst einmal wie folgt zu charakterisieren: Bacchus. S. m. Dieu des Payens qui étoit invoqué par les debauchés, à cause qu’on le croyoit inventeur du vin. On appelle encore Enfants de Bacchus, des yvrognes, de bon beuveurs. On dit aussi, que Bacchus & Venus vont de compagnie, pour dire, quela debauche du vin mene à celle de l’amour.34

Révolution, Paris 2008, sowie zur galanten Liebesethik Jörn Steigerwald, Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Liebesthetik der höfischen Gesellschaft (1650−1710), Heidelberg 2011. 32 Hierdurch wird ein deutlicher Unterschied zur Beschreibung des Grand Divertissement royal ersichtlich, wie er in Madeleine de Scudérys nouvelle galante, La Promenade de Versailles vorliegt, in der gerade die sinnliche und damit verbundene amouröse Qualität der Festivität die Darstellung bestimmt. Siehe Madeleine de Scudéry, La Promenade de Versailles, hrsg. v. Marie-Gabrielle Lallemand, Paris 2002, besonders der Abschnitt: „La Fête de Versailles“, S. 247−259. 33 Siehe hierzu ausführlich Steigerwald, Das Fest der Feste, besonders der Abschnitt: „Die soziale Praxis der ‚Plaisirs de l’île enchantée‘“, S. 26−27. 34 „Bacchus“, in: Furetière, Dictionnaire universel, Tome I, o. S.

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Von Ausschweifungen im Namen des Bacchus kann auf der Druckgraphik genauso wenig die Rede sein wie von amourösen oder gar sexuellen Exzessen, vielmehr legt die Verwendung der Rispen durch die Tänzer nahe, dass hier von einem dezidiert poetischen Umgang auszugehen ist, die das Majestätische des Gottes sowie das Zivilisierte der Feierlichkeiten vor Augen stellt.35 Die Musik, die hier in den Blick genommen wird, erzählt folglich die Geschichte einer zivilisierenden oder zumindest im Laufe der Handlung zivilisierten Liebe, die im Kontrast steht zur nicht abgebildeten, aber im Hintergrund stehenden transgressiven, da die Ständegrenzen überschreitenden Liebe des Titelhelden in Molières Comédie-ballet Georges Dandin.36 Systematisch gewendet ergibt sich aus dem Text-Bild-Vergleich indes eine ganz grundsätzliche Unterscheidung, die nicht per se Bild und Text auf je eigene Weise charakterisiert, sondern im Gegenteil differente Modi der Darstellung bezeichnet, die gleichermaßen in der bildlichen sowie in der textlichen Darstellung von Musik zum Tragen kommen können. Denn die in Félibiens Text in Szene gesetzte Ähnlichkeitsrelation sowie der damit verbundene Fokus auf die Paradigmatik kennzeichnet gemäß Roman Jakobson die Metapher und produziert dergestalt eine spezifische poetische Funktion der Sprache (des Bildes), die als metaphorische Funktion gefasst werden kann. Demgegenüber repräsentiert die Kontiguitätsrelation der Druckgraphik sowie die damit verbundene Kombinatorik, die erst eigentlich die Grundlage für die Syntagmatik der bildlich präsentierten Geschichte bildet, das Charakteristikum der Metonymie. Daher kann in Analogie zur metaphorischen Funktion von einer metonymischen Funktion der Sprache (des Bildes) gesprochen werden.37

35 Siehe: „Thyrse. S.m. Terme poëtique. C’est le sceptre que les anciens Poëtes ont donné à Bacchus.“, in: Furetière Dictionnaire universel, Tome III, o. S.  36 Molières Comédie-ballet Georges Dandin hat, wie der Untertitel „ou le mari confondu“ deutlich vor Augen stellt, einen reichen Bauern zum Protagonisten, der die Tochter verarmter Landadeliger geheiratet hat und darauf aufbauend von seinen Schwiegereltern sowie seiner Gattin und weiteren Adeligen für sein Fehlverhalten gedemütigt wird. Siehe auch André Félibiens bezeichnende Charakterisierung des Molière’schen Werkes: „Le sujet est qu’un riche Païsan s’estant marié à la fille d’vn Gentilhomme de campagne, ne reçoit que du mépris de sa femme aussi bien que de son beau-pere & de sa belle-mere, qui ne l’avoient pris pour leur gendre qu’à cause de ses grands bien. / Toute cette Piese est traitée de la mesme sorte que le sieur de Moliere a de coûtumede faire ses autres Pieces de theatre ; c’est à dire qu’il y represente avec les couleurs si naturelles le caractere des personnes qu’il introduit, qu’il ne se peut rien voir de plus ressemblant que ce qu’il a fait pour montrer la peine & les chagrins où se trouvent souvent ceux qui s’allient au dessus de leur condition.“ Félibien, Relation, S. 21. 37 Roman Jakobson, „[Metapher und Metonymie:] Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak“, in: ders., Poetik, S. 192−211.

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Bemerkenswert hierbei ist, dass gemäß Jakobson die Metapher als Charakteristikum der Poesie, insbesondere derjenigen der Romantik und des Symbolismus verstanden werden kann, während die Metonymie kennzeichnend für die Prosa des Realismus ist. Frühmoderne Texte und Bilder, wie die hier vorliegende Relation von André Félibien mitsamt der ihr beigegebenen Druckgraphiken verdeutlichen hingegen, dass eine solche Unterscheidung das Potenzial von Metapher und Metonymie nicht ausschöpft, um die Distinktionsmechanismen von Texten und Bildern zu erfassen. Denn auch nicht-poetische Texte, wie die Relation Félibiens, können metaphorisch sein, während die integrierte Illustration metonymisch ist. Dabei ist ein Punkt von besonderer Bedeutung, da er die angestrebte ‚illustration‘ zwar nicht hervorbringt, aber deren Bedeutung für die Fabrikation eines Images erklärt: Eine Metonymie ist eine Redefigur, die einen Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit hat, während die Metapher eine Redefigur ist, die immer nur auf andere Redefiguren bezogen wird.38 Gerade dadurch wird indes der vorderhand irritierende Status der Druckgraphiken verständlich, der weder rein sinnbildliche Darstellung noch konkrete Abbildung einer außersprachlichen Wirklichkeit ist, sondern eine rhetorisch überformte, weil metonymisch geformte Präsentation von Wirklichkeit – gerade dann, wenn sie die Musik in den Blick nimmt. Denn in den Augenschein genommen werden die Festes de l’Amour et de Bacchus in ihrer ganzen Bedeutung, nämlich als Fest, das die Liebe, mithin Venus privilegiert, aber auch die Festlichkeiten mit bedenkt, die im Namen von Bacchus zelebriert werden, wie die vorausgehende Collation und der folgende Festin, und zugleich auf den zivilisierenden sowie zivilisierten Umgang der beiden, aber eben auch mit beiden im Namen der Galanterie abzielt.

4.

Memoria – Gedächtnis und Erinnerungsort

Die rhetorische Memoria unterscheidet systematisch zwischen Topoi und Loci und ermöglicht auf diese Weise das imaginative Abschreiten von Orten, die wahlweise als (Gemein-)Plätze der Rede oder als konkrete Orte der Argumentation fungieren. Die Divertissements des Premier Versailles im Allgemeinen sowie das Grand Divertissement royal verdoppeln resp. verdreifachen diese Darstellungslogik, indem sie diese zur Grundlage für das Fest und die Festbeschreibung nehmen. Geht man von den Plaisirs de l’île enchantée aus, dann erkennt man leicht, dass diese über mehrere Tage gehenden Vergnügungen einem übergeordneten Motto und damit verbunden

38 Siehe Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen englischen und deutschen Philologie, Ismaning 10 1990, besonders S. 216−225 zur Metonymia und S. 228−231 zur Metaphora.

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einer spezifischen Konzeption folgen. Dem Grand Divertissement royal von 1668 sowie den Divertissements de Versailles von 1674 scheint vorderhand ein solcher Zusammenhang zu fehlen, wenn man den jeweiligen Titel betrachtet. Gleichwohl ist zu bedenken, dass gemäß Félibien das gebotene Fest einer bewussten Vorgabe des Königs folgt, der zugleich die Abfolge regelte, wenn auch nicht den präzisen Inhalt jeder einzelnen Festivität: […] il [i. e. Louis XIV] resolut de faire vne Feste dans les jardins de Versailles où parmy les plaisirs que l’on trouve dans vn sejour si délicieurx, l’esprit fust encore touché de ces beautez surprenantes & extraordinaires dont ce grand Prince sçait si bien assaisonner tous ses divertissements. / Pour cet effet voulant donner la Comedie ensuite d’une collation, & le souper aprés la Comedie qui fust suivy d’vn bal & d’vn feu d’artifice; il jetta les yeux sur les personnes qu’il jugea les plus capables pour disposer toutes les choses propres à cela.39

Der Versailler Park bildet folglich den Raum, der vom geladenen Hof sowie dem König abgeschritten wurde, wobei die jeweiligen Divertissements, also die Collation, die Comédie, der Souper, der Ball und das Feuerwerk als Topoi zu verstehen sind, die wiederum einzelne Loci beinhalten, die nacheinander betrachtet, erlebt und/ oder durchschritten werden. Wenn man vor diesem Hintergrund den Park als Gedächtnisraum begreift, dann stellt sich die weitergehende Frage, welchen Inhalt die ‚Rede‘ resp. das Fest hat oder einfacher gefragt: Welches Motto liegt dem Fest zugrunde? Bemerkenswert ist hier erneut die Differenz zwischen der Festbeschreibung und den beigegebenen Druckgraphiken, insofern Félibiens Text die einzelnen Topoi gleichberechtigt nebeneinanderstellt, wobei ein Topos, nämlich die Comédie dadurch heraussticht, dass die zuvor geplante Comédie ergänzt wurde um eine weitere, so dass Lullys Comédie en musique und Molières Comédie-ballet zusammenwirken. Nimmt man hingegen die Druckgraphiken in den Blick, ergibt sich ein anderes Bild: Denn zum einen findet sich nur die Darstellung von Lullys Festes de Venus et de Bacchus und nicht eine von Molières Georges Dandin und zum anderen ist dies die einzige Illustration, die ein spezifisches Motto über den Titel der Comédie en musique vermittelt, während alle anderen Druckgraphiken schlicht die Collation, den Festin (anstelle des geplanten Souper), den Ball und die Illuminations (anstelle der geplanten Feux d’artifice) ohne weitere Charakterisierungen vor Augen stellen. Man sollte die Differenz zwischen nominell gebundener ästhetischer Praxis und nominell ungebundener sozialer Praxis nicht überbewerten, doch wäre es auch verkehrt, die hierdurch sichtbare Distinktion der musikalischen Praxis außer Acht zu lassen. Denn die Abfolge der einzelnen Divertissements verdeutlicht, dass sie

39 Félibien, Relation, S. 4.

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alle der Venus und/oder dem Bacchus subsummiert werden können, wobei in beiden Fällen entscheidend ist, dass hier jeweils eine Zivilisierung der Vergnügungen zugrunde gelegt werden muss, wie sie in Lullys Comédie en musique den Zuhörer:innen vorgeführt wurde. Anstelle eines ausschweifenden Bacchanals wurden den anwesenden Gästen kulinarische Köstlichkeiten geboten und anstelle eines transgressiven Festes der Liebe eine genauso zivilisierte wie höfisch/höfliche Interaktion im Namen der Venus, die den selbstgestellten Ansprüchen der französischen Galanterie in jeder Hinsicht gerecht wurde. Ordnet man, wie hier vorgeschlagen, Lullys Festes de Venus et de Bacchus zu, sinnstiftend für die nachträglichen Betrachter:innen des Grand Divertissement royal zu sein, insofern hierdurch die immanente Repräsentationslogik transparent gemacht wird, dann ergeben sich daraus weitere Folgen für die in den Blick genommene Musik und die auditive Kultur, in die diese eingebunden ist. Denn der architektonische Raum des Versailler Parks bildet den adäquaten Rahmen für die Festes de Venus et de Bacchus, die im Gegensatz zu Molières Georges Dandin einen dezidiert bukolischen Raum verlangen.40 Das bukolische Sujet der Comédie en musique entspricht folglich der geforderten Angemessenheit des Gegenstandes, des aptums, doch unterstreicht die musikalische Inszenierung sowie die dargebotene Liebesgeschichte, dass auch das vom Raum und vom Publikum geforderte Decorum gewahrt wird. Denn der Park von Versailles ist ein Schlosspark, wie auch die geladenen Gäste allesamt dem Hof angehören, so dass deren Anforderungen an die bienséance bedacht werden müssen. Die Transformation eines latent transgressiven Sujets wie die Feiern von Venus und Bacchus in ein genauso zivilisiertes wie vergnügliches Divertissement perspektiviert entsprechend die Interaktion von ästhetischer und sozialer Praxis der Festkultur und fabriziert eine spezifische Hofkultur, die im Namen der Galanterie die Bedeutung der französischen Zivilisation für die eigene Kultur im Allgemeinen und für die Fabrikation von Louis XIV im Besonderen leistet. Hierfür wird in Félibiens Relation, vor allem aber in den ihr beigegebenen illustrations der Blick auf die Musik gerichtet, da diese, und im gebotenen Rahmen: nur diese auf genauso vorbildliche wie nachahmenswerte Weise die galante Liebesethik sinnfällig vor Augen stellt. Auf diese Weise schreiten die Betrachter:innen der Druckgraphiken und Leser:innen der Relation die vorgestellten Plätze mitsamt ihren Orten ab und

40 Der Protagonist von Molières Comédie-ballet, Georges Dandin, ist ein reicher Landmann, der eine verarmte Adelige heiratet. Ausgehend vom Protagonisten ist die Komödie der Repräsentationslogik der rota Vergilii folgend der Sphäre der Georgica zuzuordnen und nicht derjenigen der Bucolica, wie dies im Falle von Lullys Festes de Venus et de Bacchus gegeben ist. Kulturraum und Spielraum stehen entsprechend in einem Spannungsverhältnis zueinander, das noch größer wird, wenn man die Gattin von Georges Dandin und deren Familie mit bedenkt, da die Komödie dann zwischen Georgica und Aeneis verortet wird, wobei die Komik daraus resultiert, dass hier eine Art Aeneis-Travestie vorliegt.

Illustrationen musikalischen Vergnügens

erleben zugleich jenen Erinnerungsort des Premier Versailles, den es bereits zum Zeitpunkt der Drucklegung der Relation nicht mehr gab.41 Denn all das, was in der Relation schriftlich oder bildlich präsentiert wird, ist das ephemere und entsprechend schnell vergängliche Produkt eines Vergnügens, das nur an einem einzigen Tag und auch nur für diesen einzigen Tag erschaffen wurde, um von dort aus einen Erinnerungsort auszubilden, der das kulturelle Gedächtnis bis heute prägt.

5.

Actio – die bildliche Vergegenwärtigung

Die Einteilung des Grand Divertissements royal in fünf höchst unterschiedliche Divertissements, die alle, aber auf je eigene Weise, die Pracht und die Macht des Königs ausstellen sollten, geht mit einem Darstellungsproblem einher, da der nachträgliche Bericht der Ereignisse zwar die Festorte nacheinander abschreiten kann, der nur bedingt vorhandene Zusammenhang indes eine Erzählung eher erschwert, wenn er sie nicht faktisch unmöglich macht. Allerdings gilt es hierbei zu bedenken, dass die antike, auf Cicero und Quintillian aufbauende Rhetorik für diese Form der Beschreibung ein probates Mittel kennt, nämlich das sogenannte ‚Unmittelbar-vor-AugenStellen‘:42 „Illa vero, ut ait Cicero, sub oculos subiecto tum fieri solet, cum res non gesta indicatur, sed ut sit gesta ostenditur, nec universa, sed per partis; quem locum proxima libro subiecimus evidentiae.“43 Entscheidend dabei ist, dass ein solches ‚Vor-Augen-Stellen‘ darauf abzielt, etwas sichtbar zu machen bzw. etwas aufzuführen (‚ostendere‘), und nicht einfach nur etwas anzuzeigen (‚indicare‘). Bezogen auf die Druckgraphiken der Relation im Allgemeinen und derjenigen, die Lullys Comédie en musique im Speziellen gewidmet ist, ergeben sich daraus mehrere Folgen: 41 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf zwei Erinnerungsorte der französischen Kulturgeschichte, für die Versailles gleichermaßen einsteht. Siehe Édouard Pommier, „Versailles, l’image du souverain“, in: Les lieux de mémoire. La nation, Bd. 2 (3 Bde.), hrsg. v. Pierre Nora, Paris 1986, S. 193–234 und Hélène Himmelfarb, „Versailles, fonctions et légendes“, in: Les lieux de mémoire, S. 235–292. 42 Siehe hierzu grundlegend Rüdiger Campe, „Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft (= Germanistische Symposien-Berichtsbände, Bd. 18), hrsg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225, ders., „Aktualität des Bildes. Die Zeit rhetorischer Figuration“, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hrsg. v. Gottfried Boehm u. a., München 2007, S. 163–182 sowie Frauke Berndt, „Literarische Bildlichkeit und Rhetorik“, in: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, hrsg. v. Claudia Benthien, Brigitte Weingart, Berlin/Boston 2014, S. 48–67. 43 Marcus Fabius Quintillianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1995, Bd. 1 (2 Bde.), IX, 2, 40, S. 286 („Die Figur nun, die Cicero als Unmittelbarvor-Augen-stellen bezeichnet, pflegt dann einzutreten, wenn ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist, vorgeführt wird, und nicht im Ganzen, sondern in seinen Abschnitten.“ S. 287).

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Zunächst ist festzuhalten, dass die eigenwillige Raumordnung der Druckgraphik (Abb. 1), die einen doppelten Bildvordergrund kennt, nun verständlicher wird. Denn bei genauer Betrachtung erkennt man einen doppelten Rahmen, der einmal die Bildgrenze markiert und einmal den Bildinnenraum strukturiert. Das eigentliche Bild wird von einem schmalen Rand auf der linken und rechten Seite sowie am oberen Bildrand gerahmt, während um den unteren Bildrand der Rahmen breiter gelassen wurde, um dort eine französische und eine lateinische Bildunterschrift anzubringen. Oberhalb dieses Rahmens, der zugleich die eigentliche Bildgrenze markiert, findet sich ein zweiter Rahmen, der am unteren Bildrand von einem Parterre gebildet wird, auf dem vier Figuren symmetrisch zueinanderstehend angeordnet sind, während der obere Bildrand durch die in den Raum hineinragende Decke konturiert wird. Insbesondre der äußere Rahmen unterstreicht die Differenz zwischen zeigen resp. anzeigen und sichtbar machen resp. aufführen. Denn dieser äußere Rahmen existiert nur gemäß der Repräsentationslogik der Druckgraphik und hat kein Analogon in der außersprachlichen Wirklichkeit. Aber auch der bildinterne Rahmen hebt den Aufführungscharakter der Druckgraphik hervor, insofern dadurch eine doppelte Bühne in Szene gesetzt wird, nämlich eine erste Bühne am Übergang von Bildvordergrund zum Bildmittelgrund, auf der der König und seine Begleitung positioniert sind, und eine zweite Bühne, auf der die Musik, mithin Lullys Comédie en musique im eigentlichen Sinne aufgeführt wird. Diese systematische Unterscheidung zwischen der Bühne für die höfische soziale Praxis und derjenigen für die höfische ästhetische Praxis gilt es einerseits zu bedenken, wenn man die auditive Kultur analysieren will, die hier zur Darstellung gebracht wird, andererseits verdeutlicht die Druckgraphik, dass die Besonderheit dieses Divertissements darin besteht, dass beide interagieren und ihr Potenzial erst eigentlich durch die Verbindung beider Praxen hervorgebracht wird. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die Repräsentation der in den Blick genommenen Musik betrifft. Denn im Sinne der Rhetorik versteht man unter Repräsentation nicht einfach eine Nachahmung, sondern eine Vergegenwärtigung. In Quintilians Institutionis Oratoriae wird dies im Kapitel zum Wortschmuck, dem Ornatus, deutlich formuliert: Itaque ἐνάργεια, cuius in praeceptis narrationis feci mentionem, quia plus est evidentia vel, ut alii dicunt, repraesentatio quam perspicuitas, et illud patet, hoc se quodam modo ostendit, inter ornamenta ponamus. magna virtus res, de quibus loquimur, clare atque, ut cerni videantur, enuntiare.44

44 Quintillianus, Ausbildung des Redners, Bd. 2, VIII, 3, 61−62, S. 176. „Deshalb wollen wir die ἐνάργεια (Anschaulichkeit), deren ich schon bei den Regeln für die Erzählung Erwähnung getan habe, zu den Schmuckmitteln stellen, weil die Veranschaulichung oder, wie andere sagen, Vergegenwärtigung

Illustrationen musikalischen Vergnügens

Gemäß Quintillian versteht man unter „repraesentatio“ ganz konkret eine Form der ‚Vergegenwärtigung‘, die zudem über Qualitäten der Anschaulichkeit verfügt.45 Die Einordnung der ‚Vergegenwärtigung‘ in die Schmuckmittel, den ‚ornatus‘, führt zudem dazu, dass sie an den Bereich der Metaphern und damit des Vergleichs angebunden ist. Daraus folgt zunächst einmal für die Schreibweise der Relation, dass eine Vergegenwärtigung im Rahmen einer Erzählung insbesondere dann gegeben ist, wenn diese Sprachbilder nutzt, um über Vergleiche Dinge und Ereignisse dem Lesepublikum vor Augen zu stellen. Des Weiteren ist für die bildliche Darstellungsweise festzuhalten, dass auch sie über Kombinatorik läuft, was wiederum die Konzeption des Bildraumes weiter erklärt. Denn das gleichermaßen bukolische und amouröse Geschehen des Bühnenraums wird arrondiert durch weitere bukolische und/oder amouröse Szenerien, die auf den Seiten und am oberen Rand des Theaterraums angebracht wurden und dergestalt einen Vergleich zwischen den Bildern initiieren, der bei jedem neuen Bühnenbild, aber auch bei jeder Betrachtung der Druckgraphik aufs Neue fortgeführt wird. Die Besonderheit der Relation, die aus der differenten textlichen und bildlichen Darstellung resultiert, besteht darin, dass Félibiens Text den rhetorischen Vorgaben folgt, und die Metapher sowie die Analogie als Modus nutzt, wohingegen die bildliche Darstellung auf die Metonymie und die Kombinatorik als Modus abhebt, auch wenn beide im Bereich der Redefiguren bleiben. Ein letztes Moment gilt es noch zu beachten, das ersichtlich wird, wenn man das Bühnenbild betrachtet auf dem die Comédie en musique präsentiert wird. Denn es stellt sich abschließend die Frage, wie dieses faktisch gestaltet ist. Einerseits ist es möglich, dass das Bühnenbild auf einem Trompe-l’Œil-Effekt aufbaut, so dass nur eine räumliche Tiefe suggeriert wird, die indes gerade nicht gegeben ist, weshalb von einem abgeschlossenen Bühnenraum gesprochen werden kann. Andererseits kann auch eine Verlängerung des Bühnenraums in den Parkraum hinein vorliegen, so dass der Park quasi synekdochial zum Bühnenraum, wie auch umgekehrt der Bühnenraum synekdochial zum Parkraum wird, wodurch ein Zusammenspiel von Park und Bühne hergestellt wird. Wenn man von dieser Möglichkeit ausgeht, dann wird auch die Verortung der beiden Bühnen, der höfischen und der theatralen Bühne im Bild besser verständlich, da dann beide integraler Bestandteil des Parks von Versailles sind, der Park also selbst eine Bühne darstellt, die nur in verschiedene, systematisch unterscheidbare Bühnen aufgeteilt ist, die indes alle zusammen die Bühne der höfischen Festkultur bilden. Die Musik in den Blick zu nehmen

mehr ist als die Durchsichtigkeit, weil nämlich letztere nur den Durchblick gestattet, während die erstere sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt.“ Ebd., S. 177. 45 Siehe hierzu ausführlich Jörn Steigerwald, „Die Vergegenwärtigung höfischer Lustbarkeiten. André Félibiens Divertissements de Versailles (1674/76)“, in: Im-Materiell. Kulturerbe-Studien für Eva-Maria Seng zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Maria Harnack u. a., Berlin/Boston 2022, S. 59−72.

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heißt dann, sich die auditive Kultur, deren Bestandteil sie ist, nämlich die höfische Festkultur, zu vergegenwärtigen, um die von der Rhetorik geprägte Repräsentationslogik der in den Blick genommenen Musik zu verstehen. Denn dann wird evident, dass die Visualisierung der Musik in Félibiens Relation nicht darauf abzielt, die im Bild vorgestellte Musik den Betrachter:innen zu sehen zu geben, sondern im Gegenteil dazu beiträgt, einen Dritten, nämlich den König Louis XIV., in all seiner Pracht und samt seiner Macht vor Augen zu stellen, um dessen Image zu fabrizieren.

Henrike Rost

Musikinstrument vs. Küchengerät ‚Bildkörper‘ und ‚Körperbilder‘ im Stammbuch von Ignaz Moscheles Im November 1826 schenkte der Literat und Satiriker Moritz Gottlieb Saphir (1795–1858) dem Komponisten und Klaviervirtuosen Ignaz Moscheles (1794–1870) eine Zeichnung für sein Musik-Stammbuch: „skizzirt, drappiert und seinem verehrten Freund dedizirt“.1 Zu sehen ist eine aus diversen Musikinstrumenten zusammengesetzte männliche Gestalt, die am Klavier spielt. Der sogenannten „Instrumenten-Figur“ fügte Saphir einen umfangreichen Begleittext bei, der über seine Motive und Sichtweisen sowie über kulturelle und gesellschaftliche Bezugsrahmen Auskunft gibt. Es liegt nahe, die „Instrumenten-Figur“ als ‚Bildkörper‘ sowie in der Umkehr als ‚Körperbild‘, d. h. als allegorische Darstellung eines Musiker-, aber auch eines Männer-Körpers zu betrachten. An diesem konkreten Beispiel möchte ich – in Hinblick auf eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bildquellen – exemplarisch das methodische Potenzial des von Sigrid Schade und Silke Wenk aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur entwickelten Konzepts der „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“ bzw. des ‚Unsichtbar-Machens‘ erproben.2 Eine Voraussetzung dafür ist es, die jüngeren Entwicklungen der Kunstwissenschaften in Hinblick auf das Verhältnis von Bild und Körper in Erinnerung zu rufen. Die Begriffstrias von „Medium – Bild – Körper“ ist wesentlich für die Bild-Anthropologie, die auf eine Rekonstruktion des Bildermachens als anthropologische Kulturtechnik zielt, und hatte somit teil an der grundlegenden disziplinären Neuorientierung und Ausrufung der ,Bildwissenschaft‘.3 Hans Belting, einer ihrer Hauptvertreter, ging in Hinblick auf den Körper-Begriff so weit, den wahrnehmenden und vorstellenden Körper als bildkonstituierend zu begreifen, somit also den

1 GB-Lbl, Zweig MS 215, f.146v (S. 210), f.148r-148v (S. 211–212). 2 Sigrid Schade, Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 9. Zu den Vorarbeiten und Impulsen, sowohl aus den Cultural Studies als auch aus der Kunstgeschichte, die die Studien zur visuellen Kultur bedingen und rahmen, vgl. ebd., S. 53–63. 3 Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; vgl. auch Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz (Hrsg.), Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002; sowie Martin Schulz, Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2005, darin bes. „Körperbilder und Bilder im Körper“, S. 125 ff.

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Körper als konstitutiv für das Bild an sich zu denken.4 Der Zusammenhang von ,blickendem (Menschen-)Körper‘ und ,erblicktem Bildkörper‘ lasse ein Bild im engen Sinne überhaupt erst entstehen. Eine zentrale These Beltings fasst Samuel Strehle daran anknüpfend wie folgt: „Bilder zeigen sich nicht nur im Medium des Körpers, auch ihr Inhalt verweist auf den menschlichen Körper. Es ist der Mensch selbst, der in den Bildern verhandelt wird.“5 Bilder, mit denen hier keineswegs nur Körperdarstellungen gemeint sind, werden in diesem Zuge an einen Körper-Begriff gebunden, der provozierend essentialistisch anmutet, zugleich aber die historische, soziale sowie kulturelle Determiniertheit der genannten Trias zugrunde legt. Diese Herangehensweise korrespondiert mit den Perspektiven der Historischen Anthropologie, so beschreibt etwa Dietmar Kamper den Körper „als Gedächtnisfolie für prähistorische, geschichtliche und biographische Einschreibungen“.6 Der Schritt zur „radikalen Historisierung“ sowie zur „Rekonzeptualisierung des Körpers als diskursiv hervorgebrachte, soziale Konstruktion“ kennzeichnet insbesondere die kulturwissenschaftlich und historisch ausgerichteten Körperstudien.7 Wie Dagmar Freist überzeugend darstellt, kann schließlich eine praxeologische Forschungsperspektive die Denkbewegungen um Diskurse, Körper und Materielle Kultur annähern und füreinander fruchtbar machen. Der Körper-Begriff ist dabei eng gebunden an Überlegungen zu Performanzen und Praktiken. So konstituieren sich soziale Praktiken, nach Andreas Reckwitz, u. a. „in ihrer materialen Verankerung in Körpern und Artefakten“:8 „Praktiken sind sinnhaft regulierte Körperbewegungen, die von einem entsprechenden impliziten, inkorporierten Wissen abhängen.“9

4 Hiermit korrespondiert die Perspektive der Leiblichkeit, die „unsere Erkenntnis zugleich ermöglicht und begrenzt“. Doris Schuhmacher-Chilla (2013/2012), „Körper – Leiblichkeit“, in: Kulturelle Bildung Online, https://www.kubi-online.de/index.php/artikel/koerper-leiblichkeit (letzter Zugriff: 06.10.2022). Vgl. auch Siri Hustvedt, Mit dem Körper sehen: Was es bedeutet, ein Kunstwerk zu sehen (= Internationale Schelling-Vorlesung an der Akademie der Bildenden Künste München 3), Berlin/ München 2010. 5 Samuel Strehle, „Hans Belting: ‚Bild-Anthropologie‘ als Kulturtheorie der Bilder“, in: Kultur. Theorien der Gegenwart, hrsg. v. Stephan Moebius, Dirk Quadflieg, Wiesbaden 2011, S. 507–518, hier S. 511. 6 Dietmar Kamper, „Körper“, in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hrsg. v. Christoph Wulf, Weinheim/Basel 1997, S. 407–416, hier S. 414; vgl. auch darin ders., „Bild“, S. 589–595. 7 Dagmar Freist, „Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung“, in: Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, hrsg. v. ders. (= Praktiken der Subjektivierung 4), Bielefeld 2015, S. 9–30, hier S. 13 f. 8 Andreas Reckwitz, „Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen“, in: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Ders., Bielefeld 2016, S. 49–66, hier S. 49 f. 9 Ebd., S. 53.

Musikinstrument vs. Küchengerät

An praxeologische Herangehensweisen können auch Schade/Wenks „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“ anknüpfen.10 Wenk folgend handelt es sich um ein Konzept, „das die Reduktion auf den Augensinn ebenso wie auf das Bild zu überwinden beansprucht und zugleich mit der Fokussierung auf die Praktiken die soziale, vergesellschaftende Funktion des Visuellen mit einschließt und Machtverhältnisse nicht ausklammert“.11 Im Anschluss an W. J. T. Mitchells These der ,visuellen Konstruktion des Sozialen‘ sei es demnach wesentlich, „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“ nicht nur als visuell zu begreifen, sondern als „mit Texten, mit Sprache, mit Zuhören-Gegebenem notwendig verknüpft“.12 Zur Untersuchung dieser ,Praktiken‘ schlagen Sigrid Schade und Silke Wenk schließlich folgende simpel anmutende, jedoch durchaus effektive Leitfrage vor: „Wo wird wem was und wie zu sehen gegeben, oder wo ist wem was und wie unsichtbar gemacht?“13 Bevor ich, anhand dieser Fragestellung,14 die „Instrumenten-Figur“ von Moritz Gottlieb Saphir sowie ihren zu diesem Zeitpunkt noch ‚unsichtbaren‘ weiblichen Gegenpart – als Bildkörper und Körperbilder – diskutieren werde, möchte ich zunächst einführend den materiellen Kontext der Zeichnung thematisieren – und damit auch die Frage, wo und wem Saphirs „Instrumenten-Figur“ ‚zu sehen gegeben wird‘.

1.

Materielle Kontexte: Das Stammbuch von Ignaz Moscheles

Die Zeichnung der „Instrumenten-Figur“ ist Teil des Stammbuchs des Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles. Sie wurde aufgrund ihres Formats längs in das Album eingeklebt;15 zum Bild gehört außerdem ein längerer handschriftlicher Text, der direkt auf zwei Albumseiten niedergeschrieben wurde und die bildliche Darstellung umfassend erläutert. Der Text ist im Oktober 1826 datiert, so dass nachzuvollziehen ist, dass der Beitrag etwa eineinhalb Jahre nach Einrichtung des

10 Silke Wenk, „Praktiken des Zu-sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien zur visuellen Kultur“, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, hrsg. v. Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 275–290. 11 Ebd., S. 277. 12 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 9; vgl. William John Thomas Mitchell, Bildtheorie (aus dem Englischen von Heinz Jatho), Frankfurt am Main 2008, S. 323. 13 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 53. (Kursivierung im Original) 14 Die Frage möchte ich hier nicht als einfach anwendbares ‚methodisches Rezept‘ missverstehen, worauf auch die Autorinnen Wert legen, sondern im Sinne einer „störenden Intervention[en] in die geregelten Procedere der unterschiedlichen disziplinären Felder“. Ebd., S. 9. 15 Die Zeichnung im Hochformat, der ein dunkleres Papier unterlegt ist, hat die Maße 24,9 cm x 13,9 cm. Demgegenüber misst das Stammbuch im Querformat 22 cm x 29 cm.

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Stammbuchs entstanden sein muss. Generell sind die meisten Beiträge im Album von Ignaz Moscheles mit Datum, Ortsangabe und Widmungstext versehen. Musikbezogene Stammbücher, die Notenautographe ebenso wie Zeichnungen und wortsprachliche Beiträge enthalten können, waren im 19. Jahrhundert in künstlerischen und musikaffinen Kreisen weit verbreitet. Auf Erinnerung und Unterhaltung zielend, fokussieren Musik-Stammbücher das persönliche Andenken an Freundschaften und Begegnungen ebenso wie die gesellschaftliche Repräsentation und Selbst-Darstellung – sowohl von Albumeigner:in als auch Beiträger:in. Rezipiert wurden Stammbucheinträge zunächst vor allem von den Albumeigner:innen, Beiträger:innen und Personen aus dem jeweiligen Umfeld, denen das Stammbuch einfach nur gezeigt wurde. Nach dem Tod der Eigner:innen gelangte die Sammlung in den Nachlass und unterlag dabei neuen Rezeptionsprozessen, die häufig den monetären Wert der entsprechenden Autographe in den Fokus rückten. Im Zuge von Publikationen, wie auch im Falle der „Instrumenten-Figur“, konnten ausgewählte Stammbuchbeiträge zudem durchaus schon zu Lebzeiten der Beteiligten eine breitere Öffentlichkeit erreichen.16 Ignaz Moscheles führte sein Album in einem Zeitraum von 44 Jahren – von 1825 bis 1869. Er sammelte darin insgesamt 154 handschriftliche Beiträge von ihm in der Regel persönlich bekannten bzw. freundschaftlich verbundenen Personen. Mit seinem Stammbuch schuf er zum einen ein persönliches Erinnerungsobjekt, zum anderen dokumentierte er darin seine eigene künstlerische Bedeutung sowie gesellschaftliche Vernetzung und schrieb sich auf diese Weise in einen ideellen Radius ein. Als einflussreicher Musiker und Netzwerker verkehrte Moscheles über Jahre intensiv mit den künstlerischen Eliten des europäischen Kulturlebens des 19. Jahrhunderts. Nachzuvollziehen ist diesbezüglich eine deutliche Selektion: Fast ausschließlich öffentlich wirkende und bekannte Namen fanden Zugang zu seinem Album. Darunter sind Komponisten und Virtuosen wie Giacomo Meyerbeer, Felix Mendelssohn, Ferdinand Hiller, Robert Schumann, Luigi Cherubini, DanielFrançois-Esprit Auber, Gioachino Rossini, Niccolò Paganini, Franz Liszt, Frédéric Chopin, Sigismund Thalberg usw. Im Album vertreten sind aber auch verschiedene bildende Künstler sowie Literaten, darunter Johann Wolfgang von Goethe, Franz Grillparzer, Friedrich Rochlitz, Heinrich Heine oder Moritz Gottlieb Saphir. Bei den insgesamt 17 weiblichen Beiträgerinnen im Stammbuch handelt es sich – neben Clara Schumann als Pianistin – in erster Linie um die großen Sängerinnen der Zeit,

16 Für eine umfassende Auseinandersetzung mit musikbezogenen Stammbüchern, auf Grundlage eines Quellenkorpus von über 60 Alben aus dem Zeitraum von circa 1790 bis 1900, vgl. Henrike Rost, Musik-Stammbücher. Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts (= Musik – Kultur – Gender 17), Wien/Köln/Weimar 2020; darin zur „Instrumenten-Figur“ vgl. Kap. 3.8.5.

Musikinstrument vs. Küchengerät

darunter Giuditta Pasta, Maria Malibran, Giulia Grisi, Henriette Sontag, Pauline Viardot-Garcia. Von vornherein war das Album etwa zu zwei Dritteln mit vorliniertem Notenpapier ausgestattet. Hieran zeigt sich, dass zwar das Sammeln von Notenautographen eine wichtige Rolle einnahm, die Anlage des Albums aber auch die Aufnahme von Textbeiträgen und Zeichnungen vorsah. Im aktuellen Zustand enthält das Stammbuch 106 Notenautographe, 25 Textbeiträge sowie 14 Zeichnungen, zudem einige Briefe, Drucke und Fotos. Die Zeichnungen umfassen Landschaftsdarstellungen, Stillleben, Genreszenen, Porträts sowie einige allegorische ‚Körperbilder‘, die auf die Welt der Kunst bzw. auf Moscheles’ Wirken als Musiker Bezug nehmen und zu denen auch Saphirs „Instrumenten-Figur“ zu zählen ist.

2.

Die „Instrumenten-Figur“ im Blick: Aspekte des Sehens und Hörens

Die Frage, was ‚zu sehen gegeben wird‘, sei im Folgenden beantwortet: Bei Saphirs „Instrumenten-Figur“ (siehe Abb. 1) handelt es sich um die anthropomorphe Darstellung eines Körpers, der aus diversen ineinander verschränkten Musikinstrumenten besteht. Die Gestalt trägt insgesamt eher männliche Züge, worauf – unter Einbeziehung der historischen Kleiderordnung – insbesondere die hosenähnliche Präsentation des Unterkörpers verweist. Der Torso setzt sich zusammen aus einem kopfüber gedrehten Cello und einer Pauke. Eine Trommel, überdacht von einem Horn als Hut, bildet den Kopf der Figur. Akzidentien und ein Notenschlüssel markieren die Gesichtszüge. Die Hals-Kopf-Konstruktion ruht auf der Cello-Unterseite, zwei Becken markieren die Schultern. Beim sichtbaren linken Oberarm handelt es sich um eine Klaviertastatur, die Unterarme bestehen aus mit einer Flöte verschnürten Trompeten. Aus dem Rücken der Figur ragt eine Harfe hervor. Das linke Bein, auf dem das Gewicht des Körpers ruht, setzt sich zusammen aus einer Gitarre, einem Tamburin mit Schellen und zwei schalmeiartigen Blasinstrumenten; eine Panflöte stellt den Fuß dar. Das rechte Bein besteht aus einem Lauteninstrument, einer Flöte, einer Geige oder Bratsche mit Bogen und einem weiteren Blasinstrument. Die Flöte, die am Ansatz des rechten Beins anliegt, könnte dabei als zotiger Hinweis auf das Geschlecht der Figur verstanden werden. Der rechte Fuß, bei dem es sich um eine kleine Leier handelt, ist im Begriff vom Boden abzuheben, so dass die „Instrumenten-Figur“ gerade einen Schritt ausgeführt zu haben scheint. Sie spielt aufrecht stehend an einem Klavier, dessen Tastatur ungewöhnlich hoch liegt. Indem Saphirs „Instrumenten-Figur“ aus zahlreichen Musikinstrumenten konstituiert wird, erhält sie neben der visuellen auch eine klingende Dimension. Zudem wird der Körper in Bewegung dargestellt: Er spielt auf einem Tasteninstrument, musiziert also selbst aktiv. Die „Instrumenten-Figur“ weist dabei Ähnlichkeiten mit einer Reihe von barocken Musiker-Darstellungen auf, die unter dem Titel „Habit de

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Abb. 1 Die „Instrumenten-Figur“ von Moritz Gottlieb Saphir, © The British Library Board (Zweig MS 215, f.147r).

musicien“ kursierten.17 Ob und wo der Literat diese Pariser Drucke des 17. und frühen 18. Jahrhunderts rezipiert haben könnte, kann hier nicht beantwortet werden.

17 Fündig wird man bei der Stichwortsuche etwa über die digitale Datenbank „Gallica“ der Bibliothèque Nationale de France. Besonders eine 1721 datierte Darstellung, die aus der Pariser KupferstecherDynastie Bonnart stammt, weist in Hinblick auf die schriftlichen Erläuterungen zu den körperkonstituierenden Instrumenten auffallende Parallelen zur „Instrumenten-Figur“ auf: https://gallica. bnf.fr/ark:/12148/btv1b8431712t (letzter Zugriff: 06.10.2022). Ich danke Stephanie Schroedter für den freundlichen Hinweis auf die Darstellungen, die mit Bühnenkostümen des Ballet de Cours korrespondieren. Vgl. auch Sarah E. Buck, „Bodies of Work in the ancien régime: The Costumes Grotesques by Nicolas I de Larmessin“, in: Visual Typologies from the Early Modern to the Contemporary. Local Contexts and Global Practices, hrsg. v. Tara Zanardi und Lynda Klich, New York/London 2019, S. 31–44, bes. S. 34–36.

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Im direkten Vergleich der Bilder scheint eine Inspiration durch die französischen Quellen aber im Bereich des Möglichen zu liegen. Da sonst keine Zeichenaktivitäten von Moritz Gottlieb Saphir zu belegen sind, halte ich es für unwahrscheinlich, dass die Zeichnung von ihm selbst stammt, so dass er sie vermutlich nach seinen Vorgaben anfertigen ließ. Saphirs handschriftliche Widmung datiert vom 15. Oktober 1826 in Berlin. Ihm war das Album also entweder für mehrere Wochen ausgeliehen worden oder der Satiriker hatte sich im Monat geirrt, waren Ignaz und seine Frau Charlotte Moscheles – nach Stationen in Wien, Prag und Dresden – doch erst am 11. November 1826 in Berlin eingetroffen.18 Die von Charlotte Moscheles auf Grundlage von Tagebucheinträgen und Briefen verfasste Biographie ihres Mannes untermauert eine Datierung im November und berichtet von „eine[m] kleinen Austausch von Scherzen, den Saphir hervorrief, indem er ihm [Moscheles] eine Instrumenten-Figur mit sehr witziger Erklärung für sein Album brachte“.19 Charlotte Moscheles schildert zudem, dass die Überbringung der Zeichnung ihren Mann im Gegenzug zu einer Komposition veranlasste. Ignaz Moscheles schrieb „als Erwiderung“ einen vierstimmigen Kanon über das Motto der von Saphir herausgegebenen Zeitschrift Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit: „Nur frisch, holpert es gleich, über Stock und Stein, rasch in’s Leben hinein.“20 Der „Austausch“ bot Moscheles somit Gelegenheit, seine eigene künstlerische Identität aktiv zu profilieren. Darüber hinaus wurde die Zeichnung der „InstrumentenFigur“ aber auch mit ‚Zu-hören-Gegebenem‘ nachhaltig verknüpft.21 Denn wurde der Kanon gesungen oder auch nur als Notenschrift visuell rezipiert, war auch die „Instrumenten-Figur“ in der geselligen Kommunikation sowie Erinnerung der Beteiligten präsent. Für die musikwissenschaftliche Perspektive offenbart sich an dieser Stelle – analog zu Wenks Forderung nach dem Einbezug der ‚sozialen Funktion des Visuellen‘22 – ebenso die Relevanz der vergesellschaftenden Funktion des Auditiven. So kennzeichnen sich gerade das künstlerische Umfeld der Familie Moscheles sowie deren gesellschaftlicher Umgang durch die enge Bezugnahme von Musik, Bildkunst und Literatur.

18 Charlotte Moscheles, Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern herausgegeben von seiner Frau, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 131. 19 Ebd., S. 133. 20 Ebd. 21 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 9. 22 Wenk, „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“, S. 277.

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3.

Der „Mann von Ton“ in Saphirs Worten

Mit der Einbeziehung des von Saphir verfassten Begleittextes können die eben gewonnenen Eindrücke aus meiner Betrachtung des Bildes den in Worten dargelegten Perspektiven gegenübergestellt werden. Die Relevanz der These, visuelle Kultur sei nie nur visuell, sondern unter anderem mit Sprache und Texten eng verknüpft, zeigt sich hier besonders eindrücklich. Kennzeichnend ist der witzig-satirische Ton der Erläuterungen Saphirs, die zweifellos auch im Rahmen von Praktiken der Selbst-Darstellung bzw. als Ausdruck der ,Subjektform‘ des ,Satirikers‘ zu betrachten sind.23 Die Instrumenten-Figur, / Eine Zeichnung in keiner Hinsicht ausgezeichnet, / skizzirt, drappiert und seinem verehrten Freund / I. Moscheles / dedizirt von M. G. Saphir. Wenn Architektur gefrorne Musik ist, wie Schlegel sagt, so ist Musik Botanik der Töne, Sylbenmaaß der Sphären, hörbarer Duft, Stenographie unbeschreiblicher Gefühle. Vorstehender Mann vereinigt alle Instrumente in sich, ist also ein Mann von Ton. Sein Kopf oder sein Haupt ist eine Trommel, denn bei den meisten Menschen ist der Kopf eine Trommel die von den Schlägeln des Irrsinns und Wahnes gerührt wird. Je überspannter der Kopf ist desto größren Lärm macht er. Manche Köpfe sind wahre Rührtrommel[n] die mit jedem Gerücht in der Stadt herumlaufen. Die Kopfbedeckung ist ein Jagdhorn. Die wahre Deutung kann ich als lediger Mensch nicht geben. Auf dem sogenanten Schmutzflek der Trommel ist das musikalische Notengesicht. Der Violinschlüssel formirt die Nase, vermuthlich weil sie nach vier Seiten (Saiten) hinausschmekt und die Brille als Sordinchen aufsitzt. Die zwei Augen sind ein Kreutzel und ein Auflöser, denn drükt leider nicht der Mensch wenn er heuchlerisch einen Kreutzblik zum Himmel erhebt das andere Auge blinzelnd zu und löst den erhöhten Blik wieder zum niedrigen auf? Die Note etwa im 32stel Takt stellt den Mund mit den 32 Zähnen vor. Der Hals ist ganz richtig ein Posthorn! Bei tausend Menschen kündt dieses Sprach- und Posthorn jeden Passagier an den es in der Herzenchaise führt. Das weibliche Geschlecht hängt bunte Schnüre um dieses Posthorn, bespühlt es mit Caffee damit die Töne besser heraus gehen. Die Achselblätter stellen Teller vor, denn geht denn nicht die Tendenz der meisten Achselträger auf einen wohlbesorgten Teller hinaus? Brust und Bauch bilden ein Violoncello, wie bei vielen Herz und Brust auch nur Bauch zu seyn scheint von Gedärmen bezogen! Der Oberarm ist ein Spinettel ein wahrhaft[e] armes Intrument! Der Vorderarm eine Trompete und eine Flöte, eine Anspielung das[s] die eigentliche Handhabung eine Verbindung des Starken mit dem Zarten seyn muß! Das

23 Subjektformen sind hier, im Anschluss an Andreas Reckwitz, zu verstehen als „Formen, in denen Individuen für andere wie für sich selbst intelligibel werden“. Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist, „Einleitung“, in: Alkemeyer/Budde/Freist, Selbst-Bildungen, S. 9–30, hier S. 18.

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Sprichwort: [‚]jede Trompete hat ihre Quaste‘ ist auch hier bestätigt, die Quaste spielt als Hand das Klavier. Die Nase scheint etwas gerümpft zu seyn über die Kesselpauken des Sedements, die ich nicht berühren mag, um zu dem Piedestal überzugehen. In den gehenden Theilen sind Guittarre, Mandoline, Tambourin, lauter begleitende Instrumente. Karakteristisch ist es daß die ächte Dichterleyer der Bokpfeife zurük stehen muss, daß eigentlich nur die Panpfeife stark auftritt und auf rechtem Fuß kömmt, während die edle Lyra kaum auf die Spitzen auf zu tret[t]en wagt! Daß die Figur ein Mann ist geht auch ohne [die] Hauptbedekung aus dem Noten=Halskragen und aus dem Fagott=Zopf hervor. Daß er aber wie versteinert da steht, kömmt daher weil er eben Klavier spielen will, und er sich kaum getraut, da er hört: [‚]Moscheles ist in unserer Stadt!‘ Er scheint einen Lauf zu machen und da hat er Recht daß er mit seinem Spiel vor einem solchen Meister davon läuft. Nehmen Sie, verehrter Freund, diese mißlungene Figur gütig auf wenn sie auch unter den edlen Gästen die hier versammelt sind eine traurige Figur spielen sollte; ist auch die Composition schlecht so lege ich sie doch in solche Hände nieder in denen alles zur hinreißenden Harmonie wird. Berlin am 15ten Oktober 1826. / Witzbold der Rebeller / auch / Lapis infernalis genannt. / M. G. Saphir24

Der Vergleich von Saphirs Ausführungen mit der zuvor erfolgten Bildbeschreibung zeigt, dass, abgesehen von Details, keine wesentlichen Abweichungen vorliegen. Die aussagekräftigen Anspielungen und doppelsinnigen Bedeutungen jedoch, die Saphir bei seiner Zeichnung intendierte, erschließen sich nur unter Hinzunahme des Textes. Leicht nachvollziehbar sind die Übertragungen der Trommel auf eine übersteigerte Klatschsucht oder des Posthorns auf eine übermäßige Redseligkeit, während das Jagdhorn auf die Rede vom ‚gehörnten Ehemann‘ verweist. An die musikalischen Akzidentien knüpft Saphir seine Kritik an Scheinheiligkeit und Frömmelei, letztlich gehe es dem Menschen nur darum, genug ,auf den Teller‘ und in den Bauch zu bekommen.25 Insgesamt fällt der Albumtext allerdings, in Hinblick auf Saphirs bekanntermaßen bissigen Humor und Spott,26 gemäßigt aus

24 GB-Lbl, Zweig MS 215, f.148r-148v (S. 211–212). 25 Für eine umfassendere Analyse von Saphirs Text, insbesondere in Hinblick auf seine Witzproduktion sowie weitere Kontexte, vgl. Rost, Musik-Stammbücher, Kap. 3.8.5. 26 Zu Saphirs Wirken und zu seiner Biographie, die nicht zuletzt durch sein schonungsloses und skandalumwittertes Agieren als Theaterkritiker geprägt wurde, vgl. Uwe Puschner, „Moritz Gottlieb Saphir (1795–1858). ‚Vomkunstrichterstuhlherabdieleutevernichtenwoller‘“, in: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Lebensläufe, hrsg. v. Manfred Treml und Wolf Weigand, München u. a. 1988, S. 101–108; Peter Sprengel, „Moritz Gottlieb Saphir in Berlin. Journalismus und Biedermeierkultur“, in: Studien zur Literatur des Frührealismus, hrsg. v. Günter Blamberger, Manfred Engel und Monika Ritzer, Frankfurt am Main u. a. 1991, S. 243–275.

