Kirchenkunde der reformierten Schweiz [Reprint 2019 ed.] 9783111558059, 9783111187549

150 59 13MB

German Pages 180 [188] Year 1910

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Kirchenkunde der reformierten Schweiz [Reprint 2019 ed.]
 9783111558059, 9783111187549

Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Vorwort des Verfassers
Einleitung
I. Äußere Verhältnisse
II. Kirchenverfassungen
III. Kirchliche Organe
IV. Das kirchliche Leben
V. Kirchliche Vereine
VI. Andere religiöse Gemeinschaften
VII. Kirchliches und öffentliches Leben
VIII. Religiös-sittliches Leben
Inhaltsverzeichnis

Citation preview

Studien zur praktischen Theologie in Verbindung mit

Professor D. Karl Eger

Ärektor d. Predigersem. in Friedberg

und

D. Dr. Martin Schian

Professor der Theologie in Lietzen

herausgegeben von

ä.4. ■RnnS vQUO

Professor D. Dr. Carl Llemen Privatdozent der Theologie in Vonn

1)6

Kirchenkunde des evangelischen Auslandes I

Mrchenkunde der reformierten Schweiz von

Lic. Lari Stuckert Pfarrer in Schaffhausen (Schweiz)

Gießen 1910 Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker)

2

Druck von L. G. Roher G. m. b. t)., Leipzig.

Vorwort des Herausgebers. Das nachstehende tjeft unsrer Studien zur praktischen Theologie bildet zugleich den ersten Teil einer Kirchenkunde des evangelischen Auslandes, auf die solche, die etwa nicht alle hefte der Studien zu beziehen wünschen, besonders abonnieren können. Derartige Unter­ suchungen sind natürlich schon früher gelegentlich angestellt worden, aber vielfach nicht mit der Ausführlichkeit und Sorgfalt, wie sie notwendig gewesen wären. Unsre Studien haben daher von Anfang an auch solche Darstellungen in Aussicht genommen, und gerade sie sind von verschiedner Seite (zuletzt von Drews in seiner Schrift: Das Problem der praktischen Theologie) mit Freuden begrüßt worden. Für alle irgend in Betracht kommende Länder sind durchaus kompetente Referenten gewonnen worden - außer für England und Amerika, von denen wir doch am meisten werden lernen können. Aber hier sind die Verhältnisse eben auch zu Kompliziert, als daß sie zunächst wenigstens von einem einzelnen übersehen werden könnten. Wir werden also über sie vorläufig auch weiterhin Spezialarbeiten bringen, wie sie über Amerika von Haupt

und dem Unterzeichneten ja schon erschienen sind. Ebenso sollen einzelne Rirchen in andern Ländern besonders behandelt werden; Fritze hat das ja schon mit der belgischen Mssionskirche getan. Durch alle diese Unter­ suchungen wird unsre Kenntnis der ganzen evangelischen Kirche beträcht­ lich erweitert und das kirchliche Leben in unsrer eignen hoffentlich kräftig gefördert werden.

Bonn, Pfingsten 1910.

Pros. D. Dr. Carl Llemen.

Vorwort des Verfassers Seit Finslers „Kirchliche Statistik der reformierten Schweiz" 1854/56 ist meines Wissens kein Werk erschienen, welches die kirchlichen Verhält­ nisse der gesamten reformierten Schweiz darstellt. Finster glaubte bei der Vielgestaltigkeit unserer Verhältnisse nicht anders vorgehen zu können, als daß er eine Kantonalkirche nach der andern beschrieb. 3m vorliegen­ den Buch ist der versuch einer einheitlichen Darstellung gemacht worden.

Gewiß war das ein gewagter versuch, wenn man bedenkt, wie ver­ schiedenartig die 15 voneinander unabhängigen Kantonalkirchen der Schweiz sind. Daß dieser versuch nicht in allen Teilen als gelungen be­ zeichnet werden kann, ist von vornherein anzunehmen. 3ch versuchte den gesamten Stoff unter einige große, allgemeine Rubriken zu stellen, vielerlei, was Finster noch nicht berücksichtigte, ist dabei in die Darstellung ein­ bezogen worden, wie Land und Leute, ein Abriß der Schweizer- und Kirchengeschichte, das kirchliche Leben, sein Verhältnis zum öffentlichen Leben, Pfarrer und Richtungen, kirchliche Literatur, das Vereinsleben, die andern Religionsgemeinschasten und besonders eine Beschreibung des religiösen und sittlichen Lebens. (Es hätte freilich noch anderes beigezogen werden und manches ausführlicher geboten werden können, aber auf Wunsch des Verlags mußte ich mir in bezug auf den Umfang des Werkes Beschränkung auferlegen, viel Stoff beruht aus mündlichen und schrift­ lichen Erkundigungen. Allen denen, die mich hiebei mit ihren Beiträgen unterstützt haben, sage ich an dieser Stelle herzlichen Dank. Mein Wunsch ist, daß durch die genauere Kenntnis unserer kirch­ lichen verhältniffe da und dort gute Anregungen ausgestreut werden und die Liebe zu unsrer protestantischen Kirche, die bei allen ihren Mängeln doch ein Gefäß für das kostbare Gut des Evangeliums ist, gemehrt werde. Schaffhausen, Pfingsten 1910.

Pfarrer Lic. Carl Stuckert.

Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Schlüsse.

Einleitung.

1

Einleitung. Land und Leute. Vie Schweiz, im Süden von Europa gelegen, hat eine Ausdehnung von 41 469 qkm. Sie grenzt im Gsten an das Kaisertum Österreich und das Fürstentum Liechtenstein, im Süden das Königreich Italien und die Republik Frankreich, im Westen auch Frankreich, im Norden das Deutsche Reich (Elsaß, Baden, Württemberg und Bayern). Sie wird

von zwei Hauptgebirgen durchzogen, von den Alpen im Süden und vom Jura im Westen, zwischen beiden liegt das schweizerische Hügelland, wenn wir Hochalpen und Voralpen trennen, so lassen sich vier Gebiete unterscheiden, von denen jedes seine eigenen Schönheiten hat: Vie Hochalpen mit ihren himmelanstrebenden Firnen, die Voralpen mit ihren kräuter­ reichen weiden, das Hügelland mit seinen wogenden Ahrenfeldern, der Jura mit seinen dunkeln Tannenwäldern. Vie Hochalpen mit ihren Felswänden, Geröllhalden und Gletschern verursachen, daß das unproduktive Land in der Schweiz bedeutend ist, es beträgt 11 735 qkm. Die Gletscher allein nehmen an Flächenraum den zweiundzwanzigsten Teil der ganzen Schweiz ein. Trotzdem möchte der Schweizer seine Alpen, Gletscher und blauen Seen nicht missen, die seiner Heimat den Tharakter geben, und besingt sie in seinen Liedern in begeisterten Tönen. Trittst im Morgenrot daher, seh' ich dich im Strahlenmeer, Dich, du hocherhabener, herrlicher! wenn der Alpen Firn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet! Eure fromme Seele ahnt Gott im hehren Vaterland!

Vie Voralpen sind das Gebiet, in dem vorzugsweise die Viehzucht betrieben wird. Vas Hügelland ist der fruchtbarste, erzeugnisreichste und wohlhabendste Teil des Landes. Der Jura ist stark bewaldet, doch

hat sich in seinen Tälern auch die Industrie niedergelasien. Vie Schweiz setzt sich politisch zusammen aus zweiundzwanzig Kantonen, von denen drei 4n Halbkantone zerfallen. Nach der letzten Volkszählung von 1900 zählte man 3 315 443 Einwohner. Für 1907 Stuckert, Uirchenkunde der ref. Schweiz.

1

2

Stuckert, llirchenkunde der reformierten Schweiz.

wurden 3 525 256 berechnet. Vie Kantone und ihre Einwohner, nach ihrem religiösen Bekenntnis geordnet, sind (1900) folgende:

Pro- 1 Katho­ testanten liken

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.

Israe­ liten Andere

80752 2933 Zürich................................. 345 446 506 699 80 489 1543 Bern................................. 12 085 134 020 Luzern................................. 319 Uri..................................... 773 18 924 1 1836 53 537 Schwyz............................. 9 — 249 Obwalden........................ 15 009 170 Nidwalden......................... 12 899 3 Glarus............................. 24 403 7 918 Zug..................................... 23 362 1701 19 Freiburg............................. 19 305 108 440 167 Solothurn........................ 31 012 69 461 159 Bafel Stadt.................... 73 063 37 101 1897 Basel Land .................... 52 763 15 564 130 Schaffhausen..................... 34 046 22 7 403 49 797 Appenzell H. H.................. 5 418 31 — 833 Appenzell 3. R................... 12 665 99114 St. Gallen ...... 556 150 412 55155 Graubünden.................... 49 470 114 Argau................................. 114176 91 039 990 Thurgau............................. 77 210 35 824 113 Hessin................................. 2 209 135 828 18 Waadt............................. 242 811 36 980 1076 Wallis................................. 1610 112 984 25 Neuenburg........................ 107 291 17 731 1020 Genf................................. 62 400 67162 1119 Total................................. 1 916 157 1 379 664 12264

1905 702 95 2 3 2 1 25 11 39 130 166 40 43 35 1 203 109 293 74 583 512 219 237 1928 7338

Total

431 036 589 433 146 519 19 700 55 385 15 260 13 070 32 349 25 093 127 951 100 762 112 227 68 497 41 514 55 281 13 499 250 285 104 520 206 498 113 221 138 638 281 379 114 438 126 279 132 609 3 315 443

Vie Berufszugehörigkeit der Bevölkerung zeigt folgende Tabelle,

(Es waren tätig 1. In Bergbau, Landwirtschaft, Viehzucht, Forst­ wirtschaft, Ascherei usw 487124 Personen In der Industrie 693 927 3m handel 140 867 3m Verkehr 61 082 3n der öffentlichen Verwaltung, Wissenschaft, Kunst 72 648 3n persönlichen Diensten und nicht bestimmbaren Berufstätigkeiten 41 312 von den 187 Bezirken der Schweiz sind bloß noch 71 solche, in denen wenigstens 50% der Bevölkerung der Landwirtschaft angehören. Der eigentliche Großgrundbesitz ist in der Schweiz unbekannt, indem auf je 100 landwirtschaftliche Betriebe bloß 220 landwirtschaftlich

2. 3. 4. 5.

Einleitung.

3

tätige Personen kamen. Während die landwirtschaftlich tätige Bevöl­ kerung in beständiger Abnahme begriffen ist, nimmt die industrielle Bevölkerung rasch zu. 3n den zwölf Jahren von 1888 bis 1900 stieg die Zahl der Fabrikarbeiter von 158 506 auf 242 534. Der

besondere staatliche Schutz infolge der Fabrikgesetzgebung erstreckt sich zurzeit auf 1le der Gesamtbevölkerung der Schweiz. Man zählt in der Schweiz drei Großstädte: Zürich mit (1908) 176 700 Einwohnern, Basel mit 126 904 und Genf mit 104 796. Mittelstädte mit über 20 000 Einwohnern sind es (1900) acht (Bern, Lausanne, Lhaux-de-fonds, St. Gallen, Luzern, Winterthur, Biel, Heuen» bürg). Zwischen 20 000 und 10 000 sind es wieder acht. Alle andern Gemeinden haben weniger als 10 000. Vie Einwohnerzahl der neun­ zehn Städte von über 10 000 Einwohnern hat sich in fünfaig Jahren nahezu verdoppelt, während der letzten zwölf Jahre allein betrug ihr Zuwachs 208 306 Einwohner oder 39°/o. Unter Berücksichtigung der Gesamtbodenfläche ergibt sich eine Volksdichte von 80 Einwohnern auf einen Huadratkilometer (Spanien dagegen 36, Gsterreich-Ungarn 72, Frankreich 74, Deutsches Reich 104, Italien 115). Am schwächsten ist natürlich das Gebiet der Hochalpen bevölkert, am dichtesten das Hügelland. In fünfzig Jahren hat die Schweiz um eine Million Einwohner zugenommen. Vie Vermehrung entfällt hauptsächlich auf die Städte von 10000 und mehr Einwohnern, vor fünfzig Jahren gab es acht solche, jetzt neunzehn; ihre Bevölkerung betrug damals 6,4 °/o der Ge­ samtheit, jetzt fast 25°/o. Dabei hat in vierzig ländlichen Bezirken die

Berölkerung in der gleichen Zeit abgenommen, so daß sie zusammen von 20°/o auf 13°/o der Gesamtbevölkerung gesunken ist.

Auch die Zusammensetzung der Bevölkerung nach dem Alter ist auf dem Lande anders als in der Stadt. In ganz landwirtschaftlichen Gegenden bilden die jungen Leute von 17-29 Jahren 25°/o der Be­ völkerung, in den Städten 31°/o; die Männer von 30-50 Jahren auf dem Land 23°/o in den Städten 27°/o; die ältern Leute über 50 Jahre auf dem Land 18 °/o, in den Städten 14°/o. Ein bedeutender Teil der Einwohner der Schweiz sind Ausländer; 1850 waren es 3O°/oo, 1900 116°/oo, sie haben sich also vervierfacht.

Auf je 100 Einbewohner entfallen nahezu 12 Ausländer. In Genf machen sie sogar 397°/oo der Einwohner aus. Am bedeutendsten ist die Einwanderung aus dem Deutschen Reich und Italien; 1900 zählte man in der Schweiz 168 451 deutsche und 117 059 italienische Stattsangehörige. Der Wohlstand des Landes ist in den letzten Jahrzehnten unleugbar gewrchsen, wie das Sparkaffenwesen zeigt. Während im Jahr« 1867 die

Spareinlagen

insgesamt 168 Millionen betrugen, waren sie 1897 ge1*

4

Stuckert, Kirchenkunde -er reformierten Schweiz.

wachsen auf nahezu 982 Millionen in 373 Sparkassen. Auf je 100 Einwohner kamen 44 Sparkasseneinleger. Auf den Einleger gibt es einen Betrog von 760 Fr. Vie Kantone, in welchen die Einleger unter 30°/o der Einwohner betragen, sind: Wallis, Freiburg, Tessin,

Schwyz und Waadt; die andern befinden sich zwischen 3O-5O°/o; über 5O°/o stehen nur Zürich, Glarus und Genf. Noch deutlicher zeigt

sich der Zuwachs an Kapitalkrast bei den Aktiengesellschaften der Schweiz, von 1850 — 1901 wuchs deren Aktienkapital von 93» auf 1881 Millionen. Die Eisenbahnverstaatlichung löste davon 242 Mil­ lionen ab. Dennoch waren es 1906 schon wieder 2370 Millionen. Nach einer Berechnung von Nationalrat Greulich beträgt das National­ vermögen der Schweiz in Aktien, Gbligationen, Spareinlagen, Staats­ papieren, Hypotheken usw. etwa 13 Milliarden, das ergäbe auf den Kopf der Bevölkerung 4000 Fr. In Wirklichkeit hat nur der kleinste Teil der Bevölkerung daran einen bedeutenden Anteil. Das Schweizervolk ist ein aus verschiedenen Nationalitäten und Sprachen in der Geschichte zusammengeschmolzenes Ganze. Es find vier Sprachen in den Grenzen der Schweiz zu Hause. Deutsch redende Schweizer sind es 2 312 949 Französisch redende 730 917 Italienisch redende 221 182 Romanisch redende 38 651 Andere Sprachen 11 744 Die deutsche Sprache herrscht im Zentrum, im Norden und (Osten, die französische in der Westschweiz (Jura, Neuenburg, Freiburg, Waadt, Wallis, Genf); die italienische im Kt. Tessin und Graubünden, roma­ nisch wird gesprochen in einigen Tälern Graubündens. In den deutsch redenden Kantonen wird übrigens im täglichen Leben immer Dialekt, nur in den Schulen wird hochdeutsch geredet. (Es gibt eine bedeutende Anzahl von Mundarten, die sich deutlich voneinander ab­ heben. Der Berner Dialekt ist bekannt durch die Schriften des Jere­ mias Gotthelf. Anders wieder ist der Zürcher Dialekt, anders der Appenzeller usw. Das „Schweizerische Idiotikon", Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, erscheinend seit 1881, ist eine umfassende Sammlung des mundartlichen Wortschatzes. Übrigens gilt auch für die französisch redenden Teile des Volkes, daß viel Dialekt geredet wird. Man unterscheidet Neuenburger und Berner (Jura-) Dialekt, dann die Dialekte Freiburgs und der Waadt, auch zwei Gruppen im Wallis. Bei der Vielsprachigkeit, der verschiedenen Abstammung und Ge­ schichte der Volksteile zeigt sich eine bedeutende Verschiedenheit im Tharakter der Bevölkerung. Der lebhafte, feurige Welsche mit seinem

Einleitung.

5

sanguinischen Temperament sticht stark ab von dem bedächtigen, ernsten Graubündner, der mit schwerfälligem Bergschritt seines Weges kommt. Der bewegliche Zürcher Geschäftsmann, der witzige Appenzeller, der heiß­ blütige Tessiner sind lauter besondere Typen, wird ein eidgenössisches Gesetz gemacht, so mutz bei seiner Gestaltung auch an die welschen gedacht werden, damit es bei ihnen Gnade findet. Der verschiedene Charakter der Bevölkerung und der Kontone gibt Anlatz zu einer Un­ menge von spaßigen und ernsten Reibereien, Eifersüchteleien und Witzen. Insbesondere sind Zürich und Bern seit Jahrhunderten eifersüchtig auf ihren beiderseitigen Einflutz. Bern schenkte uns den Dichter Jeremias Gotthelf, Zürich Gottfried Keller und K. $. Meyer, von neuern seien erwähnt 3. C. Heer, Ernst Zahn, Lienert, Bossert, Kurz. Aus den Werken all dieser Männer spricht die Liebe zur Heimat und Eigenart ihres Volkes; etwas von dem, was ein neuerer romanischer Dichter Graubündens Anton huonder in seinem II pur suveran ausspricht: Vas ist mein Zels, das ist mein Stein, Sest wurzelt hier mein Zutz; Ererbt ist es vom Vater mein, Niemand ich's danken mutz. Vie Selber hier und dort die Au, Sie sind zu eigen mir; Srei trage ich mein Recht zur Schau, Venn König bin ich hier.

Die Kinder auch, mein eigen Blut, von Gott mir anvertraut, Ruhn unter meines Daches Hut, Ihr Brot hab' ich gebaut. (D freie Armut, heilig mir, Der Väter teures Gut, Mit Sreuden will ich opfern dir Den letzten Tropfen Blut.

Frei Srei Srei Und

ward ich hier zur Welt gebracht, schaff' ich mir mein Brot, will ich ruhen in der Nacht frei sein bis zum Tod.

2. Geschichtliches. 3m Jahre 1291 schloffen die freiheitsliebenden Hirten von Uri, Schvqz und Unterwalden einen ewigen Bund. Sie wollten sich gegen dashaus Österreich wehren, das die ihm vom Kaiser übertragene Schirm-

6

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

vogtei über die drei Länder zur Unterjochung gestalten wollte. Bel Morgarten wurde 1315 Herzog Leopold von Österreich besiegt, und durch den Beitritt von Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern zur achtörtigen Eidgenossenschaft erweitert, besiegten die Verbündeten Österreich nochmals bei Sempach 1386. (Ein mächtiger Gegner erstand der Eidgenosienschaft in Karl dem Kühnen von Burgund. Doch auch dieser wurde in drei Schlachten niedergerungen. 1481 wurden Freiburg und Solo­ thurn in den Bund ausgenommen. Dann brach der Schwabenkrieg aus, in welchem sich die Eidgenosienschast endgültig vom deutschen Reich losrih. 1501 traten Basel und Schaffhausen, 1513 Appenzell dem Bunde bei und erweiterten diesen zur dreizehnörtigen Eidgenosienschast, die bis zum Jahre 1798 bestand. Die Reformation brachte die Glaubenstrennung, indem die innern Länder beim katholischen Glauben verblieben, während die meisten Städtekantone sich dem evangelischen Glauben zuwandten. (Es folgt die Ausbildung des aristokratischen Regiments in den Städtekantonen, die zu Unterdrückung und Empörung des Landvolkes führte. (Es wurde im Bauernkrieg 1653 blutig niedergeworfen. Der Druck, unter dem besonders die von Landvögten regierten Untertanenländer (gemeine Herrschaften) standen, war ein allgemeiner, und die gemeinsame Behörde der alten Eidgenossenschaft, die Tagsatzung, an die die einzelnen Drte Abgeordnete sandten, war den selbstherrlichen (vrten gegenüber machtlos. In der von Frankreichs Armeen unterstützten Revolution brach die alte Eidgenosienschast zusammen, und die Franzosen führten eine Einheitsverfasiung ein, wonach die dreizehn ehemaligen Drte, wie die zugewandten und Untertanenländer zu einem Staat vereinigt wurden, von 1803 bis 1815 wich die Einheitsverfasiung der Mediationsverfasiung, in welcher Napoleon eine Tagsatzung und neunzehn Kantone feststellte. Und nach Napoleons Sturz 1815 gab sich die Schweiz den vom Wiener Kongreß bestätigten Bundesvertrag, wonach die Schweiz ein Staatenbund von zwei­ undzwanzig fast ganz selbständigen Kantonen wurde. Dberste Landes­ behörde blieb die Tagsatzung. Sie behandelte alle Angelegenheiten, welche die ganze Schweiz betrafen, jeder Kanton hatte nur eine Stimme. Seit der ftanzösischen Julirevolution von 1830 erzwang die Be­ völkerung mehrerer Kantone eine demokratischere Gestaltung der Kantonsverfasiung, andere hielten gewaltsam das konservative Regiment aufrecht. 1843 schlossen sieben katholische konservative Kantone einen Sonderbund zum Schutz der katholischen Religion, nach Luzern berief man die Jesuiten als Lehrer an der hoher» Schule. Die Tagsatzung löste nun 1847 den Sonderbund mit Waffengewalt auf, und in der Folge wurde 1848 eine neue Bundesverfasiung angenommen, die den lockern Staatenbund der Kantone zu einem kräftigen Bundesstaat umschuf.

(Einleitung.

7

Nach dieser 1874 revidierten Bundesverfassung gibt es in der Schweiz drei Bundesbehörden: eine gesetzgebende, eine vollziehende und eine richterliche. Die gesetzgebende und zugleich oberste Bundesbehörde ist die Bundesversammlung. Sie erläßt alle für das gesamte Vaterland verbindlichen Gesetze und Beschlüsse, überwacht die eidgenössische Ver­ waltung und wählt den Bundesrat, das Bundesgericht, den Bundes­ kanzler und in Kriegszeiten den eidgenössischen General. Sie besteht aus zwei Abteilungen: dem Nationalrat und dem Ständerat. Der Nationalrat wird in zweiundfünfzig eidgenössischen Wahlkreisen so vom Volk gewählt, daß je 20 000 Einwohner einen Vertreter erhalten. Seine Amtsdauer beträgt drei Jahre. 3tt den Ständerat sendet jeder Kanton zwei Abgeordnete. Die beiden Räte halten ihre Beratungen getrennt in zwei verschiedenen Sälen. Gesetze und Beschlüsse haben nur dann Gültigkeit, wenn sie vom National- und Ständerat angenommen worden sind. Wenn 30 000 stimmberechtigte Schweizerbürger es ver­ langen, mutz ein Gesetz der Volksabstimmung unterbreitet werden (fakul­ tatives Referendum). Die Bundesversammlung hat ihren Sitz in Bern.

Die vollziehende und regierende Behörde ist der Bundesrat. Er zählt sieben Mitglieder, seine Amtsdauer beträgt drei Jahre, Sitz ist Bern. Rn seiner Spitze steht der Bundespräsident. Der Bundesrat führt die Bundesgesetze und -beschlüsse aus, besorgt die laufenden Geschäfte der Schweiz und führt die eidgenössische Verwaltung. Die richterliche Behörde heißt Bundesgericht. Es zählt sechzehn Mitglieder und neun Ersatzmänner und wird je auf sechs Jahre gewählt. Es hat seinen Sitz in Lausanne. In der Sozialreform, in der die Schweiz mit ihrem Zabrikgesetz einst in der vordersten Reihe stand, ist sie von andern Staaten weit überflügelt worden, indem 1900 eine eidgenössische Unfall- und Kranken­ versicherung in der Volksabstimmung verworfen wurde und eine neue Vorlage immer noch auf sich warten läßt. Dagegen besitzt der Bund das Alkohol- und Banknotenmonopol, die Volksschule ist überall unent­ geltlich, meist auch die Lehrmittel; das Fortbildungsschulwesen für Söhne und Töchter entwickelt sich unter der pflege des Bundes mächtig. Kommunalisierung von Trambahnen, Wasser-, Gas-, Elektrizitäts­ werken nimmt überhand. Die Schweiz ist die Freistatt der politischen Verbannten anderer Länder. Ein einheitliches Zivilgesetzbuch wird im Jahre 1912 in Kraft treten; ihm wird ein eidgenössisches Strafgesetzbuch folgen, nachdem schon 1881 ein eidgenössisches Gbligationenrecht und 1889 das Gesetz über Schuldbetreibung und Konkurs in Kraft getreten ist. Das Schweizervolk bildet eine Vereinigung verschiedener Elemente;

die in Sprache, Konfession und Klasse verschiedenen Kinder des Vater­ landes kann nur Reinheit der politischen Sitten, Liebe zum Gemein­ wesen und sozialer Sinn zusammenhalten.

8

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

5. ttirchengeschichtliches. Wie die Gipfel der Alpen vom ersten Strahl der Sonne beleuchtet werden, wahrend die Niederungen noch im Dunkel liegen, so ist auch das hohe Alpenland der Schweiz zuerst von allen deutschen Gauen vom Licht des Evangeliums erleuchtet worden. Schon zur Römerzeit drang das Christentum ein, am ehesten durch römische Soldaten, die hierher versetzt worden waren. In Genf, im Wallis, in Aventikum, der alten Hauptstadt Helvetiens, und an anderen Grten hat man Spuren dieser ersten Aus­ breitung des christlichen Glaubens in der Schweiz gefunden. Als Bischofs­ sitze in jener Zeit werden genannt Gktodurum (Martinach, später nach Sitten verlegt), Aventikum, vindonissa (später nach Ronstanz verlegt), Chur. Der Sturm der Völkerwanderung vernichtete wie den Bestand der römischen Herrschaft, so auch den Bestand der christlichen Kirche in un­ seren Gauen. Vie Burgunder nahmen im Westen zu beiden Seiten des Iura, die Alemannen im Norden das Land in Besitz. Bei den Bur­ gundern, die schon in ihren frühern Wohnsitzen am Rhein vom christ­ lichen Glauben berührt worden waren, fand das Christentum zuerst unter allen deutschen Stämmen Eingang. In dem kleinen Landstrich des burgundischen Helvetiens erhoben sich neben dem berühmten Wall­ fahrtsort Agaunum drei Bischofssitze: Genf, Sitten und Lausanne. Länger dauerte es bei den Alemannen. Ihre Unterwerfung durch die Franken bestärkte sie nur im Widerstand gegen den christlichen Glauben ihrer Bedrücker. Im Lauf der Seit gewannen jedoch die fränkischen Könige und ihre Dienstleute auf den im Alemannenland zerstreuten königlichen Höfen mehr Einfluß. Auch irische Glaubensboten wie Fri­ dolin, Columban, Gallus und Pirmin haben mitgeholfen, die Alemannen dem Christentum zuzuführen. In der Folgezeit werden Klöster, allen voran St. Gallen, aber auch Reichenau, Rheinau, Einsiedeln usw., Senken nicht nur des christ­ lichen Lebens, sondern auch der Wissenschaft und Künste. Eine wichtige Stellung haben die Bischöfe von Konstanz und Chur, zeitweilig auch haito, Bischof von Basel. Kirchenbauten wie die des Grotzmünsters in Sürich (l l. Jahrhundert), das Aufblühen des Klosters Einsiedeln, Klosters und Kirche von Romainmoutier, die Abteikirche zu Peterlingen, die Kirchen in Neuenburg, Genf und Lausanne, die Hofkirche in Chur und besonders das Münster zu Basel erzählen mächtiger als jede Schrift, wie in den folgenden Jahrhunderten die christlichen Gedanken das herz des Volkes bewegten und nach Ausdruck verlangten. Während die Hierarchie und das Mönchstum der Frömmigkeit des Mittelalters ihr Gepräge gaben, fand im 14. Jahrhundert die Laien­ bewegung der Gottesfreunde in der Schweiz einen günstigen Boden (Nik-

(Einleitung.

9

laus von Bafel, Heinrich von Nördlingen, Heinrich Suso in Konstanz). Daren folgten die großen Reformkonzilien in Konstanz und Basel. Bald danach zeigt die Gestalt des Niklaus von der Flüe (f 1487), daß trotz aller Mißbrauche stille Frömmigkeit noch immer gedieh und selbst auf die Politik Einfluß fand. Denn der einfache Bruder Klaus hat auf der Tagsatzung in Stanz, als Städte und Länder in Zwiespalt die Waffen gegeneinander erheben wollten, Friede gestiftet. Mit dem Auftreten Zwinglis in Zürich im Jahre 1519 begann auch in der Schweiz die Reformation? Zürich, Bern, Schaffhausen,

Basel, St. Gallen nahmen sie an. Die innern Kantone verschlossen sich ihr. 3m Jahre 1529 kam es zum ersten Kappeler Krieg, 1531 zum zweiten, in dem Zwingli fiel. Die Folge war die Parität in Glaubens­ sachen innerhalb der Eidgenossenschaft. Jeder Stand (Kanton) hatte das Recht, für sich die religiösen Angelegenheiten zu ordnen. Die fünf alten Orte, sowie Freiburg, blieben beim alten Glauben, die genannten Städte mit ihrem Gebiet beim Evangelium. Glarus, Appenzell, St. Gallen und die gemeinsam verwalteten Gebiete wie der Thurgau, Aargau usw., ebenso Graubünden blieben geteilt. Unterdeffen hatte sich auch in der Westschweiz der evangelische Glaube eingebürgert. Neuenburg (durch Farel), Genf (durch Calvin), Lausanne und andere Städte nahmen das Evangelium an, ebenso in der Abhängigkeit von Bern die Waadt (1537). Nach dem Konzil von Trient trat die Gegenreformation auf den Plan, zu der der Kardinal Borromäus in Mailand, der nach Freiburg berufene Jesuit Tanisius und der Luzerner Staatsmann Pfqffer ihr Bestes taten. Sie gründeten sogar 1586 den goldenen Bund zur Wieder­ herstellung des katholischen Glaubens, und es gelang ihnen, die evan­ gelischen Regungen im Tessin, im Wallis, im Berner Jura und im veltlin zu unterdrücken. Selbst Genf war zeitweise durch Savoyen schwer bedroht. Appenzell trennte sich in zwei Halbkantone, das refor­ mierte Autzerrhoden und das katholische 3nnerrhoden 1597. An vielen anderen Grten, wie im Bistum Basel, im Thurgau, Neuenburgischen, Glarus usw., gewann die katholische Kirche an Boden. Unterdessen hatten die Reformierten durch verschiedene Bekenntniffe ein einigendes Band um ihre Kirchen geschlungen? und reichliche Gelegenheit gefunden, christliche Wohltätigkeit zu beweisen an den ver­ folgten Hugenotten, Waldensern und anderen Glaubensgenoffen, die als Flüchtlinge ins Land kamen. 3m 17. Jahrhundert zog der Geist der dogmatischen Ausschließl) vergleiche zum Folgenden: E. BlSsch, Geschichte der schweizerisch-reformierten Kirchen, Bern 1898 u. 1899, und tD. hadorn, Kirchengeschichte der reformierten Schweiz, Zürich 1907. ®) Darüber siehe S. 64.

10

Stuckert, Kirchenkund« der reformierten Schweiz.

lichkeit in die Kirche ein. Vie Wiedertäufer wurden gewaltsam unter­ drückt, viele hexen verbrannt. Der 30 jährige Krieg verschonte die Eidgenossenschaft. Bern führte 1616 die Volksschule ein. Ausbrüche der Pest, die in diesem, wie im vorangehenden Jahrhundert Tausende wegraffte, führten zur Einrichtung öffentlicher Bußtage. Der Absicht, dem Zorn Gottes zu entgehen, entsprang die Sorge für Ordnung in der Kirche, Er­ richtung neuer Pfarrstellen und Kirchgebäude. Frömmigkeit war Beugung vor der Autorität der kirchlichen Lehre und der kirchlichen Gebräuche. Durch Sittenmandate und Auswendiglernen des Katechismus sorgte man für das christliche Leben des Volkes. Doch tat das Zeitalter der Ortho­ doxie auch viel für bedrängte Glaubensgenoffen. Bei der Aufhebung des Ediktes zu Nantes 1685 haben sich in der romanischen Schweiz 60000 Flüchtlinge ausgehalten, und zwischen 1685 und 1750 hat Zürich 50000 Flüchtlinge beherbergt und dafür 300000 Gulden ausgelegt. Die beiden vilmerger Kriege 1656 und 1712 waren nach den Kappeler Kriegen die einzigen Religionskriege in der Schweiz. Der erste änderte nichts am Rechtszustand, schwächte aber den moralischen Einfluß der reformierten Partei. Der zweite brach wenigstens das Übergewicht der katholischen Orte in den gemeinen Herrschaften und im Toggenburg. Unter dem Einfluß des Pietismus und der beginnenden Aufklärung kam mit dem 18. Jahrhundert eine freiere Anschauung aus, die auf das praktische mehr wert legte als auf die Kirchenlehre. Lutherische Pietisten, aus ihrer Heimat verttieben, streuten in Schaffhausen, Basel, Zürich und Bern ihren Samen aus. Überall entstanden Konventikel, welche den Argwohn der kirchlichen Behörden erregten und zu Maß­ regelung und Absetzung pietistisch gesinnter Pfarrer und Kandidaten führten, besonders wo die Bewegung einen schwärmerischen und separattsttschen Charakter annahm. Daß der Pietismus dennoch Segen in die Kirche brachte, hat sie den Pfarrern zu verdanken, die wie Samuel Lutz im Kt. Bern, Hieronymus d'Annone in Baselland und Joh. Kasp. Ulrich in Zürich treu bei der Kirche verblieben. Auch die Aufklärung ging nicht spurlos an der Schweiz vorüber; Turettini in Genf, Osterwald in Neuenburg, Wettstein in Basel, Vol­ taire und Rousseau wirkten mächtig auf die gebildeten Kreise und das allgemein erwachende Sehnen nach Freiheit und Selbständigkeit, die Hochschätzung der vernnnft und Humanität haben, sowenig sie die tiefen religiösen Kräfte ersetzen können, doch viel Ungesundes niedergeriffen, den hexenwahn endlich gebrochen, der Pädagogik neue Bahnen gewiesen und das ganze Geistesleben der Zeit in Literatur, Kunst und Wiffenschaft befruchtet. Abgeklärte Vertreter einer edeln Aufklärung sind Albrecht v. Haller in Bern und Johann Kaspar Lavater in Zürich, der freilich ebensoviel Motive pietistischer Frömmigkeit ausgenommen hat.

(Einleitung.

11

Trotz einzelner hochstehender Männer waren freilich im ganzen „die Zustände in Staat und Kirche faul. Vie Sitten gelockert. Vie Zucht dahin." Vie Sorge für die Religion galt den Staatsmännern als wichtiger Teil der Staatsweisheit, während sie selbst, vom voltairianismus angesteckt, keinen inneren Anteil mehr daran nahmen. Die Geistlichen, im Westen mehr dem Supranaturalismus, im Osten mehr dem Rationalismus zugeneigt, merkten nicht, welche Rluft entstanden war zwischen den offiziellen Anschauungen der Kirche und den wirklichen Ansichten der meisten ihrer Mitglieder. Die Kirche ein Stück der Staats­ ordnung, ein Mittel zur Erhaltung des Gehorsams oder gar eine Fessel des freien Denkens, erbaut auf menschlichen Stützen. Da kam der Sturm der französischen Revolution und schlug Gutes und Böses in Trümmer, um einem Reuen Platz zu machen. Die im April 1798 angenommene Verfassung der helvetik stellte fest: „Die Gewissensfreiheit ist uneingeschränkt. Alle Gottesdienste sind erlaubt, insofern sie die öffentliche Ruhe nicht stören und sich Keine herrschende Gewalt oder Vorzüge anmatzen. Die Polizei hat die Aus­ sicht darüber und das Recht, sich nach den Grundsätzen und Pflichten zu erkundigen, die darin gelehrt werden." Run kam endlich der Grund­ satz der Glaubens- und Gewiffensfreiheit auch den jahrhundertelang verfolgten Wiedertäufern zu gut. Freilich herrschte in der neuen Re­ gierung eher ein kirchenfeindlicher Geist, und man erhoffte vom Sieg der Ideen der Aufklärung den baldigen Untergang der Kirchen. Die staatliche Sorge für die Kirche bestand darin: zu achten, datz sie nicht schaden könne. Auch im Volk kam viel Erbitterung gegen Kirche, Re­ ligion und Pfaffen zum Vorschein. Da man jedoch vorläufig mit der Politik genug zu tun hatte, lietz man die kantonalen Kirchenbehörden weiteramten. Doch die helvetik war nicht populär, am wenigsten in den innern Kantonen. 3nt Jahre 1803 gab Bonaparte der Schweiz in der Me­ diationsakte eine neue versaffung. 3n der Folge kehrte allenthalben die Restauration ein. Die alten Kirchenversaffungen traten wieder in Kraft. Die kantonalen Regierungen waren wie früher die obersten kirchlichen Behörden, und das Staatskirchentum kam wieder in Blüte. Befferungen, die angebracht wurden, waren die, datz das Schulwesen der Kirche ent­ zogen und einer besondern Behörde unterstellt, datz die Ungleichheit der Pfarrbesoldungen beseitigt und die Uiederlaffung von Katholiken in protestantischen Kantonen und umgekehrt erleichtert wurde. 3n den neu entstandenen Kantonen Waadt, Aargau, Thurgau und St. Gallen mutzte das Kirchenwesen ganz neu geordnet werden. Da hier das Hemmnis einer Tradition nicht vorlag, war das Kirchenwesen besonder; des Kt. St. Gallen bald das fortgeschrittenste.

12

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Seit den zwanziger Jahren machte sich im innern Leben der Kirche die Erweckungsbewegung fühlbar, von der Westschweiz ausgehend, wo in Genf (1810) ein Kreis von Frommen sich bildete, wurde sie durch das Auftreten der Frau von Krüdener bald auch in die Waadt, den Berner Jura, nach Bern, Basel, Zürich und Schaffhausen getragen. Sie hatte manche segensreiche Wirkung, führte aber vielfach auch zur Sepa­

ration und Schwärmerei. Es war ein Unglück, daß zur Zeit der Restauration die Regie­ rungen die Wiederherstellung der Kirchen und das Ruftauchen der reli­ giösen Erweckung zur Stütze ihres aristokratischen Regiments und zur Unterdrückung der volksrechte mißbrauchten. Denn als nun durch die kantonalen Revolutionen von 1830-31 die städtischen Patrizierregie­ rungen gestürzt wurden, wurde der Hatz und die Opposition gegen die Restauration auch auf das Ehristentum und die Kirche übertragen, die als die Verteidiger des alten Regiments erschienen. Vie katholische Kirche war ultramontan geworden und strebte nach mittelalterlicher Macht und Geltung. Es war begreiflich, daß die liberalen Regierungen diesen Bestrebungen entgegentraten. Doch war in ihren Rügen die Kirche überhaupt ein überwundener Standpunkt. Vie Folge dieser schärfern Tonart der Regierungen war einerseits die Bildung der freien Kirche in der Waadt 18471, im Kt. Zürich die Berufung des verfaffers des Lebens Jesu David Friedr. Strautz an die Hochschule 1839, die freilich wegen eines Volksaufstandes (Züriputsch) mutzte rück­

gängig gemacht werden, und die Berufung des liberalen Philosophen Eduard Zeller an die Universität Bern 1847. Ein Glück war es, daß in dieser Zeit heftiger Angriffe von feiten der öffentlichen preffe und der Regierungen an den deutsch-schweizerischen Hochschulen Männer wirkten wie De wette, Hagenbach, Lutz, Rlex. Schweizer, die für beides, das kirchliche und religiöse Leben, wie für die wiffenschaftliche Arbeit einen offenen Sinn besaßen und so imstande waren, die Ansprüche beider Mächte, des Glaubens und des wiffens, zu respektieren. Ungefähr bis 1850 standen die herrschenden Parteien der christ­ lichen Religion feindselig gegenüber. Vie Aufhebung der Klöster im Kargau, die Freischarenzüge, der Sonderbundskrieg, der Kamps gegen Jesuiten und Pfaffen machte auch bei der protestantischen Maffe Un­ glauben und Unkirchlichkeit populär. Aber nun bildete sich in den ver­ schiedenen Kantonalkirchen eine neue Richtung, die zwar mit dem ortho­ doxen Dogma, der Snspirationslehre, den Bekenntniffen, Wundern und übernatürlichen Heilstatsachen brach, aber nichtsdestoweniger den eigent­ lichen Gehalt der christlichen Religion beizubehalten trachtete. Da sie l) weiteres darüber siehe S. 60.

Einleitung.

13

eine Reform der Rirche und des Christentums anstrebte, nannte sie sich die Reformbewegung. Vie Erkenntnisse, welche die theologische Wissen­ schaft erarbeitet hatte, die aber dem Volk ängstlich vorenthalten wurden, sollten nun offen verkündet werden, damit die läuft zwischen Glauben

und wissen, die sich besonders bei den Gebildeten gähnend austat, über­ brückt und das hohe Gut der Religion gerettet werde. Die Folge des Rustretens der Reform waren jahrzehntelange kirch­ liche Kampfe, die erst gegen Ende des Jahrhunderts abflauten; ihre Errungenschaft, daß sie die Gleichberechtigung der theologischen Rich­ tungen in der Kirche durchsetzte, daß in den um 1870 entstehenden neuen Kirchenordnungen die Staatskirchen mehr zu Volkskirchen wurden und auch die letzten Reste des Bekenntniszwanges fielen. Vie herr­ schende liberale Partei, die bisher mit der Kirche auch die Religion be­ kämpft hatte, unterstützte von Anfang an die Reformrichtung; da und dort mit dem Nebengedanken, dadurch überhaupt die Auflösung der Religion zu befördern. Das ist jedoch nicht geschehen. Wohl erhob sich anfangs ein allgemeines Entsetzen von selten der orthodoxen Rich­ tung über den mit der Reform in die Kirche eindringenden „Unglauben". Die Reform zeigte aber durch Vertreter wie hirzel in Zürich, Kambli in St. Gallen, Friedr. Langhans und Albert Bitzius in Bern, daß sie ebensosehr wie die anderen Richtungen gewillt sei, Kirche und Reich Gottes zu bauen. Nachdem sie ihre Sturm- und vrangperiode über­ winden und ihre Daseinsberechtigung errungen hatte, konnte sie zu den anfangs mehr im Vordergrund stehenden Negationen auch die ent­ sprechenden Positionen ausbauen; und die kirchliche Rechte, unter deren Gichut die der Grthodoxie, dem Pietismus und der Erweckungszeit ent­ stammenden Kreise standen, wurde durch sie genötigt, bei aller Betonung der Bibelgläubigkeit die Ergebnisse der theologischen Forschung mehr aryuerkennen. Die Vermittlungsrichtung hat das Verdienst, das Aus» einanderfallen der Kirche in zwei dogmatisch verschiedene Kirchen verhiidert zu haben. Die Grthodoxie wie die Reformrichtung haben aufeinander gewirkt und sich ergänzt? Neuerdings hat der Gegensatz der Richtungen viel von seiner Schärfe verloren. Die frühern Differenzen treten vor dem sozialen Problem zurück, das nun auch die Kirche stark beschäftigt und zu neuen Rihtungen und Gruppierungen Anstoß gibt? *) weiteres über die Richtungen stehe S. 81ff. a) weiteres hierüber siehe S. 84ff.

14

Stuckert, Uirchenkunde der reformierten Schweiz.