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und folgt in der Würdigung des Albumeigners und diversen Demutsbezeugnissen den Stammbuch-Konventionen. Bezüglich der von Saphir erläuterten Bewegung der Gestalt, die zum Laufen ansetzt, eröffnet sich schließlich eine weitere, etwas vage Interpretationsebene. Indem die „Instrumenten-Figur“ Reißaus nimmt angesichts der Konkurrenz durch den musikalischen „Meister“ Ignaz Moscheles, könnte die Darstellung auf die aufkommenden kritischen Diskurse um die Maschinenhaftigkeit des Virtuosentums verweisen.27 Dies ist umso interessanter, da Moscheles selbst, als europaweit einflussreicher Virtuose, an der schon im 18. Jahrhundert einsetzenden Entwicklung eines Trainingssystems zur Erlangung pianistischer Perfektion beteiligt war. Arnfried Edler zufolge fußte dieses System darauf, dass „der menschliche[n] Bewegungsapparat mit dem des Instrumentes zu einer Einheit verschmolzen“ wurde.28 In diesen Anspruch fügt sich die „Instrumenten-Figur“ nahtlos ein – und könnte in einem gänzlich spekulativen Ansatz, der im Widerspruch zu Saphirs Ausführungen steht, sogar als Verkörperung von Moscheles und seiner Rolle als Virtuose selbst gelesen werden. Trotz der Plausibilität dieser Bedeutungsebene aus heutiger Sicht, die eine musikbezogene Dimension von Gesellschaftskritik eröffnet, wäre eine mögliche Bezugnahme auf das zeitgenössische Virtuosentum durch weitere Quellen zu belegen. Gerade unter Einbeziehung der oben erwähnten barocken Musiker-Darstellungen des „Habit de musicien“ scheint die Idee, den Musikerberuf in einem InstrumentenKörper zu visualisieren, nicht per se an musikhistorische Diskurse des 19. Jahrhunderts gebunden zu sein, sondern in einer längeren Tradition zu stehen. In jedem Fall exemplifiziert und bestätigt die Zeichnung Mitchells Postulat der ‚visuellen Konstruktion des Sozialen‘. Das ‚Zu-sehen-Gegebene‘ offenbart sich als ‚Verkörperung‘ – jeweils historisch determinierter – sozialer und diskursiver Strukturen und Wandlungen, deren Deutung Spielräume für subjektive Sichtweisen mit sich bringt – und je nach Perspektive ‚anderes zu sehen und zu reflektieren geben kann‘.

4.

„Das curiose Paar“: der „Mann von Ton“ und die ‚Küchen-Frau‘

In einem ganz anderen Kontext, mit neuen Bedeutungsebenen und nun als Teil einer Paar-Darstellung wurde die „Instrumenten-Figur“ wenige Monate nach dem Stammbuchbeitrag erneut ‚zu sehen gegeben‘. Moritz Gottlieb Saphir, der zu den

27 Vgl. Andreas Ballstaedt, Tobias Widmaier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 28), Stuttgart 1989, S. 47–49 („Exkurs: Der Virtuose als Maschine“). 28 Arnfried Edler, Gattungen der Musik für Tasteninstrumente, Teil 2: Von 1750 bis 1830 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 7,2), Laaber 2003, S. 272, vgl. auch S. 275 f.

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„umstrittensten wie populärsten Journalisten im vormärzlichen Berlin“ zählte,29 veröffentlichte die Zeichnung eines „curiosen Paars“ (siehe Abb. 2) am 1. Januar 1827 in der Beilage der von ihm herausgegebenen Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit. Wenig ‚kurios‘, im Sinne von ‚seltsam‘,30 präsentiert sich dabei, unter Einbeziehung der zeitgenössischen Geschlechterdiskurse, die dargestellte Rollenverteilung. Der Kupferstich ist signiert mit „Saphir inv[enit]“ und „Unzelmann exc[udit]“. Die geistige Urheberschaft Saphirs, der die Umsetzung seiner Idee in professionelle Hände legte, wird auf diese Weise herausgestellt. Die Annahme, dass die Zeichnung nach Saphirs Vorgaben angefertigt wurde, wird durch die Formulierung aus dem Stammbuchtext, in dem Saphir angibt, er selbst habe die Zeichnung „skizzirt“ – also in ihrer grundsätzlichen Anlage konzipiert und umrissen – zusätzlich gestärkt. Außerhalb des Stammbuch-Kontextes ist der „Instrumenten-Figur“ eine Frauengestalt beigefügt, durch die der einzelne Bildkörper zu einer Paar-Konstellation erweitert wird. Es wird deutlich, dass dem oder der Betrachter:in des Stammbuchs entweder etwas ‚nicht zu sehen gegeben wird‘ oder Saphir später den Blickwinkel auf das Bild erweiterte bzw. dessen Rahmung ausdehnte und ‚mehr zu sehen gab‘. Unklar bleibt, ob zum Zeitpunkt des Eintrags in Moscheles’ Album die Idee der Paar-Darstellung bereits existierte oder diese – so nehme ich an – aus dem Stammbuchbeitrag heraus entwickelt wurde. Möglich erscheint es aber ebenso, dass zunächst der Plan der Veröffentlichung in der Schnellpost bestand und der Stammbuchbeitrag, gewissermaßen nebenbei, aus den kreativen Entstehungsprozessen als individuell auf Moscheles zugeschnittene Alternativfassung hervorging. Darauf könnte auch der bereits thematisierte Kanon von Ignaz Moscheles über das Motto der Schnellpost hindeuten, mit dem er sich für Saphirs Stammbuchbeitrag revanchiert hatte. Auch zur Zeichnung des „curiosen Paars“ gehört ein längerer Text, der gleich zu Beginn auffällige Parallelen zur Stammbuchwidmung aufweist: „Das kuriose [sic] Paar. (Nach beiliegendem Kupferblatte.) Erfunden, drappirt und den Lesern der Schnellpost zum Neujahrsgeschenk dargebracht von M. G. Saphir.“31 Die Zusammensetzung des Instrumenten-Mannes entspricht weitgehend der Darstellung in Ignaz Moscheles’ Album. Allerdings spielt dieser in der publizierten Version nicht an einem Klavier, sondern auf einer großen Harfe, die er auf der Stammbuch-Zeichnung in kleinerer Ausführung auf dem Rücken trägt. Die Tilgung des Klaviers dürfte der Bilddramaturgie geschuldet sein, die durch einen vor dem 29 Puschner, „Saphir“, S. 101. 30 Vgl. das Lemma „curios“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961 (Online-Version vom 02.06.2020), Bd. 2, Sp. 640. 31 Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, No. 1, 1. Januar 1827 (= Beilage zur Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit) [unpaginiert].

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Abb. 2 „Das curiose Paar“ von Moritz Gottlieb Saphir, aus: Beiwagen für Kritik und Antikritik zur Berliner Schnellpost, No. 1, 1. Januar 1827; urn:nbn:de:hbz:5:1-251039 (Public Domain Mark 1.0).

Spieler postierten kastenförmigen Apparat als gestört empfunden werden könnte. Denn dem Instrumenten-Mann gegenüber steht nun eine ihm zugewandte Frauengestalt, die aus verschiedenen Haushaltsgeräten konstituiert wird. Zu erkennen sind zwei Holzeimer, diverses Küchenzubehör, darunter eine Reibe, ein Blasebalg und ein Handbesen neben einer größeren Kanne im Halsbereich. Auf dem Kopf, der im Wesentlichen aus einer Suppenterrine besteht, trägt die Figur einen Korb, sie blickt in einen Spiegel. Tabletts und Teller, die den Rock ihres Kleides formen, sind mit Blumenornamenten verziert, die an die Gestaltung von Kleiderstoffen erinnern. Schrubber und Beil stellen die Füße dar. Kaffeemühle und -kanne sowie Mörser, Trichter und eine Art Löffel sind im unteren Teil des Körpers auszumachen. Insgesamt erfolgt die Darstellung des weiblichen Geschlechts zum einen im Rückgriff auf die im historischen Kontext explizit weiblich konnotierten Küchenutensilien, zum anderen in Hinblick auf die kreierte Silhouette eines taillierten, knöchellangen

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Kleids, die Dutt-Frisur sowie die gegenüber dem Instrumenten-Mann kleinere Körpergröße. Saphir kommentiert wiederum ausführlich, mit notorischem Wortwitz und Doppelsinn, die Darstellung des Paars, wobei er bei der Beschreibung des InstrumentenMannes auf Textbausteine des Stammbucheintrags zurückgreift, diese aber ausweitet und ergänzt. Obgleich die zeittypische Zuweisung der Küchensphäre an die Frau hinlänglich bekannt ist, ist doch der scharfe Ton des Textes auffällig: O [Leserinnen,] seyd mir nicht böse und glaubt mir sicher, daß Euch das Feuer der Küche eine schönere Röthe giebt, als das romantische; daß das Küchenbrett mehr Euer Feld, als das Feld des Schachbretts ist, und daß das Drehen des Bratenwenders Euch besser anstehet, als das Nasendrehen. Es ist höchst sonderbar, daß Ihr, so lang Ihr Mädchen seyd, keinen ängstlicheren Wunsch habt, als den, ein Haus zu machen und einen eigenen Heerd zu haben, und habt Ihr beides, so geht die Häuslichkeit verloren und um den Heerd bekümmert Ihr Euch gar nicht mehr. Verzeiht also meiner Erfindungskraft, daß sie ein weibliches Wesen aus solchen Geräthen schuf, bei denen ihre Einmischung am besten geräth.32

In seinen Erläuterungen zum Bild umkreist Saphir kontinuierlich das lebensbestimmende Ziel der Frau, einen Mann „in das von ihr gelobte Land der Ehe“ zu führen.33 Obgleich er der „etwas überreif[en]“ Küchen-Frau, „die von ihrer Naturmitgift schon das Meiste an dem Leben zugesetzt hat“,34 immer wieder altjüngferliche Züge zuschreibt, stellt er seiner Leserschaft letztlich frei, diese alternativ als Ehegattin des Instrumenten-Mannes zu begreifen. Zum Ende seines Texts postuliert Saphir schließlich ein besonders nachhaltiges misogynes Klischee: „Soviel ist gewiß, daß er ein Mann von Ton und sie ein Weib von Feuer ist; man sieht daraus, daß der Mann mehr zum Harmoniren geneigt und der Zwietrachtsfunke bei der Frau glimmt.“35 Im Verbund mit dem Text transportiert die Zeichnung des „curiosen Paars“ somit ausgesprochen scharf konturierte geschlechtsspezifische Vorurteile und Zuweisungen, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht nur reproduzieren, sondern visuell – in Verflechtung mit einem auf Unterhaltung zielenden Text – untermauern.36 Dabei gehe ich davon aus, dass Frauen ebenso wie Männer Saphirs

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Saphir, „Das kuriose Paar“, in: Beiwagen, Sp. 1. Ebd., Sp. 3. Ebd., Sp. 4. Ebd., Sp. 5. Die Kursivierungen sind im Original in normaler Sperrschrift hervorgehoben. Zur Erziehung und Rolle der bürgerlichen Frau im 19. Jahrhundert, deren wesentliche Verwirklichung in der Ehe, Familie und Häuslichkeit gesehen wurde, vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1986, S. 63–80.

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Humor ansprechend fanden. Darauf verweist Charlotte Moscheles’ unkritische Darstellung des Austauschs mit Saphir, der sicherlich auch die Lektüre der zu Anfang des Jahres 1827 veröffentlichten Version umfasste, sowie vor allem der Erfolg des „curiosen Paars“ – die Bild-Text-Kombination wurde mehrfach publiziert.37

5.

Charlotte Moscheles als ‚unsichtbar gemachte‘ Ehefrau? – ein Fazit

Saphirs Instrumenten-Mann und die ihm beigesellte Küchen-Frau inszenieren Geschlechteridentitäten und vermitteln zugleich ‚Körperbilder‘. Vor dem Hintergrund der Diskursfelder, die sich zum einen aus den Zeichnungen selbst erschließen lassen, zum anderen auf Saphirs erläuternde Texte und ihren Rezipient:innen-Kreis zurückgehen, sind diese zudem als diskursive Bildkörper zu verstehen. Die Zeichnungen, die in ihrer Aussagekraft gewissermaßen in ihre Begleittexte eingewoben und mit diesen eng verflochten sind, ‚verkörpern‘ dabei soziale Strukturen und verfestigen diese im gleichen Zuge. Der Gedanke, der Mensch selbst werde in Bildern verhandelt, manifestiert sich hier beispielhaft. Die Reflexion von Beltings Kopplung des Bild-Begriffs an den Körper erweist sich bezüglich der besprochenen Darstellungen als hilfreiche Rahmung. Im Zugriff auf visuelle Kulturen über Sigrid Schades und Silke Wenks Konzept der „Praktiken des Zu-sehen-Gebens“ und die daran gebundene Leitfrage – in ihrer unverbrämten Konkretheit – können insbesondere Gender-Performanzen generell in visuellen musikbezogenen Quellen schärfer umrissen werden. Hieran knüpfen sich nicht zuletzt auch Fragen zur Wirkungsmacht von Bildern, als – wie im vorliegenden Fall – von Männern gestalteten kulturellen Praktiken, und zu deren Einfluss auf die Subjektivierung bzw. ‚Selbst-Bildung‘ von Frauen. In Hinblick auf die Frage Wo ist wem was und wie unsichtbar gemacht? möchte ich abschließend noch einmal auf den Stammbucheintrag für Ignaz Moscheles zurückkommen. So frage ich mich, inwieweit die „Instrumenten-Figur“ bzw. der „Mann von Ton“, der als Sinnbild eines durchschnittlichen Musikers, vielleicht eines Dilettanten, die künstlerische Größe des „Meisters“ Moscheles herausstellen sollte, bereits im Stammbuch schon mental von seiner – hier noch unsichtbaren Hausund Küchen-Frau – begleitet wurde. Darauf verweist auch die kurze Bezugnahme auf das „weibliche Geschlecht“ im Stammbuchtext, das „bunte Schnüre um dieses

37 Unter dem Titel „Das kuriose Liebespaar in Freudenfeld“ erschienen Abbildung und Text etwa am 4. Februar 1827 im Münchener Sonntags-Blatt, Abend-Unterhaltungen in Freudenfeld, Nro. 5, S. 17–20; für weitere Veröffentlichungen unter dem Titel „Das kuriose Paar“ vgl. Moritz Gottlieb Saphir, Klatschblätter und Mimosen oder zufällige Gedanken in zufälligen Formen, Stuttgart 1832, S. 167–182 [ohne Bild]; Humoristische Perlenschnur. Chrestomathie der gelungensten Stellen aus den besten humoristischen Schriftstellern, Erstes Bändchen. Mit einem Titelkupfer, Stuttgart 1836, S. 1–9.

Musikinstrument vs. Küchengerät

Posthorn [den Hals] hängt [und es bzw. ihn] mit Caffee bespühlt“, und auf diese Weise das Zerrbild der vorrangig an Zierrat und Kaffee interessierten Küchen-Frau aus der Publikation antizipiert. Weiterdenken könnte man hier, indem man die bereits beschriebene Konzeption des Stammbuchs von Ignaz Moscheles einbezieht, das überwiegend öffentlich wirkende Berühmtheiten adressierte. Charlotte Moscheles, Ignaz’ Ehefrau, die sich zeitlebens ganz in den Dienst der Künstlerexistenz ihres Mannes stellte und insbesondere seinen Nachruhm durch die Biographie aktiv mitgestaltete,38 hatte in diesem Album nur am Rande, im Halbverborgenen, einen Platz.39 Dies korrespondiert schließlich mit der Darstellung der „Instrumenten-Figur“ als Teil eines „curiosen Paars“, dessen weiblicher Part im Stammbuch unsichtbar bleibt.

38 Mit den Moscheles’ als Paar, insbesondere bezüglich Charlotte Moscheles’ Teilhabe an der Berufswelt ihres Mannes vor dem Hintergrund ihres einflussreichen familialen Netzwerkes, habe ich mich umfassend beschäftigt in: „‚His was a privileged position, she held …‘ – Zur Paarbeziehung von Ignaz und Charlotte Moscheles“, in: Paare in Kunst und Wissenschaft, hrsg. v. Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld (= Musik – Kultur – Gender 18), Wien/Köln/Weimar 2021, S. 55–67. 39 Ihr in diesem Kontext zu verstehender eigener Eintrag in Miniaturschrift auf dem äußersten Rand der letzten Albumseite kann diesbezüglich als geradezu widerständiger Akt aufgefasst werden. Einen informellen Ton anschlagend, trug sie einen Stammbuch-Klassiker ein: „Wer mehr dich liebt als ich, der schreib’ sich hinter mich. Deine treue Charlotte. 14 April 1825 Paris.“ GB-Lbl, Zweig MS 215, f.158r (S. 229).

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Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild Eine Korpusanalyse historischer Bildpostkarten Bilder sind kein einfaches Abbild eines historischen Gegenstands, sondern Medien, die „Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren.“1 Mehr noch, sie sind „Traditionsmotoren“2 im Sinne der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung, indem sie einen historischen Gegenstand auf wenige visuelle Elemente verkürzen, Komplexität reduzieren und sie damit erinner- und tradierbar sowie über soziale Grenzen und Bildungshierarchien hinweg auch begreifbar machen. Sie prägen diesen Gegenstand, drücken ihm quasi einen Stempel auf und fokussieren die Wahrnehmung auf bestimmte Aspekte. „Bilder sind wie Musik und Sprache Medien,“ schreiben Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner, „über die kulturelles Wissen, Glauben, Lebensformen und Rituale an die nächste Generation weitergegeben werden.“3 Dabei beziehen sie ihre Kraft der Popularisierung, ihre Fähigkeit, gemeinsames Wissen über Grenzen sozialer Gruppen und Bildungsschichten hinweg zu verbreiten, aus der Tatsache, dass sie quasi vor- oder besser außersprachlich zeigen statt sprachlich zu beschreiben und damit im wahrsten Sinne Ansichten generieren, die keine bildungsabhängigen Übersetzungsprozesse benötigen.4 Damit können sich der historischen Forschung über die Analyse von Bildern Einblicke in die Vorstellungswelt einer Zeit erschließen, die eine grundlegende Basis ihres Denkens und Handelns offenlegen. Die folgende Untersuchung fragt nach den allgemeinen visuellen Vorstellungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vom Klavierspiel. Sie fragt nach Ansichten im wahrsten Sinne, die als Assoziationen mit Klaviermusik immer mitschwangen, die die Einstellungen der Menschen zur Musik prägten, erzieherische, ästhetische

1 Gerhard Paul, „Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung“, in: Visual History. Ein Studienbuch, hrsg. v. dems., Göttingen 2006, S. 7–36, hier S. 25. 2 Ebd., S. 13. 3 Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner, Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 118. 4 Zur Differenz von sprachlichem und visuellem Wissen vgl. z. B. Dieter Mersch, „Aspekte visueller Epistemologie. Zur ‚Logik‘ des Ikonischen“, in: Visuelles Wissen. Ikonische Prägnanz und Deutungsmacht, hrsg. v. Philipp Stoellger und Marco Gutjahr, Würzburg 2014, S. 43–66.

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und sogar soziale Entscheidungen beeinflussten und die gesellschaftlich so stark verankert waren, dass sie zum Teil bis heute fortbestehen. Als Quellenkorpus meiner Untersuchung dienen mir historische Ansichts- und Motivpostkarten der Sammlung Giesbrecht des Archivs Historische Bildpostkarten der Universität Osnabrück. Methodisch lehne ich mich an die seriell-ikonografische Fotoanalyse von Pilarczyk und Mietzner an.5 Dabei werde ich die einzelnen Schritte kurz auch methodisch erläutern, verweise für eine ausführlichere Darstellung allerdings auf die zitierte Literatur. Illustrierte Postkarten sind als Quellen des visuellen Wissens bis heute nur wenig erforscht, obwohl sie in den Jahrzehnten zwischen ca. 1890 und 1920 zu den wichtigsten Bildmedien gehörten. Sie erreichten vor allem in Europa und den USA alle Schichten mit hoher Frequenz: Die im Vergleich zu illustrierten Büchern oder Zeitschriften preisgünstigen Postkarten wurden im Deutschen Reich sowohl von Dienstboten als auch von der Kaiserfamilie verschickt. Im Sommer 1900 hatte, um nur eine Zahl zu nennen, die Deutsche Reichspost fast 1,5 Millionen Karten täglich zu transportieren.6 Die zirkulären Kommunikationsprozesse zwischen Produzent:innen und Konsument:innen eines Massenprodukts und zwischen Absender:innen und Empfänger:innen führten (und führen bis heute) zu einem hohen Grad der Standardisierung der Kommunikate. Produzent:innen populärer Medien wie der Postkarte greifen in dem Versuch, mit ihren Produkten einen möglichst großen Käuferkreis anzusprechen, auf am Markt Bewährtes, Erfolgreiches zurück. Sigrid Schade und Silke Wenk verweisen darauf, das solche Praktiken der Wiederholung konstitutiv sind für die Entstehung eines kulturellen Gedächtnisses des Visuellen.7 Dabei handelt es sich bei der Popularisierung von Wissen nicht um eine „kommunikative Einbahnstraße“ der Vorgabe bestimmter Themen für willenlose Konsument:innen durch „die“ Industrie, sondern um einen reziproken Prozess der gegenseitigen Orientierung und Verständigung.8 Diese durch das Angebot des Bekannten und die Nachfrage nach dem Bekannten hervorgerufene Standardisierung wird noch verstärkt durch einen zweiten zirkulären Prozess: Absender:innen von Postkarten wählen in der Regel solche Bilder aus, von denen sie annehmen, dass sie von den

5 Ulrike Pilarczyk, Ulrike Mietzner, Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005. 6 Anett Holzheid, Das Medium Postkarte. Eine sprachwissenschaftliche und mediengeschichtliche Studie (= Philologische Studien und Quellen 231), Berlin 2011, S. 414. 7 Sigrid Schade und Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 121–123. 8 Carsten Kretschmann, „Wissenspopularisierung. Verfahren und Beschreibungsmodelle“, in: Wissenspopularisierung im medialen Wandel seit 1850, hrsg. v. Petra Boden, Dorit Müller, Berlin 2009, S. 11–36 hier S. 28 f.

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

Empfänger:innen gemocht und verstanden werden. Sie greifen also ebenfalls eher auf Vertrautes als auf Neues zurück. Die Verschränkung dieser zwei zirkulären Kommunikationsprozesse führt zu einer ständigen Affirmation der Bildinhalte und -bedeutungen, die sich nur langsam weiterentwickeln und daher prägend wirken. All das macht Bildpostkarten für eine Forschungsfrage nach dem Konsensuellen, dem verbreiteten visuellen Wissen, zu einer idealen Quellengattung für den Zeitraum ihrer Blütezeit von ca. 1890 bis ca. 1920.

1.

Methoden der Korpusanalyse

Geht man mit der Fragestellung nach dem visuellen Wissen einer Zeit an einen Korpus von historischen Bildquellen heran, kann das Ziel nicht die Herausarbeitung des Besonderen und Originellen einzelner Bilder sein, sondern im Gegenteil die Feststellung von Gemeinsamkeiten und visuellen Klischees, also um das, was einen Gegenstand für viele wiedererkennbar macht und was sie mit ihm assoziieren. Der sogenannte visual turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat zur Entwicklung verschiedener methodischer Ansätze der Korpusanalyse visueller Quellen geführt. Katharina Lobinger hat aus der Perspektive der Visuellen Kommunikationsforschung Methoden der Bildanalyse zusammengefasst und kritisiert.9 Für unseren Ansatz bedeutsam sind vor allem die Argumente, die sie für eine Kombination von quantitativen mit qualitativen Ansätzen sammelt: An rein quantitativen Ansätzen werde häufig kritisiert, dass sie ihre Quellen eher als Untersuchungsobjekt „Bild“ verstehen, das genauso wie ein Untersuchungsobjekt „Text“ ausgewertet werde, ohne auf die Spezifität des Visuellen einzugehen. Dieses Defizit einer rein quantitativen Bildinhaltsanalyse könne, so Lobinger, durch die Verbindung mit qualitativen Ansätzen ausgeglichen werden, die tiefer in die Semantik visueller Quellen einsteigen könnten, so dass eine „ideale Vernetzung aus explorativen und quantifizierenden Verfahren“ erreicht werden könne.10 Eine solche Vernetzung findet zum Beispiel in Verfahren statt, die quantifizierende Ansätze der Analyse größerer Bildkorpora mit dem ikonographisch-ikonologischen Verfahren zur Beschreibung einzelner Bilder des Kunsthistorikers Erwin Panowsky11 ergänzen, die sogenannten seriell-ikonografischen Verfahren.

9 Katharina Lobinger, Visuelle Kommunikationsforschung. Medienbilder als Herausforderung für die Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden 2012, S. 219–268. Vgl. auch den Überblick quantitativer Verfahren bei Thomas Petersen und Clemens Schwender (Hrsg.), Die Entschlüsselung der Bilder. Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation. Ein Handbuch, Köln 2011, S. 144–178. 10 Ebd., S. 259 f. 11 Erwin Panowsky, „Ikonographie und Ikonologie“, in: Ikonographie und Ikonologie. Bilderinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006 [zuerst ersch. als „Iconography and Iconology: An

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Seriell-ikonografische Verfahren wurden in den Geschichtswissenschaften seit den 1970er Jahren zunächst für die Mentalitätsgeschichte entwickelt.12 Heute werden sie regelmäßig von verschiedenen Disziplinen eingesetzt. In den Kommunikationswissenschaften arbeitet u. a. die von Elke Grittmann und Ilona Ammann entwickelte quantitative Bildtypenanalyse seriell-ikonologisch.13 Ich werde im Folgenden die seriell-ikonografische Fotoanalyse verwenden, die Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner für die Erziehungs- und Sozialwissenschaften vorschlagen. Zielrichtung ihrer Methode ist nicht die Generierung von Kategorien aus großen vermischten Korpora wie bei der Bildtypenanalyse. Es geht hier vielmehr um die Interpretation einzelner Bilder vor dem Hintergrund eines größeren Korpus, bzw. umgekehrt auch um die Anreicherung von eher allgemeinen Aussagen über die Bilder eines Korpus durch detaillierte Studien einzelner Exemplare. Die seriell-ikonografische Methode erlaubt es, übergreifende, generalisierende Aussagen zu machen und doch auch in einzelnen Fällen, deren Repräsentativität durch die serielle Analyse abgesichert wird, mithilfe der ikonographisch-ikonologischen Bildinterpretation in die Tiefe der Analyse eines einzelnen Bildes zu gehen. Pilarczyk und Mietzner beschränken ihre Methode auf die Analyse fotografischer Korpora. Mein Ausgangskorpus an Bildpostkarten mit Frauen am Klavier umfasst allerdings Karten mit fotografischen wie auch mit gemalten Vorlagen. Das von ihnen beschriebene „Wesen des Fotografischen“ gilt jedoch grundsätzlich für alle Postkarten, gleich wie die Druckvorlage entstand: Sie sind reproduzierbar, beziehungsweise bereits reproduziert, und werden massenhaft gebraucht.14 Die Übertragung der Methode auch auf gemalte Motive erscheint daher gerechtfertigt. Die grundsätzliche Differenz des Fotografischen und des Gemalten darf dabei jedoch nicht aus den Augen gelassen werden.

Introduction to the Study of Renaissance Art“, in: ders., The Meaning in the Visual Arts, New York 1955, S. 26–54]. 12 Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung (= Historische Einführungen 7), Tübingen 2000, S. 77. 13 Elke Grittmann und Ilona Ammann, „Quantitative Bildtypenanalyse“, in: Die Entschlusselung der Bilder – Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation, hrsg. v. Thomas Petersen und Clemens Schwender, Köln 2011, S. 162–178. 14 Pilarczyk/Mietzner, Das reflektierte Bild, S. 131.

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

2.

Frauen am Klavier auf historischen Bildpostkarten

2.1

Klassifikation und Qualifikation des Quellenkorpus

2.1.1 Externe Kriterien

Mein Korpus besteht aus Postkarten des Archivs Historische Bildpostkarten der Universität Osnabrück mit Stand März 2020.15 Die größte Teilsammlung sind die rund 18.400 Karten, die von der Professorin für Musikgeschichte Prof. Dr. Sabine Giesbrecht seit etwa 1980 zusammengetragen wurden. Der wichtigste und größte Sammlungsschwerpunkt besteht aus über 8700 Postkarten, deren Motive Bezüge zur Musik aufweisen. Dabei dominieren Karten aus deutscher und deutschsprachiger Produktion. Die zeitliche Spanne der Sammlung beginnt in den 1890er Jahren16 und endet mit dem Zweiten Weltkrieg. Aus der Sammlung Giesbrecht habe ich zunächst ein Korpus mit allen 323 Karten gebildet, auf denen ein Klavier zu sehen ist. 98 dieser Karten wurden als Reproduktionen von Fotos hergestellt, die übrigen entstanden auf der Basis von Gemälden und Zeichnungen. Ich nähere mich meinem Gegenstand zunächst über diese globalere Auswahl, um Aussagen über den Kontext des eigentlichen Untersuchungskorpus machen und so meine Ergebnisse im Rahmen eines größeren Zusammenhangs darstellen und interpretieren zu können. Alle Karten bis auf zehn Stück wurden im oder für den deutschsprachigen Raum produziert.17 151 Karten sind durch Poststempel oder handschriftlichen Vermerk der Absender:innen datierbar. Die überwiegende Zahl ist zwischen 1901 und 1920 gelaufen, nur 19 Karten sind später datiert, davon fünf aus den 1930er Jahren. Eine Postkarte ist erst 1984 gelaufen, stammt aber, nach Verlag und Motiv zu urteilen, aus den 1920er Jahren.18 Da es

15 Digitalisate der Karten der Sammlung finden sich (soweit öffentlich geschaltet) auf der Webseite https://bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/. Um den Fußnotenapparat übersichtlich zu halten, werde ich im Folgenden auf die zitierten Postkarten nur mit ihrer Identifikationsnummer (z. B. os_ub_0000001), nicht mit dem vollständigen Link verweisen. Die Links ergeben sich, wenn man die jeweilige Identifikationsnummer an die folgende URL anhängt: https://bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/frontend/index.php/Detail/objects/ (letzter Zugriff: 24.09.2022). 16 Die Postkarte wurde 1870 im Norddeutschen Bund eingeführt und schon im selben Jahr druckten Verleger kleine Bilder auf ihre Karten. Die Massenproduktion von Ansichts- und Motivkarten blühte jedoch erst um 1890 auf. S. z. B. Gerhard Stumpp, Die Ansichtskartenherstellung in der Kunstanstalt Carl Garte Leipzig, Leipzig 2012, S. 35–43. 17 Ich werde aufgrund dieser geringen Zahl im Folgenden nicht zwischen Karten aus dem deutschsprachigen und dem nicht-deutschsprachigen Raum unterscheiden, auch weil inhaltlich keine signifikanten Differenzen auffallen. 18 Die Datierung dieser Karte zeigt das Dilemma auf: In der Regel liegt bei Postkarten nur das Nutzungsdatum vor, also der Zeitpunkt, zu dem eine Karte verschickt wurde. Das Herstellungsdatum

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uns hier um eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung der visuellen Assoziationen mit dem Klavier geht, bei der die Seite der Nutzung genauso wichtig ist wie die der Produktion, fällt es für die Argumentation nicht ins Gewicht, dass wir zwar das Nutzungs-, nicht jedoch das Produktionsdatum der Karten kennen. Unser Korpus erlaubt uns verlässliche Aussagen über die visuellen Assoziationen mit dem Klavier im deutschsprachigen Raum für die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. 2.1.2 Interne Kriterien

Klavier spielende Frauen waren offensichtlich ein wesentlich beliebteres Motiv für die Produzent:innen von Postkarten als Männer. Auf 172 Karten unseres Korpus sitzt oder steht eine Frau vor dem Klavier, auf 120 ein Mann. In 27 Fällen sind Klavier spielende Kinder dargestellt.19 Bereits bei der ersten Durchsicht fällt auf, dass nur elf Karten mit einer Frau vor dem Klavier eindeutig eine professionelle Musikerin zeigen; von diesen sind allerdings nur sechs namentlich zu identifizieren.20 Von den 120 Karten mit Männern am Klavier stellen dagegen 77 einen bekannten Musiker dar. Am häufigsten werden Menschen allein am Klavier abgebildet. 44 von insgesamt 50 Karten mit Männern allein am Klavier zeigen einen Komponisten, viel seltener einen Pianisten bei der Arbeit. Für Frauen dagegen ist die typische Situation das private Üben der ungenannten Amateurpianistin. Die nächsthäufige soziale Situation mit 87 Karten ist das Spiel einer Person am Klavier für eine zweite des anderen Geschlechts. Wenn Kinder abgebildet sind, sind es fast immer Frauen, die ihnen vorspielen oder zuhören.21 Kinder am und neben dem Klavier sind in den meisten Fällen Mädchen. Das Klavier, so kann man zusammenfassen, ist ein Instrument für männliche professionelle Musiker und für weibliche Amateurinnen. Noch dazu

von Postkarten ist nur mit großem Aufwand und viel Glück genau zu recherchieren. Immerhin liefern Serien- bzw. Bestellnummern der Verlage, die verwendeten Drucktechniken und die Motivauswahl Anhaltspunkte. Das Postkartengewerbe hatte allerdings kurze Produktionszyklen; ständig erschienen neue Karten. Bereits 1903 kamen jeden Tag rund 100 neue Ansichtskartenmotive auf den Markt (Holzheid, Das Medium Postkarte, S. 252). Wir können daher davon ausgehen, dass Karten in der Regel nicht lange nach ihrer Produktion genutzt wurden, so dass Herstellungs- sowie Nutzungsdatum in den meisten Fällen nicht allzu stark voneinander abweichen. 19 Für die übrigen Karten war nicht eindeutig zu ermitteln, wer tatsächlich das Klavier spielt. 20 Zwei Karten zeigen Clara Schumann, eine die Sopranistin Gertrud Diedel-Laass, eine die Pianistin Maria Avani-Carreras, eine Ännchen Schumacher, eine Sammlerin studentischen Liedguts und Wirtin, und eine die kleinwüchsige Frau (ohne Namensnennung) des ebenfalls kleinwüchsigen Heiny Behrens, die als „das kleinste Ehepaar der Welt“ (os_ub_0020435) auftraten. 21 Nur auf zwei Karten, einem Gemälde von Jules-Alexis Muenier (os_ub-0006635) und seiner fotografischen Nachahmung (os_ub_0006634), sieht man ein kleines Mädchen mit einem alten Mann als Zuhörer bzw. Lehrer.

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

Tab. 1 Soziale Situationen des Klavierspiels auf Postkarten. Abgeb. Pianist:in soziale Situation allein mit Frau/Frauen mit Mann/Männern mit Kind/Kindern/Kindern und Erwachsenen Mehrere Zuhörer versch. Geschlechts Mit Ensemble Spieler:in unklar Gesamt (323)

Frau

Mann

Kind

641 7/1 62/3 7/11/1

502 27 (davon 2 Engel)/73 4/24

9 6/0 2/0 4/2/2

85

186

s. o.

87 4 172

128

2

120

27

1

Davon vier Karten mit einer bekannten Musikerin. Davon 44 bekannte Pianisten. 3 Davon acht bekannte Pianisten mit einer Frau (davon zwei mit einem Engel), sechs bekannte Pianisten mit mehreren Frauen. 4 Davon drei bekannte Pianisten mit einem Mann, ein bekannter Pianist mit mehreren Männern. 5 Davon eine Karte mit einer bekannten Musikerin. 6 Davon 14 bekannte Pianisten. 7 Davon sechs Frauen in namentlich benannten Ensembles (Fotokarten). 8 Davon ein bekannter Pianist. 2

ist es ein Instrument für junge Frauen: Nur auf einer einzigen Karte sitzt deutlich erkennbar eine alte Dame am Klavier.22 Eine Konzertsituation in einem Saal mit einer/einem Pianist:in auf dem Podium vor größerem Publikum war für die Postkartenindustrie und ihre Kund:innen offenbar kein Thema. Lediglich eine Karte stellt Franz Liszt rhapsodierend vor einem faszinierten Konzertpublikum dar.23 Alle anderen Bilder von Pianist:innen bilden sie höchstens im erweiterten Freundeskreis ab, Franz Schubert z. B. im Kontext einer Schubertiade.24 Ähnlich spielen auch Frauen höchstens auf privaten Gesellschaften für umstehende Zuhörer:innen,25 nicht jedoch für ein Konzertpublikum. Die Bilder von Komponisten zeigen diese nicht bei Aufführungen ihrer Werke, sondern in kreativer Einsamkeit im Moment der Inspiration: Über ihren Porträts werden oft Vignetten einmontiert, in denen ihnen Szenen der soeben entstehenden Oper im wahrsten Sinne ‚vorschweben‘.

22 23 24 25

Os_ub_0006554. Os_ub_0004827. Os_ub_0005143, os_ub_0005142. So z. B. auf Georg Mühlbergs Gemälde Goldelse, das eine Situation aus E. Marlitts gleichnamigem Roman illustriert (os_ub_0004840).

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2.1.3 Qualifikation des Untersuchungskorpus

Nach der ersten Sichtung meines Quellenkorpus möchte ich meine Fragestellung weiter differenzieren und einen entsprechenden Untersuchungskorpus isolieren. Bei der Durchsicht der Karten sind mir besonders die Darstellungen von Frauen allein am Klavier aufgefallen, mit 64 Karten das häufigste Motiv. Dabei unterscheiden sich die 21 fotografischen Karten motivisch deutlich von denen mit einer gemalten Vorlage. Ich werde mich in meiner Analyse vor allem auf die 43 Karten mit gemalter Vorlage konzentrieren und die Fotokarten als Vergleichskorpus nutzen. Der Ansatz von Pilarczyk und Mietzner ermöglicht zwei Einstiege zur Generierung von Hypothesen: entweder mit der ikonographisch-ikonologischen Interpretation eines Einzelbildes oder mit der seriellen Untersuchung des Gesamtbestandes.26 Dem Einstieg sollte dann im nächsten Schritt eine Untersuchung mit der jeweils anderen Methode folgen, um die Ergebnisse zu sichern und zu vertiefen. Ich werde hier mit der Einzelbildanalyse beginnen.27 2.2

Ikonographisch-ikonologische Interpretation

Bei der Durchsicht eines Korpus fallen – zunächst intuitiv – manche Karten als besonders bedeutsam und repräsentativ auf. Sie eigenen sich für die Generierung von Fragestellungen und Hypothesen, die später am Gesamtbestand zu überprüfen sind. Beim Blättern durch die 43 Karten meines Kernkorpus erschien mir das Bild eines Mädchens vor einem Flügel von Adolf Liebscher besonders aussagekräftig (s. Abb. 1). Liebscher (1857 bis 1919) war ein tschechischer Historienmaler, der ab 1881 an der Tschechischen Technischen Hochschule Prag als Zeichenlehrer und ab 1916 als außerordentlicher Professor wirkte.28 Die Karte erschien im Verlag Arthur Rehn & Co. in Berlin unter der Designnummer 916 und dem Serientitel „Sammlung

26 Pilarczyk/Mietzner, Das reflektierte Bild, S. 133. 27 Die ikonographisch-ikonologische Interpretation, die Pilarczyk und Mietzner vorschlagen, folgt grundsätzlich dem Modell Erwin Panofskys von der vorikonographischen Beschreibung über die ikonographische Analyse bis hin zur ikonologischen Interpretation. Die Autorinnen teilen nach Konrad Wünsche jedoch die zweite Stufe noch in ikonographische Beschreibung und ikonographische Interpretation auf, so dass sie zwischen Bedeutungen unterscheiden, die intentional vom Produzenten in ein Bild gelegt werden (ikonographische Interpretation) und solchen, die nicht beabsichtigt waren (ikonologische Interpretation), eine Differenzierung, die ich hier nicht explizit nachvollziehen werde, auch wegen der Problematik einer Unterscheidung von intentionalen und nicht-intentionalen Bedeutungen in der Interpretation. Ebd., S. 135. 28 Vlasta Kratinová, „Liebscher, Adolf “, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, hrsg. v. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1972, Bd. 5, S. 201; Manfred Knedlik, „Liebscher, Adolf (1857)“, in: Allgemeines Künstlerlexikon – Internationale Künstlerdatenbank – Online, hrsg. v. Andreas Beyer, Bénedicte Savoy und Wolf Tegethoff, https://db.degruyter.com/view/

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

Abb. 1 Adolf Liebscher, Sein Lied, os_ub_0006597.

‚Kleinkunst‘“. Das Exemplar des Archivs ist ungelaufen und undatiert. Anhand von datierten Karten derselben Serie des Verlags lässt sich das Druckdatum auf ca. 1916 eingrenzen.29 Auf der Rückseite der Karte sind neben den Verlagsangaben der Name des Künstlers und der Titel Sein Lied angegeben. In der ersten Phase der ikonographisch-ikonologischen Interpretation nach Panofsky, der vorikonographischen Beschreibung, geht es um das primäre oder natürliche Subjekt, „unterteilt in tatsachenhaftes und ausdruckshaftes“,30 kurz: Es geht um eine immanente Beschreibung dessen, was auf dem Bild wahrzunehmen ist. Die zentralen Elemente dieses Genrebildes sind ein geöffnetes Fenster, das die obere Hälfte des Bildes dominiert und ein Flügel der mittig in die rechte Bildhälfte hereinragt. Beide winkligen, kantigen Bildbestandteile werden durch die weiche, s-förmige Linie eines jungen Mädchens auf der Diagonalen miteinander verbunden. Ihre blonden Haare sind streng hochgesteckt, ein langes, körpernahes Kleid mit

AKL/_00089505?rskey=4nqatT&result=1&dbq_0=Adolf+Liebscher&dbf_0=akl-name&dbt_0= name&o_0=AND (letzter Zugriff: 23.05.2020). 29 Ich danke Jean Ritsema, Jackson, Michigan, USA, für ihre Hilfe bei der Datierung. Sie stellte mir Scans von Karten des Verlags aus der Reihe „Sammlung ‚Kleinkunst‘“ zur Verfügung, auf deren Basis die Datierung hier erfolgte. 30 Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, S. 37.

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einer vorgeknöpften, durch Falten verzierten Schürze betont ihre schlanke Figur. Die junge Frau wendet sich vom Instrument ab und lehnt den Kopf auf ihren rechten Arm auf der Rückenlehne des Stuhls. Ihr Gesicht wird von der Hand verdeckt. Der Zeigefinger der linken Hand hält eine Taste auf dem Klavier gedrückt. Auf dem Notenständer des Flügels steht ein Notenheft und rechts daneben ein kleines Porträt. An der Wand hinter dem Flügel befindet sich teilweise angeschnitten ein großes Gemälde: ein weiteres Porträt eines Mannes. Der Raum ist mit Blumen dekoriert. Draußen vor dem Fenster erkennt man einen zart rosa blühenden Kirschbaum vor bewölktem Himmel. In der Fensternische hängt ein kleiner Käfig mit einem gelben Kanarienvogel. Das durch das Fenster einfallende Licht beleuchtet das Mädchen von hinten, so dass ihre dem Betrachter zugewandte Seite beschattet wird. Das Bild verwendet außer dem blauen Kleid der jungen Frau nur wenige reine Farben. Ein kühles Blaugrau dominiert die oberen zwei Drittel des Bildes, das Braun von Fußboden und Klavier wärmt den Gesamteindruck nur wenig auf. Das Bild enthält einige Hinweise zur zeitlichen Einordnung: Das Kleid des Mädchens spiegelt die Mode vom Ende des 19. Jahrhunderts; die Kleidung des Mannes auf dem Porträt gehört dagegen in die Biedermeierzeit. Der wuchtige Hammerflügel entspricht repräsentativen Modellen, wie sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von vielen europäischen Werkstätten gebaut wurden: mit massiven, sechseckigen nach unten zulaufenden Beinen und zwei Pedalen an einer hier eher birnenförmig geschwungenen Lyra. Der Flieder in der Vase und die Kamelien auf der Fensterbank sowie der blühende Kirschbaum zeigen: Es ist Frühling. Das Porträt an der Wand, der Flügel und die Kleidung des Mädchens verweisen auf den sozialen Kontext: einen wohlhabenden bürgerlichen Haushalt. Mit der Deutung der Blumen als Frühlingssymbole befinden wir uns auf der zweiten Ebene der Analyse, der Ikonographie, in der es um die Beschreibung der „sekundären oder konventionellen Bedeutung“ geht, um „die Welt spezifischer, sich in Bildern, Anekdoten und Allegorien manifestierender Themen oder Konzepte“.31 Der Vogelkäfig ist sicherlich ein sehr augenfälliger, konventioneller Schlüssel zu diesem Bild. Wie der schöne, singende Kanarienvogel ist das Mädchen eingesperrt, beziehungsweise an das Haus der Eltern gebunden – unter dem strengen Blick des Ahnen auf dem Bild an der Wand. Ihre Schürze – auch wenn sie mehr Zierde ist als Schutz der Kleidung – deutet ihre Zugehörigkeit zur Sphäre des Hauses und der Hausarbeit an. Wie der Gesang des Vogels durch das offene Fenster aus dem Hause dringt, überwindet auch das Klavierspiel der jungen Frau die Grenzen des Hauses und ist auch im Freien zu hören, wo im Gegensatz zum grauen Zimmer der Frühling angebrochen ist, die Jahreszeit, die symbolisch für das Lebensalter

31 Ebd., S. 38.

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

der Jugend und die erblühende Liebe steht. Sie hat ihr Spiel abgebrochen und wendet sich weinend vom Flügel und der Musik ab, aber damit auch von dem kleinen Bild neben dem Notenständer, das vermutlich denjenigen zeigt, dessen Lied das Mädchen dem Titel der Postkarte nachgespielt hat. Das Klavierspiel hat ihre Sehnsucht geweckt, ihre Gefühle haben sie überwältigt. Auf der dritten Ebene, der ikonologischen Interpretation, geht es nach Panofsky um die Ermittlung der zugrunde liegenden Prinzipien, „die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk“.32 Am Ende seines Aufsatzes weist Panofsky selbst darauf hin, dass alle drei Ebenen der Interpretation von den Interpretierenden Erfahrungswissen benötigen, um ein Bild seinem historischen, ideengeschichtlichen und lokalen Kontext gemäß zu deuten. Er nennt dieses Wissen „Tradition“.33 Man könnte jedoch auch davon sprechen, dass an dieser Stelle Empirie notwendig ist. Reicht bei der vorikonigraphischen und der ikonographischen Beschreibung vielleicht das subjektive Wissen der/des erfahrenen Forschenden aus, sind die Ergebnisse spätestens bei der Deutung des Vorgefundenen als „Symptom von etwas anderem“34 auf eine größere Quellenbasis zu gründen, um als verallgemeinerbar zu überzeugen. Diese Basis lässt sich auf unterschiedliche Arten herstellen. In unserem Fall ergibt sich hier die Verbindung zur seriellen Analyse. Die ikonologische Ebene der Interpretation eines Einzelbildes wird damit zu einem Werkzeug, Thesen für die Beschreibung eines größeren Korpus zu entwickeln. In unserem Fall ist das die Frage, inwieweit unser Bild des Klavierspiels einer jungen Frau repräsentativ für die Vorstellungen der Zeit um 1900 von weiblicher Musikpraxis ist. 2.3

Serielle Analyse

Der Vergleich von Liebschers Bild mit den übrigen Karten des Untersuchungskorpus belegt, wie konventionell es ist. Der Gegenstand, der beim Durchschauen der 43 gemalten Karten mit Frauen allein am Klavier als Erstes auffällt, ist das Fenster, durch das helles Licht in den Raum dringt. Auf 21 Bildern steht das Klavier in der Nähe eines großen, oft bodentiefen Fensters, das auf 14 Karten zudem weit geöffnet ist. Wenn die Außenwelt durch das Fenster sichtbar wird, ist es immer die grüne Natur. Auf zwei Karten übernehmen offenstehende Zimmertüren die symbolische Funktion einer Öffnung des Raums zur Außenwelt. Durch die Anordnung des

32 Ebd., S. 39. 33 Ebd., S. 56. 34 Ebd., S. 40.

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Fensters im Bild fällt das Licht auf die der/dem Betrachtenden abgewandte, beschattete Seite der jungen Frau.35 Dieser intime Blick aus dem dunklen Inneren des Hauses auf die Frau am Klavier wird noch dadurch verstärkt, dass wir in sehr vielen Fällen die Pianistin nicht en face oder en profil sehen. Nur auf vier Bildern blickt sie direkt den Betrachter an – zwei davon sind Karikaturen von Mädchen, die singen und sich auf dem Klavier selbst begleiten. Auf 16 Bildern ist sie dagegen schräg von hinten, auf neun von der Seite und auf fünf sogar ganz von hinten gemalt.36 Die Verweigerung der direkten Kommunikation mit dem Betrachter durch die dargestellten Personen, aber auch die Verschleierung ihres Aussehens, ihrer Identität durch die Perspektive im Gegenlicht und die abgewandte Körperhaltung sind wichtige Merkmale der Karten des Korpus. Es liegt natürlich in der Natur des Instruments, dass man eine Pianistin beim Spiel nur schwer von vorn darstellen kann. Dass es sich bei der Darstellung mit abgewandtem Gesicht aber nicht um eine vom Instrument vorgegebene Notwendigkeit der Darstellung handelt, belegt unser Referenzkorpus der Fotopostkarten von einzelnen Frauen am Klavier. Hier ist keine Pianistin von hinten oder schräg hinten fotografiert, es dominiert mit zwölf Bildern die Seitenansicht. Auf 13 von 20 Bildern blicken die Dargestellten die Betrachterin oder den Betrachter direkt an, viele lächeln, ja flirten sogar aus dem Bild heraus. Auf allen Fotokarten ist die Pianistin Mittelpunkt und Hauptgegenstand, der das Bild entsprechend groß ausfüllt. Die fehlende Kommunikation mit der Betrachterin oder dem Betrachter ist eine signifikante Tendenz des Untersuchungskorpus. Die Bilder stellen Momente des Bei-sich-Seins, der Versunkenheit dar, Momente, die andere Personen nur als heimliche Beobachter wahrnehmen können. Diese Innerlichkeit kommt übrigens auch in den neun Bildern zum Ausdruck, in denen die Abgebildeten von schräg vorn gezeigt werden. Auch wenn ihre Körperhaltung es erlaubte: Sie blicken nicht aus dem Bild heraus, sondern lesen z. B. einen Brief oder schauen träumerisch in die Ferne.37 Dadurch dass die Betrachterin oder der Betrachter von der Dargestellten nicht bemerkt wird und quasi die Szene heimlich beobachtet, bekommt die Situation eine intime, manchmal sogar leicht erotische Komponente. Man kann sie ungehemmt betrachten und die Blicke über ihren Nacken oder die nackten Schultern schweifen lassen.38 Diese unterschwellige Erotik findet ihre Fortsetzung auf den 62 Karten unseres Gesamtkorpus, auf denen sich ein Mann zu der Frau am Klavier gesellt. Hier betrachten die Männer – am Fenster stehend oder in einem Sessel sitzend – die Pianistinnen eingehend. Ihr Spiel macht sie zum Blickfang und gibt dem 35 S. z. B. os_ub_0005150. 36 S. z. B. os_ub_0006595, os_ub_0006603 und os_ub_0006511. Neun weitere Karten zeigen die Pianistin von schräg vorn. 37 S. z. B. os_ub_0006508 und os_ub_0006569. 38 S. os_ub_0006511, os_ub_0006512, os_ub_0006574, os_ub_0006571, os_ub_0006583.

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

Abb. 2 Horst Brüttig, Der richtige Ton | Harmonie! (os_ub_0005053).

Mann Gelegenheit, ihr ganz seine Aufmerksamkeit zu schenken, ohne gesellschaftliche Konventionen zu verletzen. Trifft sie den „richtigen Ton“, wie ein Titel sagt (s. Abb. 2), nähern beide sich an – auf unserem Bild unter den Blicken von Beethovens Lebendmaske an der Wand.39 Die Macht der Töne führt schließlich zum Kuss, wie der Titel einer anderen Karte verspricht.40 Das Paar wird dann allerdings nicht mehr im Tageslicht, sondern im warmen Lichtkegel einer Lampe dargestellt, der die Außenwelt im Dunkel verschwinden lässt.41 Alle Bilder unseres Untersuchungskorpus stellen Szenen in einem bürgerlichen Salon dar. Es hängen Gemälde in schweren goldenen Rahmen an den Wänden, die Möbel sind elegant, farbige Tapeten, Tüllgardinen und Vorhänge schmücken den Raum. Das Bild von Röschen Gutfeldt-Schaumburg (s. Abb. 3) Am Flügel ist ein besonders prägnantes Beispiel: Die elegante junge Frau am Klavier wirkt in ihrer Platzierung im Bild und in ihrer abgewandten Haltung eher wie ein weiteres

39 Os_ub_0005053. 40 Os_ub_0008847. 41 Aus erlaubten Blicken (os_ub_0005053, os_ub_6520, os_ub_6523, os_ub_6531, os_ub_6559, os_ub_8855, os_ub_8857, os_ub_8865, os_ub_8888 – das Bild heißt Präludium!) werden schnell heimliche Handlungen (os_ub_8844, os_ub_8845, os_ub_8847, os_ub_8863).

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Abb. 3 Röschen Gutfeldt-Schaumburg, Am Flügel (os_ub_0006512).

Ausstattungsstück des repräsentativen Salons und nicht wie der Mittelpunkt des Bildes. Auf vielen gemalten Karten, aber auch auf den Fotokarten, sind die Pianistinnen in elegante Tageskleider, zum Teil auch in Abend- oder Ballkleider gekleidet. Das oben besprochene Bild Liebschers bildet schon fast eine Ausnahme, doch trägt auch hier das Mädchen kein schlichtes Arbeitskleid und ihre Schürze ist vor allem Zierde. So wie der Salon eine Inszenierung des Status der Familie für Besucher darstellt, sind auch die Pianistinnen unserer Gemälde repräsentativ in Szene gesetzt. Dass es in den gemalten Bildern junger Frauen am Klavier immer auch um die Darstellung der Welt des eher gehobenen Bürgertums geht, zeigt die Wahl der dargestellten Instrumente. Flügel, die viel Platz beanspruchen, sind auf 14 von 43 Karten abgebildet. Die nächsthäufige Variante des Tasteninstruments ist allerdings das Tafelklavier mit neun und das Giraffen- bzw. Lyraklavier mit insgesamt sieben Abbildungen. Erst dann folgt das zur Entstehungszeit der Karten massenproduzierte Standardinstrument bürgerlicher Haushalte, das platzsparende Pianino mit sechs Karten. Auf fünf Karten scheint die junge Frau ein Klavichord, Cembalo oder Spinett zu spielen.42 42 Die Zuordnungen sind hier jedoch nicht sicher; es könnte sich in einigen Fällen ebenfalls um Hammerflügel oder Tafelklaviere sehr leichter Bauweise oder weniger realistische Darstellungen handeln.

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Die Rückwärtsgewandtheit der dargestellten Klaviermodelle ist auffällig. Tafel-, Giraffen- und Lyraklavier sind Bauformen des Hammerklaviers aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zu der Zeit, in der die Karten gedruckt wurden, längst vom Pianino als Instrument für Amateure abgelöst waren, so wie sie ihrerseits die Kielinstrumente und das Klavichord verdrängt hatten.43 Die Lebensdaten der Maler, die die Vorlagen zu den Postkarten lieferten, erklären dieses Phänomen nicht. Soweit Daten zu ermitteln sind, wurden sie alle in der Mitte oder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren. In den meisten Fällen lassen sich die dargestellten Szenen anhand der Kleidermode den Jahrzehnten um 1900 zuordnen; auf drei gemalten Karten tragen die Pianistinnen tatsächlich Empire-Kleider vom Anfang des 19. Jahrhunderts.44 Sie liegen also in der Mehrzahl zeitlich nicht allzu weit entfernt von der Produktion der Postkarten. Es fällt auf, dass zwei der sechs gemalten Darstellungen einer jungen Frau am modernen Pianino Karikaturen sind, die sich über unmusikalische Mädchen lustig machen. Auch im Gesamtbestand sitzen Frauen auf Karikaturen fast immer am Pianino, nicht aber an einem der alten Instrumente. Die Postkarten sind kaum als Hinweis zu deuten, dass die eher fragilen Instrumente der Biedermeierzeit um 1900 noch regelmäßig in bürgerlichen Stuben zu finden waren.45 Denn der Vergleichskorpus der Fotokarten zeigt Frauen im Gegensatz dazu vor allem am Pianino oder am Flügel; ältere Bauformen kommen hier nicht vor. Offensichtlich hatten die unterschiedlichen Bauformen symbolische Bedeutungen: das laute Pianino als Instrument für soziale Aufsteiger, die weder musikalisch gebildet sind noch die soziale Regel weiblicher Zurückhaltung kennen, das leise Tafelklavier und die älteren Instrumente dagegen als Symbole für eine lange Familientradition (zusammen mit den Gemälden, die über ihnen aufgehängt wurden), aber auch für den eher zurückhaltenden, leisen Charakter der gespielten Musik und die Bescheidenheit und Zurückhaltung der Instrumentalistin.

Im Korpus befinden sich weiterhin zwei Karten mit jungen Frauen an stilisierten Orgelpositiven. Beide stellen die Heilige Cäcilie dar und fallen aus unserem Kontext heraus. 43 Cembalo und Clavichord werden bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom Hammerklavier verdrängt. Mary Burgan, „Heroines at the Piano: Women and Music in Nineteenth-Century Fiction, in: Victorian Studies 30 (1986), H. 1, S. 51–76, hier S. 53; Rebecca Grotjahn, „‚Eine Art Klauenseuche unter den Pensionatstöchtern und den Mädchen überhaupt‘. Klavier, Gender und Massenkultur“, in: Geburt der Massenkultur, hrsg. v. Roland Prügel, Nürnberg 2014, S. 122–133, hier S. 128. 44 Auf einigen wenigen gemalten Karten tragen die Pianistinnen Empire-Kleider vom Anfang des 19. Jahrhunderts: os_ub_0006533, os_ub_0006600, os_ub_0006601. 45 Das Pianino, das deutlich lauter war als das Tafelklavier, wurde um 1800 erfunden und setzte sich wegen seiner Robustheit, Lautstärke und platzsparenden Form bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Haushalten durch. Ältere Bauformen des Hammerklaviers verschwanden sehr schnell. Hubert Henkel, „Klavier, VI. Geschichte des Klaviers von 1800 bis um 1860“, in: MGG 2, Sachteil, Kassel usw. 1996, Bd. 5, Sp. 302–308.

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Die auf den Postkarten abgedruckten Titel reichern die Bilder mit weiteren Assoziationen an. Auf einigen Karten finden wir Hinweise auf das mit den abgebildeten Pianistinnen assoziierte musikalische Repertoire: Franz Schubert, bzw. Schubertlieder und Schubertklänge sind vier Karten betitelt.46 Eine in Krakau gedruckte Karte mit dem deutschen Titel Nokturno von Chopin47 stellt eine Totentanz-Szene dar: Eine junge Frau ist über dem Flügel zusammengebrochen, während der Tod in Form eines Skeletts Violine spielt. Eine Karte spielt mit dem Titel Regentropfen auf den Schlager von Emil Palm und Josef Hochleitner Regentropfen, die an Dein Fenster klopfen von 1935 an.48 Die Titel erlauben uns auch eine Ahnung von dem, was vorgeblich in den Köpfen der Frauen beim Klavierspiel vor sich geht. Mit einer Träumerei49 – vielleicht von Robert Schumann – entfliehen sie dem Alltag: Der Töne süße Klänge50 führt sie ins Reich der Töne51 , wenn sie Sein Lied 52 (auf zwei Karten), Sein Lieblingslied 53 (auf zwei Karten) oder Das Liebeslied 54 spielen. Wie im Fall der Karte Sein Lied von Liebscher kann es dabei zu Gefühlsausbrüchen kommen, vor allem, wenn sie Das alte Lied 55 spielen, Lied und Glück verscholl56 und Verklungene Akkorde57 sie verzweifelt zurücklassen. Das Klavierspiel kann aber auch Trost bedeuten, wie das Gedicht von Paul Grossmann auf einer Postkarte mit der Reproduktion eines Gemäldes von Paul Bayer nahelegt. Unter dem Titel Ein treuer Freund finden sich u. a. die Zeilen: „Gieb [sic] Deinem Fühlen darum Melodie: / Ein treuer Freund in Stunden froh und bang, / Er heißt ‚Das Lied‘, er heißt ‚Gesang‘!“58

46 Franz Schubert: os_ub_0005152, os_ub_0006575, Schubertlieder: os_ub_0005150, Schubertklänge: os_ub_0006571. 47 Os_ub_0004677. 48 Os_ub_0003999. Zeitlich befindet sie sich am äußersten Rand unseres Korpus, technisch ist sie eher amateurhaft ausgeführt, ikonographisch zeigt sie jedoch kaum einen Unterschied zu den restlichen Karten. 49 Os_ub_0005622. 50 Os_ub_0006601. 51 Os_ub_0006583. 52 Os_ub_0006597, os_ub_0006586. 53 Os_ub_0006585, os_ub_0006520. 54 Os_ub_0006603. 55 Os_ub_0006600. 56 Os_ub_0006596. 57 Os_ub_0006569. 58 Os_ub_0006507.

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2.4

Geltungsprüfung

Die bisherigen Ergebnisse sind weitgehend aus dem Bildbestand abgeleitet und müssen auf ihre Gültigkeit und Verallgemeinerbarkeit hin überprüft werden.59 2.4.1 Kontrastierung

Pilarczyk und Mietzner schlagen vor, die Ergebnisse der seriell-ikonografischen Analyse mit einer ähnlichen Untersuchung derjenigen Karten zu kontrastieren, die aus dem Rahmen fallen und daher bei der Interpretation nicht berücksichtigt wurden.60 Für eine solche Kontrastierung ist mein Korpus allerdings viel zu homogen; kein Bild fällt wirklich deutlich aus der Reihe. Auch die Karikaturen bilden keine Ausnahme, da sie gerade durch ihre Gegensätzlichkeit die Ergebnisse der Analyse bestätigen.61 Die jungen Frauen sind auf diesen drei Karten als unattraktiv dargestellt, entweder sehr dünn oder sehr dick. Sie spielen auf dem Pianino, eine auch auf dem Flügel. Alle drei singen mit grotesk verzerrtem Gesicht; zwei schauen den Betrachter direkt an, eine das Bild des Angebeteten an der Wand. Gedichte neben den Bildern verwünschen die Pianistin und nennen das Instrument „Wimmerkasten“ oder „Klimperkasten“.62 2.4.2 Vergleichskorpora

Die Unterschiede zum Gesamtkorpus von Postkarten mit Menschen am Klavier habe ich bereits oben angesprochen: Die Darstellungen von Männern allein am Klavier, die fast ausschließlich berühmte Komponisten zeigen, machen das starke Gendering der Vorstellungen vom Klavierspiel sehr deutlich. Die Karten mit Paaren am Klavier erscheinen fast wie Fortsetzungen meines Untersuchungskorpus und bestätigen seine Tendenzen: Träumen die jungen Frauen allein am Klavier von der Liebe, so erfüllen sich jetzt ihre Wünsche und das Klavierspiel wird zum Mittel der Anbahnung einer Beziehung. Auffällig ist höchstens der Kontrast zwischen Postkarten mit gemalten und solchen mit fotografierten Vorlagen. Die Tatsache, dass die Dargestellten auf den Fotokarten den Betrachter direkt anblicken und zudem viel mehr im Mittelpunkt des Bildes stehen, lässt sich mit der Tradition der Fotografie als Medium für Porträtaufnahmen erklären. Genrebilder in Innenräumen mit

59 Vgl. zur Gültigkeitsprüfung Pilarczyk/Mietzner, Das reflektierte Bild, S. 147–152. Ich orientiere mich an ihrer Vorgehensweise, passe sie aber den Besonderheiten meines Quellenkorpus an. Dabei werde ich die Perspektive in vier Schritten immer mehr weiten. 60 Ebd., S. 148. 61 Os_ub_0009716, os_ub_0006612, os_ub_0009717. 62 Os_ub_0009717, os_ub_0006612.

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starken Lichtkontrasten, wie die hier untersuchten, waren zudem aufgrund mangelhafter Beleuchtungstechnik und geringer Lichtempfindlichkeit der Filme schwer umzusetzen und als Schwarz-Weiß-Aufnahmen zudem wenig ansprechend.63 Der Verdacht, der Korpus meiner Untersuchung könne auch durch Zufall oder durch Vorlieben der Sammlerin einseitig zusammengesetzt sein, lässt sich durch Vergleich mit anderen thematisch ähnlichen Sammlungen ausräumen. Als Referenz habe ich eine Sammlung von 44 Klavier spielenden Frauen und Mädchen auf Postkarten mit gemalten Vorlagen herangezogen, die mir als Scans von einer anderen Sammlerin, Jean Ritsema, Jackson, Michigan (USA), zur Verfügung gestellt wurden. Zahlreiche Duplikate in beiden Sammlungen belegen, wie umfassend mein Untersuchungskorpus das Repertoire der Zeit abbildet. Zudem bestätigen die Karten genau die oben beschriebenen Merkmale der Bilder. Auch eine Suche in den riesigen Angeboten von Online-Auktionshäusern für Postkarten ergab keine anderen Ergebnisse. Die an der Sammlung Giesbrecht festgestellten Tendenzen sind in allen Kontrollkorpora gleich und ähnlich deutlich, so dass man davon ausgehen kann, dass der Untersuchungskorpus ausreichend repräsentativ ist. 2.4.3 Mediale Traditionen

Die Gemälde allein musizierender junger Frauen sind durch malerische Traditionen geprägt, was bei der Interpretation zu berücksichtigen ist. Auch wenn manche eher naturalistisch und andere bereits impressionistisch beeinflusst sind, lassen sich fast alle im ideengeschichtlichen Kontext der Genremalerei des 19. Jahrhunderts verorten. Sie sind unter anderem vergleichbar im Bildaufbau und der Motivik mit Darstellungen handarbeitender Frauen, die ebenfalls oft in einer vom Betrachter abgewandten, „abwesenden“ Haltung, im Kontext einer bürgerlichen Stube und mit starken Lichtkontrasten durch ein großes Fenster dargestellt werden.64 Bildnerische

63 Die unbetitelte Fotopostkarte os_ub_0006568 (die im Archiv den Titel Liszt bekommen hat), versucht, Pose und Ambiente der gemalten Bilder fotografisch einzufangen. Sie belegt durch ihre Leblosigkeit und die Belichtungsproblematik die technischen Schwierigkeiten anschaulich. Den gemalten Bildern nahe kommt nur das Foto des Starnberger Fotografen Richard Wörsching von einer jungen Frau in historisierender Kleidung Am Spinett im Gegenlicht vor einem Fenster (os_ub_0019989). Die Karte wurde, der Seriennummer nach zu urteilen, um oder kurz vor 1919 veröffentlicht. 64 Vgl. z. B. die Bilder in Gail Carolyn Sirna, Frauen, die nie den Faden verlieren. Handarbeitende Frauen in der Malerei von Vermeer bis Dalí, München 2007, bes. S. 41 (Martin Drolling: Kücheninterieur, 1815), S. 108 (Helena Maguire: Ein Sommernachmittag, um 1886–1900), S. 121 (Francisco Oller y Cestero: Der Student, um 1890–1900), S. 123 (Anna Ancher: Sonnenschein im blauen Zimmer, 1891), S. 127 (Louis Paul Dessar, Clotilde, 1893), S. 144 (Carl Vilhelm Holsøe: Stickende Frau am Fenster, um 1900). In unserem Untersuchungskorpus stellt Karl Harald Alfred Broges Bild der handarbeitenden Frau hinter einem Tafelklavier Am Erker (os_ub_0006592) die Verbindung beider Gegenstände her.

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Elemente wie die weibliche Rückenfigur beim Musizieren in einem reichen Interieur vor großen Fenstern mit starkem Lichteinfall lassen sich zurückverfolgen bis auf die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, so z. B. zu Gerard ter Borchs Das Konzert aus den 1670er, Emanuel de Wittes Interieur mit Frau am Clavichord aus den 1660er Jahren oder den Bildern musizierender junger Frauen Jan Vermeers wie z. B. der Musikstunde.65 Die Bilder des 17. Jahrhunderts unterscheiden sich allerdings ideengeschichtlich durch ihre Allegorik und moralische Intention von der Genremalerei des 19. Jahrhunderts, die eher den schönen, „malerischen“ Moment abbildet.66 „Das Genre“, schreibt Ute Ricke-Immel, „gibt kein Abbild der Wirklichkeit, sondern einen Detailnaturalismus, dessen stückweise Naturaufnahme durch ‚poetisches‘ Verschönern des Gewohnten und Alltäglichen überhöht und idealisiert wird. Für die zur Entstehungszeit der Bilder Lebenden galten diese Darstellungen jedoch als ‚wahr‘“.67 Die Genremalerei des 19. Jahrhunderts strebt die Darstellung alltäglich scheinender Szenen an, die sie als typisch und gewohnheitsmäßig, ja authentisch68 begreift, wobei die Authentizität, das „Wahre“ der dargestellten Idylle, vor allem durch die Detailliertheit der Abbildung und die scheinbare Zufälligkeit der Pose erreicht wird. Der Schein des Dokumentarischen ist Teil der Inszenierung;

65 Vgl. Sylvia Jäkel-Scheglmann, Zum Lobe der Frauen. Untersuchungen zum Bild der Frau in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts, München 1994, S. 100 f., sowie Abb. 104, 105 und 106. 66 Die Bezüge zu den Niederländern des 17. Jahrhunderts wurden von den Genremalern selbst lanciert, um ihre Kunst durch die Tradition aufzuwerten. S. Martina Sitt, „Genremotive im Zeitalter der ‚Telegraphenungeduld‘“, in: Angesichts des Alltäglichen. Genremotive in der Malerei zwischen 1830 und 1900 aus dem Bestand des Kunstmuseums Düsseldorf im Ehrenhof mit Sammlung der Kunstakademie NRW, hrsg. v. ders. unter Mitarbeit von Ute Ricke-Immel, Köln u. a. 1996, S. 17–31, hier S. 26–30. Wir finden solche direkten und weniger direkten Bezugnahmen auch in unserem erweiterten Korpus, z. B. in dem Bild The Carol des niederländisch-englischen Malers Laurens Alma Tadema, das ein Paar in der Kleidung des 17. Jahrhunderts beim Musizieren zeigt (os_ub_0019986). Wie in Vermeers Musikstunde wird das Bild der jungen Frau von einem Spiegel reflektiert. Doch was bei Vermeer ein wichtiges Element der Allegorie ist, wirkt hier als rein dekoratives Zitat. Ein weiteres Beispiel für eine Stilkopie sind die Kopfhaltung und die Frisur des jungen Mädchens in Rückenansicht auf Carl Vilhelm Holsøes Aus alten Zeiten (os_ub_0006511), die stark an die Cellistin auf ter Borchs Das Konzert erinnern. Außerhalb des hier untersuchten Postkartenkorpus ist z. B. noch das Bild Am Klavier von Ludwig Emil Grimm zu nennen, das unverkennbar de Wittes Interieur mit Frau am Clavichord zitiert. Vgl. die Abb. in Stefana Sabin, Frauen am Klavier. Skizze einer Kulturgeschichte, Frankfurt am Main, Leipzig 1998, S. 16 f. und S. 44. 67 Ute Ricke-Immel, „Die Verklärung des Alltäglichen. Zum Genrebild im 19. Jahrhundert“, in: Angesichts des Alltäglichen. Genremotive in der Malerei zwischen 1830 und 1900 aus dem Bestand des Kunstmuseums Düsseldorf im Ehrenhof mit Sammlung der Kunstakademie NRW, hrsg. v. Martina Sitt unter Mitarbeit von Ute Ricke-Immel, Köln u. a. 1996, S. 9–15, hier S. 10. 68 Siehe zur Authentizität besonders in der historischen Genremalerei ausführlich Stefanie Mohr, Der Effekt des Realen. Die historische Genremalerei des 19. Jahrhunderts, Köln u. a. 2006.

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wir können Genrebilder der Postkarten nicht als Abbildungen der sozialen Realität Klavier spielender Frauen interpretieren. Das Genre will die Identifikation des Betrachters mit der Szene erreichen, das Wiedererkennen eigener alltäglicher Gegenstände, Handlungen und Erlebnisse, wenn auch in idealisierter, ästhetischer Überhöhung.69 Als Aufnahmen des schönen, emotionalen Moments waren Genrebilder leicht zu verstehen, verzichteten Sie doch auf eine anspruchsvolle Allegorik. Das machte sie zu idealen Vorlagen für das massenhaft verbreitete populäre Bildmedium der Ansichts- und Motivkarte, die die ästhetischen Ideale des Genres des 19. Jahrhunderts bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in die ganze Gesellschaft transportierte. Auch wenn alle Bevölkerungsschichten Postkarten nutzten, lässt sich doch eine Hauptzielgruppe der Hersteller ausmachen: das Bürgertum als eine Schicht, für die schriftliche Kommunikation eine Selbstverständlichkeit war – weil die zu ihr sich zählenden Menschen die entsprechende Bildung besaßen, aber auch weil sie soziale Kontakte über größere Distanzen aufrechterhielten und aus geschäftlichen oder privaten Gründen reisten.70 Anett Holzheid beschreibt mit einem Begriff von Gunilla-Friederike Budde Postkartenkommunikation als „eingebettet in eine Kultur performativer Bürgerlichkeit [kursiv im Orig.] […], die maßgeblich innerhalb des weiblichen Funktionsbereichs gefördert wurde, denn es lag primär in der Verantwortung der Frauen, im häuslichen Diskurs Bürgerlichkeit in symbolischen Formen zu generieren und zu vermitteln.“71 Diese Zielgruppe lässt sich noch weiter eingrenzen und zwar auf unverheiratete junge Frauen und Männer in der Phase des gegenseitigen Kennenlernens und der Paarbildung.72 In meinem Untersuchungskorpus sind 16 von 43 Karten beschrieben. Von den 14 Karten, bei denen sich der Adressat einem Geschlecht zuordnen ließ, wurden zwölf an junge Frauen geschickt, aber nur zwei an junge Männer.73 Sechs davon verschickten Männer an ihr „Schatzi“74 , fünf junge Mädchen an eine Freundin. Die Absenderinnen und Absender der Karten unseres Untersuchungskorpus wählten die Bilder der allein Klavier spielenden jungen Frau vermutlich nicht zufällig für ihre jungen, unverheirateten Adressatinnen aus, sondern mit der Annahme, dass 69 Ebd., S. 9. 70 Holzheid, Das Medium Postkarte, S. 58–62. 71 Budde, Gunilla-Friederike, „Bürgerinnen in der Bürgergesellschaft“, in: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgerturns. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), hrsg. v. Peter Lundgreen, Göttingen 2000, S. 249–271, hier S. 263, zit. n. Holzheid, Das Medium Postkarte, S. 50. 72 Holzheid, Das Medium Postkarte, S. 48. Die Aussagen werden von der Sammlung Giesbrecht gestützt. 73 Karten an eine unverheiratete Frau oder an ein Mädchen lassen sich eindeutig durch die Anrede „Fräulein“ erkennen. Die Tatsache, dass es sich bei zwei Adressaten um Männer in einem jüngeren Alter handelt, schließe ich daraus, dass eine Karte von einer Mutter an ihren Sohn (os_ub_0006592) und eine von einem Mann im Militärdienst an einen Freund (os_ub_0006604) geschickt wurde. 74 Os_ub_0006586.

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es sich um ein besonders gut passendes Motiv handele, das vor allem Mädchen und junge Frauen ansprechen würde. Damit sagt die Wahl allerdings auch etwas über die Vorstellungen der Absenderinnen und Absender von Weiblichkeit aus. Auch wenn die handschriftlichen Texte der Karten in keinem Fall auf die Bilder eingehen, müssen sie doch als Teil des Kommunikats gedeutet werden. Postkarten dienten nicht nur der Grußkommunikation oder der Kommunikation des Fremden (bei Karten aus dem Urlaub), sondern auch als Geschenke, die mit Blick auf die Empfänger ausgesucht wurden.75 Eine Empfängerin kann also davon ausgehen, dass ihr der Absender der Karte damit zeigen will, was ihm gut gefällt, wie er denkt, beziehungsweise wie er sich eine ideale Frau in einem idealen Haushalt vorstellt. Eine Postkarte von einer Freundin kann der Empfängerin zeigen, wie die Adressatin sie beide sozial verortet oder gern verorten würde. Sie kann aber auch ein stilles Einverständnis über die Funktionen des Klavierspiels vermuten. Die 27 unbeschriebenen Karten des Untersuchungskorpus waren von Beginn an Sammlerstücke. Ansichts- und Motivkarten und besonders Künstlerpostkarten erfüllten auch die Funktion kleiner, preiswerter Kunstobjekte, die man in Alben sammelte und gemeinsam in Gesellschaft betrachtete,76 oder auch an der Wand oder am Spiegel aufhängte.77 Auch als solche dienten sie der Verständigung über ästhetische und soziale Ideale und Normen. Dabei geht es bei Postkarten nie um eine Abbildung der Realität – auch wenn gerade Ansichtskarten durchaus auch einen dokumentarischen Gestus haben.78 Das Wissen darum, dass Postkarten ein geschöntes, retuschiertes Bild der Welt vermitteln, ist mit dem Begriff der „Postkartenromantik“ fest verankert. Bei der Analyse unseres Korpus dürfen wir daher nicht von den Karten darauf schließen, wie es in bürgerlichen Stuben von 1900 bis 1920 wirklich ausgesehen hat. Bei der Postkartenkommunikation geht es um die gegenseitige Verständigung über das, was schön ist, aber auch über das, was erstrebenswert, ja ideal ist: um eine Ästhetisierung des Alltags und des allen Vertrauten oder (bei Karten aus fernen Ländern) um die Aneignung des Fremden – und das gilt ex negativo selbstverständlich auch

75 Holzheid, Das Medium Postkarte, S. 294–306. 76 Bereits kurz nach der Einführung der illustrierten Postkarte entstand ein umfangreiches Sammelwesen mit der Produktion entsprechender Sammelalben, der Gründung von Vereinen und der Publikation entsprechender Zeitschriften. Alben mit Bildern lagen in vielen bürgerlichen Salons aus, um Kunstbeflissenheit und Bildung zu demonstrieren, aber auch um Konversationspausen überbrücken zu helfen. Vgl. Andreas Ballstaedt und Tobias Widmaier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis, Stuttgart 1989, S. 188; Holzheid, Das Medium Postkarte, S. 261. 77 Viele Karten im Archiv weisen Einstichlöcher von Stecknadeln auf. Andere zeigen Spuren von einer Aufbewahrung in einem Album. 78 Auch die im Fotostudio entstandenen handkolorierten Postkarten um 1900 mit ihren kostümierten Menschen vor gemalten Kulissen wollen eher Malerei als Dokumentation der Realität sein.

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für Karikaturen, die sich über Abweichungen von diesen allgemeinen Vorstellungen vom Schönen, Wünschenswerten und Idealen lustig machen. Wir erfahren aus unserem Korpus von Genrebildern auf Postkarten, welche grundsätzlichen Vorstellungen die Zeit mit den dargestellten Gegenständen verband, mit welchen Szenen sich Nutzerinnen und Nutzer der Postkarten identifizieren konnten und wo sie sich hineinfühlen konnten.

3.

Ergebnisse

Mein Untersuchungskorpus macht vor allem die ungeheure Stabilität der Klischees von der Klavier spielenden Frau deutlich, die sich trotz aller sozialer Umwälzungen auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast unverändert halten und, wie Studien zeigen, bis in die Gegenwart fortwirken.79 Die Karten ergeben ein erstaunlich einheitliches Bild. Von widersprüchlichen Ansichten, von Kritik oder alternativen Vorstellungen ist weder hier noch in den herangezogenen Vergleichskorpora etwas zu erkennen.80 Vielmehr verweisen zahlreiche Bildelemente, wie z. B. die Bauformen der dargestellten Klaviere, aber zum Teil auch die Kleidung der jungen Frauen, in die Vergangenheit. Das Biedermeier lieferte auch noch in der Weimarer Republik starke visuelle Vorbilder für soziale und kulturelle Rollen, mit denen junge Frauen identifiziert wurden oder mit denen sie sich identifizieren konnten. Die Frauenbewegung und die neuen Bildungs- und Berufschancen am Anfang des 20. Jahrhunderts haben keine Spuren hinterlassen.81 Das Klavier stellt sich in der Bilderwelt der Postkarten als weiblich konnotiertes Instrument dar,82 dessen Spiel mit der textilen Handarbeit visuell assoziiert wird. Abgesehen von den großen Komponisten der Vergangenheit sind es in der überwältigenden Mehrheit der Karten Mädchen und Frauen, die Klavier spielen, auch

79 Siehe Katharina Herwig, „Die Frau am Klavier. Untersuchung zum Weiterwirken eines bürgerlichen Ideals“, in: Geschlechtsspezifische Aspekte es Musiklernens (= Musikpädagogische Forschung 17), hrsg. v. Hermann J. Kaiser, Essen 1996, S. 145–169. 80 Lediglich auf einer Karte, auf der kein Klavier abgebildet ist, wird das Bildungsideal der Klavier spielenden jungen Frau leicht infrage gestellt: Zitiert wird auf dieser Karte mit einer jungen Frau im Schottenrock ein Lied aus der Operette Miss Dudelsack von Rudolf Nelson aus dem Jahr 1909: „Französisch und Klavier / Sind sehr zuwider mir“ (os_ub_0004438). 81 Im Gegensatz zu anderen Themenbereichen der Postkarte, in denen vor allem Karikaturen Veränderungen ahnen lassen. Vgl. Sabine Giesbrecht, Wege zur Emanzipation. Frauendarstellungen des Deutschen Kaiserreiches unter Wilhelm II. Osnabrück 2018. 82 Dieser Befund entspricht den Darstellungen für das 19. Jahrhundert in Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main 1991, S. 91–112. In England riskierten männliche Amateurpianisten sogar ihren Ruf. S. Burgan, Heroines at the Piano, S. 59.

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wenn Männer anwesend sind. Auch die Adressatinnen dieser Postkartenmotive waren zum größten Teil weiblich. Die im Detail analysierte Karte von Liebscher macht deutlich, dass das Klavier als Vermittler zwischen drei Welten gedacht wurde: zwischen der Außenwelt außerhalb des Hauses, dem Innenraum der guten Stube bzw. des Salons sowie auch der Innenwelt der dargestellten Pianistin.83 Das im Salon aufgestellte Klavier assoziiert das Instrumentalspiel mit der Funktion dieses Raums: der Außenrepräsentation. Das große, schwere Instrument bindet die Instrumentalistin an den Innenraum und schränkt ihre Bewegungsfreiheit ein.84 Die Postkarten stellen sie entsprechend reglos dar. Doch dringen die Klänge der Musik durch das geöffnete Fenster hinaus in die Außenwelt, die visuell mit der blühenden Natur und dem Frühling als Symbole für Jugendlichkeit und Liebe assoziiert ist. Wie der Vogel in Liebschers Bild ist die junge Frau eingesperrt im goldenen Käfig des Elternhauses, aus dem heraus sie aber über die Musik Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen kann. Wenn diese Verbindung zusammen mit dem gespielten Stück abbricht, sind Verzweiflung und Traurigkeit die Folge. Zumindest Letztere schwingt latent immer in den ernsten, abwesenden Gesichtern der dargestellten Frauen mit. Zwei Karten assoziieren das Ende des Klavierspiels sogar mit dem Übergang der Pianistin in das Reich der Toten. Die gemalten Bilder auf Postkarten zeigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem Frauen am repräsentativen Flügel, der teurer in der Anschaffung und vor allem auch im Platzbedarf war, oder an alten Bauformen vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Während die Flügel für den Wohlstand stehen, repräsentieren Letztere vor allem die lange Tradition weiblichen Klavierspiels – die durch Anspielungen an Gestaltungsmittel und Motive niederländischer Maler bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt wird. Das neumodische, in großen Stückzahlen produzierte Pianino dagegen wird als ein Instrument für Menschen dargestellt, die ihr Unvermögen öffentlich und penetrant darstellen, für Frauen, die nicht dem „Ideal“ entsprechen.85

83 Vgl. Rebecca Grotjahn, „Alltag im Innenraum: Die ‚Höhere Tochter‘ am Klavier – Innenraum, Außenraum, Geschlechterraum“, in: Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. und 20. Jahrhundert: Verlage – Konservatorien – Salons – Vereine – Konzerte (= Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen 3), hrsg. v. Stefan Keym und Kartin Stöck, Leipzig 2011, S. 431–442. 84 S. Hoffmann, Instrument und Körper, S. 42 f.; Dörte Kuhlmann, Von Frauenzimmern und Frauenhäusern, in: Gender Studies: Dokumentation einer Annäherung, Berlin 2004, S. 109–121, hier S. 110–112. 85 Der Kontakt zur Welt außerhalb des Hauses mithilfe des Klaviers wurde nicht nur von Klavier spielenden Mädchen, sondern auch von ihren Eltern gesucht, wie Rebecca Grotjahn mit Augenzwinkern schreibt (Eine Art Klauenseuche, S. 128). Sie sieht den Siegeszug des Pianinos auch darin begründet, dass man mit diesem im Vergleich zum Tafelklavier deutlich lauteren Instrument der ganzen Nachbarschaft vor Ohren führen konnte, wie viel eine Familie in die Ausbildung ihrer

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Die alten Bauformen des Klaviers repräsentieren mit ihrer bescheidenen Größe und ihrem leiseren, weniger brillanten Klang die angeblich weiblichen Tugenden von Unauffälligkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung. Diese Tugenden spiegeln sich auch in der bildlichen Umsetzung wider, die die Pianistinnen aus dem Mittelpunkt des Bildes rückt und zu einem weiteren repräsentativen Gegenstand des Salons werden lässt oder die dem Betrachter durch die Darstellung in Rückenoder Seitenansicht und im Gegenlicht ihre Identität vorenthält und eine direkte Kommunikation durch Blickkontakt vermeidet.86 Die jungen Frauen sind Schmuck des Hauses und der guten Stube wie die alten Gemälde und kostbaren Möbel; sie werden nicht als Individuen dargestellt, sind keine Akteurinnen der Bilder, sondern schöne Accessoires. Sie ergänzen den Eindruck des Klaviers, das in Anschaffung und Unterhaltung wohl teuerste Ausstattungsstück des Salons, indem sie teure, elegante Kleidung tragen, ähnlich den Klavieren, die mit Nippes und Blumen geschmückt und unter einer Galerie von Gemälden aufgestellt werden. Sie werden zusammen mit dem Klavier im Raum in der Nähe des Fensters ins rechte Licht gerückt, um Besuchern sofort aufzufallen.87 Die Zurückhaltung und Bescheidenheit von Körperhaltung und Gestik sowie der abgewandte Blick stehen damit im Widerspruch zum sorgfältigen Arrangement der Szene, das ganz unbescheiden die Errungenschaften der Familie und die Qualitäten der jungen Frau hervorheben soll. Das Klavier blieb, so wie es für das 18. und 19. Jahrhundert beschrieben worden ist,88 auch am Anfang des 20. Jahrhunderts das Symbol für den gesellschaftlichen Status einer Frau. Professionelle Perspektiven, z. B. als Klavierlehrerin, werden auf keiner Karte angedeutet. Wenn Kinder auf einem Bild unterrichtet werden, sind die Lehrerinnen entweder Mütter oder ältere Schwestern. Für die Adressatinnen und Akteurinnen der Postkartenkommunikation war eine berufliche Karriere ganz offensichtlich kein alternativer Lebensentwurf, kein Ideal, über das man sich austauschte, auch wenn es in der Realität oft eine Chance für ein unabhängiges Leben bot, das allerdings mit sozialem Abstieg erkauft wurde.89 Auch werden Frauen nicht als Konzertpianistinnen dargestellt. Selbst Clara Schumann erscheint nur im

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Tochter investierte. Mit dem Pianino begann die von Eduard Hanslick gegeißelte „Clavierseuche“; Eduard Handslick, „Ein Brief über die ‚Clavierseuche’“, in: Die Gartenlaube 1884, H. 35, S. 572–575. In den Postkarten meines Gesamtkorpus schlägt sich dieses Phänomen in Karikaturen von Frauen am Pianino nieder. Die Dargestellten lassen Bescheidenheit und Zurückhaltung missen und quälen ihre Umwelt mit ihrem Gesang und ihrem Klavierspiel (os_ub_0006561, os_ub_0006610, os_ub_0006611, os_ub_0006612, os_ub_0008878, os_ub_0009716, os_ub_0009717). Vgl. Giesbrecht, Wege zur Emanzipation, S. 34–37. Vgl. Ballstaedt und Widmaier, Salonmusik, S. 192. Burgan, Heroines at the Piano, S. 51. Grotjahn, Eine Art Klauenseuche, S. 126. Siehe zum Status der Klavierlehrerin im 19. Jahrhundert auch Freia Hoffmann, „Die Klavierlehrerin. Caroline Krämer und ein literarisches Stereotyp“, in:

Frauen am Klavier, oder: Immer (noch) das gleiche Bild

privaten Kontext. Ähnliches gilt allerdings auch für Männer: Zwar werden sie meist als Berufsmusiker gezeigt, allerdings nicht als Pianisten, sondern als Komponisten, die in der Zurückgezogenheit der Stube an einem Werk arbeiten. Öffentlich konzertierende Pianistinnen und Pianisten finden wir nur auf Fotopostkarten, die Profimusiker:innen zur Eigenwerbung nutzten und die kaum für Postkartenkommunikation außerhalb des Musikgewerbes genutzt wurden. Das Ideal der Klavier spielenden Frau war im gesamten Zeitraum, den unser Korpus abdeckt, das einer Amateurin, die Schubertlieder und Konzertstücke von Chopin und Liszt gekonnt vortragen konnte, doch zurückhaltend und vorgeblich zweckfrei, ohne Streben nach öffentlicher Anerkennung.90 Die Postkartenkommunikation stellt das Klavier als Symbol für den Ausdruck von Innerlichkeit im privaten Kontext dar: An ihm verarbeiten männliche Komponisten ihre klanglichen Ideen und Inspirationen zu Kompositionen und weibliche Amateurinnen ihre unterdrückten, intimsten Gefühle. Der latente Voyeurismus, den viele gemalte Karten mit allein musizierenden Mädchen dem Betrachter zuweisen, lässt ahnen, dass das Klavierspiel nicht völlig zweckfrei war oder allein der Repräsentation des Status der Familie diente. Es wurde auch als Chance begriffen, trotz aller Gebote der Zurückhaltung und Bescheidenheit, Blicke und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und das eigene Innere öffentlich zu machen. Erscheinen Männer auf der Bildfläche der Karten, werden sie als aufmerksame Zuhörer, aber vor allem auch als Betrachter der Qualitäten einer jungen Frau dargestellt. Stellt sie sich geschickt an, so zeigen es die Karten, bewährt sich das Klavier in seiner „Kupplerfunktion“91 und stellt die harmonische Verbindung des Mannes aus der Außenwelt mit der jungen Frau im Innenraum des Salons durch Ausdruck ihrer Innerlichkeit her. Es kommt zu dem, von dem die einsamen Mädchen am Klavier auf unseren Postkarten anscheinend träumen: einem Liebesgeständnis und ersten Kuss.

Musik und Biographie. Festschrift für Rainer Cadenbach, hrsg. v. Cordula Heymann-Wentzel und Johannes Laas, Würzburg 2004, S. 149–161. 90 Burgan, Heroines at the Piano, S. 62. 91 Gunilla Budde, „‚In Pre-Suffragette Days‘: Mädchenerziehung und Frauenleben“, in: Felsensprengerin, Brückenbauerin, Wegbereiterin. Die Komponisten Ethel Smyth, hrsg. v. Cornelia Bartsch, Rebecca Grotjahn und Melanie Unseld, München 2010, S. 21–38, hier S. 26.

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Gruppenbilder (fast) ohne Damen Überlegungen zur fotografischen (Selbst-)Darstellung von Männergesangvereinen um 1900

Soll ich im Freien euch conterfeien, oder im Saale, festlich beim Mahle, oder wohl gütlich, rocklos, gemütlich? Soll mit Standarten, mit Trinkhorn und Karten, mit Humpen und Krügen, im Steh’n oder Liegen ich euch arrangieren und photographieren?1

Mit diesen Fragen wendet sich in einer komischen musikalischen Szene von Fritz Baselt ein Fotograf an die drei bei ihm im Atelier erschienenen Vorstandsmitglieder eines Männergesangvereins. Eigentlich steht dieser Vorstand kurz vor seinem Rücktritt im heillos zerstrittenen Verein. Aber nun möchte man sich zu dritt noch einmal gemeinsam für den Fotografen aufstellen, um zumindest der Nachwelt ein „Denkmal“2 der Einigkeit und Eintracht zu überliefern. Das allerdings geht gründlich schief: Nachdem der Fotograf einen Streit um das Setting der Aufnahme noch hat schlichten können, sorgt ein Malheur des Kassierers, der im Atelier versehentlich die kostbare Hintergrundleinwand zerstört, für Ärger. Denn nun ist unklar, wer für den Schaden aufkommen soll: der Verein oder der ungeschickte Sänger? Die Vorstandsmitglieder sind schnell bereit, den fälligen Betrag aus der Vereinskasse zu nehmen, der Fotograf aber – selbst Mitglied des Vereins – droht, dies als Veruntreuung von Geldern zu melden. Der Kassierer wiederum weigert sich, privat für die Kosten aufzukommen, weshalb es zu handfesten Auseinandersetzungen kommt – mit dem Ergebnis, dass der Kassierer unsanft vor die Tür gesetzt wird. Die Fotosession endet damit in Chaos und Streit, da nützt es auch nichts, dass die vier Sänger immer wieder im Laufe der Diskussionen den Sängerspruch des Vereins „Einigkeit, ihr Sangesbrüder, schafft uns Stärke, Lust und Lieder“ (Notenbeispiel 1: Fritz Baselt, Beim Vereinsphotographen, op. 72, T. 9–12) anstimmen und sich damit demonstrativ auf ein Harmonieideal beziehen, dem sie zu entsprechen versuchen.

1 Fritz Baselt, Beim Vereinsphotographen. Humoristische Scene für vier Männerstimmen mit Klavierbegleitung. Op. 72, Leipzig (C. F. W. Siegel: 9848) o. J., S. 6. Fritz Baselt (1863–1931) war Chorleiter sowie Komponist zahlreicher Stücke für Männerchor und humoristischer Szenen. 2 Ebd., S. 4.

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Notenbeispiel 1: Fritz Baselt, Beim Vereinsphotographen, op. 72, T. 9–12.

Deutlich wird im Verlauf der Szene vielmehr, dass man sich – spätestens, wenn es um Geld geht – bei Weitem nicht so einig ist, wie man sich auf dem gemeinsamen Gruppenfoto dargestellt wissen möchte. Zu Baselts Opus lässt sich in puncto Fotografie zweierlei sagen: Zum einen war es nicht das einzige humoristische Musikstück für Vereinsveranstaltungen3 mit Bezug zu diesem Medium. Ähnlich wie andere technische Erfindungen von Komponist:innen interessiert aufgegriffen wurden,4 nahmen diese in kleinen Singspielen und Theaterszenen wie Rekrut und Photograph von Hermann Kipper5 oder Der Photograph von Kamerun von Louis Kron6 etwa seit den 1880er Jahren auch die Praxis des Fotografierens aufs Korn.7 Das weist darauf hin, dass das Medium Fotografie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinen angekommen war und eine gewisse Präsenz im Vereinsleben erlangt hatte.8 Zum anderen wird im Stück von

3 Dieses damals sehr populäre humoristische Repertoire für kleine Vokalensembles oder auch für mehrere Vokalsolist:innen ist bisher kaum erforscht. Eine Ausnahme bildet Helmke Jan Keden, „Eine Sängerfahrt nach Kamerun – Deutscher Kolonialismus als Sujet von Singspielen für Männerchor während der Wilhelminischen Epoche“, in: Wege zur Oper. Musiktheater im Spannungsfeld von Bühne, Pädagogik und Forschung, hrgs. von Thomas Erlach u. a., Berlin 2020, S. 169–190. 4 Als Beispiel sei auf die Thematisierung der Eisenbahn in Kompositionen verwiesen, dazu ChristophHellmut Mahling, „Musik und Eisenbahn. Beziehungen zwischen Kunst und Technik im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hrsg. v. Annegrit Laubenthal, Kassel u. a. 1995, S. 539–559. 5 Hermann Kipper, Rekrut und Photograph. Humoristische Scene von Josef Ziegler für zwei Männerstimmen mit Clavierbegleitung, Leipzig (C. F. W. Siegel: 3953) o. J. 6 Louis Kron, Der Photograph von Kamerun. Humoristisches Potpourri für Männerquartett mit Pianoforte. Op. 94, Leipzig (E. Eulenburg: 482) o. J. 7 Siehe dazu auch die Treffer in den Monatsberichten des Verlags Friedrich Hofmeister (https://hofmeister.rhul.ac.uk/2008/index.html, letzter Zugriff: 24.09.2022) sowie in Ernst Challier, Katalog der Gelegenheits-Musik. Ein classificirtes Verzeichniss von Compositionen für Gelegenheiten aller Art der Vokal- und Instrumental-Musik in den verschiedensten Besetzungen, Gießen 1897 [mit späteren Ergänzungen]. 8 Dies wird durch einen Blick in erhaltene Vereinsarchive bestätigt: Im heute in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrten Vereinsnachlass der Harmonie Zürich, einem der bedeutendsten Männergesangvereine der deutschsprachigen Schweiz, stammen z. B. erste Alben mit Porträts aus den 1870er

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Baselt angedeutet, dass sich ähnlich wie Einzelpersonen und Familien auch Vereine auf den Fotos ins rechte Licht gerückt wissen wollten und dementsprechend im Austausch mit den Fotografen über die Art und Weise der Präsentation nachdachten. Das macht derartige Gruppenporträts, zu denen – anders als zu Porträts von Einzelpersonen9 – bisher kaum wissenschaftliche Literatur vorliegt,10 zu einer interessanten Quelle, die etwas über das Selbstverständnis der Sänger, aber auch über die Erwartungen verraten kann, denen sie mit den Fotos zu entsprechen suchten. Das heißt, es geht im Folgenden weniger um Bilddokumente als Abbilder einer vermeintlichen Realität,11 sondern um die Frage, was die Vereine der Umwelt von sich ‚zu sehen geben‘,12 welches Bild sie von sich in der Öffentlichkeit verbreitet wissen wollten. Von besonderer Bedeutung ist bei Gruppenbildern, ob fotografisch oder nicht, das Verhältnis von Individuum und Kollektiv bzw. die Frage, wie sich die Einzelperson optisch in die Gruppe einfügt und was das über das Selbstverständnis der einzelnen Beteiligten ebenso wie des Kollektivs aussagt. Zudem lassen sich – wie im Folgenden noch gezeigt werden soll – auch konkrete Fragen z. B. nach Männlichkeitsvorstellungen oder Auffassungen von Bürgerlichkeit an die Fotos richten.

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Jahren (Zürich, ZB, Mus Va 6: La 1), die Sammlung von Einzelfotos aus dem Vereinsleben beginnt im Jahr 1891 (Zürich, ZB, Mus Va 6: Lb 1). U. a. Klaus Honnef (Hrsg.), Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie, Köln 1982; Graham Clarke (Hrsg.), The Portrait in Photography, London 1992. Ähnlich sieht es im musikwissenschaftlichen Bereich aus, wo es zwar zahlreiche Publikationen zu Porträts von Musiker:innen gibt – überblicksartig oder auf eine Person bezogen –, aber von Gruppenporträts meist nur am Rande die Rede ist, wenn es z. B. um Musizierszenen oder die Abbildung von Künstlergemeinschaften geht. Zum Musiker- bzw. Komponistenporträt u. a. Gabriele und Walter Salmen, Musiker im Porträt, 5 Bde., München 1982–84; Dietrich Erben, Komponistenporträts. Von der Renaissance bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008; Karoline Czerwenka-Papadopoulos, Typologie des Musikerporträts in Malerei und Graphik. Das Bildnis des Musikers ab der Renaissance bis zum Klassizismus, 2 Bde., Wien 2007; Ute Jung-Kaiser, Das ideale Musikerporträt. Von Luther bis Schönberg, Hildesheim u. a. 2019. Siehe vor allem die folgenden beiden Bildbände: Paul Hugger und Richard Wolf, Wir sind jemand. Gruppenfotografien von 1870 bis 1945 – ein Spiegel der Gesellschaft, Bern 2012, sowie Fritz Franz Vogel, Soooooooooooo oooooooooooo oooooooooooo viele!!! Gruppenfotografien zwischen Standesrepräsentation, Vereinsmeierei und Kunstdiskurs, Baden/Wien 2012. Zum gemalten Gruppenporträt der Moderne: Franziska Thiess, Das Gruppenporträt in der Moderne (1860–1970). Eine Annäherung, Diss., München 2018; Hans-Jürgen Schwalm, Individuum und Gruppe. Gruppenbilder des 20. Jahrhunderts (= Kunst. Geschichte und Theorie 14), Essen 1990. Lange Zeit wurde, auch in der Forschung, Fotografien eine besondere Nähe zur Realität, teilweise sogar Abbildcharakter zugeschrieben. Diese Haltung, die außer Acht lässt, dass beim Fotografieren immer Auswahlentscheidungen getroffen werden müssen (und auch gezielte Manipulationen möglich sind), wurde mittlerweile revidiert (z. B. Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2 2019, S. 23 ff.). Sigrid Schade und Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 9.

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Allerdings ist die Quellenlage für eine Untersuchung zur Fotografie von und in Vereinen gerade in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht einfach: Größere Sammlungen von einzelnen Vereinen aus dieser Zeit scheinen kaum erhalten zu sein.13 Wenn überhaupt, findet man in den Archiven eher zufällig überlieferte, überschaubare Konvolute, bisweilen auch nur Einzelfotos.14 Auch in den einschlägigen Bilddatenbanken ist zwar einiges, aber keinesfalls so viel zu finden, dass man von einer repräsentativen Auswahl ausgehen könnte – und sei es auch nur heuristisch. In der Datenbank des Rheinischen Bildarchivs beispielsweise kommt man mit den Suchbegriffen „Gesang(s)verein“, „Männergesang(s)verein“ und „Liedertafel“ auf insgesamt 36 Treffer, darunter sind indes nur zwei einsehbare Vereinsporträts, von denen wiederum nur eines nachweislich aus der Zeit vor 1914 stammt.15 Bei der Deutschen Digitalen Bibliothek ist – bei den gleichen Suchbegriffen – der Ertrag angesichts von tausenden von Gesangvereinen und Chören, die es um 1900 in Deutschland gab, ebenfalls recht mager.16 Dass Vereinsaufnahmen aus dieser Zeit auch heute noch in beachtlicher Zahl existieren, zeigen entsprechende Angebote bei Ebay.17 Um diese frühen Vereinsfotos aus dem deutschsprachigen Raum und ihre soziale Funktion soll es im Folgenden gehen. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Wertvorstellungen sich anhand der fotografischen Darstellung von Männergesangvereinen belegen lassen. Vorgegangen wird in drei Schritten: Zunächst wird nachgezeichnet, wie die Männergesangvereine mit der Technik der Fotografie in Kontakt kamen und welche Funktionen diese für sie erfüllte (1.). In einem zweiten Schritt wird anhand von Gruppenbildern eines einzelnen Vereins, der Karlsruher Liederhalle, beschrieben, in welcher Form und Anordnung sich die Männergesangvereine auf den Bildern präsentierten (2.). Im dritten Schritt soll (mit Fokus auch auf zeitspezifischen Geschlechterstereotypen) unter Rückgriff auf weitere Fotografien und Fotopostkarten von Vereinen nach in der fotografischen Darstellung implizierten Wertvorstellungen gefragt werden (3.). Am Ende erfolgt ein kurzer Ausblick, in dem noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Individuum

13 Der Fotobestand der Harmonie Zürich scheint eine Ausnahme darzustellen, konnte vom Verfasser indes noch nicht vollständig durchgesehen werden. Eine Publikation hierzu ist geplant. 14 Das gilt z. B. für die Fotobestände des Dokumentations- und Forschungszentrums Deutsches Chorwesen in Feuchtwangen. Ich danke Alexander Arlt sehr herzlich dafür, dass er mir entsprechende Bestände zugänglich gemacht hat. 15 Die Datenbank ist zu finden unter: https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/ (letzter Zugriff: 30.09.2021). 16 Gesucht wurde zuletzt am 30.09.2021 mit der Beschränkung auf den Zeitraum bis zum 31.12.1914 sowie auf den Medientyp „Bild“. Dabei fanden sich gerade einmal 14 Porträts von Vereinen aus dieser Zeit. 17 Hier findet man vor allem Fotopostkarten von Vereinen, seltener auch großformatige Bilder, die früher wohl in Vereinslokalen hingen.