I. Äußere Verhältnisse. Bundesverfassung und Uirchen. (Es gibt keine schweizerische reformierte Landeskirche, vielmehr hat jeder der Kantone und Halbkantone, aus denen sich die schweizerische Eidgenossenschaft zusammensetzt, sein besonderes kantonales Kirchenwesen. Jede kantonale Kirche ist unabhängig und ordnet ihre Angelegenheiten selbständig, von den wenigen kirchlichen (Organen, die ein Zusammen­ wirken der Kantonalkirchen in gewissen Richtungen anbahnen, wird unter Kapitel III die Rede sein. von Wichtigkeit für den Bestand aller Kirchen, auch der vom Staat unabhängigen, der katholischen und aller übrigen religiösen Gemein­ schaften sind die Artikel 49-53 der schweizerischen Bundesverfassung von 1874. Sie liegen allen einzelnen kirchlichen und religiösen Ord­ nungen zugrund und lauten: Art. 49. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich. Niemand darf zur Teilnahme an einer Religionsgenossenschaft, oder an einem religiösen Unterricht, oder zur Vornahme einer religiösen Hand­ lung gezwungen, oder wegen Glaubensansichten mit Strafen irgend­ welcher Art belegt werden. Über die religiöse Erziehung der Kinder bis zum erfüllten 16. Altersjahr verfügt im Sinne vorstehender Grund­ sätze der Inhaber der väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt. Die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte darf durch keinerlei Vor­ schriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden. Die Glaubensansichten entbinden nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten. Niemand ist gehalten, Steuern zu bezahlen, welche speziell für eigentliche Kultuszwecke einer Religionsgesellschaft, der er nicht angehört, auferlegt werden. Die nähere Ausführung dieses Grundsatzes ist der Bundesgesetzgebung vorbehalten. Art. 50. Die freie Ausübung der gottesdienstlichen Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen (Ord­ nung gewährleistet. Den Kantonen, sowie dem Bunde bleibt vorbe­ halten, zur Handhabung der (Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften,

I. Äußere Verhältnisse.

15

sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates die geeigneten Maßnahmen zu treffen. Anstände aus dem öffentlichen oder privatrechte, welche über die Bildung oder Tren­ nung von Religionsgenossenschasten entstehen, können auf dem Wege der Beschwerdeführung der Entscheidung der zuständigen Bundesbehörden unterstellt werden. Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet unterliegt der Genehmigung des Bundes. Art. 52. Vie Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufge­ hobener Klöster oder religiöser Grden ist unzulässig. Art. 53. Die Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden. Die Bundesgesetzgebung wird hier­ über die nähern Bestimmungen treffen. Die Verfügung über die vegräbnisplätze steht den bürgerlichen Behörden zu. Sie haben dafür zu sorgen, daß jeder verstorbene schicklich beerdigt werden kann. Ls ist klar, daß diese Bestimmungen der Vundesverfaffung für die Gestaltung der Kirchenverfaffungen noch einen weiten Spielraum laffen, diese sind denn auch von größter Mannigfaltigkeit, verraten aber alle den Einfluß der erwähnten grundlegenden Artikel der Vundesverfaffung. Es bestehen nun in der Schweiz im ganzen fünfzehn reformierte Kantonalkirchen nebst drei Freikirchen. Das Alter und die Geschichte dieser Kantonalkirchen ist sehr verschieden. Während einige der Re­ formation entstammen, wie diejenigen von Zürich, Basel, Bern, Schaff­ hausen, Genf usw., sind andere erst in späterer Zeit zu selbständigen

kirchlichen Gemeinschaften geworden, z. B. Thurgau, St. Gallen, Aar­ gau usw., da diese Kantone erst im Anfänge des 19. Jahrhunderts selbständig wurden. 3n den katholischen Kantonen bestehen noch keine evangelischen Kantonalkirchen, sondern nur eine Anzahl von Diaspora­ gemeinden. Über die Zahl der Kirchgemeinden und Pfarrer in den Kantonalkirchen, freien Kirchen und der Diaspora geben folgende Ta­ bellen Aufschluß: 1. Schweizerische Kantonalkirchen. Bezirke Kargau............................... Appenzell a. Rh.................... Baselland.......................... Baselstadt.......................... •Bern..................................... Freiburg............................... Genf Nationalkirche . . . „ freie Kirche .... Glarus............................... Graubünden .....................

18

Kirch­ gemeinden 55 21 31 7 199 10 24 4 15 126

Pfarrer 58 22 33 26 237 10 42 5 17 83

16

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Neuenburg Nationalkirche „ freie Kirche. Schafshausen St. Gallen Thurgau Waadt Nationalkirche . „ freie Kirche . . Zürich

Bezirke 6

3 3 6

11

Kirch­ gemeinden 44 23 28 54 55 145 45 157

Pfarrer 69 34 30 57 58 176 55 183

2. Evangelische Diaspora. 3n den katholischen Kantonen der Schweiz bestehen keine evan­ gelischen Kantonalkirchen; aber es haben sich überall, wo sich Refor­ mierte in größerer Zahl niedergelassen haben, kirchliche Gemeinschaften gebildet: leben doch rund 52 OOO Reformierte in den katholischen Kan­ tonen. Vie meisten viasporagemeinden hat der protestantisch-kirchliche Hilfsverein begründet. Einige erhalten sich selbst, andere erhalten noch Unterstützungen. Ihre Organisation und Gestaltung des Gottesdienstes ist dieselbe wie bei den Kantonalkirchen. (Es sind im ganzen 25 re­ formierte viasporagemeinden:

3m Kt

Appenzell i. Rh. Freiburgs

Luzern Solothurn Schwyz Tessin Unterwalden Uri Wallis Zug

1 2 3 6 3 4 1 1 2 2

(Es besteht also in jedem katholischen Kanton zum mindesten eine reformierte viasporagemeinde. Vie Gründung eines Verbandes dieser viasporagemeinden ist im Gang.

3. Außerdem bestehen eine Anzahl freier Gemeinden, die sich als Minoritätsgemeinden strenggläubiger Richtung von der Landeskirche getrennt oder sonstwie aus verschiedenen Ursachen und zu verschiedener Zeit selbständig konstituiert haben. Solche sind z. B. in Aarau, Baden, Heiden, Bern, Genf, Chur, Vavos, Emmishofen, Lausanne, Zürich usw. *) Diese zwei viasporagemeinden gehören nicht der reformierten Landes­ kirche des Kt. Zreiburg an.

I. Außere Verhältnisse.

17

2. Vie Kirchgemeinde. Die Kantonalkirche setzt sich zusammen aus einer Anzahl von Kirch­ gemeinden. Was deren Größe betrifft, so kommen in den Städten Kirchgemeinden bis zu 20000 Seelen vor, wobei dann freilich mehrere Pfarrer an einer und derselben Kirchgemeinde amten und abwechslungs­ weise die predigt übernehmen. Die bernische Landeskirche umfaßt z. B. 211 Gemeinden; davon zählen 3 Gemeinden unter 500 Seelen 40 500- 1000 62 1000- 2000 51 2000- 3000 17 3000- 4000 M 9 4000- 5000 15 5000- 10000 4 10000- 20000 Die größte Kirchgemeinde des Kt Bern ist die von Biel mit 20650 reformierten Einwohnern. Einige deutsche Gemeinden im Iura sind der Seelenzahl nach von den französischen nicht ausgeschieden. Im Kt. Graubünden gibt es Kirchgemeinden von nur 50-60 Seelen; Filialen, die manchmal stundenweit von der Mutterkirche ent­ fernt sind. Manche Täler sind so abgelegen, daß z. B. eine Frau im obern Bversertal dem Pfarrer erzählte, sie könne sich nicht besinnen, daß je ein Arzt zu ihnen hinaufgedrungen sei. Auf die Frage, was man denn tue, wenn man krank werde, sagte sie: Man leidet sich eben, und dann kommt es etwa wieder besser. 3n solchen Gebirgs­ kantonen gibt es abgelegene Gebirgspfarreien, zu denen keine Fahr­ straße führt, in welche selbst die Möbel des Pfarrers auf dem Rücken müffen hinaufgetragen werden. Ihre Pfarrer haben dann eine Be­ soldungszulage. Es ist selbstverständlich, daß Kirchgemeinden von 50-100 Seelen keinen eignen Pfarrer haben können, auch wenn sie abgelegen sind. Da tun sich mehrere Kirchgemeinden zusammen zu einer Pfarrgemeinde. So kommen im Kt. Graubünden Gemeinden mit mehreren Filialkirchen vor. Jede Gemeinde trägt dann etwas bei an die Besoldung des Pfarrers. Die Zuteilung einer solchen Filiale kann jedoch im Lauf der Jahre wechseln. Dann heißt es: Gegenwärtig ist diese Gemeinde mit der und der vereinigt. Wo viele Filialen sind, kann nicht sonntäglich in jeder gepredigt werden. 3m Winter ist es oft unmöglich, überhaupt zu ihnen zu gelangen. So besteht für eine kleine Gemeinde (Sertig) z. B. die Übung, daß der Beitrag an die Pfarrbesoldung 66 Fr. be­ trägt, „sofern wenigstens siebenmal im Sommer gepredigt wird". Eine Stuckert, Uirchenkunde der ref. Schweiz.

2

18

Stuckert, Uirchenkunde der reformierten Schweiz.

andere abgelegene Gemeinde (Canicül) bestimmt, daß für jede Funktion

20 Fr. bezahlt werden. 3n ihr trifft es durchschnittlich jedes Jahr 15 Funktionen. Dann gibt es Gemeinden, die früher einen Pfarrer hatten, jetzt aber Filialen geworden sind. Diese besitzen vielleicht ein Pfarr­ haus, aber es steht leer. Bei einer Pfarrgemeinde, die aus zwei eine Stunde auseinander liegenden Ortschaften sich zusammensetzt, ist bestimmt, daß der Pfarrer alle fünf Jahre seinen Wohnsitz in der andern Gemeinde aufschlagen muß, damit sie des Segens seiner Nähe teilhastig wird. Solche Gebirgspfarrer verfügen sich manchmal auf dem Pferd in ihre Filialen, oder sausen auf einem kleinen Schlitten den Berg hinunter zur predigt. Pfarrgemeinden, in denen der Pfarrer in zwei Sprachen pre­ digen muß, sind ziemlich zahlreich. 3n Graubünden deutsch und roma­ nisch, oder romanisch und italienisch. 3m Velschland deutsch und stanzösisch. 3n einigen deutschen Städten wie Zürich, Basel, Bern usw. bestehen französische Gemeinden. 3n französischen Städten wie Freiburg, Lausanne, Genf, Neuenburg usw. deutsche Gemeinden. 3m Berner Jura besteht etwa in derselben Gemeinde eine deutsche und französische Kirchgemeinde. Jede Kirchgemeinde pflegt ihr besonderes Kirchengut zu besitzen. Buch wenn die großen Ausgaben wie Pfarrbesoldungen usw. vom Kan­ ton bestritten werden, braucht die Kirchgemeinde Mittel zur Bestreitung ihrer besonderen Bedürfniffe, z. B. Kirchenrenovation, wein und Brot für die Abendmahlsfeier, Besoldung des Kantors und Mesmers usw. Diese Mittel werden durch Kirchensteuern oder Zinsen von Kirchengütern bestritten. Das Kirchengut besteht aus unproduktiven (Kirche, Pfarr­ haus) und produktiven werten; zu den letztem gehören nicht nur

Kapitalien, sondern oft auch Wald, Ücker, wiesen, Weingärten, Alpen usw. Eine Zusammenstellung des pfründvermögens der 131 Kirchge­ meinden des Kt. Graubünden aus dem Jahre 1900 ergibt z. B. daß in allen Gemeinden produktive Kirchengüter vorhanden sind, die zwischen 1700 und 64 000 Fr. schwanken und im Durchschnitt 23 000 Fr. be­ tragen. Das vermögen sämtlicher Kirchgemeinden des Kt. Graubünden war 3 027 526 Fr. 3m Jahre 1844 betrug es 1 298 041; 1862 1 939 357; 1880 2 538138 Fr. Die Kirchgemeinde besitzt eine fast souveräne Stellung, wie es die Demokratie mit sich zu bringen pflegt. 3nwiefern ihre Freiheit in jedem einzelnen Kanton durch das kantonale Kirchengesetz beschränkt wird, wird bei den kantonalen Kirchenverfaffungen deutlich werden. Vie Beschränkung ist jedoch unbedeutend. 3m allgemeinen läßt sich sagen, daß jede Kirchgemeinde ihre Ordnungen nach eigenem Ermessen trifft. Sie wählt ihren Pfarrer und die andern Kirchenbeamten, sie beruft sie eventuell ab. Sie setzt die Anzahl und die Stunden der Gottesdienste fest. Sie ordnet, wenn es ihr beliebt, einen andern

I. Außere Verhältnisse.

19

Abendmahlsritus an, z. B. sitzende statt wandelnde Kommunion. Sie verlegt die Taufhandlungen in oder nach den Gottesdienst. Sie be­ stimmt, wie oft beim Gottesdienst gesungen wird, ob bei Beerdigungen gesungen wird, ob eine Bibellektion stattfindet oder nicht, ob die Ge­ meinde während der Textverlesung steht oder sitzt, ob die Kirche auch an Werktagen offen gehalten wird oder nicht. Sie resp, der Kirchge­ meinderat verfügt über die Kirche, ob sie einer Sekte, zu einem Fest, zu einem vortrag van prajektiansbildern, zu einer Evangelisationsver­ sammlung zur Benutzung überlasten wird. Sie stellt bei eidgenössischen Wahlen oder Abstimmungen der Linwahnergemeinde in Ermanglung eines andern großen Lokals die Kirche zur Verfügung. Sie verwaltet die kirchlichen Fonds der Gemeinde. Sie legt sich selbst Kirchensteuern und Steuern für wohltätige Zwecke auf usw. Natürlich hat bei dem allem die Kirchenvorsteherschaft das Recht der Vorberatung und Antrag­ stellung; aber die Kirchgemeinde entscheidet.

3. Die MrchgebSude. von den ältesten christlichen Kirchen unseres Landes sind keine mehr erhalten. Selbst van den Bauten der Karalingerzeit (Bauriß des Klosters St. Gallen, Großmünster und Fraumünster in Zürich) be­ sitzen wir keine Reste mehr, sondern nur Nachrichten. Die ältesten erhaltenen Baudenkmäler sind mit Klöstern verbundene einfache, flach­ gedeckte Basiliken romanischen Stils wie die Klosterkirche van Muri, geweiht 1064, oder nach bedeutender das Allerheiligenmünster in Schaff­ hausen, geweiht 1104. hierher gehören auch Kirchen wie die van Beromünster, Schönenwerth, Mautier-Grandval und St. Inner, Spiez und Amsoldingen?

Eine fortgeschrittenere Farm des romanischen Stils, bei der schon das Kreuzgewölbe Anwendung findet, zeigen die ältern Teile des Großmünsters in Zürich, geweiht 1289, eine dreischiffige Basilika mit langem Thar, alle Räume mit Gewölben bedeckt. Ein nach bedeutenderer Ge­ wölbebau ist das Basler Münster, deffen romanische Bestandteile aus der Zeit um 1185 stammen; der Grundriß ein lateinisches Kreuz, poly­ gonale Tharanlage. In der Westschweiz, wo das Reich hachburgund in der Mitte -des 10. Jahrhunderts blühte, zeigt sich das Tonnengewölbe als Eigentüm­ lichkeit der südfranzösischen Architektur, hierher gehören die Abtei­ kirche van Ramainmatier und die Stiftskirche van Payerne, welche mit der Bauschule von Tlugnq Zusammenhängen. Die Kirchen dieser Zeit

*) vergl. zum Folgenden: 3. R. Rahn, Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz. Zürich 1876.

20

Stuckert, ttirchenkmnde der reformierten Schweiz.

sind selten. Glockentürme, wie der von St Maurice und der Kathedrale von Sitten, sind meist die einzigen Reste, welche verraten, wie mancher romanische Bau der Neuerungssucht zum Opfer gefallen sein mag. Das aufstrebende Frankreich, begünstigt von materiellen verhältnisten, bewies die Kraft seines Bürgertums in der neuen Kunstschöpfung der Gotik mit ihren Spitzbogen und Strebebogen. Zunächst war es be­ sonders der Zisterzienserorden, der sie verwendete (Kirchen in Bonmont, hauterive und Frienisberg). Vie älteste unserer gotischen Kirchen, die durch Schönheit der verhältniste und den prächtigen Stil der Ornamente von keiner andern unseres Landes übertroffen wird, ist die Ende des 12. Jahrhunderts begonnene Kathedrale St. Peter in Genf. Ein zweites Hauptmonument ist die Kathedrale von Lausanne, geweiht 1275. Vas ist Frühgotik in voller Reinheit, hierher gehören auch Notre-Vame de valere bei Sitten (um 1300) und Notre-Vame in Neuenburg. Es waren besonders die Dominikaner und Franziskaner, die sich im Lauf des 13. Jahrhunderts größere Verdienste um die Ausbreitung des neuen Stils erwarben (Franziskanerkirche in Basel und Chor der Franziskanerkirche in Freiburg). Mit dem 14. Jahrhundert entwickelt sich die Gotik mit allen ihren Konsequenzen, stn der Spitze steht hier die Stiftskirche St. Nikolas in Freiburg und ihr angereiht eine Gruppe von Monumenten, die sich vom Jura bis zum Genfer See erstreckt (St. Peter in pruntrut, St. Germain, St. Gervais in Genf, Dom in Sitten usw.). In den deutschen Landesteilen war Basel infolge des Erdbebens von 1356 der wichtigste Schauplatz künstlerischen Schaffens. Das Mittelschiff des Münsters wird mit gotischen Kreuzgewölben be­ deckt und ihm zwei Seitenschiffe angegliedert, der prächtige Kreuzgang weist die spätgotische Steinmetzkunst; dann die Kirchen St. Peter, die 1480 gebaute schmuckvolle St. Leonhard usw. Ferner ist das Berner Münster (Grundstein 1421 gelegt) ein bedeutender Repräsentant der Spätgotik. 3n Zürich erfolgte der Ausbau des Fraumünsters, Ehor der Predigerkirche, Kreuzgang des Barfützerklosters. 3u nennen wäre etwa noch die St. Oswaldskirche in 3ug, St. Johann in Schaffhausen, voll­ endet 1470, St. Lorenz in St. Gallen, Kloster Marienberg bei Ror­ schach. 3m Graubündischen fand die Gotik sehr spät Eingang. 3u nennen sind St. Martin und St. Regula in Chur und eine Reihe von Bauten in den Tälem vündens. Vie ersten Zeiten nach der Reformation waren nicht zum Kirchen­ bau angetan. Dagegen hat die Renaissance, welche die antiken, be­ sonders römischen Formen wieder aufnahm, uns in der Folgezeit eine Reihe von schönen Bauten geschenkt, hier wäre zu nennen die im 17. Jahrhundert renovierte Stifts- und Hofkirche in Luzern in italieni­ schem Renaissancestil; die zwei Türme sind jedoch aus dem 12. Jahr-

I. Äußere Verhältnisse.

21

hundert; das Ursusmünster in Solothurn, erbaut 1762—1773 als bi­ schöfliche vomkirche im Florentinerstil; die Benediktinerabtei in Einsiedeln aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts in florentinischem Stil, eine mit Freskenmalerei, Stukkaturvergoldung überladene dreischiffige prunkvolle Rirche. 3m italienischen Stil des 16. Jahrhunderts ist auch die Stifts­ kirche in Bellinzona gehalten, mit breiter Freitreppe und Marmorfassade. Der Ausläufer der Spätrenaissance ist der Barock- und Rokokostil. Dieser Gattung gehört die schöne Stiftskirche von St. Gallen an, ein Barockbau mit vortrefflichen verhältniffen und einheitlich wirkender Rokokoornamentik; ferner die Jesuitenkirche in Luzern, die Pfarrkirche St. Antonio in Locarno, ein einschiffiger Barockbau. Den zum Jesuiten­ stil ausgearteten Barockstil mit stark überladener Dekoration zeigt die Pfarrkirche in Schwyz, jonische und korinthische Säulen, Marmorkanzel, veckgemälde usw. 3m vorigen Jahrhundert sehen wir den romanischen und gotischen Stil in voller Reinheit wiederkehren und manche schmucke Rirche in unserm Land erstehen, von romanischen Bauten seien erwähnt die neue zweitürmige Rirche von Glarus mit einfachem, geschmackvoll ver­ ziertem 3nnern und die katholische Marienkirche in Basel aus grünem Sandstein. Die Gotik wird repräsentiert z. B. durch die Elisabethenkirche in Basel, die St. Leonhardskirche in St. Gallen, die Rirche von Lichtensteig im Toggenburg und die schöne englische Rirche in Montreux, sowie die schön restaurierte Ehapelle des Macchabees in Genf. Daneben erstehen in griechischem Stil die ReumünsterKirche in Zürich, die sehens­ werte ovale Rirche in Chaux-de-Fonds mit kunstvoll gewölbter Decke usw. Doch der Protestantismus kann sich mit den alten Stilgattungen nicht zufrieden erklären. Braucht er für seinen Gottesdienst den Chor, der den Unterschied von Priestern und Laien voraussetzt? hat bei ihm der Altar dieselbe zentrale Bedeutung wie in der katholischen Rirche? hat nicht die Ranzel die größte Wichtigkeit? So sehen wir denn im Lauf der Zeit auch protestantische Rirchenbaugedanken auskommen und sich immer deutlicher verwirklichen. Vie bedeutendsten Repräsentanten dieses protestantischen Rirchenbaus sind in jüngerer Zeit die RreuzKirche in Zürich, die Pauluskirche in Basel mit monumentalem Turm über der Mitte des Gebäudes, ähnlich die neue protestantische Rirche in weinfelden. Dann die protestantische Rirche in Rorschach und andere. Vie Rirchgebäude sind das Eigentum der jeweiligen Rirchgemeinde, welche in der Regel verpflichtet ist, das Gebäude auch zu unterhalten, eventuell zu renovieren. Zwei Kantone machen jedoch eine Ausnahme, Appenzell und Schaffhausen; hier gehören sonderbarerweise die Rirchge­ bäude der Linwohnergemeinde. Diese Bestimmung ist noch nicht alt, und hat wohl den Zweck, der Linwohnergemeinde die Benützung der

22

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Kirche bei Gemeindeversammlungen u. bergt zu sichern. Möglicher­ weise wird die Bestimmung auch nicht alt werden, sondem in beiden Kantonen durch die allein logische ersetzt werden, daß die Kirchen wieder in die Hand der Kirchgemeinde gelegt werden. Sogar mit so bedeu­ tenden Baudenkmälern wie St. Pierre in Genf und dem Münster in Basel trägt man keine Bedenken, sie der protestantischen Kirchgemeinde, die sie seit Jahrhunderten benützt hat, zuzuweisen.

4. Dar geistliche amt Vie schweizerischen Theologiestudierenden wählen selbst die Univer­ sität, welche sie besuchen wollen, sei es eine inländische oder ausländi­ sche. (Es wird wenig deutschredende Pfarrer geben, die nicht einige Semester in Deutschland zugebracht haben. In der Schweiz gibt es theologische Fakultäten in Basel, Bern, Zürich, Genf, Lausanne und Neuenburg, stn den drei letzter» (Orten haben auch die freien Kirchen eine besondere theologische Fakultät. In der Regel zerfällt das von einer Kantonalkirche geforderte (Examen in zwei Teile, eine propädeu­ tische nach mindestens vier und eine theologische Prüfung nach minde­ stens sechs Semestern. Früher hatte jede Kantonalkirche ihre besondere Examensordnung. Gegenwärtig haben für die Prüfung der Kandidaten und den gegenseitigen Austausch von Pfarrern acht Kantone ein so­ genanntes Konkordat geschlossen. (Es sind: Zürich, Aargau, Appenzell, Thurgau, Glarus, Schaffhausen, St. Gallen, Baselstadt und Baselland. Diese prüfen gemeinsam die Kandidaten, indem aus jedem Kanton ein Examinator abgeordnet wird. Vie Konkordatsprüfung zerfällt in eine propädeutische und eine theologische Prüfung. Für die propädeutische sind folgende Ausweise beizubringen: 1. Ein Maturitätszeugnis. 2. Ein Ausweis über wenig­ stens vier Studiensemester, welche in der Regel an einer deutsch-schwei­ zerischen oder deutschen Hochschule zu absolvieren sind. 3. Ein Sitten­ zeugnis. Die Prüfung selbst ist teils schriftlich, teils mündlich. Sie er­ streckt sich schriftlich und mündlich über Geschichte der Philosophie bis zur Gegenwart, Kirchengeschichte in Verbindung mit Kulturgeschichte; nur mündlich über allgemeine Religionsgeschichte, Lesen und Übersetzen leichterer Abschnitte aus dem Alten Testamente in der Ursprache, sowie Kenntnis der einzelnen Bücher und des wesentlichen Inhalts derselben, Lesen und übersetzen von Abschnitten aus dem Neuen Testamente und Kenntnis der einzelnen Bücher nach ihrem Hauptinhalte. Für die theologische Prüfung mutz beigebracht werden: 1. (Ein Maturitätszeugnis. 2. Ausweis über wenigstens dreijährige hochschul-

L Äußere Verhältnisse.

23

studien mit Teilnahme an homiletischen und katechetischen Übungen. 3. Ein Sittenzeugnis. 4. (Ein Zeugnis über bestandene propädeutische Prüfung. 5. Line schriftliche Darstellung des Lebens- und Studienganges des Bewerbers mit Angabe seines Geburtstages. Die Prüfung selbst zerfällt in eine theoretische und eine praktische, beide schriftlich und mündlich. In der theoretischen wird schriftlich und mündlich geprüft über Altes Testament und Neues Testament, wobei neben sprachlicher Sicherheit Kenntnis der literarischen und biblisch-theologischen Fragen erwartet wird; Dogmatik, vogmengeschichte und Symbolik, christliche Ethik mit Berücksichtigung auch der sozialen Probleme; nur mündlich: praktische Theologie, Pädagogik in Verbindung mit Psychologie. Bei der praktischen Prüfung besteht der schriftliche Teil in einem ausführ­ lichen Predigtschema und einer katechetischen Präparation über zwei auf­ gegebene Texte; der mündliche Teil in einer Probepredigt und einer Probekatechese, wobei die Texte für beide den Kandidaten zehn Tage zuvor bekanntgegeben werden. Jedem Kandidaten, der diese Prüfungen genügend bestanden hat, wird ein Zeugnis der Wählbarkeit innerhalb der Konkordatskantone ausgestellt. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, daß Pfarrer, die schon eine Amtstätigkeit hinter sich haben, öfters in solche Kantone gewählt werden, die nicht zum Konkordat gehören, und umgekehrt. Dann ge­ nügt ein Kolloquium, oder es wird ihnen vom Kirchenrat jede Forma­ lität erlassen. Die neukonstituierte Genfer Nationalkirche erklärt z. B. einen Pfarrer für wählbar, wenn er 1. ein Maturitätszeugnis hat, 2. von der theologischen Fakultät der Universität Genf graduiert ist, 3. die (vrdination empfangen, 4. die Konstitution der Kirche angenommen hat. Besetzungsverfahren. Soll eine Pfarrstelle besetzt werden, so kann ein doppelter weg eingeschlagen werden: Ausschreibung oder Be­ rufung. Vie Ausschreibung einer Stelle findet mit Namhaftmachung der Besoldungs- und anderen Verhältnisse im Kantonsblatt, oft auch in den kirchlichen Blättern statt. Vie Bewerber werden aufgefordert, ihre Zeugnisse einzusenden je nach Gesetz entweder an die Gemeinde oder an den kantonalen Kirchenrat. Der Kirchenrat übermittelt dann der Ge­ meinde die Bewerbungen. Dann findet eine Probepredigt statt, und die Gemeinde wählt den ihr genehmen Bewerber. Findet Berufung statt, so reist eine Abordnung der Gemeindekirchenpflege da- und dort­ hin, um einen Pfarrer zu hören, aus den man sein Auge geworfen hat. hat ein der Gemeinde genehmer Pfarrer zugesagt, die Stelle anzunehmen, so wird er von der Gemeinde gewählt, und erst nachträglich erhält der Kirchenrat davon Nachricht und hat auf Grund des einge­ sandten wahlfähigkeitszeugnifles die Wahl zu bestätigen. Jede Kirch-

24

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

gemeinde hat das freie Wahlrecht/ und es ist unmöglich, ihr einen Pfarrer aufzudrängen, den sie nicht haben will. Darin liegt ein großer Vorzug der demokratischen Gestaltung des Kirchenwesens, indem von vornherein eine gewisse Übereinstimmung zwischen Pfarrer und Gemeinde angebahnt ist. Eine liberale Gemeinde wird einen liberalen Pfarrer wählen, eine orthodoxe einen orthodoxen. Vie Mehrheit der Stimmen gibt den Ausschlag. Freilich können auch da Mißgriffe vorkommen. Eine Gemeinde wählte aus den Vorschlag einer Abordnung, die an einem andern (vrt gewesen war, jenen Pfarrer. Erst nachträglich stellte es sich heraus, daß die Abordnung nicht den Drtspsarrer, sondern einen dort weilenden Gastprediger gehört hatte, der ihr so vorzüglich gefallen hatte. Jener Pfarrer war jedoch gewählt, und die Gemeinde mutzte ihn annehmen. Die Kehrseite der freien Pfarrwahl ist die Wiederwahl. In der Demokratie muffen sich alle Staatsbeamten einer periodischen Wieder­ wahl unterziehen, je nach drei oder vier oder mehr Jahren. Diese Übung findet auch Anwendung auf die Pfarrer. Zwar nicht in allen Kantonen. Thurgau, Genf, Appenzell, St. Gallen, Waadt kennen ein­ fach ein Abberufungsrecht der Gemeinden gegenüber ihrem Pfarrer. Vie Kirchenordnung von St. Gallen sagt z. B. in Art. 12: die Kirchge­ meindeversammlung besetzt die kirchlichen Ämter und bestimmt die Be­ soldung derselben. Es steht ihr das Recht zu, den Pfarrer zu wählen und zu entlasten. 3m Kt. Freiburg gilt nach Kirchenordnung Art. 35 die Amtsdauer auf sechs Jahre erneuert, wenn bis sechs Monate vor Ab­ lauf derselben kein Abstimmungsbegehren gestellt worden ist. Reu be­ stellte Pfarrer werden für eine Amtsdauer von sechs Jahren gewählt. Andere Kantone haben die periodische Wiederwahl. Glarus nach § 16 der Kirchenordnung alle drei Jahre, Aargau, Bern (§ 30 des Kirchen­ gesetzes), Neuenburg (Art. 11), Zürich alle sechs Jahre, Schaffhausen alle acht Jahre. Es ist zuzugeben, daß solche Wiederwahl die Gefahr herauf­ beschwört, daß der Pfarrer nach Volksgunst hascht und eventuell nicht entschlossen gegen Übelstände auftritt, daß Gemeindeglieder, mit denen er ein ernstes Wort reden mußte, ihm drohen: Warte nur, bis die Wiederwahl kommt! Aber es muß dann schon eine starke Verstimmung herrschen, bis die Mehrheit der Gemeinde ihrem Pfarrer den Lauspatz gibt. Freilich kommt es selten vor, daß ein Pfarrer bei einer Wiederwahl alle Stimmen erhält. Mit einer Anzahl Nein mutz jeder rechnen, und

*) hierin macht einzig die Waadtländer Nationalkirche eine Ausnahme. Die Gemeinde präsentiert dem Regierungsrat von drei ihr vorgeschlagenen Pfarrern zwei, nämlich die zwei, welche bei der Abstimmung der Kirchgemeinde die meisten Stimmen erhalten haben, und der Regierungsrat ernennt einen der zwei zum Pfarrer.

I. Äußere Verhältnisse.

25

meist dient ihm das gar nicht zur Unehre. Jedenfalls sind beim System -er freien Pfarrwahl und Wiederwahl die Gefahren und Mißstände kleiner als dort, wo der Pfarrer vom Kirchenregiment eingesetzt wird, wo die Gemeinden jahrelang Pfarrer haben müssen, die ihnen wegen ihrer theologischen Richtung oder aus andern Gründen zuwider sind, wo bei Besetzung der Pfarrstellen oft Protektion eine größere Rolle spielt als Tüchtigkeit. Die Schweizer Pfarrer haben gegen die periodische Wiederwahl wenig einzuwenden, und die Gemeinden machen im allge­ meinen von ihrem Recht keinen Mißbrauch. (Es gibt Fälle, wo die Gemeinden sogar zu geduldig sind. (Ein kantonaler Rirchenrat fühlte sich z. B. verpflichtet, wegen Trunksucht gegen einen Pfarrer einzu­ schreiten. Vie Gemeinde wurde angefragt, ob das Ärgernis unerträg­ lich sei. Die Antwort lautete Rein, und der Pfarrer blieb. 3m Kt Zürich wurden im Jahre 1898 unter 160 Pfarrern zwei weggewählt; einer wegen hohen Alters. 3m Kt. Appenzell wurde einer weggewählt, weil er in einem Schriftchen dem Lotterieunwesen, welches in der Ge­ meinde herrschte, energisch zu Leibe ging. 3m Kt. Bern wurden 1902 bis 1906 unter 210 Pfarrern drei weggewählt; keiner wegen Pflicht­ vernachlässigung oder unordentlichen Lebenswandels, dagegen hatten sie sonst das vertrauen der Mehrheit der Gemeinde verloren. Alle drei fanden bald wieder eine Stelle. Zwei Gemeinden wählten ihren Pfarrer wieder mit Mehrheit von einer Stimme. Wegen Lehrdifferenzen zwi­ schen Pfarrer und Gemeinde wird kaum je eine Wegwahl vorkommen. 3n der Regel wird sich ein Pfarrer, der mit seiner Gemeinde ausein­ andergekommen ist, vor der kritischen Zeit der Wiederwahl eine andere Stelle suchen. 3m Kt. Tessin, wo, wie überhaupt in der katholischen Schweiz, auch manche katholischen Pfarrer sich der Wahl durch die Ge­ meinde zu unterwerfen haben und das Kirchenrecht dazu ein Auge zu­ drückt, fiel, als in dem katholischen Tresciana ein (Eure gewählt werden sollte, der dritte Teil der Stimmen auf den protestantischen Pfarrer der evangelischen benachbarten viasporagemeinde. Das Kirchengesetz der Waadt sieht Art. 63 auch vor, daß zwei Pfarrer ihre Stelle wechseln können. (Es ist dies zulässig unter der Bedingung, daß die Mehrheit der beiderseitigen Kirchenpflegemitglieder und die Mehrheit der beiderseitigen Gemeindegenoffen einverstanden sind, sowie daß der Regierungsrat den Wechsel sanktioniert. Betreffend Disziplinarverhältnisse, so ist in denjenigen Kan­ tonen, in welchen Wiederwahl der Pfarrer stattfindet, die Wiederwahl ein genügendes visziplinarmittel. (Es ist die Gemeinde, welche den Pfarrer überwacht und ihn wegwählt, wenn er ihr mißliebig wird. Der Kirchenrat hat da nicht viel dreinzureden. 3n andern Kantonen bestimmt die Kirchenordnung die visziplinarmittel.

26

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Waadt in Art. 93-103 seines neuen Kirchengesetzes sieht als Visziplinarmittel gegen den Pfarrer vor a) Ermahnung, b) Ermahnung in Gegenwart der Sqnodalkommission, c) Suspension für ein Jahr, d) Ent­ lassung aus dem Dienst der bestimmten Kirchgemeinde e) völlige Ab­

setzung. Diese Strafen werden nicht etwa für Irrlehre in Aussicht ge­ stellt, sondern für solche Pfarrer, die sich nachlässig erweisen in der Er­ füllung ihrer Pflichten, oder deren Betragen nicht übereinstimmt mit ihrem Amt. wird über einen Pfarrer Klage geführt, so erkundigt sich die Sqnodalkommission genau über den Fall und spricht das Urteil. Bei den Fällen c, d, e unterliegt ihre Entscheidung noch der des Regie­ rungsrates. Abgesetzte Pfarrer können auf Empfehlung der Sqnodal­ kommission nach fünf Jahren wieder rehabilitiert werden. Nach der St. Galler Kirchenordnung kann eine Gemeinde ihren Geistlichen entlassen, wenn sie unzufrieden ist. In diesem Fall muß nach Art. 27 das motivierte schriftliche Entlasiungsbegehren von der Kirchenvorsteherschaft oder bei ihr von einem Sechsteil der stimmfähigen Kirchgenossen gestellt und sofort dem Geistlichen und dem Dekanat zur Kenntnis gebracht werden. Gelingt ein versuch zu gütlicher Verständi­ gung nicht, so wird der Antrag auf Entlasiung — nicht vor Ablauf von 3 Monaten — vor die Gemeinde gebracht. Die absolute Mehrheit aller stimmfähigen Kirchgenosien entscheidet über Entlasiung oder Nichtentlasiung des Pfarrers. Erhält das Entlasiungsbegehren die Mehrheit nicht, so fällt es dahin und darf ein solches vor Jahresfrist nicht wieder vorgebracht werden. Ähnlich sind die Bestimmungen in den andern Kantonen, welche die periodische Wiederwahl nicht haben. Nur die freie Kirche der Waadt nennt unter den die Absetzung eines Pfarrers veranlasienden Gründen eine Lehre, die in Widerspruch steht zu den Prinzipien der Kirche. hierher gehört auch noch ein Wort über Kirchenvisitationen und Kirchenregiment. Nicht alle Kantonalkirchen kennen diese Ein­ richtung. 3m Kt. Aargau heißt es Art. 28 der Kirchenorganisation einfach, der Kirchenrat führe die Aufsicht über die kirchliche Amtsfüh­ rung der Geistlichen und könne zur Vornahme von Kirchenvisitationen weitere Mitglieder zuziehen. 3m Kt. Schaffhausen soll der Antistes und ein weltliches Mitglied des Kirchenrates alle paar Jahre in jeder Kirch­ gemeinde eine Visitation vornehmen. Während am Anfang des vorigen Jahrhunderts solche Kirchenvisitationen mehr Küchenvisitationen waren mit üppigen Gelagen, wobei Krebssuppe und welscher Hahn nicht fehlen durften, von Fischen nicht zu reden, deren man eher zwei Gerichte als eines hatte, sind sie jetzt sehr nüchtern, indem sie sich erstrecken auf die Buchführung, Predigt- und Unterrichtstätigkeit des Pfarrers. Mancher­ orts geschieht sie nicht durch den Kirchenrat, sondern die Bezirks-

I. Äußere Verhältnisse.

27

Kirchenpflege, oder den Dekan, z. B. im Kt St Gallen, Kt. Zürich, Kt Waadt; im letztem wird eine Gemeinde mindestens alle sechs Jahre inspiziert. Auch die unabhängige Kirche des Kt. Neuenburg hat Visi­ tationen. 3m Kt. Bern dagegen wurde ein auf Visitationen zielender Antrag von der Synode verworfen. 3n jedem Fall wird das Kirchenregiment sehr milde gehandhabt. Das entscheidende Urteil über die Wirksamkeit eines Pfarrers hat nicht eine Dberbehörde, sondern die Grtsgemeinde. Kommt ein Pfarrer mit der Gemeinde nicht aus, oder ist er mit dem Glauben der Kirche zer­ fallen, so geht er zu etwas anderem über, er wird Staatsbeamter, Lehrer, Redakteur oder so etwas. Mit Schreibereien für die Gberbehorde ist er nicht geplagt, sie nehmen im Jahr kaum eine Viertel­ stunde in Anspruch. Die Freiheit des Pfarrers und der Einzelgemeinde ist groß. Niemand wird es dem Pfarrer verwehren, z. B. an einem Festtag bei schönem Wetter den Gottesdienst im Freien abzuhalten, oder wenn er es tun mag, in der Silvesternacht eine Predigt zu halten, oder wenn es ihm patzt, mit seinem Nachbar die Kanzel zu tauschen. Vie Bewegungsfreiheit ist wirklich eine große. 3m Verhältnis zu andern protestantischen Kirchen ist das Dienst­ einkommen der schweizerischen Pfarrer ein bescheidenes, was den Vorteil hat, daß die Pfarrer keine privilegierte Kaste bilden. Die folgende Tabelle (S. 28 u. 29) gibt einigermaßen Auskunft über Pfarrbesoldungen, Pensionierung und Witwen- und Waisenkassen der verschiedenen Kan­ tonalkirchen. Freilich ist dies Bild nur ein ungefähres. Vie Bedingungen und

Bestimmungen der einzelnen Fonds und Kantone sind sehr mannigfach. Genaueres Eingehen aufs Einzelne nähme zuviel Raum in Anspruch. Nachahmenswert ist die Bestimmung der unabhängigen Kirche von Neuen­ burg, daß jedem Pfarrer für jedes Kind unter 10 Jahren jährlich 50 Fr., über 10 Jahren (bis zum 18. Altersjahr) 100 Fr. Zulage

gewährt werden. Seit einigen Jahren besteht auch eine „Krankenkasse für schwei­ zerische evangelische Geistliche", die ihren Mitgliedern durch Ausrichtung eines täglichen Krankengeldes in Krankheitsfällen ökonomischen Rück­ halt gewährt. Der Beitritt zur Kasse ist freiwillig. Je nach der höhe der einbezahlten Prämie wird ein tägliches Krankengeld von 1 - 5 Fr. ausbezahlt. Es bestehen innerhalb der Genossenschaft eine Anzahl von kantonalen Sektionen. Vie Einnahmen betrugen 1907 6668 Fr., die Ausgaben 2408 Fr., wovon 876 Fr. ausbezahlte Krankengelder. Vas Vermögen im August 1908 7000 Fr., 1909 13 000 Fr., Mitglieder­ zahl 218 Geistliche.

Stuckert, llirchenkund« der reformierten Schweiz.

28

Besoldung

Minimum 2 800

1. Kargau 2. Kppenzell

3 200-5 000

3. Baselland

Minimum 2 400

4. Baselstadt 5. Bern

4 500-5 000 2 600

6. Freiburg

2 000-2 700

7. Genf.

Nationalkirche

Freie Kirche

8. Glarus

9. Graubünden 10. Neuenburg.

Nationalkirche 27 Gemeinden 6 8 Unabhäng. Kirche

4 400-5 300 ohne Pfarrhaus 3 600-4 200 mit Pfarrhaus 4 000-5 000 2 600-4 400

1 200-3 000

11. Schafshausen

2 400 2 700 3 000 2 900 3 000-3 200

12. St. Gallen

2 800-5 000

13. Thurgau.

1 Gemeinde 8 Gemeinden 8 16 6 11 4 1 Gemeinde Nationalkirche

5 000 4 000-4 500 3 600-3 800 3 200-3 500 3 000-3100 2 800-2 900 2 500-2 700 2100 2 500

Freie Kirche 1-4 Dienstjahre 5- 8 9-12 13-16 17 und mehr

2 400-4 000 2 400 2 600 2 800 3 000 3 200

14. Waadt.

15. Zürich.

Klterszulagen

200-400 und Ortszulagen Besoldungsansatz istSache der Einzelgemeinde Ortszulagen einzelner Gemeinden 500 nach 15 Jahren je 200 nach je 3 Dienst­ jahren bis 1000 Ortszulagen einzelner Gemeinden

Ortszulagen einzelner Gemeinden Besoldungsansatz ist Sache der Einzelgemeinde

200-600 150-450 100-300 300 je 200 nach je 5 Dienst­ jahren bis 800 100-300

je 200 nach 3 Dienst­ jahren bis 1200 Hilfskasse Ortszulagen einzelner Gemeinden

I. Außere Verhältnisse.

29

Fonds der Pensionskasse

Cinzelpension

Fonds der Witwenkasse

Cinzelpension

190 000



130 000

300-350

36 000

275

67 443

240

400-800

170 000

staatlich

keine

400.

Kinder 200

1 000-4 500 475 418 700 nach 40 Dienst­ 458 930 300-400 jahren die halbe daneben noch verschiedene lokale Kassen Besoldung keine

keine keine Vie Hilfskasse ist zugleich pensions-, Invaliden-, Witwen- und Waisenkasse

Predigeralterskasse und obligato­ rische Rentenkasse 30-40 000 300-400

3 Predigerwitwenkassen

308 519 400-500 beiden Kirchen gemeinsam

69 479

700 400

267 089

73 000

600

224 195

500

36 400

500

171 419

250

bis 1600

87 500

600-1 200

28 256

Reservefonds 644 410

nach 30 Dienst­ jahren x/i bis 3/4 der Besoldung

286 507 Hilfsfonds 48 623 Reservefonds 161939

Witwenfondsd.§tadtbürger: 462 362

700.

Waisen 100

400-800

}

400

30

Stuckert, ltirchenkunde der reformierten Schweiz.