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und Kollektiv, wie Gruppenbilder sie aufwerfen, in ihrer Bedeutung gerade für den musikalischen Bereich, d. h. für Musikensembles, in den Mittelpunkt gerückt wird (4.).

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Ein Medium der Repräsentation und Erinnerung: Die Männergesangvereine entdecken die Fotografie

Ebenso wie die Technik des Fotografierens ist auch die Formation ‚Männergesangverein‘ ein Kind des 19. Jahrhunderts. Zwar haben Männer schon zuvor unter Ausschluss von Frauen gemeinsam gesungen, aber Männergesangvereine im modernen Sinne, d. h. durch Satzungen begründete, längerfristige und von kirchlichen Institutionen unabhängige Zusammenschlüsse von Männern zur Pflege insbesondere des volkstümlichen Gesanges, entstanden und verbreiteten sich erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.18 Grob zusammengefasst, verlief die Entwicklung der deutschen Sängerbewegung im 19. Jahrhundert wie folgt: Ausgehend von den frühen Gründungen durch Carl Friedrich Zelter in Berlin19 und Hans Georg Nägeli in Zürich20 gab es in den 1830er und 1840er Jahren eine erste Gründungswelle von Männergesangvereinen.21 Diese Entwicklung hing ganz wesentlich damit zusammen, dass ähnlich wie die Turnvereine auch die Gesangvereine in der Zeit des Deutschen Bundes zu einer Sammelstätte für die nationale und liberale politische Opposition wurden.22 Trotz gewisser Rückschläge im Zusammenhang mit

18 Zur Geschichte der deutschen Sängerbewegung: Friedhelm Brusniak, Art. „Chor und Chormusik“, in: MGG 2, Sachteil 2, Sp. 766–824; ders., Das große Buch des Fränkischen Sängerbundes, 2 Bde., München 1991; Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nationalbewusstsein zwischen Napoleon und Hitler, Münster u. a. 1998. Einen Überblick über Sängerbewegungen auch in anderen europäischen Ländern bieten: Krisztina Lajosi und Andreas Stynen (Hrsg.), Choral Societies and Nationalism in Europe (= National Cultivation of Culture 9), Leiden und Boston 2015. 19 Zur Zelterschen Liedertafel zuletzt: Axel Fischer und Matthias Kornemann (Hrsg.), Integer vitae – Die Zeltersche Liedertafel als kulturgeschichtliches Phänomen (1809–1832) (= Berliner Klassik 20), Hannover 2014; dies. (Hrsg.), Dichten, Singen, Komponieren. Die Zeltersche Liedertafel als kulturgeschichtliches Phänomen (1809–1945) (= Berliner Klassik 21), Berlin 2016. 20 Zu Nägeli u. a. Martin Staehelin, „Hans Georg Nägeli und der frühe schweizerische Männergesang“, in: Integer vitae, S. 91–103; Miriam Roner, Autonome Kunst als gesellschaftliche Praxis. Hans Georg Nägelis Theorie der Musik (= BzAfMw 84), Stuttgart 2020. 21 Zur Frühzeit der Sängerbewegung ausführlich: Otto Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang. Geschichte und Stellung im Leben der Nation; der deutsche Sängerbund und seine Glieder, Tübingen 2 1887, S. 19 ff. 22 Zur politischen Bedeutung der Männergesangvereine vor 1848 grundlegend: Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808–1847). Bedeutung und Funktion

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der Revolution von 1848 und noch einmal nach 1871, als sich nach der Reichsgründung Ermüdungserscheinungen in vielen Vereinen und Verbänden zeigten, nahm die Zahl der Vereine beständig zu, sodass am Ende des Jahrhunderts fast jedes Dorf in Deutschland mindestens einen Männerchor aufzuweisen hatte. In den Städten gab es oft zahlreiche Männergesangvereine, auch weil sie seit der Mitte des Jahrhunderts bei den unterbürgerlichen Schichten, d. h. im Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft, immer mehr Anklang fanden.23 Während manche der frühen Chöre wie die Zeltersche Liedertafel exklusive Zirkel waren, die sich von der Öffentlichkeit bewusst fernhielten, wurde für die Chöre der nachfolgenden Gründungswellen der Auftritt vor Publikum und damit die öffentliche Präsenz und Selbstdarstellung ein wichtiger und selbstverständlicher Teil ihrer Arbeit. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass häufig erst das öffentliche Vorweisen von künstlerischer Leistungsfähigkeit und/oder patriotischem Engagement Zugang zu finanzkräftigen, aus der Honoratiorenschaft stammenden Unterstützer:innen sicherte, mit deren Hilfe viele Vereinsaktivitäten überhaupt erst organisiert und finanziert werden konnten.24 Das war umso wichtiger, weil Männergesangvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert stets auch Freizeit- und Geselligkeitsvereine waren, die ihren Mitgliedern neben den Proben und Konzerten ein zum Teil umfangreiches Veranstaltungsprogramm bieten mussten. Unterhaltungsabende standen hier neben Ausflügen oder auch gemeinsamen Sängerfestbesuchen und Wettbewerbsteilnahmen. Dabei mussten sich die Vereine – in ihrer Konkurrenz z. B. um leistungsfähige oder finanzstarke Mitglieder – gegenüber anderen Gesangvereinen, aber auch gegenüber Turn- und später Sportvereinen behaupten, die ihren Mitgliedern ebenfalls entsprechende Angebote zur Geselligkeit machten.25 Um diese Aktivitäten gegenüber den Mitgliedern, aber auch gegenüber möglichen Gönner:innen sowie potenziellen neuen Vereinsmitgliedern zu dokumentieren, wurden das Veranstaltungsprogramm, insbesondere Vereinsfestlichkeiten

der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung (= Studien zur Geschichte des 19. Jahrhunderts 13), München 1984. 23 Zur ‚sozialen Demokratisierung‘ des Vereinswesens allgemein: Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914, Göttingen 2003, S. 61. Zum Typus des ‚schichtübergreifenden Lokalvereins‘, zu dem auch viele Gesangvereine zählten: Klaus Nathaus, Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 181), Göttingen 2009, S. 105 ff. 24 Zur Ressourcenabhängigkeit der Vereine ebd., S. 16 f. 25 Zur großen Bedeutung des Faktors ‚Geselligkeit‘ im Vereinsleben etwa der Turnvereine z. B. Svenja Goltermann, Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860–1890 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 126), Göttingen 1998, S. 64 f.

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wie Fahnenweihen und Stiftungsjubiläen,26 aber auch Ausflüge oder erfolgreiche Konzertreisen der Vereine, minutiös in Protokollbüchern, Jahresberichten, Festschriften und gedruckten Reiseberichten27 festgehalten. Ging es bei den schriftlichen Selbstdarstellungen, die häufig nicht nur an die Vereinsmitglieder, sondern auch an Unterstützer:innen und befreundete Vereine ausgegeben wurden, zum einen darum, nach außen Attraktivität und Erfolg zu dokumentieren, so stand zum anderen nach innen die Herstellung und Stabilisierung einer ‚Vereinsidentität‘ im Zentrum. Die Identifikation des Einzelnen mit dem Vereinskollektiv sollte befördert und die Mitglieder somit motiviert werden, sich (weiter) im Verein zu engagieren. Im Ergebnis gab es gerade in den größeren Vereinen wie dem Kölner Männergesangverein bald ein umfangreiches ‚Programm‘ der Dokumentation und Erinnerungsarbeit,28 das von Ausstellungen zur Vereinsgeschichte über Vorträge und Aufsätze bis hin zu Erinnerungskonzerten und Theateraufführungen reichte.29 Angesichts der von den Zeitgenossen ebenso wie in der Forschung immer wieder betonten dokumentarischen und sozialintegrativen Funktion30 von Fotografien verwundert nicht, dass dieses Medium von den Vereinen früh entdeckt und eingesetzt wurde. Nachdem seit den 1840er und 1850er Jahren zunächst namhafte Künst-

26 Insbesondere die runden Stiftungsjubiläen galten als Anlass, die Vereinsgeschichte Revue passieren zu lassen. Dazu hieß es in einer Festschrift des Hannoverschen Männergesangvereins: „Jubelfeiern sind Rastplätze, von denen aus ein langer, nachdenklicher Blick in die Vergangenheit getan werden soll, wie ihn der Wanderer tut, der vom erklommenen Gipfel Rückschau hält auf den langen und mühevollen Weg, den er zurückgelegt hat.“ Festschrift zur Feier des 75jährigen Bestehens des Hannoverschen Männer-Gesang-Vereins, bearb. und zusammengestellt von den Liederbrüdern Ernst Rodewald und William Torge, Hannover [1926], S. 7. 27 So z. B. beim Kölner Männergesangverein: Ernst Weyden, Die Sängerfahrt des Kölner Männer-GesangVereins nach London, Köln und Göttingen 1854; Hugo Schlemüller, Der Kölner Männer-Gesangverein in Italien 1910, Frankfurt am Main 1910. 28 Speziell zur Erinnerung der Vereine an Wettbewerbsteilnahmen: Christoph Müller-Oberhäuser, Chorwettbewerbe in Deutschland zwischen 1841 und 1914. Traditionen – Praktiken – Wertdiskurse (= BzAfMw 86), Stuttgart 2022, S. 322 ff. 29 Die Geschichte des Kölner Männergesangvereins war (und ist bis heute) ein Anknüpfungspunkt für die von der vereinseigenen Theatergesellschaft Cäcilia Wolkenburg in der Karnevalszeit veranstalteten Divertissementchen (zu diesen Aufführungen: Anno Mungen, „Karnevalistisches Musiktheater im Kölner Opernhaus. Zu Aufführungen der Cäcilia Wolkenburg, Kölner Männer-Gesang-Verein“, in: Feiern – Singen – Schunkeln. Karnevalsaufführungen vom Mittelalter bis heute, hrsg. v. Maren Butte u. a. (= Musik – Kultur – Geschichte 9), Würzburg 2017, S. 299–310) sowie für Vereinskonzerte: 2019 wurde beispielsweise ein Konzert veranstaltet, das programmatisch an ein Konzert des Vereins im Jahre 1848 angelehnt war (https://www.kmgv.de/aktuelles-detail/items/offenbach-konzert-2019. html, letzter Zugriff: 30.09.2021). 30 Diesen Aspekt hat u. a. Pierre Bourdieu hervorgehoben: Pierre Bourdieu, „Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede“, in: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, hrsg. v. dems. u. a., Hamburg 2014, S. 25–84, hier S. 31 ff.

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ler:innen ähnlich dem Adel und dem gehobenen Bürgertum Daguerreotypien31 und später cartes de visite32 von sich hatten anfertigen lassen – z. B. als Werbe- oder Sammelobjekt und Geschenk für Freunde –, kam das Medium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in den Männergesangvereinen an. Bald wurden gerade bei gut betuchten Vereinen die ‚besonderen Augenblicke‘ der Vereinsgeschichte fotografisch festgehalten – wobei diese Augenblicke nicht zuletzt auch dadurch besonders wurden, dass sie den Sprung auf das (anfänglich noch seltene) Foto schafften.33 Vor allem Sängerfahrten sowie die Sängerfest- und Wettbewerbsteilnahmen boten sich als Anlässe für Aufnahmen an. Der Kölner Männergesangverein wurde beispielsweise auf seiner damals spektakulären Konzertfahrt nach England im Jahr 1853 erstmals fotografiert.34 Bei einem internationalen Chorwettbewerb im Jahr 1880 in Köln ließen sich die angereisten belgischen Chöre zur Erinnerung vor einer gemalten Rheinlandschaft ablichten.35 Der Sängerverein Harmonie Zürich nahm von seiner erfolgreichen Wettbewerbsteilnahme in Karlsruhe im Jahr 1892 eine ganze Mappe mit großformatigen Fotos vom Veranstaltungsort mit nach Hause.36 Und auch ein kleiner Verein wie die Sängergesellschaft Eintracht Pfersee (heute Augsburg-Pfersee) dokumentierte ab Anfang des 20. Jahrhunderts seine Ausflüge mit Fotos, indem Abzüge zur Illustration der handschriftlichen Berichte ins Protokollbuch eingeklebt wurden.37 Erleichternd kam – wie beim Verein aus Pfersee – hinzu, dass bald in zunehmender Anzahl Berufsfotografen in den Vereinen zu

31 Einer der ersten Musiker, von dem eine Aufnahme überliefert ist, ist Franz Liszt (vgl. Gunther Braam, „Richard Wagner in der zeitgenössischen Fotografie. Zur Wiederentdeckung des WagnerPorträts von Louis Buchheister“, in: wagnerspectrum 9 (2013), H. 2, S. 101–116, hier S. 102). Dass Liszt nicht nur zu den ersten, sondern auch zu den im 19. Jahrhundert am häufigsten fotografierten Musiker:innen gehörte, weil er die Aufnahmen gezielt zur Öffentlichkeitsarbeit einsetzte, darauf weist u. a. hin: Erben, Komponistenporträts, S. 18. 32 Zur Geschichte der cartes de visite u. a. William C. Darrah, Cartes de Visite in Nineteenth Century Photography, Gettysburg 1981; John Plunkett, „Celebrity and Community. The Poetics of the Cartede-Visite“, in: Journal of Victorian Culture 8 (2003), S. 55–79. 33 Zum ‚besonderen Augenblick‘: Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main und New York 2009, S. 192 f. 34 Der Verein wurde dabei im Fotoatelier des Panopticon am Leicester Square gruppenweise aufgenommen, die Fotos sollten anschließend zu einem Bild zusammengefügt werden. Allerdings vermutete der Verein, dass die Aufnahmen technisch misslungen seien, jedenfalls hat man in Köln – anders als versprochen – ein Exemplar dieser Collage nie erhalten: Der Kölner Männer-Gesang-Verein unter Leitung des königlichen Musik-Direktors Herrn Franz Weber. Biographische Notizen in chronologischer Folge […] zusammengestellt und herausgegeben […] von Caspar Krahe, Bd. 2, Köln 1867, S. 62. 35 [Anon.], „Der internationale Gesangwettstreit in Köln (Schluß)“, in: Die Sängerhalle 20 (1880), Nr. 19, S. 157 f., hier S. 157. 36 Zürich, ZB, Mus VA 6: La 7; weitere Fotos in Mus VA 6: Lb 1. 37 Feuchtwangen, D-FWGm, B 7, 55.1.

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finden waren,38 sodass nicht mehr auf externe Fachleute zurückgegriffen werden musste. Dank technischer Verbesserungen und einfacherer Handhabung konnten zudem ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Privatleute individuelle Erinnerungsfotos anfertigen.39 Nachdem es schließlich seit dem späten 19. Jahrhundert möglich wurde, Fotos in Zeitschriften abzudrucken,40 und bei verhältnismäßig geringem technischen und finanziellen Aufwand Fotopostkarten hergestellt werden konnten,41 wurden die Verwendungsweisen von Fotografien in den Vereinen immer vielfältiger. Druckschriften wurden nun mit Fotografien illustriert,42 Postkarten konnten bereits vor Sängerfahrten gedruckt und dann von unterwegs von den Sängern verschickt werden.43 Großformatige Abzüge zierten die Wände in den Vereinslokalen, die häufig wie kleine Museen zur Vereinsgeschichte eingerichtet waren. Dort hingen z. B. Porträts bekannter Musiker:innen oder Dirigenten, mit denen man als Verein zusammengearbeitet hatte oder die zu den Ehrenmitgliedern zählten.44 Hier konnten aber auch Vereinsfotos aufgehängt werden, die Chöre beispielsweise als Geschenke

38 In den Mitgliederlisten der Vereine, die am zweiten Kaiserpreissingen 1903 in Frankfurt teilnahmen, finden sich bspw. bereits 26 Berufsfotografen (Festbuch zum 2. Gesang-Wettstreit deutscher Männergesangvereine um den von Sr. Majestät dem Deutschen Kaiser und König von Preussen gestifteten Wanderpreis vom 3. bis 6. Juni 1903 Frankfurt a. M. […], Frankfurt am Main 1903, S. 101 ff.). 39 Zur Entwicklung der fotografischen Technik ausführlich Helmuth Gernsheim, Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre (= Propyläen Kunstgeschichte, Sonderband 3), Frankfurt am Main u. a. 1983; Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880–1980, München und Berlin 1995, S. 33 ff. Dass das private Fotografieren allerdings lange noch recht teuer blieb, betont Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 71 f. 40 Die Sängerhalle als bedeutendste Zeitschrift der Sängerbewegung ging Ende der 1890er Jahre dazu über, neben den bis dato üblichen Lithografien auch Fotos abzudrucken (siehe z. B. die Aufnahmen vom Vereinshaus der Bukarester deutschen Liedertafel in: Die Sängerhalle 38 (1898), Nr. 39 (22.09.1898), S. 449). 41 Zur Geschichte der Fotopostkarte zusammenfassend Karin Walter, „Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium“, in: Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, hrsg. v. Wolfgang Kaschuba und Kaspar Maase, Köln 2001, S. 46–61. 42 Als Beispiel sei auf die kleine Erinnerungsschrift an die Sängerfahrt des aus Arbeitern der Stollwerckschen Schokoladenfabrik in Köln bestehenden Männerchors Theobromina nach England im Jahr 1902 hingewiesen (Köln, RWWA, 208-313-2). 43 Ein Beispiel: Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-00210223 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021022-3, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Gruss des Leipziger Männerchors vom II. Gesangswettstreit zu Frankfurt a. M. 3.–6. Juni 1903“, 09.06.1903. 44 Einen Eindruck hiervon vermag ein Foto vom Übungssaal des Schuler’schen Männerchors in Frankfurt am Main aus dem Jahr 1914 zu geben (Festbuch zum Goldenen Jubiläum des Schuler’schen Männerchor Frankfurt a. M. 1864–1914, Frankfurt am Main [1914], zwischen S. 40 und 41).

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austauschten.45 In allen diesen Verwendungsweisen wird die zentrale Rolle des (Erinnerungs-)Mediums Fotografie in den Vereinen noch einmal deutlich: Es leistete, indem man die eigenen Aktivitäten dokumentieren und die Bilder verbreiten konnte, einen wichtigen Beitrag zur Repräsentation der Vereine und war gleichzeitig eine Hilfe bei der Erinnerung an identitätsstiftende Ereignisse, indem die Fotos z. B. als Anknüpfungspunkte für Erzählungen zur Vereinsgeschichte dienten.46

2.

Bitte nicht bewegen! Die Männergesangvereine im Bild

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Gestaltung der Vereinsfotos, so lassen sich von Form, Machart und vom Kontext ihrer Entstehung her grob drei Typen unterscheiden. Erstens gibt es die Vereinsfotos im engeren Sinne, aufgenommen von professionellen Fotografen im Auftrag der Vereine, auf denen in der Regel sämtliche (verfügbare) Vereinsmitglieder gemeinsam zu sehen sind. Dafür wurden die Sänger vom Fotografen sorgfältig aufgestellt – manchmal eher locker, manchmal diszipliniert und achsensymmetrisch in Reih’ und Glied.47 Andere Vereine entschieden sich hingegen, zweitens, für Fotocollagen.48 Häufig anzutreffen sind Collagen aus meist symmetrisch angeordneten Einzelporträts der Mitglieder – wobei der Hintergrund gerne mit typischen Sängersymbolen wie Eichenlaub oder Lyra verziert wurde. Auch Collagen aus Fotos einzelner Stimmgruppen mit unterschiedlich komplexen, ornamentalen Einfassungen waren möglich. Daneben gab es Collagen, die ähnlich wie ‚lebende Bilder‘ szenisch angelegt waren: Hierfür wurden die Vereinssänger meist in Gruppen im Atelier in fiktiver, aber bisweilen natürlich erscheinender Interaktion abgelichtet und die Fotos anschließend vom Fotograf sorgfältig in eine als passend angesehene, gedruckte oder gemalte Kulisse

45 Ein Beispiel: [Anon.], „Aus Nah und Fern. Sängerfest in Neulengbach“, in: Neulengbacher Zeitung 4 (1903), Nr. 42 (17.10.1903), S. 4. 46 Zur Verknüpfung von Fotos und Erzählungen: Elizabeth Edwards, „Little Theatres of Self. Thinking about the Social“, in: We are the People. Postcards from the Collection of Tom Phillips, London 2004, S. 26–37, hier S. 35. 47 Letzteres widersprach übrigens den Ratschlägen damaliger fotografischer Handbücher, die bei Gruppenbildern ausdrücklich eine eher lockere, möglichst natürliche Haltung der Abgelichteten empfahlen (u. a. Ludwig David, Ratgeber im Photographieren. Leicht faßliches Lehrbuch für Amateurphotographen, 75. bis 82. Aufl., Halle a. S. 1914, S. 168). 48 Zur Geschichte der Fotocollage bzw. -montage vor allem Ulrich Hägele, Experimentierfeld der Moderne. Fotomontage 1890–1940, Tübingen 2017. Eine Anmerkung zur Begrifflichkeit: Die Begriffe ‚Collage‘ und ‚Montage‘ werden in der Literatur teils unterschiedlich verwendet und zueinander in Beziehung gesetzt. Im vorliegenden Aufsatz wird grundsätzlich bei allen Bildern, für die mehrere Fotos verwendet wurden, von Collagen gesprochen.

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hineinmontiert49 – eine Technik, die vor allem für großformatige, oft detailreiche Darstellungen geeignet war.50 Im Idealfall entstand dabei die Illusion einer realen Szene. Schließlich sind, drittens, Fotos zu nennen, die mehr oder weniger spontan im Vereinsalltag entstanden und selten den ganzen Verein, sondern eher Einzelpersonen oder kleinere Gruppen von Sängern zeigen.51 Diese Bilder, häufig Schnappschüsse, setzten eine einfach zu bedienende Technik oder gewisse fotografische Expertise voraus, fallen vorwiegend in den Bereich der Freizeitfotografie und sind daher aus dem 19. Jahrhundert eher vereinzelt überliefert. Selbstverständlich kommen diese drei Typen nicht nur bei Männergesangvereinen, sondern auch in zahlreichen anderen Zusammenhängen vor. Gruppenfotos des ersten Typs gibt es z. B. von Familien oder Betriebs- und Firmenbelegschaften.52 Fotocollagen findet man u. a. bei militärischen Einheiten und Reservistenbildern.53 Freizeitfotografie bzw. ‚Knipser-Fotografie‘ gibt es seit 1880 in wahrscheinlich bis heute zunehmendem Umfang.54 Zugleich ist festzuhalten, dass sich die Vereine bei der visuellen Selbstdarstellung nicht ausschließlich auf einen Bildtyp beschränkten. So sind von der Liederhalle Karlsruhe, einem 1842 gegründeten Männerchor, der Ende des 19. Jahrhunderts zu den leistungsfähigsten Vereinen Süddeutschlands gehörte,55 im Badischen Landesmuseum Karlsruhe und im Karlsruher Stadtarchiv insgesamt fünf zum Teil großformatige Abbildungen unterschiedlichen Typs erhalten, anhand derer sich noch einmal die Bandbreite der Anlässe für die Bilder und der Darstellungsweisen aufzeigen lässt. Das älteste Bild, eine Collage auf der Basis einer reich mit Pflanzenornamenten und Auszeichnungsschriften verzierten Graphik aus der Feder des an der Karlsruher Kunstschule tätigen Malers Karl Eyth, entstand zur Erinnerung an das 3. Badische

49 Fritz Franz Vogel spricht bei diesen Bildern von ‚Kompositfotografien‘: Vogel, Soooooooooooo, S. 24 f. 50 Siehe dazu die Sammlung derartiger großformatiger Collagen im Dokumentations- und Forschungszentrum Deutsches Chorwesen in Feuchtwangen. Auf Postkarten gibt es sie zwar vereinzelt auch, jedoch sind Details dann kaum zu erkennen (z. B. Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0021810-7 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-20021810-7, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Gesangverein Harmonie Ludwigsburg 1902“, 1902). 51 Hier kann u. a. auf verschiedene Fotos aus dem Nachlass des Sängervereins Harmonie Zürich verwiesen werden (Zürich, ZB, Mus Va 6: Lb 1). 52 Hugger/Wolf, Wir sind jemand. 53 Vogel, Soooooooooooo, S. 23 ff. Zur Geschichte des Reservistenbildes: Karl Hillebrand, „Das Reservistenbild“, in: Volkskunst. Zeitschrift für volkstümliche Sachkultur 3 (1980), S. 175–178. 54 Starl, Knipser. 55 Zur Geschichte des Vereins, der im Kleinbürgertum bis mittleren Bürgertum zu verorten war, an seiner Spitze aber auch ins wohlhabende Bürgertum Karlsruhes reichte: Fest-Buch zur Feier des 50. Stiftungs-Festes [der Liederhalle Karlsruhe] verbunden mit dem Gesang-Wettstreit für Vereine deutscher Zunge. 16. bis 19. Juli 1892 […], [Karlsruhe 1892], S. I–LXXI.

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Abb. 1 Die Karlsruher Liederhalle im Jahr 1881 © Stadtarchiv Karlsruhe.

Sängerbundesfest in Mannheim 1881 (Abb. 1). Bei diesem Fest errang der Verein in der Kunstgesangsklasse als zweiten Preis einen Pokal – jenen Pokal, der unten in der Mitte zusammen mit anderen Preisgegenständen und Ehrengaben geradezu ‚ausgestellt‘ ist.56 Für die Collage wurden die namentlich bezeichneten Brustbilder der insgesamt 76 Sänger einzeln von zwei Fotografen (darunter war mit dem Karlsruher (Hof-)Fotografen Oskar Suck ein Vereinsmitglied) aufgenommen und anschließend als hochovale Medaillons in verschiedenen Größen auf dem an eine Pergament-Urkunde erinnernden Hintergrund sorgfältig arrangiert (siehe auch die Abstimmung der unterschiedlichen Blickrichtungen der Fotografierten). Im an den Rändern und zwischen den Fotos angebrachten Pflanzendekor wird mittels Schriftbändern auf die Erfolge des Vereins hingewiesen, z. B. die Teilnahmen an den Badischen und Deutschen Sängerbundesfesten sowie auf die bei Wettbewerben errungenen Preise. Außerdem wird der Sängerspruch des Vereins „Vaterland unser Hort! | Hell das Lied, frei das Wort! | Kühn die That! | Gieb Gott uns die Gnad!“

56 Karlsruhe, StA, 8/PBS IV, Nr. 160. Der Pokal ist erhalten (Karlsruhe, Stadtmuseum, 1962/023.004). Gleiches gilt für die übrigen abgebildeten Pokale, die sich daher eindeutig identifizieren lassen: Der Deckelpokal hinten im Zentrum war ein erster Preis vom 1. Badischen Sängerbundesfest 1870 in Freiburg (ebd., 1962/023.003), den Pokal links daneben erhielt der Verein 1858 beim 3. Badischen Gesangsfest (ebd., 1962/023.002). Der Deckelpokal rechts im Hintergrund wurde dem Verein 1868 im Zusammenhang mit dem silbernen Jubelfest des Vereins als Geschenk überreicht (ebd., 1962/ 023.008; siehe auch die Schriftbänder am oberen Rand des Bildes).

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Abb. 2 Die Karlsruher Liederhalle im Jahr 1891[?] © Stadtarchiv Karlsruhe.

groß präsentiert.57 Weitere Gegenstände, wie der ins Rankwerk integrierte Humpen (links), der Würfelbecher (rechts) sowie die zwischen den Pokalen der ‚Preisgalerie‘ eingefügte Gitarre symbolisieren die geselligen Anteile des Vereinslebens. Auf dem zweiten Bild des Vereins wird eine solche gesellige Unternehmung simuliert, nämlich ein Ausflug bzw. ein Picknick im Grünen (Abb. 2).58 Erstellt wurde diese Kompositfotografie (laut Eintragung in der Datenbank des Stadtarchivs) im Jahr 1891 zur Erinnerung an die (erfolgreiche) Teilnahme der Liederhalle an einem internationalen Gesangwettstreit in Wiesbaden.59 Hier wurden die in kleinen Gruppen und geselliger Pose (mit Gegenständen wie Gitarre, Bierhumpen oder Buch und mit für Vereinsfotos vergleichsweise viel Körperkontakt) fotografierten Vereinsmitglieder in eine Waldlandschaft mit einer nicht genauer identifizierba-

57 Offenbar hat der Verein seine Losung mehrfach gewechselt, die alten Sängersprüche finden sich unten auf Schriftbändern rechts und links von der ‚Preisgalerie‘. 58 Karlsruhe, StA, 8/PBS IV, Nr. 204. 59 Zum Wiesbadener Wettbewerb vgl. u. a. Fest-Buch zum Internationalen Männergesang-Wettstreite am 1., 2., 3., 4. und 5. August 1891 zu Wiesbaden, veranstaltet von dem Wiesbadener MännergesangVereine […], Wiesbaden [1891]. Die erhaltenen Unterlagen zur Teilnahme, Zeitungsberichte und Glückwunschadressen hat der Karlsruher Verein in einem Album zusammengestellt: Karlsruhe, StA, 8/Album 166.

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ren Stadt im Hintergrund60 hineinmontiert. Möglicherweise wurde die – fiktive – Szenerie von der Komposition inspiriert, mit der man bei diesem Wettbewerb erfolgreich war: Waldweben von Gustav Weber, in der die Klangwelt des Waldes zwischen Ruhe und Sturm beschrieben und in dem gegen Ende der Wald resümierend als „Freund“ bezeichnet wird, in dem man bei „Quellgekos‘“ ebenso wie bei „Sturmgetos‘“ getrost „selig sein“ könne.61 Allgemein waren Waldszenen bei derartigen ‚ins Freie verlegten‘ Collagen von Männerchören durchaus typisch62 und korrespondierten mit einem Repertoire an Chorliedern, in dem das Wandern durch die Natur und die Beschreibung des (deutschen) Waldes einen festen Topos darstellte.63 Ist diese Collage schon durchaus beeindruckend, so gilt dies für das nächste Vereinsbild wegen der künstlerischen Gestaltung umso mehr (Abb. 3), d. h. der Kolorierung und des reichen floralen Dekors sowie der Schrifttafeln in der Mitte, auf deren größter mit goldenen Initialen verziert die Widmung an den badischen Großherzog zu lesen ist.64 Der Verein hatte inzwischen sein 50. Stiftungsfest mit einem großen Chorwettbewerb begangen (1892) und 1896 beim Badischen Sängerbundesfest im heimischen Karlsruhe einen ersten Preis im Kunstgesang erhalten. Faktisch war er damit in der nationalen Leistungsspitze angekommen und hatte – dazu passend – zu seinem goldenen Vereinsjubiläum den badischen Großherzog Friedrich I. als Protektor gewonnen.65 Als dieser im Jahr 1896 seinen 70. Geburtstag feierte, ließ man als Geschenk diese Collage anfertigen, auf der unter dem von einem Engel mit Palmzweig und einem Putto eingefassten, mit der entsprechenden Rangkrone geschmückten Bildnis des Großherzogs rechts und links die mit den

60 Üblicherweise ist bei solchen in eine Landschaft gesetzten Collagen der Herkunftsort des Vereins abgebildet. Um Karlsruhe kann es sich jedoch nicht handeln, da der Stadt zu dieser Zeit der charakteristische Kirchturm fehlte. Bei Wiesbaden hätte man eine Abbildung der Marktkirche erwartet, um diese handelt es sich aber ebenfalls nicht, außerdem irritieren die im Hintergrund angedeuteten Berge (wenn es sich nicht um Stockflecken handelt). Eine mögliche Alternative ist Freiburg im Breisgau, dann allerdings wäre das Bild eher in den Kontext der Teilnahme des Vereins am dortigen Badischen Sängerbundesfest im Jahr 1886 einzuordnen. 61 Gustav Weber, Waldweben. Op 13, Leipzig und Zürich (Gebrüder Hug: 930) o. J. 62 Siehe z. B. eine ähnliche Darstellung der Sängergesellschaft Eintracht Pfersee in: Feuchtwangen, D-FWGm, B 7, 55.1. 63 Siehe dazu Elmar Budde, „Der Wald in der Musik des 19. Jahrhunderts – eine historische Skizze“, in: Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald. Ausstellung der Akademie der Künste vom 20. September bis 15. November 1987, bearb. von Bernd Weyergraf, Berlin 1987, S. 47–61, zur Chormusik S. 58 ff. Zur Bedeutung des ‚deutschen Waldes‘ seit der Romantik siehe Johannes Zechner, Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800–1945, Köln u. a. 2018; Ute Jung-Kaiser (Hrsg.), Der Wald als romantischer Topos, Bern u. a. 2008. 64 Karlsruhe, Badisches Landesmuseum, Nr. 95/1055. 65 Hierzu und zu den weiteren Kontakten zwischen Verein und Großherzog: Karlsruhe, GLA, Abt. 60, Nr. 1689.

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Abb. 3 Die Karlsruher Liederhalle im Jahr 1896 © Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Foto: Thomas Goldschmidt).

Namen der Sänger versehenen Gruppenfotos der vier Stimmgruppen sowie als Einzelporträts der Vereinspräsident, Theodor Rothweiler66 , und der Dirigent, Eugen Gageur67 , zu sehen sind. Ergänzt wird das Ensemble aus verschiedenen Einzel- und Gruppenporträts durch vier in den Ecken platzierte kleine Fotos von Karlsruher Sehenswürdigkeiten.68 Eingefasst sind die Fotos in vom Kunstmaler Otto Kemmer gestaltete, wohl an Vorbilder aus der Zeit des Rokoko angelehnte Verzierungen. Kemmer war ebenso wie der erneut für die Aufnahmen verantwortliche Fotograf Suck aktives Mitglied der Liederhalle.69 In der Mitte des Bildes weisen neben der Widmung weitere Schrifttafeln auf den zuletzt beim Badischen Sängerbundesfest

66 Rothweiler war zu diesem Zeitpunkt Oberlandesgerichtsrat in Karlsruhe. Zu seiner Person: Badische Landeszeitung, Nr. 138, 24.03.1903. 67 Zu Gageur: A. Roth, Eugen Gageur, Ein Lebensbild, Bonndorf [1899/1900]. 68 Abgebildet sind der Lauterberg (links oben), die Karlsruher Festhalle (rechts oben), das Karlsruher Schloss (rechts unten) und das Rathaus (links unten). 69 So findet man beide drei Jahre später im Aufgebot des Vereins für das erste Kaiserpreissingen: Festbuch zum I. Gesang-Wettstreit Deutscher Männergesangvereine um den von Seiner Majestät dem

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1896 erfolgreich vorgetragenen Chor (Meeresstimmen von Lothar Kempter) und den damit errungenen Preis sowie das Vereinsmotto hin. Dass von der Liederhalle mehrfach das Format ‚Collage‘ gewählt wurde, lässt sich auch damit erklären, dass der inzwischen auf über 100 aktive Mitglieder angewachsene Chor für eine Atelieraufnahme zu groß war, Außenaufnahmen aber aus technischen Gründen (Lichtverhältnisse etc.) lange Zeit weniger gut zu kontrollieren waren. Erst die letzten aus der Vorkriegszeit erhaltenen Aufnahmen des Vereins von 1899 und 1913 waren daher Gruppenfotos im engeren Sinne. Das erste Foto kann in den Zusammenhang des ersten Kaiserpreissingens70 im Jahr 1899 eingeordnet werden.71 Und zwar hatte die Allgemeine Musikalische Rundschau für eine Sonderausgabe zu diesem Wettbewerb alle teilnehmenden Vereine angeschrieben und um Fotos gebeten.72 Ob das Gruppenfoto von Oskar Suck, das den Verein vor einem Lokal (möglicherweise dem Vereinslokal?) relativ locker halbkreisförmig aufgestellt zeigt, eigens für diesen Anlass entstand oder bereits vorher existierte, ist nicht mehr festzustellen. Jedenfalls wurde es offenbar von der Liederhalle eingereicht und zusammen mit den Fotos der anderen teilnehmenden Vereine veröffentlicht. Anlass für das zweite Foto dieses Typs (Abb. 4) war – wie die gedruckte Beschriftung des Passepartouts zu erkennen gibt – die Teilnahme des Vereins am 9. Badischen Sängerbundesfest in Mannheim 1913,73 wobei allerdings die Aufnahme selbst, bei der sämtliche Sänger stehend, sitzend oder liegend auf oder neben einer Treppe angeordnet sind, in Karlsruhe entstanden ist, und zwar auf dem Treppenaufgang an der Rückseite der von Josef Durm errichteten Karlsruher Festhalle.74 Aus den hier besprochenen fünf Fotografien bzw. Fotocollagen der Liederhalle lassen sich einige Schlüsse zu Vereinsporträts ziehen und – unter Bezug auf weitere Fotos – vorsichtig verallgemeinern. Was z. B. die Anordnung der Sänger angeht, so sind diese beim Typ ‚Gruppen- oder Vereinsfoto‘ in der Regel mehr oder weniger

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Kaiser und König gestifteten Wanderpreis am 25., 26., und 27. Mai 1899 in Cassel, Kassel [1899], S. 98 f. Der „Wettbewerb deutscher Männergesangvereine“, kurz: Kaiserpreissingen, war ein von Wilhelm II. initiierter und zwischen 1899 und 1913 viermal abgehaltener, bedeutender Chorwettbewerb für Männerchöre (siehe Müller-Oberhäuser, Chorwettbewerbe in Deutschland, S. 98 ff.). Abgedruckt in: Allgemeine Musikalische Rundschau 4 (1899), Nr. 21/22 (21.05.1899), S. 241. Siehe die Korrespondenz mit der ebenfalls teilnehmenden Gothaer Liedertafel: Gotha, StA, 8.2.19/ 962, fol. 85 und 101, 102, 108. Karlsruhe, StA, 8/PBS IV, Nr. 192. Zur Festhalle: Die Festhalle der Grossherzoglich Badischen Haupt- und Residenzstadt Karlsruhe erbaut von Josef Durm, Karlsruhe 1877. Zu Durm: Ulrike Grambitter, Josef Durm. 1837–1919. Eine Einführung in das architektonische Werk, München 1984; Katja Förster, Josef Durm (= Karlsruher Köpfe 1), Karlsruhe 2012.

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Abb. 4 Die Karlsruher Liederhalle im Jahr 1913 © Stadtarchiv Karlsruhe.

streng, in oft gestuften Reihen und Stellungen (stehend, sitzend, liegend) positioniert.75 Oftmals gibt es dabei eine symmetrische Anordnung der Personen, eine einheitliche Blickrichtung oder auch eine Zentrierung des Bildes auf eine Mitte hin, wo z. B. einige Männer an einem Tisch platziert sein und/oder Gegenstände wie Bücher und Schreibwerkzeuge (als Hinweis auf die Verwaltungstätigkeit), Pokale oder Trinkhörner präsentiert werden können. Zu vermuten ist, dass bei der Anordnung neben Aspekten wie Körpergröße oder Alter in vielen Fällen die vereinsinterne Hierarchie eine Rolle spielte. So sitzt beispielsweise der Dirigent der Karlsruher Liederhalle, Ludwig Baumann, beim Gruppenfoto von 1913 links am Tisch in der Mitte des Fotos. Bei den aus Einzelporträts bestehenden Collagen sind die Porträtfotos der Vereinsleitung oft hervorgehoben – wie bei der Collage der Karlsruher von 1881, auf welcher der Dirigent Eugen Gageur sowie der damalige Vereinspräsident Adolf Steude mit zwei weiteren Vorstandsmitgliedern deutlich 75 Die Karlsruher posierten 1899 und 1913 vergleichsweise locker (siehe die mehr oder weniger liegenden Herren im Vordergrund). Deutlich disziplinierter sind in der Ausgabe der Allgemeinen Musikalischen Rundschau zum Kaiserpreissingen 1899 z. B. die beiden Dortmunder Vereine sowie der Berliner Lehrergesangvereins abgelichtet: Allgemeine Musikalische Rundschau 4 (1899), Nr. 21/22 (21.05.1899), S. 236 und 238.

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vergrößert abgebildet sind.76 In der Waldszene von 1891 wiederum ist Gageur ziemlich exakt im Zentrum positioniert. Auf dem 1896 dem badischen Großherzog gewidmeten Gedenkblatt wurde er zusammen mit dem Vereinspräsidenten Rothweiler als Einziger (neben dem Protektor) mit einem Einzelporträt gewürdigt und damit hervorgehoben. Was die Kleidung der Sänger auf den Vereinsfotos betrifft, so ist aus heutiger Sicht vor allem eine gewisse Einheitlichkeit festzustellen, und zwar nicht nur innerhalb eines Vereins, sondern auch über Vereinsgrenzen hinweg. Während z. B. auf damaligen Fotos von Musikensembles aus dem Unterhaltungsbereich eine große Bandbreite an Kostümierungen anzutreffen ist77 und heutzutage Chöre auch in bunten Outfits auftreten, ist auf den Fotos der Männergesangvereine um 1900 der Herrenanzug Standard, der dabei – auch wenn das auf den Schwarz-Weiß-Fotos mitunter nur schwer zu erkennen ist – in einem ‚gedeckten‘, meist dunklen Farbton bleibt, kombiniert in der Regel mit weißem Hemd und weißem (Steh-)Kragen, Krawatte oder Schleife/Fliege. Gewisse Abstufungen gibt es beim ‚Formalitätsgrad‘ der Kleidung: In manchen Fällen wurde auf Konzert- oder Festkleidung, z. B. Frack und Zylinder, Wert gelegt, in anderen Situationen eher lockere Alltagskleidung gewählt. Fanden die Aufnahmen im Freien statt oder sollte ein Ausflug simuliert werden wie bei der Waldszene der Liederhalle, konnten außerdem Hüte, Spazierstöcke oder Mäntel die Szenerie bereichern. Trotz dieser feinen Unterschiede zeigen die Vereinsfotos insgesamt das Bild einer ‚zivilen Uniformierung‘, wie sie die geschichtswissenschaftliche Forschung für die Herrenmode der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts als typisch beschrieben hat.78 Auch wenn wie bei der Liederhalle bei genauerem Hinsehen durchaus gewisse Variationen bei den Anzügen zu erkennen sind (z. B. bezüglich Schnitt und gedecktem Farbton), vermitteln die Bildern zumindest aus heutiger Sicht den Eindruck eines geordneten oder ‚ordentlichen‘ Kollektivs, der es schwer machte – und wohl auch machen soll-

76 In anderen Fällen wurden die Bilder der Vereinsoberen auch mit Funktionsbezeichnungen versehen (Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0021812-7 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021812-7, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Bürger Gesangverein Markt Bruck“, 1913). 77 Zur bildlichen (Selbst-)Darstellung von Damenorchestern und -ensembles: Maren Bagge, „‚Am besten, wie Sie sehn, tut uns die Pfeife stehn‘ – Werbung und Inszenierungsstrategien von Damenorchestern um 1900 auf Postkarten“, in: Wege. Festschrift für Susanne Rode-Breymann, hrsg. v. Annette Kreutziger-Herr u. a., Hildesheim u. a. 2018, S. 5–29, zur Kleidung vor allem S. 26 ff. 78 Sabina Brändli, „Der herrlich biedere Mann“. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert, Zürich 1998; Gesa C. Teichert, Mode. Macht. Männer. Kulturwissenschaftliche Überlegungen zur bürgerlichen Herrenmode des 19. Jahrhunderts (= Gender-Diskussionen 14), Berlin 2013.

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te79 – beispielsweise soziale Unterschiede zu erkennen. Ob man es auf den Bildern mit einem Arbeitergesangverein oder einem bürgerlichen Chor zu tun hat, dürfte, wenn die Vereine im ‚Sonntagsstaat‘ zum Foto antraten, bisweilen ebenso wenig auf Anhieb zu erkennen (gewesen) sein, wie existierende soziale Unterschiede innerhalb der Vereine.80 Allgemein scheint Individualität nicht besonders gefragt gewesen zu sein. Deutliche Abweichungen in Bezug auf die Standardkleidung ‚Anzug‘ akzeptierte man daher auch nur in seltenen Fällen, nämlich bei bestimmten Berufsgruppen, z. B. Soldaten oder Post- und Bahnbeamten.81 Daneben stellt die Kleidung der Fahnenträger/Fähnriche eine gewisse Ausnahme von der Einheitlichkeit dar. Sie sind auf den Fotos häufig mit Schärpen ausgestattet oder erscheinen sogar vollständig kostümiert.82 Schaut man auf die auf den Fotos verwendeten Accessoires, so ist als Erstes die Vereinsfahne zu nennen,83 deren in der Forschung verschiedentlich beschriebene große Bedeutung für die Vereine84 auch daran erkennbar ist, dass sie bei den Gruppenfotos nicht selten die Symmetrieachse bildet.85 Sie wurde bei allen wichtigen Anlässen mitgeführt und diente als Symbol für das Selbstverständnis des Vereins, sollten doch z. B. die an der Fahne bzw. Fahnenspitze befestigten Schleifen und

79 Beim Kaiserpreissingen 1903 wurde z. B. explizit der Wunsch geäußert, „dass alle Beteiligten in Frack, weisser Binde und weissen Handschuhen an den Festlichkeiten teilnehmen“. Frankfurt am Main, ISG, S 1786, Protokoll der Sitzung des Musikausschusses der Ortskommission, 25.04.1903. Das betraf dann Vereine, die ihre Mitglieder aus dem Bürgertum rekrutierten, ebenso wie Vereine, die auch zahlreiche Arbeiter in ihren Reihen hatten. 80 Bei der Karlsruher Liederhalle wurde 1909 explizit die „gesellschaftliche[n] Buntheit“ (sprich: soziale Heterogenität) lobend hervorgehoben (Ernst B. Mitlacher, „Der III. Wettstreit deutscher Männergesangvereine … (Fortsetzung)“, in: Die Tonkunst 13 (1909), Nr. 17 (10.06.1909), S. 238). Optisch ist diese allerdings – zumindest für den Verfasser – nicht auszumachen. 81 So ist bei den Bildern der Karlsruher Liederhalle sowohl in der Waldszene (rechts außen) als auch beim Gruppenfoto von 1913 (rechts neben der Laterne) jeweils eine Person in (Berufs-)Kleidung bzw. Uniform erkennbar. 82 Z. B. Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0021830-6 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021830-6, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Zur Erinnerung an das 20jährige Gründungsfest des Männergesangverein „Liederhain“ in Wien am 4. Mai 1907“, 1907. 83 Bei der Liederhalle ist diese allerdings nur bei der Waldszene von 1891 (unten links) ins Bild integriert. 84 U. a. Barbara Eichner, „‚Die Fahne ist des Sängers Braut‘. Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in der bürgerlichen Männerchorbewegung des 19. Jahrhunderts“, in: Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Rebecca Grotjahn und Freia Hoffmann (= Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 3), Herbolzheim 2002, S. 31–49. 85 Zum Beispiel: Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-00218416 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021841-6, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Männer Gesangverein Wittlich 1852–21“, 1921.

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Medaillen an Unternehmungen und Erfolge des Vereins erinnern. Neben der Vereinsfahne sind bisweilen wie Orden an der Brust getragene Embleme auf den Fotos zu erkennen, die Vereins- und Sängerzeichen, die meist vor oder bei Festlichkeiten ausgegeben wurden und dazu dienten, Zugehörigkeiten zu markieren.86 Zum einen hatten sie die Funktion, die Angehörigen einer Festgemeinschaft zu kennzeichnen. Derartige Festzeichen wurden zu Beginn eines Fests an alle Teilnehmenden ausgegeben, während des Fests getragen und anschließend als Erinnerungsstücke gesammelt bzw. bei späteren Festanlässen erneut angelegt. Zum anderen schafften sich viele Vereine auch individuelle Vereinszeichen an, um sich auf diese Weise trotz der uniformen Kleidung von anderen Vereinen absetzen zu können. Eine Alternative als Erkennungszeichen stellten einheitliche Hüte dar, die auf manchen Fotos ebenfalls gut zu erkennen sind.87 Weitere Accessoires auf Bildern sind Diplome, Pokale oder kostbare Geschenke, die wohl künstlerische Erfolge und sonstige Anerkennung signalisierten, sowie – weitaus häufiger – Bierhumpen oder andere Trinkgefäße, welche die Betrachtenden daran erinnern sollten, dass es sich bei Männerchören trotz ihrer recht uniformen und eher formell anmutenden Präsentation auf den Fotos um Geselligkeitsvereine handelte, die auch ihre ‚lockere‘ Seite hatten – z. B. beim munteren Treiben in geselliger Runde mit Tabak und Alkohol und dies (zum Leidwesen vor allem der Dirigenten) mitunter sogar in den Proben.88 Was die Hintergründe der Fotografien betrifft, so gilt für Aufnahmen im Freien, dass man häufig ein Monument oder ein Gebäude wählte, nicht selten ein repräsentatives mit Wiedererkennungswert (wie bei der Liederhalle im Falle des Gruppenfotos von 1913 mit der Festhalle). Dabei haben vermutlich auch praktische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt, denn nicht nur konnte man durch die Gebäudeschatten die Lichtverhältnisse besser kontrollieren, sondern gerade bei großen Vereinen mit vielen Mitgliedern die ausladenden Treppenaufgänge auch gut für die Aufstellung der Sänger nutzen. Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund wählte z. B. der zu diesem Zeitpunkt mehr als 150 Sänger zählende Erfurter Männergesangverein 1909 die Treppe auf der Rückseite des Erfurter Dombergs, um sich in feiner (Ausgeh-)Kleidung (mit Zylinder, Mantel und zum Teil mit Stock) ablichten

86 Wie die Sängerzeichen getragen wurden, kann man auf verschiedenen Fotos aus dem Bestand der Harmonie Zürich gut erkennen (Zürich, ZB, Mus Va 6: Lb 2, 1903-1). 87 Siehe z. B. die einheitlichen Hüte bei einem Gruppenfoto der Gesangs-Sektion des Württemberger Vereins Zürich unter: Feuchtwangen, D-FWGm, B 583, Nr. 848/4. 88 Adolf Prümers, „Trinksitten und Missbräuche in deutschen Liedertafeln“, in: Die Tonkunst 9 (1905), Nr. 10 (21.05.1905), S. 102 f. sowie Nr. 11 (07.06.1905), S. 120 f.