II. Rirchenverfassungen.

Einleitung. Vie Rirchenordnungen der Reformationszeit waren nicht das Werk irgendeiner Theorie, sondern erhielten ihre Gestalt durch die Stellung, welche die Regierungen zu den kirchlichen Angelegenheiten einnahmen. Fast überall führte die Obrigkeit die Reformation ein, bald auf eine abgehaltene Disputation oder ein Gutachten der Geistlichkeit sich be­ rufend, bald mehr vom Volk gedrängt. Alle Rirchenordnungen der Re­ formationszeit fangen daher an: „Wir Bürgermeister oder Rat haben.. Durch stillschweigende Übereinkunft wurde die Anordnung und Leitung der äußern kirchlichen Angelegenheiten der Regierung oder dem Rat übertragen. Voraussetzung war hierbei, daß sich die Regierung an das wort Gottes halte. Würde sie das nicht tun, dann sollte sie nach Zwinglis Ansicht mit Gott entsetzt werden. So war die Aufrichtung des Staatskirchentums zur Reformations­ zeit ein Werk der Notwendigkeit. Sowohl in Zürich wie in Bern und anderswo bot allein die Gbrigkeit den reformatorischen Bestrebungen den nötigen Rückhalt gegen die päpstliche und bischöfliche Gewalt. Es war gar nicht anders möglich, als daß die Staatsgewalt der Rirche den Schutz ihres Arms leihen mußte, wenn die Reformation zum Sieg gelangen sollte. Vie Aufsicht über die Geistlichen war von Anfang an den Geistlichkeitssynoden übertragen. Besonders in der ersten Zeit war es nicht leicht, unter der aus dem Papsttum übergetretenen Geistlichkeit die Spreu vom Weizen zu trennen und solche zu bestrafen, die den neuen Wein be­ harrlich in den alten Schläuchen haben wollten. Da gab es Mahnung, Versetzung, Absetzung oder gar Gefängnisstrafen. Vie Synoden hatten aber noch andere Arbeit. Manche Rirchenordnungen waren das werk der Synoden, so in Zürich, Bern und Schaffhausen. Freilich wurden sie im Namen der Gbrigkeit publiziert. Den Synoden überließ man auch in der Regel die Besorgung der innerkirchlichen Angelegenheiten. Doch gab es natürlich überall weltliche Beisitzer. Der Rat führte das Regiment in der Rirche. 3n Sachen der Lehre standen ihm die Geist-

II. Kirchenverfassungen.

31

lichen zur Seite, teils die Stadtgeistlichen, teils die Synoden. Vie Pfarrer wurden fast überall von den Regierungen oder von den bis­ herigen Kollatoren der Gemeinden gewählt. Selbst in den ganz refor­ mierten Rantonen wurde eine ziemliche Anzahl von Pfarrstellen von Stiften und Klöstern anderer Kantone besetzt. Etwas anders lagen die Dinge in der welschen Schweiz, die unter Calvins Einfluß stand. Bei ihm liegt der Schwerpunkt der Kirchen­ verfassung in der Kirchenzucht. Diese wird geübt vom Konsistorium, das aus Geistlichen und ältesten besteht. Doch ließ sich die Trennung des Kirchlichen und Staatlichen auch in Gens nicht ganz durchführen. Vie ältesten wurden jährlich vom Rat gewählt und die Kirchenver­ fassung im Namen des großen und kleinen Rates erlaflen. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts bildete sich in der deutschen Schweiz das staatskirchliche Prinzip überall konsequenter aus; die Be­ deutung der Synoden trat mehr zurück. Die bisher mehr oder weniger zufälligen, die Regierungen beratenden Kollegien bilden sich zu stän­ digen Behörden aus, sie heißen Kirchenkonvent (heute Kirchenrat), und es sind ihnen meist aus Mitgliedern des großen Rates Beisitzer zuge­ teilt. Der Kirchenkonvent leitet in jedem Kanton die innern und äußern Kirchenangelegenheiten, natürlich unter Oberaufsicht des Rates. Er prüft die Kandidaten und erteilt der Regierung Gutachten über Bekenntnis und Liturgie usw. Vie Tätigkeit der Synoden beschränkt sich fast ausschließlich aus Vorbringung und Beratung der Beschwerden an die Regierungen. Vie Kirchenzucht nimmt bürgerlich-polizeilichen Tharakter an. Dasselbe war in Genf der Fall, wo der Staatsrat als letzte In­ stanz in den allgemeinen Angelegenheiten der Kirche handelte. So hatten sich bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Kirchen­ verfassungen nur nach der Seite entwickelt, daß die kirchliche Gewalt immer mehr in die Hand der Regierungen übergegangen war. Wie der Staatsorganismus, so trug auch die Kirchenorganisation städtisch­ aristokratischen Tharakter. Vas demokratische Element, das in den Synoden lag, war ohne Einfluß auf die Entwicklung der Kirche. Mit der politischen Regeneration seit 1830 wurden jedoch auch die Kirchenverfaflungen umgestaltet. Das städtisch-aristokratische Kirchen­ regiment Konnte sich bei den demokratischen Formen der Neuzeit nicht länger behaupten. Jetzt wurde den Synoden entweder die Entscheidung in den rein kirchlichen Angelegenheiten unter Vorbehalt der Genehmi­ gung durch die Regierung übertragen, wie in den Kantonen Zürich, Thurgau und St. Gallen, oder ihnen wenigstens eine begutachtende Stellung angewiesen, wie in Schaffhausen, Appenzell, Bern und Waadt. Ebenso wird in den meisten Kantonen der Synode das Recht ringe-

32

Stuckert, Rirchenkunbe bei reformierten Schweiz.

räumt, einige Rirchenräte zu wählen. Die Wahl der Geistlichen geht an die Gemeinden über. Bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich das Staats« kirchentum immer entschiedener ausgebildet, d. h. es waren kirchliche Gebilde entstanden, in denen der Staat, die Regierung eine dominie­ rende Stellung einnahm. Staatskirchentum hat hauptsächlich zwei Er­ kennungszeichen. Erstens, daß der Staat das Recht hat, in die Rirche hineinzuregieren; daß er in kirchlichen Sachen ein entscheidendes oder letztes Wort zu sagen hat. Zweitens, daß der Staat die betreffende Rirche finanziell unterstützt, oder sonstwie bevorzugt. Die moderne Ruffaffung von Wesen und Aufgabe sowohl des Staates als der Rirche ist dem Staatskirchentum nicht mehr günstig. Sie rechnet mit einem Konfessionslosen Staat und einer selbständigen Rirche. Nach ihr auferbaut sich die kirchliche Verfassung auf dem Grundelement der Kirchlichen Einzelgemeinde, vorberatende und ausführende Behörde derselben ist die Rirchenpflege des Grts. Die Repräsentation der Rirchgemeinden, d. h. des gesamten evangelischen Rirchenvolkes ist dann die Synode, in welche jede Rirchgemeinde nach Maßgabe ihrer Größe Vertreter abordnet. Die Synode ist die gesetzgebende und beaufsichti­ gende kirchliche Behörde. Die Spitze der Kirchlichen (Organisation pflegt endlich die „Synodalkommission" oder der „Rirchenrat" zu sein; er ist die Exekutive der Synode, erledigt die laufenden Geschäfte, beaufsichtigt das Gesamtkirchenwesen und legt der Synode Bericht und Rechenschaft ab. Es wurde bereits bemerkt, daß ungefähr seit dem Jahre 1830 die früher staatskirchlichen Rantonalkirchen demokratischere Rirchenordnungen angestrebt haben. Vas geschah freilich nicht mit einem Schlage. Km frühesten in den neugebildeten Rantonen Thurgau und St. Gallen, wo keine staatskirchlichen Traditionen hemmend in den weg traten. Zwischen der alten Staatskirche und der modernen selb­ ständig organisierten Rirche lassen sich eine Menge von Zwischenstufen denken. Diese sind gegenwärtig in den schweizerischen Rantonalkirchen in verschiedenen Modifikationen vertreten, vom Staatskirchentum aus­ gehend, sollen sie nun der Reihe nach vorgeführt werden.

2. vafelftadt. Die kirchliche verfaffung des Kantons Basel-Stadt scheint zunächst nichts von Staatskirchentum zu enthalten. 3m Gesetz über die (Or­ ganisation der reformierten Landeskirche heißt es § 5: „Die oberste Vertretung der evangelisch-reformierten Landeskirche ist die Synode. Dieselbe besteht aus 60 Mitgliedern, die van den Rirchgemeinden nach dem Verhältnis ihrer evangelisch-reformierten Bevölkerung gewählt

H. Kirchenverfassungen.

33

werden." In der Synode sitzen Pfarrer und Laien, welche frei aus dem Kirchenvolk gewählt sind. Hber nun heißt es weiter: „von Amts wegen sind Mitglieder der Synode die Delegierten des Regierungs­ rates zum Kirchenrate." „Der Kirchenrat (welcher die Beschlüsse der Synode zu vollziehen hat, sowie die Aufträge gemischt kirchlicher Natur, welche der Regierungsrat ihm zuweist) besteht aus neun Mitgliedern, wovon sieben von der Synode, zwei vom Regierungsrat aus den An­ gehörigen der Landeskirche gewählt werden." hier bemerken wir bereits, daß eine staatliche Behörde, der Regierungsrat, Mitglieder einer kirchlichen Behörde, des Kirchenrates, wählt. Am deutlichsten wird aber das Staatskirchentum in § 9: Die Befugnisse der Synode sind folgende: a) Sie wählt den Präsidenten des Kirchenrats und ihre Abgeordneten in denselben, b) In rein kirchlichen Dingen, insbesondere Ordnung des Gottesdienstes und des kirchlichen Religionsunterrichts, Festsetzung der Liturgie und des Gesangbuches, sowie der kirchlichen Lehrbücher, faßt die Synode Beschlüsse über die vom Kirchenrat ihr gemachten Vorlagen. Die Beschlüsie der Synode werden dem Großen Rat (d. h. der politischen Vertretung der Volkes, in der auch Katho­ liken und Atheisten sitzen) mitgeteilt. Der Große Rat kann die Be­ schlüsse der Synode innerhalb sechs Monaten von der Mitteilung an durch Einlegung eines Veto außer Kraft setzen, sofern er es im Interesse des Staates oder der Erhaltung der Landeskirche für nötig erachtet, c) In gemischt kirchlichen Dingen gibt die Synode ihre Anträge und wünsche dem Regierungsrat ein. d) Sie stattet alljährlich dem Großen Rat Bericht über ihre Verrichtungen ab. hier hat also der große Rat, eine staatliche Behörde, das letzte Wort in Sachen der reformierten Kirche zu sagen. Was nun die finanzielle Seite der Sache betrifft, so heißt es im Gesetz: „Der Staat besoldet die Pfarrer, ebenso besoldet er die Siegristen, Organisten und Kantoren, er trägt die Kosten der Beheizung und Be­ leuchtung der Kirchgebäude der Landeskirche." Die Mittel dazu brachte der Staat in Basel auf durch Steuern, bei denen jedoch die Kultus­ steuern nicht ausgeschieden sind. Nun beklagten sich schon länger die Katholiken Basels, daß sie durch ihre Staatssteuern an die Unterhaltung der protestantischen und christkatholischen Kirche beitragen müßten, während ihnen als nicht staatlich anerkannter Landeskirche, nichts von feiten des Staates zukomme. Das wurde weithin als Ungerechtig­ keit empfunden. Sie petitionierten daher um einen Staatsbeitrag an ihre Kultuskosten. Sie wurden unterstützt von der Sozialdemokratie. Und im Großen Rat drang mit Mehrheit ein sozialdemokratischer An­ trag durch, welcher lautet: „In Erwägung, daß das in § 19 der Kan­ tonsverfassung festgesetzte System von Landeskirchen und die damit Stuckert, Uirchenkunde der ref. Schweiz. 3

34

Stuckert, ltirchenkunde der reformierten Schweiz.

verbundene Bestreitung ihrer Kultusbedürfnisse durch den Staat den Anforderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit nicht mehr entspricht, wird der Regierungsrat eingeladen, zu prüfen und zu berichten, ob nicht die Kirchen vom Staat grundsätzlich zu trennen seien." Dieses wurde vom Großen Rat angenommen als Auftrag an die Regierung, das Verhältnis der Kirchen zum Staat allgemein, nicht nur vom Stand­ punkt der völligen Trennung zu prüfen. Die Regierung hat sich dieses Auftrags erledigt und empfiehlt in ihrem „Ratschlag" eine Lockerung des Bandes zwischen Kirche und Staat mit einem milden Gberaufsichtsrecht des letztem, wenn dieser „Rat­ schlag" Gesetz wird, so lautet § 19 der Kantonsverfassung in Zukunft: „Die reformierte und die christkatholische Kirche des Kantons haben öffentlichrechtliche Persönlichkeit. Sie ordnen ihre verhältniffe selber, bedürfen aber, ausgenommen bei rein kirchlichen Bestimmungen, für ihre verfaffung und ihre allgemeinen Erlasse der Genehmigung des Regierungsrates. Diese Genehmigung ist zu erteilen, wenn die kirchliche Organisation auf demokratischer Grundlage fußt und insbesondere die Wahl der gesetzgebenden Behörden, der Gemeindevorstände und der Geistlichen durch die stimmberechtigten Mitglieder vorsieht, wenn jeder Kantonseinwohner der betreffenden Konfeffion, der nicht ausdrücklich austritt, als Mitglied anerkannt und den Ledürfniffen der Minder­ heiten angemessener Spielraum gewährt wird, und wenn die Bestim­ mungen der Bundes- und der Kantonsverfassung, sowie der in ihrer Ausführung erlassenen Staatsgesetze gewahrt sind. Die reformierte und die christkatholische Kirche verwalten ihr vermögen selbständig unter Oberaufsicht des Regierungsrates. Sie sind berechtigt, im Bedarfsfall Kultussteuern von ihren Angehörigen zu erheben. Ihre Steuererlaffe sind regierungsrätlicher Genehmigung zu unterbreiten. Innerhalb der vorstehenden Bestimmungen erfolgt die nähere Ordnung der Anwendungs­ fälle, Voraussetzungen, Wirkungen und formen der staatlichen Geneh­ migung und Oberaufsicht durch Staatsgesetz. § 19 a. Alle andern Kirchen stehen unter den Grundsätzen des Privatrechts. Die Bestimmungen der Bundes- und der Kantonsver­ fassung bleiben vorbehalten". (Es würden nach diesem Ratschlag der Rest des Kirchen- und Schulguts und das reformierte Stiftungsgut in das Eigentum und die Verwaltung der reformierten Kirche übergehen, also Kirchen, Pfarr­ häuser und ein Finanzvermögen von etwa 500 000 Fr. Die christ­ katholische Kirche würde mit einer Kirche und einem Gut von 150 000 Fr. ausgestattet. Die römisch-katholische Kirche mit dem Nutznießungsrecht an einer Kirche und ebenfalls 150 000 Fr., die israelitische Gemeinde mit 15 000 Fr.

n. Kirchenverfassungen.

35

Der Große Rat hat am 20. Januar 1910 diesen Ratschlag mit geringen Änderungen (Erhöhung des Beitrags an die Katholiken auf 200 000 $r.) angenommen. Vie Volksabstimmung nahm ihn am 5. März 1910 ebenfalls an mit 7413 Ja gegen 1036 Rein. Dem­ nächst wird nun eine neue Kirchenorganisation vorgelegt, in der alles Staatskirchliche ausgemerzt ist.

3. vafelland. 3m Kanton vafelland ist die Kirche ebenfalls Staatskirche. Kirchen­ rat und Synode gibt es hier nicht, sondern nur einerseits einen pfarrkonvent, andrerseits die Regierung. Die Kantonsverfassung in § 30 sagt: „Dem Staate steht das Recht zu, über das Kirchenwesen die Gberaufsicht auszuüben." „Über kirchliche Behörden und Organe ist folgen­ des zu sagen: Vie Aufsicht über die kirchlichen Angelegenheiten, soweit sie staatlicher Natur sind, führt der Regierungsrat bzw. die Kirchen­ direktion (d. h. dasjenige Mitglied der Regierung, welchem das Kirchen­ departement übergeben ist). 3n den einzelnen Gemeinden versehen die Gemeinderäte die Stelle von Kirchenräten, ausgenommen die Diaspora­ gemeinden. Über die Benutzung der Kirche mit Inbegriff der Kanzel entscheidet der Gemeinderat." Bezüglich des finanziellen besitzt der Kt. Baselland von der Re­ formationszeit her ein Kirchen- und Schulgut, das vom Staat verwaltet wird. Diesem liegt außer den Pfarrbesoldungen auch der Unterhalt der Kirchen und Pfarrhäuser ob; jedoch haben an letztem Ausgaben die Gemeinden des Kirchsprengels einen Dritteil zurückzuvergüten. Vas Rein­ vermögen des Kirchen- und Schulfonds beträgt etwa 3 Millionen franken.

4. Waadt. Das neue Kirchengesetz der waadtländischen Rationalkirche vom 18. Rovember 1908 sagt fltt. 4: Unter der Oberaufsicht des Staates nimmt die Kirche an ihrer eignen Leitung teil vermittelst einer aus ihrem eignen Schoß erwählten Vertretung. - Mit dieser Vertretung ist die Synode gemeint. Sie wird aber nur zum Teil frei aus dem Kirchenvolk gewählt, da ihr nach Rrt. 32 angehören: die Abgeordneten der Bezirkskirchenpflegen, die Theologieprofessoren und drei Abgeordnete des Regierungsrates. Dementsprechend ist in den meisten kirchlichen Dingen der Regierungsrat die letzte Instanz. Art. 5: Das religiöse Unterrichtswesen, der Kultus, die Ivahl der beim Kultus gebrauchten Bücher und im allgemeinen, was zum rein geistlichen Gebiet gehört, wird durch die Vertreter der Kirche geordnet. Art. 6: Was dagegen 3*

36

Studiert, Rirchenkunde der reformierten Schweiz.

zuck weltlichen Gebiet gehört, Errichtung neuer Pfarreien, Besoldung der Pfarrer und ihrer Stellvertreter, Einführung oder Abschaffung eines Feiertags, Rultusordnung, Maßnahmen, durch die dem Staat oder den Gemeinden eine Last auferlegt wird, werden durch die staatliche Auto­ rität geordnet, nötigenfalls durch den Regierungsrat. 3n solchen Dingen haben die die Rirche vertretenden Körperschaften das vorschlags­ recht und müssen beraten werden. Art. 1 und 2 des Rirchengesetzes lauten: „Vie Nationalkirche des Kt. Waadt bekennt die christliche Religion nach den Grundsätzen der evangelisch-reformierten Gemeinschaft. Mitglieder der Rirche sind alle Personen, welche die Grundsätze und wesentlichen Formen dieser Rirche annehmen. Sowohl als wesentlicher Teil der allgemeinen Rirche wie gleichzeitig als nationale Einrichtung, hat die Rirche des Kt. Waadt den Zweck, ihre Glieder zum christlichen Leben zu führen. Sie verfolgt dieses Ziel mit rein geistlichen Mitteln auf dem Boden der religiösen Freiheit, wobei sie keine andere Richtschnur der Lehre zuläßt als das Wort Gottes, wie es in der h. Schrift enthalten ist." Art. 10. Vie Rirche nimmt an ihrer Verwaltung teil durch 1. die Rirchgemeindeversammlungen, 2. die Rirchenpflegen, 3. die Bezirks­ kirchenpflegen, 4. die Synode und die Synodalkommission. Die Rirchgemeindeversammlung, zu der alle 20 jährigen Mit­ glieder der Rirche gehören (wenn sie es wünschen, auch Frauen), wählt ihre Rirchenpflege, schlägt dem Regierungsrat den Pfarrer vor, den sie wünscht, antwortet dem Regierungsrat auf Fragen, die er ihr unter­ breitet, berät über den Jahresbericht der Rirchenpflege und andere kirchliche Fragen, kontrolliert die Finanzverwaltung der Rirchenpflege. Die Rirchenpflege beschäftigt sich mit allem, was Frömmigkeit und Moral der Kirchgemeinde fördert, insbesondere mit Katechumenen, Armen und Kranken; sie wählt ihre Abgeordneten in die Bezirkskirchenpflege; sie verwaltet mit dem Gemeinderat das Rirchenopfer und unterbreitet der Rirchgemeindeversammlung alle die Kirchgemeinde oder die Gesamtkirche betreffenden Vorschläge. Vie Rirchenpflege besteht aus dem oder den Gemeindepfarrern und mindestens vier Mitgliedern. Vie Bezirkskirchenpflegen, sechs an der Zahl, bestehen aus den Abgeordneten der Rirchenpflegen ihres Bezirks (alle Pfarrer und doppelt soviel Laien). Sie versammeln sich jährlich einmal. Der Regierungs­ rat kann sich dabei durch ein Mitglied vertreten lassen. Sie nimmt einen zusammenfaffenden Bericht entgegen über den Dienst der Pfarrer, den Stand der Kirchgemeinden, ihre religiösen Bedürfniffe, über Grte und Gegenstände des Kultus, über Pfarrhäuser usw. Sie berät über die im Interesse der Kirchgemeinden nötigen Maßnahmen. Sie über­ sendet die Berichte der Rirchenpflegen samt ihrem eigenen an die Sy-

IL Kirchenversaffungen.

37

nodalkommission. Sie entsendet in die Synode ihre Abgeordneten, auf je sieben Pfarrer einen und die doppelte Zahl der Laien. Die Synode versammelt sich jährlich einmal drei Tage lang. Sie beschäftigt sich mit den allgemeinen Interessen der Kirche und berät über die ihr von den Bezirkskirchenpflegen, der Synodalkommission oder dem Regierungsrat vorgelegten Gegenstände, nimmt den Geschäfts­ bericht der Synodalkommission und der theologischen Fakultät entgegen, ordnet die nötigen Reglemente an und unterbreitet sie dem Regierungs­ rat, wählt die Synodalkommission und die acht Abgeordneten der Kon«

sekrationskommission. Die Synodalkommission besteht aus drei Geistlichen und vier Laien. Sie vertritt die Synode, bereitet die Geschäfte der Synode vor und führt ihre Beschlüsse aus. Sie wacht mit dem Kultusdepartement über der Ausführung der kirchlichen Gesetze und macht Vorschläge für die Be­ setzung einer erledigten theologischen Professur. (Eine begrüßenswerte Neuerung ist, daß eine ständige Commission d’Evangelisation et de Mission besteht, welcher in den Bezirken fünfgliedrige Missionskomitees unterstehen mit dem Zweck, das Missionsinteresse in der Kirche zu pflegen. So wird der Missionsgedanke hier zur Sache der Kirche gemacht, was das Finanzielle betrifft, so bestimmt Art. 104: Die Kultus­ ausgaben verbleiben zu Lasten des Staates und der öffentlichen Kaffen, welche in dieser Hinsicht Verpflichtungen haben. Sich in dieser Hinsicht

erhebende Schwierigkeiten ordnet der Regierungsrat. Art. 105: Die Pfarrer und ihre Stellvertreter erhalten ihre Besoldungen von der Staatskaffe. — Die hier genannte Verpflichtung stammt aus der Re­ formationszeit, wo der Staat ein Kirchengut von 15 Millionen Franken säkularisiert hat; dafür bezahlt er jetzt mit seinem Kultusbudget 4 °/o Zinsen. Doch sieht Art. 9 des neuen Kirchengesetzes eine kirchliche hilfskaffe vor, die unter der Kontrolle des Staates, gespeist durch frei­ willige Gaben der Kirchenglieder, hauptsächlich dazu dienen soll, Hilfs­ pfarrer anzustellen, die von der Kirche ernannt werden und deren Be­ soldung der Staat nicht übernimmt.

5. Schaffhausen. Im Kanton Schaffhausen sagt die zu Recht bestehende Kantonsver­ fassung von 1876: „Die öffentlichen kirchlichen Korporationen organi­ sieren sich unter folgenden Einschränkungen selbständig: Die (Organi­ sation bedarf der Genehmigung des Staates usw." Allein die um zwei­ undzwanzig Jahre ältere Kirchenordnung steht dazu in Widerspruch. Sie sieht keine selbständig sich organisierende Kantonalkirche, sondern eine im Grund vom Staat regierte vor; und da int Jahre 1888 der

38

Studiert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

versuch, eine bessere Kirchenordnung einzuführen, in der Volksabstim­ mung gescheitert ist, besteht noch bis heute die Staatskirche. Ihre rechtliche Organisation ist nach der Kirchenordnung von 1854 diese: Art. 137: Vie Synode besteht aus den im Kanton angestellten Geistlichen, aus einer Abordnung zweier Mitglieder der Regierung und aus den Mitgliedern des Kirchenrats. Art. 138: Sie ist kompetent 1. zur Antragstellung in rein kirchlichen Dingen; diese Anträge gelangen an den Kirchenrat zu Handen des Regierungsrates, 2. zu Gutachten über gemischt kirchliche Gegenstände an den Kirchenrat und die Re­ gierung. Art. 22: Der Kirchenrat besteht aus einem Mitglied der Regierung, dem Antistes, einem geistlichen und einem weltlichen von der Synode gewählten Mitglied und drei vom Großen Rat gewählten Mit­ gliedern, von denen eines dem geistlichen Stande angehören muß. Art. 25: Der Kirchenrat übt teils durch den Antistes, teils direkt die Aufsicht über das Gesamtkirchenwesen des Kantons sowohl, als auch über die Geistlichen speziell. Art. 31: Der Kirchenrat hat alljährlich einen Bericht an den Regierungsrat über den Gesamtzustand des Kan­ tons in kirchlicher Beziehung zu bringen. Art. 32: Der Kirchenrat entwirft die nötigen Reglemente in Kirchensachen, hat aber solche je­ weils der Regierung zur Genehmigung vorzulegen. Überblickt man diese Bestimmungen, so erhellt unschwer, daß die Synode, mithin die Kirche, keine selbständige Stellung einnimmt. Sie kann nur Anträge stellen, der Kirchenrat besorgt die laufenden Ge­ schäfte, aber alles Wichtige entscheidet, genehmigt oder verweigert der Regierungsrat, d. h. die Staatsbehörde, die ihrerseits nur der Volks­ vertretung, dem Großen Rat, verantwortlich ist. Vie Ausgaben für die Kirche werden aus dem aus der Reforma­ tionszeit stammenden Kirchen- und Schulgut bestritten, welches der Staat verwaltet. Der Löwenanteil der Zinsen wird für die Schule verwendet, und wo sie nicht reichen, legt der Staat aus den Steuern den Rest darauf. Vie Kirchgemeinden haben für kirchliche Zwecke sehr wenig zu leisten, Kultussteuern sind unbekannt. Der Staat ist durch Tradi­ tion und Verträge verpflichtet, aus dem Kirchen- und Schulgut die kirch­ lichen Ausgaben zu bestreiten, Freilich wird auch hier die Ausscheidung eines speziellen Kirchengutes angestrebt, stößt aber auf feiten des Staates auf widerstand.

6. Graubünden. Auch der Kanton Graubünden gehört in die Reihe der Kantone, in welchen die Staatsregierung weitgehende Rechte in kirchlicher Be­ ziehung besitzt. 3n der Verfassung von 1902 Art. 11 heißt es zwar: „Vie Religionsgenosienschaften ordnen ihre inneren Verhältnisse (Lehre,

IL Kirchenverfassungen.

39

Kultus usw.) und verwalten ihr vermögen selbständig. Das Gberaufsichtsrecht des Staates im allgemeinen, und namentlich zum Zweck der Erhaltung und richtigen Verwendung des vermögens der als öffentlich anerkannten Religionsgenossenschaften bleibt vorbehalten." Aber in der kirchlichen Verfassung ist beibehalten eine Verordnung des Großen Rates von 1851, welche besagt: „Alle Anordnungen und Erlasse kirch­ licher Behörden der einen oder andern Konfession, welche bestimmt sind, direkt oder indirekt an das Volk zu gelangen, sollen vor ihrer Be­ kanntmachung, Mitteilung, Vollziehung oder Anwendung dem Kleinen Rat (d. h. der Regierung) zur Einsicht vorgelegt werden. Der Kleine Rat wird sie prüfen, und wenn er findet, daß dieselben bestehenden Ge­ setzen oder grotzrätlichen Verordnungen und Verfügungen zuwiderlaufen, oder geeignet sind, die Wirksamkeit derselben zu schwächen, deren Be­ kanntmachung, Mitteilung, Vollziehung oder Anwendung nicht zugeben." Die Organe der evangelisch-rätischen Kirche sind (Kirchl. Verfassung § 4): die Kirchgemeinden, die Kirchenvorstände, der evangelische Große Rat, der evangelische Kleine Rat, die Synode, der Kirchenrat, die Kollo­ quien, die Pfarrer. Die Synode ist eine reine Geistlichkeitssynode, zu der auch die drei politischen Assessoren gehören, welche als seine Ver­ treter vom evangelischen Teil des Großen Rates gewählt werden, den Verhandlungen der Synode beiwohnen und ihm über dieselbe Bericht erstatten. Der Genehmigung des evangelischen Großen Rates unterliegen auch alle Beschlüsse der Synode, die als Dekrete Gesetzeskraft erlangen sollen. Auch legt er Gesetzesvorlagen, welche die evangelische Kirche be­ treffen, den evangelischen Gemeinden zur Volksabstimmung vor. Die Kompetenzen der Synode sind (§ 17): Wahl ihres Bureaus, Aufnahme von Kandidaten, Ordnung des Kirchenwesens, Aufsicht über den Kirchen­ rat, Kolloquien und Synodalen, insbesondere die Amtsführung der Pfarrer. Sie versammelt sich jährlich einmal. Kolloquien, d. h. bezirks­ weise Pfarrkonferenzen, gibt es sieben. Sie haben die Beschlüsse von Synode und Kirchenrat auszuführen, die Pfarrarchive zu visitieren, und beraten über die ihnen vom Kirchenrat vorgelegten, das Wohl der Kirche betreffenden Gegenstände. (§ 19): Der Kirchenrat besteht aus

sieben Mitgliedern mit dreijähriger Amtsdauer, sechs geistlichen und einem weltlichen. Das letztere wählt der Kleine Rat, jene dagegen wählt die Synode frei aus allen Synodalen. (§ 20): Der Kirchenrat ist die in kirchlichen Angelegenheiten vorberatende, beaufsichtigende und vollziehende Behörde, bereitet die Geschäfte für die Synode vor, be­ stätigt die Pfarrwahlen der Gemeinden, führt die Korrespondenz der Synode und erstattet ihr jährlich über seine Tätigkeit Bericht, was die finanzielle Seite der Sache betrifft, so steht im KL Grau­ bünden die Kirche ganz auf eigenen Füßen. (Es gibt kein kantonales

40

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Kirchengut, vielmehr werden die Besoldungen der Pfarrer und die übrigen kirchlichen Bedürfnisse ganz von den Gemeinden bestritten Jede Gemeinde besitzt ihre Kirchengüter und erhebt, wenn nötig Kirchensteuern in verschiedener Art, als Kopfsteuer, Haushaltungssteuer Vermögenssteuer, Erwerbssteuer, oder das Defizit wird gedeckt durch Beiträge der politischen Gemeinde, was aber nur geschehen kann, wenn

keine Katholiken im Grt wohnen. Vie Synode besitzt ein paar Stiftungen, aus denen Kirchenrat und Synodalen ein bescheidenes Taggeld erhalten. Eigentümlich ist, daß die früher evangelische Gemeinde Samnaun ausgestorben ist und nur noch zirka 300 katholische Einwohner zählt. Der pfründfond derselben 24 000 Fr., wird von der Regierung verwaltet, bis wieder eine evange­ lische Gemeinde dort entsteht.

7. Glarus. 3m Kt. Glarus spricht sich der Staat das Recht der Aufsicht über die Kirche zu. Ein Zusammenhang von Kirche und Staat findet darin statt, datz in der gemischten Synode, welche die oberste Vertretung der evangelischen Landeskirche bildet, von Amts wegen die evangelischen Mit­ glieder der Regierung sitzen. Auch alle Pfarrer haben von Amts wegen Sitz und Stimme in der Synode. 3m übrigen bestimmt § 3 der Kir­ chenordnung von 1881: Vie evangelische Landeskirche besteht als frei« Vereinigung derer, die aus eigenem Willen und Überzeugung ihr zu­ gehören wollen. § 4: Der Beitritt zu ihr steht allen denen offen, die sich ihren Ordnungen unterziehen wollen. Ebenso steht jedem einzelnen Gliede der Austritt frei. - Vie Kirchgemeinden sind fast ganz autonom; daher § 6: 3n allen kirchlichen Angelegenheiten, deren Entscheidung nicht ausdrücklich durch vorliegende Kirchenordnung an die kantonalen Organe übertragen ist, steht der Entscheid den einzelnen Kirchgemeinden zu. 3n jeder Kirchgemeinde sorgt ein Gemeindekirchenrat für die kirch­ lichen und Vermögensangelegenheiten der Gemeinde. 3n die Synode wird von den Kirchgemeinden auf je 1000 Seelen der evangelischen Bevölkerung ein Abgeordneter gewählt. Vie Synode versammelt sich ordentlicherweise nur alle drei Jahre. Ausführendes Organ der Sy­ node ist die Kirchenkommission, welche aus sieben Mitgliedern besteht.

Veränderungen an der Kirchenordnung müssen nach ihrer Annahme durch die Kirchgemeinden dem dreifachen Landrate zur Genehmigung, resp, zur Prüfung ihrer Übereinstimmung mit der eidgenössischen und kanto­ nalen verfaffung und Gesetzgebung vorgelegt werden. Was die kirchlichen Mittel betrifft, so besteht ein evangelischer Reservefond, den die Regierung verwaltet und aus dessen Zinsen der Kantonshelfer besoldet wird, vielleicht wird später einmal daraus ein

II. Kirchenverfassungen.

41

besonderer evangelischer Kirchenfond ausgeschieden. 3m übrigen hat jede Gemeinde ihre kirchlichen Mittel selbst aufzubringen.

8. Vern. Dar Gesetz über die Organisation der Kirchenwesens im Kt. Bern vom 18. Januar 1874 betrifft sowohl die katholische wie die refor­ mierte Kirche. (Es verlegt von vornherein den Schwerpunkt in die Kirchgemeinden, indem es § 5 sagt: Die nachfolgenden Bestimmungen dieses Gesetzes finden nur Anwendung auf die vom Staate anerkannten öffentlichen Korporationen, d. h. auf die Kirchgemeinden. § 6: Als Kirchgemeinden gelten die bestehenden Kirchspiele der beiden staatlich anerkannten Konfessionen. § 7: Die Kirchgemeinde besteht aus allen

innert ihren Grenzen befindlichen Bewohnern, welche der nämlichen Konfession angehören. Sie bildet in betreff der mit den Kultusange­ legenheiten zusammenhängenden Gegenstände eine Kirchgemeindeversamm­ lung und einen Kirchgemeinderat. 8 8: An der Kirchgemeindeversamm­ lung sind diejenigen Angehörigen der Kirchgemeinde stimmberechtigt, 1. welche das politische Stimmrecht besitzen und sich ein Jahr lang in der Kirchgemeinde aufgehalten haben, 2. sich nicht durch eine ausdrück­ liche (Erklärung beim Kirchgemeinderat von der Zugehörigkeit zur be­ treffenden Konfession losgesagt haben. § 11: Der Kirchgemeindever­

sammlung kommen folgende unübertragbare Verrichtungen zu: 1. die Wahl ihres Präsidenten und Schreibers; 2. die Bestimmung der INitgliederzahl (5-13) des Kirchgemeinderats und die Wahl des Präsi­ denten und der Mitglieder dieser Behörde; 3. für die evangelisch-refor­ mierten Kirchgemeinden: die Wahl der Abgeordneten an die Kantonssynode; 4. die Wahl des oder der Geistlichen, unter Vorbehalt der An­ erkennung durch die Regierung; 6. die Beschlußfassung über Verwen­ dung des Kirchengutes, über Bauten, Erwerb oder Veräußerung von Liegenschaften usw.; 7. die Ausschreibung verbindlicher Kirchensteuern, die Bestimmung des jährlichen Voranschlags der Einnahmen und Aus­ gaben und die Genehmigung der jährlichen abzulegenden Kirchenrech­ nungen. § 18, 19: Der Kirchgemeinderat ist die ordentliche verwaltungs- und Aufsichtsbehörde der Kirchgemeinde. Als solcher liegt ihm die Besorgung sämtlicher Angelegenheiten und die Wahl sämtlicher Beamten und Bediensteten der Kirchgemeinde ob, Vollziehung ihrer Be­ schlüsse, Beaufsichtigung des sittlichen und religiösen Lebens der Ge­ meinde, Aufsicht über Jugendunterricht und Gottesdienst, Verwendung des Ertrags des Kirchenguts usw. § 45: Als oberste Vertretung der evangelisch-reformierten Landes­

kirche wird eine allgemeine Kantons- oder Landessynode aufgestellt, be­ stehend aus Abgeordneten, welche von den Kirchgemeinden nach Kirch-

42

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

lichen Wahlkreisen in der Weise frei aus Geistlichen und Laien zu er­ nennen sind, daß auf je 3000 Seelen reformierter Bevölkerung des Ureises ein Abgeordneter kommt. § 46: Ein frei aus der Mitte der Uantonssqnode zu erwählender ständiger Vorstand derselben (Synodal­ rat) bildet die oberste verwaltungs-, Aufsichts- und Vollziehungsbehörde der evangelisch-reformierten Uirche. § 47: Der Uantonssynode und innert der Grenzen der erhaltenen Kompetenz ihrem Vorstand stehen folgende Befugnisse zu: I. das Recht, alle innern Angelegenheiten der evangelisch-reformierten Uirche zu ordnen, jedoch unter Vorbehalt des Rechts der Genehmigung des Staates und des Vetos der Uirchgemeinden. Wenn ein Dritteil der Stimmberechtigten einer Uirchgemeinde oder der Uirchgemeinderat die Abstimmung über einen Erlaß oder Beschluß der Uantonssynode verlangt, so ist sofort eine Uirchgemeindeversammlung zusammenzuberufen, und wenn diese mit absoluter Mehrheit sich gegen den in Frage stehenden Gegenstand ausspricht, so gilt derselbe für die betreffende Uirchgemeinde als verworfen, 2. das Antrags- und vorbe­ ratungsrecht in äußern Uirchenangelegenheiten. Alle Angelegenheiten, welche sich auf die christliche Lehre, den Kultus, die Seelsorge und die religiöse Seite des Pfarramtes beziehen, sind innere kirchliche Angelegen­ heiten. § 49: Alle Erlasse und Verordnungen kirchlicher Gberbehörden unterliegen dem Genehmigungsrecht (Placet) des Staates. Vie Genehmigung darf jedoch nur insoweit verweigert werden, als der In­ halt des Erlasses in die staatliche Ordnung und Gesetzgebung eingreift. Das Verhältnis der Uirche zum Staat im Ut. Bern, wie es in vorliegender Organisation festgestellt ist, hat insofern eine Änderung erfahren, als durch die Uantonsverfassung vom 4. Juni 1893, Art. 47, Absatz 1 des Uirchengesetzes aufgehoben wurde, so daß das placet des Staates für die innern Angelegenheiten der Uirche nicht mehr er­ forderlich ist. Art. 84 der neuen Uantonsverfasiung lautet nämlich: „Vie Kantons- oder Landessynode . . . ordnet die innern Angelegen­ heiten der Uirche selbständig und hat in äußern Angelegenheiten der­ selben das Antrags- und vorberatungsrecht." 3n äußern Angelegenheiten hat also der Staat nach wie vor das letzte wort. Auch über die Be­ nützung der Uirchgebäude hat der Große Rat als letzte Instanz zu ent­ scheiden. Vies war von Bedeutung in dem Rekurs Prof. Vetter 1901, welcher, selbst aus der Uirche ausgetreten, eine Uirche benützte zur Pro­ paganda seiner atheistischen Humanitätsreligion. Außerdem ist der Staat noch Besitzer vieler pfründgüter und Pfarrhäuser im Ut. Bern. Er hat begonnen, sie nach und nach an die Gemeinden zu verkaufen, wodurch eine künftige Trennung von Uirche und Staat erleichtert wird. Dann wird die Instandhaltung und Benützung der kirchlichen Gebäude Sache der Gemeinden und geht den Staat nichts mehr an.

II. Kirchenverfassungen.

43

Vie finanziellen Bedürfnisse der Kirche, insbesondere die Pfarrbe­ soldungen, bestreitet im Kt. Bern der Staat. Er ist jedoch dazu ver­ pflichtet, da er zur Zeit der Reformation umfängliche Kirchengüter ein­ gezogen hat. Der Staat ist also nur der Verwalter des Kirchengutes. Freilich wird das Kirchengut nicht besonders verwaltet, sondern ist im Staatsvermögen verschwunden; doch wird berechnet, daß die bernische Landeskirche einen Rechtsanspruch an den Staat auf 10 Millionen Franken hat. Man kann daher nicht sagen, daß Sektierer und Un­ kirchliche an das staatliche Kirchenbudget Beiträge leisten, vielmehr wird die Kirche finanziert aus den früheren Kirchen- und Pfarrpfründgütern. Mas die Gemeinden für ihre kirchlichen Bedürfnisse brauchen, er­ heben sie auf dem Steuerwege. 3m Jahre 1905 erhoben 78 Kirchge­ meinden Kirchensteuern, 122 hatten keine, erhielten jedoch das Nötige aus der allgemeinen Gemeindesteuer. Endlich besteht im Kt. Bern auch eine kirchliche Zentralkasse; diese erhebt jährlich 1Rp. auf den Kopf der reformierten Bevölkerung, was einen Steuerertrag von Fr. 7900 ausmacht.

9. Zürich. Vie Kirchenordnung des Kt. Zürich vom Jahre 1905 sagt in § 1: Vie evangelische Landeskirche des Kt. Zürich ist ein Teil der gesamten christlichen Kirche. 3hr Zweck ist die Erweckung und Erhaltung religiöser Gesinnung und sittlichen Lebens ihrer Glieder nach Lhristi Lehre und Vor­ bild zum heile der Einzelnen, zur Erbauung der Gemeinden und zum Wohle des Volkes. Sie sucht diesen Zweck gemäß den Grundsätzen des Protestantis­ mus und entsprechend der verfassungsmäßig gewährleisteten Glaubens­ freiheit zu erreichen. § 2: Vie Landeskirche steht unter der Gberaufstcht und bezüglich ihrer Organisation unter der Gesetzgebung des Staates. Die Oberaufsicht des Staates wird durch den Kantonsrat in der Weise ausgeübt, daß die Jahresberichte des Kirchenrates und die Protokolle über die Verhandlungen der Kirchensynode dem Regierungsrat behufs „Berichterstattung" an den Kantonsrat zuzustellen sind. Kirchliche Anordnungen, welche die Finanzen des Staates in Anspruch nehmen, be­ dürfen der Genehmigung der zuständigen Staatsbehörde. 3m übrigen ist die Landeskirche befugt, innerhalb der Schranken des Kirchenge­ setzes die kirchlichen Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu ver­ walten. § 3: Mitglied der Landeskirche ist von Gesetzes wegen jeder evangelische Einwohner des Kantons, der nicht ausdrücklich seine Nicht­ zugehörigkeit erklärt oder seinen Austritt genommen hat. - Die Or­ ganisation der Landeskirche durch Kirchgemeinde, Pfarrer, Kirchenpflege (hier auch Bezirkskirchenpflegen) Synode, Kirchenrat ist im übrigen hier wie fast überall dieselbe. Der Kirchgemeinde liegt nach § 11

44

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Erstellung und Unterhalt der Kirchen, der pfründlokalitäten und Zimmer für den Religionsunterricht ob. § 14: verbindet sich infolge abwei­

chender religiöser Richtung eine Minderheit der Gemeinde zu einer kirchlichen Gemeinschaft mit gesondertem Gottesdienste und Religions­ unterricht und mit eigener Seelsorge, ohne deshalb aus der Landes­ kirche ausscheiden zu wollen, so hat dieselbe, falls sie mindestens den fünften Teil der Stimmberechtigten umfatzt, unter Vorbehalt des Vor­ rechtes der kirchlichen Mehrheit das Recht zu unentgeltlicher Benutzung der Kirche und ihrer sämtlichen Kultusgeräte. Bedingung ist, daß sie ihre Steuerpflicht gegen die Landeskirche erfüllt und auf eigene Kosten einen wählbaren Pfarrer bestellt. § 28: Vie Bezirkskirchenpflege hat die Rufgabe, das kirchliche und religiös-sittliche Leben im Bezirk zu überwachen, seine Förderung anzuregen und allfällige Hemmungen nach Kräften zu beseitigen. Sie inspiziert die Amtsführung der Geistlichen und Kirchenpflegen des Be­ zirks; begutachtet die Verteilung der pfarramtlichen Geschäfte in Gemeinden mit mehr als einem Pfarrer zu Handen des Kirchenrates; legt erstinstanzlich Beschwerden und Anstände rein kirchlicher Natur bei usw. 8 34: Vie Mitglieder der Synode werden in den Kontons« ratswahlkreisen gewählt. Jeder Wahlkreis wählt auf je 2000 refor­ mierte schweizerische Einwohner ein Mitglied. (Die Synode ist gemischt. Vie Pfarrer machen in ihr 58°/o aus). § 35: Der Kirchenrat besteht aus sieben Mitgliedern, von welchen fünf von der Synode und zwei vom Kantonsrate, und zwar je auf eine Amtsdauer von 3 Jahren, ge­ wählt werden. Er gibt sich feine Geschäftsordnung selbst. § 93-97:

Die in einem Bezirk wohnenden Mitglieder des zürcherischen Mi­ nisteriums bilden das Kapitel der Geistlichen. Es versammelt sich ordentlicherweise alljährlich zweimal. Es begutachtet Beschlüsse über rein kirchliche Angelegenheiten zu Handen der Synode bzw. des Kirchenrates und behandelt theologische und praktisch-kirchliche Fragen zum Zweck wissenschaftlicher und pastoraler Anregung und Fortbildung. Wie im KL Zürich die Oberaufsicht des Staates über die Kirche ausgeübt wird, sagt § 2 der Kirchenordnung. Der Jahresbericht des

Kirchenrates wird aber zuerst von der Synode behandelt, als der obersten Vertretung der Landeskirche; dann erst geht er an den Re­ gierungsrat. Was das Finanzielle betrifft, so sagt § 4 des Kirchengesetzes von 1902: „Vorbehalten die nähern Bestimmungen dieses Gesetzes und die Verpflichtungen Dritter, bestreitet der Staat im allgemeinen die Lei­ stungen für die ökonomischen Bedürfniffe der Landeskirche, wie nament­ lich die Besoldung der Geistlichen und die Auslagen der kirchlichen Behörden."

Dazu ist jedoch zu bemerken, daß neue Kirchen und pfarr-

II. Kirchenoersassungen.

45

Häuser vom Staat nicht erbaut werden; der Staat leistet daran nur Beiträge. Auch haben, wo Kirchen und Pfarrhäuser (Eigentum der Gemeinden sind, die letztem für deren Unterhalt aufzukommen. Die ökonomischen Leistungen des Staates gründen sich auch hier auf Ver­ pflichtungen, die sich aus dem (Einzug von Kirchengütern zur Refor­ mationszeit ergaben. Vie meisten pfründgüter wurden 1834 verkauft. Die Ausgaben des Staates für das Rirchenwesen im Kt. Zürich betrugen z. B. 1908 für die Kirchensynode . . . . 5121.60 „ den Kirchenrat .... 7860.72 „ die Bezirkskirchenpflegen . 5129.76 „ Pfarrbesoldungen .... 585829.80 „ Ruhegehalte 37803.20 Staatsbeiträge an Witwen- und Waisen-Stiftung und Kirchen­ bauten . . 42 016.80 Total

683 761.88

10. Neuenburg. Das Kirchengesetz der Nationalkirche im Kanton Neuenburg vom 30. Mai 1873 bestimmt in Art. 1: „Der öffentliche protestantische und katholische Kultus genießen die finanzielle Unterstützung des Staates und haben Anteil an den Einkünften der Kirchengüter." Grundlage der kirchlichen Ordnung sind die Kirchgemeinden. Wahlberechtigt sind nach Art. 4: Alle reformierten neuenburgischen Bürger, sowie Schweizerbürger, die sich sechs Monate in der Kirchgemeinde aufhalten, ebenso Ausländer, die sich schon ein Jahr lang in der Kirch­ gemeinde aufhalten. Art. 12: Die Gewissensfreiheit des Geistlichen ist unverletzlich- sie kann eingeschränkt werden weder durch Reglemente, noch durch Gelübde oder Verbindlichkeiten, noch durch Disziplinarstrafen, noch durch Formeln oder ein Kredo, noch durch irgendeine Maßnahme. Art. 17: Vie allgemeine Verwaltung der protestantischen Kirche ist einer Synode übertragen, die alle drei Jahre durch die Gesamtheit der Protestanten jedes Bezirks gewählt wird, wobei je ein Geistlicher und zwei Laien auf 8000 Seelen der protestantischen Bevölkerung gewählt werden. Art 18: Vie Synode organisiert die Kirche und sich selbst durch ein Generalreglement, welches der Sanktion des Staatsrates unter­ liegt. Art. 19: Die Verrichtungen der Synode oder ihres Bureaus sind: Überwachung der Pfarrer, Besorgung von Stellvertretungen, Inspektion der Kirchen, Pfarreien, Archive, Installation der Pfarrer und Diakonen,

46

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Organisation der äußern Formen des Kultus und des Religionsunter­ richts-, alle drei Jahre legt sie einen Rechenschaftsbericht ab. Zur Ergänzung seien aus dem Generalreglement der Nationalkirche vom 19. März 1874 noch folgende Artikel erwähnt: Art. 38: In der Zeit zwischen den Synodalversammlungen versieht das Bureau die Ver­ waltung der Kirche. Art. 41: Ls sorgt für die Ausführung der Beschlüsie der Synode. Vie Abhängigkeit der neuenburgischen Nationalkirche vom Staat scheint nach den vorstehenden Artikeln unbedeutend. Am ehesten kann Art. 18 dafür angeführt werden, wonach das Generalreglement, durch welches die Kirche sich selbst organisiert, sowie alle Veränderungen, welche darauf Bezug haben könnten, der Sanktion des Staatsrates unter­ stehen. Ls war weniger diese Bestimmung als die Art. 12 ausge­ sprochene völlige Freiheit der Pfarrer und das verlasien jeder Bekenntnis­ grundlage für die Kirche, die im Jahre 1873 zu einem heftigen Kampf gegen dieses Kirchengesetz führte. Ls wurde bei der Volksabstimmung mit einer Mehrheit von nur 16 Stimmen bei nahezu 14 000 Stimm­ berechtigten angenommen. Die Unterliegenden gründeten darauf die unabhängige evangelische Kirche des Kt. Neuenburg? Sn finanzieller Hinsicht ist die neuenburgische Nationalkirche stärker an den Staat gebunden. Außer dem katholischen Kultus wird nur die Nationalkirche vom Staat unterstützt, und zwar aus dem Steuerertrag aller Bürger. Unterhalt und Reparatur der Kirchen ist Sache der Gemeindebehörden; diese kommen auch für Heizung -und Beleuchtung aus, aber nur sofern es die Nationalkirche betrifft. Gegen diese Be­ vorzugung der Nationalkirche, an deren Kultusbudget auch die Glieder der unabhängigen Kirche zu bezahlen hatten, lanzierte die unabhängige Kirche im Bund mit den Freidenkern 1906 eine Initiative auf Tren­ nung von Kirche und Staat (daher Separatisten genannt) d. h. auf Beseitigung des Kultusbudgets aus dem allgemeinen Staatsbudget. Der Staat solle keine kirchliche Gemeinschaft mehr unterstützen; niemand solle gezwungen sein, für einen Kultus zu bezahlen, der nicht der seine ist. Vie Abstimmung sand am 20. Januar 1907 statt und endigte mit einer Niederlage der Separatisten; mit 15 090 Nein gegen 8411 Ja wurde die Trennung der Kirche vom Staat verworfen. Doch hat seitdem die Nationalkirche eine eigene kirchliche Zentralkaffe gegründet, um die Ausgaben des Staates für die Nationalkirche zu vermindern. Diese Kaffe hatte 1908 bereits 70 000 Fr. vermögen. *) über diese siehe S. 57 ff.

n. Uirch env erfassungen.

47

11. Appenzell. Die Kantonalkirche von Appenzell ist, abgesehen vom allgemeinen Aufsichtsrecht des Staates, unabhängig vom Staate. In der „Ordnung für die evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Appenzell A. Rh." lautet Art. 2: „Innerhalb der Schranken der Kantons- und Bundes­ verfassung ordnet sie ihre Angelegenheiten selbständig. Was in Kirch­ lichen Angelegenheiten von der Mehrheit der Gemeinden und der Stimmenden beschlossen wird, ist für die Gesamtheit verbindlich, insofern dadurch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit nicht beeinträchtigt wird." Art. 9: „Vie Organe der Landeskirche sind: die Kirchengemeinde, die Kirchenvorsteherschaft, das Pfarramt, die Synode und der Kirchenrat." Die Synode als oberste Vertretung der Landeskirche besteht aus Ab­ geordneten der Kirchgemeinden, wobei auf 1000 Seelen ein Abgeord­ neter kommt (Art. 39). Die Synode ist gemischt, 2/s Laien, */s Pfarrer.

Art. 48: „Der Kirchenrat ist die Vollziehungsbehörde der Synode und besteht aus wenigstens fünf frei aus ihrer Mitte gewählten Mitgliedern." Art. 10: „Vie Kirchgemeinde umfaßt alle evangelischen Gemeindeein­ wohner, welche mit den Grundsätzen der Landeskirche übereinstimmen und nicht ausdrücklich ihren Austritt aus derselben genommen oder ihre Nichtzugehörigkeit zu ihr erklärt haben." Art. 11: „Eine Austrittser­ klärung abzugeben, steht jedem frei, der das 16. Altersjahr erfüllt hat; sie muß dem Präsidenten der Kirchenvorsteherschaft zu protokollarischer Vormerkung schriftlich eingereicht werden, entbindet aber nicht von der Bezahlung allfälliger Kirchensteuern bis zum Tage des Austritts." Vie ökonomischen Bedürfnisie jeder Kirchgemeinde bestreitet die einzelne Gemeinde, wie sie auch ihren Pfarrer besoldet. Line Zentral­ kasse existiert nicht, früher wurde das vermögen der Kirchgemeinde von der Einwohnergemeinde verwaltet, aber infolge einer Verfassungs­ änderung wurde 1908 von den Einwohnergemeinden den Kirchgemeinden ihr sämtliches bewegliches vermögen ausgeliefert, und es wird jetzt von den Kirchgemeinden verwaltet. Wenn die Zinsen des Kirchengutes nicht reichen, erheben die Kirchgemeinden Kirchensteuern. Art. 7 der „Ord­ nung" lautet: „Zur Bestreitung ihrer ökonomischen Bedürfnisie können die Kirchgemeinden von ihren Angehörigen Kirchensteuern erheben. Diese werden auf Grund der Gemeindesteuerregister von vermögen und

Einkommen bezogen. Die höhe des Steuerbezuges hat die Kirch­ gemeindeversammlung festzusetzen. Wer der Landeskirche nicht angehört, kann zur Entrichtung der Kirchensteuern nicht angehalten werden." Art. 8: „Die Verwaltungskosten der Synode und des Kirchenrates, sowie allfällig weitere Ausgaben werden alljährlich auf die Kirchgemeinden im Verhältnis der Zahl ihrer Abgeordneten in die Synode verteilt."

48

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Sonderbarerweise sind die Kirchengebäude im Kt. Appenzell Eigen­ tum der politischen Gemeinde. Vie letzte darüber aufgestellte Bestim­ mung (1908) lautet: „Den Kirchgemeinden ist das Mitbenutzungsrecht an den kirchlichen Gebäulichkeiten gewährleistet, mit der Verpflichtung jedoch, an die Unterhaltungskosten derselben einen angemessenen Beitrag zu leisten. Über die höhe dieses Beitrags haben sich Einwohner­ gemeinde und Kirchgemeinde zu verständigen."

12. Zreiburg. Freiburg bietet das Beispiel einer protestantischen Landeskirche in einem fast ganz katholischen Kanton, hier mutz natürlich die prote­ stantische Kirche eine selbständige Stellung einnehmen. Dementsprechend

sagt das Kirchengesetz von 1874 Art. 2: „Vie reformierte Kirche ordnet innert den Grenzen des gegenwärtigen Gesetzes ihre auf Dogmen, Dis­ ziplin und Organisation bezüglichen Angelegenheiten selbst." Art. 3: „Der Staat übt keine andern Rechte über die Kirche aus als diejenigen der öffentlichen Ordnung und der Oberaufsicht. Er schützt die Kirche und ihre Angehörigen in der Ausübung ihrer Rechte und in der Er­ füllung ihrer Pflichten." Art. 5: Die reformierte Kirche zählt gegen­ wärtig acht Kirchgemeinden. Art. 7: Der Staat leistet, wenn nötig, einen Beitrag an die Ausgaben (bei Errichtung einer neuen Kirch­ gemeinde) und wird auch in Zukunft der Kirchgemeinde Freiburg eine jährliche Beisteuer verabreichen. Art. 8: „Die Mitglieder der pro­ testantischen Kirche haben keine Steuern zu bezahlen, deren Ertrag ausschließlich zu Zwecken der katholischen Kirche verwendet wird." Art. 10: „Die kirchlichen Behörden sind: a) die Gesamtheit der Kirch­ gemeinden als höchste und unumschränkte Autorität in kirchlichen Dingen; b) die Kirchensynode als gesetzgebende und verwaltende Behörde; c) die Synodalkommission als vollziehende Behörde der Synode; d) die Kirch­ gemeindeversammlungen ; e) die Kirchenpflegen als Polizei- und voll­ ziehende Behörde in der einzelnen Kirchgemeinde." Art. 14: „Die Synode besteht aus allen angestellten Pfarrern und aus den weltlichen Abgeordneten der Kirchgemeinden. Auf 700 Seelen und darunter kommen 2, auf jedes folgende 700 ein Abgeordneter." Die Kirchen­ ordnung von 1874 bestimmt ferner Art. 9 ff.: Die Amtsdauer der Mitglieder der Synode ist 4 Jahre. Die Synode wählt die Mitglieder der Synodalkommission. Sie wacht über die Interessen der Kirche, hat das Recht der kirchlichen Gesetzgebung unter Vorbehalt der Genehmigung durch die Kirchgemeindeversammlungen. Führt die Oberaufsicht über den kirchlichen Religionsunterricht, entscheidet in kirchlichen Disziplinarfällen gegenüber den kirchlichen Beamten (bis zur Absetzung). Bestimmt

II. Rirchenverfassungen.

49

jährlich die Beiträge der einzelnen Kirchgemeinden an die Synodal­ kasse usw. Art. 17: Vie Synodalkommission besteht aus sieben Mit­ gliedern und ist die vorbereitungs- und Vollziehungsbehörde der Synode. Art. 28: Vie Uirchenpflege (Pfarreirat) der einzelnen Gemeinden wählt ihren Präsidenten, die Relchhalter, Vorsänger, Organisten, Toten­ gräber und wacht über die kirchlichen Interessen der Pfarrei, sowie über das sittlich-religiöse Leben der Uirchgenossen. Was die finanzielle Lage der Rirche betrifft, so bestreitet jede Kirchgemeinde nach Art. 54 ihre Auslagen aus der Pfarreikasse, welche aus dem Ertrag des pfarreigutes, aus Schenkungen und Beiträgen der Kirchgenossen unterhalten wird. Die Synodalkasse bestreitet nach Art. 56 die Besoldung des Bureaus der Synode, die Taggelder der Synodalen und der Synodalkommission usw. und wird gespeist durch Beiträge der Kirchgemeinden.

(5. Kargau. 3m KL Kargau, welcher paritätisch ist, sagt die Staatsverfassung vom Jahre 1885 in § 68: „Die Konfessionen ordnen ihre Angelegen­

heiten selbständig unter Aufsicht des Staates. Die vom Staate aner­ kannten christlichen Konfessionen und die sich ihnen anschließenden freien Genossenschaften wählen zu dem Zweck eigene, aus Geistlichen und Laien bestehende Organe (Synoden); und zwar auf 500 oder weniger Angehörige 1 Mitglied, auf 501 -2000 2 Mitglieder, auf 2001 -3000 3 Mitglieder, von 3000 für jedes weitere Tausend je 1 Mitglied." § 69: „Die Befugnisse der Synoden sind: Erlaß einer Organisation, die der Genehmigung des Großen Rates unterliegt; Aufsicht über Voll­ ziehung derselben, Aufsicht über Seelsorge, Kultus, Unterricht; Beaufsich­ tigung der Amtsführung der Geistlichen, katholischerseits in Verbindung mit der geistlichen Behörde; stiftungsgemätze Verwendung der Erträg­ nisse der in der Hand des Staates befindlichen religiösen Fonds." § 70: „Die noch in Handen des Staates befindlichen pfründ- und Kirchengüter sind aus dem allgemeinen Staatsgute auszuscheiden, ur­ kundlich sicherzustellen und besonders zu verwalten." § 71: „Den Kirchgemeinden und Geistlichen wird der freie Verkehr mit ihren kirch­ lichen Behörden gewährleistet. Der Staat handhabt die Ordnung und den öffentlichen Frieden unter den Angehörigen der verschiedenen Re­ ligionsgenossenschaften und trifft die geeigneten Maßnahmen gegen Ein­ griffe kirchlicher Behörden und Personen in die Rechte der Bürger und des Staates." - Es ist hiebei zu beachten, daß diese Bestimmungen Stuckert, Rirchenkunde der ref. Schweiz.

4

50

Studiert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

der Staatsverfassung gleichmäßig auf Katholiken und Protestanten An­ wendung finden. Ihnen entsprechend lautet dann die 1893 von der Synode er­ lassene Organisation der evangelisch-reformierten Kirche des Kt. Kargau. § 2: „Vie evangelisch-reformierte Kirche des Kt. Kaargau ordnet ihre Angelegenheiten selbständig unter Aufsicht des Staates". Nun folgen zuerst die Paragraphen über die Kirchgemeinde, welche das Element bildet, aus dem die Kirche sich aufbaut. Sie wählt z. B. die Grtskirchenpflege, den Pfarrer, die ihr zukommende Zahl von Abgeordneten in die Synode, untersucht die Kirchenrechnungen, beschließt Kirchensteuern und verfügt über deren Verwendung. Dann folgen § 9-21 die Bestim­ mungen über die Kirchenpflege, als der Kufsichts- und Verwaltungs­ behörde der Kirchgemeinde. Dann in § 22 — 25 diejenigen über die Synode. 8 22: Die oberste Behörde der evangelisch-reformierten Kirche ist die Synode. Sie besteht aus Abgeordneten der reformierten Kirch­ gemeinden. Ihre Befugnisse sind die in § 69 der Staatsverfassung genannten. Endlich wird in § 26—28 die Stellung des Kirchenrates präzisiert. Er besteht aus sieben Mitgliedern und vollzieht die Beschlüsie und Verordnungen der Synode, überwacht die kirchliche Amtsführung der Geistlichen und Kirchenpflegen, erstattet der Synode jährlich einen Geschäftsbericht usw. Soweit die Organisation. Sehr beachtenswert ist die reinliche Art, wie der Staat des Kan­ ton Aargau im Jahre 1908 seine finanzielle Verpflichtung gegenüber den Kirchen (der protestantischen, katholischen und christkatholischen) ab­ gelöst hat. Er hat die in seinen Händen befindlichen, früher säkulari­ sierten pfründ- und Kirchengüter an die Kirchgemeinden herausgegeben, indem er mit mehr als 100 Gemeinden der drei Konfessionen Verträge schloß. Es wurde im allgemeinen an jede Kirchgemeinde heraus­ gegeben: Das Kirchenchor (das Schiff gehörte ihr schon), 2. das Pfarr­ haus und die Nebengebäude, sämtliches Pfründland, 4. für die Pfarrlasten jeder Gemeinde der 25 fache Betrag der Pfarrbesoldung 55,000 $t. mit einem Verwaltungskapital von 1000 Fr. und die kapitalisierten Ortszulagen, dazu auch ein Unterhaltungskapital für die Gebäulich­ keiten. Sm ganzen hat der Staat Aargau an 47 reformierte Kirch­ gemeinden 3 208 972 St. herausbezahlt, dazu 225 000 Fr. für Alters­ zulagen, 190 000 Fr. für Errichtung eines Pensionsfonds, 187 000 Fr. für Besoldung von Vikaren und Helfern. Die Kirche und die Kirch­ gemeinden verwalten nun ihre vermögen selbständig und werden da, wo ihre Mittel zur Bestreitung der Ausgaben nicht reichen, eine Kirchen­ steuer erheben, was bisher in der Hälfte der 53 Kirchgemeinden geschieht im Betrag von

der Staatssteuer.

II. Uirchenverfassungen.

51

H. $t Gallen. Einen ähnlichen Aufbau zeigt die Evangelische Kirchenordnung für den KL St. Gallen, eines ebenfalls paritätischen Kantons, hier be­ stimmt die Kantonsverfassung von 1861 in Art. 6: „Beide Konfessions­ teile geben sich ihre konfessionellen Organisationen selbst unter Sanktion des Großen Rates. Der evangelische Konfessionsteil für Besorgung der rein kirchlichen, sowie der übrigen konfessionellen Angelegenheiten und für Verwaltung der Fonds und Stiftsgüter der evangelischen Konfession." Vie Kirchenorganisation von 1862, revidiert 1892, sagt Art. 25: „Die Synode ist die oberste Behörde der evangelischen Kirche des Kan­ tons und leitet und überwacht als solche deren Angelegenheiten. Ins­ besondere liegt in ihren Befugnissen und Verpflichtungen: Die Sorge für die religiösen und kirchlichen Interesten der evangelischen Bewohner des Kantons, die Entscheidung über Gegenstände der Lehre, der Seel­ sorge, des Kultus und der kirchlichen Einrichtungen, die Gberaufstcht über alle kirchlichen Behörden und Beamten und über die Kapitel. Die Entscheidung über Entlastung fehlbarer Geistlichen. Die Ober­ aufsicht über die Verwaltung der Fonds und Stiftungen der Kirch­ gemeinden und der evangelischen Korporationen. Die Erkennung von allgemeinen evangelischen Steuern. Vie (Erlassung der zur Ausführung gegenwärtiger Organisation erforderlichen Verordnungen und Reglements." Art. 22: „Die Synode besteht aus den Abgeordneten der Kirchgemeinden, welche von den Kirchgemeindeversammlungen aus den Kirchgenosten auf 4 Jahre in dem Verhältnis, daß auf 1000 Seelen 1 Abgeordneter und von Kirchgemeinden unter 1000 Seelen 2 Abgeordnete kommen, gewählt werden." Art. 29 ff.: Der aus der Synode gewählte Kirchenrat besteht aus sieben Mitgliedern und besorgt die allgemeine Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten, vollzieht die kirchlichen Verordnungen und Beschlüsse der Synode und übt die Aufsicht über die kirchlichen Behörden und Beamten, verwaltet das vermögen des evangelischen Konfessionsteils, erstattet der Synode jährlich Bericht und sorgt dafür, daß alle Publi­ kationen, Verordnungen und Wahlen, die der Einsichtnahme und Ge­ nehmigung der Staatsbehörden bedürfen, dem Regierungsrat zu ge­ höriger Zeit zur Kenntnis gebracht werden. Die Kirchenordnung von 1881 handelt zuerst von der Kirch­ gemeinde, 1. von Umfang, Bestand und Gründung der Kirchgemeinden, 2. von den Pflichten und Rechten der Kirchgemeinden, 3. von Wahl und Entlastung der Geistlichen durch die Kirchgemeinde. Sodann vom Pfarramt, 1. von Wählbarkeit und Amtsantritt der Geistlichen, 2. von den pfarramtlichen Verrichtungen wie Gottesdienst, Unterricht, Seelsorge,

4*

52

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Buchführung, 3. von der Bedienung, der Stellvertretung und dem Abtreten des Pfarrers. Ein dritter Abschnitt bespricht die Kirchenvorsteherschaft, 1. als kirchliche Aufsicht-- und Sittenbehörde, 2. als kirchliche Verwaltungsbehörde. Der 4. Abschnitt behandelt die Synode. Der 5. Abschnitt den Kirchenrat, der das Vollziehungsorgan der Synode ist, sowie als allgemeine Aufsichts- und Verwaltungsbehörde das evangelische Kirchenwesen des Kantons zu leiten und als Rekursbehörde die kirch­ lichen Stteitigkeiten endgültig zu entscheiden hat. Der 6. Abschnitt han­ delt von Kirchenbezirken, Dekanen und Kapitel. Der 7. von Prüfung und Grdination der Geistlichen. Der 8. von Amtsantritt und Pflicht­ gelübde der kirchlichen Behörden und Beamten. Das Pflichtgelübde, das diese, nicht nur die Pfarrer, sondern auch Kirchenräte, Kirchen­ vorsteher, Kassiere, Aktuare usw. ablegen, lautet: Ihr sollt angeloben, die Pflichten und Obliegenheiten Eures Amtes, das Euch überttagen ist, nach den darüber bestehenden Ordnungen und Vorschriften gewiflenhaft zu erfüllen, so wie Ihr es vor Gott und der Kirche verantworten möget. Mr die materiellen kirchlichen Bedürfnisse hat die Einzelgemeinde aufzukommen. Doch ist eine evangelische Zentralkafle vorhanden, die ein reines vermögen von ungefähr Million aufweist. Diese dient zur Entlastung der ärmeren Kirchgemeinden, insbesondere der Diaspora­ gemeinden des Kantons. Mr diese und für kirchliche Lehrmittel werden aus ihr jährlich etwa lOOOO $i. aufgewendet. Zur Speisung der Zentralkafle dient eine allgemeine Kirchensteuer von 10 Rp. auf 1000 M. Steuerkapital. Dies trägt der Zentralkafle jährlich 40 000 $r. ein. Natürlich erheben auch die meisten Gemeinden eine Gemeindekirchensteuer zur Deckung der kirchlichen Bedürfnisse.

15. Thurgau. Eine ähnliche Gestaltung zeigt die kirchliche verfaflung im Kt. Thurgau. Das kirchliche Grundgesetz besttmmt: „Die evangelische Kirche des Kt. Thurgau ordnet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der ihr durch die Staatsverfassung angewiesenen Schranken, und zwar durch folgende Organe: 1. durch die Kirchgemeinden und deren Vorsteher­ schäften; 2. durch die von den einzelnen Kirchgemeinden angestellten Pfarrer; 3. durch die Synode und den Kirchenrat." Die oberste gesetzgebende Kirchenbehörde ist die Synode, die ent­ sprechende vollziehungs- und Verwaltungsbehörde der Kirchenrat. Die Synode ist gemischt und zählt etwas mehr Laien als Pfarrer. Sie wird vom evangelischen Kirchenvolk frei aus der Mitte seiner Mitglieder ge­ wählt. Der Kirchenrat wird von der Synode auf vier Jahre gewählt und

besteht aus drei weltlichen und zwei geistlichen Mitgliedern.

Die vor-

II. Kirdjeiwerfaffungen.

53

gesetzte Behörde der einzelnen Kirchgemeinde ist die kirchenoorsteherschaft. Vie kirchenvorsteher sind die offiziellen Armenpfleger und zugleich eine Art Sittenrichter. „Jedermann ist pflichtig, vor der Uirchenvorsteherschaft seines Wohnortes persönlich zu erscheinen. Weigert sich der vor­ geladene, dem an ihn ergangenen Rufe Folge zu leisten, so wird die zuständige staatliche Vollziehungsbehörde um die geeigneten Zwangs­

maßregeln angegangen." Die kirchlichen Wittel werden allein von der Kirche aufgebracht. Der Staat beteiligt sich gar nicht dabei. Das Gesetz sagt: „Die Kirch­ gemeinden sind zur ausschließlichen Herbeischaffung der für die Ökonomie der Kirche, insbesondere für die Besoldung der angestellten Geistlichen, für die materiellen Bedürfniffe des Gottesdienstes und für bauliche Zwecke erforderlichen Hilfsmittel verpflichtet." vorhanden ist zunächst ein evangelischer Zentralfond, der ein reines vermögen von 175 266 Fr. aufweist, und ein Reservefond der evange­ lischen Kirchgemeinden mit 19 986 Fr. Die kirchlichen Fonds der einzelnen Gemeinden weisen zusammen (1907) einen Kapitalbestand

von 4 587 274 Fr. auf. Außerdem besteht ein 'vangelischer Stipendien­ fond, ein Witwen- und Waisenfond, ein Altersfond für thurgauische

evangelische Geistliche. Für die Deckung des Rückschlags beim Zentralfond, sowie für die laufenden Bedürfnisse wurde 1907 eine kirchliche Landessteuer erhoben, nämlich 3 Rappen pro 1000 Fr. Steuerkapital; dies ergab eine Steuer von 12 708 Fr. Aber auch die einzelnen Kirchgemeinden sorgen durch Steuererhebungen für die Deckung der Defizite ihrer Fonds. So wurden in 6 Gemeinden keine Kirchensteuer erhoben, 25 - 50 Rp. pro Mille, in 15 rr in 36 55-100 „ n in 9 110-150 „ ft in 3 160-200 „ n in 1 280 n

16. Genf. 3m Kt. Genf waren schon früher zu verschiedenen Malen vorschläge zur Trennung von Kirche und Staat aufgetaucht, aber immer vom Großen Rate oder vom Volk zurückgewiesen worden. Am 30. Juni 1907 drang jedoch ein neues Separationsgesetz mit 7600 Ja gegen 6800 Nein in der Volksabstimmung durch. Obwohl die Mehr­ heit der Protestanten gegen dieses Gesetz war und an der alten Genfer Rationalkirche sesthalten wollte, führten verschiedene Umstände zum Sieg der Separatisten. Die Faffung des neuen Gesetzes schien, weil

54

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

ohne Härte für die Kirche, allen denen annehmbar, die die Trennung doch Kommen sahen und von einer Verschiebung nur ein der Kirche ungünstigeres Gesetz erwarteten. Radikale Politiker forderten das Gesetz im Interesse der Neutralität des Staates gegenüber den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Sozialisten und Freidenker hofften, damit der verhaßten Kirche einen Stoß zu versetzen. Die Katholiken forderten es im Namen der Gerechtigkeit. Alle sreikirchlichen Gemeinschaften waren ihm von vornherein günstig. Da zudem in der Nationalkirche selbst eine starke Truppe von Trennungsfreunden war, welche von dem Gesetz eine größere Belebung und Freiheit für die Kirche erwartete, so trug insbesondere das katholische Übergewicht den Sieg davon über die Freunde der alten Nationalkirche. Infolge der beschloffenen Trennung wurde nun vom protestantischen Volk ein kirchlicher verfaffungsrat gewählt, der eine neue Kirchenverfaffung ausarbeitete. Diese wurde am 27. September 1908 dem protestantischen Volk zur Abstimmung vorgelegt und von ihm mit 4500 Ja gegen 31 Nein angenommen. Sie ist am 1. Juni 1909 in Kraft getreten, indem das Trennungsgesetz bestimmte, daß von diesem Tage an der Staat alle Ausgaben für den Kultus unterdrückt. Die Hauptzüge der neuen Kirchenverfaffung (Constitution de l’eglise nationale protestante de Geneve), die als erstes Beispiel einer verfaffung bei völliger Trennung von Kirche und Staat in der Schweiz von besonderem Intereffe ist, sind folgende. Vas vorangestellte Bekenntnis lautet: Vie protestantische Genfer Nationalkirche bekennt als ihr einziges Haupt Jesus Lhristus, den Heiland der Menschen. Als wesentliches Glied der allgemeinen Kirche, als Erbin und Fort­ setzerin der vom Genfer Großen Rat am 21. Mai 1536 gegründeten Kirche schließt sie sich den gleich ihr aus der Reformation entsprossenen Kirchen an und unterhält besonders enge Beziehungen zu den refor­ mierten Kirchen der Schweiz. Sie stellt als Grundlage ihrer Lehre die im Licht des christlichen Gewissens und der Wissenschaft frei studierte Bibel auf. Sie macht es jedem ihrer Glieder zur Pflicht, sich persönliche und wohlüberdachte Überzeugungen zu gestalten. Sie öffnet ihre Tore allen Protestanten des Kt. Genf, ohne ihnen irgendein Glaubens­ bekenntnis aufzulegen. Ihr Ziel ist, sie in einem Geist der Gerechtig­ keit und Brüderlichkeit zu ordnen und zu einigen zwecks ihrer religiösen und moralischen Entwicklung. Sie arbeitet am Fortschritt des Reiches Gottes aus Erden durch das Evangelium, die (Quelle des ewigen Lebens und des individuellen und sozialen Fortschritts. Art. 1. Unter dem Namen protestantische Genfer Nationalkirche bilden die Glieder dieser Kirche hiermit eine Gesellschaft, die den Ver­ fügungen des Art. 28 des schweizerischen Dbligationenrechts untersteht.

II. Kirchenverfassungen.

55

Art. 2. Sitz der Gesellschaft ist Genf. Ihre Dauer unbegrenzt. Ihre offiziellen Veröffentlichungen durch das offizielle Kantonsblatt von Genf. Art. 3. Vie protestantische Genfer Nationalkirche hat den Zweck, die religiösen Bedürfnisse der Protestanten zu befriedigen und die Grundsätze der Reformation zu verteidigen und zu verbreiten. Sie verfolgt die Erfüllung ihres Werkes durch die aktive Mitwirkung aller ihrer Glieder, durch den Dienst ihrer Pfarrer, den Religionsunterricht, den öffentlichen Gottesdienst, die religiösen Gebräuche und alle geeigneten Mittel. Sie feiert die Sakramente der Taufe und des Abendmahls. Sie beteiligt sich an der Feier der großen Ereignisse der Nationalgeschichte. Art. 4. Die Gottes­ dienste und der öffentliche Religionsunterricht der Kirche sind unentgeltlich; der Dienst ihrer Pfarrer steht jedem zur Verfügung, der ihn begehrt. Glieder der protestantischen Genfer Nationalkirche sind alle prote­ stantischen Genfer und alle protestantischen Einwohner des Kantons, die sich als Mitglied dieser Kirche betrachten. Ein Mitglied kann jederzeit auf einfache Erklärung hin aufhören, daran teilzunehmen. Art. 6. Wähler sind alle Schweizerbürger, welche Mitglieder der Kirche sind, im Genuß ihrer politischen Rechte im Kanton sind und entweder frei­ willig oder auf eine von der Kirche an sie ergangene Einladung hin ihren Willen äußern, in das kirchliche Stimmregister eingetragen zu werden. Ghne seinen Willen kann niemand auf das kirchliche Stimm­ register gesetzt werden. Art. 9. Vie Kirche ist in Kirchgemeinden eingeteilt, deren Zahl und Umgrenzung vom Konsistorium bestimmt wird. Art. 13. Die Kirchengüter der Gemeinde, vom Kirchgemeinderat verwaltet, sind bestimmt für die besonderen Ausgaben der Kirchgemeinde, besonders für Gottesdienst und Wohltätigkeit, und können ihrer Bestimmung nicht entzogen werden. Art. 15. Vie Grgane der Kirche sind: Das Konsistorium, die Kirchgemeinderäte, die Versammlung der Pfarrer. Art. 16. Das Kon­ sistorium besteht aus 40 Gliedern, 9 Pfarrern und 31 Laien. Es wird für die Dauer von vier Jahren gewählt von der Gesamtheit der Wähler. Die Mitglieder sind wiederwählbar, ihre Verrichtungen un­ entgeltlich. Art. 19. Das Konsistorium hat die allgemeine Leitung und Verwaltung der Kirche. Es ordnet alles, was den Kultus, die Einrichtung des Religionsunterrichts und die Finanzen der Kirche betrifft. Ls wacht über den Interessen des Genfer Protestantismus und arbeitet an der Ausbreitung des reformierten Glaubens. Es fetzt den Betrag der von der Zentralkasse bezahlten Besoldungen fest. Es ernennt die Mitglieder der permanenten Kommissionen (Religionsunterricht, Kirchen­ musik, Finanzen usw.). Es prüft und billigt die verwaltungs- und Finanzberichte der Kirchgemeinderäte. Art. 20. Das Konsistorium er­ nennt jedes Jahr in geheimer Wahl sein Bureau, bestehend aus Prüft«

56

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

deut, Vizepräsident und Sekretär. Der Präsident mutz immer Laie sein. Art. 21. Vas Bureau und vier andere Mitglieder des Konsistoriums, die ebenfalls jährlich geheim gewählt werden, bilden die Exekutivkommission, fltt. 22. Diese sichert die Ausführung der Beschlüsse des Konsistoriums und vertritt das letztere gegen Drittpersonen. Art. 31. Die Kirchgemeinderäte befassen sich mit den religiösen und moralischen Interessen ihrer Kirchgemeinde und der Ausübung der Wohltätigkeit. Sie verwalten das Kirchengut und legen dem Kon­ sistorium jährlich einen verwaltungs- und Finanzbericht vor. Sie wachen über dem Unterhalt der Kirchen und kirchlichen Gebäude. Sie ent­ scheiden nach den allgemeinen Interessen der Kirche Anfragen bezüglich Überlassung der Kirchen und wachen darüber, datz die kirchlichen Ge­ bäude ihrer Bestimmung nicht entfremdet werden. Art. 35. Jeder Pfarrer lehrt und predigt frei unter seiner eigenen Verantwortlichkeit; diese Freiheit kann weder durch Glaubensbekenntnisie noch durch liturgische Formulare eingeschränkt werden. Art. 37. Vie

Kommission des Ministeriums besteht aus 13 Mitgliedern (vier Pfarrern, sieben Laien und zwei Professoren der Theologie der Universität.) Art. 38. Sie prüft den Wert der theologischen Zeugnisse, welche die Pfarramts­ kandidaten vorweisen und versichert sich ihrer Fähigkeit und ihrer guten Sitten. Über jeden ihr vorgelegten Fall berichtet sie dem Kon­ sistorium, das in letzter Linie entscheidet. Art. 39. Vie Pfarrer werden auf unbestimmte Dauer gewählt durch die Wähler der Kirchgemeinde. Sie verpflichten sich feierlich von ihrer Einführung an, sich der Kon­ stitution und den Ordnungen der Kirche zu unterziehen. Art. 43. Die Abberufung oder Suspension eines Pfarrers kann durch motivierten Beschlutz des Konsistoriums ausgesprochen werden. Art. 44. Vie Wähler einer Kirchgemeinde können durch motivierte Petition verlangen, datz ihr Pfarrer einer Neuwahl unterworfen werde. Art. 48. Die Finanzen der Kirche werden vom Konsistorium ver­ waltet, das zu diesem Zweck eine Finanzkommission ernennt. Art. 49. Die Zentralkasse wird alimentiert durch jährliche Beiträge der Mitglieder der Kirche, durch Gaben und Legate mit oder ohne besondere Bestimmung, durch die Zinsen der Kapitalien und kirchlichen Reservefonds. Art. 50. Jedes Mitglied der Kirche ist moralisch verpflichtet, durch eine freiwillige Steuer an ihren Unterhalt beizutragen. Diese Beiträge «erden durch Kollekten eingesammelt. Art. 51. Vie Zentralkaffe sorgt für die all­ gemeinen Ausgaben der Kirche, nämlich Pfarrbesoldung und Hauszins­ vergütung; ferner soweit es der Kirche obliegt, für die Besoldung der Organisten, Kantoren, Siegristen, den Unterhalt der Kirchen, deren Eigentümerin sie ist, die Kosten des Religionsunterrichts. Art. 52. Ge­ schenke oder Zinsen, die für die Wohltätigkeit bestimmt sind, dürfen in

II. Kirchenverfassungen.

57

Keinem Fall ihrem Zweck entfremdet werden. Art. 53. 55. Vie Kirchen Pfarrhäuser und kirchlichen Güter, deren Eigentumsrecht die Gemeinden in Ausführung des Gesetzes vom 15. Juni 1907 abtreten, bleiben der Kirche gewahrt; sie muffen allezeit ihre religiöse Bestimmung beibehalten. Art. 56. Wenn eine ein viertel der Wähler betragende Minorität das Mitbenützungsrecht einer Kirche für einen regelmäßigen Gottesdienst, dessen kosten sie trägt, verlangt, muß ihr dasselbe unentgeltlich bewilligt werden unter Festhaltung der Rechte der Mehrheit. Vie Personen der Minorität müssen jedoch Mitglieder der Kirche bleiben. Art. 58. Jeder Antrag, die Kirche aufzulösen, kann den Wählern

nur unterbreitet werden, wenn er entweder von der Hälfte der Stimm­ berechtigten unterstützt wird, oder von der Hälfte der Kirchgemeinden, oder von 4ls der Mitglieder des Konsistoriums. Ist eine dieser Bedin­ gungen erfüllt, so wird die Frage den Wählern unterbreitet, und die Auflösung ist beschlossen, 1. wenn 2/s der Wähler an der Abstimmung teilnahmen, 2. wenn 8ii der Stimmenden sich für Auflösung aussprachen, 3. wenn 2/« der Kirchgemeinden sich im gleichen Sinn aussprachen. In den Übergangsbestimmungen heißt es u. a.: Vas Konsistorium ist beauftragt, die Kirchengüter zurückzuverlangen, insbesondere die im Gesetz vom 15. Juni 1907 vorgesehenen. Ferner: 3m Prinzip dem Frauenstimmrecht günstig gesinnt, weist die konstituierende Versammlung diese Frage an das Konsistorium mit dem Auftrag, eine Bestimmung auszuarbeiten und innerhalb zweier Jahre der Abstimmung der prote­ stantischen Wähler zu unterbreiten. Es versteht sich von selbst, daß in einer vom Staat getrennten Kirche die Kirche selbst für ihre materiellen Bedürfnisie sorgen muß. Es hat denn auch der Staat in Genf nicht nur das Kirchenbudget völlig gestrichen, sondern auch die bisherige staatliche Subvention für den Religionsunterricht in der Elementarschule im Betrag von 6000 Fr. aufgehoben. Var Budget der Nationalkirche für 1909 sieht 220 000 Fr. Ausgaben und 45000 Fr. Einnahmen, Einkünfte aus den gegenwärtigen Kirchengütern vor. Es bleibt somit eine Summe von 175 000 Fr. durch Beiträge der Mitglieder der Kirche zu decken. An sie hat sich das Konsistorium mit einem eindringlichen Aufruf gewendet, und man hofft bei der wohltuenden Einigkeit, mit der sich alle kreise und Rich­ tungen an der Konstitution der Genfer Kirche beteiligten, daß das Resultat ein günstiges sein werde.

17. Unabhängige Uirche Neuenburgs. Die unabhängige evangelische Kirche im kt. Neuenburg ist im Jahre 1873 entstanden, als das gegenwärtige Kirchengesetz mit kleiner

58

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Mehrheit vom Volk angenommen worden war. Gegen dieses Kirchengesetz wurde geltend gemacht, daß man schon durch Geburt Mitglied dieser Kirche werde und auch Ungläubige stimmberechtigt seien; daß kein Bekenntnis zu Christus mehr verlangt werde, daß die Pfarrer nach Art. 12 predigen dürfen, was sie mögen, daß es keine Autorität in bezug auf den Glauben in der Kirche mehr gebe. Kirche und Staat seien vermischt. 3m herbst 1873 begannen 18 Mitglieder der frühern Synode mit der Konstituierung einer unabhängigen Kirche. Vie theologische

Fakultät in Neuenburg wurde freie Fakultät; eine konstituierende Sy­ node entwarf eine Konstitution, der sich anfangs 19, später 23 Ge­ meinden anschlossen. Vie Konstitution wurde mit 2 059 von 2 064 Stimmen angenommen. Diese Bekenntniskirche, deren Mitglied man nur durch freie Entscheidung werden kann, bekennt in Art. 2: Treu der heiligen Wahrheit, welche die Apostel predigten und welche die Reformatoren wieder ins Licht stellten, anerkennt die evangelische neuen« burgische vom Staat unabhängige Kirche als (Quelle und einzige Regel ihres Glaubens die heiligen Schriften des Alten und Reuen Testaments; sie bekennt mit der ganzen christlichen Kirche die großen Heilstatsachen, wie sie in dem sogenannten apostolischen Sqmbolum zusammengefatzt sind; sie glaubt an Gott den Vater, der uns gerettet hat durch dar Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, seines einigen Sohnes, unseres einzigen Herrn, welcher uns erneuert durch den heiligen Geist; und sie bekennt diesen Glauben, indem sie nach der Einsetzung des Herrn die Sakramente der Taufe und des Abendmahls feiert. Art. 3 setzt die Bedingungen der Mitgliedschaft also fest: Mitglieder der unab­ hängigen Kirche sind alle die, welche nach Empfang der Taufe und Zulassung zum Abendmahl den Wunsch bezeugt haben, dazu zu gehören, und ihre Konstitution annehmen. Art 6, 7: Vie eingeschriebenen Männer und Mitglieder einer Kirchgemeinde bilden die Kirchgemeindeversamm­ lung. Sie wählt ihre Kirchenpflege, ihren Pfarrer und ihre Abgeord­ neten in die Synode. Art. 12: Vie Synode besteht aus den Pfarrern, den Laienabgeordneten (drei Laien auf einen Pfarrer) und den profefloren der Theologie. Art. 14: Vie Synode umschreibt die Kirchge­ meinden, bestimmt Zahl und Aufgabe der Pfarrer, sorgt für heraus» gäbe der für Gottesdienst und Religionsunterricht bestimmten Bücher, bestimmt die religiösen Feiertage, regelt das theologische Studium und die Konsekration der Pfarrer, überwacht die Kirchen und kann Kirchen­ visitationen anordnen, hat das Recht, untreue Geistliche zu strafen oder abzuberusen, sorgt vermittelst einer Zentralkasie für die allgemeinen Bedürfnisie der Kirche, insbesondere die Pfarrbesoldungen, interessiert sich für alle Werke, die den Fortschritt des Reiches Gottes zum Ziel haben.

n. Kird)enverfa[jungen.

59

Art. 15, 16: Vie Synode übt ihre Autorität aus durch die Synodalkommisston, bestehend aus neun Mitgliedern, darunter vier Geistliche; sie ist der Synode verantwortlich. Neben ihr bestehen eine Studien­ kommission, eine RonseKrations- und eine Finanzkommission. Art. 19: Vie Weihe zum evangelischen Pfarrdienst wird durch die Synode den­ jenigen Kandidaten erteilt, bei welchen die Konsekrationskommission die Bedingungen des Glaubens, der Frömmigkeit und der Befähigung er­ kannt hat, welche den Ruf des Herrn anzeigen. Art. 26-29: Die Kirche unterhält eine theologische Fakultät, die von der Studienkom­ mission geleitet wird. Auf Vorschlag der Studienkommission ernennt die Synode die Professoren (vier ordentliche und zwei außerordentliche),

die womöglich schon als Pfarrer sollen tätig gewesen sein. - Die Finanzkommission verwaltet die kirchliche Zentralkasse. Diese Kasse wird gespeist durch von der Synode angeordnete Kollekten, durch frei­ willige Beiträge der Kirchgemeinden, durch Geschenke? Aus ihr werden

bezahlt die Pfarrbesoldungen, der Unterhalt der theologischen Fakultät, Wohnungsentschädigung (für jeden Pfarrer 400 Fr.), von der Synode beschlossene Ausgaben wie Druckkosten, Umzugskosten usw. Die unabhängige neuenburgische Kirche ist mehr als die freie Kirche der Waadt Volkskirche. Das Verhältnis zur neuenburgischen Uationalkirche ist im allgemeinen ein gutes. 3n mancher Ortschaft wirken ein unabhängiger und nationalkirchlicher Pfarrer nebeneinander. In einer Gemeinde findet jährlich ein gemeinsamer Gottesdienst statt. Eine kurze Dissonanz brachte der Separationskampf 1906. Bei der Gründung der unabhängigen Kirche 1873 meinten manche, die Uational­ kirche sei, weil ohne Glaubensbekenntnis, ganz dem Unglauben oder Rationalismus verfallen. Gegenwärtig ist dogmatisch kaum ein Unter­ schied zu konstatieren zwischen freikirchlichen und nationalkirchlichen Theologen. Die freie Kirche wird auch durch die moderne Theologie beeinflußt, und die Uationalkirche ist nichtsdestoweniger eine christ­ liche, christliches Leben pflanzende Kirche geblieben. Blanche wünschten, daß die Trennung in zwei Kirchen konnte aufgehoben werden, besonders da die Existenz zweier Kirchen in einer Gemeinde von 5-600 Ein­ wohnern mehr ärgerlich als nützlich ist und es bei so kleinem Raum schwierig ist, dem andern nicht auf den Fuß zu treten. 1908 zählte die unabhängige Kirche 23 Kirchgemeinden mit 33 Pfarrern. Die Zahl der eingeschriebenen Kirchgenossen betrug

12 699 Personen, wovon 5317 Männer und 7382 Frauen.

l) 3m Jahre 1907 betrug die Einnahme 126 318 Fr.; davon waren 113933 Sr. anonyme Gaben.