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zu lassen.89 Fotos in Innenräumen dürften überwiegend in Ateliers aufgenommen worden sein, was allerdings – wie gesagt – nur bei kleinen Vereinen möglich war. Beliebte Hintergründe waren naturnahe und idealisierte Szenerien. So ließ sich ein Schweizer Chor z. B. vor der Kulisse eines mit Kirchturm und Bergessilhouette recht stereotypen Bergdorfes ablichten.90 Über die Hintergründe konnte man somit Heimattreue und romantische Naturverbundenheit demonstrieren – teilweise in deutlicher Absetzung von einer durch die Industrialisierung geprägten Arbeitswelt.91 Eher ungewöhnlich ist deshalb eine Aufnahme der Solinger Liedertafel, die sich auf einer szenisch angelegten Collage nicht im Wald, sondern in einer Art Wandelhalle anordnen ließ, die im Hintergrund den Blick auf eine Stadtansicht von Solingen freigab und – zumindest für Deutschland eher ungewöhnlich – auch auf einzelne Fabrikschlote.92 Offenbar wollte dieser aus Angehörigen des Kleinbürgertums und der gehobenen Arbeiterschaft (vor allem der renommierten Solinger Schneidwaren- und Besteckindustrie) bestehende Verein93 einerseits als bürgerlich wahrgenommen werden (feine Kleidung, Halle) und zugleich (eventuell stolz?) auf seine Herkunft aus der wichtigen Industrieregion ‚Bergisches Land‘ verweisen. Somit kann man zusammenfassen, dass bei den Fotos der Männergesangvereine zwar verschiedene Typen abgrenzbar sind, zugleich aber insbesondere bei den repräsentativen Gruppenaufnahmen eine gewisse Einheitlichkeit zu erkennen ist – so wie es für die Vereinsfotografie, etwa von Nora Mathys, bereits betont wurde.94 Eine Besonderheit der Männergesangvereine ist, dass es für sie nur wenige sie eindeutig charakterisierende Attribute gab, die man auf den Fotos hätte präsentieren können. Während Blaskapellen z. B. mit ihren Instrumenten fotografiert

89 Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0021840-1 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021840-1, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „III. Wettstreit Deutscher Männerges. Vereine, um den von S. M. gestifteten Wanderpreis. Frankfurt. a. M. d. 19.–22. Mai 1909“, 20.05.1909. 90 Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0021836-6 (URL: http:// nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021836-6, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Männerchor Mettlen“, o. D. 91 Bei diesem Befund lassen sich Bezüge zum von den Männergesangvereinen gesungenen Repertoire herstellen: Bei den vier Kaiserpreissingen beispielsweise wurde, obwohl durchaus einige Arbeiter unter den Sängern waren, auf Industrialisierung und Fabrikarbeit kaum Bezug genommen (eine Ausnahme: Festbuch zum 2. Gesang-Wettstreit deutscher Männergesangvereine, S. 84.). Dass es eine entsprechende Literatur z. B. unter den Bergleuten durchaus gab, darauf verweist Ferdinand Wilhelm Kranzhoff, Die Entwicklung des Männergesanges in Westfalen im 19. Jahrhundert, seine musikalische, gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung, Leipzig 1934, S. 47. 92 Köln, Rheinisches Bildarchiv, rba_221334, https://www.kulturelles-erbe-koeln.de/documents/obj/ 05245540/rba_221334 (letzter Zugriff: 30.09.2021). 93 Festbuch zum 2. Gesang-Wettstreit deutscher Männergesangvereine, S. 154 f. 94 Nora Mathys, Fotofreundschaften. Visualisierungen von Nähe und Gemeinschaft in privaten Fotoalben aus der Schweiz 1900–1950, Baden 2013, S. 69 f.

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wurden95 und sich Turn- oder Radfahrvereine beispielsweise in spezieller Kluft oder mit Geräten/Fahrrädern ablichten lassen konnten und dadurch eindeutig erkennbar waren,96 sind viele Männergesangvereine ohne zusätzliche Hinweise (z. B. Lyra an der Fahnenspitze, Vereinsfahne) kaum als solche zu identifizieren. Daher spielte insbesondere die Beschriftung eine wichtige Rolle und hierzu boten vor allem Collagen vielfältige Möglichkeiten, z. B. durch eingefügte Textfelder oder Schriftbänder. Dass allerdings manche Vereine auf solche Erläuterungen verzichteten, deutet darauf hin, dass entsprechende Fotos eher für den internen bzw. (bei Postkarten) lokalen Gebrauch bestimmt waren und nicht so sehr – wie z. B. das dem badischen Großherzog gewidmete kunstvolle Vereinsporträt der Liederhalle – im weiteren Umkreis (und möglicherweise auch von der Nachwelt) noch ‚lesbar‘ sein sollten.

3.

Die Männergesangvereine mit ‚Damenflor‘: Frauen auf den Vereinsfotos

Ins Auge fällt bei einer Betrachtung der Gruppenbilder von Männergesangvereinen, dass Frauen, also z. B. die Gattinnen und Töchter der Sänger, auf den Fotos sehr selten zu sehen sind.97 Das gilt gerade für repräsentative Aufnahmen. Wenn sie doch einmal mit abgebildet sind, dann stammen solche Aufnahmen meist aus dem Bereich der Freizeit- oder Hobbyfotografie und dokumentieren jene Unternehmungen, zu denen die Familien der Vereinssänger Zugang hatten, z. B. Vereinsausflüge.98 Dieser Befund, der zumindest in Teilen mit dem gesungenen Repertoire korrespondiert, in dem jenseits von Liebesliedern ebenfalls häufig rein männliche Lebenswelten beschrieben werden (Militär, Krieg, männliche Geselligkeit),99 erscheint zunächst nicht besonders erklärungsbedürftig. Auf repräsentativen Fotos heutiger Herren-Fußballmannschaften sind normalerweise auch keine Ehefrauen

95 Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0020235-8 (URL: http:// nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021865-6, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „The famous St. Hilda Colliery Band“, nach 1924. 96 Siehe z. B. Rainer Fabian, Wir damals … Gruppenaufnahmen in der frühen Fotografie, Dortmund 1982, S. 36 f. und 40 f. 97 In einem Konvolut von 43 Fotopostkarten mit Gruppenbildern von Männergesangvereinen aus dem deutschsprachigen Raum, das ich über Ebay sowie andere Online-Händler zusammengetragen habe und das mittlerweile an das Archiv Historische Bildpostkarten abgegeben wurde, sind lediglich auf sechs Postkarten Frauen abgebildet. 98 Siehe z. B. das Protokollbuch der Sängergesellschaft Eintracht Pfersee: Feuchtwangen, D-FWGm, B 7, 55.1. 99 Bezüglich des Wettbewerbsrepertoires von Männerchören: Müller-Oberhäuser, Chorwettbewerbe in Deutschland, S. 434 f.

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und Kinder zu sehen.100 Bei Fotos von Männergesangvereinen ist dies jedoch insofern bemerkenswert, als gerade bei Festkontexten, aus denen viele der Vereinsfotos stammen, Frauen bei der Vorbereitung und Durchführung wichtige Aufgaben übernahmen. Sie kümmerten sich um Dekorationen sowie Verpflegung101 und stifteten zu Vereinsfesten, Wettbewerben und Fahnenweihen – oft selbstgestickte – Fahnen102 oder sonstige Präsente. Als ‚Damenflor‘ waren sie nicht nur eine (erwünschte) Zierde der jeweiligen Veranstaltung, sondern übernahmen in der Rolle der zumeist weiß gekleideten Ehrenjungfrau bzw. Ehrendame öffentliche, wenn auch stark ritualisierte Aufgaben, z. B. Ehrungen für Vereine sowie Dirigenten durch (oft vorgefertigte) Worte oder durch die Übergabe von Geschenken. In dieser Rolle der Ehrenjungfrau/Ehrendame schafften es Frauen dann manchmal sogar auf repräsentative Fotos und Collagen, wie ein Beispiel aus Eversdorf, wohl dem heutigen Stadtteil von Salzwedel, zeigt (Abb. 5). Es stammt, wie der gut lesbaren Fahnenschleife zu entnehmen ist, aus dem Kontext des 50. Stiftungsfestes des dortigen Männergesangvereins.103 Zunächst sind viele bereits benannte Charakteristika von Vereinsfotos zu finden: Die Anordnung der Sänger vor einem (in diesem Fall indes nicht besonders repräsentativen) Gebäude (wegen fehlender Treppe auf einer Art Tribüne), ihre (in etwa) symmetrische Aufstellung mit der Fahne und dem an seinem Dirigierstab und der Notenmappe deutlich erkennbaren Dirigenten als vertikaler Bildachse. Gut zu sehen sind auch die von den Sängern auf der linken Brustseite wie Orden getragenen Festzeichen, wobei – wiederum symmetrisch angeordnet – rechts und links vom Dirigenten offenbar zwei noch lebende Vereinsgründer durch besondere Zeichen (einen Anstecker mit einer goldenen 50 in einem Kranz) hervorgehoben sind. Während die Kleidung dem skizzierten Standard mit Anzug und weißem Hemd entspricht, verweisen die unterschiedlichen 100 Frauen sind bei Männer-Mannschaften normalerweise nur dann auf den offiziellen Fotos, wenn der Stab aus Betreuerinnern und Betreuern mit abgebildet wird, so z. B. bei Borussia Mönchengladbach. Aber auch hier war es ein Novum, dass 2021 erstmals zwei Frauen auf dem Foto waren (siehe den Artikel „Neues Mannschaftsfoto sorgt für ein Novum in Gladbach“ vom 1. August 2021 unter Rheinische Post Online: https://rp-online.de/sport/fussball/borussia/borussia-moenchengladbachneues-mannschaftsfoto-mit-zwei-frauen_aid-61887267 (letzter Zugriff: 30.09.2021)). 101 Nicht umsonst betonte der Vorsitzende des Dekorationsausschusses für das Eidgenössisches Sängerfest 1843, dass die Hilfe von Frauen „unumgänglich nothwendig sei“. Zürich, ZB, Mus VA 6: Ca 1, S. 69, Versammlung, 23.05.1843. 102 Zur Fahnenproduktion: Tamara Citovics, „Bräute der Revolution und ihre Helden. Zur politischen Funktion des Fahnenstickens“, in: Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, hrsg. v. Carola Lipp und Beate Bechtold-Comforty, BühlMoos 1986, S. 339–352; Jutta Zandel-Seidel, „‚In Freud und Leid zum Lied bereit‘. Fahnen in der Vereins- und Festkultur des 19. Jahrhunderts“, in: Geburt der Massenkultur, hrsg. v. Roland Prügel (= Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 35), S. 143–157. 103 Bild im Privatbesitz des Verfassers.

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Abb. 5 Der Männergesangverein aus Eversdorf mit ‚Damenflor‘, um 1910, Privatbesitz.

Hüte und vor allem die Bierhumpen in den Händen mancher Sänger darauf, dass das Arrangement nicht besonders streng war und es einen wichtigen geselligen Teil des Festereignisses gab. In diese symmetrische Anordnung fügen sich dann auch die neun Ehrenjungfrauen/Ehrendamen ein, die – rechts und links am Rand platziert – mit ihren weißen Kleidern, den Sträußen und der dunklen Schärpe einen deutlichen Kontrast zu den Männern in ihren dunklen Anzügen darstellen, diese in gewisser Hinsicht rahmen. Die Damen sind vermutlich nicht zuletzt deshalb mit im Bild, weil – wie wiederum der Fahnenschleife zu entnehmen ist – sie dem Verein entweder die Fahnenschleife oder die Vereinsfahne zum Jubiläum geschenkt bzw. übergeben haben. Derartige Zusammenhänge sind auch bei anderen repräsentativen Vereinsfotos und -collagen zu vermuten, auf denen Frauen abgebildet sind: Auf einer Collage des Gesangvereins Harmonie Hechtsheim (heute: Mainz-Hechtsheim) aus dem Jahr 1906 sind die vier abgebildeten Ehrendamen in angemessener, trachtenartiger, hier dunkler Festtagskleidung sicher nicht umsonst rechts und links von der vom Fähnrich gehaltenen Fahne platziert (Abb. 6).104

104 Bild im Privatbesitz des Verfassers.

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Abb. 6 Der Gesangverein Harmonie Hechtsheim im Jahr 1906, Privatbesitz.

Womöglich entstand das Bild, das ansonsten die Herren des Chores grüppchenweise an Tischen versammelt zeigt (wobei sie stolz ein Gemälde und verschiedene Pokale, wohl Wettbewerbspreise, präsentieren und gesittet Rotwein konsumieren) und im Hintergrund rechts den Blick auf eine gemalte Ansicht von Hechtsheim freigibt, zu einer Fahnenweihe. So heißt es auf der Fahnenschleife: „Gew[idmet] von Frauen und Jungfrauen.“105 Will man das weitgehende Fehlen von Frauen auf Gruppenfotos und vor allem ihre Integration lediglich in der stark reglementierten und stereotypen Rolle der Ehrenjungfrau/Ehrendame einordnen, so kann man als allgemeinen Hintergrund auf die für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts charakteristische Trennung der Einflusssphären von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ verweisen, die auf gegensätzliche, biologisch begründete Geschlechtercharaktere zurückgeführt wurde106 105 Ein Vereinsjubiläum ist anhand der Festschrift des 1873 gegründeten Vereins auszuschließen (100 Jahre Gesangverein „Harmonie Hechtsheim 1873–1973. Festschrift vom 18. Mai bis 21. Mai 1973, o. O. [1973]). 106 Grundlegend: Karin Hausen, „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neu-

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und sich (wenig überraschend) auch bei den Männergesangvereinen zeigte. Im öffentlichen Bereich, z. B. bei Sängerfesten und Gesangswettbewerben waren Frauen zwar zugelassen, aber abgesehen von den Ehrendamen eher in untergeordneten Rollen, u. a. als Dekorateurinnen und Zuhörerinnen.107 Hochgestellte Frauen wurden bisweilen als Protektorinnen angefragt.108 Gerade die Gattinnen und Töchter der Sänger jedoch konnten sich in der Regel lediglich bei den vereinsinternen, als privat verstandenen Veranstaltungen (z. B. Familienausflügen, Tanzveranstaltungen) aktiv beteiligen. Doch auch ein Großteil dieser Veranstaltungen fand unter Ausschluss der Familien statt, was nicht zuletzt daran lag, dass hier mit Kartenspiel, Alkohol- und Tabakkonsum eine Form der Geselligkeit gepflegt (und genossen) wurde, die man für Frauen als unschicklich ansah.109 War diese Trennung der Wirkungsbereiche ein allgemeines Merkmal von homosozialen Vereinigungen im Kontinentaleuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,110 so spiegelt sich dies eben auch in den fotografischen Selbstdarstellungen von Chören wider, und zwar nicht nur der Männergesangvereine, sondern auch der gemischten Chöre. Als Beispiel sei auf ein Foto des Dramatischen und Chor-Gesangvereins Preciosa aus

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zeit Europas. Neue Forschungen, hrsg. v. Werner Conze (= Industrielle Welt 21), Stuttgart 1976, S. 363–393. Dass dies bei Musikwettbewerben in anderen Ländern bisweilen ein wenig anders war und Frauen nicht nur als Teilnehmerinnen, sondern auch als Initiatorinnen, Sponsorinnen oder Preisrichterinnen beteiligt sein konnten, dazu bezogen auf musikbezogene Wettbewerbe allgemein Carola Bebermeier u. a., „Musikalische Preisausschreiben. Ein historischer Grundriss“, in: Musikalische Preisausschreiben 1820–1870. Grundriss, Datenbank und Bibliografie auf Grundlage von Musikperiodika, hrsg. v. Frank Hentschel und Andreas Domann, Universität zu Köln 2020, https://doi.org/10. 18716/MUS.PREIS.1820-70, S. 18 ff. (letzter Zugriff: 30.09.2021); bezogen auf Chorwettbewerbe: Müller-Oberhäuser, Chorwettbewerbe in Deutschland, S. 406 ff. So stand der Ende des 19. Jahrhunderts recht bekannte MGV Rheinland Koblenz lange Jahre unter dem Protektorat von Kaiserin Augusta. Dass (insbesondere öffentlicher) Alkoholkonsum bei Frauen gesellschaftlich geächtet war, betont z. B. Iris Edenheiser, „Der ‚Sorgenbrecher‘ Alkohol, neue Männlichkeit und weibliche Fürsorge – Die Abstinenzbewegung“, in: Von Aposteln bis Zionisten. Religiöse Kultur im Leipzig des Kaiserreichs, hrsg. v. ders., Marburg 2010, S. 107–118, hier S. 112. Für Schützenvereine: Barbara Stambolis, „Frauen in Schützenvereinen des Paderborner Raumes. ‚Vivat rex … es lebe die Königin!‘“, in: Frauen in Paderborn. Weibliche Handlungsräume und Erinnerungsorte, hrsg. v. ders. (= Paderborner historische Forschungen 13), Köln 2005, S. 262–283. Dass diese Rollen dennoch nicht unbedingt als einschränkend empfunden wurden, zeigt eine Postkarte von einem Sängerfest, auf der es heißt: „Sende Euch hier eine kleine Aufnahme vom Festzuge des Calmbacher Sängerfestes, wo ich die Ehre hatte, Festdame zu sein.“ Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0020235-8 (URL: http://nbn-resolving.org/ urn:nbn:de:gbv:700-2-0020235-8, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Calmbacher Sängerfest 1910“, 01.07.1910.

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Dresden hingewiesen,111 bei dem die zentralen Positionen im Bild von Männern eingenommen werden (siehe den stehenden Dirigenten und die um den Tisch sitzenden Männer in der Bildmitte). Auch bei den Accessoires wird der Unterschied zwischen den Geschlechtern auf dem Foto deutlich: Während die (größtenteils weiß gekleideten) Damen ausschließlich mit (Noten- oder Text-)Büchlein in den Händen abgebildet sind,112 halten zahlreiche Herren demonstrativ Biergläser in die Kamera. Offenbar wollte man visuell deutlich machen, dass es zwar eine Vereinsgeselligkeit gab, die Frauen daran allerdings keinen Anteil hatten und sich – den gängigen Schicklichkeitsvorstellungen entsprechend – voll und ganz auf Theaterspiel und Gesang konzentrierten. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und die fotografische Selbstdarstellung der Vereine als Ausdruck hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen verstehen. Damit ist ein maßgeblich von Raewyn Connell entwickeltes,113 in den letzten beiden Jahrzehnten ausdifferenziertes114 Konzept gemeint, mit dem zu einem bestimmten Zeitpunkt als maßgebend und normativ verbindlich verstandene Vorstellungen von Männlichkeit beschrieben werden können – ganz unabhängig davon, ob die Männer diese Anforderungen mehrheitlich tatsächlich erfüllen. Für das 19. und frühe 20. Jahrhundert ist in der Forschung verschiedentlich auf die enge Verknüpfung von Männlichkeit, Militarismus und Nationalismus als wesentlichem Teil hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen hingewiesen worden,115 eine Verknüpfung, die gerade auch für die deutsche Sängerbewegung bedeutsam war.116 So verstanden sich insbesondere die Funktionäre der Sängerbewegung, vor allem des Deutschen Sängerbundes, als nationalpolitische Akteure, die sich um die Einigung aller Deutschen durch die gemeinsame Pflege des ‚deutschen Liedes‘ bemühten. Diese Politisierung

111 Osnabrück, Archiv Historische Bildpostkarten, URN: urn:nbn:de:gbv:700-2-0021828-2 (URL: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:700-2-0021828-2, letzter Zugriff: 24.09.2022), Postkarte „Dramat. und Chor-Gesang Verein Preciosa“, 15.08.1905. 112 Dass es sich hierbei um ein traditionelles Motiv bei Porträts handelt, zeigt Ulrich Johannes Schneider, Der Finger im Buch. Die unterbrochene Lektüre im Bild, Bern und Wien 2020. 113 Siehe u. a. Tim Carrigan, Bob Connell und John Lee, „Toward a New Sociology of Masculinity“, in: Theory and Society 14 (1985), H. 5, S. 551–604; Raewyn Connell und James W. Messerschmidt: „Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept“, in: Gender & Society 19 (2005), H. 6, S. 829–859; Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 4. durchgesehene und erweiterte Aufl., Wiesbaden 2015. 114 Siehe z. B. Martin Dinges (Hrsg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute (= Geschichte und Geschlechter 49), Frankfurt am Main u. a. 2005. 115 Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien 2003, vor allem S. 149 ff. Zur Verknüpfung von Männlichkeit, Nationalismus und Wehrhaftigkeit auch: Karen Hagemann, „‚Männlicher Muth und Teutsche Ehre‘. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens (= Krieg in der Geschichte 8), Paderborn u. a. 2002. 116 Klenke, Der singende „deutsche Mann“.

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des Männergesangs hat wesentlich zur Präsenz der Männerchöre bei öffentlichen Festveranstaltungen vor allem im Kaiserreich beigetragen, als der Männergesang nicht mehr oppositionell, sondern zum „staatstragenden vaterländischen Gelöbnisritual“117 geworden war. Das wiederum hatte Folgen für das gepflegte Repertoire, in das von den meisten Vereinen auch dezidiert patriotische Stücke aufgenommen wurden. Allerdings lässt sich auf den Fotos von Männerchören eine nationale Orientierung nur andeutungsweise nachweisen. Bei der Karlsruher Liederhalle signalisieren immerhin die Sängersprüche eine grundsätzlich nationale (und liberale) Haltung.118 Stadtsilhouetten, repräsentative Gebäude oder Natursymbolik verweisen indes eher auf lokale und regionale Rückbindungen, könnten aber beim zeitgenössischen Betrachter durchaus auch nationale Heimatvorstellungen evoziert haben.119 Ergiebiger scheint es, nach Hinweisen auf den Aspekt ‚Disziplin‘ zu suchen, der als eng verbunden mit dem Militärischen als Merkmal hegemonialer Männlichkeitsvorstellungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert angesehen werden kann. Bekannt ist, dass eine auf (Selbst-)Disziplin ausgerichtete Schul- und Militärzeit Habitus und Hexis der Männer insbesondere im Kaiserreich (und darüber hinaus) geprägt und damit das Idealbild eines disziplinierten, sich ins Kollektiv einfügenden Mannes im kollektiven Bewusstsein verankert hat.120 Diese Vorstellungen spielten auch in der Männerchorbewegung eine Rolle. So stand in einem Reisebegleiter der Harmonie Zürich für die Teilnahme am Gesangwettstreit der Liederhalle Karlsruhe 1892: Das Gelingen der Fahrt und der Teilnahme am Wettstreite hängt hauptsächlich ab von einer willigen Unterwerfung der Theilnehmer unter die disziplinarischen Anordnun-

117 Ebd., S. 150. 118 Hier ist vor allem auf den 1845–1872 gültigen Sängerspruch „Uns’rer Lieder Klänge läuten | Deutscher Eintracht Frühling ein.“ sowie den ab 1874 gewählten Sängerspruch „Vaterland, unser Hort! | Hell das Lied, frei das Wort! …“ hinzuweisen (Fest-Buch zur Feier des 50. Stiftungs-Festes [der Liederhalle Karlsruhe], Titelblatt). 119 Wie die lokale, regionale und nationale Ebene durch Vorstellungen von ‚Heimat‘ miteinander verknüpft sein konnten, zeigt Alon Confino, „The Nation as a Local Metaphor. Heimat, National Memory and the German Empire, 1871–1918“, in: History and Memory 5 (1993), S. 42–86. 120 Zum Militär vor allem Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997; Ute Frevert, „Das Militär als Schule der Männlichkeiten“, in: Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, hrsg. v. Ulrike Brunotte (= GenderCodes 3), Bielefeld 2008, S. 57–75; dies., Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001.

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gen von Vorstand und Reisekomite und von einer strengen Befolgung der jeweiligen Vorschriften. Die Pflicht militärischen Gehorsams halte jeder vor Augen.121

Solch militärisches Vokabular war gerade in Wettbewerbszusammenhängen nicht untypisch, z. B. wurde ein Dirigent dort schon einmal als ‚Feldherr‘ tituliert, die ganze Veranstaltung – der Tannhäuser lässt grüßen – als ‚Sängerkrieg‘ bezeichnet.122 Mit Blick auf die geordnete Aufstellung von Chören betonte ein liberaler Kritiker des Männergesangs in der Zeitschrift März sogar, diese hätten grundsätzlich etwas Militärisches an sich – wenngleich wegen der zivilen Kleidung (und des meist gesetzten Alters der Sänger) eher etwas von Veteranenverbänden als von aktiven Einheiten.123 Auch wenn dieser Auffassung andernorts widersprochen wurde,124 war unbestritten, dass Ordnung und Disziplin bei Proben Voraussetzung für chorische Leistungsfähigkeit waren. Nicht nur ging es darum, beim häufig homophonen Satz der Männerchorwerke einen möglichst homogenen und voluminösen Chorklang zu erzeugen. Vielmehr wurde auch das Auftreten auf der Bühne (wie bei den Wettbewerben) als wesentlich für einen positiven Eindruck und Anerkennung angesehen. Deshalb lässt sich bei den Vereinen, die sich in ‚strenger‘ Ordnung (Positionierung, einheitlicher Kleidung usw.) und ggf. zusätzlich mit errungenen Preisen und Trophäen fotografieren ließen, vermuten, dass damit zugleich Selbstdisziplin und Leistungsbereitschaft visuell symbolisiert werden sollten. War dies die eine Seite der Männergesangvereine, so war die andere ihr Selbstverständnis als Geselligkeitsverein, d. h. als Vereine, die ihren Mitgliedern Raum für lockeres, von konfliktreichen Themen freies Miteinander boten.125 Die Spannung zwischen diesen beiden Polen spiegelt sich in den Vereinsfotos wider: Auf der einen Seite stehen die Gruppenporträts, welche die Ernsthaftigkeit des künstlerischen Strebens dokumentieren sollten, wie z. B. jene Aufnahmen, die im Vorfeld der Kaiserpreissingen von den Vereinen für die Allgemeine Musikalische Rundschau aufgenommen wurden.126 Hier sind die Sänger meist sehr geordnet positioniert (die Körperhaltung ist zudem bei manchen Vereinen eher stramm) und es fehlen meist sämtliche Attribute der Geselligkeit (z. B. Trinkgefäße). Auf der anderen

121 Reisebegleiter für die Theilnehmer am Internationalen Gesangwettstreit in Karlsruhe vom 16./19. Juli 1892, zusammengestellt von Karl Maurer, Zürich 1892, S. 9. 122 Müller-Oberhäuser, Chorwettbewerbe in Deutschland, S. 409 ff. 123 Joachim Benn, „Der Kaiser und die Kunst (Zum Frankfurter Gesangswettstreit)“, in: März 7 (1913), Nr. 21 (24.05.1913), S. 283 f., hier S. 283. 124 Schairer, „Ein Rippenstoß – ein Mahnwort?“, in: Deutsche Sängerbundeszeitung 5 (1913), Nr. 31 (09.08.1913), S. 518 f. 125 Zu diesem an Georg Simmel angelehnten Begriff von ‚Geselligkeit‘: Nathaus, Organisierte Geselligkeit, S. 14. 126 Allgemeine Musikalische Rundschau 4 (1899), Nr. 21/22 (21.05.1899), S. 236 ff.

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Seite stehen jene, nicht für repräsentative Gelegenheiten gedachten Aufnahmen, die als Freizeit- oder Knipser-Fotografien z. B. von der Harmonie Zürich von verschiedenen Sängerfahrten überliefert sind und die Sänger als gesellige, fröhliche, teils sogar ausgelassene Männergruppe zeigen.127 Ein Mittelding stellen jene Fotos dar, die zwar geselliges Treiben andeuten (z. B. durch hochgehaltene Krüge), aber zugleich Ernsthaftigkeit und Disziplin signalisieren (z. B. durch Anordnung und Kleidung). Auch die Gruppenfotos und Collagen der Karlsruher Liederhalle lassen sich hier einordnen – bei unterschiedlichen Akzenten: Betont das Bild von 1881 mit den (ganz traditionellen) strengen Einzelporträts sowie den abgebildeten Pokalen eher die Ernsthaftigkeit des Strebens, steht die Collage von 1891 im Zeichen des geselligen Teils des Vereinslebens. Das Geschenk für den Großherzog war dann wiederum eher das Gruppenbild eines künstlerisch (und zwar nicht nur musikalisch!) leistungsfähigen Kollektivs. Gleiches gilt für die beiden Vereinsporträts von 1899 und 1913, denen allerdings schon durch die eher lockere Körperhaltung mancher Sänger eine mögliche militärische Anmutung fehlt, die Aufnahmen anderer Vereine bisweilen hervorrufen.

4.

Ausblick

Pierre Bourdieu hat vor einigen Jahrzehnten in seinen Untersuchungen zur Fotografie in Frankreich die identitätsstiftende Bedeutung dieses Mediums vor allem für die Sozialformation ‚Familie‘ hervorgehoben.128 Ganz ähnlich hat auch Jens Jäger die Bedeutung von Fotografien als Quellen für Forschungen zur Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert betont, ja sogar die Frage aufgeworfen: „Blendet eine historische Untersuchung der Familie – etwa im bürgerlichen großstädtischen Kontext um 1860/80 nicht Wesentliches aus, wenn deren Praxis bildlicher Selbstdarstellung unberücksichtigt bleibt?“129 Über die Vereinsfotografie um 1900, nach Paul Hugger und Richard Wolff wie alle anderen Typen des fotografischen Gruppenbildes aus dem Familienfoto entwachsen,130 kann man Ähnliches sagen, auch wenn sich die Vereinsfotografie mit der Familienfotografie quantitativ wohl nicht

127 Als Beispiele sei auf die Fotos „Gemälde-Galerie“ mit erotischen Fotos im Hintergrund und die Aufnahmen aus dem Massenquartier beim Eidgenössischen Sängerfest 1905 verwiesen (Zürich, ZB, Mus Va 6: Lb 1 und Lb 2). 128 Bourdieu, „Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede“, S. 31 ff. 129 Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 101. 130 Hugger/Wolf, Wir sind jemand, S. 9.

Gruppenbilder (fast) ohne Damen

vergleichen lässt.131 So kann man zeigen, dass ihre Herstellung und Verbreitung eingebunden war in eine teils differenzierte Erinnerungspolitik der Vereine und ihre visuelle Selbstdarstellung zur Identitätsbildung nach innen beitragen und der Repräsentation nach außen dienen sollte. Überhaupt zeigt sich in den Vereinen allenthalben das Bemühen, ein gutes Bild von sich und der eigenen Tätigkeit zu vermitteln. Das gilt auf der Bühne, wo man sich bei Konzerten, Sängerfesten und Wettbewerben um ein geordnetes Auftreten bemühte, ebenso wie beim fotografischen Gruppenporträt in seinen verschiedenen Ausprägungen. Die Fotografie bot dabei geeignete Mittel, dieses Bild – orientiert an Vorbildern, eigenen Vorstellungen sowie im Rahmen des technisch Möglichen – gezielt zu choreographieren und anschließend in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Exakt das macht dieses Medium zu einer interessanten Quelle, zumal die grundsätzliche Frage, wie man sich der Öffentlichkeit nicht nur musikalisch, sondern eben auch optisch präsentieren möchte, sich nicht geändert hat und Chöre gestern wie heute beschäftigt – man braucht sich nur die Fotos anzusehen, die Chöre auf ihren Internetseiten präsentieren. Die Vereinsporträts der Männergesangvereine lassen sich indes nicht nur mit den Funktionen Erinnerung und Repräsentation in Verbindung bringen. Fragt man vielmehr nach den Wertvorstellungen, die in den Gruppenbildern zum Ausdruck kommen, so lassen sich die Fotos zusammenfassend in zwei übergeordneten Spannungsfeldern einordnen: Zunächst einmal bewegten sich – wie gezeigt – die Darstellungen der Vereinstätigkeit zwischen ernster (bzw. ernst zu nehmender), Disziplin erfordernder künstlerischer Arbeit auf der einen und auf Geselligkeit und Unterhaltung zielender Ausrichtung auf der anderen Seite. Die Schwerpunktsetzungen wurden dabei von den Vereinen je nach Bildanlass und Selbstverständnis durchaus unterschiedlich vorgenommen: Mal zeigte man sich diszipliniert und leistungsorientiert (noch einmal sei auf die gerne präsentierten Auszeichnungen und Preise verwiesen), mal gesellig in gemütlicher Runde. Allerdings gilt in beiden Fällen, dass Frauen auf den Bildern kaum vertreten waren. Von der Probenarbeit im Verein waren sie, wenn dem Verein nicht zugleich eine Abteilung für gemischten Chor angegliedert war, ohnehin ausgeschlossen. Im Lichte der Öffentlichkeit blieben sie, wie die Fotos aus den Festkontexten zeigen, auf bestimmte stereotype Rollen wie die der Sängergattin und Ehrendame festgelegt, deren Aufgabe es war, die Bestrebungen der Sänger organisatorisch zu unterstützen und diese in ihrem künstlerischen Streben und patriotischen Treiben durch Ehrungen zu bestärken. Die in Männergesangvereinen gepflegte (männliche) Geselligkeit (mit oft ritualisiertem Alkoholkonsum) war für Frauen ebenfalls weitgehend tabu. Wenn Frauen

131 Auch wenn dies nicht repräsentativ ist und daher nur einen gewissen Anhaltspunkt gibt: Sucht man bei Ebay nach der Kombination „Foto Verein“ und nach „Foto Familie“ erhält man im ersten Fall 1670 Treffer, im letzteren 3297 (Suche am 19.09.2021).

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Christoph Müller-Oberhäuser

daran doch einmal Anteil hatten, scheint dies nur selten durch Fotos eingefangen worden zu sein.132 Insofern kann man konstatieren, dass Vorstellungen von unterschiedlichen Geschlechtercharakteren sowie hegemonialer Männlichkeit sich auch in den Fotos der Männergesangvereine widerspiegeln. Außerdem lassen sich, wie verschiedentlich angeklungen, anhand der Vereinsporträts Aussagen zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv treffen. Genauer gesagt, geht es um die Frage, inwiefern ein Verein eher als Gruppe von Einzelpersonen oder als homogene Einheit dargestellt wird – eine Spannung, die in den benannten Bildtypen auf unterschiedliche Weise aufgelöst wurde. Während in den Collagen einzelne Individuen oft namentlich bezeichnet oder optisch hervorgehoben sind, etwa wenn sie als Vorstandsmitglieder oder Dirigenten für ihren Verein von besonderer Bedeutung waren, so entindividualisieren sich in Vereinsfotos im engeren Sinne die Vereinsmitglieder nicht selten fast vollständig ins Kollektiv hinein bzw. treten hinter die ‚Uniformität‘ des Vereins zurück, um Zugehörigkeit und die Unterordnung unter das Gesamtinteresse zu signalisieren. In solchen Fällen lassen sich dann lediglich – auf Basis der Anordnung auf dem Foto (Platzierung in der Mitte, an einem Tisch etc.) oder aufgrund besonderer Accessoires – Vermutungen z. B. zu vereinsinternen Hierarchien anstellen. Ein solches bildliches Aufgehen des Einzelnen im Kollektiv hatte allerdings zur Folge, dass die Fotografierten schon für später hinzustoßende Vereinsmitglieder nicht mehr identifizierbar sein konnten, weshalb man, um dies zu vermeiden, nicht selten auf den Rückseiten der Bilder die Namen der abgebildeten Sänger notierte. Diese Spannung zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen der Hervorhebung Einzelner und möglichst großer Uniformität, ist aus historischer Perspektive besonders interessant, weil sie sich auch auf Gruppenbilder noch früherer Epochen beziehen lässt, wie sich in Publikationen z. B. zu gemalten Gruppenporträts der Frühen Neuzeit zeigt,133 und auch die Gruppenfotos der Gegenwart betrifft. Unter anderem lässt sich vor diesem Hintergrund die Frage stellen, ob sich gesamtgesellschaftliche Verschiebungen, z. B. zugunsten des Individuums im Verhältnis zu Kollektiven, auch in veränderten Bildkonventionen niederschlagen, sich also auch optisch manifestieren.134 Für den Musikbereich erscheinen solche Überlegungen 132 Ein außergewöhnliches Foto, bei denen Frauen nicht nur im Trubel mit den Männern, sondern auch mit (Wein-)Flaschen in der Hand abgebildet sind, findet man unter: Zürich, ZB, Mus Va 6: Lb 2. 133 Z. B. Marcus Dekiert, „Bürgerstolz und Bürgertugend im Bild. Das Gruppenporträt im Amsterdam des 17. Jahrhunderts“, in: Goldenes Zeitalter. Holländische Gruppenporträts aus dem Amsterdams Historisch Museum, hrsg. vom Kunsthistorischen Museum Wien und der Bayerischen Staasgemäldesammlung München, Wien und München 2010, S. 27–36; Alois Riegl, Das holländische Gruppenporträt, 2 Bde., Prag 1902. 134 Dass Gruppenfotos im Laufe des 20. Jahrhunderts angesichts einer verstärkten Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft einen Bedeutungsverlust erlebt hätten, wird regelmäßig

Gruppenbilder (fast) ohne Damen

noch aus einem weiteren Grund spannend, ist doch bei Musikensembles wie Chören und Orchestern auf der einen Seite eine Homogenität des Klanges und damit eine genaue Abstimmung zwischen Instrumentalist:innen und/oder Sänger:innen, ja sogar ein möglichst vollständiges Aufgehen des Einzelnen im Kollektiv, oft ein zentrales Qualitätskriterium.135 Auf der anderen Seite bestehen diese Kollektive nicht selten aus selbstbewussten Einzelpersonen. Das gilt gerade bei leistungsorientierten oder professionellen Ensembles, die sich oft aus solistisch aktiven und erfolgreichen Künstler:innen zusammensetzen. Hier kann dann gefragt werden, ob und wie dem in den Bildern, etwa auf den jeweiligen Internetseiten, Rechnung getragen wird.136 Bilder im Allgemeinen, Fotografien im Besonderen können als Quellen, das sollten die Überlegungen zu Gruppenbildern von Männergesangvereinen gezeigt haben, bei solchen Fragen weiterhelfen, denn sie geben Hinweise darauf, wie in verschiedenen musikalischen Ensembles das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv immer wieder neu austariert worden ist – und wird.

betont (Hugger/Wolf, Wir sind jemand, S. 10 und 345). Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung dieser Entwicklung steht aber noch aus. 135 Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass es auch andere Konzeptionierungen des Zusammenspiels gibt, wenn bspw. dem Spielen im Streichquartett der Charakter eines Gesprächs zwischen (gleichberechtigten) Individuen zugeschrieben wird. Zu diesem Topos Ludwig Finscher, Studien zur Geschichte des Streichquartetts I: Die Entstehung des klassischen Streichquartetts, Kassel 1974, S. 285 ff.; Hans-Joachim Bracht, „Überlegungen zum Quartett-‚Gespräch‘“, in: AfMw 51 (1993), H. 3, S. 169–189; mit Bezug zur Geschlechterfrage: Dörte Schmidt, „ … in vierfach geschlungener Bruderumarmung aufschweben“. Beethoven und das Streichquartett als ästhetische, politische und soziale Idee in der zeitgenössischen Publizistik, in: Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven. Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin, hrsg. v. Cornelia Bartsch u. a., Bonn 2003, S. 351–368. 136 Siehe z. B. die ‚Fotopolitik‘ auf der Internetseite des WDR Rundfunkchores (https://www1.wdr.de/ orchester-und-chor/rundfunkchor/chor/index.html, letzter Zugriff: 30.09.2021): Unter dem übergeordneten Gruppenfoto des Ensembles, das die Mitglieder teilweise im Gespräch und damit als miteinander kommunizierend zeigt, folgt die Leitungsebene (mit Einzelporträts), darunter Fotos der Stimmgruppen, über die sich wiederum Informationen (mit Fotos) zu den einzelnen Sänger:innen auffinden lassen. Auf diese Weise entsteht ein sehr differenzierter Eindruck, wie sich das Ensemble aus (Stimm-)Gruppen und einzelnen Mitgliedern zusammensetzt.

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Schrift, Notation und Klang

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Zur Interpretation von graphischer Notation Fragestellungen und Perspektiven Graphische Notation wirft genuin die Frage nach der Funktion und Bedeutung von Bildlichkeit musikalischer Schriften auf. Viele der Komponist:innen, die graphische Notationen seit den 1960er Jahren verfassten, wollten die bildliche Dimension der musikalischen Schrift langfristig grundlegend verändern. Ausschlaggebend war einerseits, dass sie die Fünf-Linien-Notation kompositorisch als einschränkend empfanden. Andererseits sollte die neue Notation den Interpret:innen eine neue Rolle ermöglichen: Indem die Notation einen hohen Grad an Unbestimmtheit beinhalten kann, sind Interpret:innen große Freiräume in der Gestaltung einzelner Parameter (Tonhöhen, Rhythmus, Dynamik) oder formaler Abläufe möglich. Das führt dazu, dass viele Aufführungsversionen einer Komposition gleichberechtigt nebeneinander existieren können. Es änderte sich also die Funktion der Schrift, die Rolle der Akteur:innen und damit die gesamten Kommunikations- und Vermittlungsprozesse in dem Gefüge Notation und Interpretation. Während daher zur Erforschung graphischer Notation erstens der Anschluss an Konzepte aus der Schriftbildlichkeit sowie den Kunst- und Bildwissenschaften unabdingbar ist, sollte zweitens die Interpretation ebenfalls substanziell mitgedacht werden. Wie kann man nun forschend vorgehen? Eine naheliegende Möglichkeit wäre, die Interpret:innen selbst in den Fokus zu rücken. Dies ist sicherlich richtig und lohnend, denn dies ist bisher wie die graphische Notation insgesamt weitgehend unterbelichtet. Im Fokus stünde eine Analyse unterschiedlicher Interpretationen einer Partitur mit der Frage, wie die Interpret:innen die Notation in Klang übersetzen. Welches Wissen über die Bildlichkeit müssen sie sich aneignen und wie? Welche Entscheidungen treffen die Interpret:innen und wie sind sie begründet?1 Darüber hinaus ergeben sich allgemeinere Fragen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Komponist:in und Interpret:in in graphischer Notation. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie groß der Freiheitsgrad eigentlich ist, den Interpret:innen

1 Ich habe dies am Beispiel der graphischen Notation des Globus für Vermeulenflöte von Anestis Logothetis aufgezeigt, worüber er sich ausführlich mit der Flötistin Greta Vermeulen austauscht: Gesa Finke, „Partituren zum Lesen und Schauen. Bildlichkeit als Merkmal graphischer Notation“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 16/1 (2019), S. 21–39. Online-Publikation, https://doi. org/10.31751/1001 (letzter Zugriff: 30.11.2020).

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haben. Diese Frage steht auch im Zentrum der musikwissenschaftlichen Interpretationsforschung und wird vornehmlich unter dem Aspekt der Autor:innenschaft verhandelt.2 Indem Musik auf klingende Interpretation angewiesen ist, können Interpret:innen ihrerseits Ansprüche als Autor:innen erheben.3 Generell wird graphische Notation oft in einem Zug mit indeterminierter oder konzeptueller Musik genannt, und es fällt auch das Adjektiv „mitschöpferisch“. Karlheinz Stockhausen etwa forderte in seinem Aufsatz „Musik und Graphik“ von 1960 die „Emanzipation der Praxis des produktiven – anstelle des reproduktiven – Interpreten.“4 Tatsächlich ist die Unbestimmtheit bzw. Mehrdeutigkeit in vielen graphischen Notationen bewusst intendiert, womit den Interpret:innen in der konkreten Umsetzung in Klang Freiräume möglich sind. Dennoch wird bei den Komponisten Anestis Logothetis und Roman Haubenstock-Ramati deutlich, dass sie ihre graphische Notation auktorial gedacht haben. Dies ergibt sich vor allem aus der paratextuellen Rahmung der Notationen, als welche die Spielanweisung verstanden werden kann. Damit können Ansätze aus der literatur- und kunstwissenschaftlichen Paratextforschung für die musikwissenschaftliche Interpretationsforschung fruchtbar gemacht werden. Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek stellten schon 2004 fest: „Das Konzept des Paratextes ist im Gefolge von Gérard Genettes Seuils von 1987 inzwischen gut etabliert. Doch wird seine literatur-, kultur- und medientheoretische Reichweite noch unterschätzt.“5 Das gilt auch bis auf Weiteres für die Musikwissenschaft.6 Dabei birgt der Paratext großes Potenzial gerade für die graphische Notation und die Neue Musik insgesamt. Frieder Ammon und Herfried Vögel stellen für die Frühe Neuzeit fest, dass ebendiese Zeit im Gegensatz zur Moderne durch eine ausgiebige paratextuelle Praxis charakterisiert war.7 Ob die Musikgeschichte nach 1945 eine ähnliche Epo-

2 Vgl. Heinz von Loesch, „Autor – Werk – Interpret“, in: Die Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Thomas Ertelt und Heinz von Loesch, Kassel/Stuttgart 2019, S. 63–127. 3 Vgl. Hermann Danuser und Matthias Kassel, „Einleitung: Autorschaft zwischen Produktion, Interpretation und Rezeption“, in: Wessen Klänge? Über Autorschaft in Neuer Musik (Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung, 12), hrsg. v. dens., Mainz 2017, S. 9–21, hier S. 10. 4 Karlheinz Stockhausen, „Musik und Graphik“, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 3, Mainz 1960, S. 5–25, hier S. 18. 5 Klaus Kreimeier und Georg Stanitzek, „Vorwort“, in: Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen, hrsg. v. Klaus Kreimeier, Georg Stanitzek und Natalie Binczek, Berlin 2004, S. VII–VIII, hier S. VII. 6 Einzelne Ansätze existieren in folgenden Aufsätzen: Oliver Huck, „Text und Paratext in der frühen Motette“, in: AfMw 74/4 (2017), S. 240–253; Nikolaus Urbanek, „Familienchronik oder Flaschenpost? Text und Paratext in den Skizzen Anton Weberns,“ in: Webern-Philologien, hrsg. v. Thomas Ahrend und Matthias Schmidt, Wien 2016, S. 135–163. 7 Frieder Ammon und Herfried Vögel, „Einleitung“, in: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit: Theorie, Formen, Funktionen, hrsg. v. dens., Münster 2008, S. VII–XXI.

Zur Interpretation von graphischer Notation

che der Paratexte bildete, wäre noch umfassend zu diskutieren. Jedenfalls steht die graphische Notation exemplarisch für eine neue Bedeutung von Paratexten in der Neuen Musik. Ich stelle im Folgenden die Frage nach der Freiheit der Interpret:innen zunächst als eine Frage von Autor:innenschaft und beginne dazu mit einem eng gefassten Paratext-Begriff. Ich betone, dass mir dies als ein erster notwendiger Schritt erscheint, um die Rolle der Interpret:innen konkreter zu fassen, sich darin jedoch nicht erschöpft. Wie man zu den Interpret:innen zurückkommen kann, möchte ich im Anschluss aufzeigen und vorschlagen, dass sie in eine Analyse von paratexuellen Prozessen einbezogen werden können.

1.

Positionierungen von Anestis Logothetis und Roman Haubenstock-Ramati zur Interpretation von graphischer Notation

Im Folgenden wird anhand ausgewählter Aussagen skizziert, wie sich Anestis Logothetis und Roman Haubenstock-Ramati zum Thema Interpretation verhalten und ihre Rolle als Komponisten reflektieren. Diese Aussagen bündeln wichtige Perspektiven für die darauffolgende Analyse der Spielanweisungen. Logothetis schrieb in seinem Aufsatz „Zeichen als Aggregatzustand der Musik“ zur Aufgabe der Interpret:innen: Hier sei nochmals betont, daß diese Art von Aufzeichnung klangcharakterliche Geschehnisse vermitteln soll, aber nicht als Improvisationsstimulans aufzufassen ist. Ich gestalte meine Zeichen klanginformativ und möchte sie als gelesene in Klang umgesetzt wissen.8

Diese Aussage zeigt, dass Logothetis seine Notation entwickelte, damit sie aufgeführt wird. Lesbarkeit hatte oberste Priorität. Dazu entwickelte er ein System, das seit den 1960er Jahren fast all seinen graphischen Notationen zugrunde lag. Dieses bestand aus drei Ebenen: 1. Er entwickelte ein System von Tonhöhensymbolen, womit die Tonhöhe exakt notiert wurde, aber in der Oktavlage frei wählbar blieb. 2. Ergänzend setzte er Aktionssignale ein, die aus den graphischen Elementen Punkt und Linie bestehen und direkt auf einen Resonanzkörper übertragen werden sollen.

8 Anestis Logothetis, Zeichen als Aggregatzustand der Musik, Wien 1974, abgedruckt in: Anestis Logothetis. Klangbild und Bildklang, hrsg. v. Hartmut Krones, Wien 1998, S. 32–75.

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3. Das dritte Elemente bildeten sogenannte Assoziations-Faktoren, welche Lautstärke, Klangfarben und Toncharaktere anzeigen.9 Diese drei Ebenen können nun miteinander kombiniert werden. Das klangliche Resultat bleibt dabei teilweise offen, was Logothetis als Polymorphie bezeichnete: Was echte graphische Notation grundsätzlich von der traditionellen Notenschrift unterscheidet, ist jene eben erwähnte Polymorphie, die ganz bewußt allen Interpreten ermöglicht, ihre subjektiven Reaktionszeiten beizubehalten. Der Komponist bezieht in einem solchen Fall die Divergenzen der Interpreten in sein Kompositionsverfahren ein und erwartet ein gewisses Maß an Überraschungsmomenten durch die Neuformierung der musikalischen Gestalt bei jeder Aufführung.10

Es gibt also eine Offenheit im klanglichen Resultat. Dennoch haben die graphischen Elemente einen hohen Grad an Verbindlichkeit für die Interpret:innen, oder anders gesagt: Logothetis fordert eine Korrespondenz zwischen Notat und Klang ein. Daher überrascht es nicht, dass in der Beschreibung seiner eigenen Rollen Begriffe wie Werk und Urheberschaft fallen: Die Urheberschaft der Aufzeichnungen samt ihrer Freiheitsgrade läßt sich aber allein schon physisch nicht delegieren, höchstens kopieren: nicht so sehr die Urheberschaft als vielmehr ihre Derivate: die schon vorhandene Aufzeichnung bzw. die Konzepte und die Werksidee. Daher ist jener Satz, nach dem das Komponieren an einen Interpreten delegiert wird, irreführend.11

Ebenso deutlich formulierte er seine Erwartungen an eine Interpretation: „Eine gute Interpretation verlangt großes Einfühlungsvermögen in das Wollen des Komponisten und verpflichtet zur Vertiefung in die Inhalte des jeweils vorliegenden Werkes.“12 Diese beiden letzten Aussagen zeigen, dass Logothetis an der Rolle des Komponisten als Autor festhielt. Spielanweisungen waren für ihn von essentieller Bedeutung, um seine Notation zu erläutern und zu vermitteln. Eine gänzlich andere Position vertrat Roman Haubenstock-Ramati. Seine Haltung zur Interpretation ist wesentlich weniger konkret zu fassen, zu allererst, weil 9 Vgl. Logothetis, Zeichen als Aggregatzustand, S. 42–45. 10 Anestis Logothetis, „Über die Darstellung des Klanges im Schriftbild“, Vorwort zu Impulse für Spielmusikgruppen, Wien: Universal Edition 1973, 3–9, hier S. 5. 11 Anestis Logothetis, „Die Geschenke meiner Umgebung anhand der Frage: ‚Was denn nun Musik sei‘“, in: Krones, S. 78–136, hier S. 112. 12 Logothetis, „Über die Darstellung des Klanges im Schriftbild“, S. 6.