60

Stuckert, Uirchenkunde der reformierten Schweiz.

l8. Zreie Mrche der Waadt. Die freie Kirche der Waadt entstand infolge der Verfassungsrevi­ sion des Kt. Waadt im Jahre 1845. Entgegen einer Petition der Geistlichen enthielt die neue Verfassung keine Gewährleistung der reli­ giösen Freiheit, vielmehr strebte der Staatsrat dahin, alle privaten reli­ giösen Versammlungen zu unterdrücken. Er verlangte sogar von den Geistlichen, daß sie von der Kanzel eine Proklamation des Staatsrates zugunsten der neuen Verfassung verlesen sollten. 40 Pfarrer weigerten, sich das zu tun. Darauf ließ sie der Staatsrat suspendieren. In dem. daraus erwachsenden Streit gaben 185 Pfarrer die Erklärung ihrerDemission ab. Einige davon traten später wieder in den Dienst der Nationalkirche, die andern dagegen gründeten, durch das harte Vor­ gehen des Staates gereizt, unter dem Einfluß Alexander vinets ant 12. Nlärz 1847 die freie Kirche der Waadt. Der Staatsrat verbot zwar anfangs alle religiösen vereine außerhalb der Nationalkirche, ließ sogar einige der abgetretenen Pfarrer polizeilich in ihre Heimatgemeinde transportieren, indem er ihnen alle gottesdienstlichen Handlungen ver­ bot. Leiter von religiösen Versammlungen und solche, welche das Lokal hergaben, wurden bestraft. Doch nach einigen Jahren ließ diese Ver­ folgung nach, da die öffentliche Meinung sich mehr und mehr der To­ leranz zuneigte und Polizeimaßregeln nicht das richtige Mittel sind, eine religiöse Bewegung zu unterdrücken. von dieser Entstehungsgeschichte her blieb der freien Kirche der Waadt immer ein starkes Mißtrauen gegen den Staat. Dies zeigt sich noch deutlich in ihrer im Jahre 1905 revidierten Konstitution. Nach dem in Art. 1 niedergelegten Bekenntnis1 sagt Art. 3: Um ihre heilige Aufgabe zu erfüllen, muß die Kirche solche Daseinsbedingungen suchen, die ihr eine völlige Unterwerfung unter ihren göttlichen Herrn erlauben. Um die souveränen Rechte Jesu Lhristi zu schützen, hat sich die freie evangelische Kirche des Kt. Waadt konstituiert in der Unabhängigkeit von der staatlichen Gemeinschaft. Sie will so, schon durch ihre Grganisation, und ohne die Wohltaten zu verkennen, die ein Volk der Frömmigkeit seiner Väter verdankt, die Vermischung der Ordnung der Natur und derjenigen der Gnade vermeiden, dagegen die Notwendig­ keit der neuen Geburt bestätigen und die Entwicklung eines persön­ lichen Glaubens begünstigen. Bei solcher Proklamierung des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat gibt die Kirche der Autorität des Staates in zivilen Dingen ihre Ehre. Art. 4: Die Kirche anerkennt fteudig die geistliche Einheit des Volkes Gottes und weist den Sekten­ geist von sich. Sie wünscht brüderliche Beziehungen zu unterhalten mit *) Darüber siehe S. 65 f.

II. Kirchenverfassungen.

61

allen denen, die den Namen Jesu Christi anrufen; sie ist bereit, sich enger mit den Kirchen zu verbinden, welche ihre Grundsätze teilen. Sie will durchaus nicht, daß ihre Glieder sich isolieren, sondern daß sie arbeiten am Wohl des Volkes und von Herzen ihr Teil an den Saften, den Interessen und Freuden des irdischen Vaterlands auf sich nehmen. Art. 6: Die Kirche erhält ihr Leben durch den öffentlichen Gottesdienst, durch das Studium und die predigt des Gotteswortes, durch die $eter des Abendmahls und durch die brüderliche Gemeinschaft. Die Glieder -er Kirche werden an ihrer Heiligung arbeiten, indem sie sich gegen­ seitig helfen durchs Gebet, durch die Ermahnung, und wenn es am Platz ist, durch Warnungen voll Demut und Liebe, wenn die Aus­ übung der Disziplin notig sein wird, wird die Kirche in einem Geist der Liebe handeln, um den Schuldigen wieder aufzurichten, sich selbst vor der Befleckung des Vosen zu bewahren und die Ehre des Evan­ geliums zu wahren. Für die Taufe wird weder eine bestimmte Zeit noch eine bestimmte Form verlangt. Abgesehen von der scharfen Trennung vom Staat gleicht die (vrganisation der waadtländischen Freikirche durchaus derjenigen anderer Kirchen. Art. 12: Die Kirchgemeinde besteht aus allen Gliedern der Kirche, welche mindestens 16 Jahre alt sind (Frauen und Jungfrauen eingeschlossen), welche von der Konstitution Kenntnis genommen haben und dieser Gemeinschaft anzugehören wünschen. Sie wählt die Pfarrer, die ältesten und die Abgeordneten für die Synode. Sie stellt das jährliche Budget der Kirchgemeinde auf. Sie nimmt entgegen und bespricht den Jahresbericht der Kirchenpflege. Sie entscheidet über jeden Antrag, der von der Kirchenpflege oder aus ihrer eigenen Mitte gemacht wird usw. Art. 13: Die Kirchenpflege besteht aus Pfarrer und ältesten.

Art. 18: Die Vertretung der Gesamtkirche ist die Synode, welche aus Delegierten der Kirchgemeinden und der theologischen Fakultät be­ steht. Sie versammelt sich jährlich einmal. Sie sorgt für die Redaktion der für den Kultus bestimmten Bücher, kann sie jedoch nur den Einzel­ gemeinden empfehlen. Sie kann die Gemeinden einladen, Festtage oder Bußtage zu feiern. Sie beschäftigt sich nach Maßgabe der ihr zur Ver­ fügung stehenden Mittel mit der religiösen Jugenderziehung, der Evan­ gelisation, der Mission und anderen Werken, die den Fortschritt des Gottesreiches zum Ziel haben. Sie urteilt über die durch die Gemein­ den ihr zugeleiteten Anmeldungen solcher, die Mitglieder der freien evan­ gelischen Kirche der Waadt zu werden wünschen. Sie besoldet aus einer Zentralkasse die Pfarrer und gewährt Pensionen; sie überwacht die Kirchgemeinden und Pfarrer.

Die Synode wählt aus ihrem Schoß eine Synodalkommission, dazu kommen ferner: eine Finanzkommission, Studienkommission (für die

62

Stuckert, Rirchenkmnde der reformierten Schweiz.

theologische Fakultät), Evangelisations- und Missionskommission, schließ­ lich eine Visziplinkommission. Die Synodalkommission hat die Leitung und Verwaltung und die Beziehungen der Kirche nach außen unter sich. Vie Disziplin der Kirchenglieder wird durch die Kirchenpflege geübt. Bei Ausschluß aus der Gemeinde oder Kirche kann an die Synodal­ kommission rekurriert werden, handelt es sich um Pfarrer, so spricht zuerst die Kirchenpflege, dann die Synodalkommission; wird auf Absetzung erkannt, so hat die visziplinkommission das letzte Wort. Ein Pfarrer kann abgesetzt werden wegen hartnäckiger Vernachlässigung seiner Pflichten, wegen eines Wandels, der mit dem christlichen Geist sich nicht verträgt, wegen Lehre, die den Grundsätzen der Kirche (Art. 1 —10) widerspricht.

Art. 22 Die Finanzkommission leitet die Leistungen der Zentral­ kasse und wacht im allgemeinen über den finanziellen Interessen der Kirche. Sie sucht die christliche Freigebigkeit unter den Gliedern der Kirche zu entwickeln, damit diese innert nützlicher Frist die zur Erfüllung ihrer Aufgabe nötigen Hilfsmittel empfange. — Diese Beiträge sind alle freiwillig, keine Kirchensteuern. Sie werden in den Gpferbüchsen, oder (selten) durch Hauskollekten gesammelt, oder beliebig an die Kassiere gesendet. Niemand weiß die Summe, die das einzelne NNtglied schenkt. Vie Einnahmen und Ausgaben der freien Kirche betragen jährlich etwa 150 000 Fr. Vie Kirche umfaßt gegenwärtig 45 Gemeinden mit etwa 5 000 Mitgliedern; vier dieser Gemeinden sind im Berner Jura, außer­ dem bestehen sieben Evangelisationsposten, die von theologisch gebildeten Evangelisten bedient werden. Die Kirche unterhält auch eine theologische Fakultät in Lausanne mit fünf Professoren und zirka 20 Studenten.

19. Zreie Nirche Genfs. 3m Jahre 1817 entstand in Genf infolge der unter dem Namen des Neveil bekannten Bewegung eine unabhängige Kirche. 1831 gründete man die evangelische Gesellschaft, die ohne sich von der Landeskirche loszusagen eine theologische Fakultät und in der Chapelle de l'Ora-

toire einen Gottesdienst errichtete. 1849 vereinigten sich dann die Anhänger des Gottesdienstes im Gratoire mit der ältern unabhängigen Kirche zur freien evangelischen Kirche. Vie im Mai 1909 revidierte Konstitution dieser Kirche sagt über ihre Prinzipien Art. 1-6: Die evangelische freie Kirche von Genf, ge­ gründet 1849, schließt sich an die große Familie der der Reformation und dem Reveil entsprossenen Kirchen an. Sie konzentriert ihre Kräfte in Werken der Erbauung, der Evangelisation und der Mission. Sie gründet ihre Lehre auf die Bibel, die sie als das heilige Dokument der Offenbarung betrachtet und deren göttliche Inspiration sie aner­ kennt, wie der heilige Geist jedem Gläubigen davon Zeugnis gibt. 3n

II. Rirchenverfassungen.

63

der Erkenntnis, datz der Mensch Sünder und unfähig ist, sich selbst zu retten, verkündigt die Rirche die gute Botschaft des Heils durch Jesus Christus nach dem Wort: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, aus datz alle, die an ihn glauben, nicht ver­ loren werden, sondern das ewige Leben haben. Um den Glauben und das geistliche Leben ihrer Glieder zu ent­ wickeln, ladet die Uirche sie ein, sich ganz in den Dienst Jesu Christi zu stellen, dessen heiliges Leben, versöhnender Tod und glorreiche Auf­ erstehung seinen Jüngern ihre Versöhnung mit dem Vater, die Wiedergebürt des Herzens und die Gaben des heiligen Geistes zusichern. Sie ermahnt sie, sich aufrichtig zu ihm zu bekennen in einem Geist der Selbstverleugnung, christlicher Liebe und sozialer Solidarität, und so am Fortschritt des Reiches Christi zu arbeiten seines Sieges gewiß und in Hoffnung den Tag begrüßend, da Gott sein wird alles in allem. Gott das Gericht über die Herzen überlassend, nimmt die Rirche jede Person als Glied auf, die mindestens 17 Jahre alt gebührender­ maßen über ihre Prinzipien belehrt, nach dem Maß ihres Glaubens Jesu Christo dienen will und eingeschrieben zu werden wünscht. Allen Sektengeist verwerfend, wünscht die Rirche brüderliche Be­ ziehungen mit allen denen zu unterhalten, die den Namen Jesu Christi anrufen. Sie ist bereit, sich mit Gruppen von Christen, die ihren Glauben teilen, zu vereinigen, und sie ladet ihre Glieder ein, von Herzen ihr Teil an den Lasten und Freuden des irdischen Vaterlandes zu tragen. Sie erkennt ihren Gliedern eine völlige Gleichheit der Rechte zu ohne Einschränkung in bezug aus Geschlecht und Nationalität. Andrer­ seits erkennt sie die Notwendigkeit besonderer Diener, infolgedesien hat

sie Alteste, Pfarrer und Diakonen. Die freie Rirche von Genf zählt gegenwärtig vier Gemeinden und fünf Pfarrer. Die Rirchgemeinden regieren sich selbst vermittelst ihrer Rirchgemeindeversammlung und ihrer Rirchenpflege. Vie Rirchgemeinde wählt ihren Pfarrer, ihre Altesten, ihre Delegierten in die Delegierten­ versammlung (je einen auf 20 Mitglieder der Rirchgemeinde). Vie Velegiertenversammlung, die sich zweimal jährlich versammelt, ist die Zentralgewalt, welche die Rirche vertritt und leitet. Sie ernennt die verschiedenen Rommissionen, sorgt für Speisung der Zentralkasse, arbeitet die nötigen Reglements aus usw. Ein im Oktober 1909 angenommenes Reglement enthält auf Grund der Konstitution aufgestellte Bestimmungen über Wahlen, Sitzungen, Versammlungen usw. Jede Rirchgemeinde, wie jeder Delegierte hat

z. B. das Recht der Initiative. Vie Delegiertenversammlung wählt für jede Periode eine verwaltungskommisston, der in der Zwischenzeit die Verwaltung der Rirche anvertraut ist. Sie führt die Korrespondenz,

64

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

visitiert die Kirchgemeinden, kontrolliert Reglements und Beschlüsse der Kirchgemeinden und beruft die Delegiertenversammlung ein. Daneben bestehen noch eine Finanzkommission, eine Preßkommission für das offizielle Grgan der Rirche, den „Messager”, und eine Examenskommission. Vie Mitgliederzahl der freien Rirche beträgt ungefähr 800. Die Ausgaben der freien Rirche werden durch freiwillige Gaben bestritten. Die Zentralkasse zeigt eine jährliche Ausgabe von etwa 25 000 Fr. Die vier Rirchgemeinden geben aus: Gratoire 6000, Rive droite 5000, päquis 1500, Carouge 1500.

Anhang. Bekenntnisse und Grdinationsgelübde. An die Ausführungen über die Rirchenverfassungen schließen wir noch ein Dort über die Bekenntnisse an. tote die lutherische, so hat

auch die reformierte Rirche nach der Reformation eine Anzahl von Bekenntnisschristen hervorgebracht, vier haben in der Schweiz fast allgemeine Geltung erhalten: Die 1. und 2. helvetische Konfession, die Dordrechter Schlüsse von 1619 und die Formula Consensus von 1675.

Am meisten Verbreitung fand die zweite helvetische Ronfession, die, von dem Zürcher Pfarrer Heinrich Bullinger verfaßt, schon im Jahre 1566 in Genf, Bern, Schaffhausen, Zürich, später auch in Basel, St. Gallen, Bünden usw. als gemeinsames reformiertes Bekenntnis anerkannt wurde und auch über die Grenzen der Schweiz hinaus in der Pfalz, Schottland, Polen, Ungarn und Frankreich Annahme fand. Diese Bekenntnisschrift hatte am ehesten ökumenischen Charakter für die reformierte Rirche. In Bern war früher schon der Berner Sqnodus von 1532 angenommen und in Basel die erste Basler Ronfession von 1534, die von allen Bürgern mußte beschworen werden und bis 1821 jährlich in den Rirchen verlesen wurde. In den Schlüffen der Dordrechter Synode 1618/19, zu der auch die Schweiz Abgesandte geschickt hatte, wurde der Arminianismus ver­ dammt und in der Ronsensusformel von 1675 die Dordrechter Fassung der Prädestinationslehre bestätigt und die Inspiration der hebräischen Vokalzeichen zum Dogma erhoben. Diese vier Bekenntnisse erkannten fast alle Rantonalkirchen an, nicht nur für den Lehrstand; alles Volk, besonders die Beamten mußten durch Unterschrift oder Eid sich darauf verpflichten, von diesen Bekenntniffen kamen zuerst die beiden engsten und verdammenden, die Dordrechter Schlüffe und die Ronsensusformel, in Ab­ gang. Basel unterließ das Unterschreiben der Ronsensusformel schon 1685; und 1723 wurden sie förmlich abgeschafft, weil sie keine Haupt­ punkte des christlichen Glaubens enthalten. Genf schaffte die Ronsensus­ formel 1706 ab, Zürich 1724, St. Gallen unterschrieb sie bis 1728, Glarus entledigte sich ihrer 1765; ebenso Schaffhausen. Nur Bern und

n. Kirchenverfassungen.

65

die von Bern beherrschte Waadt handhabten sie noch über 1700 hin­ aus so streng, daß Nichtübereinstimmende entsetzt und verbannt wurden, viel länger blieb die zweite helvetische Konfession und mancherorts

der Heidelberger Katechismus in Kraft. In St. Gallen werden sie bei der Grdinationsverpflichtung der Pfarrer ausdrücklich genannt bis 1798, in Zürich bis 1803, in Bünden bis 1824. Waadt hob die zweite helvetische Konfession 1839 auf. Basel, Bern und Schaffhausen er­ wähnen sie noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein im Grdinations-

gelübde der Pfarrer. Schaffhausen z. B. noch 1844 in der Form: Ihr werdet schwören, das heilige Evangelium und Wort Gottes, dazu ihr berufen seid, treulich und nach rechtem verstand gemäß altem und neuem Testament zu lehren und zu predigen; darunter kein Dogma noch Lehre, die zweifelhaft und der reinen Lehre des Evangeliums und der angenommenen helvetischen Konfession zuwider ist, zu mischen, sie seien denn vorher der allgemeinen Versammlung, die jährlich gehalten wird, angezeigt und von derselben gutgeheitzen. Vie theologische Arbeit des 18. Jahrhunderts hatte die strenge Geltung der kirchlichen Dogmen erschüttert, das machte sich im Lauf der Zeit auch in den Bekenntnisverpsiichtungen der Kirchen bemerkbar. Seit 1850 wird fast in allen Kantonalkirchen der Bekenntnisse keine Erwäh­ nung mehr getan, und durch die liberale Richtung ist es auch durchgesetzt worden, daß kein Pfarrer mehr verpflichtet ist, das sog. Apostolikum zu gebrauchen. In den Taufliturgien finden sich zwei bis drei verschie­ dene Formulare zur Auswahl, darunter eins ohne jenes Bekenntnis. Vie einzige schweizerische Kirche, die heute noch beanspruchen möchte, ein Bekenntnis zu besitzen, ist die freie Kirche des Kt. Waadt. Ihre erst im Jahre 1905 revidierte Konstitution sagt: Art. 1: Die freie evangelische Kirche des Kt. Waadt schließt sich besonders an die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen an, in Gemeinschaft des Geistes mit den Gläubigen aller Zeiten, welche das heil allein aus Gnaden durch Jesus Christus bekennen? Sie bestätigt mit diesen Kirchen die göttliche Inspiration der h. Schrift, wie sich diese jedem Gläubigen durch das Zeugnis des h. Geistes bezeugt, und preist Gott für das Geschenk dieser unerschöpflichen Quelle des Lichts und des Lebens. Art. 2: Indem sie in ein und derselben Liebe zu Jesus Ehristus die Einheit der Herzen und der willen sucht, arbeitet die freie Kirche daran, bei ihren Gliedern den evangelischen Glauben zu entwickeln, den sie in folgenden Worten bekennt: wir beten den lebendigen Gott an, der sich in Jesus Ehristus ge*) Die frühere Konstitution fügte hier bei: und welche mit (Einmut in ihren symbolischen Büchern und insbesondere in der helvetischen Konfession ihren Glauben ausgedrückt haben. Stuckert, Uirchenkunds der ref. Schweiz.

5

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

66 offenbart hat.

3m Angesicht seines heiligen Gesetzes erkennen wir uns

als Sünder an und wert der Verdammnis. Aber Gott hat die Welt so geliebt, daß er seinen einzigen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Wir vereinigen uns durch den Glauben mit diesem Jesus, welcher uns eine

völlige Erlösung verschafft hat durch sein heiliges Leben, seinen Tod und seine Auferstehung; durch ihn allein können wir zu Gott als unserm Vater kommen und den h. Geist empfangen. 3hm, unserm König, ge­ hört unser Leben. Wir wollen uns ihm weihen, ihm dienen in der Person unserer Brüder und aus all unserer Kraft am Fortschritt seines Reiches arbeiten, überzeugt von seinem Triumph und durch die Hoffnung den Tag begrüßend, da Gott sein wird Alles in Allem. 3hm, der durch seine Kraft, die in uns wirkt, unendlich mehr tun kann als wir bitten und verstehen, ihm sei Ehre in der Gemeinde und in Jesus Thristus von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Art. 5: 3ndem wir es Gott überlassen, die Herzen zu richten, an­ erkennt die freie Kirche als ihre Glieder die Personen, welche nach gebührender Kenntnisnahme (informe) ihrer Grundsätze, ihren Willen ausdrücken, sich ihr anzuschließen, indem sie so erklären, ihr Leben nach dem Evangelium von Jesus Thristus führen zu wollen. Soweit das Bekenntnis der freien Kirche der Waadt. Wenn man jedoch Art. 5 genau betrachtet, so wird keine Zustimmung, sondern nur Kenntnisnahme des vorangehenden Bekenntnisses verlangt. Es kommt nicht aufs Bekenntnis, sondern auf die Lebensführung an. Damit hat auch diese Kirche den Tharakter einer Bekenntniskirche ausgegeben? Es ist schon oft die Frage aufgeworfen worden, ob eine Kirche ohne Bekenntnis bestehen könne. Sollte eine Kirche nicht irgendwie Glaubensgemeinschaft sein? Sollten nicht gemeinsame religiöse Über­ zeugungen das Band sein, welches die Glieder gerade dieser Kirche zu­ sammenschließt und gegen andere abgrenzt? Wenn aber solche vor­ handen sind, so sollten sie auch formuliert werden können. Vas mag theoretisch richtig sein. Tatsächlich befinden wir uns in der Zeit eines so weitgehenden Subjektivismus, daß man jede dogmatische Bindung als Fessel empfindet und daß Kirchen, welche Bekenntnisverpflichtungen handhaben, sich vor immer neue visziplinarfälle gestellt sehen, bei denen die öffentliche Meinung die gemaßregelten Pfarrer in Schutz nimmt. Für unsere Seit ist keine Erneuerung derBeKenntniffe zu erwarten. 3n der Schweiz

wünscht sie nicht einmal die kirchliche Rechte zurück. Vie schweizerischen Kantonalkirchen sind ein Beispiel von bekenntnislosen Kirchen; und es ist eine Frage, ob deshalb das religiöse und sittliche Leben schwächer in ihnen pulsiert als in andern, mit Bekenntniffen versehenen Kirchen.

*) über das Bekenntnis der unabhängigen neuenburgischen Kirche siehe S. 58.

n. Kirchenverfassungen.

67

Aber werden denn die Pfarrer bei ihrer Grdination auf gar nichts verpflichtet? so wird man fragen. Nein; das nicht. Einige der gegen­ wärtig in Gebrauch stehenden Grdinationsgelübde sind folgende: 3m Kt. Aargau lautet das Grdinationsgelübde: „Ich gelobe vor Gott, dem Allmächtigen, fein Wort nach dem Inhalt der h. Schrift und nach den Grundsätzen der evangelisch-reformierten Kirche treu zu lehren und zu predigen, mich eines christlichen Lebenswandels zu befleißigen und meine amtlichen Pflichten gewissenhaft zu erfüllen. Das gelobe ich vor Gott." Basel-Stadt und -Land stellt bei der Grdination folgende Fragen: „I. Gelobest du, das Evangelium von Jesu Ehristo nach Anleitung der heiligen Schrift zu verkündigen gemäß den Grundsätzen der evangelischreformierten Kirche? 2. Gelobest du, solche Predigt durch einen des Evangeliums würdigen Wandel zu bekräftigen? 3. Gelobest du, die in unsrer Kirche bestehenden Ordnungen gewissenhaft zu beobachten und mit allen deinen Kräften zu streben nach der Seligkeit der dir anver­ trauten Seelen und dem Wachstum des Reiches Gottes auf Erden?" Bei der Installation lauten die Fragen: „Bist du willens, das Amt eines evangelischen Predigers und Seelsorgers an dieser Gemeinde gewissenhaft zu führen, den Erwachsenen und der Jugend den Rat Gottes zu unserer Seligkeit gemäß dem Evangelium Jesu Christi zu verkünden, und solche predigt durch einen würdigen Wandel zu bekräftigen? Ist das dein ernster Wille und Entschluß, so versichere dessen deine nun­ mehrige Gemeinde vor dem allwissenden Gott durch ein feierliches Ja." In Bern lautet das Gelübde der Geistlichen: „Ich gelobe als Diener des göttlichen Worts, das Evangelium Jesu Christi auf Grund der h. Schrift nach bestem wiflen und Gewissen unverfälscht und treu zu lehren und zu predigen, durch unsträflichen Wandel der Lehre des Heils in allen Stücken Zeugnis zu geben, die Obliegenheiten meines Berufes und Amtes gewissenhaft zu erfüllen und in den amtlichen Stellungen, welche mir anvertraut werden mögen, zum Wohl des Vater­ landes, der evangelisch-reformierten Landeskirche und der christlichen Gemeinde nach besten Kräften mitzuwirken." In der Genfer Nationalkirche lautete der Installationseid vor dem Staatsrat: „Ich schwöre vor Gott, mich strikte an die konstitutionellen und gesetzlichen Verordnungen über die Organisation der protestantischen Natio­ nalkirche der Republik zu halten, und alle Vorschriften der Verfassungen und der kantonalen und eidgenössischen Gesetze zu beobachten. Ich schwöre ferner, nichts gegen die Sicherheit und Ruhe des Staates zu tun, meinen Gemeinde­ genossen die Unterwerfung unter die Gesetze, die Ehrfurcht gegen die Obrigkeiten und die Einigkeit mit allen ihren Mitbürgern zu predigen." In Glarus werden die Pfarrer gefragt: „Geloben Sie, daß Sie das Wort Gottes nach den Grundsätzen der reformierten Kirche gemäß 5*

68

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

den göttlichen Schriften, besonders des Neuen Testaments, unverfälscht lehren und predigen wollen?" In Graubünden verpflichtet sich der Pfarrer durch Handschlag gegenüber dem Dekan der Synode also: „Ihr N. N. nehmet die Verpflichtung auf euch: 1. das Wort Gottes gemäß den h. Schriften, besonders denen

des neuen Lundes, nach den Grundsätzen der evangelisch-reformierten Kirche nach bestem wissen und Gewissen zu verkündigen; 2. gemäß der kirchlichen Verfassung unseres Kantons die eingeführten gottesdienst­ lichen Ordnungen und die Synodalgesetze gewissenhaft zu beobachten." In Schaffhausen lautet das Gelübde, das jeder in den Kirchen­ dienst des Kantons Eintretende vor versammelter Synode ablegt: „Ich gelobe das heilige Evangelium und Wort Gottes, dazu ich berufen bin, treulich und nach rechtem christlichen verstand zu lehren und zu pre­ digen, gemäß der h. Schrift Alten und Neuen Testaments, und gemäß den Grundsätzen unserer evangelisch-reformierten Kirche."

In St. Gallen geloben die Pfarrer „die christliche Religion nach den heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments im Geiste der evangelisch-reformierten Kirche lehren und verkündigen zu wollen". In der Waadtländischen Nationalkirche lautet es (Art. 57 loi ecclesiastique): „Ihr schwöret im Namen Gottes der Verfassung des

Kt Waadt treu zu sein. Ihr schwöret, bei jeder Gelegenheit und aus aller Kraft die Freiheit und Unabhängigkeit eures Landes zu bewahren und zu verteidigen, seine Ehre und seinen Gewinn zu überwachen und zu fördern, sowie auch alles zu vermeiden und zu verhindern, was ihm schaden könnte. Ihr schwört in eurer Seele und eurem Gewissen, die Pflichten zu erfüllen, welche euch das Amt eines Dieners der evangelischreformierten Kirche auferlegt, das Wort Gottes rein und lauter zu predigen, wie es in der h. Schrift enthalten ist. Ihr schwört endlich, wenn euch eine Pfarrei anverttaut wird, als treuer Pfarrer über eure Kirchgenossen zu wachen. Ihr schwört alles das im Namen des allmächtigen Gottes, wie ihr wollt, daß er euch beistehe an eurem letzten Tag." Im Kt. Zürich wird den Grdinanden folgendes Gelübde abge­ nommen: versprechet ihr, als treue Diener der evangelisch-reformierten Kirche das Evangelium unseres Heilandes Jesu Thristt auf Grund der heiligen Schrift mit Überzeugung und Hingebung zu verkündigen und die heiligen Handlungen, Taufe und Abendmahl, nach der kirchlichen Ordnung zu vollziehen? versprechet ihr auch, dem Worte der Wahr­ heit gemäß zu leben und also die Lehre des Heils durch euern Wandel zu bekräftigen? Gelobet ihr dieses zu tun? so sprechet: Ja. Dieses Gelübde wird durch Handschlag bestätigt.

m. kirchliche Organe.

69

III. Kirchliche Organe. Es handelt sich in diesem Abschnitt nicht darum, die kirchlichen (Organe der Rantonalkirchen wie Rirchenrat, Synode, Rirchenpflegen usw. nochmals aufzuzählen, sondern es soll hier die Rede sein von denjenigen kirchlichen (Organen, welche eine über die einzelne Rantonalkirche über­ greifende Bedeutung haben. Als deren erste nennen wir

1. Die schweizerische evangelische ttirchenkonserenz. Als im Jahre 1798 die neue schweizerische Verfassung angenommen wurde, war auch die Bildung einer einheitlichen helvetischen Rirche ge­ plant, in der die Rantonalkirchen mit ihren Verschiedenheiten auf­ gegangen wären. Der Plan kam damals nicht zur Ausführung. Die voneinander unabhängigen Rantonalkirchen bestehen noch heute. Doch ist seit einer Reihe von Jahren ein (Organ vorhanden, durch welches die Rantonalkirchen wenigstens in Fühlung miteinander sind, dies ist die schweizerische evangelische Rirchenkonferenz.

Die Hauptbestimmungen des Reglements für die „Ronferenz der Abgeordneten der evangelischen Rantonalkirchen der Schweiz" sind: Die Ronferenz besteht aus den Abgeordneten der evangelischen Rantonal­ kirchen der Schweiz. Jeder Stand (Rantonalkirche) wird in der Regel durch zwei Abgeordnete an der Ronferenz vertreten. Sie versammelt sich jährlich einmal im Juni. Der (Ort der Versammlung wird jedesmal durch die Ronferenz selbst bestimmt, wobei die Ver­ sammlung nicht mehr als zwei Jahre unmittelbar nacheinander am gleichen (Ort stattfinden soll. Das Einberufungsschreiben soll fünf Wochen vor Zusammentritt der Ronferenz den sämtlichen Ronferenzständen mitgeteilt werden, und es sollen darin die auf die Traktanden bezüglichen Anträge, Berichte und Dokumente möglichst vollständig beigeschlofien werden, um den Ständen eine gehörige Jnstruktionserteilung an die Ronferenz zu ermöglichen. Die Ronferenz behandelt die Gegen­ stände, welche in ihren Geschäftskreis einschlagen, infolge 1. einer Vorlage von feiten einer durch die Versammlung oder den Vorstand zur Begutachtung aufgeforderten Behörde oder Ronferenzkommisston;

70

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

2. eines Standesantrages oder einer Motion eines ihrer Mitglieder; 3. einer sonstigen Eingabe, sofern die Konferenz deren Behandlung für erheblich erklärt. Alle Abgeordneten sind berechtigt an den Beratungen Anteil zu nehmen. Bei den Abstimmungen und Wahlen soll dagegen nur eine Stimme von jedem Stand abgegeben werden. Die Behörden und Kommissionen, welche Anträge zu hinterbringen haben, ernennen zu deren Begründung einen oder mehrere Berichterstatter, denen es frei­ steht, schriftlich oder mündlich zu referieren. Vie Beschlüsse werden durch die absolute Mehrheit der Stimmgebenden gefatzt. Vie Beschlüsse der Konferenz sind für die einzelnen Stände nicht verbindlich. Vie Ausgaben der Konferenz werden von den Ständen bei Übersendung der Konferenzprotokolle durch Nachnahme bezogen. Obwohl die Beschlüsse der Kirchenkonferenz für die Kantonal» kircken nicht verbindlich sind, wirkt die Konferenz doch darauf hin, in manchen Dingen mehr Einheit und Gleichartigkeit zustande zu bringen. Unter den Gegenständen, die von der Konferenz behandelt wurden, nennen wir: Einführung eines allgemeinen Missionssonntages, der in allen Kan­ tonalkirchen gleichzeitig gefeiert würde. Es wurde ein Handbüchlein für evangelische Jünglinge herausgegeben, welches patzt zur Verteilung an Kon­ firmanden. Die Konferenz wandte sich an die Kantonalkirchen mit dem Wunsch, es möchten Verhandlungen darüber stattfinden, datz bei Über­ siedelung eines Pfarrers von einem Kanton in den andern die am früheren Wohnorte zurückgelegten vienstjahre, wenigstens teilweise, an­ gerechnet werden, und datz der Eintritt in die Prediger-Witwenkassen und Hilfskassen erleichtert werde. Vie Konferenz lietz eine Tabelle ausarbeiten über die Organisation des kirchlichen Jugendunterrichts in den verschiedenen Kantonen; ebenso statistische Tabellen über die kirch­ lichen Handlungen in den Kantonalkirchen und Diasporagemeinden der Schweiz. Vie Konferenz nahm Stellung zu der Frage des Stimmrechts der Frauen in der Kirche. Sie machte eine Eingabe an die Bundes­ behörden, man möchte den besonders an Kurorten um sich greifenden Glücksspielen und dem verderblichen Lotterieunwesen entgegentreten. Sie entsandte zwei Vertreter der Schweiz zur Einweihung des neuen Doms in Berlin, wozu vom Kaiser eine Abordnung der evangelischen Kirche der Schweiz eingeladen worden war.

2. Die schweizerische reformierte Predigergesellschaft. Vie predigergesellschast ist dem Bedürfnis entsprungen, eine engere Verbindung der verschiedenen Nantonalkirchen zu erreichen, was der Natur der Sache nach nur in der Form freier Gemeinschaft geschehen konnte. Vie erste Anregung ging 1836 von der zürcherischen Geistlichkeit

III. kirchliche Organe.

71

aus. Abgeordnete aus mehreren Kantonen, die sich mit den Zürchern vereinigten, beschlossen darauf, eine Vereinigung zu gründen, bei der Pfarrer der verschiedenen Kantone persönlich zusammenkamen und The­ mata besprächen, die nicht nur kantonales Interesse hätten. 3m Jahre 1839 fand die erste Versammlung der Predigergesellschaft in Zürich statt. Seitdem versammelt sie sich jedes Jahr wieder in einem anderen Kanton. Die Statuten enthalten folgende Bestimmungen: Vie schweizerische Predigergesellschaft ist ein Verein schweizerischer evangelischer Prediger und theologischer Lehrer zur Förderung theologisch-wissenschaftlicher und praktischer Zwecke der Kirche durch gemeinsame Verhandlungen. Mit­ glieder der Gesellschaft sind die einzelnen kantonalen Zweigvereine und außerdem diejenigen schweizerischen Prediger und theologischen Lehrer, welche an den Verhandlungen der Gesellschaft tellnehmen wollen. Die Verhandlungen finden jährlich statt, im Juli oder August. Am Ende jeder Jahresversammlung wird der Grt für die nächste Zusammenkunft mit Berücksichtigung der Einladungen einzelner Kantone bestimmt. Der Präsident wird jedes Jahr von der Gesellschaft selbst gewählt aus den Mitgliedern des Kantons, in welchem die Versammlung stattfinden soll. Mit ihm leitet ein von demselben Kanton zu bestellendes Komitee die Geschäfte. Der Wechsel der Vorsteherschaft findet sogleich nach ab­ gehaltener Jahresversammlung statt. Jeder Kanton hat seinen Korre­ spondenten, welcher für denselben die Verbindung mit dem jedesmaligen Komitee unterhält. Jedes Mitglied verpflichtet sich zu einem jährlichen Beitrag von Fr. 1.50 zur Bestreitung der laufenden Ausgaben des Komitees. Das Komitee wählt die Themata, die jedesmaligen Referenten und den Prediger. Dieselben werden bis Ende des laufenden Jahres zur Kenntnis gebracht, vor den Verhandlungen der Gesellschaft treten die für jede Jahresversammlung zu wählenden Abgeordneten der ein­ zelnen Sektionen zu den nötigen Vorberatungen zusammen. Die Ver­ sammlungen sind öffentlich. Auch Laien und auswärtige Geistliche Können eingeführt werden. Gewöhnlich werden zwei Referate und zwei Korreferate gehalten, das erste mehr theologisch, das zweite kirchlich-praktisch, predigt, Referate und Diskussion werden später jedem Mitglied gedruckt zugestellt. (Es bestehen gegenwärtig 14 kantonale Sektionen mit (1907) 1047 Mit­

gliedern. Der Zweck, der bei Gründung der Predigergesellschaft vorschwebte, ist erreicht. Sie dient in hohem Maß der Verbindung der Kantonal­ kirchen und bildet auch ein schönes Band zwischen den Pfarrern. Fast alle Pfarrer gehören ihr an. Alle Richtungen sind in ihr vertreten. Es ist von hohem Wert, daß bei den Diskussionen alle Standpunkte vertreten werden. Durch die persönliche Begegnung beim Mahl und

72

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

gemeinsamen Spaziergang hat schon mancher seine theologischen Gegner besser würdigen und verstehen gelernt. (Es sind auch durch die predigergesellschast der Kirche schon wert, volle Anregungen zugetragen worden, wie sie anderseits das Grgan war, durch das die Kirche auf Volk und Gesetzgebung einwirkte. In der predigergesellschast in Bern 1840 brachte Pfarrer Le Grand seiner Plan zur Gründung des protestantisch-kirchlichen Hilfsvereins zuerst zur Sprache. Aus ihrem Schoß entwickelte sich die Kommission für

kirchliche Liebestätigkeit ebenso die Krankenkasie für schweizerische reformierte Geistliche. Sie hat z. B. auch um 1902 aus ihrer Mitte ein Aktionskomitee zur Beeinflusiung der schweizerischen Gesetzgebung im Sivil- und Straftecht gewählt, als es sich darum handelte, die kan­ tonalen Gesetzbücher durch ein einheitliches schweizerisches Sivil» und Strafgesetzbuch zu ersetzen. 3n mehreren gedruckten Eingaben richtete das Aktionskomitee feine Wünsche an die eidgenössischen Räte, und nicht erfolglos. Man suchte darauf hinzuwirken, das das Ehescheidungs­ recht beschränkt, das Schutzalter für das weibliche Geschlecht bis aufs zurückgelegte 16. Altersjahr ausgedehnt, die Wartesrist bei zweiter Ehe verlängert, Konkubinat bestraft werde usw.

5. Vie Kommission für kirchliche Liebestätigkeit. Vie schweizerische Predigergesellschaft hat im Jahre 1896 eine Kommission für kirchliche Liebestätigkeit ins Leben gerufen, über deren Zweck und Wesen die Statuten von 1903 folgendes sagen: Vie schwei­ zerische Kommission für kirchliche Liebestätigkeit ist ein gemeinsames, außeramtliches Grgan zur dienenden Mitarbeit für Überschau und Eini­ gung, Anregung und Förderung der christlichen Liebestätigkeit in den schweizerischen reformierten Kirchen, in bezug auf religiöse, sittliche und soziale Bedürfnisse und Notstände. Sie wird ihre Wirksamkeit in mög­ lichstem Anschluß an die amtliche (Organisation der schweizerischen refor­ mierten Kirchen halten. Auf allen Gebieten, welche ein gemeinsames amt­ liches Grgan der schweizerischen reformierten Kirchen, wie die schweizerische evangelische Kirchenkonferenz, direkt an die Hand nimmt, wird sie nur eine ergänzende Dienstleistung anstreben, soweit solche wünschenswert erscheint. Die Kommission wird gebildet aus Gliedern der evangelischen Kirchen in den verschiedenen Kantonen, und zwar sowohl Laien als Geistlichen, unter Berücksichtigung der verschiedenen kirchlichen Richtungen. Vie schweizerische Predigergesellschaft und die Kirchenkonferenz, sowie die leitenden Behörden der einzelnen kantonalen Kirchen sind berechtigt, *) Darüber flehe den folgenden Abschnitt.

m. Kirchliche Organe.

73

Mitglieder der Kommission zu wählen, und zwar die beiden ersteren je drei bis fünf, die letzteren je eines. Vie Kommission hat das Recht, van sich aus weitere Mitglieder zu kooptieren. Die Mitglieder werden je auf vier Jahre gewählt, mit Miederwählbarkeit. Die Kommission wählt unter

Berücksichtigung der verschiedenen Landesteile und Sprachen einen Vor­ stand (7 Mitglieder). Für besondere Landesteile, sowie für besondere

Rufgaben können van der Gesamtkommissian SubKammissianen bestellt werden, welche das Recht haben, sich durch weitere Hilfskräfte zu er­ gänzen. Die erforderlichen Mittel werden gebildet durch Beiträge und Geschenke von Behörden, Vereinen und Einzelnen. Die Kommission legt jährlich der schweizerischen reformierten Predigergesellschaft, der Kirchenkonferenz und den Kantonalen Behörden einen Bericht über ihre Tätigkeit vor, welcher in geeigneter Meise auch weiteren Kreisen zur Kenntnis zu bringen ist. über die Tätigkeit der Kommission ist zu erwähnen, daß sie zuzunächst durch eine umfassende Umfrage über alle in der reformierten Schweiz betriebenen Merke der gemeinnützigen und kirchlichen Fürsorge sich informierte. Sodann hat sie fast jedes Jahr einen Instruktionskurs für kirchliche Liebestätigkeit angeregt, die von Pfarrern eifrig be­ nützt worden find. Sie hat sodann eine jedermann zu Gebote stehende Bibliothek und zentrale Auskunftsstelle für kirchliche Liebestätigkeit in

Bern ins Dasein gerufen und auch ein pretzkamitee mit Subkomitees in den Kantonen eingerichtet, um die religiösen und kirchlichen Inter­ essen auch in der allgemeinen presse besser vertreten zu können. Durch Herausgabe eines Blattes „Mitteilungen der schweizerischen Kommission für kirchliche Liebestätigkeit" wurde ein Organ für die Bemühungen der Kommission geschaffen, durch welches sie mit allen Interessenkreisen in geistigen Rapport treten kann. Außer Mitteilungen über die Tätig­ keit der Kommission bespricht es Fragen aus dem Gebiet der kirchlichen Liebestätigkeit, bringt Berichte van Anstalten, Kursen, Konferenzen, Nekrologe usw. Alle Pfarrer erhalten das Blatt gratis. Es ist der Kommission gelungen, eine regelmäßige pastaratian der Taubstummen einzurichten in den Kantonen Basel, Bern, Aargau, Appen­ zell, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, Thurgau, Zürich. Die Taub­ stummen eines Bezirks werden periodisch versammelt zu einem Gottes­ dienst, dem eine gesellige Zusammenkunft mit einfacher Mahlzeit folgt. Zürich hat z. L. einen eigenen Taubstummenpfarrer, der auch eine Taubstummenzeitung herausgibt. Die französisch sprechenden Kantone stehen in diesem Merk noch zurück. 3m Jahre 1908 wurde auf An­ regung der Kommission in Zürich auch ein sechsmonatlicher Kurs für weibliche Diakonie, speziell für Kinderpflege abgehalten. Ebenso wurde auf ihre Anregung in Zürich durch ein besonderes Komitee eine schweize-

74

Stuckert, Uirchenkund« der reformierten Schweiz.

rische Heilanstalt für Krüppelhafte Kinder gegründet. Eine Subkom­ mission hat sich mit der Beschaffung von religiösem Bilderschmuck für das Schweizerhaus befaßt und macht Vorarbeiten zur Herstellung von künstlerisch und kirchlich geeigneten Konfirntations«, Trauungs- und Tauf­ andenken, sowie von Wandbildern für den Religionsunterricht. Diese und andere Werke und Anregungen, die von der erst seit wenig Jahren bestehenden Kommission ausgehen, zeigen, daß sie ein wertvolles Binde- und Belebungsmittel der Kantonalkirchen sein kann. Sie meint durchaus nicht, daß alle christliche Liebestätigkeit unter ihrer Leitung oder Gbhut stehen müßte, viel christliche Liebestätigkeit in der Schweiz wird in interkonfessionellem Zusammenwirken unter dem Namen der Gemeinnützigkeit geübt. Vas Wirken der christlichen Liebe braucht durchaus nicht den Stempel des kirchlichen Ursprungs zu tragen; denn alles Gute dient dem Bau des Gottesreiches. Dennoch hat die bisherige Tätigkeit der Kommission gezeigt, daß sie berufen ist, den Kantonalkirchen Anregung und Hilfe zur Liebesbetätigung zuzutragen. Der schweizerischen Kommission angegliedert, bestehen eine Anzahl kantonale Kommissionen, die, von der schweizerischen angeregt, dieselben Zwecke verfolgen. An erster Stelle ist hier zu nennen der Ausschuß für kirchliche Liebestätigkeit im KL Bern. Vieser ist älter als die schweizerische Kommission, von Pfarrer Georg Langhans in Bern 1883 ins Leben gerufen durch einen Vortrag vor der kantonalen Predigerversammlung über „Vie Aufgabe der Kirche gegenüber den sozialen, sittlichen und religiösen Notständen in unserm Volksleben". Nach 25jähriger Tätig­ keit konnte 1908 der Ausschuß auf folgende Leistungen zurückblicken: fünf Anstalten für Unheilbare, alle den Namen „Gottesgnad" tragend, stehen im Bernerland und bieten über 300 Kranken täglich Pflege, Zuflucht und Heimat; ferner die Anstalt „Bethesda" in Tschugg für Epileptische, die Trinkerheilanstalt „Nüchtern" bei Kirchlindach, die Heilanstalt für Tuberkulöse in heiligenschwendi mit 140 Betten, das Altersheim „Weinheimerstiftung" für gebildete, alleinstehende, wenig »er­ mögliche Frauen und Töchter, das Sanatorium „Maison Manche" für schwächliche und kränkliche Kinder. Der Ausschuß hat sich als verein für kirchliche Liebestätigkeit des KL Bern konstituiert, hat eine Kapelle für das kantonale Jnselspital erbaut, die Taubstummenpastoration im Kanton eingerichtet, eine Zerienversorgung für kränkliche Kinder in den Bergen in Gang gebracht, gibt ein eigenes Blatt „Säemann" heraus mit 30 000 Abonnenten, und sorgt durch dieses für Verbreitung eines guten Bilderschmuckes in den Schweizerhäusern. Der verband für kirchliche Liebestätigkeit im Kt. Zürich ist jüngeren Datums. Er zählte 1908 150 Mitglieder, worunter 21 Kirchenpflegen

in. Kirchliche Organe.