Zur Interpretation von graphischer Notation

Tab. 1 Das Verhältnis von graphischer Notation und Aufführung bei Roman Haubenstock-Ramati. Typ

Notendruck/ künstler. Edition Notendruck Notendruck

Zur Aufführung gedacht Ja Ja

Beispiel

Notendruck

Erst nicht, später ja

Decisions

Edition

Erst nicht, später ja

Notendruck

Erst nicht, später ja

6. Notationen ohne Spielanweisungen

---

Erst nicht, später ja

7. Notationen mit Spielanweisungen

---

Ja

Konstellationen La sonnambula (Poetics) The Moon is still blue (Poetics) Act If

1. Notationen mit Spielanweisung 2. Notationen ohne Spielanweisung 3. Notationen mit Spielanweisungen 4. Notationen mit Spielanweisungen 5. Notationen ohne Spielanweisungen

Jeux 2 Alone I

es kaum theoretische Schriften oder Selbstaussagen dazu gibt. Als paradigmatisch für sein Verhältnis zur Interpretation kann die Aussage „Aufführen? Realisieren? Im Zweifel, nie!“ gelten, die in dem von ihm 1980 herausgegebenen Band Musik – Grafik – Pre-Texte wie ein Motto vorangestellt ist.13 Die Aufführbarkeit war keine Voraussetzung für seine graphischen Notationen. In einem Skizzenbuch schrieb er 1977 über die Décisions, dass sie „eine Serie graphischer Blätter, die die [sic] visualisierte Musik-Ideen darstellen“ und versah sie mit dem Zusatz: „Der Autor wünscht nicht, dass sie interpretiert werden.“14 Daher gibt es in seinem Œuvre eine Bandbreite graphischer Notationen mit und ohne Spielanweisungen, gedruckt und ungedruckt, die das komplexe Verhältnis zur Interpretation dokumentieren: Es gibt also eine ganze Reihe von graphischen Notationen, die nicht zur Aufführung gedacht waren, aber später dafür freigegeben wurden. Dabei sind die Anlässe und Gründe jeweils unterschiedlich. Es bleibt noch einmal zu betonen, dass die graphischen Notationen einen Ausschnitt aus Haubenstock-Ramatis Œuvre darstellen. Sein leitendes kompositorisches Prinzip war das Mobile, also eine formale Struktur mit beweglichen Elementen, in welches er auch graphische Notationen integrierte.15 Diese waren immer zur Aufführung gedacht. Während er dem Mobile

13 Roman Haubenstock-Ramati, Musik-Grafik Pre-Texte, Wien 1980, S. 9. 14 Nachlass Roman Haubenstock-Ramati, Skizzenbuch Nr. 8, CH-Bps, o. S. 15 Prägnante Beispiele sind die Kompositionen Liaisons (1958), Mobile for Shakespeare (1958), Jeux 6 (1960), Jeux 4 (1962), Jeux 2 (1964) sowie das 1. Streichquartett (1973), abgedruckt in HaubenstockRamati, Musik-Grafik Pre-Texte, S. 23–31 und S. 39. Vgl. auch Elena Minetti, „Auf der Suche nach einer neuen grafischen Darstellung musikalischer Gedanken. Momente operativer Bildlichkeit in Roman Haubenstock-Ramatis Mobile for Shakespeare“, in: Sicherheit, Risiko, Freiheit. Fragen der

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bis zum Ende seines Lebens treu blieb, verfasste er ab Ende der 1970er Jahre keine graphischen Notationen mehr. Die Spielanweisung nimmt bei Haubenstock-Ramati eine bedeutende Position ein in der Frage, ob eine Interpretation vorgesehen ist oder nicht. Daher möchte ich auf sie nun als Paratext näher eingehen.

2.

Spielanweisungen als Paratexte: Beispiele aus der Himmelsmechanik von Anestis Logothetis und Décisions von Roman Haubenstock-Ramati

Der Begriff des Paratextes wurde von Gerard Genette in den 1980er Jahren entwickelt und seither in den Literatur- und Kulturwissenschaften breit rezipiert. Ein Paratext ist Genette zufolge das „Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“16 Paratexte sind folglich Ergänzungstexte zu einem Kerntext und bestehen aus Titel, Vorworten, Fußnoten, Umschlägen etc. Zu beachten ist, dass Genette vom Buch spricht, also einem gedruckten Text. Er entwarf dabei den Paratext zunächst auktorial, d. h. der Autor steuert über Paratexte die Lektüre. Später löste Genette den Begriff vom Autor, indem mündliche und von anderen Personen eingebrachte Steuerungselemente eingeschlossen wurden. In einem engeren Sinne Genettes bildet der Paratext also ein Format, in dem sich der Autor zum Text positioniert. Analog zu Genette kann die Spielanweisung der gedruckten Partitur als ein Paratext verstanden werden. Sie wird als Erläuterungen der graphischen Notation beigefügt und kann folgende Funktionen übernehmen: Erstens positionieren sich die Komponist:innen darin als Autor:innen. Zweitens formulieren sie darin ihre Haltung zur Interpretation. Eine Spielanweisung kann dabei die Lesbarkeit der graphischen Notation sicherstellen, kann aber auch andere Funktionen erfüllen. Dabei heißt es nicht zwangsläufig: Je mehr Paratext, desto mehr Autor:innenschaft. In graphischer Notation entscheidet der Paratext vielmehr darüber, ob die Notation als Interpretation oder als Bild markiert wird. Sybille Krämer äußert sich in ihrer Diagrammatologie zu diesem Thema, und zwar betont sie die Bedeutung von rahmenden Texten für Diagramme: Diagramme seien nicht selbsterklärend, sondern auf Texte angewiesen. „Die „Bildwerdung“ eines Diagramms steigt mit seinem Unabhängigwerden vom begleitenden Text.“17 Das bedeutet daher drittens, ein/e

(Un-)Sicherheit in der Komposition, Aufführung, Rezeption und Programmierung neuer Musik, hrsg. v. Juri Giannini, Andreas Holzer und Stefan Jena (ANKLAENGE 2019), Wien 2021, S. 109–127. 16 Gérard Genette, Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches, hrsg. v. Harald Weinrich und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 2001, S. 10. 17 Sybille Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin 2016, S. 61.

Zur Interpretation von graphischer Notation

Komponist:in trifft mit der Entscheidung für den Paratext auch die Entscheidung für verschiedene Kontexte und Rezeptionswege seiner Notation. Logothetis entwickelte seine graphische Notation 1959 in der Komposition Struktur – Textur – Spiegel – Spiel. Ein Jahr später verfasste er die Himmelsmechanik,18 die aus sechs Einzelblättern besteht. Sie sind für ein Ballett komponiert und wurden zwischen 1960 und 1965 uraufgeführt. Die Sätze sind mit Parallaxe (vgl. Abb. 1), Zentrifugal – Zentripetal, Polymeron, Expansion – Kontraktion, Population I, Population II und Osculationen überschrieben. Der Titel und die einzelnen Sätze stellen damit eine Referenz auf die Astronomie dar. Die Himmelsmechanik untersucht die Bewegung der Himmelskörper und war das Hauptgebiet der klassischen Astronomie, bevor sich Ende des 19. Jahrhunderts die Astrophysik entwickelte. Die erste Aufgabe der Himmelsmechanik war es, die Bewegung der Planeten und ihrer Satelliten zu errechnen. Bei den Blättern handelt es sich um Fachbegriffe aus der Himmelsmechanik. Eine Parallaxe z. B. bezeichnet eine seitliche Verschiebung von Objekten, wenn man als Betrachter den Blickwinkel verändert. Sie stellt ein Verfahren dar, mit dem die Entfernung von Himmelskörpern bestimmt werden kann. Der Himmelsmechanik liegen zwei einzelne Blätter als Spielanweisung bei. Das erste trägt die Überschrift „Erklärungen zu den Graphischen Notationen von Anestis Logothetis.“19 Es besteht aus drei Spalten, Deutsch, Englisch und Französisch, und beginnt mit der Definition von Zeichen im Sinne der drei genannten Elemente. Im Anschluss erfolgen Angaben zur Registrierung; dann folgt die Gruppierung, dass nämlich die einzelnen Zeichen zu Strukturgruppen zusammengefügt sind und diese jeweils solistisch oder von mehreren interpretiert werden können. Unter dem Punkt „formale Lenkung“ beschreibt Logothetis den Verlauf der Komposition, wofür es drei Möglichkeiten gibt: Entweder man legt eine Reihenfolge der Zeichen fest, oder man fasst die Zeichen in Gruppen zusammen und kombiniert dann die Gruppen, oder die Reihenfolge und zeitliche Dimension sind den Interpret:innen individuell zu überlassen. Danach klärt Logothetis, dass die Instrumentierung frei wählbar ist, und er schließt mit der Bemerkung, dass die Notation nicht zur Improvisation gedacht ist, sondern „klangcharakterliche Geschehnisse vermitteln“ soll.20 Logothetis erklärt damit die wichtigsten Parameter: klangliche Gestaltung der bildlichen Elemente, Dauer, Tonhöhe, formaler Ablauf, Besetzung und Koordination der Instrumente.

18 Anestis Logothetis, Himmelsmechanik (aus sechs Bildern) (1960), München: edition modern 1974, Nachdruck Berlin: Ricordi. 19 Anestis Logothetis, „Erklärungen zu den Graphischen Notationen von Anestis Logothetis“, in: ebd. 20 Ebd.

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Abb. 1 Anestis Logothetis, Parallaxe aus der Himmelsmechanik: abgedruckt in Anestis Logothetis. Klangbild und Bildklang, hrsg. von Hartmut Krones, Wien 1998, S. 50.

Das zweite Blatt der Spielanweisung erläutert die Elemente der Notation noch einmal in der Tiefe, und gibt unten rechts auch ein Beispiel, wie die Kombination der Elemente gelesen werden kann. Folgendes lässt sich zur Funktion dieser Spielanweisung zusammenfassen: Freiräume haben die Interpret:innen zu einem gewissen Grad in der Umsetzung der Zeichen in Klang, auf der Ebene des formalen und zeitlichen Ablaufs sowie in Bezug auf die Instrumentierung. Logothetis lässt mit dieser Spielanweisung aber keinen musikalischen Parameter unkommentiert und damit offen. Die Definition der Freiheitsgrade übernimmt also der Komponist. Freiheit der Interpret:innen und starke Autor:innenschaft sind für Logothetis kein Widerspruch. Logothetis veröffentlichte diese Spielanweisungen in identischer Form auch bei weiteren Werken wie bspw. Dynapolis21 und Labyrinthos.22 Die Notation wird dadurch als System vermittelt, das für fast alle seiner Werke gültig ist, womit er dem Problem der Individualisierung der Notation begegnete. Letztlich zielen seine Spielanweisungen darauf, Interpret:innen zu ermöglichen, die Partitur ohne seine vermittelnde Expertise aufführen zu können. Damit öffnete er die Möglichkeit der Kanonisierung.

21 Anestis Logothetis, Dynapolis, Wien: Universal Edition 1967. 22 Anestis Logothetis, Labyrinthos, Wien: Universal Edition 1967.

Zur Interpretation von graphischer Notation

Abb. 2 Roman Haubenstock-Ramati, Décisions Blatt Nr. 1, in: Roman Haubenstock-Ramati, MusikGrafik Pre-Texte, Wien 1980, S. 54.

Eine Spielanweisung ganz anderer Art veröffentlichte Haubenstock-Ramati zu der Komposition Décisions, die 1959 entstand und 1980 im Ariadne-Verlag gedruckt wurde.23 Décisions umfasst insgesamt 16 Blätter. Die graphischen Elemente bilden auf jeder Seite klare geometrische Formen. Auf dem ersten Blatt (vgl. Abb. 2) kann man Kreise, Rechtecke und Dreiecke in unterschiedlicher Größe und Dichte erkennen. Es gibt außerdem horizontale und vertikale Linien, die die Formen verbinden. Es besteht ein scharfer Kontrast zwischen Schwarz und Weiß. Graustufen gibt es nicht, sondern nur rein schwarze oder weiße Punkte und Flächen. Der Komposition wurde der Text „Musik und die abstrakte Malerei“ beigefügt.24 Er hat den Charakter eines Programmhefttextes. Haubenstock-Ramati liefert darin eine Erläuterung des Graphismus seiner Notation, aber nicht im Sinne einzelner konkreter Formen wie Rechtecke oder Dreiecke, d. h. nicht als Zeichen wie bei Logothetis, sondern der graphischen Elemente allgemein: Punkt, Linie, Fläche.

23 Roman Haubenstock-Ramati, Décisions für unbestimmte Klangquellen, Wien: Ariadne 1980. 24 Vgl. ebd.

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Diese Elemente werden aus der Malerei in die musikalische Notation überführt und auf ihre Bedeutung befragt. Tatsächlich geht es Haubenstock-Ramati darum, seine Notation in die Traditionslinie der abstrakten Malerei zu stellen: Im Bereich der musikalischen Notation ist es durch die ästhetische Verankerung meines graphisch-musikalischen Werkes in der abstrakten bildenden Kunst dort zu der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen beiden Künsten – Musik und Malerei – gekommen, wo sie einander begegnen oder begegnen sollten.25

Er betont den Unterschied zwischen Malerei und Musik, der ihm zufolge im Element der Zeit liegt: Die zweidimensionale Fläche eines abstrakten Bildes, durch das neue, strukturierende Element beeinflußt, durch eine neue, zeitgebundene Dimension erweitert, wird nun zur dreidimensionalen Bühne eines zeit-räumlichen, klanglich-visuellen Geschehens. Die Blätter können also sowohl ‚auf einen Blick‘ betrachtet werden (wie jedes abstrakte Bild) als auch durch das Auge langsam, musikalisch ‚abgetastet‘.26

Anschließend beschreibt er Möglichkeiten, wie Punkt, Linie und Fläche musikalisch umgesetzt werden können, zum Beispiel der Punkt: Die Begegnung mit verschiedenen PUNKT-artigen Zeichen (Kreisen, Ovalen, drei-, vierund mehr-eckigen Formen, Kreuzen, kurzen horizontalen oder vertikalen Strichen etc.), die zugleich eine Begegnung mit einzelnen Klangereignissen bedeutet, wirft vor allem die Frage der relativen Tonhöhen, ihrer Dynamik und Artikulation auf. Einige dieser Zeichen wurden schon früher – in der üblich notierten Musik – mit einer ‚konkreten‘ Bedeutung ausgestattet. Sie werden hier ihre bisherige Bedeutung womöglich behalten. Die Bedeutung der neuen, bisher nicht verwendeten Zeichen wird entweder vom Komponisten angegeben, oder die Entscheidung wird dem Interpreten (dem Beschauer) überlassen.27

Haubenstock-Ramati überlässt die Auswahl der Deutung der Zeichen damit den Interpret:innen, die dabei auf bereits bekannte Bedeutungen zurückgreifen können. Dass er außerdem den Komponisten erwähnt, der die Zeichen näher definieren kann, macht deutlich, dass es sich bei diesem Text eigentlich nicht um eine Spielanweisung im Sinne einer konkreten Handlungsanweisung für diese spezifische Komposition handelt. Es geht aus dem Text tatsächlich kein direkter Bezug auf

25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd.

Zur Interpretation von graphischer Notation

Decisions hervor. Er ist mit 1971 datiert, die Komposition war aber schon 1959/60 entstanden. Er wurde wiederum der gedruckten Partitur 1980 beigefügt und ist ebenfalls in dem Buch Musik – Grafik – Pre-Texte abgedruckt.28 Der Paratext hat hier also eine andere Funktion als bei Logothetis: Er weist über die Frage hinaus, wie eine konkrete Umsetzung der Notation in Klang erfolgen kann. Vielmehr bildet er eine notationstheoretische Positionierung mit dem Ziel der Verankerung in einem intermedialen Diskurs um die Bedeutung der Elemente Punkt, Linie und Fläche, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv geführt wurde.29 Durch die Ergänzung dieses Textes zur Partitur entschied Haubenstock-Ramati jedoch, dass es sich bei Décisions nicht um abstrakte Zeichnungen, sondern um Notation handeln sollte. Er kommunizierte damit bewusst die graphische Notation als Notation.

3.

Paratextualisierungen

In den genannten Beispielen wurde deutlich, dass die Spielanweisungen im Sinne von Paratexten als Steuerungsinstrument des Komponierenden eingesetzt wurden, um die Frage der Autor:innenschaft zu klären, die Rolle der Interpret:innen zu definieren und Entscheidungen über Rezeptionsprozesse zu treffen. Diese Funktion bleibt freilich nicht auf Spielanweisungen beschränkt, sondern manifestiert sich auch im Umfeld der Partitur wie z. B. in Programmheften, die von Komponist:innen verfasst wurden. Diese externen Paratexte bezog auch Genette mit ein und bezeichnete sie als Epitexte.30 Die Spielanweisungen von Logothetis und HaubenstockRamati sind Beispiele dafür, dass der Komponist die erste Deutungsinstanz der Notation ist, aber bei Weitem nicht die einzige bleibt. Auch Interpret:innen können Paratexte verfassen. Im Nachlass Haubenstock-Ramatis sind Spielanweisungen ganz unterschiedlicher Art enthalten zu Partituren, die später ohne Spielanweisungen gedruckt wurden. Teilweise befinden sie sich handschriftlich in der Korrespondenz und stammen von Haubenstock-Ramati selbst, womit er der Aufforderung von Interpret:innen nachkam, die Notation für eine Uraufführung zu erläutern. Zur Komposition Décisions existiert außerdem eine Spielanweisung des Schlagzeugers und Komponisten Robert Moran, der sie 1964 in San Francisco aufführte. Diese Spielanweisung sollte sogar einer gedruckten Version der Komposition beigefügt

28 Haubenstock-Ramati, Musik-Grafik Pre-Texte, S. 49–51. 29 Zentrale Stimme in diesem Diskurs war Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche (BauhausBücher, 9), München 1926. Vgl. dazu das Kapitel „Kunsttheorie und -geschichte“ von Wolfram Pichler und Sabine Mainberger, in: Linienwissen und Liniendenken, hrsg. v. Sabine Mainberger und Esther Ramharter, Berlin 2017, S. 283 ff.; vgl. außerdem Stephanie Probst, Sounding Lines: New Approaches to Melody in 1920s Musical Thought, Diss. Harvard University 2018, Druck in Vorb. 30 Genette, S. 12.

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Gesa Finke

werden.31 Dies ist ein prägnantes Beispiel dafür, dass Paratextualisierung auch von Interpret:innen ausgehen kann. Robert Moran schrieb außerdem folgenden Satz an Haubenstock-Ramati: „As you wished, I have shown no person the score, and have not discussed it with persons, other than to say that it is a work using graphic notation.“32 Während Logothetis nach der Maxime handelte, je klarer der Paratext, desto besser, zeigt dieser Satz Robert Morans, dass Haubenstock-Ramati ein ambivalentes Verhältnis zu Paratexten allgemein hatte. Seine Devise lautete eher: Je weniger Paratext, desto besser. Genau dadurch eröffnete er jedoch die Möglichkeit für Paratextualisierungen von Seiten der Interpret:innen. Die unterschiedlichen Facetten dieser Spielanweisungen herauszuarbeiten kann mit Hilfe eines erweiterten Paratext-Begriffs erfolgen. Paratextualisierung ließe sich dann als diskursive Praktik verschiedener Akteur:innen verstehen: „Paratexte organisieren die Kommunikation von Texten überhaupt.“33 Dazu gibt es Ansätze in der Kunstwissenschaft, wie etwa der 2018 erschienene Sammelband Paratexte: zwischen Produktion, Vermittlung und Rezeption.34 Die Herausgeberinnen Lucie Kolb, Barbara Presig und Judith Welter sehen in einem weiten Paratextbegriff die Chance, dem offenen Werkbegriff nach 1945 gerecht zu werden: Das heißt, ein Werk besteht nicht unter gleichbleibenden Bedingungen in einem spezifischen Kontext. Vielmehr entstehen diese in ihrer Form nicht fixierten künstlerischen Praktiken in kontinuierlichen Aushandlungsprozessen durch verschiedene Akteure in wechselnden Kontexten. Der jeweils geltende, diskursiv bestimmte Kontext hat eine Bedeutungsverschiebung zur Folge. Indem mehrere solche Kontexte parallel gebildet werden, bleibt die Form des Werks tendenziell offen.35

Damit kann eben eine Vielzahl an Akteur:innen und deren Beziehungsstrukturen erforscht werden.36 Außerdem rückt damit die Vermittlung von Kunstwerken in den Fokus mit der Frage, an wen sie sich richten, und für wen sie in welchem Kontext sichtbar oder lesbar gemacht werden.37 Dieser letzte Aspekt erscheint mir besonders relevant für graphische Notationen, weil die Komponist:innen als

31 Robert Moran an Roman Haubenstock-Ramati, Brief vom 3. Mai 1964, Nachlass Roman Haubenstock-Ramati, CH-Bps. 32 Ebd. 33 Kreimeier/Stanitzek, S. VII. 34 Paratexte: zwischen Produktion, Vermittlung und Rezeption, hrsg. v. Lucie Kolb, Barbara Presig und Judith Welter, Zürich 2018. 35 Lucie Kolb, Barbara Presig und Judith Welter, „Dynamiken des Werks?“, in: ebd., S. 7–15, hier S. 9. 36 Ebd., S. 11. 37 Ebd.

Zur Interpretation von graphischer Notation

Instanz der Paratextualisierung irgendwann nicht mehr da sind, sie aber trotzdem auf Vermittlung angewiesen bleiben.

4.

Fazit

Als Paratext übernimmt die Spielanweisung für Komponist:innen die Funktion, ein Modell von Autor:innenschaft zu entwerfen, die Rolle der Interpret:innen zu definieren sowie die Rezeptionswege der Notation zu steuern. In der Spielanweisung zur Himmelsmechanik lässt Logothetis den Interpret:innen zwar Freiräume, legt den Grad mit jedem einzelnen Parameter jedoch genau fest. Außerdem betont er, dass seine Notation eine hohe Verbindlichkeit besitze. Seine Notation ist von Systematik und Präzision geprägt, was sich auch in der Spielanweisung widerspiegelt. Logothetis hatte das Ziel, die Notation von seiner eigenen vermittelnden Expertise zu lösen. Die Spielanweisung zu Décisions von Haubenstock-Ramati erfüllt eine gänzlich andere Funktion und geht über eine spezifische Handlungsanweisung bzw. Zeichenerläuterung im Sinne von Logothetis hinaus. Haubenstock-Ramati erörtert in dem der Partitur beigefügten Text „Musik und die abstrakte Malerei“ die Bedeutung der Elemente von Punkt, Linie und Fläche und orientiert sich dabei am Paradigma der Abstraktion, das für die Nachkriegsavantgarde von zentraler Bedeutung war. Beide Beispiele zeigen, dass die Komponisten an einer Vorstellung als Autoren festhalten. Dennoch müssen Paratexte nicht auf sie beschränkt bleiben. Ein weiter Paratextbegriff kann Interpret:innen mit einschließen und macht möglich zu beschreiben, wie Akteur:innen jenseits des Komponierenden graphische Notation deuten und vermitteln.

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Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

Am 22. Februar 1968 leitete die Komponistin und Pionierin der elektroakustischen Musik Daphne Oram (1925–2003) die BBC-Radiosendung Pictures in Sounds1 , die sich speziell an Schüler:innen richtete. Nach der musikalischen Einleitung von Dripsody von Hugh Le Caine bat Oram die jungen Zuhörer:innen, sich Klänge vorzustellen, sie zu beschreiben und dann zu versuchen, sie mittels in der Schule vorhandener Generatoren und Tonbänder zu erzeugen und aufzunehmen. Die Schüler:innen wurden von der Komponistin nach und nach in den operativen Praktiken der Entwicklung ihres eigenen Werkes angeleitet und ermutigt, die Abfolge von Tonhöhen bzw. den Verlauf der Lautstärke ihrer Komposition auf dem Papier durch Linien nachzuzeichnen. Bereits in dieser didaktischen Einführung ins Komponieren mit elektronischen Klängen tauchen zwei zentrale Komponenten der kompositorischen Praxis Orams auf: einerseits die auditive Komponente beim Experimentieren mit elektronischen Klängen und andererseits die visuelle Komponente bei der Niederschrift musikalischer Darstellungsformen. Mit der Untersuchung ausgewählter Archivmaterialien der „Daphne Oram Collection“ der Goldsmiths University London soll der Fokus dieses Beitrags auf Wechselbeziehungen zwischen akustischen Phänomenen und Schriftformen, die von der Komponistin mit verschiedenen Intentionen und Realisationstechniken entwickelt wurden, gelenkt werden. Ziel ist es hierbei, einige Überlegungen darüber anzustellen, wie diese Quellen im Lichte aktueller methodologischer Perspektiven analysiert werden können.2

1 Pictures in Sounds ist der von Daphne Oram im Typoskript erwähnte Titel, allerdings lautete die offizielle Bezeichnung der Radiosendung Electronic Pictures in Sounds. Vgl. Programme 1 typed Tape List and Script in Daphne Oram Collection. Goldsmiths Special Collections & Archives, London (Signatur: ORAM/8/8/005). 2 Dieser Beitrag wurde während des Forschungsaufenthalts an der Special Collections & Archives der Goldsmiths University in London im Sommer 2021 konzipiert, der im Rahmen des MariettaBlau-Stipendiums für die Fertigstellung meiner Dissertation geplanten wurde. Ich möchte mich bei Lesley Ruthven und Jessa Mockridge für die Bereitstellung der in der „Daphne Oram Collection“ aufbewahrten Dokumente sowie bei den Kolleg:innen des Forschungsprojekts Writing Music. Iconic, performative, operative, and material aspects in musical notation(s), in deren Rahmen ich meine Dissertation schreibe, für zahlreiche Denkanstöße herzlich bedanken.

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1.

Theoretisch-methodologische Vorüberlegungen

Zentral bei der Auseinandersetzung mit kompositorischen Materialien ist die Frage, wie und mit welchem Ziel diese methodisch angemessen untersucht werden können. Als besonders relevant für die vorliegende Untersuchung der kompositorischen ‚Werkstattdokumente‘ Orams erwies sich die „genetische Textkritik“, eine von Bernhard R. Appel entwickelte philologische Perspektive,3 die wiederum auf der aus Frankreich stammenden literaturwissenschaftlichen critique génétique gründet. Diese beschäftigt sich der Romanistin Almuth Grésillon folgend mit der „Rekonstruktion und Interpretation künstlerischer Schaffensprozesse anhand von materiell existierenden Zeugen ihrer Entstehung.“4 Im Fokus dieses Forschungsgebietes steht somit nicht das Werk in seiner endgültigen Form, sondern der Entstehungsprozess mit seinem oft „nicht geradlinig-linear[en], jedoch teilweise sprunghaft[en], chaotisch[en], unvorhersehbar[en]“5 Verlauf. Mit einem ähnlichen Impetus versucht auch die musikalische Skizzenforschung6 neue musikanalytische Wege zu eröffnen, indem die Forscher:innen ihr Augenmerk nicht nur auf biographische oder editorische Ziele richten, sondern sich verstärkt dem Schaffensprozess als genuinem Forschungsthema widmen. Im Zentrum dieser sogenannten „genetischen Textkritik kompositorischer Prozesse“ steht die Untersuchung der Spuren der Werkentwicklung in einer fast archäologischen Annäherung.7 Dieses Kartographieren der vielschichtigen Dynamiken einer Werkentwicklung erlaubt es, jede Kompositionsschicht, jede Textstufe, oder – auf einer Mikroebene – jede in sich geschlossene Skizze als ‚Zeugnis‘ eines bestimmten Moments des kompositorischen Prozesses zu betrachten und zu analysieren. Handschriftliche Dokumente kompositorischer Arbeiten sind allerdings nicht nur Spuren eines kreativen Prozesses, sondern ebenso genuin visuell wahrnehmbare und analysierbare Objekte. Die Dauerhaftigkeit der musikalischen Schrift

3 Vgl. Bernhard R. Appel, „Sechs Thesen zur genetischen Kritik kompositorischer Prozesse“, Musiktheorie 20, Nr. 2 (2005), S. 112–22; und Bernhard R. Appel, Vom Einfall zum Werk: Robert Schumanns Schaffensweise, Schumann-Forschungen 13, Mainz 2010. 4 Almuth Grésillon, „Critique génétique und génétique musicale“ (Genetische Textkritik im Bereich Musik, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, 2015), https://beethovens-werkstatt.de/prototyp/expertenkolloquium/critique-genetique-und-genetique-musicale/ (letzter Zugriff: 25.09.2021). 5 Grésillon, „Critique génétique und génétique musicale“. 6 Zur Geschichte der musikalischen Skizzenforschung vgl. Georg Feder, Musikphilologie: Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Die Musikwissenschaft, Darmstadt 1987; Thomas Whelan, „Towards a History and Theory of Sketch Studies“, Waltham, Mass., Brandeis University UMI, 1990; und Patricia Hall und Friedemann Sallis (Hrsg.), A handbook to twentieth-century musical sketches, Cambridge 2004. 7 Appel, „Sechs Thesen zur genetischen Kritik kompositorischer Prozesse“, S. 114.

Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

ermöglicht es hierbei, das ephemere und flüchtige Phänomen des Klanges in einer Umwandlung als sichtbare Inskription auf einer zweidimensionalen Fläche zu beobachten. Darüber hinaus wohnt den unterschiedlichen musikalischen Notationstypen eine eigene „visuelle Logik“8 (Matteo Nanni) inne, die „in der Fähigkeit [liegt,] musikalische Informationen notational darzustellen, und zwar in der spezifisch diagrammatischen Konfiguration von Schrift, Notation und Grafik“.9 Die Darstellung des „ikonische[n] Abdruck[s] eines zeitlich-klanglichen Phänomens“10 manifestiert sich hierbei in visuellen Konfigurationen, die einen spezifischen methodischen Ansatz in der musikwissenschaftlichen Skizzenforschung erfordern.11 Wie Nikolaus Urbanek in seinem Vortrag Musik schreiben – Musik lesen. Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Schrift im Rahmen der Ringvorlesung Musik im Blick. Auditive und visuelle Kulturen im Wintersemester 2019/20 an der Hochschule für Musik und Tanz Köln betonte, sind musikalische Notationen („musical notation“) jedoch nicht nur als „visual analogue of musical sound“12 (Grove) zu verstehen.13 Urbanek zufolge sei es adäquater, die musikalische Schrift als ein „Medium eigenen Rechts“14 zu betrachten und nicht lediglich als referen-

8 Nanni, „Das Bildliche der Musik: Gedanken zum iconic turn“, S. 407. 9 Matteo Nanni, „Musikalische Diagrammatik. Eine karolingische Vision“, in: Von der Oralität zum SchriftBild: Visuelle Kultur und musikalische Notation (9.–13. Jahrhundert), hg. von Matteo Nanni und Kira Henkel, Paderborn 2020, S. 76. 10 Ebd. (Kursivierung im Original). 11 In den letzten Jahren wurden einschlägige methodologische und theoretische Beiträge zu den schriftbildlichen Aspekten der musikalischen Schriftformen veröffentlicht: vgl. u. a. Fabian Czolbe, Schriftbildliche Skizzenforschung zu Musik: Ein Methodendiskurs anhand Henri Pousseurs Système des paraboles: Univ., Diss. Würzburg, 2011, Berlin 2014, insbesondere das Kapitel Schriftbildliche Skizzenforschung: Ein methodischer Entwurf, S. 77–88; Matteo Nanni, „Das Bildliche der Musik: Gedanken zum iconic turn“, in: Historische Musikwissenschaft, hg. von Michele Calella und Nikolaus Urbanek, Stuttgart 2013, S. 402–428; Matteo Nanni, „Musik als Bildkritik – Gespräch zwischen Gottfried Boehm, Helmut Lachenmann und Matteo Nanni“, in Helmut Lachenmann: Musik mit Bildern?, hg. von Matteo Nanni und Matthias Schmidt, München/Paderborn 2012), S. 237–269. Für einen Fokus auf die graphische Notation, vgl. Gesa Finke, „Partituren zum Lesen und Schauen. Bildlichkeit als Merkmal graphischer Notation“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 16/1 (2019), S. 21–39 und David Magnus, Aurale Latenz: Wahrnehmbarkeit und Operativität in der bildlichen Notationsästhetik von Earle Brown, Berlin 2016. 12 Ian D. Bent u. a., „Notation“, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Sadie Stanley und John Tyrell, London 2002, Vgl. „[Notation is a] visual analogue of musical sound, either as a record of sound heard or imagined or as a set of visual instructions for performers. Broadly speaking, there are two motivations behind the use of notation: the need for a memory aid and the need to communicate.“ 13 Vgl. Nikolaus Urbanek, „Musik schreiben – Musik lesen. Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Schrift“ (Köln: Ringvorlesung „Musik im Blick. Auditive und visuelle Kulturen“, 4. Dezember 2019). 14 Urbanek. 2019.

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zielles Zeichensystem. Basierend auf dem von der Philosophin Sybille Krämer vorgeschlagenen Perspektivenwechsels,15 sei die musikalische Schrift nicht nur ein Speichermedium, Erinnerungshilfe und Kommunikationsobjekt, sondern ebenso ein Werkzeug des Komponierens, das „der kreativen Herstellung musikalischer Klangereignisse [diene]“16 . Im Gegensatz zum sogenannten „phonographischen Dogma“17 , nach dem die Schrift lediglich aufgeschriebene Sprache sei, plädiert Krämer für einen „lautsprachneutralen Zugriff auf Schrift- und Notationsphänomene“18 . In diesem Sinn schlägt sie mit dem Begriff der ‚Schriftbildlichkeit‘ ein erweitertes Verständnis von Schrift vor, das die verschiedenen „Formen der Inskription wie etwa Zahlenschriften, logische Schriften, naturwissenschaftliche Formeln, Programmierschriften, Musiknotationen und Choreographien einschließt“.19 Eine solche integrative Konzeption des Schriftbegriffs führt nicht nur zu einer Erweiterung des lautsprachlichen Verständnisses von Schrift als sensus communis fixierter Sprache, sondern auch zu einer Aufhebung der Grenzen zwischen Bild und Sprache.20 Das Wort ‚Schriftbildlichkeit‘21 betont tatsächlich den hybriden Charakter zwischen Bildlichem und Sprachlichem,22 dessen Potenzial „das Vermögen seiner

15 Vgl. Sybille Krämer, „‚Operationsraum Schrift‘: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift“, in: Schrift, hg. von Gernot Grube, Werner Kogge, und Sybille Krämer, Reihe Kulturtechnik, München/Paderborn 2005, S. 23–57. 16 Urbanek, „Musik schreiben – Musik lesen. Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Schrift“.2019. 17 Sybille Krämer, „Schrift, Schriftbildlichkeit, Musik“, in Musik und Schrift: interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen, hg. von Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek und Sophie Zehetmayer, Paderborn 2020, S. 67. 18 Fabian Czolbe und David Magnus (Hrsg.), Notationen in kreativen Prozessen, Würzburg 2015, S. 8. 19 Sybille Krämer, „13. Schriftbildlichkeit“, in: Bild: Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Stephan Günzel und Dieter Mersch, Stuttgart 2014, S. 354. 20 Mark A. Hawala, „Schriftbildlichkeit: ein Begriff und seine Herausforderungen“, in: Schwerpunkt Schriftbildlichkeit, hrsg. v. Sybille Krämer und Mareike Giertler, Bd. 42, München/Paderborn 2011, S. 5. „Das Konzept der Schriftbildlichkeit [unterläuft] die Rigidität etablierter Grenzziehungen zwischen Bild und Sprache, Ikonizität und Diskursivität bzw. Aisthesis und Semiosis“. 21 Vgl. Sybille Krämer, „‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift“, in: Bild, Schrift, Zahl, hrsg. v. Sybille Krämer und Horst Bredekamp, Reihe Kulturtechnik, München/ Paderborn 2003, S. 157–76. Die Reflexionen über die materiellen, wahrnehmbaren und operativen Aspekte von Schriften wurden durch die interdisziplinären Forschergruppe an der Freien Universität Berlin Bild, Schrift, Zahl angeregt und innerhalb des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkolleg Schriftbildlichkeit: Über Materialität, Wahrnehmbarkeit und Operativität von Notationen (2008/2009) weiterentwickelt. Vgl. Sybille Krämer und Horst Bredekamp (Hrsg.), Bild, Schrift, Zahl, Reihe Kulturtechnik, München/Paderborn 2003; vgl. auch Sybille Krämer, Eva Christiane Cancik-Kirschbaum, und Rainer Totzke (Hrsg.), Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Schriftbildlichkeit 1, Berlin 2012. 22 Vgl. auch Sybille Krämer, „Sagen und Zeigen: Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren“, in: Zeitschrift für Germanistik 13, Nr. 3 (2003), S. 509–19.

Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

Einzelkomponenten überschreitet. Schriften eröffnen also etwas, das wir weder mit Sprachen noch mit Bildern leisten [können]; das, was sie eröffnen, ist ein Operationsraum“23 – d. h. ein Raum, in dem sich mittels der Schrift kreative, explorative und operative Handlungen manifestieren (oder darstellen lassen). Im Lichte dieser theoretischen Vorüberlegungen wurde die Auseinandersetzung an die Archivdokumente von den folgenden methodischen Arbeitsschritten geleitet: die Beschreibung der besonderen bildlichen, graphischen und diagrammatischen Eigenschaften der Schrift; die Kontextualisierung des Dokuments im jeweiligen kompositorischen Prozess und ihre Auswertung im Hinblick auf eine spezifische Forschungsfrage, die darauf abzielt, das Verhältnis zwischen der musikalischen Schrift mit ihren inhärenten visuellen Eigenschaften und dem auditiven Phänomen zu untersuchen. Die Antworten auf diese Fragestellung führten zur Identifizierung von drei Typen des Schreibens, die hier exemplarisch anhand dreier ausgewählter Archivdokumente veranschaulicht werden sollen.

2.

Schrift als Aufführungsanleitung

Still Point for double Orchestra and five microphones – eine der ersten Kompositionen, die Live-Elektronik mit instrumentalen Klängen kombinierte – bietet ein aufschlussreiches Beispiel, um den Weg von einer anfänglich akustischen Erfahrung der Komponistin über die musikalische Schrift zur Aufführung zu beleuchten. Während des Zweiten Weltkriegs, arbeitete Oram als Programmingenieurin in der Royal Albert Hall in London. Ihre Aufgabe war es, die Radioübertragung von Live-Konzerten zu überwachen. Wenn die Konzerte durch Luftangriffe gestört wurden, war sie dafür verantwortlich die Live-Übertragung abzubrechen und durch Schallplatten-Aufzeichnungen der jeweiligen Konzerte zu ersetzen.24 Ausgehend von dieser prägenden Arbeits- und Hörerfahrung begann Oram, das Werk Still Point mit sowohl live gespielten als auch voraufgezeichneten Orchesterklängen zu konzipieren. Darüber hinaus leitete sie aus der oben beschriebenen

23 Krämer, „‚Operationsraum Schrift‘: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift“, S. 31–32 (Kursivierung im Original). 24 Vgl. James Bulley, „BBC Proms Profile: Still Point. Pioneers of Sound“ 2018, Nr. 13 (23. Juli 2018), https://www.bbc.co.uk/events/ebzcd4 (letzter Zugriff: 25.09.2022). Graham Wrench berichtete: „Daphne’s job involved more than just setting the levels. […] She had a stack of records, and the printed scores of whatever pieces the orchestra was due to play. If anything went wrong in the auditorium she was expected to switch over seamlessly from the live orchestra to exactly the right part of the record!“ Vgl. Steve Marshall, „Graham Wrench: The Story Of Daphne Oram’s Optical Synthesizer“, Sound on Sound, Februar 2009, https://www.soundonsound.com/people/grahamwrench-story-daphne-orams-optical-synthesizer (letzter Zugriff: 25.09.2022).

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beruflichen Erfahrung eine weitere akustische Idee ab: Da sich die eingespielten Ersatz-Aufnahmen der Konzerte der Royal Albert Hall aufgrund der halligen Akustik des Konzertsaals klanglich stark von den Originalkonzerten absetzten, stellte sie sich vor, das Werk von zwei Orchestern mit unterschiedlichen Akustiken aufführen zu lassen: „Orchester A“ spielte in einer halligen und feuchten Akustik mit viel Echo und „Orchester B“ wurde in Schalldämpfungselemente gehüllt, um eine trockene Akustik zu erzeugen.25 Auf der unten abgebildeten ersten Manuskriptseite (siehe Abb. 1) des Werkes, das Oram mit dem Pseudonym ‚Jon [sic] Doe‘ signierte bzw. anonymisierte,26 ist zu erkennen, dass die Komponistin die Instrumentengruppe A mit einer roten, Gruppe B mit einer blauen Klammer kennzeichnete.27 Die fünf Mikrofone, im Manuskript erfasst mit „Mics.“ 1 bis 5 wurden nach Orams Anweisungen mit einem Lautstärkeregler ausgestattet und über eine Echokammer mit einem Echolautstärkeregler verbunden. Die grünen Crescendo-Zeichen geben an, dass eine ansteigende Lautstärke erzeugt werden soll, die gestrichelten Crescendo-Zeichen wiederum stehen für ein ansteigendes Echo.28 Die traditionelle westliche Musiknotation im Fünf-Linien-System wird hierbei mit den Angaben für die beiden Orchesterbesetzungen sowie Mikrofoneinstellungen graphisch verbunden. Auf dem Notenbild materialisiert sich somit eine präskriptive Schrift für die Aufführung, die den Musiker:innen traditionell standardisierte Informationen zur Performance sowie minimale Hinweise für die elektroakustische Verwirklichung in Form von Crescendo- und Diminuendo-Zeichen gibt.

25 Oram schrieb in das Manuskript der Endfassung der Partitur: „For performance of this work a large studio is needed in which distant and close microphone technique can be employed. Orchestra A should be in a reverberant acoustic; while Orchestra B is almost enclosed in absorbent screens, thus reducing the reverberation as much as possible without marring the tone quality. (Soft screens with wooden backs should be used between the orchestras.)“. 26 Die Namen John oder Jane Doe werden noch heute im Juristenjargon verwendet, wenn der wahre Name einer Person unbekannt ist oder absichtlich geheim gehalten werden soll. Es ist nicht klar, warum Daphne Oram das Werk nicht mit ihrem Namen signiert hat. Wahrscheinlich, um ihre Identität für den Prix Italia Radiowettbewerb zu verschleiern. 27 Bei der Uraufführung wurden die beiden Orchester (A und B) jeweils mit roten oder blauen Lichtstrahlen beleuchtet, sodass das Publikum leicht erkennen konnte, welches der beiden Orchester gerade spielte. Siehe Daphne Oram: „Still Point“ – excerpt (Prom 13): https://www.bbc.co.uk/programmes/p06g8d0f (letzter Zugriff: 06.10.2021). 28 Oram schrieb in das Manuskript der Endfassung der Partitur: „Each microphone should have a volume control and should also be connected through an echo chamber and back to an echo volume control. It is suggested that another studio with suitable orchestral acoustic should be employed as the echo chamber. Included in the score are instructions for mixing the microphones and for the use of echo. The hairpin mark (in green) below the staves indicates increase or decrease in volume of a microphone (which is numbered according to the plan). Likewise a dotted ‘hairpin’ shows increase of echo.“

Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

Abb. 1 Faksimile der Takte 1–15 aus dem Manuskript von Orams Still Point. Goldsmiths Special Collections & Archives, London. © The Daphne Oram Trust. Courtesy of the Daphne Oram Trust with thanks to the family of Hugh Davies.

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1950 schlug Oram Still Point der BBC für den Prix Italia29 vor, was jedoch von der BBC abgelehnt wurde. In ihrem Tagebuch schrieb Oram hierzu: „Comment over the telephone that Still Point could only be judged as a straight score. So apparently adjudicators didn’t understand the acoustic variants of the manipulated pre-recording techniques.“30 Die akustischen Variationen der manipulierten Pre-Recording-Techniken, die sich auch in der nicht ganz traditionellen, den Jurymitgliedern übermittelten Partitur widerspiegeln, erschwerten die Rezeption dieser Pionierarbeit. Hiernach galt Orams Manuskript viele Jahre lang als verschollen. Erst im Frühling 2018 wurde es von James Bulley wiederentdeckt und bei den BBC Proms 2018 in der Royal Albert Hall, in der Oram ihre ersten kompositorischen Einfälle für dieses Stück entwickelte, uraufgeführt.

3.

Schrift als deskriptive Begleitung einer Performance

1965 konzipierte Oram Episode Metallic als musikalische Begleitung einer kinetischen Skulptur – eine Art Wasserspeier mit kleinen farbigen Scheinwerfern – des bildenden Künstlers Andrew Bobrowski im Mullard House, dem prestigeträchtigen Londoner Showroom der britischen Firma für elektronische Bauteile Mullards.31 Für dieses fünfminütige Werk für Tonband mit Lichtsteuerung schrieb sie einen graphic guide, in dem sie die aufgenommenen klanglichen Ereignisse in Kombination mit farbigen Lichtstrahlen graphisch darstellte. Für welchen Anlass diese Partitur geschrieben wurde, lässt sich nicht feststellen. Sie könnte von der Komponistin vorbereitet worden sein, um die Performance mit Bobrowskis beweglicher Skulptur zu koordinieren oder sie könnte für eine Präsentation oder eine Analyse geschrieben worden sein. Allerdings lässt die Angabe „copyright“ in der rechten

29 Der Prix Italia Radiowettbewerb wurde im Jahr 1948 in Capri gegründet. 30 Daphne Oram zit. in Tom Howells, „How Daphne Oram’s radical turntable experiments were brought to life after 70 years“, Magazine, Fact (blog), 13. Juli 2016, https://www.factmag.com/2016/07/13/ daphne-oram-still-point-turntables-orchestra-performance/ (letzter Zugriff: 25.09.2022). 31 Graham Wrench, der Ingenieur, der Oram auch bei Episode Metallic half, erinnert sich wie folgt: „The sculpture itself was a kind of vertical gargoyle splattered with small coloured spotlights shining outwards, and the background was illuminated with coloured fluorescent tubes. It was on a plinth that rotated, and all the lights were meant to continually change colour. Daphne had already recorded the music, so we went along to see the sculpture and to figure out how to install the sound. Their setup was very crude; the lights were controlled by two banks of 25 way GPO uniselector switches that had come out of an old telephone exchange! They were meant to be pulse controlled from Daphne’s tape, which was in stereo.“ Vgl. Marshall, „Graham Wrench: The Story Of Daphne Oram’s Optical Synthesizer“ (letzter Zugriff: 26.09.2021).

Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

unteren Ecke der ersten Seite des Manuskripts vermuten, dass diese Partitur (auch) aus urheberrechtlichen Gründen geschrieben wurde. Der „graphische Leitfaden“, der das Hören der Performance begleiten bzw. leiten soll, wird durch eine intermediale Übersetzung eines akustischen und visuellen Phänomens – das durch die Verbindung der Klänge des Tonbands mit den farbigen Lichtstrahlen entsteht – in ein rein graphisches Verlaufsdiagramm realisiert. Verwendet man die von Charles Seegers entwickelten Kategorien prescriptive und descriptive,32 so erfüllt der hier betrachtete graphic guide eine deskriptive Funktion, bei der einige Momente der Performance mit notationalen Mitteln festgehalten wurden. Wie aus der ersten Seite des Manuskripts zu entnehmen ist (siehe Abb. 2), ist der Schreibraum auf dem Millimeterpapier in den Koordinaten eines Diagramms eingetragen, in dem der Zeitablauf horizontal am oberen Rand der Seite mit Sekundenangaben (von 1 bis 30) angegeben ist, wobei eine Sekunde visuell einem Zentimeter auf dem Papier entspricht. Außerdem sind im unteren Teil von 1 bis 5 (der insgesamt 50) nummerierte Abschnitte unterschiedlicher Dauer zu sehen. Vertikal wird hingegen angezeigt, aus welchen Quellen die musikalischen sowie die visuellen Ereignisse stammen: Von oben sind die Stimme der zwei Tonspuren (Sound Tracks 1 und 2) markiert und darunter die Lichtstrahlen, die wiederum in Pillar Colour R, B und Y (für red, blue und yellow) und Background Colour (für red, blue und green), wahrscheinlich unter Bezugnahme auf die Position der Lichtprojektoren innerhalb der Installation, unterteilt sind. Der graphic guide ist also ein Werkzeug zur Visualisierung des Zusammenspiels der Lichtstrahlen und auditiven Ereignisse mittels graphischer Figuren auf Papier.33

32 Vgl. Charles Seeger, „Prescriptive and Descriptive Music-Writing“, in: The Musical Quarterly 44, Nr. 2 (1958), S. 184–95. Seeger definiert den Unterschied zwischen den präskriptiven und deskriptiven Verwendungen der musikalischen Schrift auf Seite 184 seines Textes wie folgt: „distinguish between prescriptive and descriptive uses of music-writing, which is to say, between a blue-print of how a specific piece of music shall be made to sound and a report of how a specific performance of it actually did sound.“ 33 Zum Nachhören des Stücks: Episode Metallic by Daphne Oram in Endless Waves: The Dawn of Electronic Noise & Ambient Music, Vol. 1, INgrooves: https://youtu.be/szMsZfxiGTk (letzter Zugriff: 25.09.2022).

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Abb. 2 Digitales Faksimile der Graphic Guide für Episode Metallic. Goldsmiths Special Collections & Archives, London (Signatur: ORAM 8/13/001). © The Daphne Oram Trust. Courtesy of the Daphne Oram Trust with thanks to the family of Hugh Davies.

4.

Schrift als in Ton umsetzbare graphische Information

Während ihrer technischen Ausbildung bei der BBC in Evesham im Jahr 1944 sah Oram zum ersten Mal ihre auf dem Bildschirm eines Oszilloskops in einem Diagramm dargestellte Stimme. Diese unmittelbare Visualisierung von Schallwellen brachte sie auf die Idee, eine Maschine zur Klangerzeugung aus rein visuellen Informationen zu konzipieren. Sie war erst 18 Jahre alt, und in ihrer Erinnerung hatte sie das Gefühl, dass die Dozenten sie einfach für ein „silly teenage girl asking silly questions“34 hielten. Ihre Neugier aber führte sie dazu, dieser Idee immer wieder nachzugehen. Von 1961 bis 1972 arbeitete Oram, mit Hilfe einiger Mitarbeiter35 , an der Entwicklung einer photoelektrischen Maschine zur Klangsynthese, der Oramics: „a graphical score reading machine.“36 Diese Maschine war fähig, auf 35-mm-Filmstreifen handschriftlich gezeichneten Wellenformen von photoelektri-

34 Daphne Oram zit. in Peter Manning, „The Oramics Machine: From Vision to Reality“, in: Organised Sound 17, Nr. 2 (August 2012), S. 138. 35 Insbesondere Daphne Orams Bruder John Oram, Fred Wood und Graham Wrench. 36 Tom Richards, „Oramics: Precedents, Technology and Influence: Daphne Oram (1925–2003)“, Doctoral thesis, London, Goldsmiths, University of London 2018, S. 10.

Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

schen Zellen auszulesen und in akustische Signale umzuwandeln.37 Im Hinblick auf die musikästhetischen Bedürfnisse, die mit der Entwicklung der Maschine erfüllt werden sollten, notierte Oram in ihrem Tagebuch38 als ersten Punkt die vollständige Kontrolle der musikalischen Parameter wie Klangfarbe und Klangfarbenwechsel, Tonhöhe, Dynamik, Vibrato, Nachhall innerhalb einer Note. Ein zweiter Punkt beinhaltet die Notwendigkeit, diese Parameter in einer visuellen Form darzustellen, sodass alle für das menschliche Ohr wahrnehmbaren Parameter eine leicht erkennbare Entsprechung im Visuellen bekommen. Als dritten Punkt wies Oram auf die Notwendigkeit hin, eine kontrollierte Komplexität zu erreichen, bei der alle musikalischen Parameter auf ebendiese Wellenformen reduziert werden können. Der vierte Punkt schließlich bezieht sich auf Orams Wunsch, eine größere Bandbreite musikalischer Klänge und Klangfarben, als die bisher durch elektronische Mittel erzeugten, zu generieren. Im Juni 1966 verkündete Daphne Oram im Bericht an die Calouste Gulbenkian Foundation, die sie finanzierte, dass es ihr endlich gelungen sei, graphische Informationen in klangliche Ereignisse umzuwandeln: We are delighted to tell you that we have succeeded in proving that graphic information can be converted into sound. We can draw any wave form pattern and scan this electronically to produce sound. By varying the shape of the scanned pattern the timbre is varied accordingly. The speed of the scanning is controlled by digital information written on the clear 35mm films of the programmer, and this determines the pitch of the sound produced. A number of scanners can be controlled for pitch this way. By writing information on the other films of the programmer the following parameters are controlled: duration of each note; timbre mixture; the overall volume envelope of each separate waveform which is contributing to the timbre mixture; reverberation (either on the timbre mixture or on a selected waveform of the timbre mixture); and vibrato.39

37 Vgl. Manning, „The Oramics Machine“; Vgl. auch Richards, „Oramics: Precedents, Technology and Influence: Daphne Oram (1925–2003)“. 38 Written Sound Waves. January 1961 in Daphne Oram Collection. Goldsmiths Special Collections & Archives, London (Signatur: ORAM 01/01/018): “Needs: 1) To have complete control of timbre, pitch, dynamics, vibrato, reverberation, attack, decay, timbre changes within the note. 2) To control these characteristics in a visual form so that all alterations within the aural comprehension of the human ear and mind have an easily recognisable counterpart in the visual medium. 3) To achieve this controlled complexity of waveform whilst keeping all parameters within the scope of written waveforms. 4) To obtain sounds which are more „musical“ than those so far achieved by electronic devices, and which have a far greater range of timbre”. 39 Oramics Graphic Sound Project Report for the Gulbenkian (9.6.1966) in Daphne Oram Collection. Goldsmiths Special Collections & Archives, London (Signatur: ORAM/1/2/070).

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Wie auf dem Foto (siehe Abb. 3) zu sehen ist, verfügte der 1971 fertiggestellte Oramics-Prototyp über zwei Gruppen von jeweils vier und fünf synchronisierten von rechts nach links gleitenden 35-mm-Filmstreifen, auf denen es möglich war, freihändig zu zeichnen. Die Funktionen der einzelnen Filmstreifen werden in Orams Buch An Individual Note of Music, Sound and Electronics ausführlich erläutert und im Anhang anhand eines Diagramms veranschaulicht.40 Die vier untersten Filmstreifen steuern die Lautstärke, Klangfarbe, Dauer und Rhythmus der Klänge41 und der fünfte Filmstreifen dient der Steuerung des Nachhalls. In der oberen Gruppe zeichnete Oram schwarze Punkte, die sie „Neumen“42 nannte, um die Tonhöhen der Klänge zu kennzeichnen, während der vierte Filmstreifen von oben das Vibrato steuerte.43 Die Wellenformen und Neumen sind daher Zeichen, die alle Informationen zur unmittelbaren Umwandlung graphischer Informationen in Klang mittels photoelektrischer Prozesse beinhalten. Das hierdurch entstandene Klangereignis wurde dann auf Tonband aufgenommen, und dies nach den genauen Vorstellungen und Absichten der Komponistin-Malerin, ohne die Vermittlung von Interpret:innen. Damit ging ein Wunsch in Erfüllung, den Edgard Varèse bereits 1939 hegte: I am sure that the time will come when the composer, after he has graphically realized his score, will see this score automatically put a machine which will faithfully transmit the musical content to the listener. As frequencies and new rhythm will have to be indicated on the score, our actual notation will be inadequate. The new notation will probably be seismographic. And here it is curious to note that at the beginning of two eras, the Mediaeval primitive and our own primitive era (for we are at a new primitive stage in music today) we are faced with an identical problem: the problem of finding graphic symbols for the transposition of the composer’s thought into sound. At a distance of more than a thousand years we have this analogy: our still primitive electrical instruments find it necessary to abandon staff notation and to use a kind of seismographic writing much like the early ideographic writing originally used for the voice before the development of staff notation.44

40 Daphne Oram, An Individual Note of Music, Sound and Electronics, London 1972, S. 97–107 und 146. 41 In dem zitierten Diagramm Oramics Graphic Sound schreibt die Komponistin Folgendes: „Envelope Shapes, giving analogue control of amplitudes, durations (rhythm), and timbre mixture.…All these are drawn freehand on transparent tracks, which move together from right to left.“ Oram, S. 146. 42 Oram, S. 100. 43 Für eine ausführliche Studie zur Oramics, vgl. Richards, „Oramics: Precedents, Technology and Influence: Daphne Oram (1925–2003)“. 44 Vgl. Edgard Varèse und Chou Wen-chung, „The Liberation of Sound“, Perspectives of New Music 5, Nr. 1 (1966): 12, https://doi.org/10.2307/832385 (letzter Zugriff: 25.09.2022).

Formen der Verschriftlichung musikalischer Phänomene in Daphne Orams kompositorischem Schaffen

Abb. 3 Daphne Oram arbeitet an der Lautstärkeregelung. Werbefoto von Fred Wood, ca. 1966. Goldsmiths Special Collections & Archives, London (Signatur: ORAM/7/9/013). © The Daphne Oram Trust. Courtesy of the Daphne Oram Trust with thanks to the family of Hugh Davies.

5.

Schlussbetrachtung

Die hier ausgewählten Dokumente von Orams kompositorischem Schaffen zeigen, wie die Komponistin in ihrem Werk Schrift mit akustischem Phänomen in unterschiedlicher Art und Weise ‚verwoben‘ hat. Bei der Untersuchung dieser Materialien hat der methodische Ansatz von Appels genetischer Textkritik die Erforschung der Archivmaterialien geleitet, jedoch mit zusätzlichem Augenmerk auf die auditiven Quellen, die dem kreativen Prozess vorausgegangen sind, ihn begleitet und beeinflusst haben. So wurden nicht nur Orams Skizzen und Manuskripte analysiert, sondern auch Tondokumente und Hinweise auf Hörerfahrungen, die beispielsweise durch Tagebucheinträge nachweisbar sind. Die heterogenen Formen der musikalischen Schrift der in diesem Beitrag analysierten Materialien erfordern ebenfalls ein Konzept der Schriftbildlichkeit, das Krämer folgend die Dimensionen des Visuellen adäquat berücksichtigt. Alle drei in diesem Beitrag diskutierten Typologien von Orams Schreiben – die traditionelle Notation mit Anweisungen zur Verwendung von Mikrofonen und Echo in Still Point, die graphische Partitur für Episode Metallic und die visuellen Darstellun-

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gen auf den Filmstreifen für die Oramics-Maschine – stellen diagrammatische Schriftformen dar. Bei dieser Art von Inskription werden die musikalischen Klangphänomene in horizontale Zeitachsen übertragen, die in der Abfolge der Takte des westlichen Standard-Notationsystems, in den Zentimetern der graphischen Partitur auf Millimeterpapier und schließlich im Fluss von rechts nach links der Filmstreifen der Oramics konfiguriert sind. Auf den vertikalen Achsen werden darüber hinaus weitere Parameter wie Tonhöhen, Klangquellen und bei den Filmstreifen der Oramics Tonhöhe und Dynamik inskribiert. Auf den zweidimensionalen Flächen dieser Dokumente werden daher mittels „räumliche[r] Relationen“45 „visuelle Entsprechungsverhältnisse“46 zwischen den musikalischen Parametern gebildet. Die Funktionen dieser diagrammatischen Darstellungen im kompositorischen Schaffen sind jedoch unterschiedlich, was bei der Analyse im methodologischen Ansatz berücksichtigt wurde. Das Manuskript zu Still Point ging der Aufführung voraus und wurde erstellt, um den Musiker:innen so viele Informationen wie möglich über die klangliche Wiedergabe des Werkes zu geben. Die graphic score zu Episode Metallic diente somit der Visualisierung der klanglichen Ereignisse mit visuellen Interpolationen, sodass das Stück verfolgt und analysiert (vermutlich auch zu kommerziellen Zwecken) werden konnte. Schließlich beinhalteten die Wellenformen und Neumen auf den Filmstreifen der Oramics-Maschine alle notwendigen Informationen, um die visuellen Zeichen unmittelbar in Klang umzuwandeln. Die hier vorgenommene Systematisierung verschiedener Schrifttypen aus Orams kompositorischem Schaffen sollte schließlich dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Formen und Funktionen musikalischer Verschriftlichung zu lenken, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der elektroakustischen Musik experimentell eingesetzt wurden.

45 Sybille Krämer, „Operative Bildlichkeit: Von der ‚Grammatologie‘ zur ‚Diagrammatologie‘? Reflexionen über erkennendes ‚Sehen‘“, in: Logik des Bildlichen, hg. von Martina Heßler und Dieter Mersch, Metabasis 2, Bielefeld 2009, S. 105. 46 Gottfried Boehm, „Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrumente der Erkenntnis“, in: Wie Bilder Sinn erzeugen: Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 100. Vgl. auch Nanni, „Musikalische Diagrammatik. Eine karolingische Vision“, S. 76.

Bilder in Bewegung

Sabine Gebhardt Fink

Die Koffermethode in der Kulturanalyse Eine Untersuchung von Bild-Klang-Relationen in Performances von Adrian Piper (Funk Lessons), Dorothea Rust (L’Animoteur) und Monika Dillier (Re-Performance Damengöttinnen) In den 1980er Jahren transferierte die aktivistische Performance-Kunstlerin Adrian Piper Alltagskultur, Funk-Musik und -Tanz in ihren Unterricht an der University of California in Berkeley.1 Dabei nutzte sie die Rahmung der Lessons, um Musik in einen Kontext der visuellen Kunst zu übertragen, Tanzbewegungen mit Unterrichtspraktiken zu überkreuzen und diskriminierende Zuschreibungen zu queeren. Sie versuchte mit anderen Worten eine Überschreitung herkömmlicher Unterrichtsformen, indem sie auditive und visuelle Elemente in oftmals irritierender Weise zusammenführte. Der Künstler und Filmemacher Sam Samore hat Pipers Performance Funk Lessons in Zusammenarbeit mit Piper in eine Videoperformance transformiert – so ist das gleichnamige Artefakt aus dem Jahr 1983 entstanden.2 Bisherige Analysen setzten sich nur rudimentär mit Sam Samores und Adrian Pipers medialen Transfers zwischen Sehen und Hören und von Musik und Performance ins Medium Video auseinander.3 Stattdessen fokussierten sie vor allem auf Pipers konzeptuelles Arbeiten, welches das Video – oberflächlich betrachtet – lesbar werden lässt. Dabei scheint ihr aktivistisches Anliegen klar zu sein: Ihre praktischen wie theoretischen Erläuterungen über Funk, eine damals zeitgenössische – wie Piper selbst es nennt – „schwarze Arbeiter-Alltagskultur“4 sollten tradierte Formen westlicher, heteronormierender und als weiß konzeptualisierter akademischer Wissenskultur herausfordern und verändern.

1 https://awarewomenartists.com/artiste/adrian-piper/ (letzter Zugriff: 21.10.2020). 2 Adrian Piper, „Funk Lessons“, Video editiert und aufgenommen von Sam Samore, Produzent Tom Oden, 1983, 15’. 3 Elke Bippus: „Das Video inszeniert das ereignishafte und sinnlich erfahrene Geschehen der Performance“, In: dies., „Adrian Pipers Funk Lessons – eine Mikropraxis transformierender Affirmation“, in: Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, hrsg. v. Lotte Everts, Johannes Lang, Michael Lüthy und Bernhard Schieder, Bielefeld 2015, S. 201–221, S. 214. Vgl. ebenda: „[A]nders gesagt, das Video vermittelt seine Performanz, unterbricht die referenziellen Bezüge, und verweist so auf das, was sich der Repräsentation entzieht […].“ S. 215. 4 Adrian Piper, „Notes on Funk I–IV“, in: Selected Writings in Meta-Art, 1986–1992, 2 Bde., Cambridge (Mass.) 1996, S. 203. Dort spricht Piper in Bezug auf die Funk Lessons von einer „black working-class culture“.

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In meinem nachfolgenden Essay versuche ich, anhand der „Koffermethode“ das transformatorische Potential künstlerischer Strategien zu erfassen: Visuelle und auditive Aspekte werden dabei so verknüpft, dass ein neuer Sinn für zwei differente Bedeutungsfelder, Disziplinen und Medien entstehen kann. Angeregt durch die Künstlerin Dorothea Rust, die die „Koffermethode“ angestoßen hat (s. u.), werden Begriffe mittels einer Kombinationstechnik in einer unerwarteten und irritierenden Verbindung wechselseitig erweitert. In diesem Sinn wird bei dem zusammengesetzten Kofferwort L’Animoteur, aus Animal und Moteur, sowohl das Tier ins Begriffsfeld der Bewegung als auch umgekehrt der Motor in den Bedeutungshorizont des Terminus Tier hineingehoben. Wie diese Methode sowohl in einer künstlerischen Praxis, die sich solcher Kofferworte bedient, als auch als Motiv einer Kulturanalyse fruchtbar zu machen ist, soll in vorliegendem Artikel ausgearbeitet werden. Grundsätzlich geht es bei dieser Methode (methodos = Gang) darum – mit Sigrid Schade/Silke Wenk gesprochen – aufzuzeigen, „was wie zu sehen gegeben wird“; und zwar mit verschiedenen Medien und in differierenden Kontexten. Ebenso fragt die Methode mit Schade/Wenk5 nach den in den Gesten und Rahmungen des Zeigens und Sehens eingeschlossenen „Effekten von Autorität, Macht und Begehren in der Konstitution von Relationen zwischen Individuen und Gemeinschaften“.6 Welche Rolle genau das Kofferwort L’Animoteur dabei spielt, wird im folgenden Abschnitt zu Dorothea Rusts Performance-Kunst (vgl. Abschnitt L’Animoteur) näher erläutert. In der Forschung besteht Konsens darüber, dass Adrian Pipers Funk Lessons eine Bedeutungsverschiebung erzeugen; Analysen von Lauren O’Neill Butler7 oder Elke Bippus8 betonen diesen Aspekt. Nach Richard Schur entspricht dies bereits Lucy Lippards Interpretation, Pipers Kritik an Geschlechter- und anderen Identitätsstereotypen sei ein Versuch, „soziale Transformation“ zu erreichen.9 Die Künstlerin

5 Eine zweite wichtige Position für die Kulturanalyse in den Künsten ist Mieke Bal. Eine gute Einführung in die „cultural analysis“ ist ihr Aufsatzband „Kulturanalyse“ (dt. Frankfurt am Main 2005), welcher wichtige Artikel Bals, die früher auf Englisch erschienen sind, versammelt und in denen sie einen „programmatischen Wandel“ der Kulturanalyse (vgl. https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ reb-3813, letzter Zugriff: 19.09.2021). Gemäß Silke Horstkotte hebt Bal drei Gegenstände ihrer Methode hervor: Begriffe, Intersubjektivität und kulturelle Prozesse (Ebd.). Bal, der Autorin dieses Essays, geht es also um ein Verbinden der Objektebene mit den analytischen Ansätzen. 6 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 9. 7 https://www.artforum.com/film/lauren-o-neill-butler-on-adrian-piper-s-funk-lessons-24753, publiziert 08.01.2010 (letzter Zugriff: 07.10.2020). 8 Bippus, „Das Video inszeniert das ereignishafte und sinnlich erfahrene Geschehen der Performance.“ 9 Vgl. Richard L. Schur, „Claiming Ownership in the Post-Civil Rights Aera“, in: Parodies of Ownership, Ann Arbour 2009, Chapter 4, S. 68–98, S. 88, https://www.jstor.org/stable/j.ctv65sx2s.8 (letzter Zugriff: 25.09.2022).

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

hat in Notes on Funk I–IV 10 selbst die von ihr ins Auge gefasste Problematik mit folgenden Worten beschrieben: [Similarly] whatever economic parity blacks have achieved […] depends on our ability to ‚fit in‘, that is, conform our public behavior to white social conventions (for example, speak standard English, play tennis […], enthusiastically attend concerts of classical music, function at cocktail parties, etc.).11

Bippus beschreibt Pipers Vorgehen so: Die Künstlerin stellt […] mittels ästhetischer Praktiken normative Vorstellungen sozialer wie künstlerisch-ästhetischer Wirklichkeit radikal zur Disposition und öffnet mit ihrer Kritik die Möglichkeit neuer Denk- und Handlungsweisen.12

Nach Laurie Lambert konstruiert jede Aufführung von Race innerhalb eines performativen Aktes im Sinne Judith Butlers Bilder von Zugehörigkeit.13 Aus dieser Sicht greift eine Deutung der Funk Lessons zu kurz, welche aus der performativen Inszenierung und Unterbrechung der alltagskulturellen Aufführung im Akademiekontext allein schon einen subversiven oder selbstermächtigenden politischen Effekt abzuleiten sucht. In der vorliegenden Auseinandersetzung mit Piper/Samores Arbeit kommt daher, um nicht einem unterkomplexen weil inhärent diskriminierenden polaren Denken zu verfallen, eine Verwendung der Bezeichnungen wie black oder white im Sinne Omi/Winants zum Tragen, nämlich als „decentered complex of social meanings constantly being transformed by political struggle.“14 Wie Klasse und Geschlecht ist Race ein sozial konstruierter Zugehörigkeitsmarker, der durch kulturelle, politische, historische und ökonomische Kontexte hergestellt wird.15 Es

10 Adrian Piper, „Notes on Funk I–IV“, S. 199. 11 „Egal welche ökonomische Gleichstellung Schwarze auch erreicht haben, sie hängt zentral von unserer Fähigkeit ab, uns anzupassen, sprich unser soziales Verhalten muss den vorherrschenden weißen Konventionen entsprechen […].“ (Übers. Dt. SGF), Ebd. 12 Ebd. 13 Judith Butler, „Performative Acts and Gender Constitution, An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Theatre Journal, Dezember, 1988, Vol. 40, No. 4, S. 519–531. 14 Laurie Lambert, „Race“, in: Gender. Sources, Perspectives and Methodologies, Macmillan Interdisciplinary Handbook, hrsg. v. Renée C. Hoogland, Farmington Hills Michigan 2016, S. 331–346, S. 331. 15 Lambert: „socially constructed identity marker, that is informed by the cultural, political, historical, and economic contexts, […]“ S. 331. „Race“ wird im amerikanischen postkolonialen Diskurs mit Lambert als sozial konstruierter Identitätsmarker begriffen, welcher durch kulturelle, politische, historische und ökonomische Kontexte geformt wird. Zwei Aspekte scheinen mir hier wesentlich festzuhalten: Dass Zuschreibungen nicht von außerhalb gemacht werden können, sondern sich

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wird deshalb im Folgenden anhand der Analyse der Funk Lessons zuerst dargelegt werden, wie komplexe Verflechtungen von diskriminierenden Zuschreibungen beim Publikum funktionieren. Anschließend wird das kritische Potential der Funk Lessons im Sinne einer subversiven Erweiterung von Vorstellungsbildern und künstlerischen Zeichen(-Bildern) innerhalb intersektionaler Diskriminierungssysteme differenziert betrachtet; dies vor dem Hintergrund der Aufforderung Kimberlé Crenshaws, Intersektionalität immer mitzubedenken – sprich Diskriminierung wegen Race, Gender, Sexualität und Klasse jeweils zusammen zu beleuchten; nämlich als verwobene Strukturen.16 Aus oben genannten Gründen scheint es angezeigt, die im Medium des Videos geleistete „Übersetzung“ von Piper und Samore genauer zu analysieren, um ihr subversives Potential differenziert betrachten zu können. Folgende Fragen stellen sich: Wieso soll die Übertragung von Funk in Performance ein kritisches Potential verstärken? Ist in einer anderen sozialen Schicht als derjenigen von Akteur:innen der Performance-Kunst angesiedelten Alltagskultur keine Kritik möglich? Was sind die blinden Flecken der Kunsttheorie, wenn Piper nicht als Performance-Künstlerin, sondern als eine von westlicher Philosophie geprägte Konzeptkünstlerin kontextualisiert wird?17 Und was sind die verborgenen Genderstereotypen, die durch Funk Lessons kritisiert werden? Auf das Übersehen unterschwelliger Diskriminierungen hat der Musiktheoretiker George B. Lewis mit folgenden Worten hingewiesen: „[T]o pretend that issues of race do not invade the narratives of experimentalism would be needlessly naïve.“18 Lewis zitiert dabei den Fluxus Künstler Benjamin Patterson; Letzterer macht sich über die paradoxe Interpretation lustig, eine (black)

Gruppen selbst definieren einerseits. Andererseits, dass der Begriff auf Deutsch, nämlich Rasse, mit der grausamen Historie der Rassenideologie im nationalsozialistischen Deutschland völlig andere Referenzen aufweist. Dass also in der kritischen, antirassistischen Auseinandersetzung mit den Bedeutungsfeldern von Race und Rasse auch zwei unterschiedliche Diskurse aufgerufen werden müssen. Deshalb verwende ich hier auch den amerikanischen Term. Ich danke den Herausgeber:innen für diesen wichtigen Hinweis. 16 Zur Einordnung von Kimberlé Crenshaws Bedeutung – allein für das Feld der German Studies – vgl. etwa „Forum Feminism in German Studies“, hrsg. v. Elizabeth Loentz; mit Beiträgen von Monika Shafi, Faye Stewart, Tiffany Florvil, Kerry Wallach, Beverly Weber, Hester Baer, Carrie Smith, und Maria Stehle, in: The German Quaterly, 91.2 (spring 2018), S. 202–227, S. 208. Sie bezieht sich auf folgenden Text von Crenshaw, Kimberlé Crenshaw, „Demarginalizing the intersection of race and sex: a Black feminist Critique of antidiscrimination Doctrine, feminist theory, and antiracist Politics“, in: University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139–67. 17 Peggy Phelan beschreibt Adrian Pipers Einsatz von Performance wie folgt: „Performance art is appealing because rather than create a discrete physical form, the acts that it comprises have no independent status as art objects; […]“, in: Portrait of the Artist, in: The Women’s Review of Books, Vol. 15, No. 5 (Feb 1998) S. 7–8, hier S. 7. 18 George B. Lewis, „In Search of Benjamin Patterson. An Improvised Journey“, in: Callaloo, Fall 2012, Vol. 35, No. 2, S. 978–991, S. 981.

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

Abb. 1 Adrian Piper, Funk Lessons, 1983–84. Group performance, University of California at Berkeley, 1983. Photograph documenting the performance. Photo credit: Courtesy of the University of California at Berkeley. Collection of the Adrian Piper Research Archive (APRA) Foundation Berlin. © APRA Foundation Berlin.

folk story für ein weißes Publikum in emanzipatorischer Absicht appropriieren zu wollen, wenn er ironisch formuliert: „The one thing we need most of all is educated white folks.“19 Würde die Aktion in Funk Lessons diskriminierte Funk-Musik durch ihre Aufführung für ein akademisches, hegemonial weißes Publikum in einfacher Aneignung zugänglich machen und einseitig neu besetzen, wie manche Deutungen suggerieren, dann wäre es eine klassische Kolonialisierungsgeste der Aneignung von Low Culture für High Art, mit der wir es im Falle der Arbeit Pipers zu tun hätten.20 Dem ist aber ganz gewiss nicht so. Dadurch, dass Piper ihre Funk Lessons als Künstlerin mit einem Bewusstsein für diskriminierende Zuschreibungen unternimmt und als expliziten Teil der „people of color“ ihrem, mehrheitlich weißen, Publikum vorsetzt, begeht sie „interventions into racial identity“, welche – wie Schur betont – „exude ambiguity and irony.“21 Darin spielt sie mit Vorstellungsbil-

19 Lewis, S. 985. 20 Dabei handelt es sich um eine klassische Vorgehensweise in der modernen Kunst zur Aneignung von Ideen, Techniken und Wissen, wie Sigrid Schade in „Zwischen reiner Kunst, Kunsthandwerk und Technikeuphorie. Sonia und Robert Delaunays intermediale und strategische Produktionsgemeinschaft“ nachweist, in: Robert Delaunay – Hommage à Blériot, Bielefeld 2008, S. 82–95. 21 Schur, „Claiming Ownership“, S. 82.

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dern bezüglich Klasse, Race aber auch Genderidentität, die nicht einfach umgekehrt werden, sondern ambigue verknüpft sind. Zudem bewegt die Arbeit von Piper die Gattung Performance Art auch in Aufführungen von Alltagskultur hinein und stellt so deren Wertungen in Stereotypen wie Ereignishaftigkeit, Überhöhung und Einzigartigkeit infrage. Als weiteres Argument führt Schur an, dass Piper in dieser Arbeit die lange herrschende rechtliche Vorstellung von geistigem Eigentum kritisiere, nämlich dass die Idee jeweils public domain sei (Funk als Musikgeschichte), die spezifische Aufführung aber Besitz. Denn gerade Funk Lessons belege, dass eine Aufführung nicht eine einfache oder fixe Bedeutung habe, sondern ebenfalls eine relative und fluide ist – entsprechend ihren jeweiligen Kontexten.22 Damit würden Samore und Piper auch die Problematik einer postmodernen Aneignungskultur aufzeigen. Schur zitiert Piper in seinem Text so: We find the original styles and idioms the cubists, fauvists, surrealists, pattern painters, arte povera, performance artists, and neograffitists, among others have plagiarized without acknowledgment – under the ethically disingenuous, postmodernist rubric of ‚appropriation‘23

Piper reflektiert die Funk Lessons folgendermaßen: I found when I attempted to appropriate black-working-class culture, in particular music and dance, that medium of artistic expression was universally condemned and misunderstood.24

Piper zeigt unausgesprochene oder unterbewusste Erzählungen in den Universitätslektionen auf, die der dominanten Kultur ermöglichen, rassistische, sexistische und weitere diskriminierende Inhalte zu transportieren; oftmals, indem sie Ausschlüsse produziert wie im Falle der Funk Musik, die damals nicht Teil des akademischen Lehr-Kanons war. Im Sinne Mohantys agiert das Video gegen eine Zuschreibung von women, black, working-class als bestehende sexuell markierte politische Subjekte vor ihrem Eintritt ins Feld der sozialen Beziehungen.25 Pipers Vorgehen lässt sich so mit Mohanty als eine Form der Offenlegung von diskursiver Diskriminierung verstehen. Diskriminierung umfasst eine bestimmte Form von Aneignung/

22 23 24 25

Vgl. Schur, „Claiming Ownership“, S. 82; und Zitat Schur, „Claiming Ownership“, S. 84. Schur, „Claiming Ownership“, S. 84. Ebd. Chandra T. Mohanty, „Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses“, in: Third World Women and the Politics of Feminism, hrsg. v. Chandra T. Mohanty, Ann Russo und Lourdes Torres, Bloomington 1991, S. 51–80, hier S. 59.

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

Appropriation und Kodifizierung von Wissen.26 Und diese wird durch Piper zuerst deutlich gemacht und kritisiert und anschließend überschritten. Es lässt sich Folgendes zusammenfassen: In Form der Videoarbeit Funk Lessons wird einerseits Musik, die bereits reproduziert ist, wiederaufgeführt und reaktiviert in einer Alltagsperformance. Dies führt aber nicht nur zu einer neuen Aussage der Musik. Sondern sie wird zugleich in ein ganzes Netz von Wiederaktualisierung und wechselseitigen Bezugssystemen eingefügt: Funk-Musik wird in der dargestellten Aktion verwendet, um Tanz und kulturelle Muster in das Feld akademischer Lehre zu transferieren. Umgekehrt wird zugleich durch diese Musik das Verständnis von Performance-Kunst und Video innerhalb eines herkömmlichen künstlerischen und akademischen Kontextes erweitert – ganz im Sinne der eingangs beschriebenen Koffermethode. Darüber hinaus analysiert das Video die Tanzform als Zeichensystem in exemplarischer Weise und aktualisiert deren Aufführung als Performancekunst. Zentral scheint in dieser Hinsicht die Beweglichkeit der Bezugssysteme sowie das Vorgehen, Alltagsperformance und Performancekunst ebenso wie performative Akte der Künstlerin und Videoperformance in beide Richtungen wenden zu können und so zu dynamisieren. Genau darin scheint innerhalb der Darstellung der Funk Lessons im Medium Video der kritische und selbstermächtigende Aspekt zu liegen: Die performative Verschiebbarkeit der Bedeutungen – das Hin und Her – in beide sehr konkret situierten Bedeutungsfelder und nicht der performative Akt der Übersetzung als solcher, der ja nur eine – wenn auch verblüffende – De-Kontextualisierung bedeuten würde.

1.

Bild-Klang-Relationen in kulturanalytischer Sicht: zu Gesten des Zeigens27 in Adrian Pipers Funk Lessons

Die Beobachtung des Verweisens der Funkmusik auf befreiende Unterrichtsformen und umgekehrt bietet zudem Gelegenheit, die Methode der Kulturanalyse für die Analyse medialer Übersetzungen paradigmatisch zu erläutern. Sigrid Schade

26 Mohanty, „Under Western Eyes“, S. 51. 27 In Mieke Bals früher Aufsatzsammlung ist auch der inzwischen kanonische Artikel zum Zeigen enthalten, in welchem Bal die kolonialisatorischen Gesten des musealen Ausstellens offenlegt, wenn das Naturkundemuseum in New York Artefakte indigener Amerikaner ausstellt, das Kunstmuseum diejenige der Invasoren als Kunst (Vgl. Mieke Bal, Sagen Zeigen Prahlen, in: Kulturanalyse 2005, S. 72 f.). Eine spannende Nachfolge findet dieses Befragen von Zeigesituationen im feministischen Ansatz von Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch und deren Publikation „Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen“, Bielefeld 2006.

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kennzeichnet die Kulturanalyse als „structural analysis of possible elements of visual culture(s)“; gerade auch hinsichtlich ihrer institutionellen Relevanz.28 Ausgehend von Sigrid Schade und Silke Wenks Überlegungen im Anschluss an Ferdinand de Saussure ist im Falle von Funk Lessons deshalb nicht nur von einer Beziehung eines Gegenstandes a zu einem Gegenstand b auszugehen, sondern von einer doppelten Bezeichnung. Ferdinand de Saussure ist einer der ersten Theoretiker, welcher die doppelte Repräsentanz von Zeichensystemen untersucht hat.29 Er stellte fest, dass jedem Zeichen eine doppelte Vorstellung zugeordnet werden muss: einerseits die lautsprachliche Vorstellung, andererseits die bildliche Vorstellung. Nehmen wir das Beispiel Funk. Erst dann wird das Wort-Zeichen verinnerlicht und kann von einer Sprachgemeinschaft verstanden werden, wenn beide Vorstellungen miteinander verknüpft sind: die lautsprachliche Bezeichnung und das Vorstellungsbild. Sigrid Schade/Silke Wenk erläutern in ihren Studien zur visuellen Kultur de Saussures Vorgehen folgendermaßen: Der Schweizer Sprachforscher Ferdinand de Saussure, der die Sprachwissenschaft grundlegend revolutionierte, wandte sich gegen die Vorstellung, dass Begriffe sich unmittelbar auf konkrete Dinge beziehen. Er wies nach, dass der Begriff Baum nur dann etwas bezeichnen kann, wenn er mit einem Vorstellungsbild Baum verknüpft ist. Saussures grundlegende Erkenntnis ist die, dass ‚die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht.‘30

Weiter konstatieren sie, dass das sprachliche Zeichen eine Vorstellung und ein Lautbild vereine und sich demnach also aus zwei (Vorstellungs-)Bildern zusammensetze.31 Die mediale Operation bei den von Sam Samore aufgezeichneten Funk Lessons von Adrian Piper besteht nun genau darin, eine in ihren Adressat:innen bestehende Verknüpfung von gesellschaftlichen Vorstellungsbildern bezüglich Geschlechterstereotypen, Race, Klasse usw., die mit der Funk-Musik konnotiert werden, mit Vorstellungsbildern von akademischer Lehre in irritierender Weise zusammenzufügen. Dadurch entsteht eine Re-aktualisierung und Transgression32

28 Sigrid Schade, „What do ‚Bildwissenschaften‘ want? In the Vicious Circle of Iconic and Pictorial Turn“, S. 31, https://blog.zhdk.ch/sigridschade/files/2013/07/WhatdoBildwissenschaftenwant_000. pdf (letzter Zugriff: 19.09.2021). 29 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 84. 30 De Saussure zitiert nach Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 84. 31 Schade/Wenk, S. 84. Dies wäre einerseits das Vorstellungsbild eines Baumes und das Lautbild „Baum“. Schade/Wenk beziehen sich hier auf Ferdinand de Saussures Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 87. 32 Zum Begriff der Transgression im Unterricht siehe bel hooks, Teaching to transgress, Education as the practice of freedom, London 1994.

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

Abb. 2 Still © Dorothea Rust/Video Emil Mirazchiev, im Rahmen von Digital Ecologies 2018–2019, Plovdiv, Bulgaria: a project in two folds, Fold I, 2018. Operaismo Naturale: Ecology of the Event, kuratiert von Dimitrina Sevova.

sowohl der Alltagserfahrung, die mit Funk einhergeht, als auch herkömmlicher Unterrichtssettings. Damit konnte im Rahmen der Auseinandersetzung mit Adrian Pipers Arbeit33 zugleich das analytische Verfahren der cultural studies in the arts34 , wie es bereits oben mit Sigrid Schade und Silke Wenk zitiert wurde, deutlich gemacht werden. Geht es diesem doch darum „[…] nach den in den Gesten und Rahmungen des Zeigens und Sehens eingeschlossenen Effekten von Autorität, Macht und Begehren […]“ zu fragen.35 Denn genau diese übersehenen Gesten und Machtkonstellationen der Institution werden durch Funk Lessons in subversiver Absicht deutlich gemacht. Die Performance wird zu einem subversiven Weiterschreiben von Bedeutungen über bestehende Formen hinaus.  

33 So streicht denn auch Sigrid Schades Artikel „What do ‚Bildwissenschaften‘ want […]“, heraus, dass „The main obstacle in the perception and discussion of an iconic or pictorial turn and its ability to be joined to other discourses in cultural and gender studies is in fact the ‚Bildwissenschaft‘ protagonists’ assumption that the systems of language and images are structurally strictly separate and/or that they can be analytically separated (…).“ Ebd., S. 48. 34 Ebd. 35 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, S. 9.

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2.

Dorothea Rust: L’Animoteur

Die Methode des Verbindens von Bezeichnungssystemen nach Schade/Wenk lässt sich ebenfalls in Bezug setzen zu Dorothea Rusts Arbeit L’Animoteur. Schon beim Titel handelt es sich um ein Kofferwort, das – in Anlehnung an Hélène Cixous – zugleich als Begriff, Vorstellung und Repräsentation funktioniert und widersprüchliche Vorstellungen neu zusammenfügen kann. Es handelt sich um eine Arbeit im Rahmen der gleichnamigen Werkserie von Dorothea Rust, die seit 2015 entsteht.36 Aus der gesamten Reihe wird im Folgenden die Arbeit L’Animoteur 5+6 – selfie or I am donkey aus dem Jahr 2018 analysiert. In dieser Performance und partizipativen digitalen Foto-Serie setzt Dorothea Rust sich mit etwas auseinander, das sie selbst mit dem Begriff des Somatischen zu umschreiben sucht.37 Rust folgend beschreibt L’Animoteur 5+6 einen Zustand zwischen Mensch- und Tiersein. Das Anliegen, Asymmetrien zwischen verschiedenen sozialen Milieus, Geschlechterzuschreibungen und Menschen unterschiedlicher Herkunft aufzuheben, wird hier auch auf die Relation Mensch–Tier angewandt. Bekleidet mit einer Art Eselskostüm, also mit Gesichtsbemalung, beschriebenem Hemd und einem abgetrennten Esels-Schwanz, der im Publikum zirkuliert, macht sich die Künstler:in auf den Weg vom Ausstellungsraum zu einer Einkaufspassage in Plovdiv (Bulgarien). Dort spricht sie mit zufälligen Passant:innen an einem Samstagmorgen über deren Erfahrungen mit Eseln. Da der Esel in Bulgarien noch als billiges Arbeitstier weit verbreitet ist – er ist sehr ausdauernd und genügsam –, haben fast alle Besucher:innen Erfahrungen mit Eseln, so Rust in einem Gespräch mit der Autorin. Zugleich nutzt die Künstlerin die globale Fotomanie und Verbreitung von Selfies via Instagram, da sich viele Passant:innen mit ihr „als Esel“ fotografieren lassen möchten. Rust startet damit einen kollektiven Bild- und Reflexionsprozess. Als geschlechtsüberschreitendes Esel-Menschwesen verschiebt Rust in dieser Arbeit fixe Vorstellungen. Anfangspunkt und Auslöser dieser Verschiebung ist der Startpunkt der Performance. Hier imitiert die Künstlerin einen Eselsschrei und ermuntert das Publikum, im Chor mit ihr diesen mehrfach zu wiederholen. 36 Vgl. https://www.dorothearust.ch/arbeiten/2015/butler-2/setting.html (letzter Zugriff: 23.10.2020). Dazu auch Dorothea Rust, „Wie ich ein etwas mit gespitzten Ohren werde und wie Kofferworte que(e)r in der Landschaft stehen“, in: FKW Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Feministische Strategien in der Performance Kunst: Disobedient Bodies, Nr. 67 (2020), hrsg. v. Sigrid Adorf und Sabine Gebhardt Fink, S. 76–90. 37 Rust, „Wie ich ein etwas mit gespitzten Ohren werde“, S. 76. Dieser Begriff wurde bereits von einer Reihe von Theoretiker:innen in Bezug zu performativen Aufführungspraxen verwendet. In diesem Sinn vgl. André Lepecki, „Dance Choreography, and the Visual Elements for a Contemporary Imagination“, in: Is the living body the last thing left alive? Berlin 2017, S. 12–19 oder Beatrix Hauser, „Zur somatischen Erfahrbarkeit von Aufführungen“, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hrsg.), Asthetische Erfahrung: Gegenstande, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006.

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

Abb. 3 Selfie © Dorothea Rust.

Sie selbst bezieht sich mit ihrem Vorgehen auf Hélène Cixous’ Verständnis von Kofferworten – aus deren Text Gespräch mit dem Esel/Blind Schreiben. Kofferwörter können zugleich zwei sehr verschiedene Bedeutungen auf neue Weise verknüpfen – wie übrigens der Titel der Arbeit L’Animoteur selbst. Das Wort changiert zwischen den Bedeutungshöfen, wie eingangs schon beschrieben, von Animal – also Tier – und Moteur/Motor.38 Mit dieser Arbeit stellt sie zugleich normative Zuschreibungen an Menschsein und Tiersein, aber auch an herkömmliche Geschlechterrollen massiv infrage. L’Animoteur von Dorothea Rust ist eine Überschreitung im Sinne einer unerwarteten, überraschenden und lustvollen Verbindung zwischen Mensch und Tierwesen. Zugleich werden auch auditive und visuelle Elemente zusammengebunden. Im Transfer des Mediums Musik/Sound in den medialen Rahmen der Performance-Kunst wird der im Kollektiv performte Eselsschrei zum metaphorischen Kofferwort. Es stellt eine Überlappung dar zwischen zwei widersprüchlichen Bedeutungsebenen: Mensch- und Tierwesen einerseits und Sehen und Hören andererseits. So hebt es zudem die Konstruiertheit hervor, die unsere gewöhnlichen

38 Rust, „Wie ich ein etwas mit gespitzten Ohren werde“, S. 81.

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Vorstellungen von Tier- und Menschsein betreffen. Rust nutzt dafür das Prinzip eines doppeltes Zeichensystems nach de Saussure, wie es von Sigrid Schade und Silke Wenk beschrieben worden ist. Das Prinzip beinhaltet, dass einem Begriff sowohl ein Vorstellungsbild (sprich die Esels-Kostümierung) als auch ein Lautbild (sprich I-Ah) zugeordnet sein müssen. Die doppelte Verkehrung, weder der Schrei stammt vom Esel noch der Körper des Esels ist ein Tier, generiert ein neues und drittes Vorstellungsbild. Dieses weist über die bestehenden Begriffe von Menschsein und Tiersein und deren kulturell kodierte Vorstellungen hinaus. Das Tiersein erweist sich ebenso als Konstrukt wie das Menschsein.

3.

Monika Dillier und die Re-Performance der Damengöttinnen am Äquator

Die Re-Performance der Damengöttinnen am Äquator wurde 2018 durch Monika Dillier zusammen mit Andrea Saemann und Chris Regn präsentiert.39 Das Werk war ursprünglich als kollektive Bühnen-Performance 1979 am Theater Basel uraufgeführt worden.40 Monika Dillier war bereits damals – unter anderem – als Akteur:in am Stück beteiligt. Auf Einladung von Andrea Saemann inszenierte Monika Dillier die Performance zusammen mit Chris Regn dann 2018 neu.41 Die Konzeptkünstlerin Chris Regn komponierte außerdem für den Kontext von Monika Dilliers Re-Performance in Argentinien ein musikalisches Kofferstück – wie wir es in Anlehnung an Cixous nennen könnten. Doch blicken wir zurück auf den Ausgangspunkt der Arbeit. Der Gruppe der Damengöttinnen ging es in den ausgehenden 1970er Jahren um das Aufbrechen

39 Als Re-Performance bezeichne ich die Übersetzung einer historischen Performance in eine eigenständige performative Arbeit, die aber Material, Themen und Aspekte der ursprünglichen Performance aufgreifen kann. http://archivperformativ.zhdk.ch/fileadmin/_migrated/content_uploads/archivperformativ_Broschuere.pdf (letzter Zugriff: 23.10.2020). 40 Mitakteur:innen damals waren Anne Walser, Esther Schaffer, Johanna Zumsteg, Judith Müller, Klara Berg, Lisa Staerkle, Maria Zemp, Marianne Kirchdorfer, Monika Dillier, Pia Zimmer, Ruth Weilemann, Sibill Niklaus, Vera Lehmann, Yvonne Racine sowie Mise en scène: Klara Berg, Art Director: Rosa Kalkbrenner, Bühnenbild: Lucas Dietschy. Meine Recherche für Chris Regns Projekt mit Monika Dillier beruht teilweise auf Material aus der Publikation „Performance Chronik Basel – Floating Gaps“, hrsg. v. Sabine Gebhardt Fink, Muda Mathis und Margarit von Büren, Berlin/ Zürich 2011; allerdings formuliere ich an dieser Stelle neue Beobachtungen anhand des Videos der Re-Performance, welches damals noch gar nicht vorlag. 41 Neben ihrer Rolle als Akteurin hat Monika Dillier damals sowohl die Kostüme entworfen als auch das Scor der kollektiven Arbeit aufgezeichnet. Die Konzeptkünstlerin Chris Regn hat für den Kontext von Monika Dilliers Re-Performance in Argentinien eine neues musikalisches Kofferstück – wie wir es in Anlehnung an Cixous nennen könnten – inszeniert.

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

tradierter Genderbilder. Dafür wurde die Performance-Kunst42 von politisch aktivistischen Projekten, einer Ausstellung und Podiumsdiskussionen begleitet.43 Die Re-Performance in Buenos Aires 2018 startet mit dem stummen Auftritt der Künstlerin Monika Dillier als schillernde Diva mit Glitzerbluse und rotem Haar. Sie setzt sich in ähnlicher Pose wie auf einer historischen Fotografie von ihr, welche aus den Proben für die Damengöttinnen am Aequator stammt, in die Mitte des im Kreis stehenden Publikums. Weiter geschieht zunächst nichts. Dann treten die beiden Performance-Künstler:innen Andrea Saemann und Chris Regn mit eben dieser körpergroßen historischen Fotografie hinzu, die auf ein großes Tuch gedruckt worden ist. Anschließend bewegen sie dieses Tuch zärtlich taktierend über die posierende Diva hinweg. Diese Aktion ließe sich so beschreiben: Sowohl die Zeitebenen der Performance als auch die Körpervorstellungen werden auf einer neuen Bildebenen verschlauft. Im Akt des Enthüllens der Diva wird deren früheres Körperbild verhüllt. Für eine Auseinandersetzung mit den Anfängen der Performance Kunst in der Schweiz ist wichtig, daran zu erinnern, dass im Verlauf der 1970er Jahre feministische und politisch-aktivistische Themen zentral waren.44 Die Schweiz besaß erst seit 1971 das nationale Frauenstimmrecht, obwohl die helvetische Verfassung von 1798 bereits die Grundsätze Freiheit und Gleichheit postulierte und Arbeiter:innenverbände schon 1893 das Frauenstimmrecht eingefordert hatten.45 Neben Bewegungen für Frauenräume und dem Recht auf Selbstbestimmung waren in den 1970er Jahren in der Schweiz laut Edith Stebler folgende Themen zentral: „[Revision des Familienund Eherechts, Kampf um das Recht auf Abtreibung, Revision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes, die Gleichheitsinitiative und Mutterschutzinitiative.“46 Dazu kamen Forderungen nach neuen Formen des Unterrichtens von Kunst, nach künstlerischen Auseinandersetzungen mit Körperbildern oder abweichenden und queeren Subjektkonstruktionen – wie Monika Dillier in einem Videointerview betont hat.47 Während Andrea Saemann, Performance-Künstlerin und langjährige Leiterin des Performance Preis Schweiz, in der Re-Performance die Moderation des Anlasses übernimmt, ermöglicht Chris Regns vorgängiger manifestartiger

42 Vgl. Flyer Damengöttinnen am Aequator, Basel 1979, Archiv Monika Dillier. 43 Vgl. Recherche Andrea Saemann zum Artikel Christine Stingelin „Frauen am Theater Basel“, in: Emanzipation. Feministische Zeitschrift für kritische Frauen, Bd. 5 (1979), S. 4–5. 44 Siehe Sabine Gebhardt Fink/Muda Mathis/Margarit von Büren, „Performance Chronik Basel – Floating Gaps“, Zürich/Berlin 2011. 45 Yvonne Voegeli, Frauenstimmrecht, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.9.2019, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010380/2019-09-17/ (letzter Zugriff:02.03.2020). 46 Zitiert nach Christine Stingelin, Frauen im Theater Basel, in: Emanzipation: feministische Zeitschrift für kritische Frauen, Band 5 (1979), Heft 4, S. 4–5. 47 Das Interview mit Muda Mathis und der Autorin ist unpubliziert.

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Sprechgesang mit Bandoneonbegleitung die Aktualisierung der Damengöttinnen. Sie weist dabei darauf hin, dass einige Anliegen der aktivistischen PerformanceBewegung der 70er Jahre immer noch nicht verwirklicht sind – gerade queere, politisch-kritische Positionen der Performance-Kunst fallen mit ihren dezidierten Haltungen vielmals aus Forschungsprojekten, die staatlich subventioniert werden, aber auch aus Ausstellungsprojekten zur Performance-Geschichte der Schweiz heraus.48 Durch den Gesang Chris Regns, die wie in anderen ihrer Shows und Videos mit dem Material von Überlieferung und Repräsentation arbeitet, wird ähnlich wie beim Kofferwort eine politisch aktivistische und gegenwärtige Bewegung der Arbeit evoziert. In ähnlicher Weise entstand bei Chris Regn etwa mit der Performancegruppe Evi, Nic und C und Les Reines Prochaines als kollektiver Prozess ein „Kabarett“, eine Dragking Trekking Show oder ihre Vegane Oper. In dieser ist besonders der Prozess der Umkehrung interessant; die Rahmung der Performance durch die Musik hat also den zentralen Moment einer Verschiebung initiiert. Kulturelle Subjektzuschreibungen werden in dieser Arbeit gequeert und aktivistisch verformt im Sinne von Judith Butlers performativem Akt.49 Es scheint, als würde das alte Performance- Stück rückwärts abgespielt, ein Play Backwards, um einen neuen Sinn kreieren zu können. Das Bild, welches die Künstlerin uns in ihrer Performance vermittelt, gilt ganz wesentlich einer Transformation der Machtstrukturen – damals und heute. Es besteht aus einer unabschließbaren Umkehrbewegung. Ein scheinbar offensichtliches und eindeutiges Rollenbild, die „junge Künstlerin“ und die „Diva“ werden sowohl in ihren Zeitläufen als auch in kulturellen Verortungen und räumlichen Kontexten neu platziert. Revolutionierte Produktionsbedingungen von Kunst, queere Körperbilder, neue Konzepte von Inter-Spezies50 wie Humanimals51 sind wichtige Themen einer aktuellen, widerständigen Performance-Kunst. Und so sind die exemplarischen Arbeiten von Adrian Piper, Dorothea Rust und Monika Dillier – mit Chris Regn und Andrea Saemann – in jener Hinsicht vergleichbar, welche ihren Einsatz von Kofferworten

48 Vgl. zum Ausstellungsproblem: Act on! Hrsg. von Muda Mathis, Chris Regn und Andrea Saemann, Basel 2018; zum Problem der Forschungsfinanzierung vgl. Sigrid Schade, „What do ‚Bildwissenschaften‘ want […]“, Ebd., S. 42. Dort schreibt diese: „Actually, the criteria should include women researchers who already are successful on an international level or are even employed as professors at a Swiss university. Do research applications really fit the above criteria? Who is controlling the facts? In view of this evidence it comes as no surprise that not only women are considered as having nothing to say in the field of ‚Bildwissenschaft‘, but also that gender studies approaches as such – irrespective of the gender of the researchers – don’t stand a chance.“ 49 Butler, „Performative Acts and Gender Constitution“, S. 519–531. 50 Diese Debatte beginnt z. B. mit der Konferenz Why the Animal? Queer Animalities, Indigenous Naturecultures, and Critical Race Approaches to Animal Studies an der Universität Berkeley 2011. 51 Den Begriff verwende ich nach Friederike Nastold – ebenfalls in FKW, Nr. 67 (2020), S. 63–75.

Die Koffermethode in der Kulturanalyse

Abb. 4 Das Foto entstammt der Serie Re-Performance von Monika Dillier. Foto von Andrea Saemann. Aus den Arbeitsgesprächen mit den anderen Künstlerinnen, Buenos Aires, November/ Dezember 2018 im Rahmen des Projektes Monika Dillier und Chris Regn, Las damas diosas – version escaneada, (supported von Andrea Saemann) 15.12. 2018, DOCE EN DICIEMBRE, PROA 21, Buenos Aires, Courtesy STAMPA Galerie, Basel, © Monika Dillier.

anbelangt. Sie überkreuzen visuelle und auditive Vorstellungen, was selbst als Koffermethode bezeichnet werden könnte. Anhand dieses Vorgehens, bei welchem Musik und Sound die Schlüsselrolle zukommt, können die beschriebenen Beispiele wichtige Kernthemen von politisch-ästhetischem Arbeiten mit aktivistisch-dissidenten Effekten adressieren. Damit nehmen sie die unterschwellige Bedeutung auf, welche die Ausstellung in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin 2018 Left Performance Histories angetönt hat. Diese kritische Form von Performance-Kunst, von der im erweiterten Sinne als left gesprochen werden kann, muss von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet werden – die Verwendung auditiver Elemente ist eine davon. Ein Vorschlag lautet deshalb: für derartige künstlerische Produktionen den Term revolving für die Konstruktion der Bedeutungsproduktionen zu verwenden. Dieses im Sinne von umdrehen, umkehren und auf den Kopf stellen, sobald Kofferworte zum Einsatz kommen. Die Bezeichnung links ist nicht unproblematisch, da gerade von „linken Positionen in Regierungen“ im Verlauf des Neoliberalismus der 80er und 90er Jahre massive Einschränkungen politischer Rechte in Kauf ge-

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nommen wurden, wie Maurizio Lazzarato am Beispiel Frankreichs in Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben dargelegt hat.52 Dennoch soll es hier reaktiviert und produktiv werden – ganz so, als würde ein Musikstück rückwärts abgespielt. Abschließend sollen nochmals die zentralen Erkenntnisse zusammengefasst werden: In der Performance Art in der Nachfolge Allan Kaprows werden Musik und deren alltagskulturelle Bezüge (in den untersuchten Beispielen) verwendet, um Transformationen und Bedeutungsüberschreitung in doppelter Hinsicht zu erzeugen. Die bestehenden Vorstellungsbilder und herkömmlich damit verknüpften Repräsentationszeichen werden zerschnitten. Das auditive Referenzsystem ist das Schlüsselmoment, um diesen Ablösungsprozess in all den Arbeiten herzustellen. Die Funk Lessons im universitären Seminar, der Eselsschrei im Ausstellungsraum und der manifestartige, politisch-aktivistische Gesang als Performance: Immer dient die „Koffermethode“ ganz wesentlich dazu, tradierte Bedeutungen zu verschieben und aktuelle Bezüge zu erstellen. Grundlage dieser Überlegungen ist Sigrid Schade und Silke Wenks Beobachtung, dass Bedeutungszuschreibungen immer als historisch und kulturell konstruiert zu verstehen sind und deshalb umgekehrt in Form von künstlerisch-performativen Akten auch immer wieder neu und anders in aktivistischer Absicht hergestellt werden können. Eine spezielle Form dieser Passage durch den musikalischen Eingriff, ein Umschlagpunkt, sind visuelle Rahmungen wie Ausstellung, Kunstseminar und Galerie. All diese Displays werden zu einer Inszenierung von Musik innerhalb eines neuen Kontextes benutzt, um tradierte Bilder von Geschlecht, Menschsein oder kultureller Identität zu revolutionieren.

52 Maurizzio Lazzarato, „Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben“, Berlin 2012.

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Intermediales Verhältnis von bewegtem Bild, Ton und Affekt Zu einer frühen Theorie und Ästhetik von Filmmusik

1.