75

im Kanton. Außer mit Taubstummenpastoration und Preßbestrebungen beschäftigte er sich mit Stellenvermittlung für Minderjährige, Einführung von Gemeindekrankenpflegen in den Landgemeinden, Veranstaltung ge­ meindlicher Familienabende mit Vorträgen und Errichtung einer Anstalt für Krüppelhafte Kinder. Die Kommission int Kt. Schaffhausen hat außer Taubstummenpastoration und Beeinflussung der Presse einen Sonntagsverein ins Leben gerufen und veranstaltet in den Landgemeinden Lichtbildervorträge. Die Kommission im Kt. Aargau widmete sich der Taubstummen­ pastoration, Beeinflussung der presse und dem Jugendschutz, insbesondere der Fürsorge für die konfirmierte Jugend. Die Kommission im Kt. Glarus widmete sich der Taubstummen­ pastoration. In andern Kantonen ist die kantonale Organisation erst im Entstehen begriffen.

4. Geistlicher Stand. Die Bedeutung und Kraft einer Kirche hängt nicht von Institu­ tionen, Kirchengesetzen und Reglementen ab, sondern von den Personen, welche Glieder der Kirche sind, insbesondere von den Pfarrern. Sie sind die wichtigsten Organe der Kirche. Die Tätigkeit der Pfarrer ist gegenwärtig nicht mehr so mannig­ faltig, wie vor 100 Jahren. Damals betrieben noch die meisten Pfarrer Landwirtschaft. Da lebt z. B. im Kt. Kargau der eine fast ganz nur seiner Baumschule, ein anderer widmet sich seinem großen Rebberg und wirtet Eigengewächs aus, freilich um der Predigerordnung zu genügen nicht im Pfarrhaus, sondern in der an den Hof anstoßenden Kelter. Ein anderer gilt als trefflicher Jäger und spielt daneben auch in Kon­ zerten Violoncell, ein andrer widmet sich dem Buchhandel und versorgt seine Amtsbrüder und andere Leute mit alten und neuen Büchern. Das ist anders geworden. Es mag noch Pfarrer geben, die sich mit Vor­ liebe der Bienenzucht oder (vbstkultur usw. widmen, aber im ganzen ist man davon abgekommen. Seit dem Jahre 1874 ist auch das Zivil­ standswesen den Pfarrämtern abgenommen worden, was früher eine be­ deutende Last war, ebenso ist die Arbeit der Ehegerichte, die bei Zwistig­ keiten in den Ehen, Scheidungsklagen und Paternitätsfällen zu amten hatten, an die bürgerlichen Organe übergegangen. Dazumal bedauerten die Pfarrer diese ihre Ausschaltung; heute wünschen sie es nicht mehr anders, was sie damals an Ausdehnung ihres wirkens verloren haben, haben sie an Intensität gewonnen. Sie sind nun ganz auf ihr geistliches Amt angewiesen, und die Anforderungen, die hier an sie gestellt werden, sind nicht gering. Auf dem Land mag es wohl vorkommen, daß ein Pfarrer,

76

Stuckert, Rirchenkunde der reformierten Schweiz.

der sich nicht wissenschaftlich betätigt, manchmal viel freie Seit hat. In größeren Gemeinden und in den Städten ist das nicht der Fall. Armen­ pflege, Religionsunterricht in der Schule, pfarramtlicher Religionsunter, richt, vereinsgeschäste aller Art, Vorträge, Familienabende, Seelsorge und Predigt nehmen einen Mann vollständig in Anspruch, wissenschaftliche und literarische Tätigkeit kann nie die Hauptauf­ gabe der Pfarrer sein. Sie haben vielmehr das, was die Wissenschaft erarbeitet hat, für das praktische Leben fruchtbar zu machen. Nichts­ destoweniger ist es wichtig, daß der geistliche Stand immer in enger Berührung mit der Wissenschaft bleibe. Dem dienen verschiedene Ver­ anstaltungen. Neben der Predigergesellschast (siehe S. 71) haben die meisten Rantonalkirchen ihre viertel- oder halbjährlichen Rapitelversammlungen, auf denen nicht wie in den Synoden die kirchlichen Angelegenheiten behandelt, sondern wissenschaftliche Arbeiten vorgetragen und diskutiert werden. Dst besteht eine Reihenfolge, nach der die Pfarrer genötigt sind, eine Arbeit zu bringen, oft sind es mehr frei­ willige Leistungen. Neben diesen kantonalen Einrichtungen bestehen noch andere, z. B. der theologische verein Sürich, das Göttingerkränzchen, die Reformtage, allerlei Ronferenzen und Jnstruktionskurse usw. Die wissenschaftliche Arbeit hat von jeher unter dem geistlichen Stand eine Heimstätte gefunden. (Es darf darauf hingewiesen werden, daß eine große Reihe von Professoren der Theologie aus dem Pfarrstand hervorgegangen sind. Es ist hier nicht der Grt, die bedeutenden Theologieprofessoren der Schweiz aufzuzählen. Dagegen sollen eine Anzahl solcher genannt werden, die früher Pfarrer waren. Auf deutschen Universitäten waren oder sind tätig die frühern Pfarrer: van. Schenkel in Heidelberg, A. Schlatter in Tübingen, S. Gttli in Greifswald. An der Universität Sürich wirkten oder wirken die frühern Pfarrer: A. E. Biedermann, p. Thrift, Alex. Schweizer, h. Resselring, L. Ragaz. In Basel: E.v. Grelli, I. Riggenbach, Rud. Stähelin. In Bern: Fr. Barth, E.Blösch, Alb. Immer, M. Lauterburg, R.Marti, I.P.Romang, Rud. Steck. Außerdem waren eine Reihe von amtenden Pfarrern im Nebenamt als außerordentliche Professoren tätig wie Böhringer, K. Furrer, Beruh. Riggen­ bach, Im. Stockmeqer usw. Wohl sämtliche Professoren der theologischen Fakultäten der drei welschen Freikirchen waren vorher Pfarrer, sollen daher hier unerwähnt bleiben; aber auch manche Professoren der na­ tionalkirchlichen Fakultäten waren früher Pfarrer. In Neuenburg z.B. L. L. Nagel, Henri Du Bois, Alex, perrochet, Ernest Morel, Fred. Godet, Aug. Gretillat. In Genf: Balavoine, Thoisq, Doret, Fulliguet. In Lau­ sanne: h. vuilleumier, I. L. vandiran, A.Fornerod, M.Narbel, L. Emery. Auch viele im Amt stehenden Pfarrer sind fortwährend wissenschaftlich tätig. In den verschiedenen Rirchenblättern, in der theolo-

in. kirchliche Organe.

77

gischen Zeitschrift aus der Schweiz sowie in deutschen und französischen Blättern und Zeitschriften erscheinen oft Arbeiten von Schweizerpfarrern. Die wichtigsten wissenschaftlichen Leistungen stammen natürlich aus der Feder unserer Professoren. Diese setzen wir als bekannt voraus. (Es mögen jedoch eine Anzahl von Büchern genannt werden, die Pfarrer zu Verfassern haben. Vollständigkeit ist unmöglich, ja es mögen mir sogar Sterne ersten Ranges entgangen sein, was ich zum voraus zu ent­ schuldigen bitte. An Schriften mehr religiösen und theologischen Inhalts sind etwa zu nennen: E.Baudenbacher: Heimatglück l907; A Bitzius: Die Todesstrafe vom Standpunkt der Religion und der theologischen Wissenschaft 1870; A. Vovet: Aus dem Wirtshaus 1892; L. Buß: Die christliche Mission 1881; I. T. Gasser: Das A. T. und die Kritik 1906: v. Greyerz: Über den Konfirmandenunterricht 1907; R. Grubenmann: Andachtsbuch 1886; 3. Hauri: Die Welträtsel und ihre Lösung 1909; Die Religion, ihr Wesen und ihr Recht 1909; v. Juzi: Fester Grund 1908; 3- Kägi: Die Diakonissensache 1891; T. w. Kantbit: Fromm und frei 1884; Die sozialen Parteien und unsere Stellung zu denselben 1887; Kunst und Leben 1905; Die sexuelle Frage 1905; w. Kamblt: Bergluft 1894; 3- Kündig: Bibel und wifienschaft 1894; h. Kutter: Das Unmittel­ bare 1902; Sie müssen 1904; Gerechtigkeit 1905; wir Pfarrer 1907; heinr. Lang: versuch einer christlichen Dogmatik 1868; Religiöse Cha­ raktere 1872; Ein Gang durch die christliche Welt 1870; Ed. Lang­ hans: Handbuch der biblischen Geschichte und Literatur 1875; Fr.Langhans: Das Christentum und seine Mission im Lichte der Weltgeschichte 1874; R. Liechtenhan: Soziale Religion 1908, 3eremia 1909; Th. Menzi: Der Materialismus vor dem Richterstuhl der wifienschaft 1898; E. Miescher: Göttliches und weltliches in der Geschichte 3»sephs l880; E. Nagel: Das Problem der Erlösung 1901; w. Nie­ dermann: Armenerziehung und Armenversorgung 1896; 3- Ninck: 3«sus als Charakter 1906; Fr. Ghninger: Miniaturbilder 1893; Das Leben3«su 1902; G.Pfister: Die willensfteiheit 1904; p. Pflüger: Einführung in die soziale Frage 1909; L. Ragaz: Dein Reich komme 1909; Ed. Riggenbach: Die schweizerische Übersetzung des N.T. 1895; P. Ringier: Über Glauben und wissen 1896; Grientierung in den wichtigsten Fragen der christlichen Dogmatik; A. Ritter: Das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden 1892; Rud. Rüetschi: Geschichte und Kritik der Lehre von der ursprünglichen Vollkommenheit und vom Sündenfall 1881; Naturreligion und Naturrecht 1883; Die Kontro­ versen in der heutigen wifienschaftlichen Dogmatik 1887; w.Schlatter: wegmarken 1908; G. Schönholzer: Gebetbuch 1880; A. Wald-

78

Stuckert, Uirchenkunde -er reformierten Schweiz.

kurzer: Eidgenössisches Sonntagsrecht 1908; st. Wild: Die Körperliche Mißhandlung von Rindern durch Personen, welchen die Fürsorgepflicht für dieselben obliegt 1908; Fr. Zündel: Jesus in Bildern 1885; Hus der Apostelzeit 1886. Werke mehr historischen und biographischen Inhalts sind: st. stlt» Herr: Theodor Parker 1894; I.stmmann: Zur Erinnerung an Jeremias Gotthelf 1880; L. st. Bächtold: Geschichte der Pfarrpfründen im KL Schaffhausen 1882; Ed. Bähler: Kulturbilder aus der Refugiantenzeit in Bern 1882; 3. G. Birnstiel: Zwingli als Lharakter 1907; st. Bruckner: Erweckungsbewegungen 1909; E. Buß: Das Berg­ leben in religiöser Beleuchtung 1878; DerDolksaberglaube 1881; st.Farner: Geschichte der Gemeinde Stammheim. Namens- und Gedächtnis­ tage der allgemeinen christlichen Kirche 1903; G. Finsler: Kirchliche Statistik der reformierten Schweiz 1854; Geschichte der theologisch­ kirchlichen Entwicklung in der Schweiz 1881; Ulr. Zwingli 1883; E. Frauenfelder: Joh. Münz 1895; F. Gerber: 50 Jahre der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern 1881; P.Güder: E.Güder, Dekan 1886; W. hadorn: Geschichte des Pietismus 1901; Kirchen­ geschichte der reformierten Schweiz 1907; Max Haller: stlbr. v. Haller als religiöse Persönlichkeit 1908; G. Heer: Die Kirchen des Kt. Glarus 1890; G. Ioß: Das Sektenwesen im Kt. Bern 1881; Die Vereinigung christlicher Kirchen 1877; G. 3scher: Die evangelisch-reformierte Geist­ lichkeit des Kt. Bern und die Parteiungen 1882; L.W.Kambli: G. st. Saxer 1910; st. Langmesser: Fr. Dändlikers Leben 1908; S. Lechner: Da Chiavenna a Spluga — Tosana 1902; E. Lechner: Graubünden 1905; Die periodische Auswanderung der Engadiner 1909; D. st. Ludwig: pfr. I. M. Ludwig 1884; E. Müller: Geschichte der bernischen Täufer 1895; st. Nüesch: Das alte Zollikon 1899; Fr. Ghninger: Geschichte des Thristentums 1897; B. Riggenbach: Joh. Tob. Beck 1888; D. st. Rytz: L. st. R. Baggesen 1884; G. st. Schelling: Geschichte der evangelischen Landeskirche des Kt. St. Gallen 1905; G. Schönholzer: Die religiöse Reformbewegung in der Schweiz 1896; I. I. Schlüpfer: Pf. I. h. Schieß 1886; w. Schlatter: Die Märtqrergemeinde von Sevilla 1896; R. Schwarz: Talvins Lebens­ werk in seinen Briefen 1909; E. Staub: Bilder aus der Kirchen­ geschichte 1899; 3. Sutz: Schweizergeschichte 1899; F. Trechsel: Bilder aus der Geschichte der protestantischen Kirche 1889; I. M. Ufteri: Ulrich Zwingli 1883; Zwingli und Erasmus 1885; G. R. Zimmermann: Die Zürcherkirche von 1519-1819,1878; Fr. Zündel: I.L.Blumhardt 1880. Theologische Werke französischer Zunge sind:

H. Berguer: Sermons et etudes bibliques, Geneve 1893; H. Besson: Les demiers temps et la fin du monde, Geneve 1908;

L. Borel: Meditations sur le N.T. suivies de pieces pour le culte domestique, Neuch. 1887, 1889: Id. de FA. T., Neuch. 1900—1903; G. G. Borel: Le lendemain de la mort, Laus. 1886; Ch. Byse; Le prophete du Nord. Vie et doctrine de Swedenborg, Paris 1901; Au Bengale. Babou Chander Sen, Laus. 1892; L. Choisy: La conscience, Geneve 1872; Le But de la Vie, Geneve 1879; J. Desplauds: Evangile et choses humaines, 1893; J. Henriod: Mon Christ, Par. 1905; J. Gindreaux: Homme et Dieu, Laus. 1908; A. Glardon; Le Monde invisible, Laus. 1884; H. Monneron: Le sermon sur la montagne, Laus. 1889; E. Petavel: Le Pro­ bleme de FImmortalite, Par. 1891 — 1892; Le Plan de Dieu dans Revolution, Laus. 1902; J. A. Porret: Le Bouddha et le Christ, Laus. 1879; A. Reymond: L’Apocalypse, Laus. 1903 — 6; G. Ras­ selet; L’Apocalypse et l’histoire, Neuch. 1878; H. Secretan: Le Pardon, 1891; L’Eternite, Laus. 1895; E. Thouvenot: Jesus Christ dans VA. T., Neuch. 1908; G. Tophel: Etudes et discours, Laus. 1885; P. Valloton: La vie apres la mort, Laus. 1906; Sermons, Laus. 1891; La Bible, son autorite, son contenu, sa valeur, Laus. 1883; J. Walther: Les decourvertes de Ninive et de Babylone au point de vue biblique, Laus. 1889. historische Werke französischer Zunge sind:

Ch. Archinard: Histoire de FEglise du Ct. de Vaud, Laus. 1862; A.Bernard: LePietisme äBerne ä la findu 17me siede,Bern 1867; P. Berthoud: Les Negres Gouamba ou les 20 premieres annees de la mission romande, Laus. 1897; Jean Aug. Bost: Dictionnaire d’Histoire ecclesiastique, Geneve 1884; J. Cart: Histoire du mouvement religieux et ecclesiastique dans le Ct. de Vaud, Laus. 1870—1800; Histoire de la liberte des cultes dans le Ct. de Vaud 1798—1889, Laus. 1890; J. Chavannes: Les refugies fran^ais dans le pays de Vaud, Laus. 1874; F. Chaponniere: Pasteurs et Laiques de FEglise de Geneve au 19. siede, Geneve 1889; Edouard Barde, Geneve 1905; H. Heyer: L’Eglise de Geneve 1535 — 1909, Geneve 1909; A. Guillot: Les debuts de la Reformation ä Geneve, Geneve 1885; J. Jaccard: Eglise fran^aise de Zürich, Zürich 1889; Ed. Jacottet; Etudes sur les langues du Haut-Zambezi, 1896—1901; H. A.Junod: Grammaire Ronga, Laus. 1896; Les Ba Ronga. Etüde ethnographique, 1898; E. Krieg: Biographies jurassiennes. Nos missionnaires, Del. 1899—1905; L. Monastier: Une voix de jadis sur Forigine de FEglise libre du Ct. de Vaud, Laus. 1885; A. Montandon: Notice Historique sur la Reformation de la partie fran^aise de Fanden eveche de Bäle, Par. 1891; Fr. Naef: Histoire de FEglise ehre-

80

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

tienne, Par. 1892; J. A.Porret: Le Reveil religieux au 18. siede, Geneve 1907; C. A. Ramseyer: Histoire des Baptistes depuis les temps apostoliques jusqu’ä nos jours, Neuch. 1897; A. Senft: Les Missions moraves, Neuch. 1890; L. Vivien: Les familles du refuge en pays neuchatelois, Neuch. 1900.1 Ruch auf dem Gebiet der Belletristik haben einige Pfarrer Bedeutendes geleistet, hier ist vor allem zu nennen Bitzius (Jere­ mias Gotthelf) mit seinen zahlreichen Schriften; ferner ct. stltherr: Beckenfriedli. (Eine stmerikafahrt u. a. K. Furrer: Wanderungen durchs heilige Land; R. Grob (Flodur): Pastorale Novellen; H. Bel­

ler: Eine Sinaifahrt; h. Kelter: Erinnerungen eines Gebirgspfarrers; st. Rüegg: stuf heiligen Spuren; p. Sutermeister: Der Dorfkaiser; Tester: Eine Fahrt durch die Normandie. Schlappina u. a. Es darf wohl gesagt werden, daß in der Schweiz die Pfarrer recht im Leben des Volkes drin stehen. Sie sind nicht so wie andern­ orts aristokratische Beamte, deren Amtszimmer der Nlann des Volkes ungern betritt. Sie gehören nicht zu den Honoratioren. Schon sozial stehen sie, die wenig besoldeten, dem Volke nahe. Mit Recht bemerkt ein Deutscher: „Ein herzliches, gutmeinendes vertrauen verbindet fast überall die Pfarrer mit ihren Gemeinden. Den Lharakter der An­ spruchs- und Bedürfnislosigkeit, darum der Zufriedenheit findet man wohl überall in den Schweizerpfarrhäusern." während an andern (Orten das Amt hoch geachtet wird, mag der Träger des stmtes sein, wer er will, so mutz bei uns die Person das Amt tragen. Der Pfarrer gilt, was er als Mann ist. Gerade wenn er nicht als stmtsträger, sondern als Mensch und Bürger auftritt, wird er umso lieber gehört. Er hat einen grotzen Einflutz in seiner Gemeinde, wenn er klug genug ist, ihn nicht merken zu lassen, hierarchischen Gelüsten tritt man in der Demokratie überall entgegen. Manche Pfarrer sind in ihrem Kan­ ton oder Bezirk populäre Erscheinungen. (Ohne Gletscherpfarrer lätzt sich Grindelwald fast nicht mehr denken. Sie sind Redner bei lokalen und patriotischen Festen. Frömmigkeit und Vaterlandsliebe gehen bei ihnen Hand in Hand. Grotze Vorbilder stehen ihnen dabei vor de: Seele, denn gerade die schweizerischen Reformatoren haben sich nicht auf die Kirchliche Sphäre beschränkt, sondern immer das ganze Volks­ leben mit dem christlichen Geist durchdringen wollen. So wirkten Zwingli, Calvin, Bullinger, Lavater. 3n ihre Fuhtapfen versuchen auch ihre heutigen Nachfolger zu treten, daher auch ihre eifrige Beteiligung bei Volkswohlfahrt, Abstinenz, Sozialismus. Der gemeinnützigen vereine sind Legion, am bedeutendsten die schweizerische gemeinnützige Gesellschaft.

*) Die hier aufgeführten Titel von Werken französischer Pfarrer verdanke ich Herrn stubert, Bibliothekar in Neuenburg.

HI. Kirchliche Organe.

81

Und bei all diesen Anstalten, Humanitären Bestrebungen, Vereinen, Einrichtungen stehen Pfarrer in vorderster oder doch in den »ordern Reihen. Vie Ferienkolonien für schwächliche Rinder, jetzt in ganz Eu­ ropa verbreitet, hat der Zürcherpfarrer Lion (t 1909) ins Leben gerufen. Anstalten für Schwachsinnige, Rnaben- und Mädchenhorte, Rettungsanstalten sind vielfach ihr Werk; ebenso Jünglings- und Jung­ frauenvereine, Blaues Rreuz (pfr. Bovet), Guttempler, Hilfsvereine für Geisteskranke, entlassene Sträflinge usw. (Es darf wohl auch darauf hingewiesen werden, daß verhältnismäßig viel frühere Pfarrer sich in einflußreichen bürgerlichen Stellungen finden als Regierungsräte, Redak­ toren, Verwalter von Rrankenhäusern usw. (Obwohl die Bundesver­ fassung die Mahl von Pfarrern in die Bundesversammlung verbietet, sind doch eine Anzahl von Pfarrern nach Mederlegung ihres Amtes durch das vertrauen des Volkes in wichtige politische Stellungen be­ rufen worden. Pfarrer waren der frühere Bundesrat Schenk, und einige National- und Ständeräte sowie kantonale Regierungsräte wie Vitzius, beide Eugster, Heer, Hoffmann usw. Was die Richtungen anbelangt, so war vor 100 Jahren der Rationalismus weit verbreitet, aus dem heraus damals ein Aargauer Pfarrer sagte: Gnade verlange ich keine von Gott, sondern nur Ge­ rechtigkeit. Infolge der Erweckungsbewegung fand dann zur Restau­ rationszeit eine Neubelebung der Orthodoxie statt. Auf diese folgte die Reformbewegung, welche in den verflossenen Jahrzehnten die höchsten Wellen warf. Gewaltige Parteikämpfe spielten sich in den Rantonalkirchen ab, bei denen man oft sehr wenig wählerisch war in den an­ gewandten Mitteln. (Es waren hauptsächlich drei Richtungen, die hierbei in Betracht kamen: die orthodoxe, die Vermittler, die Reform. Noch jetzt gestaltet sich oft eine Pfarrwahl oder eine Wahl von Synodalen zu einem Ringen zwischen Reform und „Positiven", welch letzter« meist die Vermittler beigezählt werden. Doch sind diese Art von Partei­ kämpfen sichtlich im Schwinden begriffen, teils weil man des Gezänks müde ist und gemeinsame Feinde genug hat, deren es sich zu erwehren gilt, teils weil neue Zeiten und Geister sich melden, denen gegenüber die alten Schlagworte nicht mehr paffen wollen, viele jüngere Pfarrer lassen sich überhaupt nicht mehr unter jenes dreiteilige Schema rubrizieren. Die orthodoxe Richtung wird vertreten vom Evangelisch-Rirchlichen Verein. Sein (Organ ist der „Rirchenfreund", Blätter für evangelische Wahrheit und kirchliches Leben, gegründet 1866, seit Jahren unter der Redaktion von Professor Conrad v. Grelli. Der Verein wurde 1871 im Gegensatz zur aufstrebenden Reformrichtung gegründet. Über seine Grundsätze sagen die Statuten: Als Grundlage unseres Christenstandes betrachten wir unsere Taufe aus den Namen des Vaters, des Sohnes Stuckert, Uirchenkunde der ref. Schweiz. 6

82

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

und des heiligen Geistes, und halten fest an dem Taufbekenntnis der alten christlichen' Kirche, welches das apostolische genannt wird. Als Gedächtnis des Todes unseres Herrn Jesu Christi begehen wir sein heiliges Abendmahl und bekennen damit, daß sein Blut vergossen ist zur Vergebung unserer Sünden. AIs den Kern des Evangeliums, den keine christliche Kirche preisgeben darf, bekennen wir den Glauben an Jesum Christum, den eingeborenen Sohn Gottes, den Gekreuzigten und Auferstandenen, unsern Erlöser von Sünde und Tod, und gründen darauf die Hoffnung unserer Seligkeit in seinem ewigen Himmelreich, wir wünschen von ganzer Seele, den wieder zu lieben, der uns zuerst geliebt hat, und durch die Kraft der Wiedergeburt aus dem heiligen Geist auch in allen irdischen Lebensaufgaben dem Herrn an den Brüdern zu dienen, wir wissen uns damit in voller Übereinstimmung, wie mit der heiligen Schrift, so auch mit den Wahrheiten, welche unsere Väter in der Reformation aus derselben geschöpft haben. Der verein bezweckt tätige Mitwirkung zur Erhaltung des christ­ lichen Glaubens in den evangelisch-reformierten Landeskirchen unseres Vaterlandes; Weckung und Pflege des religiös-sittlichen und kirchlichen Lebens in den Gemeinden. Vie Mittel zur Erreichung dieses Zweckes sind: Versammlungen zur Besprechung und Verständigung über die unsere Zeit bewegenden religiös-kirchlichen Fragen; tätige Teilnahme an den unsern Gemeinden zustehenden kirchlichen Verhandlungen; Wahrung der den Landeskirchen zustehenden Rechte nach Matzgabe der Verfassungen und der Gesetze; Sorge für Vertretung der Vereinszwecke durch die presse und durch Vorträge; zweckmähige Hinwirkung aus Erziehung und Unterricht der Jugend in Kirche und Schule in wahrhaft christ­ lichem Sinne; Ausbildung und Unterstützung evangelischer Geistlicher und Lehrer; Handreichung an Gemeinden, welche notorisch der predigt des Evangeliums beraubt sind. Die Mitglieder bilden kantonale Sektionen, denen es überlasten ist, ihre Statuten festzustellen. Gegenwärtig bestehen zehn Sektionen. Die Sektion nennt sich meist Evangelische Gesellschaft z. B. des Kt. Zürich oder Schaffhausen. Die kantonalen Sektionen, denen dann die orthodoxen Pfarrer des Kantons und Laien angehören, sind jedoch nicht nur kirchenpolitisch orientiert, sondern auch evangelistisch tätig und be­ treiben meist eine Unzahl von gemeinnützigen Werken der innern Mission. Näheres darüber siehe unter Vereinsleben. Der Gesamtverein versammelt sich jährlich einmal in einer Schweizerstadt, hört einen Vortrag an und nimmt die Berichterstattungen der einzelnen Sektionen entgegen. Er besitzt eine Zentralkaste und einen Reservefond. Aus der Zentralkasse werden einige freie Gemeinden unterstützt. Ihm gegenüber steht der Schweizerische verein für freies Christen-

RI. kirchliche (Organe.

83

tum. (Er ist die Organisation der Reformrichtung und besteht aus etwa dreizehn kantonalen Sektionen, die sich Reformverein oder Verein für freies Christentum nennen; ebenfalls Pfarrer und Laien. Jährlich findet eine Delegierten- und Generalversammlung statt, der Reformtag. Die Arbeit des Vereins und der Sektionen ist mannigfach; sie vertreiben im Sinn des freien Christentums geschriebene Volks- und Erbauungs­ schriften, gesinnungsverwandten Studenten werden Stipendien verabreicht aus der Langstiftung (150 000 $r.), Vorträge und Familienabende werden veranstaltet und kirchenpolitisch im Sinne der Richtung auf Rirche und Gemeinden eingewirkt. Das Grgan der Richtung waren in den ersten Kamptzeiten die 1859 von pfr. Heinrich Lang gegründeten „Zeitstimmen"; gegenwärtig die mehr erbaulich gehaltenen „Reform­ blätter" im Kt. Bern, „Protestantenblatt" in Basel, „Religiöses Volks­ blatt" in der Gstschweiz. Präsident des Zentralkomitees ist Pfarrer Rltherr in Basel. Der Verein besitzt eine Zentralkasse, die ungefähr 10 000 Fr. per Jahr einnimmt und einen Vermögensbestand von etwa 10 000 Fr. aufweist. Die Reformrichtung ist am meisten in der Gst­ schweiz vertreten. 3m Kt. St. Gallen hat sie weitaus das Übergewicht; in andern Kantonen mögen sich die Richtungen die wage halten, soweit überhaupt noch eine Klassifizierung nach Richtungen möglich ist. Zwischen Reform und positiver Richtung steht die RRttelpartei. Sie ist am wenigsten organisiert. HIs um 1870 der schweizerische Verein für freies Christentum und auf der andern Seite der schweizerische evangelisch-kirchliche Verein sich gründete, taten sich auch die Freunde der theologischen und kirchlichen Vermittlung zusammen zur „Schweizerisch­ kirchlichen Gesellschaft". Die leitenden Personen waren Professor Hagen­ bach in Basel und Rntistes Finsler in Zürich. Sie gaben das „Volks­ blatt für die reformierte Kirche der Schweiz" heraus, in welchem sie mit Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken Kampf nach beiden Seiten führten und Fühlung nach beiden Seiten suchten. Gegen­ wärtiges Organ der Richtung ist das zum „Kirchenblatt für die refor­ mierte Schweiz" umgewandelte Volksblatt. Die Schweizerische kirchliche Gesellschaft besitzt im Unterschied von den zwei andern Richtungen keine kantonalen Sektionen, sondern nur eine Unzahl (ca. 110) über die Schweiz hin zerstreuter Mitglieder. Ihre Hauptaufgabe bestand und besteht wohl darin, die beiden andern auseinanderstrebenden Richtungen unter dem Dach der Landeskirche zusammenzuhalten und das gegenseitige Verständnis zu fördern. Theologisch lehnt sich die orthodoxe Richtung an an Beck, Cremer, Kähler, B. Weitz; die Reformrichtung an Biedermann, Lipsius, Pfleiderer; die Mittelpartei an die ältern Vermittlungstheologen wie Schleiermacher, Rothe und dann an Ritschl, Harnack, Herrmann und die religions6*

84

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

geschichtliche Schule. Der Mischungen und Nüancen gibt es viele, stm ehesten begegnet man einer klassischen Dreiteilung der Richtungen noch im HL Bern, wo die positiven etwa 70 Mitglieder zählen sollen, die Reform etwa 80, die Vermittler etwa 50; daneben noch eine große Zahl von „wilden". Die Zahl derjenigen Pfarrer nimmt zu, die sich

nicht mehr einschachteln und etikettieren lassen. Vie Schablone wird natürlich trotzdem angelegt; es heißt z. B.: Bei der Wahl der gemischten Synode in Basel war das Ergebnis 37 positive und 29 Freisinnige. Oder: Die Zahl der von Reformpfarrern besetzten Gemeinden im Kanton So und So geht zurück. Aber gerade in der Basler Synode hieß es (1908) von beiden Seiten: „Manchem der treuesten Mitglieder unserer

Landeskirche ist es geradezu unmöglich, sich in eine der beiden Parteien einrangieren zu lassen." Sowohl die Resormrichtung als die positive wandeln sich zusehends, und die jungem Elemente sind gewöhnlich nicht mehr so eingeschworen auf das Parteiprogramm wie die ältern. Die Diskussion zwischen den Richtungen verläuft meist in ruhigen Bahnen. Ruch die gegnerische Anschauung wird ruhig angehört und dann ent­ schieden bekämpft. Freilich hat das Parteitreiben besonders in den ersten Jahrzehnten auch sehr häßliche Erscheinungen gezeitigt, z. B. daß sich in Basel und Zofingen (in Zürich dagegen nicht) zwei Parteikirchen

gegenüberstehen, was sogar zur Verweigerung der Abendmahlsgemeinschaft und zu getrennter Armenunterstützung und Krankenpflege geführt hat. Doch sind Anzeichen vorhanden, daß solches Parteitreiben sich überlebt hat. Es melden sich neue Aufgaben und Ziele. Außerhalb des Rahmens der drei genannten Richtungen fallen die Sozialistenpfarrer. Es scheint, daß es Pfarrer Blumhardt in Bad Boll war, durch den einige Pfarrer eine Annäherung zur Sozialdemokratie gefunden haben. Andere, die auch in Bad Boll verkehrten, haben sich nur mit den andern Blumhardtschen Ideen vertraut gemacht. Unter den Sozialistenpfarrern sind zunächst diejenigen, welche direkt Mitglieder der sozialdemokratischen Partei sind, wie Pflüger in Zürich, Reichen in Winterthur, Eugster im KL Appenzell, der die armen Weber organi­ sierte und neuerdings Nationalrat geworden ist. Sie machen den poli­ tischen Kampf der Sozialdemokratie mit und sind Parteiführer. Pflüger tritt als Mitglied des Stadtrats und Kantonsrats mächtig für feine Partei ein; aber es ist nichts anderes als lebendige Religion und an­

gewandtes Ehristentum, das ihn zu seiner leidenschaftlichen Stellungnahme treibt. In seinem Religionsunterricht braucht er einen eigens verfaßten Proletarierkatechismus, darin lauten einige Fragen: was bist du, liebes Kind? Ein Arbeiterkind, was sagt Jesus zu den Kindern? Er ladet sie ins Sozialreich ein. willst du dieser Einladung Folge leisten? Ja, ich will der Einladung Folge leisten und ein tüchtiger Sozialist werden.

HI. kirchliche Organe.

85

Line andere Gruppe sind diejenigen Pfarrer, die ohne der sozial­ demokratischen Organisation anzugehören doch kraftvoll zu ihr stehen oder wenigstens stark von ihr beeinflußt sind. Zu ihnen gehört Kutter in Zürich, der in seinen Büchern „Sie müssen", „Gerechtigkeit", „Wir

Pfarrer" usw. das offizielle Kirchen- und Christentum mit ungeheurer Schärfe geißelt und den lebendigen Gott nicht bei ihnen, sondern bei der aufwärtsdrängenden Bewegung der Sozialdemokratie spürt. In seinem Buch „Die Zukunft des Evangeliums" hat Hans Faber, Pfarrer einer zürcherischen Landgemeinde, eine ähnliche scharfe Kritik an der Kirche geübt und ihre Unvereinbarkeit mit dem Evangelium behauptet, jedoch ohne Bezugnahme auf die soziale Bewegung. Line bedeutende Unzahl solcher Pfarrer, unter ihnen z. B. Ragaz, jetzt Professor in Zürich, Liechtenhan in Basel, Tischhauser, Benz, v. Greyerz u. a. ver­ sammeln sich seit kurzem jährlich auf der religiös-sozialen Konferenz, um in Gemeinschaft mit sozialdemokratischen Führern das Verhältnis von Religion und Sozialismus zu besprechen und vonseiten der Religion in das Verständnis der sozialen Fragen einzudringen. Ls ist eine Aussprache unter solchen, die von religiösem Pflichtgefühl getrieben, die Notwendigkeit einer prinzipiellen sozialen Umwälzung vertreten. Die Konferenzen, in denen außer den Pfarrern auch die Sozialdemokraten Greulich, Wullschleger redeten, waren gut besucht und zeigen, daß Evangelium und Sozialismus sich suchen. Diese Pfarrer gehören ver­ schiedenen kirchlichen Richtungen an oder auch keiner. Sie begrüßen die Unterdrückung der kirchlichen Parteikämpfe und legen bei voller dogmatischer Freiheit das Hauptgewicht aus eine Fruchtbarmachung der Kräfte des Evangeliums im individuellen und sozialen Leben. Das Organ dieser Geistesrichtung sind die „Neuen Wege", dessen Redaktoren Liechtenhan, Hartmann und Ragaz sind. Die „Neuen Wege" sind ein Anzeichen dafür, daß die alten Parteien mit ihren Gegensätzen und Schlagworten alte, schwindende Gebilde sind. Akademischer Vertreter der über die vorhandenen Parteigegensätze hinausstrebenden ist Prof. Wernle in Basel. In Wirklichkeit schließt sich auch ein großer Teil der jungen Theologen keiner der drei alten Richtungen an, weil er weder kirchlich noch theologisch, noch kirchenpolitisch abgestempelt sein will. Zu den religiös-sozialen Pfarrern kommen noch die evangelisch-sozialen, wie Benz und Lauterburg. Ohne sich grundsätzlich von jenen zu unter­ scheiden, erscheinen sie der Sozialdemokratie gegenüber vorsichtiger, ihre Hauptarbeit liegt in den evangelisch-sozialen Arbeitervereinen, wo sie die ernstlich christlich gesinnten Arbeiter den Gewerkschaften zuführen und mit den sozialen Gedanken der Zeit vertraut zu machen suchen. Ihr Organ ist „Der freie Arbeiter". Sozialdemokratische oder sozialdemokratisch gesinnte Pfarrer scheinen

86

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

in Deutschland unmöglich. 3n der Schweiz findet man sie ganz in der Ordnung, warum sollen nicht auch sozialistisch gesinnte Pfarrer in der Kirche sein? (Es gibt ja genug Pfarrer, die sich zu den andern politischen Parteien halten. Auch die Arbeiterschaft ist ein Teil des reformierten Volkes, das ein Recht auf Vertretung in der Rirche hat. Es gibt genug Pfarrer für die Gebildeten und aristokratischen städtischen Kreise; es gibt reine Pietistenpfarrer und Propheten einer seichten Aufklärung; warum soll der Sozialdemokrat, der sich von der Kirche noch nicht ganz gelöst hat, nicht auch einen Pfarrer nach seinem herzen haben? (Es ist natürlich nicht die Aufgabe der sozialistischen Pfarrer, den Klassenhaß zu schüren, selbst wenn sie in dem unvermeidlichen Klassenkampf Partei ergreifen und bewußt die Forderungen und Nöte der gedrückten Arbeiter zu den ihrigen machen. Aber man soll doch nicht dergleichen tun, als ob nicht schon länger und häufiger von den Dienern der Kirche im Namen ihres Amtes und der Religion für das Kapital Stellung genommen worden wäre. Gerade die Parteinahme der Vertreter des Thristentums für das Bestehende hat die Klasse der Arbeiter religionsfeindlich gemacht, warum erhebt man die Forderung der Neutralität der Kirche im sozialen Kampf nur gegen die sozialistischen Pfarrer und nicht schon längst auch gegen die kapitalistischen? Die Kirche ist zu spät aufgestanden. Lange Zeit hat sie, ohne zu prüfen, die sozialen Bestrebungen des Proletariats als dem Christentum feindlich abgewiesen; es ist ein Glück, wenn sie sich endlich eines andern besinnt und die eminent sozialen Forderungen des Evangeliums in der Gegen­ wart da vertritt, wo sie Gestalt gewinnen. 3n der Sozialdemokratie stecken nicht nur nationalökonomische, sondern tief ethische und religiöse Kräfte, die berufen sind, die Welt einen Schritt vorwärts zu bringen.

IV. Vas kirchliche Leben.

87

IV. Das kirchliche Leben. Kirchenbuch und Gesangbuch. Jede Kantonalkirche besitzt ihr eigenes Kirchenbuch. Die Grund­ bestandteile mancher Kirchenbücher stammen noch aus der Reformations­ zeit, z. B. bei Baselstadt, Zürich, Bern, Waadt, Genf. Waadt hat z. B. das Sündenbekenntnis von Beza. Vas Schaffhauser Kirchenbuch stammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, das Appenzeller und Neuenburger aus dem 18. Jahrhundert. Alle sind vielfach überarbeitet, erweitert und verändert. Das Graubündische ist ins Romanische und Italienische übersetzt für die romanisch und italienisch redenden Gemeinden. Bestrebungen, die auf ein einheitliches Kirchenbuch für alle Kan­ tonalkirchen gerichtet waren, sind bis jetzt nicht geglückt. Doch kommt es vielfach vor, daß Kirchenbücher anderer Kantone von den Pfarrern gebraucht werden. So wird aus dem Aargau berichtet, daß nur zehn Pfarrer sich mit der Aargauer Liturgie begnügen; 17 haben daneben die Basler, elf die Berner, drei die Glarner, 13 die St. (Ballet, zwei die Thurgauer, fünf die Zürcher, fünf die Württemberger. Und ein zürcherischer kirchenrätlicher Bericht sagt: „Auf dem Gebiet der Liturgie herrscht absolute Anarchie; es tut ein jeder Pfarrer, was ihm gut dünkt. Sehr wenige benutzen die Zürcher Liturgie ausschlietzlich. von nahezu allen schweizerischen refor­ mierten Liturgien bis zum Württemberger und zu selbstverfatzten Gebet­ büchern wird Gebrauch gemacht, bald für den Sonntagsgottesdienst, bald für Abdankungen, bald für die Festtage, der persönlichen Freiheit und dem Grundsatz zulieb: variatio delectat." viele Kirchenordnungen enthalten die Bestimmung, daß der Pfarrer auch ein autzerkantonales Kirchenbuch brauchen darf im Einverständnis mit dem Kirchenrat oder Kirchenvorstand. (Es mutz schon als ein Uni­ kum betrachtet werden, wenn 1908 die waadtländische Synode beschlotz: „Der Synodalrat hat darüber zu wachen, datz die Konfirmation der Katechumenen in allen Gemeinden gleichmätzig nach dem liturgischen Formular vollzogen wird, und datz sich die Pfarrer bei der Feier der offiziellen Gottesdienste an die Liturgie halten." Ein solcher Beschluß

88

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

wird sicher nicht lange befolgt; denn auch im Liturgischen sieht der Schweizerpfarrer seine Freiheit ungern beschränkt. Übrigens ist zu bemerken, datz die meisten Kirchenbücher dreispurig sind, d. h. sie enthalten Gebete und Formulare, wie sie die orthodoxe, die vermittelnde und die Reformrichtung gewünscht haben. Der Pfarrer hat dann die Auswahl. Auch für die Taufhandlung und Abendmahls­ feier gibt es meist verschiedene Formulare. Für die Taufe solche mit und ohne Apostolikum. Auch die welschen Kirchen haben ihre besondern Liturgien. Die freie Rirche von Genf benützt dieselbe, wie die Genfer Nationalkirche. Früher besaß auch jede Rantonalkirche ihr eigenes Gesangbuch. In mehreren Rantonen sang man früher die Lobwasserschen Psalmen, in den welschen die Psalmen nach Bezas oder Marot's Umdichtung. Dann entstanden um 1800 kantonale Gesangbücher. Und erst seit Kurzer Seit ist es gelungen, zuerst für vier Kantone gemeinsam (Thur­ gau, St. Gallen, Graubünden und Glarus) und dann für sieben andere Kantone (Zürich, Bern, Aargau, Schaffhausen, Appenzell, vaselstadt und -land, Freiburg) ein gemeinsames Gesangbuch herzustellen. Das eine wird das vierörtige, das andere das siebenörtige genannt. Der nächste Schritt wird dann der sein, datz aus diesen beiden ein gemeinsames deutsch-schweizerisches Gesangbuch hergestellt wird. In den welschen Kantonen haben die Nationalkirchen von Genf und Neuenburg dasselbe Gesangbuch (Psautier), die Nationalkirche der Waadt hat ein besonderes; wieder ein anderes hat die freie Kirche der Waadt, und wieder ein anderes die unabhängige Kirche des Kt. Neuen­ burg; doch wird dieses letztere auch von der freien Kirche Genfs be­ nützt. Die Unterschiede sind manchmal sehr klein, und die Zukunft sollte hierin zu einer bessern Derständigung führen. Die Thoräle sind in allen Gesangbüchern vierstimmig in Noten gesetzt. Allgemein ist der vierstimmige Thoralgesang üblich. Die Orgeln sind zur Reformationszeit alle zerstört oder entfernt, aber nach und nach wieder eingeführt worden. Nicht ohne lViderstand; denn noch 1597, als der Rat von Schaffhausen die 1529 zerstörte Grgel wieder Herstellen wollte, protestierte die Geistlichkeit in einem scharfen „Bedenken" da­ gegen: „Was werden unsere Nachbarn denken, wenn man des Papstes Sackpfeiffen wieder anrichtet? Die frommen Dorfahren, welche aus gottseligen und weisen Ursachen alle falsche Lehr sampt allem Götzen­ dienst und dem Brauch der Orgeln als des Teufels Trommeten und Lock­ vögel zum römischen, antichristlichen Götzendienst vor 68 Jahren rein abgeschasft haben, würden durch Wiederherstellung derselben in ihrer Ruhe underm Boden geschmäht werden." Der Rat befolgte die Er­ mahnung und Netz die Reste der Grgel als eine Trompete und Lock-

IV. Das kirchliche Leben.

89

vogel des Teufels dem Gfen vulcani zuschicken und die Pfeiffen zu lveinkannen umschmelzen. Im siebenörtigen Gesangbuch, welches 1891 herauskam, sind nicht

nur die alten feierlichen Thoralmelodien, sondern auch bewegtere Melo­ dien ausgenommen worden und bewähren sich beim Gebrauch vortrefflich. (Es ist gewiß gut, wenn nicht nur in der Sektenstunde oder Brüderkonferenz gesungen werden kann „Die Sach ist dein, Herr Iesu Thrift, die Sach, an der wir stehn", sondern auch in der Kirche. Andere dieser neuern religiösen Dichtungen mit bewegter» Melodien sind: Die heiligste der Nächte. Es zieht ein stiller Engel, harre, meine Seele. Ich hab von ferne usw.

2. Der Gottesdienst. Größte Einfachheit des Gottesdienstes gehört zur reformierten Art. Lange Liturgien, Responsorien, Gebete des Pfarrers bald vor dem Altar, bald auf der Ranzel, oder gar brennende Lichter, Kreuze an der Wand, Kreuzeschlagen des Pfarrers ist in den reformierten Kirchen nicht üblich. Die gewöhnliche Ordnung des Gottesdienstes ist diese: Zuerst singt die Gemeinde ein Lied, Gebet des Pfarrers auf der Ranzel mit voran­ gehendem Legensspruch und nachfolgendem Unservater. Text, predigt. Gemeindegesang. Gebet. Gemeindegesang und Segen des Pfarrers von der Ranzel aus. Dies ist die gewöhnliche Ordnung, wobei nur bemerkt werden mag, daß an manchen Orten der Gesang nach der predigt weg­ fällt, also nur zweimal gesungen wird. Line Bereicherung dieser Ordnung findet da und dort dadurch statt, daß dem ersten Gebet das Sündenbekenntnis oder die „offene Schuld" vorangestellt wird, oder daß eine Bibellektion stattfindet. Im Rt. Bern war den Gemeinden durch den Beschluß der Synode von 1894 die Ein­ führung einer Bibellektion empfohlen worden, um dadurch den Gottes­ dienst liturgisch zu bereichern. Die Sache fand aber wenig Anklang. 1906 kam sie noch in 20 Gemeinden (von 211) vor. Dagegen besteht in manchen Verner Landgemeinden noch der alte Brauch, während des Einläutens aus der Bibel vorzulesen. Selbstverständlich geschieht es öfters, besonders an Festtagen, daß ein Thor durch ein oder mehrere Lieder den Gottesdienst verschönert. In der Regel wird nur aus einem oder zwei Gesangbuchliedern gesungen, meist zwei bis drei Verse. Auch die

Gebete sind meist kurz, ein bis zwei Seiten im Kirchenbuch. Der ganze Gottesdienst dauert in der Regel eine Stunde oder etwas weniger. Die Hauptsache ist den Leuten die predigt, daher man eben so oft wie zur Kirche gehen sagt „3’ predig ga".

Die Textwahl ist dem Pfarrer ganz freigestellt. Perikopenzwang gibt es nicht. Es ist dem Pfarrer leicht gemacht, an irgend ein vor-

90

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

kommnis, das die Gemüter der Leute bewegt, anzuknüpfen, oder seinen Text darnach zu wählen. (Es mag wohl vorkommen, daß Pfarrer seufzen über die Hual der Wahl; aber noch viel unerträglicher wäre ihnen ein Textzwang. Beliebt sind dagegen Predigtreihen nach selbstgewählten Serien; sei es, daß Serien gewählt werden, die dem Inhalt nach zu­ sammengehören (3. B. das Leben des Paulus), oder ganze biblische Bücher

oder Kapitel durchgepredigt werden. So ausgiebig geschieht dies frei­ lich nicht, wie zur Seit Bullingers (1535), wo ein Zürcherpfarrer über das erste Buch Mosis 160 predigten hielt und doch erst im sechsten Kapitel stand, oder ein ganzes Iahr über die Epistel an die Epheser predigte und noch im zweiten Kapitel stand, — er konnte freilich auch damals nur durch Abbitte und versprechen der Besserung der Strafe entgehen —, aber daß die Bergpredigt, oder der Jakobusbrief, oder auch der Prophet haggai durchgepredigt wird, kommt vor. Es wird durch solche Serienpredigten die Gemeinde mehr in das Verständnis der Bibel eingeführt, und es kommen dabei auch einmal Abschnitte zur Sprache, die sonst regelmäßig übergangen würden, was unter Umständen ganz nützlich ist. Wenn über die schweizerische Predigtweise etwas ge­ sagt werden kann, so ist es wohl dies, daß sie nüchtern und realistisch ist. Ticeronische Tiraden, poetischer Schwung und Schmuck wird nicht gesucht. Die predigten von Bitzius können wohl als klassische Schweizer­ predigten gelten, von Neuern haben als Kanzelredner einen Ruf Benz in Basel, Aschbacher in Bern und Kutter in Zürich, die alle drei pre­ digten herausgegeben haben. Der Hauptgottesdienst findet gewöhnlich Sonntag vormittags 9 oder 1/elO Uhr statt. Es gibt aber auch zahlreiche Nebengottesdienste. In

den Städten z. B. die „Frühpredigt" um 8 Uhr, die gern von Dienst­ boten besucht wird, ferner Nachmittagsgottesdienste um 2 oder 3 Uhr, und Abendgottesdienste. Die Gottesdienstordnung ist darin dieselbe wie bei den Hauptgottesdiensten. In der neuenburgischen Nationalkirche werden viele Abendgottesdienste gehalten, auch auf dem Lande, im Kt. Bern regelmäßig in 41 Gemeinden, viele Nachmittagsgottesdienste finden auch in Filialen statt, wenn der Hauptgottesdienst vormittags in der Nlutterkirche gehalten wurde. Auch Wochenbibelstunden werden öfters angetroffen, vor allem in den Städten. Im Kt. Zürich sind sie etwa in 60 Gemeinden üblich, in 100 nicht; im Kt. Bern in 34 (von 211), im Kt. Schaffhausen im Winter in allen Gemeinden. Manchmal treten auch Vorträge an die Stelle der Bibelstunden z. B. über die Lebensgeschichte Jeremias, Paul Gerhardt, oder eine Episode der Kirchengeschichte. Es gibt auch Kantone oder Gegenden, wo man jeden derartigen versuch als Stündeliwesen verpönen würde und dieses wichtige Feld der Erbauung ganz den Sekten überläßt.

IV. Vas kirchliche Leben.

91

Weit verbreitet ist auch der Silvestergottesdienst am Schluß des

Jahres; vor 30 Jahren noch selten, hat er sich die Gunst des Volkes erobert, und die Pfarrer tun wohl daran, die ernstere Stimmung, die

ihnen an diesem Abend entgegenkommt, zu benutzen. 3m Kt. Bern haben ihn 17 Gemeinden. Auch Waldgottesdienste werden mehr und mehr gefeiert. 3n der neuenburgischen Gemeinde (Queues, wo sich Fremde aufhalten, während des ganzen Sommers auf einem günstigen Rasenplatz unter großen Tannen, hier sind auch die Rurgottesdienste zu erwähnen. Ein verein sorgt dafür, daß während der Fremdensaison an den verschiedenen Rur­ orten, in Hotels, Sälen oder sonstwo den Rurgästen Gelegenheit geboten ist, eine predigt zu hören; und außer den geplanten findet auch manch

improvisierter Gottesdienst statt auf Bergeshöh und Alpenweide. Dann seien erwähnt die (Ostergottesdienste auf den Friedhöfen, die ein großes Publikum anziehen; zahlreiche Gesangs- und liturgische Gottesdienste, z. B. im Kt. Bern 1906 in 42 Gemeinden, nicht zu reden von den Missionsvorträgen, Ehristbaumfeiern, Temperenzfesten, Sonntagsschulkon­ ferenzen usw. Nützlich sind auch die Kirchlichen Bezirksfeste, die mancher­ orts üblich sind. Bei ihnen reden etwa auch Laien, es kommt die Sonntags- oder Blaukreuzsache, der protestantisch-kirchliche Hilfsverein, die Mission, oder Anstalten der innern Mission zur Sprache; sie erwecken bei den Besuchern das Bewußtsein, daß sie mit ihren Mitchristen in den übrigen Gemeinden eine Kirche bilden und zur Landeskirche gehören. Solche Feste sind Gewissenswecker für den Festort und werden oft in kurzer Zeit populär, hierbei im Rt. Bern behandelte Gegenstände sind:

Die Volksvergnügungen wie sie sind und sein sollten. Krieg und Ehristentum. Erziehung in Schule und Haus. Die Los von Rom-Bewegung, Selbsthilfe, Gotteshilfe, Bruderhilfe. Eine andere Art haben die Evangelisationen. 3n der waadtlän­ dischen Nationalkirche sowohl wie in der neuenburgischen Freikirche gibt es eine besondere Lvangelisationskommission. Sie organisieren in den Kirchgemeinden Erweckungsversammlungen, wobei jedoch auf alles Fieber­ hafte, Nervenaufregende verzichtet wird. 3n der Waadt fanden im Winter 1901 an 22 (Orten 134 Versammlungen statt. Sechs hatten zum Gegenstand die Familie, einer die Moralität, im übrigen waren die Gegenstände biblische. Das Reglement der Kommission nennt als Zweck, im verein mit den kirchlichen Organen an der Entwicklung des religiösen Lebens und des Missionsinteresses in der Nationalkirche zu arbeiten; es werden dazu Evangelisationsversammlungen und die prefie benützt, wobei man sich auf die Mithilfe der Glieder der Nationalkirche, Pfarrer und Laien stützt. Das Werk wird unterhalten durch Kollekten und freie Gaben. Die Kommission besteht aus sieben Mitgliedern und

92

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

legt der Synode jährlich Bericht ab über ihre Tätigkeit.

Sie besteht

seit 1899. — Die Evangelisation der neuenburgischen Freikirche wirkte besonders in val-de-Travers, im benachbarten Freiburgischen und in Sommer­ stationen. Vie Einnahmen betrugen 1907 Frc. 2707, die Ausgaben ebensoviel. Die Kommission gibt auch ein Blatt heraus: La voix du dimanche, das in 2350 Exemplaren verbreitet wird. In andern Kantonen sind es mehr freie vereine, z. B. im Kanton Bern die Evangelische Gesellschaft, welche da und dort eine Lvangelisationswoche durchführen. Die Wirkung hängt sehr vom Redner ab; oft werden auch in der Kirche manche aufgerüttelt; doch ist nicht jede Erschütterung auch ein Fortschritt im christlichen Leben. Eine brave kirchlich gesinnte Frau, von ihrem Pfarrer nach dem Grunde gefragt, warum sie auch in jene Versammlungen gehe, antwortete: Ja luegit, euerem het das nit nötig, aber üserein seit und tuet gar mängs währed der wuchs, wo me nit sott! — Es war also eine besonders kräftige Abwaschung, die sie hier suchte.

5. kirchliche Zesttage. Als Festtage gelten in der reformierten Kirche der Schweiz allge­ mein der Weihnachtstag, Palmsonntag, Karfreitag, Gstern, Pfingsten, Bettag. An Weihnacht, Gstern und Pfingsten sowie Bettag wird in allen Kirchen nach dem Vormittagsgottesdienst das Abendmahl gehalten. Der Nachmittagsgottesdienst dieser Feste pflegt weniger gut besucht zu sein, doch kommt es z. B. im Kt. Schaffhausen auf dem Land vor, daß diese Nachmittagsgottesdienste die bestbesuchten des ganzes Jahres find. Auch am Karfreitag pflegt vor- und Nachmittags-Predigt gehalten zu werden. Bei den Katholiken wird er jedoch nicht gefeiert. So ergibt sich z. B. im paritätischen Kanton Thurgau der Nlodus, daß die Pro­ testanten ihn mit Abendmahlsfeier und nachmittags mit der Konfir­ mation als hohen Feiertag begehen, die Katholiken jedoch ihn nur als halben Feiertag betrachten und manchmal den ganzen Tag Werktags­ arbeit verrichten. Ein gesetzlicher Schutz gegen dadurch verursachte Störung besteht nicht, doch wird auch nicht darüber geklagt. Ähnlich, nur umgekehrt, verhält es sich mit der Feier des Fronleichnamstages. An Himmelfahrt wird nur vormittags gepredigt. In der Gstschweiz werden auch die sog. Nachfeiertage nach Weih­ nacht, Gstern und Pfingsten mit Gottesdienst und gänzlicher Enthaltung von der Arbeit gefeiert. Der zweite Weihnachtstag freilich nur dann, wenn nicht durch Zutritt eines Sonntags drei Feiertage herauskämen. In der Westschweiz gelten diese Nachfeiertage nur als halbe Feiertage,

IV. Das kirchliche Leben.

93

so daß z. B. in Basel am Ostermontag nur in einer Kirche gepredigt wird und die meisten Fabriken arbeiten lassen. 3m KL Waadt werden Oster- und Pfingstmontag gar nicht gefeiert. Der Neujahrstag ist ein bürgerlicher Feiertag, der jedoch mit Recht auch kirchlich gefeiert wird. Ebenso finden vielerorts Iahresschlußgottesdienste statt. Hm Neujahrs­ nachmittag wird nicht gepredigt. Der Palmsonntag ist in einigen Ran­ tonen dadurch ausgezeichnet, daß an ihm die Ronfirmationsfeier statt­ findet; im Kt. Schaffhausen z. B. nachmittags. Vie meisten Rantonalkirchen feiern den ersten Sonntag im No­ vember als Reformationssonntag. Einzelne überlassen seine Feier oder Nichtfeier den einzelnen Gemeinden. 3m Kt. Thurgau wurde er durch eine besondere Volksabstimmung des reformierten Teils mit 8 484 Ja gegen 604 Nein auf den genannten Tag festgelegt. Die Feier besteht darin, daß in der predigt Bezug genommen wird auf die Segnungen der Reformation und eine Kollekte erhoben wird zugunsten eines Kirchenbaus für Evangelische in der Diaspora der Schweiz. Näheres darüber beim prot. kirchl. Hilfsverein S. 122. Ein Tag, der für die ganze Schweiz von Bedeutung ist, ist der Eidgenössische Dank-, Butz- und Bettag. Schon 1796 war von der Tagsatzung eine für Protestanten und Katholiken gemeinsame Bettags­ feier beschlossen worden, doch hatte man sich bis 1816 auf keinen be­ stimmten Tag einigen können. Noch bis 1832 wurde er von den beiden Konfessionen gesondert gefeiert. Jetzt wird er überall am dritten Sonntag des Septembers mit Hbendmahl und zweimaligem Gottesdienst gefeiert. Er wurzelt tief im Volksleben. Vie Wirtschaften sind bis abends geschloffen und Vergnügungsanlässe unterbleiben, mehr noch als an einem der andern kirchlichen Festtage. Der Festtag hat aber nationalen Tharakter. Die Bettagspredigt stellt das Schweizervolk vor Gottes Hngesicht und sucht das, was Gott an ihm als Volk getan hat, sowie die im Volk im Schwange gehenden Schäden hervorzuheben. Die rechte Bettagsfeier wird dadurch vorbereitet, daß am vorangehen­ den Sonntag von allen Kanzeln des Landes ein Bettagsmandat ver­ lesen wird, in welchem der Kirchenrat des Kantons die Volksgenossen anredet. Wir wollen beispielsweise dasjenige des Kt. Bern von 1908 hierhersetzen. Der evangelisch-reformierte Synodalrat des Kantons Bern an die Kirchgemeinden. Liebe INitbürger! wieder ist die Seit des eidgenössischen Dank-, Bußund Bettags herbeigekommen, des vaterländischen Festtags, an welchem wir als Bürger der freien Schweiz vor Gott treten, um ihm zu danken, daß wir Schweizer und Christen sein dürfen, und von ihm zu erbitten, was unserm ganzen Volke notlut. Cs ist eine Sitte der Väter, auf welcher der Bettag beruht; was uns aber an diesem Tage bewegen soll, das betrifft nicht alte

94

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Zeiten, sondern unsere Zeit mit ihren neuen Verhältnissen und Hufgaben. Hus den Kämpfen und Gefahren der Gegenwart wenden wir uns am Bettag zu Gott, dem Qerrn der Zeiten und auch der heutigen Zeit, mit der Frage: „Herr, wo fehlt es bei uns, und was willst du, daß wir tun sollen?" wenn jeder Einzelne diese Frage mit bußfertigem Sinn für sich vor Gott bringt, dann kann er auch für sein Volk und Vaterland einen neuen Segen von Gott erflehen, Segen im äußern und vor allem im innern Leben. Gott hat während dieses Jahres mehrmals auf ernste Weise zu uns ge­ redet. 3m Frühling hat ein gewaltiger Schneefall unzählige Baume und Fluren schwer beschädigt, und im Sommer sind dem Bau unserer Hlpenbahn durch ein unerwartetes Ereignis eine ganze Hnzahl junger Menschenleben zum Opfer gefallen. (Es wäre nicht recht, wenn wir solche Vorfälle gleichgültig oder bloß mit stumpfer Ergebung hinnehmen wollten, wir stehen nicht blinden Natur­ kräften gegenüber, sondern alles geschieht durch Gottes willen, ohne den kein haar von unserm Haupte fällt. Hber warum läßt er solches geschehen? weil wir es nötig haben, an unsere Kleinheit und Ohnmacht erinnert zu werden. Gott hat uns viel Herrschaft über die Erde gegeben durch die staunenswerten Fortschritte der Wissenschaften; aber die Weltregierung hat er sich selber vor­ behalten. 3m Kleinen wie im Großen ist an Gottes Segen alles gelegen; er richtet sich nicht nach uns, sondern wir müssen uns nach ihm richten; er ist der Herr, und unsere Ehre ist es, ihm zu dienen. Beugen wir uns in Demut vor seinen Heimsuchungen; dann werden sie uns zum Besten dienen, indem sie uns standhaft und tüchtig machen; Demut vor Gott gibt Mut für den Kampf des Lebens, der uns verordnet ist. Gott hat es auch an (Ermunterungen zur Urb eit nicht fehlen lassen. Unser Volk ist mehrmals berufen worden, durch Hbstimmung über Fragen von großer Tragweite für das Gemeinwohl zu entscheiden. Einmal handelte es sich um die Stärkung unserer Wehrkraft zum Schutz unserer Unabhängigkeit. Das Schweizervolk hat schwere Opfer an Zeit und Kraft auf sich genommen, um gerüstet und jedem Hngriff gewachsen zu bleiben. (Ein anderes Mal sollte einem innern Feind, einem verderblichen Genußmittel die weitere Verbreitung verwehrt werden? Das Schweizervolk hat Schritte zu tun beschlossen, damit dieser Gefahr wirksam gesteuert werde. Durch Gottes Leitung sind Entscheidungen zustande gekommen, die für unser Vaterland ehrenvoll und heilsam sind. Dafür wollen wir ihm von herzen danken; wir wollen aber auch ferner unsere ganze Kraft dafür einsetzen, daß die Nisse geheilt werden, die jetzt noch durch unser Volk gehen, und unser Land einer glücklichen Zukunft entgegengeführt werde. Ja, wir werden ein glückliches Volk sein, wenn der Gott unserer Väter unser Gott bleibt, und wir sein Volk werden, das zu seiner Ehre lebt. Dazu segne Gott den bevorstehenden Bettag an uns allen; er schenke uns neues Leben und neue Liebe! Der evangelisch-reformierte Spnodalrat. Für den Bettag werden von den kantonalen Kirchenbehörden auch besondere Gebete verfaßt, die nicht nur von den Kanzeln verlesen, sondern auch vielfach vom Volk gekauft werden. Huch sie nehmen Bezug auf die Witterung des Jahres und die Lage des Vaterlandes in wirtschaftlicher, politischer und sittlicher Hinsicht.

x) verbot des Hbsinths in der Schweiz.

Siehe §. 175 f.

IV. Das kirchlich« Leben.

95

Vie steht es nun aber mit dem Kirchenbesuch bei diesen Gottes­ diensten? (Ein Berner Bericht von 1902 meldet, in den meisten (115) Gemeinden sei er gleich wie früher, 73 Pfarrer melden eine Zunahme, 12 eine Abnahme; er betrage 10 — 14 °/o der Erwachsenen an gewöhn­

lichen Sonntagen, 30 — 40 an Festtagen. Er falle und steige mit dem Barometer. 3n dem Bericht von 1907 wird gesagt, daß sich die An­ gaben innerhalb der Grenzen von 1-90 °/o der Erwachsenen bewegen. Die hervorstechendste Tatsache sei die, daß es keinen gleichmäßigen, das ganze Jahr hindurch ausdauernden Kirchenbesuch mehr gebe, Keine stehende Gemeinde von erheblichem Umfang, die Sonntag für Sonntag die Kirche fülle, wie es einst der Fall war. Es herrsche im Uirchenbesuch Ebbe und Flut. Flut an den Festtagen, Abnahme bis Ebbe in den Zwischenzeiten. Da sich nun die Kirchen nicht nach Harmonika­ system bald größer und kleiner machen lassen, so sehe manche Uirche einen großen Teil des Jahres ziemlich leer aus. In der Regel betrage das Minimum 3-5°/o der evangelischen Bevölkerung, das Maximum 30-40. Die Stadt Vern habe durchschnittlich 2-3°/o. 3m Kt. Thurgau beträgt er 8-35°/o der evangelischen Bevölkerung; 25 °/o, darunter Rinder, Alte und Kranke kommen nie; 22°/o kommen fleißig und regelmäßig jeden zweiten Sonntag; 53 °/o sporadisch, besonders an Festtagen, wo fast jedermann dem Herrgott eine Anstandsvisite macht. 3m Kt. Zürich taxiert man !O°/o schon als ordentlichen Kirchenbesuch. Es gibt Gemeinden, in denen sich Sonntag für Sonntag 15 — 25 °/o der Bevölkerung einfinden, aber sie bilden die Ausnahme. Aus dem Kt. Neuenburg wird berichtet, der Kirchenbesuch sei im Winter bester als im Sommer, und man könne sagen, daß es der Sonne bester ge­ linge als dem Schnee und dem Regen, unsere Kirchen zu leeren.

4. Die lllnderlehre. 3n jeder Gemeinde findet Sonntags die Kinderlehre statt; in Städten von 11 — 12, auf dem Lande mehr nachmittags von 1—2 oder 2-3 Uhr. 3hr Besuch ist für die Kinder der Gemeindemitglieder obligatorisch bis nach erfolgter Konfirmation. Manchmal sind darin alle Altersstufen von 4-16 Jahren vertreten, manchmal übernimmt die Sonntagsschule die jungem Stufen. 3m Kt. Thurgau und St. Gallen ist der Besuch der Kinderlehre vom 10. Jahr an obligatorisch, im Kt. Waadt vom 12., im Kt. Zürich und Bern vom 13. an. Pfarrer großer Gemeinden teilen etwa eine große Kinderschar in eine jüngere und ältere Abteilung und halten zwei Kinderlehren; doch kommt z. B. in Zürich eine Massenkinderlehre von 850 Kindern vor. 3m Kt. Aargau zählt die kleinste 28, die größte Kinderlehre 350 Kinder. 3m Kt.

96

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Waadt ist in manchen Gemeinden die Kinderlehre mit der Sonntags­ schule kombiniert; unter der Oberleitung des Pfarrers werden Gruppen gebildet, die je unter ihrer Moniteuse oder ihrem Monitor stehen. 3m KL Bern ist auf Wunsch der Synode von manchen Pfarrern ein freiwilliger Jugendgottesdienst für die jüngern, nicht Kinderlehrpflichtigen eingerichtet worden. Vie Kinderlehre ist dann vormittags, der Jugendgottesdienst nachmittags. Für Gemeinden, wo viele Kinder vorhanden sind, ist diese Trennung empfehlenswert. Dieselbe Einrichtung findet sich auch im Kt. Zürich, wo dieser Jugendgottesdienst die „Kleine Kinderlehre" heißt. Über den Zweck der Kinderlehre sagt die Ordnung des kirchlichen Religionsunterrichts von 1877 im Kt. Bern: „Vie Sonntagskinderlehren sollen als Jugendgottesdienste sowohl zur Förderung der religiösen Er­ kenntnis als namentlich auch zur Erbauung der Jugend dienen." AIs Lehrstoff wird kein Katechismus zugrunde gelegt, sondern „passende Abschnitte aus der h. Schrift oder zeitweise aus der Religionsgeschichte." Der Kt. Aargau schreibt als Stoff vor: Altes und Neues Testament, etwa Besprechung eines Kirchenliedes oder Bilder aus der Kirchen-, Reformations- oder Missionsgeschichte. Der Kt. St. Gallen: Patriarchen, Mose, Propheten, zehn Gebote, Leben Jesu, Bergpredigt, Gleichnisse, Bilder aus der Reformationsgeschichte. Um die Aufmerksamkeit besser zu fesseln, pflegen die Pfarrer in der Kinderlehre Fragen zu stellen und die Kinder antworten zu laffen. Wo eine große Kinderzahl dies verbietet, gestaltet sie sich mehr zur Kinderpredigt. An manchen Orten, besonders im Kt. Basel, wird die Kinderlehre im Dialekt abgehalten. 3m Dialekt reden die Kinder zu Hause mit Vater, Mutter und untereinander, das Religiöse soll ihnen dadurch heimeliger werden und mehr zum herzen sprechen. Da die Pflege des Thoralgesangs bei der Jugend dem Kirchen­ gesang sehr zu statten kommt, werden manchmal in Verbindung mit der Kinderlehre Singübungen abgehalten. Auf die Schule kann sich die Kirche in dieser Beziehung immer weniger verlaffen, ist daher ge­ nötigt, selbst Vorsorge zu treffen. Diese Singübungen, eine halbe Stunde vor oder nach der Kinderlehre - im Kt. Bern zwischen predigt und Kinderlehre — werden vom Pfarrer, Organisten, oder besonders hono­ rierten Lehrer geleitet. 3m Kt. Aargau finden solche Übungen in 20 von 53 Gemeinden statt. 3m Kt. Schaffhausen etwa in der Hälfte der

Gemeinden.

S. Die Zonntagsschule. Reben der Kinderlehre geht die Sonntagsschule her, welche haupt­ sächlich für solche Kinder bestimmt ist, die das kinderlehrpflichtige Alter noch nicht erreicht haben und denen man Sonntags auch einen Gottes-

IV. Das kirchliche Leben.

97

dienst bieten möchte. Nicht immer ist es die Kirche, welche die Sonn­ tagsschulen in Händen hat, oft sind es auch andere Gemeinschaften, insbesondere die Methodisten. Für die Sekten bildet ihre Sonntags­ schule vielfach den Grt, an dem sie sich ihre künftigen Mitglieder aus der Landeskirche heraus heranbilden. Die Kirche ist hier etwas zu spät aufgestanden, hat aber schon manches wieder eingeholt. Eine 1904 im Kt. Bern unter den Pfarrämtern veranstaltete Um­ frage: „halten Sie die bestehenden Sonntagsschulen für ein der Unter­ stützung von feiten der Kirche würdiges Institut" wurde von 112 Pfarrern und Kirchgemeinderäten mit Ja, von 15 mit Nein beantwortet. 1902 gab es im Kt. Bern in 156 Kirchgemeinden 350 Sonntagsschulen, von denen 170 unter der Leitung von Ungehörigen der Landeskirche standen, 75 der evangelischen Gesellschaft, 70 der Methodisten, acht von freien Gemeinden, drei der Täufer, zwei der Guttempler, eine der Dar­ bisten. 1904 zählte man schon 550 Sonntagsschulen, die von 36 000 Kindern besucht wurden. Gut organisiert sind die Sonntagsschulen im Kt. Waadt. 3n jeder Gemeinde gibt es eine oder mehrere. Manchmal haben Nationalkirche und freie Kirche eine getrennte Sonntagsschule, manchmal beteiligen sich Ungehörige beider Kirchen an der gleichen, viele Pfarrer leiten sie selbst oder erteilen wenigstens den Monitoren und Moniteusen Vorbereitung. 3n einigen Gemeinden geben sich selbst Kirchgemeinderäte als Monitoren her. Die Zahl der an einer Schule dienenden Monitoren schwankt zwischen zwei und 50. Ferner besteht im Kanton ein Sonntagsschul­ komitee. Es hat die Aufgabe, die Stoffauswahl für jeden Sonntag zu treffen, und gibt ein Blatt, den Messager des ecoles du dimanche heraus, in welchem eine Vorbereitung für den Abschnitt jedes Sonntags gedruckt mitgeteilt wird (Auflage 30 000). Das Komitee steht nicht imDienst einer besondern Kirche. Es sorgt nur für diese Vorbereitungsliteratur, hat auch ein Sonntagsschulgesangbuch herausgegeben und leitet die jährlichen Distrikts- und die kantonale Versammlung der Monitoren. Monitoren gibt es 400 in der Waadt; sie bilden die besten Hilfskräfte der Pfarrer. Ähnlich ist es im Kt. Neuenburg, wo es auch in jeder Gemeinde eine oder mehrere Sonntagsschulen gibt. 3n der Stadt Glarus wird die kirchliche, im Gegensatz zur Kon­ kurrenz der Sekten gegründete Sonntagsschule von 150 Kindern be­ sucht. Sie wird geleitet von einem patentierten Lehrer und einer Dame. Der Lehrer erzählt eine biblische, die Dame eine Profangeschichte. Die Kinder stehen im Alter von 6-11 Jahren. Die Kosten Fr. 200 im Iahr trägt die Kirchgemeinde, in deren Dienst die Sache steht. 3m Kt. Zürich haben fast alle Gemeinden eine Sonntagsschule. Die kirchliche Sonntagsschule wird entweder vom Pfarrer gehalten („Kleine Stuckert, Airchenkunde der ref. Schweiz.

7

98

Stuckert, tlirchenkunde der reformierten Schweiz.

Rinderlehre") oder von Monitoren, welche unter der Oberaufsicht des Pfarrers stehen (Gruppensystem). Vas Gruppensystem bietet den Vor­

teil, daß der Unterricht gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Gemeinde (Filialen) gehalten werden kann und daß Gemeindeglieder zu kirchlich­ religiöser Aktivität herangezogen werden, viele Rirchgemeinden sub­ ventionieren die Einrichtung. Der Besuch von feiten der Rinder ist nicht immer regelmätzig. In manchem Fall erscheint das Bedürfnis der Eltern nach einer ruhigen Stunde am Sonntag dringender als der Wunsch „die Rinder dem Heilande zuzuführen." Auch hier bestehen Bezirksversammlungen der Monitoren mit Vortrag oder Musterkatechese. Ähnlich steht es im Rt. Schaffhausen, wo jedoch in der Stadt die Sonntagsschule nur im Wintersemester gehalten wird; auf dem Land dagegen das ganze Jahr. In kleinen Gemeinden besuchen auch die jüngeren Rinder die Rinderlehre. Im Rt. Aargau besteht auch ein Sonntagsschulkomitee mit jähr­ licher Versammlung der Monitoren. In 34 von 53 Gemeinden be­ stehen Sonntagsschulen, von denen aber nicht alle kirchlich sind. Line eigentümliche Erscheinung ist die Sonntagsschule des Pfarrers Rodio in Zürich für etwa 60 Rinder katholischer Italiener; die obern Rlassen dieser Sonntagsschule gehen über in einen evangelischen Ronfirmandenunterricht.

6. Der pfarramülche Religionsunterricht. Über den Religionsunterricht, der in der Schule an schulpflichtige Rinder erteilt wird, ist in einem andern Zusammenhang zu reden? hier soll allein von demjenigen pfarramtlichen Religionsunterricht ge­ handelt werden, welcher dem Ronfirmandenunterricht vorangeht, wir wollen ihn der Einfachheit halber Präparandenunterricht nennen. Eine völlige Auseinanderhaltung des Religionsunterrichts in der Schule und des Präparandenunterrichts ist freilich schon darum nicht durchführbar, weil in manchen Rantonen beide vom Pfarrer erteilt werden. Die Sache steht im Einzelnen so: Der Rt. Bern kennt keinen Präparandenunterricht. Vie Pfarrer erhalten die Schüler direkt in ihren Ronfirmandenunterricht. Aller vorangehende Religionsunterricht ist Sache der Schule, d. h. der Lehrer. Ebenso erteilen im Rt. Waadt die Lehrer in der Volksschule den Religionsunterricht. Die Pfarrer haben nur den Ronfirmandenunterricht. Baselland, Zürich, St. Gallen und Thurgau lasten den kirchlichen Religionsunterricht durch die Pfarrer im Rahmen der Schule erteilen;

*) Siehe S. 154 ff.

IV. Vas kirchliche Leben.

99

Baselland vom 10., Zürich und St. Gallen vom 12., Thurgau vom 13. Altersjahr an. hier ist stellenweise die Belastung der Pfarrer sehr groß, besonders wo mehrere Schulen zur Kirchgemeinde gehören. Trotz­ dem wünschte kein Pfarrer, daß der Religionsunterricht in die Hände der Lehrer zurückgelegt würde. Da die obligatorische Schulpflicht nur bis zum vollendeten 14. Altersjahr reicht, hat dann z. B. im Kt. Zürich vor dem Ronfirmandenunterricht ein 1jähriger Präparandenunterricht außerhalb der Schule statt, welcher jüngere und ältere Unterweisung heißt. Appenzell betreibt einen 1 ^/s jährigen Präparandenunterricht mit jährlich 60 Stunden. Der Ronfirmandenunterricht, 1k Jahr dauernd von Oktober bis Ostern, schließt sich an. Doch haben die Gemeinden in der Anordnung der Sache bis jetzt große Freiheit. Aargau und Schaffhausen erteilen einen 1-2jährigen Präparanden­ unterricht, ebenfalls außerhalb der Schule, also vom 14. Altersjahr an. 3n Baselstadt erteilen die Pfarrer 31k Jahre lang vor dem Ronfirmandenunterricht außerhalb der Schule ihren Präparanden­ unterricht. 3m Kt. Neuenburg wird im Rahmen der Schule überhaupt kein Religionsunterricht erteilt. Die Pfarrer erteilen vom 7. oder 8. Alters­ jahr an bis zum Eintritt in den Ronfirmandenunterricht 1-2 Stunden per Woche den kirchlichen Religionsunterricht. Es resultiert, daß in den meisten Rantonen ein 1-3jähriger Präparandenunterricht besteht, der dem Ronfirmationsunterricht zur Vor­ bereitung dient. was den behandelten Stoff betrifft, so ist er in den meisten Ran­ tonen freigegeben. Gewöhnlich wird Bibelkunde, biblische Geschichte des Alten und Reuen Testaments mit Einschluß der Apostelgeschichte und einiger Briefe behandelt. Der Kt. St. Gallen schreibt vor fürs erste Jahr das Leben Jesu, fürs zweite Apostelgeschichte und Briefe, fürs dritte, dem Ronfirmandenunterricht vorangehende, Einleitung in die Bibel samt Lehr- und prophetischen Büchern. Der Kt. Thurgau besitzt einen gedruckten Lehrplan für den Präparandenunterricht mit ausführ­ licher Darlegung der allgemeinen Grundsätze und Zielpunkte der reli­ giösen Jugendunterweisung. Er gibt auch Winke über die Auswahl des biblischen Lehrstoffs, Ratschläge über Methode des Unterrichts und Behandlung des Lehrstoffs sowie für den Gebrauch der Lehrmittel, die Wahl der Gedächtnisaufgaben, für die Klasseneinteilung und die Dis­ ziplin. Die Schweizerische Rirchenkonferenz hat eine Auswahl von 100 Bibelsprüchen und zwölf Gesangbuchliedern als Memorierstoff für den Präparandenunterricht herausgegeben und den Rantonalkirchen empfohlen. Bei dem beständigen hin und her der industriellen Bevölkerung über die Rantonsgrenzen war es wünschenswert, wenigstens ein Minimum 7*

100

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

religiösen Gedächtnisstoffes zu haben, das überall bei Beginn des Kon« firmandenunterrichts könnte vorausgesetzt werden. was die Methode des Unterrichts anlangt, so äutzert sich ein St. Gallischer Inspektionsbericht folgendermaßen: Der Religionsunterricht der Reformationszeit war gedächtnismätziges Einprägen der Lehre durch Auswendiglernen des Katechismus. Der Pietismus suchte die christliche Wahrheit nicht nur in den Kopf, sondern auch ins herz zu bringen, zergliederte durch Abfragen die Lehrstücke und bearbeitete die Gewiffen. Der Religionsunterricht der Aufklärungszeit setzte voraus, daß die reli­

giösen Grundwahrheiten dem Menschen angeboren seien, daher wurden sie durch die Sokratik herausgelockt und der Unterricht wurde nüchterne verstandespflege und Gemütsentleerung. Die Erweckungsperiode suchte die Sätze des Katechismus durch Belegstellen aus der Bibel zu beweisen, heute, im Zeitalter der Glaubens- und Gewissensfreiheit geht der Re­ ligionsunterricht nicht von der Glaubenslehre, sondern vom Glaubens­ leben aus. Seine Voraussetzung ist: die Empfänglichkeit des Kindes für religiöse Eindrücke und die Fähigkeit, sich so in die Zustände anderer einzufühlen, daß es daraus Antriebe für sein eigenes wollen und handeln empfängt; sein Ziel: den Kindern wirklich religiöses Leben zur Anschauung zu bringen, damit sich daran ihr eigenes entzünde. Darum malt er ihnen die vom Geist Gottes in außerordentlicher Weise er­ faßten Gestalten des Alten und Neuen Testaments, vor allem Thristus, so lebensvoll und eindrücklich vor Augen, daß sie davon ergriffen und so gefeffelt werden, daß sie sich innerlich damit beschäftigen. Mehr Kann der Unterricht nicht tun. Im KL St. Gallen findet auch eine Inspektion des Präparanden­ unterrichts statt. Sie erstreckt sich auf den Unterrichts- und Memorier­ stoff, aus die Präparation und Methode des Katecheten, auf die Pflege des Kirchenliedes, auf die Handhabung der Disziplin, auf die Führung des Abfenzenverzeichniffes, auf allfällige Einstellung des Unterrichts und auf den Stand des Religionsunterrichts in der Schule. Der Kirchenrat hat auch befohlen, daß alle Kirchenpflegen die Wandbilder von Furrer, palästinensische Landschaften darstellend, zur Veranschaulichung des Unter­ richts anschaffen müssen. Das Lokal für den Präparandenunterricht ist da, wo er im Rahmen der Schule erteilt wird, das Schulzimmer; aber auch da, wo er außer­ halb der Schule fällt, wird von der Gemeinde oft ein Schulzimmer da­ für bereitgestellt, sei es nun, daß dort der katholische oder protestan­ tische Geistliche seinen Unterricht erteilt. Der Konfirmandenunterricht wird in der Regel außerhalb des Schulgebäudes erteilt in einem be­ sondern Unterrichtszimmer, welches manchmal im Pfarrhaus zu suchen ist, manchmal daran angebaut, oder im Thor der Kirche oder sonstwo.

IV. Das kirchliche Leben.

101

3it diesem Zimmer findet oft auch der Präparandenunterricht statt. Nicht immer sind diese Lokale so beschaffen, wie sie sein sollten. Sie stehen an Zweckmäßigkeit, Größe und Schönheit der Einrichtung oft weit hinter den Schulzimmern zurück. Die Pfarrer sind zu bescheiden. 3m Kt. Bern besteht z. B. in 93 Gemeinden ein eigenes Unterweisungs­ lokal. 3n 81 werden Schulzimmer, in 14 die Gemeindestube, in 23 ein Zimmer des Pfarrhauses, in 18 wenigstens im Sommer die Kirche benützt. 3n einer Gemeinde ließ die Pfarrfrau ein kleines Vereins­ haus bauen, das auch zum Nonfirmandenunterricht dient. 3m Kt St. Gallen findet auch eine 3nspektion der Unterrichtslokale für den Religionsunterricht statt. Es wird verlangt, daß sie geräumig und anheimelnd seien. Einer Kirchgemeinde wurde ein Lokal ab­ geschätzt, weil es die Kinder in nichts daran erinnere, daß Jesus an den lieblichen Gestaden des Sees Genezaret gepredigt habe. Es wäre zu wünschen, daß auch an andern Grten in dieser Hinsicht mehr

getan würde.

7. Die Konfirmation. Ruf den Präparandenunterricht folgt der Konfirmandenunterricht, der mit der Konfirmation abschlietzt. Der Konfirmandenunterricht oder die „Unterweisung" genießt in Stadt und Land großes Rnsehen. 3n den seltensten Fällen wird sie Unterlasten, auch nicht von ganz unreli­ giösen Leuten. Eltern und Kinder würden es als eine Schande emp­ finden, wenn Sohn oder Tochter nicht einmal konfirmiert würden. 3n der Regel ist die empfangene Taufe die Vorbedingung für Vor­ nahme der Konfirmation. So hat z. B. die Kirchensynode des Kt. Bern endgültig entschieden, daß kein Kind konfirmiert werden darf, welches nicht zuvor die heilige Taufe empfangen hat. Ebenso die neuenburgische Nationalkirche und andere. Es kommt daher öfters vor, daß Kinder, deren Taufe unterlassen wurde, sei es, weil die Eltern baptistisch ge­ sinnt, sei es, weil sie religiös indifferent waren, noch kurz vor der Kon­ firmation getauft werden. So fanden im Kt. Bern in vier 3ahren in 123 Gemeinden Nachtaufen von Kindern beim Eintritt in die Unter­ weisung statt, während 52 Gemeinden nichts davon wußten. Doch ist die Taufe nicht überall Bedingung der Konfirmation. 3n der Kirchen­ ordnung des Kt. Zürich lautet der bezügliche Artikel: „Wo jeder Aus­ weis über den Empfang der Taufe fehlt, kann der Pfarrer nicht an­ gehalten werden, die Konfirmation vorzunehmen. 3n keinem Fall darf er deshalb die Aufnahme in den Unterricht verweigern. Er hat aber darauf hinzuwirken, daß die Taufe nachgeholt werde." Nach diesem Artikel ist es jedem Pfarrer erlaubt, auch ohne Taufe zu konfirmieren. Solche Pfarrer schätzen die Unterweisung und Konfirmation als an sich

102

Studiert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

wichtige Handlung. Aber es kann kein Pfarrer gezwungen werden, ungetaufte Kinder zu konfirmieren, wodurch andrerseits das Gewissen des einzelnen Pfarrers respektiert wird. In der Regel muffen die Konfirmanden bei der Konfirmation das 16. Altersjahr zurückgelegt haben. Es gibt Kantone, die streng darauf halten, daß nicht früher konfirmiert werde. Ohne Zweifel liegt in dieser Bestimmung ein Vorteil gegenüber der in andern Ländern üblichen frühern Konfirmation. Die Zeit der religiösen Einwirkung der Kirche auf die Jugend wird dadurch verlängert, und man darf erwarten, daß eine geleistete Jugend dem Unterricht auch ein größeres Verständnis entgegenbringt, vor 50 und mehr Jahren wurde sogar das zurück­ gelegte 17. Altersjahr zur Konfirmation verlangt. Freilich bringt es das moderne Erwerbsleben mit sich, daß zahlreiche Gesuche um Erlaubnis eines frühern Termins einlaufen. Geschäftshäuser nehmen nur solche Lehrlinge an, die bereits konfirmiert sind, damit sie nicht Zeit verlieren für den Unterricht. Die Schulzeit ist bei der Mehrzahl der Kinder mit dem 14.—15. Altersjahr beendet. Auf dieses Alter möchte man viel­ fach die Konfirmation verlegen. Es ist dies bedauerlich, weil dadurch die Jugend dem Einfluß der Kirche früher entrückt würde, aber not­ gedrungen hat die Kirche schon da und dort nachgegeben. Zunächst durch Dispense. Gesuche um Erlaubnis einer frühern Konfirmation als bei vollendetem 16. Altersjahr werden nicht vom Pfarrer, sondern vom Kirchenrat des Kantons nach Vorprüfung der Grtskirchenpflege ent­ schieden, nicht immer in bejahendem Sinne. 3m Kt Thurgau sind es ungefähr 1/io der Konfirmanden, die vom Kirchenrat zugelassen wurden, ohne das vorschriftsgemäße Alter erreicht zu haben. Andere Kantone haben das Alter herabgesetzt. Lasel verlangt das vollendete 15. Altersjahr. Genf setzt für Knaben das zurückgelegte 15., für Nlädchen das 14. Altersjahr an. Bereits steht unter den Traktan­ den der Schweizerischen Kirchenkonferenz auch die gleichmäßige Herabsetzung des Alters zur Konfirmation für alle Kantone; so daß es wahr­ scheinlich nur eine Frage der Zeit sein wird, bis man allgemein auf das 15. Altersjahr zurückgehen wird. Ausschluß aus dem Konfirmationsunterricht oder Zurückstellung um ein Jahr kommt selten vor; hauptsächlich dann, wenn Konfirmanden sich sittlicher Fehltritte schuldig gemacht haben oder die Unterweisung allzu unfleißig be­ suchten oder wegen Schwachsinns demUnterricht nicht folgen konnten. ImKt. Bern in vierJahren 18Fälle der ersten, sieben der zweiten, 13 der dritten Art. In einer Streitsache bezüglich Besuchs des Konfirmandenunterrichts hat das Bundesgericht entschieden, daß der erfolgte Eintritt in den Unter­ richt, höhere Ereignisse vorbehalten, auch zum Besuch des ganzen Unter­ richts verpflichtet. Der Austritt steht also nicht beliebig frei.