Einleitung

Filmmusik stellt aufgrund ihrer konkreten Bildbezüge per se außermusikalische Bezüge und Bedeutungen her, so wie umgekehrt auch die Musik durch die bewegten Filmbilder eine gewisse bildhafte Konkretisierung erfährt. Diese wechselseitige semiotische Referenzierung wie emotionale Belebung, ist uns heute durch die Omnipräsenz audiovisueller Medien vertraut. Mit dem Einschub des neuen Filmmediums am Ende des 19. Jahrhunderts war dieses intermediale Verhältnis von Musik und bewegtem Bild alles andere als schon geläufig und brachte neue musikästhetische und theoretische Fragenstellungen mit sich. Seit den ersten öffentlichen Filmvorstellungen der Gebrüder Skladanowsky im Berliner Varieté-Restaurant Wintergarten am 1. November 1895 und der Gebrüder Lumiére im Pariser Grand Café im gleichen Jahr kam Musik zum Film in Einsatz.1 Der Grund für die Verwendung einer Live-Musik im frühen Kino war praktischer Natur, nämlich vorrangig, um die Geräusche der Projektionsmaschine zu überdecken. Von einer dramaturgischen Einflechtung der Musik zum Bildgeschehen kann in den ersten Stunden der Kinematographie noch nicht die Rede sein. Sie hatte eher eine soziale, psychologische und kommerzielle Funktion zu erfüllen, und wurde um ihrer selbst willen als separate, vom Film getrennte Attraktion verwendet. Erst um die Jahre 1906 und 1907 entwickelte sich einer viel diskutierten Lesart zufolge aus einem „Kino der Attraktionen“, das vor allem auf Schauwerte und noch wenig auf das Erzählen von Geschichten ausgerichtet war, das „Kino der Narrationen“.2 Im Fokus des neuen filmischen Erzähltypus stand nun auch die Erzeugung von Empathie des Publikums für die Filmerzählung, und das vor allem über den Einsatz

1 Vgl. dazu Claudia Bullerjahn, „Musik zum Stummfilm: Von den ersten Anfängen einer Kinomusik zu heutigen Versuchen der Stummfilmillustration“, in: Das Handbuch der Filmmusik. Geschichte – Ästhetik – Funktionalität, hrsg. v. Josef Kloppenburg, Regensburg 2012, S. 28. und Rick Altman, Silent Film Sound, New York 2004, S. 83. Zum Debüt des Lumiére-Kinematographen in den USA vgl. weiterführend Altman, Silent Film Sound, S. 85–87. 2 Vgl. dazu Tom Gunning, „The Cinema of Attractions. Early Films, Its Spectator and the Avantgarde“, in: Early Cinema: Space Frame Narrative, hrsg. v. Thomas Elsaesser u. a., London 1990, S. 56–62.

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einer begleitenden Musik. Sie sollte das Einfühlungsvermögen in die Charaktere und Filmsituationen verstärken, weshalb auch eine Anhebung der Qualität der Filmmusik forciert wurde. Zeitgleich mit dem Aufkommen des „narrativen Kinos“ entstanden auch erste Originalkomposition wie zum Beispiel die Filmmusik L’assistant du Duc de Guise (1908), die Camille Saint-Saëns im Hinblick auf das Konzept des Film d’Art komponierte.3 Als ‚dienende‘, allenfalls ergänzende Kunst reaktualisierte die Live-Musikbegleitung des Stummfilms traditionsgebundene Erkenntnisinteressen nach dem Zusammenhang zwischen Affekten und Stimmungen und den Möglichkeiten ihrer Darstellung in der Musik. Das stumme Medium mit seinem visuell-inhaltlichen Angebot stellte von sich aus Fragen zum Narrationsgehalt der Musik. Die musikalischen Konventionen der Pantomime und der Schauspielmusik des 19. Jahrhunderts sowie der des Balletts, bei denen die Musik eine illustrierende Funktion ausübt, übernahm die Praxis der Stummfilmmusik vorbildhaft. Eine nahe Verwandtschaft bestand überdies zur Oper und der Programmmusik, die beide semantische Koordinaten über dramatische Vorlagen, außermusikalische Sujets oder verbale Hinweise bereitstellen. Die Kinomusik beerbte musikalische Idiome des 19. Jahrhunderts, wobei sich die Musik nach der Handlung des Films zu richten hatte. Die Musik hatte gewissermaßen eine rhetorische Funktion für die stummen Bewegungsabläufe zu erfüllen. Die gestikulierte und mimenhafte Darstellung wurde in Ergänzung zum Filmgeschehen musikalisch ausgedeutet und den stummen Figuren so im weitesten Sinne Sprache verliehen. Dieses neue intermediale Verhältnis zwischen bewegtem Bild, Ton und Affekt galt es theoretisch, ästhetisch und künstlerisch zu klären. Die Erkenntnistheorie des musikalischen Affekts verweist auf eine lange Tradition innerhalb der westlichen Musikgeschichte, die bekanntlich in der griechischen Antike ihren Anfang nahm und in den musikalischen Affektenlehren des 17. und frühen 18. Jahrhunderts eine markante Fortsetzung fand. Mit Aufkommen des bewegten Kino-Bildes erlebte die semantische Orientierung der Musik einen Aufschwung und etablierte sich im späten 19. Jahrhundert in Konzertprogrammeinführungen, sogenannten Musikführern, bis sie schließlich mit Hermann Kretzschmars (1848–1924) musikalischer Hermeneutik eine gewisse methodische Fundierung erfuhr.4 In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, wie eines der zentralen musiktheoretischen Konzepte der an der Wende zum letzten Jahrhundert, namentlich die

3 Im deutschsprachigen Raum gilt die Filmmusik des Franz Liszt Schülers Joseph Weißzum Film Der Student von Prag (1913) als erste Originalkomposition, also eine Musik, die durchgehend nur für einen spezifischen Film komponiert wurde. 4 Christian Thorau, Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zur Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagner (= Beihefte zum Archiv fur Musikwissenschaft), Stuttgart 2003, S. 161–167.

Intermediales Verhältnis von bewegtem Bild, Ton und Affekt

musikalische Hermeneutik, Eingang in die früheste Theorie und Ästhetik von Filmmusik gefunden hat, und nähere mich im Zuge dessen an die wohl bedeutendste Quelle der Stummfilmzeit an: Das Allgemeine Handbuch der Film-Musik.5 Das von den Komponisten, Dirigenten und studierten Musikwissenschaftlern Hans Erdmann, Giuseppe Becce und Ludwig Brav beim Berliner Traditionsverlag Schlesinger’sche Buch- und Musikhandlung 1927 herausgegebene Allgemeine Handbuch der Film-Musik ist der Versuch einer Synthese von Theorie und Praxis der Filmmusik. Die Bedeutung des Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik liegt darin, dass erstmals in Anlehnung an Kretzschmars Hermeneutik eine umfassende Theorie und Ästhetik der Filmmusik formuliert wurde.6 Bevor ich die Adaption des musikhermeneutischen Denkens auf diese früheste Filmmusiktheorie und -ästhetik nachzeichne, möchte ich die heterogenen musikalischen Praxen des Stummfilms vorstellen. Dabei werde ich vor allem die Bedeutung der Kinomusiksammlungen für die Entwicklung der Synthese von hermeneutischer Theorie und Filmmusik hervorheben. Im Anschluss daran werde ich Kretzschmars intermedialen Spuren im ästhetischen Diskurs der Filmmusik in der Weimarer Republik nachgehen, um schließlich die Grundlegung einer angewandten Hermeneutik im Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik darzulegen.

2.

Von der Kinothek zum Allgemeinen Handbuch der Film-Musik: eine Synthese aus hermeneutischer Theorie und Praxis der Filmillustration

Sobald Musik für den Stummfilm begleitend und illustrativ ausdeutend verwendet wurde, existierten heterogene Möglichkeiten der Musikbegleitung. So wurde seit den Anfängen der Kinematographie immer wieder mit apparativen Vorrichtungen wie Phonograph oder Musikautomat experimentiert, um bewegtes Bild und Ton aneinander zu koppeln. Wurde der Film konkurrierend zu den Synchronisierungsapparaturen mit Live-Musik begleitet, so belegen ab den 1910er Jahren sogenannte Cue Sheets (Musiklisten) oder Anthologien von musikalischen Versatzstücken zum 5 Für eine detaillierte Analyse des Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik vgl. vgl. Maria Fuchs, Stummfilmmusik. Theorie und Praxis im „Allgemeinen Handbuch der Film-Musik“ (1927) (= Marburger Schriften zur Medienforschung 68), Marburg 2017 und Ulrich Eberhard Siebert, Filmmusik in Theorie und Praxis: Eine Untersuchung der 20er Jahre und fruhen 30er Jahre anhand des Werkes von Hans Erdmann, Peter Lang 1990. 6 Zur Geschichte der Theorie von Filmmusik, worin auch das Allgemeine Handbuch der Film-Musik einen prominenten Platz einnimmt, bis hin zur musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit Filmmusik vgl. Guido Heldt, „Film-Music Theory“, in: The Cambridge Companion to Film Music, hrsg. v. Mervy Cooke u. a., Cambridge University Press 2016, S. 97–113. Für eine umfangreiche theoretische Betrachtung von Filmmusik vgl. James Buhler, Theories of the Soundtrack, Oxford University Press 2018.

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Gebrauch standardisierter Filmszenen ein wachsendes Bestreben, die Musik dem Filmgeschehen dramaturgisch anzunähern und zwischen Leinwand und Publikum emotional zu vermitteln. In Letzteren kamen bereits existente Kompositionen, meist der europäischen Kunstmusik zugehörig, zum Einsatz, die nach dramatisch wiederkehrenden Filmsituationen in Kinomusiksammlungen aufgeschlüsselt und klassifiziert wurden. Originalkompositionen für einen spezifischen Film stellten aus ökonomischen und aufführungstechnischen Gegebenheiten eine Seltenheit dar. Das Verfahren, Musikstücke unterschiedlichster Herkunft zu einer Begleitmusik zusammenzufügen, wurde im Filmfachmedium der 1920er Jahre mit „musikalischer Kompilation“7 , respektive „musikalischer Illustration“ beschrieben. Die musikalische Illustration war die gängigste Methode der musikalischen Begleitung des Stummfilms in den 1920er Jahren. Die Musik hatte der Handlung sinngemäß zu folgen und diese musikalisch auszudeuten, wodurch der Stimmungs- und Emotionsgehalt vertieft wurde. Die instrumentale Besetzung wechselte dabei von Klavier über kleinere Ensembles, Kammersalonorchester bis hin zu sinfonisch besetzen Orchestern, wobei Letztere für die Premierenkinos der 1920er Jahre charakteristisch waren. Zahlreichen journalistischen Berichten deutschsprachiger Medien der 1910er und 1920er Jahre zufolge war die zeitliche Koordinierung der kompilierten Musik mit dem Film sogar bis Ende der Stummfilmperiode unzureichend. Dieser Problematik galt in der theoretisch-künstlerischen wie praktischen Auseinandersetzung mit der Stummfilmmusik das größte Augenmerk. Die Gründe für die mangelhafte dramaturgische Musikbegleitung sind vielfach auf die unzulängliche Kinoausstattung und die Bedingungen, die die Filmproduktionsfirmen zur Verfügung stellten, zurückzuführen. Auch die häufigen Programmwechsel, fehlende Vorführnormen bei der Abspielgeschwindigkeit der Filme, Zeitmangel bei der Sichtung der Filmstreifen und Musikproben sowie generell fehlende finanzielle Mittel bei der Beschaffung von Notenmaterialien liefen der angestrebten Synchronisierung von musikalischem und szenischem Vorgang und der generellen Anhebung der künstlerischen Qualität zuwider. Eine erfolgsversprechende Neuerung für die Behebung dieser Problematik stellten im deutschsprachigen Raum die von Giuseppe Becce nach US-amerikanischen Vorbild erstellten Kinotheken (Portmanteau von „Kino“ und „Bibliothek“) dar, in denen er kurze, neu komponierte Filmmusiken unter bestimmten Rubriken für unterschiedliche filmszenische Situationen

7 Die begriffliche Verwendung der musikalischen Illustration des Stummfilms knüpft in dieser Arbeit synonym an ihren Gebrauch in den Fachmedien der 1920er Jahre an. Im Handbuch der Film-Musik wurde mit musikalischer Illustration „ein sinngemäßes Anpassen von Musik an gegebene Objekte der Zeit-Künste“ definiert, Hans Erdmann und Giuseppe Becce (unter Mitarbeit von Ludwig Brav), Allgemeines Handbuch der Film-Musik, I. Musik und Film. Verzeichnisse, Berlin 1927, S. 5.

Intermediales Verhältnis von bewegtem Bild, Ton und Affekt

katalogisierte. Giuseppe Becce schrieb im Jahr 1926 in dem filmmusikalischen Branchenblat Film-Ton-Kunst rückblickend zur Entstehung seiner Kinotheken: Im Jahre 1915 amtierte ich im Mozartsaal. Es lief der Film ‚Therese Raquin‘. Dazu brauchte ich eine spukhafte nächtliche Stimmung, konnte nichts recht finden und schrieb mir selbst etwas auf. So entstand die erste Nummer: Notte misteriosa (I A, 5). Ähnlich ging es mit den meisten anderen Stücken. Schließlich waren es viele geworden, schließlich hatte ich praktisch herausgefunden, daß solche Stücke immer verwendbar blieben, weil es immer ähnliche Filmsituationen gab: eine Drucklegung schien nützlich.8

Becces Kinotheken brachten dauerhafte Überlegungen einer ungefähren zeitlichen Koordinierung zwischen Musikillustration und Bildgeschehen mit sich. Im Reichsfilmblatt, einem weiteren Branchenblatt der frühen Kinematographie, wurde Becces Kinothek dahingehend gewürdigt, dass sie „praktisch einen Weg aufgetan hat, dem ‚methodische Bedeutung zukommt‘“.9 Neben ihrem praktischen, recycelbaren Wert, nicht an einen spezifischen Film gebunden zu sein, liegt ihre Bedeutung in dem Versuch, filmmusikalisch-formbildend zu sein. Ihre modulare und flexible Form ließ eine gewisse Freiheit im Zusammenspiel mit der Projektionsmaschine zu. Mit dem Verlag Schlesinger’schen Buch- und Musikhandlung in BerlinLichterfelde, bei dem später auch das Allgemeine Handbuch der Film- Musik erscheinen sollte, und dessen verantwortlichem Verleger Robert Lienau traf Becce auf einen aufgeschlossenen Partner. Die Kinotheken erschienen laufend zwischen 1919 und 1929. Jede Serie enthielt sechs bis neun Nummern. Diese waren für großes Orchester, Salonorchester, Quartett und Trio arrangiert. Sie fanden auch international erfolgreich Verwendung. Der Verkauf wurde über den Verlag Schlesinger in Berlin, Carl Haslinger in Wien, den internationalen Musikhandel A. E. Wappler in Stockholm, LaFleur & Son in London sowie Bel Win in New York abgewickelt. In der Nachfolge von Becces Kinotheken-Serie erschienen zahlreiche Kinomusikkataloge im deutschsprachigen Raum. Die seitens der Filmindustrie und Musikverlage entwickelten Anthologien können als methodische Verbesserungsbestrebungen der musikillustrativen Praxis bewertet werden, die auch eine dramaturgische Einflechtung der Musik ins Filmgeschehen gewährleisten sollten. Wie ihre englischen, französischen und US-amerikanischen Konkurrenten gingen deutsche

8 Giuseppe Becce, „Wie das ‚Kinomusikblatt‘ entstand“, in: Film-Ton-Kunst. Eine Zeitschrift für die künstlerische Musikillustration des Lichtbildes, Nr. 1, 1926, S. 3. 9 Hans Erdmann, „Zur Methodik der musikalischen Film-Illustration (Fortsetzung und Schluß)“, in: Reichsfilmblatt 41, 1924, S. 26.

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Verlage wie Bote & Bock, Schlesinger oder Anton J. Benjamin dazu über, ihr traditionelles Opern- und Konzertrepertoire durch Bearbeitungen dem Kino zugänglich zu machen. So war beispielsweise im Auftrag des deutschen Musikverlegers Anton J. Benjamin Ernö Rapées Ratgeber zur musikalischen Filmillustration: Kinomusikalische Klassifizierung der Orchesterwerke aus der Lyra-Edition (1926) entstanden, worin die Orchesterliteratur der Lyra-Ausgabedesselben Musikverlages für musikillustrative Zwecke zugänglich gemacht wurde. Es kristallisierten sich gewisse filmmusikalische Topoi wie „Agitato“, „Misterioso“, „Horror“, „Elegie“, Sturm“, „Oriental“ usw. heraus, die ein hohes Maß an (auch internationaler) Übereinstimmung aufweisen und demnach gewisse kinomusikalische Standardisierungen einleiteten. Von einem geteilten Wissen über die filmmusikalische Darstellung von Affekten und Stimmungen kann ausgegangen werden, da dieses für den kinomusikalischen Tagesbedarf benötigt wurde. Es war im Grunde ein Markt an musikalischen Affekt- und Stimmungskatalogen im Entstehen, der durch die vorgenommenen Dechiffrierungen vorhandener Musikstücke nach Affekt- und Stimmungsgehalt mit entsprechenden Schlagwörtern einer angewandten musikalischen Hermeneutik glich. Die Musikhermeneutik erforscht die diskursiven Bedeutungen von Musikstücken.10 Die von Kretzschmar um 1900 begründete Methode konzentriert sich großteils auf die Auslegung der Affekte, Gefühle und Stimmungen, die von einem Musikstück aufgerufen werden. Im Gegensatz zu ,rein‘ formalästhetischen Ansätzen, die Musik von allen außermusikalischen Bedingtheiten losgelöst betrachten, ideengeschichtlich mit dem Begriff der „absoluten Musik“ definiert und mit dem deutschen Musikkritiker Erduard Hanslick (1825–1904) eng verknüpft11 , wird die musikalische Hermeneutik mit einer Art Inhaltsästhetik verbunden.12 Sie etablierte sich als eine zuerst in der Publizistik zu verortende populäre Strömung, instrumentale Kompositionen des Konzertwesens mit Programmeinführungstexten anzureichern, um die fehlenden einkomponierten, sprachlich-semantischen

10 Vgl. Lawrence Kramer, Music as Cultural Practice, 1800–1900, (= California Studies in 19th Century Music 8), Berkeley1993 und Berthold Hoeckner, Programming the Absolute: Nineteenth-Century German Music and the Hermeneutics of the Moment, New Jersey 2002. 11 Vgl. Ulrich Tadday, „Zwischen Empfindungen und Reflexion. Zur romantischen Musikästhetik“, in: Musikästhetik, hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 2004, S. 105. Zum Gefühls-, Affekt- und Ausdrucksbegriff und seinen musikgeschichtlichen Bedeutungswandlungen vgl. Brigitte Scheer, Art. „Gefühl“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. v. Karlheinz Barck, Stuttgart u. a. 2000, S. 629–661; Hartmut Grimm, Art. „Affekt“, in MGG 1, Stuttgart u. a. 2000, S. 16–49 und Hans Ulrich Gumbrecht, Art. „Ausdruck“, in: Ästhetische Grundbegriffe, S. 416–431. 12 Die historisch konstruierte Dichotomie zwischen der Idee der „absoluten Musik“ und Inhaltsästhetik wurde in den letzten Jahrzehnten infrage gestellt, vgl. dazu Sanna Pederson, „Defining the Term ‚Absolute Music‘ Historically“, in: Music & Letters, Nr. 90 (2), 2009, S. 243.

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Schichten erklärend zu erhellen.13 Die musikhermeneutische Aufgabe bestand laut Kretzschmar darin, die Affekte aus den Tönen zu lösen und das Gerippe ihrer Entwicklung in Worten zu geben“ und assoziativ aus der „eigenen Erinnerung und Erfahrung, aus der Poesie, des Traums und der Ahnungen“14 subjektiv zu beleben. Das Grundproblem der musikalischen Hermeneutik bestimmte Kretzschmar in der sprachlichen Benennung von musikalischen Inhalten, also genau genommen jene Grundlage, auf welcher die musikillustrative Methode für den Stummfilm beruhte. Bedeutungsspektren von Musik wurden in den Kinomusikbibliotheken sprachlich etikettiert, um der musikdramaturgischen Verschmelzung mit dem Filmgeschehen gerecht zu werden. Musikstücke wurden für die Methode der Musikillustration sozusagen außermusikalisch gedeutet und auf assoziativem Wege sprachlich übersetzt. In dieser Hinsicht knüpfte die Praxis der Musikillustration ästhetisch an die musikwissenschaftlichen Debatten rund um Kretzschmar an. An Kretzschmars theoretischen Überlegungen über die Bedeutungsproduktion von Musik anknüpfend, wurde schließlich das Allgemeine Handbuch der Film-Musik am Ende der Stummfilmperiode 1927 herausgegeben. Es gilt auch als Höhepunkt aller Verbesserungsbestrebungen der Musikillustration des Stummfilms. Auf praktischer Ebene zielte die zweibändige Edition darauf ab, eine Reihe von Regeln für die Anwendung von Konventionen und Standards der Filmillustration bereitzustellen, die von der beruflichen Erfahrung der drei Autoren beeinflusst waren, die alle zuvor als Filmkomponisten gearbeitet hatten. Becce war in der Tat einer der bekanntesten Dirigenten in Berlin während der Stummfilmzeit. Die Komponisten Erdmann und Brav konnten sich bei ihren Beiträgen zum Allgemeinen Handbuch der Film-Musik auch auf ihr fundiertes theoretisches Wissen stützen. Beide waren musikwissenschaftlich ausgebildet. Erdmann hatte bei Otto Kinkeldey in Breslau, einem Schüler Hermann Kretzschmars studiert, während Ludwig Brav in Berlin zu einer Zeit ausgebildet wurde, als die musikinstitutionellen Reformen und die ästhetischen Theorien Kretzschmars verbreitet waren. Ein Ziel dieser Publikation war es, eine engere und künstlerischere Verbindung zwischen Musik und bewegtem Bild zu ermöglichen. Dieses Bestreben stand im Einklang mit ähnlichen Bemühungen in Bezug auf andere Aspekte der Filmvorführung in den späten 1910er und 1920er Jahren, die darauf abzielten, den Film kulturell aufzuwerten, um die mittleren und höheren Schichten als Publikum zu erreichen. Dieser ‚Gentrifizierungs‘-Prozess betraf auch die Architektur der Kinos,

13 Christian Thorau, „Führer durch den Konzertsaal und durch das Bühnenfestspiel – Hermann Kretzschmar, Hans von Wolzogen und die Bewegung der Erläuterer“, in: Hermann Kretzschmar. Konferenzbericht Olbernhau 1998, hrsg. v. Helmut Cadenbach u. a., Chemnitz 1998, S. 93–107. 14 Hermann Kretzschmar, „Anregungen zur Förderung der musikalischen Hermeneutik“ (1902), in: Gesammelte Aufsätze über Musik und anderes, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern der Musikbibliothek Peters, Leipzig 1911, S. 173.

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die Ausstattung, die Ausstellungsstandards usw. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die musikalische Begleitung gelegt, da sich große Kinos mit der Größe ihrer Orchester und dem Ruf ihrer Dirigenten gerne schmückten.15 Rückblickend könnte man das umfangreiche zweibändige Allgemeine Handbuch der Film-Musik, das im August 1927, nur wenige Wochen vor der Premiere von The Jazz Singer in New York City, erschien, als Abschiedsgeste von der Stummfilmmusik betrachten. Es erschien zu einem Zeitpunkt, als die Musikillustration von bewegten Bildern bereits etabliert war und kurz bevor der Durchbruch des Tonfilms diese Praxis zum Verschwinden brachte. Tatsächlich war das 400 Seiten umfassende Projekt seit Jahren in Vorbereitung, wie die im ersten Band enthaltenen ästhetischen und theoretischen Überlegungen zum intermedialen Verhältnis von bewegtem Bild und Musik zeigen. Die angesprochenen Themen gehen weitgehend auf zuvor publizierte Zeitschriftenartikel zurück.16 Den Quellenkorpus dieses Buchs bilden daher in der Sekundärliteratur auch bislang wenig beachtete Texte in verschiedenen Branchenblättern wie beispielsweise Filmtechnik, Film-Kurier, Film-Ton-Kunst, Reichsfilmblatt, Der Kinematograph, Licht-Bild-Bühne oder musikwissenschaftlichen Zeitschriften wie zum Beispiel Melos, Die Musik und Berliner Tageszeitungen, die die drängenden Fragen und Probleme der Filmbegleitmusik behandelten.17 In diesem Sinne kann der erste Band als Kondensat der bisherigen theoretischen Bemühungen um eine Verbesserung und Vereinheitlichung der Praxis der Stummfilmbegleitung betrachtet werden und bildet damit einen zentralen Bezugspunkt für die deutschsprachige Filmmusikgeschichte und -theorie der 1920er Jahre. Der zweite Teil, das sogenannte Thematische Skalenregister, enthält ein Nachschlagewerk präexistenter Kompositionen für die kompilatorische Filmmusikpraxis.

15 Für detaillierte Analysen und verschiedene Fallstudien darüber, wie die musikalische Begleitung in den Kinos der 1920er Jahre im Zentrum der kulturellen Aufwertung der Filmvorführung stand, siehe Gillian B. Anderson, „The Presentation of Silent Films, or, Music as Anaesthesia“, in: The Journal of Musicology 5, No. 2, 1987, S. 257 ff.; Gillian B. Anderson, „Geraldine Farrar and Cecil B. DeMille: The Effect of Opera on Film and Film on Opera in 1915“, in: Literature and Cultural Studies 24, 2005, S. 23–35; Anna K. Windisch, „Riesenfeld, Rapée & Roxy. How the Symphonic Orchestra Conquered Broadway’s Movie Theaters’“ in: Austria and America: Cross-Cultural Encounters 1865–1933, hrsg. v. Joshua Parker u. a., Zürich 2014, S. 73–94 und Maria Fuchs, „Cultural Mobility, Ernö Rapée and ‚American Showmanship Scores in German Picture Theatres‘“, in: En, Desde Y Hacia Las Américas. Músicas Y Migraciones Transoceánicas, hrsg. v. Victoria Eli Rodríguez, Madrid 2021, S. 607–619. 16 Zur Rekonstrution der historischen Zeitschriftenmaterialien im ersten Band, vgl. Maria Fuchs, Stummfilmmusik, Marburg 2017, S. 148–148. 17 Ein vergleichbares Verfahren, bei der die Tageskritik und Tagespublizistik den ‚Vorraum‘ einer systematischen Theorie bilden, ist in den Filmtheorien Béla Balázs’ und Rudolf Arnheims zu beobachten, vgl. Karl Prümm, „Musiktheorie als Filmtheorie. Hans Erdmann und die Stummfilmmusik“, in: Bolik, Sibylle (Hrsg.): Medienfiktionen: Illusion – Inszenierung – Simulation (= Festschrift fur Helmut Schanze zum 60. Geburtstag), hrsg. v. Sibylle Bolik, Frankfurt am Main 1999, S. 295.

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Es listet 3050 kurze Exzerpte aus Musikstücken von 211 verschiedenen Komponisten vorwiegend der europäischen Kunstmusik des 19. Jahrhunderts (Opern, Programmmusik, Ballette, Tänze oder Suiten), die detaillierte Charakterisierungen zu den übereinstimmenden filmszenischen Anlässen enthalten. In expliziter Anlehnung an Kretzschmars hermeneutische Methode, die den Gehalt von Musik durch ihren Affektverlauf zu entschlüsseln und ihre gefühlsmäßigen Qualitäten zur Sprache zu bringen versuchte, wurden auch die indexierten Musikstücke des Thematischen Skalenregisters nach musikhermeneutischen Kriterien thematisch analysiert und einem stimmungsbezogenen System untergeordnet.18 Die Präzision, mit welcher hier versucht wurde, die außermusikalische Bedeutung von Musik lexikalisch zu erfassen, ist bezeichnend für das musikhermeneutische Erkenntnisinteresse der Herausgeber des Thematischen Skalenregisters. Es ist auch bezeichnend für einen sehr deutschsprachig geprägten Wissenschaftsstil, welcher für die früheste Theorie und Ästhetik von Filmmusik angewandt wurde.

3.

Kretzschmars intermediale Spuren bis hin zur Grundlegung einer angewandten Hermeneutik der Filmmusik

Die Übertragung der hermeneutischen Ideen Kretzschmars auf die Konzeption des Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik ist vor dem Hintergrund der früheren ästhetischen Schriften Erdmanns und Bravs über die Filmbegleitmusik zu verstehen. In ihren früheren Texten zur Erörterung des ästhetischen Verhältnisses zwischen bewegtem Bild und Musik spiegelt sich das Bemühen der Autoren wider, die Filmmusik in eine Traditionslinie europäischer Kunstmusik zu platzieren. Aus der Sicht vieler Publizist:innen, Komponist:innen und Musikwissenschaftler:innen war die musikalische Filmbegleitung damals im Wesentlichen eine systematische Ausbeutung und Zerstückelung musikalischer „Meisterwerke“ und stand daher in einem schlechten Ruf. Ein Grund für diese anhaltende Kritik ist in der Idee der „autonomen Musik“ zu suchen, die viele Kritiker:innen ideologisch vertraten. In den theoretischen und ästhetischen Texten zur Filmmusik agierten Erdmann und Brav hingegen gänzlich im Auftrag des Kunstansehens der musikalischen Illustration. Als Redakteur des Fachorgans Film-Ton-Kunst, das beim Verlag Schlesinger erschien, setzte Erdmann mit seinem Kollegen Brav tonangebende theoretische Impulse, die im Allgemeinen Handbuch der Film-Musik mündeten. Beide, Erdmann und Brav, erörterten von einem westlich geprägten, musikhistorischen Kern ausge-

18 Für eine detaillierte Analyse des zweiten Bandes und der hermeneutischen Grundlegung des Kinokataloges, vgl. Maria Fuchs, „Hermann Kretzschmars forgotten Heirs. ,Silent‘-Film Music as Applied Musical Hermeneutics“, in: Music and the Moving Image, No. 12/3, 2019, S. 3–24.

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hend frühe theoretische Überlegungen zur Filmmusik und versuchten der Praxis der Musikillustration gleichzeitig eine ästhetische Legitimation zu verschaffen.19 Dies kann anhand zahlreicher Texte Erdmanns und Bravs nachvollzogen werden, in denen die Filmmusik beispielsweise in die Nähe zur Opernpraxis oder Programmmusik gestellt und ihre verwandten ästhetischen Beziehungen herausgearbeitet wurden. Der generelle Einfluss der Oper auf die Filmbegleitmusik ist bekannt. Insbesondere hatten die leitmotivisch strukturierten Musikdramen Richard Wagners und der Begriff des „Gesamtkunstwerks“ besonderen Einfluss auf die Entwicklung Filmmusik genommen – ohne die Bezüge zu Wagner kam auch keine Apologie der Filmmusik bzw. des Films aus.20 Wagners Auffassung des Gesamtkunstwerks hat die Filmschaffenden dazu herausgefordert, die filmischen Ausdrucksmittel (Bild, Sprache, Geräusch und Musik) nicht hierarchisch anzuordnen, sondern sie als gleichwertige wirkungsvolle Zeichen zu behandeln. Erdmann und Brav hingegen stellten die Filmmusik in eine ästhetische Linie zur Pasticcio-Technik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und vor allem dem Opernschaffen Georg Friedrich Händels. Erdmann bezeichnete die Filmillustrator:innen beispielsweise als wiederauferstandene Pasticcio-Komponist:innen: Der musikalische Film-Illustrator ist im engeren Wirkungskreis ein Kind unserer Zeit. Wenn man aber ihn und seine Arbeit näher besieht, so zeigt sich, daß er eine recht lange und bewegte, freilich etwas auch verdächtige Vergangenheit hat: ein Bastard, den Apoll in einer schwachen Stunde zeugte. Aber er hat eine ungeheure Zähigkeit und ist erstaunlich wandelbar. Überall, wo je musiziert wurde, entfaltet er bald seine zuweilen etwas zweifelhafte Tätigkeit. Als ‚Musikimprovisator‘ sehen wir ihn im modernen Varieté, als Potporri-,Komponisten‘ [sic!] im Konzert- und Tanzsaal, für den Gesangsverein fabrizierte er zu Beginn des vorigen Jahrhunderts das ,beliebte musikalische Quodlibet‘, aufs Kirchenchor schmuggelte er zur gleichen Zeit die Opernarie ein, und schließlich in der Oper selbst triumphierte er vor dem Publikum als ,Autore‘ des ,berühmten Pasticcio‘, in welche er irgendeine Handlung mit Opernarien ausstaffierte. Und ‒ alles kommt wieder ‒

19 Zum Fort- und Einschreiben musikhistorisch, westlicher Traditionen in die Theorie und Ästhetik von Filmmusik vgl. ausführlich Fuchs, Stummfilmmusik, 2017, S. 118–139. 20 Vgl. Oliver Huck, Das musikalische Drama im ,Stummfilm‘. Oper, Tonbild und Musik in Film d’Art, Hildesheim u. a. 2012, S. 4. Außerdem drängte Wagners Musik zur Visualisierung, sodass die Kompatibilität für das Kino außer Zweifel stand. Ebenso wie die Klangvaleur wurden auch Wagners Kompositionstechniken und Instrumentierungsweisen von Komponisten für den Stummfilm adaptiert bzw. prägten sie die ersten Originalkompositionen für den Film. Zum Einfluss von Wagner auf diverse Filmtheoretika des Stummfilms sowie auf die Entwicklungen der Filmmusik vgl. Jan Drehmel, Kristina Jaspers und Steffen Vogt (Hrsg.), Wagner im Kino. Spuren und Wirkungen Richard Wagners in der Filmkunst, Hamburg 2013.

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unser musikalischer Film-Illustrator ist eigentlich nur der ‚Herr Pasticcio-Komponist redivivus‘.21

Auch Brav rekurrierte auf Kompositionstechniken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, um den künstlerischen Wert der Musikillustration hervorzukehren, und legte dabei zugleich ein allgemeines Begriffsverständnis von Musik offen: Das gedanklich fixierbare einer Musik ist keineswegs so scharf umrissen, daß es nur ein einziges und einmaliges bedeuten und erschöpfen könnte. Wir erleben die Mehrdeutigkeit und Anpassungsfähigkeit der Musik alle Tage. Musik ist halt keine Photographie, [...] sie steht mit den Bildern und Dingen in einem gefühlsmäßigen oder assoziativem Zusammenhang, ist aber nicht ihr Abbild. Das wußten die Altmeister auch und haben sich daher nicht gescheut, dasselbe Tonstück zu den verschiedenartigsten Zwecken zu verwenden, andere Gesangs-Texte unterzulegen usw.22

Die ästhetische Reflexion der Filmmusik zeigt sich bei beiden Autoren vor allem vor dem Hintergrund der akademisch geführten, aber mitunter heftigen Polemik zwischen Inhaltsästhetik und Formalästhetik, in der sich die Ansichten von Kretzschmar und Eduard Hanslick gegenüberstanden. Die Rezeption der musikästhetischen Form-Inhalt-Debatte lässt sich deutlich bei Brav nachvollziehen, als er anlässlich einer neu erschienen Musiksammlung über den Gegensatz zwischen „absoluter Musik“ und Programmmusik reflektiert, welcher in Bezug auf Filmmusik geltend gemacht werden sollte: Der Gegensatz zwischen ‚absoluter‘ Musik und Programmmusik ist alt und wird nie verschwinden. Der Grund hierfür: Eine Musikbegabungs– und Einstellungssache. Die Veranlagung zur Musik pendelt bei den verschiedenen Menschen zwischen zwei Extremen: Das eine ist die Neigung in jeder Musik, und sei sie noch so ‚absolut‘, außermusikalische Bedeutung zu sehen, ihr einen gedanklichen oder wenigstens ‚ausgesprochenen‘ gefühlsmäßigen Hintergrund zu geben. Das andere sieht in der Musik, wie Hanslick, nur tönend bewegte Formen, ein arabeskenartiges Spiel.23

21 Hans Erdmann, „Filmmusik ein Problem? (1. Fortsetzung)“, in: Reichsfilmblatt 35, 1924, S. 31. 22 Ludwig Brav, „Illustration oder Komposition?“, in: Film-Ton-Kunst. Eine Zeitschrift fur die kunstlerische Musikillustration des Lichtbildes 2, 1927, S. 15. 23 Brav schrieb viele seiner im Fachmedium erschienen Artikel unter dem Pseudonym „-g“, vgl. Anon., „Robbins-Engel Edition (Alberti-Verlag)“, in: Film-Ton-Kunst. Eine Zeitschrift fur die kunstlerische Musikillustration des Lichtbildes 4, 1926, S. 43.

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Ausdrücke wie „tönend bewegte Formen“ und „arabeskenartiges Spiel“ sind nur einige Beispiele der zahlreichen bekanntgewordenen Floskeln von Hanslicks Streitschrift Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst.24 Angesichts der um die Jahrhundertwende dominierenden Form-InhaltDebatte ist es bezeichnend, dass Brav mit dem anderen Extrem indirekt auf Kretzschmar, der Leitfigur einer Art inhaltsausdeutenden ‚Werkerläuterungsbewegung‘, verwiesen hat. Gegen den weit verbreiteten Vorwurf, dass Filmmusik lediglich diene und daher künstlerisch wertlos sei, berief sich auch Erdmann mehrfach auf Kretzschmar, um ihren künstlerischen Wert zu legitimieren: Die Begleitmusik zum Film ‒ eine ‚dienende Kunst‘ würde sie Hermann Kretzschmar genannt haben ‒ ist im gemeinen Sinne ebenso wenig ein Problem als Ballett, Pantomime, Schauspielmusik und dergleichen eines ist.25

Mit dieser Bemerkung stellte Erdmann die Filmmusik im Wesentlichen auf die gleiche Stufe wie das Musiktheater in seinen verschiedenen Formen. Zahlreiche weitere Beispiele verdeutlichen Erdmanns und Bravs Rezeption der akademischen FormInhalt-Debatten und der zugrunde liegenden ideologischen Polemik zwischen Hanslick und Kretzschmar. Ihre Austragung hatte offensichtlich eine Fortführung in Bezug auf das neue Filmmedium gefunden und charakterisierte gleichermaßen die frühen ästhetischen Schriften zur Filmmusik. Direkt an Kretzschmars Überlegungen anknüpfend, kreisten die theoretischen Überlegungen beider Autoren über die Katalogisierung von Musikstücken für die musikalische Filmillustration, die die täglichen Anforderungen der Filmindustrie mit sich brachte. Die Konzeption dieser Kinomusikkataloge war – ob wissentlich oder unwissentlich – stark von den Methoden der Musikhermeneutik geprägt. Um die beschleunigten musikdramatischen Bedürfnisse im Kino zu befriedigen, wurden (meist bereits existierende) Musikstücke nach ihrem außermusikalischen Gehalt kategorisiert und so in sprachliche Assoziationen übersetzt. Bereits vor der Veröffentlichung des Allgemeinen Handbuchs der Film-Musik hatten Erdmann und Brav in verschiedenen Fachartikeln über das Problem der sprachlichen Interpretation musikalischer Semantik nachgedacht. Erdmann hatte das Kernproblem der Musikhermeneutik bereits 1926 in einem Aufsatz berührt, in dem er sich mit der Entsprechung von Schlagwörtern zu Kompositionen in Ernst Eggerts neu erschienenem Kinomusiksammlung Preis-Kino-Bibliothek (1926) befasste, als er schrieb:

24 Eduard Hanslick, Vom musikalischen Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst (1854), unveränderter Nachdruck der 16. Auflage 1966, Wiesbaden 1989. 25 Hans Erdmann, „Filmmusik, ein Problem?“, in: Reichsfilmblatt 34, 1924, S. 28, Hervorhebung durch Verfasser.

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Die große und nie verkannte Schwierigkeit, musikalische Stimmungen in Worte zu fassen (musikalische Hermeneutik), ist bekannt, immerhin kann sorgliches Abwägen der Begriffe dabei manche Hilfe leisten. Die Filmkomponisten sollten bedenken, daß die ihren Werken beigegebene Ueberschrift [sic!] nicht eine Erkennungsmarke wie beim Dutzendschlager sein sollen, daß sie irgendeinen wirklichen Inhalt angeben sollen. Gewisse Möglichkeiten gibt es schon: verzweifelte Klage (dramatisch bewegt), düstere Klage (ruhig), melancholisch klagend, wehmütig klagend usw. sind z. B. Worte, die immerhin eher einen Anhalt geben als eben ‚Reue‘, das den aufgezählten Worten immer zugrunde liegen kann.26

Dem Verfahren der sprachlichen Ausdeutung von Musikstücken für kinomusikalische Zwecke hatte sich besonders Brav gewidmet. Zahlreiche Fachartikel27 dokumentieren sein Auf- und Abwägen von charakterisierenden Überschriften der für den Film bestimmten Musikstücke – im Sinne einer hermeneutischen Analyse betrifft dies die semantischen Qualitäten der Musik. Das Allgemeine Handbuch der Film-Musik kann schließlich als Kristallationspunkt der ästhetischen Diskurse der Filmmusik betrachtet werden. Der Einfluss des hermeneutischen Denkens ist im gesamten Allgemeinen Handbuch der Film-Musik präsent, und zwar nicht nur im ersten Band, worin das intermediale Verhältnis zwischen Film und Musik diskursiv erörtert wird. Auch die Konzeption des zweiten Bandes, das Thematische Skalenregister, ist wesentlich von Kretzschmars Ideen zur Interpretation musikalischer Ausdrucksqualitäten geprägt.

26 Hans Erdmann, Hans, „Die ,Preiskino-Bibliothek‘. Herausgegeben von Ernst Eggert, Heinrichshofens Verlag, Magdeburg“, in: Reichsfilmblatt 11, 1926, S. 14. 27 Vgl. dazu näher Fuchs, Stummfilmmusik, 2017, S. 128–139.

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Abb. 1a–b Schlesinger’sche Buch- und Musikhandlung, Allgemeines Handbuch der Film-Musik. Thematisches Skalenregister (Staatsbibliothek zu Berlin). © mit freundlicher Genehmigung des Robert Lienau Musikverlags, Mainz.

 

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Die Katalogisierung der Musik unterliegt dabei einem mehrstufigen stimmungsbezogenen System (Inhaltsverzeichnis Abb. 1a–b). Die Musikschaffenden konnten sich von Oberbegriffen („Incidenz“ und „Expression“) über Eingrenzungen (Stimmungskategorien und Szeneninhalte) bis hin zu präzise beschriebenen musikalischen Stimmungen und Affekten des betreffenden Musikstückes durcharbeiten und anhand der Charakterisierungen zu einer immer passgenaueren Musik für die zu begleitende Filmszene durchdringen. Die Noten selbst sind nicht enthalten, stattdessen dienen Noten-Incipits zur Veranschaulichung der zu benutzenden Musikstücke, die in Minuten angegeben sind und von ihrer Länge her durchweg variieren (Abb. 2). Die Musikstücke in dieser Musiksammlung wurden thematisch zerlegt. Die Incipits geben daher nicht notwendigerweise den Anfang einer Komposition an, sondern können auch Mittelteile beschreiben, in denen neue Aufführungshinweise und Ausdrucksbezeichnungen vorherrschen und die dazu dienen, den musikalischen Charakter eines Stückes in Bezug auf Affekt, Dynamik und Stimmung zu vermitteln. Infolgedessen wurden Ouvertüren beispielsweise in kleinere Segmente aufgeteilt wie etwa die Ouvertüre zu Händels Messias in die Stimmungen „Feierliche Kirchenintrade“ und „Entwicklung einer ernsten Staatsaktion (nur historisch)“ unterteilt und katalogisiert wurde. Dieses komplexe musikanalytische oder musikhermeneutische Herausschälen von Stimmungseinheiten mit den entsprechenden sprachlichen Etikettierungen unterscheidet die Musiksammlung des Thematischen Skalenregisters von anderen Musikkatalogen der damaligen Zeit. Zum Beispiel listete Ernö Rapées Encyclopedia of Music for Pictures (1925)28 die Musiktitel und die jeweiligen Komponisten:innen und Verleger:innen alphabetisch innerhalb eines filmszenischen Schlagworts (Abb. 3). Die Musikstücke unterliegen keiner musikhermeneutischen stimmungsbezogenen Exegese. Mit anderen Worten, es gibt keine detaillierte Interpretation nach den Ausdrucksqualitäten der einzelnen Musikstücke, die für eine musikhermeneutische Analyse von Musik so wesentlich ist.

28 Ernö Rapée, Encyclopedia of Music for Pictures (1925), rpt. New York 1970.

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Abb. 2 Schlesinger’sche Buch- und Musikhandlung, Allgemeines Handbuch der Film-Musik. Thematisches Skalenregister, Ausschnitt (Staatsbibliothek zu Berlin). © mit freundlicher Genehmigung des Robert Lienau Musikverlags, Mainz.

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Abb. 3 Belwin, Encyclopedia of Music for Pictures, (Deutsche Kinemathek Berlin).

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Im Vergleich zu Bravs Solopublikation, dem Thematischen Führer 29 , wird der musikhermeneutische Ansatz, den Brav und Erdmann für die Praxis der Filmmusik adaptierten, noch deutlicher. Auch hier wendete Brav eine musikhermeneutische Analyse der Musik an, indem er unterschiedliche Stimmungseinheiten aus ein und demselben Stück herausschälte und sie thematisch kennzeichnete (Abb. 4). Brav ging in der Anordnung seiner Musiksammlung für das Kino, wie er schreibt, so vor, „daß die Werke, alphabetisch nach ihren Komponisten geordnet, in einzelne für illustrative Zwecke geeignete Stücke zerlegt wurden, deren Themen man angegeben findet. Dazu wurde eine bildhafte Ausdeutung der betreffenden Musik zu geben versucht, die auf die Brauchbarkeit des betreffenden Stückes für die Zwecke des Films hinweisen soll.“30 Sowohl das Thematische Skalenregister als auch der Thematische Führer markieren schon durch ihre Titel annäherungsweise, dass hier Kretzschmars „Themenästhetik“ den Konzeptionen zugrunde liegt. Die Themendeutung war für Kretzschmars musikhermeneutische Analyse von großer Bedeutung: „Die Sicherheit der „Themenästhetik“ stellte für ihn „die Grundlage aller Hermeneutik“31 dar. Er ging davon aus, dass vom Charakter des Themas her der Inhalt und Verlauf eines größeren Stücks additiv fortschreitend erschlossen werden könne. Die Konzeptionen des Thematischen Skalenregisters und Thematischen Führers können insgesamt als Entwürfe in Richtung künstlerisch-avancierte Musikillustration gewertet werden, die auch gleichzeitig mit einer Kritik an den abgenutzten Klischees der Filmillustration einhergingen. Beide Kataloge sind zweifellos im Kontext der musikalischen Hermeneutik und zweier Schüler dessen zu verstehen, wo Form und Inhalt der Musik systematisch erschlossen wurde – ein Unterfangen, das Kretzschmar zeitlebens nie erfüllt hat. Strenggenommen geht mit der Konstruktion des Thematischen Skalenregisters und auch des Thematischen Führers eine Legitimation der musikalischen Hermeneutik als musikwissenschaftliche Disziplin selbst einher. Kretzschmar war in musikwissenschaftlichen Kreisen mit seiner Idee einer Musikhermeneutik umstritten. Sein inhaltsausdeutendes Verfahren von Musik hatte den Ruf, pseudowissenschaftlich zu sein. Mit der akribischen Benennung und gleichzeitigen Reflexion von musikalischen Bedeutungsspektren trugen Erdmann und Brav die gesamte Problematik der musikalischen Hermeneutik theoretisch und ästhetisch in das Feld der Filmmusik.

29 Ludwig Brav, Thematischer Führer durch klassische und moderne Orchester-Musik zum besonderen Gebrauch für die musikalische Film-Illustration, angebunden: Die Praxis der Bearbeitung und Besetzung für kleines Orchester, Berlin 1928. 30 Brav, Thematischer Führer, S. III. 31 Hermann Kretzschmar, „Anregungen zur Förderung der musikalischen Hermeneutik“, Leipzig 1911, S. 188.

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Abb. 4 Bote & Bock, Thematischer Fuhrer durch klassische und moderne Orchester-Musik zum besonderen Gebrauch fur die musikalische Film-Illustration (Staatsbibliothek zu Berlin). 1927 by Bote & Bock. © mit freundlicher Genehmigung von Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, Berlin.

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4.

Schluss

Zeitgleich mit dem Beginn der Tonfilmära erschienen, konnte das Allgemeine Handbuch der Film-Musik seine Wirkung in praktischer Hinsicht kaum entfalten. Wie viele zur Stummfilmzeit entstandenen Musikbibliotheken stellt es ungeachtet dessen einen Vorläufer der heutigen Produktionsmusik dar. In der internationalen Forschungsliteratur wird es heute als eines der wichtigsten Dokumente der Musikpraxis des Stummfilms wie gleichermaßen ihrer theoretischen und ästhetischen Reflexion rezipiert und als Referenzwerk bei der Beschäftigung mit musikpsychologischen, dramaturgischen und filmnarratologischen Funktionen der Filmmusik herangezogen. Um das Allgemeine Handbuch der Film-Musik einer vergleichbaren Arbeit – wenn auch zwanzig Jahre später – gegenüberzustellen, wende ich mich dem Komponisten Hanns Eisler und dessen „Filmmusik-Projekt“ (1940–1942) zu. Von der Rockefeller Foundation finanziert, untersuchte Eisler die Beziehung zwischen Film und Musik aus einer avantgardistischen Perspektive.32 Seine Erfahrungen und Überlegungen gipfelten in dem Buch Composing for the Films (1947), das er bekanntlich gemeinsam mit Theodor W. Adorno publizierte. Trotz der ideologischen Starrheit gilt das Buch bis heute als Klassiker einer Soziologie, Theorie und Ästhetik der Filmmusik, die allerdings stark an Kriterien der autonomen Musik gemessen wurden.33 Im Gegensatz dazu stellt das Allgemeine Handbuch der Film-Musik das massenkulturelle Phänomen der filmillustrativen Praxis in den Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzung und aktualisierte hierfür die musikalische Hermeneutik Kretzschmars. Damit leistet es einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung der musikalischen Bedeutungsproduktion in und außerhalb ihrer filmischen Anwendungen. Die Relevanz und Aktualität dieser ersten theoretischen und ästhetischen Überlegungen zur Filmmusik liegt darin, dass genau die Probleme reflektiert werden, die in der intermedialen Kombination von sprachlicher Semantik, bewegtem Bild und musikalischer Bedeutung entstehen. Aus heutiger Sicht hat Erdmanns und Bravs musikhermeneutischer Ansatz nicht nur eine grundsätzliche Gültigkeit in der theoretischen Auseinandersetzung mit Filmmusik, sondern er wirft auch ein neues Licht auf die musikwissenschaftlichen Form-Inhalt-Debatten an der Wende zum 20. Jahrhundert. Nicht nur hat

32 Als weitere frühe Theoreme der Filmmusik wäre zu nennen: Leonid Sabaneev, Music for the Films: A Handbook for Composers and Conductors, London 1935 und Kurt London, Film Music: a Summary of the Characteristic Features of its History, Aesthetics, Technique, and Possible Developments, trans. Eric s. Bensinger, London 1936. 33 Das Buch ist gewisserweise eine Ergänzung zu Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947), worin das Filmmedium als Fallstudie einer Polemik der zeitgenössischen Kulturindustrie fungiert.

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Maria Fuchs

das Medium Film die musikhermeneutischen Praktiken aktualisiert, sondern die Musikhermeneutik als spezifisch deutsche Denktradition wurde durch das neue visuelle Medium herausgefordert. Sie bestimmt auch heute noch – ob wissentlich oder unwissentlich – die Praxis der Produktionsmusik für kommerzielle, audiovisuelle Medien.34

34 Zu aktuellen Forschungen über Produktionsmusik in Fernsehen, Film, Werbung, Trailerproduktion, Online-Inhalte oder Radio, während ihre Vorläufer in den Musiksammlungen der Stummfilmzeit zu finden sind, vgl. u. a. Júlia Durand, „,Romantic Piano‘ and ,Sleazy Saxophone‘. Categories and Stereotypes in Library Music Catalogues“, Music, Sound, and the Moving Image, 2020, 14(1), S. 23–45.