IV. Das kirchliche Leben.

103

Vie Dauer des Konfirmandenunterrichts ist sehr verschieden. Genf bestimmt, daß er mindestens 70 Unterrichtsstunden betragen muß; dabei besteht dort auch die Sitte, daß die Konfirmation immer vom Gemeinde­ pfarrer vollzogen wird, während der vorangehende Unterricht von jedem beliebigen Pfarrer kann erteilt werden, dem die Eltern ihr vertrauen schenken. Im Kt. Bern dauert der Unterricht ein Jahr, wobei jede Woche 1—4 Stunden erteilt werden. Die Ordnung des kirchlichen Religionsunterrichts von 1877 bestimmt, daß die Rinder mit 13 Jahren in die Rinderlehre und mit 14 Jahren in die Unterweisung eintreten, die mindestens ein Jahr dauern soll. 3n manchen Gemeinden wird dann das erste halbe Jahr zum biblischen Unterricht verwendet. Rm Münster in Bern gibt es einen Unterweisungsnachkurs für Erwachsene. 3m Kt. Waadt, wie in den meisten Rantonalkirchen, beginnt der Konfirmandenunterricht im Herbst und dauert bis Ostern; dabei werden zwei Stunden per Woche erteilt. 3n einem Arrondissement hatten 14°/o der Konfirmanden wegen Wohnungswechsel den Unterricht mehrerer Pfarrer gehabt. 3m Kt. Zürich dauert der Unterricht in 1/s der Ge­ meinden ein Jahr mit l1^ wöchentlichen Unterrichtsstunden, in 2Is der

Gemeinden ein halbes Jahr mit zwei wöchentlichen Stunden. Die Knaben werden in diesem Kanton von altersher auf Weihnachten konfirmiert. 3m Kt. Schaffhausen dauert der Konfirmandenunterricht mit zwei wöchent­ lichen Stunden in der Stadt ein Jahr, auf dem Land ein halbes Jahr. 3m Kt. Neuenburg wird der Konfirmandenunterricht genannt „die sechs Wochen", indem der ganze Unterricht in sechs (6—8) Wochen zusammengedrängt wird. Die Konfirmanden haben dann täglich zwei Stunden. Die Pfarrer betrachten dieses System als die perle der kirch­ lichen Einrichtungen. Während dieser Zeit gehören die Schüler und Schülerinnen fast ganz ihnen, und das erlaubt ihnen, so auf sie einzu­ wirken, daß ihnen starke, unvergeßliche Eindrücke bleiben. Über das Ziel des Konfirmandenunterrichts sagt 8 72 der Zürcher Kirchenordnung: Er hat die evangelische Glaubens- und Sittenlehre im Zusammenhänge zu behandeln und soll bei den Konfirmanden diejenige christliche Erkenntnis und Gesinnung wecken, die sie befähigt, selbstän­ dige Glieder der christlichen Gemeinde zu werden. § 7 der Berner Ord­ nung des kirchlichen Religionsunterrichts lautet: Die Unterweisung hat die christliche Lehre nach den Grundsätzen der evangelisch-reformierten Kirche in systematisch geordneter Weise zu behandeln, wobei alle wesent­ lichen Teile der Glaubens- und Sittenlehre die ihnen gebührende Be­ rücksichtigung finden sollen. 3m Kt. Neuenburg wird als Ziel genannt: „den Grund zu legen zu einer tiefen und Persönlichenüberzeugung". Dort ge­ schieht es mancherorts, daß die Schüler nicht konfirmiert werden, wenn sie nicht selbst einzeln beim Pfarrer sich einfinden und den Wunsch aussprechen.

104

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Meist wird dem Konfirmandenunterricht ein Katechismus zugrunde gelegt. Früher war es allgemein der Heidelberger. Jetzt ist die Wahl des Katechismus in den meisten Kantonen freigegeben. 3m Kt Zürich wurden im Jahre 1904 von 163 Pfarrern 18 verschiedene Leitfäden benützt, und 18 Pfarrer lasen nach eigenen heften. 3m Kt Aargau 14 verschiedene Katechismen; im Kt. Bern (1906) in 233 Gemeinden 26 verschiedene Katechismen; daneben in 34 Gemeinden die Bibel und in vier eigenes Diktat. * Der Kt. Thurgau hat einen eigenen Katechis­ mus erstellt, welcher für alle Pfarrer obligatorisch ist. Damit ihn alle

gebrauchen können, waren an der Bearbeitung alle verschiedenen kirch­ lichen Richtungen beteiligt. Vie Konfirmationsfeier in der Einzelgemeinde wird von Eltern und Konfirmanden als etwas wichtiges betrachtet. 3mmer geht ihr eine predigt voran, die dem Zweck der Feier angemessen ist. Tage, an denen Konfirmation stattfindet, sind in Städten ausnahmsweise Weih­ nachten, in der Regel ist es Palmsonntag, Karfreitag oder Ostern. Neuenburg hat auch Feiern an Pfingsten und selbst am Bettag. Die Feiern finden vormittags, nachmittags oder abends statt. Die Konfir­

manden treten einzeln oder paarweise vor den Pfarrer und empfangen einen Venkspruch und einen Segen, meist mit Handauflegung. Nieder­ knien ist selten. Auf dem Lande besuchen Knaben und Mädchen gemein­ sam den Unterricht, in den Städten sind sie getrennt. Es ist in den meisten Kantonen dem (Ermessen des Pfarrers an­ heimgestellt, ob er seinen Konfirmanden bei der Konfirmation ein Be­ kenntnis und Gelübde abnehmen will oder nicht. Früher waren Be­ kenntnis und Gelübde allgemein verbreitet. Als Bekenntnis sprach einer der Konfirmanden das Apostolikum. Ein neueres Gelübde eines Bafler Formulars lautet z. B.: Gelobet ihr, Gott den allmächtigen Schöpfer und Vater, über alles zu ehren und zu lieben und seinem heiligen willen zu gehorchen alle Tage eures Lebens, so sprechet: Ja, Gott stärke uns! Gelobet ihr, Jesu Christo, unserm Herrn und Heilande, der sich für uns dahingegeben hat, als treue Jünger nachzufolgen in Versuchung, Not und Tod, und eure Brüder zu lieben, wie er uns geliebet hat, so sprechet: Ja, mit Gottes Gnade! Gelobet ihr, in Kraft des heiligen Geistes, der euch verheißen ist, tapfer und unablässig zu kämpfen gegen alles Böse und wollet ihr euch als lebendige Glieder unsrer protestantischen Kirche erweisen, so sprechet: Ja, Gott helfe uns! *) (Es waren 22 Heidelberger, 40 G. Langhaus, 27 Baumgarten, 29 Martig, 15 Blaser, 13 Ufteri, 2 v. Steiger, 11 »>» O Ol W *000*0s^*0000leqt0 Q000*>*>*>**C>400O01

4» Os O tO OS 00 to Ul 4» O Ul -4

4> Os Os -q

—» »—» to to —» —» 4 04 Ul 4» —»000400SOCSU10-44» Ul—»OsmtOUl—»t0004s0

Mitglieder

4» 00 h* tO 4» 04 sO 00 O -4 00 —»

sO to 04

04 —» 00 —» —» Os Ul Cs 4 4 4 04 04 00 4» OstOOtO—»OsOOUlsOsOUl

Anhänger

-» to SO Ul tO Ul —» —» to 04 04 -4 04 00

Os Ul sO O

—» to m to —» —» os —» —»-qm 00ui0s-4t040s00040ss0 —»O4OsUlO4-*sD-qsOtO4»

Total

—» —» Os O 04 4» 4» —» 04 —» tO —» 4» Ul

Ul o Ul sO

—» —» to to —» Ul —» 04 OS Ul 40004-qt0040s4000s -q—»0404—»—»04—»UlUtsO

Mitglieder

00

04 4» O to to sO *4 4»

04 sO 04 04 4» Ul 4» tO 04 00 00 Ul

4» 4» 4»

04 Ul —» —» tO 04 Ul tO Os 4 04 —4 tO Os O4U104—4s0t0U1404t0

Anhänger

12879

Os 04 -4 Os

—» sO sO 00 Os Ul SO

to Os *4 00 4» to O

Os Ul o 04

—» —» uito—»—»os—» so oo -q 0s04040s04-q04s0-»004 -4U100OS00OU1OSS000—»

Total

00 8

04 bJ to 04

Os -4 2 04 O 00 sO 04 04 -4 SO 4*

um sich zu bessern

s 04 04

04 Os m 04 Ul Ul 00 OS to 00

4* Ul SO -q to 04 o 04

—» —» —»—»—»—» 4» Os 4> 04 ouitooqui4uitoqso 004U10SOSD—»04—»SOO

4236

4» 04 O>

=-J LAss 8 S-3 LZ H | g_||, L' ' • • ’ S JD 3.............

Ul —» 00 04 —» touisoui-qo4—»toro—»oo osooto—»-4-q—»*4U10sO

um sich zu bewahren

ro O> O 4»

s

—» to sO SO -q *4 Ul 4» Ul Ul 00 04 4» OS

Os sO 04

—» —» Ul to —» OS to —»Os-q-4 to-qoooo—»—»uio—»oo4» tO-q-q4»4»UltOO4tO—»OS

zum Beispiel

04 4» 00

04 tO Ul —» wqqq »-» ui -q ui

00 Os Ul

4» to OS —» —» to-qui4»o44»—»—»ui-qoi OUltOU1000-qOs^>4Ui4»

4» Os

*4 Os sO

—» tO 04 O O SO OS —» SO 04 OS

04 -4 -q

04 —» 4» —» —» 4>UltO4»Ul—»—»0400st0 —»4»oo—»o44»toto-qoo-q

1-5 Jahren

O 00

4» O

o

H* —» 4» tO 00 04 00 00 OS 00

Os 00 o

—» to OS —» to ui 00 Ul -4 OU1400UltOOs—»—»O4U1

6-lOJahren

04 00

-4 O OS

—» —» 04 04 -q 4» Ul 04 Ul 04 Ul

OS -q Ul

— to -q to —» to oo oo ui sßs0»-»t04M0'4O044

bJ 4» Ul -q

15554 sO

o

CT>

Os

s O SO 04 4»

OS 00 00

11781 00 4»

2 4* 4*

*

04 04 sO -» 4» Os Os Os

Ul 00 to 00 Ul *4 04 sO

-» -» O OS

-» Os SO —» —» -4 -4 sO sO tO Ul

to 04 Ul sO to Ul 4» Cs

Os 4 tO OS O Os

>* W**>* Ul Os «-4 bJ 4» bJ Os tO -4 Os Ul Ul

SO

I —» I

>■*

1

1 —» SO —» IO

S*

Nnhänger

2

*I>* >*

Total

o =s

3

pi p p

2» p p

s

T rin

enthaltsam je

mehr als 10 Jahren

t

Gewesene

weniger als 1 Jahr

tO

o



haben

04 to

1

00 to

«g e»

tO

V. kirchlich« Vereine.

131

Ligue des femmes suisses contre l’alcoolisme; Schweizerischer Bund abstinenter Frauen; Schweizerische katholische Abstinentenliga; katholische Studentenliga; Section antialcoolique de l'Union chretienne; Sozialdemokratischer Abstinentenbund; „Helvetia", Abstinenten­ verbindung an den schweizerischen Mttelschulen; „Liberias", akademischer Abstinentenverein; Frauenverein für Mäßigkeit und Volkswohl in Zürich; Allianz-Abstinentenbund Schaffhausen und Rheineck und viele andere. Erwähnt werden mag auch noch der Bund abstinenter Pfarrer, welcher Januar 1910 251 Mitglieder zählte, d. h. 17 °/o der 1249 aktiven Pfarrer der Schweiz. Die Abstinenz hat unter den Pfarrern, wie es sich für geistliche Leiter des Volkes ziemt, rasch zugenommen. (Es waren unter 1000 Pfarrern im Jahre 1871...................... 1 abstinent 1890 ...................... 50 1894 107 1900 ....................... 218. -

6. Evangelische Gesellschaften. Der Schweizerische evangelisch-kirchliche Verein ist, wie früher be­ merkt,^ nicht nur eine kirchenpolitische (Organisation, sondern seine Zweig­ sektionen, die meist den Namen Evangelische Gesellschaft tragen, sind auch für Evangelisation, Krankenpflege und andere Werke der innern Mission tätig. Eine kurze Übersicht soll zeigen, in welcher weise das geschieht. Am besten organisiert ist die Evangelische Gesellschaft Zürich. Sie besitzt mehrere Kapellen, an denen vier landeskirchlich geprüfte Pfarrer wirken; in der Stadtmission sind fünf Arbeiter tätig; die Landmission mit mehreren Posten, z. B. ein Vereinshaus mit Pfarrwohnung in horgen; die kranken- und Diakonissenanstalt Neumünster; der Armen­ verein, der 1908 13 000 $r. an Arme verausgabte; drei Herbergen zur Heimat und ein christliches Hospiz; die Lesezirkel, die SonntagsLesesäle, die Jugendvereinigungen, zwei Buchhandlungen, die Bibelver­ breitung, das Monatsblatt „die Taube". Gegenwärtig ist die Gesell­ schaft im Begriff, mit einem Aufwand von 420 000 $t. ein großes Areal in Zürich zu überbauen mit Kapelle, Jünglingsvereinshaus, Schullokalen fürs freie Gymnasium samt Turnhalle, christlichem Hospiz usw; also ein Zentrum für alle möglichen christlichen Werke. Mitgliederzahl 730. Größere Ausbreitung als die Zürcher hat die Berner Evangelische Gesellschaft, die jedoch dem evangelisch-kirchlichen Verein nicht ange­ gliedert ist. Gegründet schon 1831 besitzt sie 1906 im kt. Bern 142 Predigtstationen, eine bedeutende Anzahl von Evangelisten und Kapellen

*) Siehe S. 81.

132

Stuckert, Uirchenkunde der reformierten Schweiz.

und großen Einfluß, von den Pfarrern wird sie verschieden beurteilt. Vie einen sehen in ihr ein Bollwerk gegen bas Vordringen außer­ kirchlicher Sekten und zählen ihre Anhänger zu den treusten Gliedern der Kirche, andere betrachten sie eher als eine Konkurrentin der Landeskirche, die an deren Auflösung arbeite und der modemen Un­ kirchlichkeit den Weg bereite. Oder man unterscheidet in ihr je nach der Gesinnung der Evangelisten eine gegen die Kirche friedliche und eine bösartige Strömung. Richtig ist, daß die Evangelisten da und dort der Kirche die Taufen, Kinderlehre und Unterweisung entziehen und in Konkurrenz zu den Bibelstunden der Pfarrer gleichzeitig eigene ansetzen, sowie auch eigene Abendmahlsfeiern veranstalten. (Es wirkt hier der Einfluß mancher auf der Thrischona ausgebildeten Evangelisten nach, die ihr methodistisch - darbqstisches Christentum für das richtige halten. Um von Chrischona weniger abhängig zu sein und wegen der Klagen der treusten und eifrigsten Geistlichen hat man seit 1906 eine eigene Evangelistenschule der Evangelischen Gesellschaft in Bern ins Leben gerufen, durch die man sich eine Besserung des verhältnisies ver­ spricht. Sowohl die Berner als die Zürcher und St. Galler Evangelische Gesellschaft haben zu Zeiten die Klippe der Trennung von der Landes­ kirche nur mit Mühe umschifft. 3n der Zürcher Evangelischen Gesell­ schaft ist die Stellung zur Landeskirche eine viel freundlichere. Nach dem Bericht von 1907/08 zählte die Evangelische Gesellschaft des Kt Bern etwas über 1000 Mitglieder, beschäftigte drei Pfarrer und 39 Evangelisten in Bern und 30 andern (Orten des Kantons und hatte ein Jahresbudget von rund 120 000 Fr. Der evangelisch - kirchliche verein der Stadt Bern unterhält drei Stadtmisstonare und einen Professor an der Hochschule, der in positivem Sinne wirkt. Die Sektion des Berner Jura unterhält ein Bibeldepot. Vie Kirchliche hilfsgesellschaft in Basel, wie sich die dortige Sektion nennt, hat eine Kapelle mit Pfarrer und läßt in drei Vereinshäusern sogenannte Parallelgottesdienste abhalten, nämlich alle vierzehn Tage, wenn an der Hauptkirche ein Reformpfarrer predigt. Vie Evangelische Gesellschaft von Schaffhausen treibt Stadtmission und beteiligt sich durch diese auch an der Arbeit des Blauen Kreuzes, besitzt eine Kranken- und Versorgungsanstalt Schönbühl, hat das evan­ gelische Vereinshaus und Hospiz zur Kronenhalle, unterhält Buchhand­ lung und Bibeldepot und läßt jeden Winter eine Reihe von biblischen Vorträgen abhalten; (ca. 73 Mitglieder). Vie Sektionen St. Gallen und Appenzell begnügen sich mit einer jährlichen Hauptversammlung mit Vortrag, der Veranstaltung von bib­ lischen Vorträgen und Gratis-Bibelverteilung an Neugetraute. Vie Sektion Graubünden ist in Verbindung mit der Minoritäts-

V. kirchliche Vereine.

133

gemeinde in Chur, unterhält ein Bibeldepot mit Leihbibliothek und hat kürzlich durch Anschluß der „Evangelischen innern Mission Davos" eine Vergrößerung erfahren. Dieses Werk umfaßt zwei Pfarrer mit wiche in Davos, Evangelisationsarbeit im Prättigau und vomleschg, Blau­ kreuzverein, Jünglings- und Jungfrauenverein, Familienabende usw. Der Evangelisch-Kirchliche Verein im Kargau läßt durch seinen Reiseprediger an zehn Orten Bibelstunden halten und sammelt beim Jahresfest seine Mitglieder. Die Sektion Waadt zeichnet sich durch besonders reges Missions­ interesse aus; sie richtet Vorträge und Misstonskurse ein und beabsichtigt gegenwärtig eine Kleine Missionsschule zu eröffnen, als Vorbereitungs­ anstalt für die letzten Kurse der Basler Misstonsanstalt. Das Organ der Sektion „Le Bulletin“ erscheint achtmal im Jahr und sammelte 1908 für verschiedene christliche Werke 26 000 $r. Die Sektion Genf endlich unterhält einen Pfarrer in der Stadt, hält Gottesdienste und Bibelstunden für Erwachsene, Kinderlehren für die Jugend, pflegt Seelsorge und Krankenbesuche. Die Einnahmen des Schweizerischen Gesamtvereins betrugen (1908) 3839 Fr., die Ausgaben ebensoviel; es sind darin die Beiträge an die Pastoration einiger freien Gemeinden und Kapellen die Haupt­ ausgabeposten.

7. Mrchenchöre. 3ur pflege des Kirchengesangs und Verschönerung des Gottes­ dienstes bestehen eine große Anzahl von Kirchenchören. 3n der Neuen­ burger Nationalkirche bestehen z. B. unter 47 Gemeinden 21 gemischte Kirchenchöre; im Kt. Bern (1902) unter ca. 211 Kirchgemeinden 43 Kirchenchöre, während 59 Pfarrer die Mithilfe der Ortsgesangvereine und Musikchöre dankbar erwähnen, wo keine besondern Kirchenchöre bestehen, pflegt oft der Männerchor, der gemischte Thor, die Musik­ gesellschaft usw. bei einem Festgottesdienst in der Kirche zu singen. Eine von der Berner Synode finanziell subventionierte „Sammlung religiöser Lieder für Männerchöre" war bei einer ersten Auflage von 4000 Exemplaren in kurzer Seit vergriffen. Seit 1896 besteht ein Schweizerischer Kirchengesangsbund, der die Vereinigung der deutsch-schweizerischen reformierten Kirchenchöre zu ge­ meinsamer Förderung ihrer Bestrebungen bezweckt. Diesem Swecke dienen: 1. ein Verbandsorgan „Der Evangelische Kirchenchor", welches neben Artikeln allgemein belehrenden Inhalts Mitteilungen aus den Vereinen, Programme für Gesangsgottesdienste (weihnachts-, passions-, Osterfeiern) bringt und den Mitgliedern unentgeltlich eingehändigt wird; 2. ein Liederheft als Musikbeilage; 3. die Abgeordnetenversammlung

134

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

zum Zweck geschäftlicher Traktanden und belehrender Vorträge, sowie gegenseitiger Aussprache; 4. Kirchengesangstage und Kurse; 5. eine Verbandskasse; 6. eine Zentralbibliothek, aus der die Verbandsvereine jederzeit Musikalien zur Ansicht beziehen können. Zur Abgeordneten­ versammlung kann jeder Thor zwei Mitglieder stellen; Chöre von über 50 Mitgliedern mehr. Die Abgeordnetenversammlung nimmt den Jahres­ bericht entgegen, wählt die Zentralkommission, die Rechnungsrevisoren und setzt den Jahresbeitrag fest (im Maximum 50 Rp. per Mitglied).

Die Zentralkommission wählt die Redaktion des Verbandsorgans und führt die Beschlüsse der Abgeordnetenversammlung aus. Alle paar Jahre findet ein Kirchengesangstag statt, an dem die Verbandsvereine sich beteiligen. Zuerst ist die Delegiertenversammlung, im Mittelpunkt steht ein Festgottesdienst mit predigt, Grgelspiel, Solo-, Chor- und Gemeindegesängen. 3n Verbindung damit wird etwa ein Vortrag gehalten oder eine Aufführung geistlicher Musik, oder wie 1904 in Bern ein viertägiger Instruktionskurs, wobei mehrere Vor­ träge stattfanden über Gesangliches und die Aufgabe der Kirchenchöre, ferner Orgelkonzert, gesellige Abende und Ausflug. Die meisten Kirchenchöre haben als Dirigenten einen Lehrer, Pfarrer oder Organisten. Alle werden von ihrer Kirchgemeinde finanziell unterstützt je nach Wohlwollen und Größe des Chors mit 40 — 1000 Fr. Die Chöre singen an den hohen Festtagen, etwa auch an einem ge­ wöhnlichen Sonntag; andere pflegen den Gesangsgottesdienst. Der Schweizerische Kirchengesangsbund umfaßt gegenwärtig (1909) 71 vereine, welche sich folgendermaßen auf die Kantone verteilen: Zürich 27, St. Gallen 11, Thurgau 9, Bern 11, Aargau 3, Solo­

thurn 3, Baselland 3, Waadt 1, Schaffhausen 1, Neuenburg 1, Grau­ bünden 1. Es versteht sich von selbst, daß noch viele andere Kirchen­ chöre existieren, die sich dem Bund noch nicht angeschloffen haben. Im Kt. Bern veranstaltet die Synode auch Grganistenkurse zur bessern Ausbildung der Organisten und Hebung des Kirchengesanges. Sie werden meist im Sommer mit einer Dauer von wenigstens zehn halb­ tagen abgehalten. Der Leiter des Kurses unterrichtet die Teilnehmer in der Theorie und Praxis des Grgelspiels, in der Kenntnis des Instruments, der Kirchenmusik überhaupt und. insbesondere der besten musikalischen Sammlungen zu den vor- und Nachspielen. Der Kursleiter wird von der Synode besoldet, die Teilnehmer von ihren Kirchgemeinden.

8. Freundinnen junger Mädchen und Freunde des jungen Mannes. Es gibt einen internationalen Verein der Freundinnen junger Mädchen. Zu ihm gehört der schweizerische Verein desselben Namens

V. kirchliche Vereine.

135

mit Sitz in Bern. Ihm unterstehen in verschiedenen Kantonen kantonale Sektionen. Zweck und Tätigkeit dieses Vereins sind: a) Beschützung junger Mädchen im In- und Auslande, welches

auch ihre Nationalität, ihre Religion und Beschäftigung sei, durch Empfehlungen, Erkundigungen, Hausbesuche, Husteilen der „Ratgeber", Hnbringen der Warnungsplakate usw. b) Gründung besonderer Anstalten zum Schutze junger Mädchen: Sonntagsvereinigungen, Bahnhofwerk, Herberge, Stellenvermittlungs- und unentgeltliches Erkundigungsbureau usw. c) hauswirtschaftliche und berufliche Ausbildung junger Mädchen.

Der verein besteht aus nationalen und lokalen Mitgliedern. Die Nationalmitglieder müssen Zeit, Geschick und Lust haben, sich an irgend­ einem Werk des Vereins tätig zu beteiligen. Sie sind verpflichtet, eines der Publikationsorgane des Vereins, „Aufgeschaut" oder „Bien public“,

zu halten, damit sie immer imstande sind, die Adressen aller der Damen mitzuteilen, die den jungen Mädchen an andern Orten Rat und Hilfe erteilen können. Die verschiedenen Kantonalsektionen haben alle ähnliche Aufgaben, z. B. das Bahnhofwerk. Agentinnen, kenntlich am Stern auf weißem Emailschild und rot und schwarz gestreifter weißer Schleife, nehmen sich alleinreisender junger Mädchen an. In den Bahnhofheimen werden Damen, Pensionärinnen, Stellensuchende usw. logiert. Auf dem Erkundigungs- und Stellenvermittlungsbureau des Vereins werden Gesuche von Herrschaften und Dienstboten ausgetauscht, Erkundigungen ein­ gezogen, Sprechstunden angesetzt, Stellen im Ausland vermittelt usw. Die Sonntagssäle dienen dazu, die jungen Mädchen am Sonntag fröhlich zu unterhalten (Weihnachtsfest). Den Konfirmandinnen der Schweiz wird durch die Hand ihrer Pfarrer der „Wegweiser" verteilt, der ihnen Ratschläge gibt für die Berufswahl. Da und dort besteht auch ein dem verein angegliedertes Stift, wo eine Anzahl Schülerinnen sich für Hauswirtschaft und dienenden Beruf ausbilden. Seit 1907 erscheint auch ein deutsch - schweizerisches Grgan des Vereins für junge Mädchen „Der Stern", in dem ihnen die Einrichtungen des Vereins zugunsten der einsamen, stellensuchenden, reisenden jungen Mädchen bekannt ge­ geben werden. Dem verein der Freundinnen entspricht der Schweizerische verein der Freunde des jungen Mannes. Die 1906 angenommenen Statuten sagen über Zweck und Grundsätze des Vereins folgendes: § 1. Der schweizerische verein der Freunde des jungen Mannes bezweckt, sich in christlicher Nächstenliebe mit Rat und Tat eines jeden jungen Mannes anzunehmen, der, fern vom Elternhause, gerne dem Freundeswort eines erfahrenen Mannes Gehör schenkt. Der verein

136

Stuckert, Nirchenkunde der reformierten Schweiz.

Kennt hierbei keinen Unterschied der Nationalität, der Konfession und des Berufes. Er hat seinen Sitz am Wohnorte des jeweiligen Zentral­ präsidenten. § 2. Vie „freunde" machen es sich zur Pflicht, in die Fremde ziehende junge Leute ihrer Umgebung in jeder Hinsicht zu beraten, fremden jungen Leuten am Wohnorte durch Wegleitung und Beratung an die Hand zu gehen und ihnen nach Möglichkeit Familienanschluß zu bieten oder zu verschaffen. 8 3. Der Verein stellt seinen Mitgliedern ein gedrucktes Verzeichnis sämtlicher Vereinsmitglieder zur Verfügung. Er sieht weitere Publika­ tionen, wie z. V. die Herausgabe eines Schriftchens, betitelt „Freundes­ worte" zur unentgeltlichen Abgabe an die jungen Leute, vor. Die Organe des Vereins sind die einzelnen Sektionen, die Dele­ giertenkonferenz und der Zentralvorstand. Vie höhe des jährlichen Beitrages wird von den Sektionen bestimmt. Diese haben für jedes ihrer Mitglieder jährlich 2 Fr. an die Generalkaffe abzuliefern. Seitdem sind die „Freundesworte" erschienen und werden unent­ geltlich abgegeben. Der Inhalt zerfällt in die Abschnitte: Sonntag, Gesellschaft und Verein, Verdienst und Sparen, Vergnügen und Alkohol (reines Leben), Feierabende, Schlußwort (Hinweis auf Ehristus und Gott). Die Gefahren der in die Fremde gezogenen jungen Männer sind mannigfaltig, die bewahrende Sitte verliert ihre Macht, neue Versuchungen, das Wirtshausleben, schlimme Nameradschaft locken. Vie „Freunde" versuchen, ohne dem natürlichen Freiheitsdrang der Jugend nahezutreten, die jungen Männer zu bewahren und zu leiten.

9. randeskirchliche Stellenvermittlung. Seit einigen Jahren besteht im Nt. Bern in fünf Sektionen ein­ geteilt eine landeskirchliche Stellenvermittlung. Ihr Zweck besteht darin, Eltern, Pfarrämtern und Gemeindebehörden in der richtigen Plazierung der aus der Schule entlassenen Rinder behilflich zu sein, die in der Fremde weilenden Söhne und Töchter mit Heimat und Landeskirche in Fühlung zu erhalten und vor leiblicher und sittlicher Gefährdung be­ wahren zu helfen. Die Auslagen werden durch die ordentlichen Beiträge der Nirchgemeinden, durch freiwillige Geschenke sowie Subvention der Regierung und der Synode bestritten. Die Hauptarbeit haben die ein bis zwei Stellenvermittler jeder Sektion, welche immer Pfarrer sind. Sie verschaffen sich von auswärtigen Pfarrämtern oder geeigneten Privatpersonen Adressen empfehlenswerter Plätze und Lehrmeister und teilen solche den Eltern, Pfarrämtern und Behörden mit. wenn es notwendig erscheint, besichtigt der Vermittler die angemeldeten Platze

V. Kirchliche Vereine.

137

an Grt und Stelle. Er besucht in der Regel einmal jährlich die pla­ zierten Rinder, besonders zu dem Zweck, um sie vor allfälliger ver­ tragswidriger Behandlung zu schützen oder zu treuer Pflichterfüllung anzuhalten und davon Eltern, Pfarrämtern und Behörden Bericht zu geben. Um Streitigkeiten zu schlichten oder sonstige Ungehörigkeiten zu untersuchen und, wo möglich, zu beseitigen, ist er zu außerordent­ lichen Besuchen befugt. Er führt ein übersichtliches Verzeichnis der Plätze und der plazierten Rinder, ein Tagebuch über seine Besuche und Erfahrungen, ein Rechnungsheft und erstattet der Velegiertenversammlung alljährlich Bericht über seine Tätigkeit. Die Plazierung erfolgt auf Grundlage eines schriftlichen Vertrags. Jährlich findet eine Vermittler­ konferenz statt, auch werden mit den Stellenvermittlern des Waadtlandes Besprechungen veranstaltet. Diese landeskirchliche Stellenvermittlung hat sich als sehr wohltätig erwiesen. Unzähligen Rnaben und Mädchen wird auf diese Weise zu einer pasienden Stelle, sei es als Lehrling oder bei Bauern, oder als Haus- und Gartenbursche in Pensionen oder als Ausläufer in Magazinen verhalfen. Die Mädchen werden meist in Haushaltungen als Dienst­ boten, Volontärinnen oder in Pensionen versorgt. Größere Anforder­ ungen an die Findigkeit des Vermittlers stellte eine junge Wienerin, die von einem Rittergut in den Pyrenäen aus eine Anstellung als Turnlehrerin in prioatfamilie suchte, und eine dralle Maid, die sich um eine Stelle als Säugamme bewarb! Fürs Jahr 1907/08 zeigt folgende Tabelle den Erfolg der Stellen­ vermittlung: Sektion

angemeldet

plaziert

Seeland Burgdorf (Oberland Bern-Land Gberaargau

321 145 161 100 141

183 115 116 61 109

57 79,3 72 61 77,3

868

584

67,3

zusammen

%

Es gab in diesem Jahr sieben Stellenvermittler, indem in zwei Sektionen sich einer für die Rnaben und einer für die Mädchen in die Arbeit teilten. In der übrigen Schweiz ist der Wert der landeskirchlichen Stellen­ vermittlung ebenfalls erkannt worden, auch im Rt. Zürich und im Waadtland hat man mit dieser Arbeit begonnen. 3n der ganzen Schweiz bestehen 1908 17 Vermittlungsstellen für Minderjährige.

138

Stuckert, llirchenkmnde der reformierten Schweiz.

VI. Hnöere religiöse Gemeinschaften. 1. Dle Katholische Nirche. Nächst der reformierten Kirche ist die römisch-katholische Kirche weitaus die bedeutendste religiöse Gemeinschaft der Schweiz. Nach der letzten Volkszählung (Dezember 1900) gibt es 1918197 Evangelische und 1 383135 Katholiken in der Schweiz. Seit 1888 haben sich die Evangelischen um 201 649, die Katholiken um 199 307 vermehrt. Seit 1850 betrug die Zunahme der Protestanten 35%, die der Katholiken 42%. heute kommen auf 1000 Einwohner 576 Evangelische und 416 Katholiken. Die Zahl der Evangelischen in den katholischen Orten ist bedeutend gestiegen, die der Katholiken in den großen evangelischen Städten verhältnismäßig noch mehr. Dieser Wechsel ist nicht durch zahl­ reiche Übertritte zum Katholizismus bedingt. Vie in dieser Hinsicht gemachten Anstrengungen sind fast erfolglos. Ebensowenig ist er der größeren Fruchtbarkeit der katholischen Bevölkerung zuzuschreiben. Er kommt fast allein von der Einwanderung aus dem Ausland. Frank­ reich, Italien, Österreich, Bayern, fast ganz katholische Länder umgeben die Schweiz, und ihre Bewohner benützen die Liberalität der Schweiz, um hier eine leichtere Existenz zu suchen. Vas ist eine indirekte An­ erkennung, welche der evangelischen Zivilisation gezollt wird; aber zu­ gleich eine drohende Gefahr für unsere Sitten und Anschauungen, wenn wir nicht imstande sind, diese Einwanderer möglichst bald in unser Volks­ leben einzugliedern. Die konfessionelle NNschung ist (1900) so weit ge­ diehen, daß es in zehn von 24 Kantonen keine einzige Gemeinde gibt, in der ausschließlich Reformierte oder Katholiken wohnen. 3m übrigen Gebiet gibt es nur noch 143 Gemeinden ohne Katholiken und 363 Ge­ meinden ohne Reformierte. Schon durch die Bundesverfassung ist manchem unliebsamen Streit zwischen den Konfessionen ein Riegel vorgeschoben. Die Bundesverfassung sagt z.B. Art. 52: „Die Errichtung neuer und die Wiederherstellung auf­ gehobener Klöster oder religiöser Orden ist unzulässig." Ferner verbietet die Bundesverfassung jede Niederlassung und das öffentliche Auftreten von Jesuiten. Begräbnisskandale sind selten, da das Gesetz eine würdige

VI. Andere religiöse Gemeinschaften.

139

Beerdigung jedes Einwohners verlangt. Der Bundesverfassung hat man es wohl zu verdanken, daß das Verhältnis der Konfessionen seit dem Sonderbundskrieg im ganzen ein ruhiges und friedliches ist. Vie katholische Kirdje der Schweiz hat von jeher Rom gegenüber eine freie Stellung eingenommen. Schon vor der Reformation führte die Tagsatzung gegen die Kurte eine kecke Sprache. AIs der Papst die Entsendung von 1200 Söldnern bei der Tagsatzung verlangte, antwortete sie ihm, man wolle 1000 Söldner schicken, und wenn es ihm nicht ge­ nüge, sei man bereit, zur Vervollständigung noch 200 Pfaffen mitzu­ senden. Vie Auswüchse des Ultramontanismus und krassen Aberglaubens werden von den Bischöfen selbst niedergehalten. Über Pilgerfahrten nach Rom schrieb 1908 der römische Korrespondent der katholischen „Schweize­ rischen Kirchenzeitung": „was die Pilger oft um den geistigen Vorteil bringt, ist so manches Anstößige, was sie in Rom sehen, woran sich viele weniger gereiste Gläubige in Rom, wohin sie mit so hohen Be­ griffen kommen, vorab stoßen, ist die religiöse Indolenz und Gleichgültig­ keit der Einheimischen, mangelhafter Gotteshausbesuch an Sonn- und Festtagen, Mangel der predigt, Sonntagsentheiligung durch allgemeine Arbeit, das nach unsern Begriffen etwas allzu freie Benehmen südlän­ discher Geistlicher und Grdensleute auf der Straße, mehr noch an heiliger Stätte, vorab am Altar, alles Dinge, die der Erbauung und der Stärkung des Glaubensbewutztseins frommer Pilger wenig zuträglich sind. Ich schlage den wert und geistigen Gewinn der Romfahrten für die meisten Teilnehmer sehr gering, den oftmals daraus resultierenden Schaden sehr bedeutend an." Das Recht der Gemeinde, ihren Pfarrer zu wählen, üben auch manche katholischen Gemeinden, trotz allem kanonischen Recht; und wenn ein Priester gar zu sehr wühlt, kann es ihm widerfahren, daß ihm seine liberalen katholischen Wähler den Laufpaß geben. Das neuen» burgische Kirchengesetz von 1873 bestimmt z. B. Art. 21 das Recht der katholischen Kirchgemeinden ihren Pfarrer zu wählen aus einem Dreier­ vorschlag des Bischofs, gegen den der Staatsrat nichts einzuwenden hat. Vie kirchlichen Mittel werden von der katholischen Kirche aufge­ bracht aus Stiftungen und Kirchengütern, aus Leistungen der Kantone und Gemeinden, sowie aus freiwilligen Gaben und Steuern. An den wenigen vorwiegend protestantischen Grten, wo kirchliche Bedürfniffe der protestantischen Kirche aus allgemeinen Staatssteuern gedeckt werden, beklagen sich die Katholiken über die Ungerechtigkeit, daß sie beitragen muffen zum Unterhalt des protestantischen Kultus. Sie beachten es aber nicht, daß in katholischen Kantonen, vorab im Kt. Schwyz, die Pro­ testanten genötigt werden, an die Kultusbedürfniffe der katholischen Kirche Steuern zu zahlen. Nur zwei Gemeinden leisten in Anerkennung

140

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

dieser Ungerechtigkeit einen freiwilligen Beitrag an die protestantische Genossenschaft ihrer Grtschast; der Beitrag erreicht aber nicht die höhe des Betreffnisses, das von den Protestanten an die Katholischen Kirchenbedürfnisse entrichtet wird, stn allen andern Grten findet kein Ent­

gegenkommen statt. 3n der Schweiz bestehen sechs Bistümer: Basel, Chur, Lausanne, Lugano, St. Gallen und Sitten, dazu die bischöfliche Abtei St. Maurice. Vie Bischöfe und der im Bischofsrang stehende Kbt von St. Maurice versammeln sich zur Beratung ihrer viözesanangelegenheiten jährlich zu einer Synode. 3ur Heranbildung der katholischen Geistlichen in der Schweiz be­ stehen Priesterseminarien in Luzern, Chur, Sitten, Freiburg, Lugano, pollegio und St. Gallen. Außerdem hat jede schweizerische Diözese das Anrecht auf zwei Freiplätze am germanischen Kollegium in Rom, dessen Lehrplan sechs Jahreskurse umfaßt. Auch in Mailand bestehen für die Katholiken der 15 alten Grte Stipendien und Freiplätze, die vom h. Karl Borromäus gestiftet worden sind. Dem Bistum Sitten stehen ferner an der Universität Innsbruck zehn Freiplätze zur Verfügung. Klosterschulen bestehen in Einsiedeln, Schwyz, Freiburg, Sarnen, Sitten, St. Maurice, Brig, Höfels, Altorf, pollegio, Roveredo, Balerna, Glivone, Bellinzona, Ascona, 3ug, visentis. Der katholische Klerus der Schweiz zählt gegenwärtig 2215 Welt« geistliche und 949 Konventualen oder Grdensgeistliche. Katholische Pfarreien bestehen 1308. Im Durchschnitt zahlt man in der Schweiz einen Pastorationsgeistlichen auf 623 Katholiken. Maximum Basel mit einem Geistlichen auf 1549 und Minimum Graubünden mit einem Geistlichen auf 268 Katholiken. Es bestehen in der Schweiz 44 Männerklöster, die sich auf die fünf Grden der Benediktiner, Augustiner, Karthäuser, Franziskaner und Kapuziner verteilen. Frauenklöster bestehen von den Klarissinnen (2), Schwestern vom dritten reformierten Grden des h. Franziskus (16), Benediktinerinnen (8), Augustinerinnen (2), Zisterzienserinnen (7), prämonstratenserinnen (1), Dominikanerinnen (5), visitandinerinnen (2), Ursulinerinnen (3), ferner Grden der h. Martha als Spitalschwestern und Schwestern vom h. Kreuz ebenfalls in Krankenhäusern, Grden der Menzingerschwestern. Neben eigentlichen klösterlichen Gemeinschaften gibt es in der Schweiz noch verschiedene Kongregationen, die sich mit der Fürsorge für Waisen und Kranke befafien, sowie dem Schuldienst widmen. Sie haben sich in allen Teilen der Schweiz niedergelassen und sind meist nicht von einer ftemden Kongregation abhängig. Inbezug auf das gegenseitige Verhältnis der Konfessionen dürfte von Interesse sein das Gebiet der gemischten Ehen. Nach Mitteilungen des Schweizerischen Statistischen Bureaus bestanden 1900 gemischte Ehen:

VI. Andere religiöse Gemeinschaften. Mann protestantisch, Frau katholisch Mann katholisch, Frau protestantisch

141

21 390 Ehen 24 081 „

Nach Kantonen geordnet waren im Jahre 1900 von je 100 Ehepaaren konfessionell gemischt Baselstadt 23, Genf 17, Solothurn 16, Zürich 15, Thurgau 12, St. Gallen 11, Glarus 11, Baselland 11, Schaffhausen 10, Neuenburg 10, Appenzell fl. H. 8, flargau 8, Waadt 7, Graubünden 7, Zug 6, Luzern 6, Bern 5, Appenzell 3. H. 4, Schwyz 3, Uri 3, Frei­ burg 2, Nidwalden 2, Tessin 2, Wallis 1, Gbwalden 1. Schweizerischer Durchschnitt 9. Die Zahl der gemischten Chen hat rasch zugenommen, obwohl sie gegenüber der Gesamtzahl der Ehen immer noch stark in der Minderheit bleibt. Es ist dies dem modernen Verkehrsleben zuzu­ schreiben, welches die Bevölkerung durcheinander mischt. Vie gemischten Ehen sind häufiger dort anzutreffen, wo die Mehrheit der Einwohner protestantisch, als da, wo diese Mehrheit katholisch ist. Über die Konfession der Kinder in den gemischten Ehen besteht keine schweizerische Statistik. Bekannt ist, daß die katholische Kirche vor der Trauung einer Mischehe die Unterzeichnung eines Reverses verlangt, worin versprochen wird, die zu erwartenden Kinder in der katholischen Religion zu erziehen. Außerdem wendet die katholische Kirche in Beichte usw. noch andere Mittel an, um einen Druck in dieser Hinsicht auszuüben. Vie protestantische Kirche verwirft sowohl jenen Revers wie andere Mittel. Über zwei lokal begrenzte Gebiete hat das Schweizerische Statistische Bureau eine Statistik im Jahre 1900 ausge­ nommen: Baselstadt und St. Gallen. Die Ergebnisse sind folgende: 3n Baselstadt bestanden 2854 Mischehen,

bei bei bei

1992Mischehen wurden die Kinder alle protestantisch, 753 „ „ „ „ alle katholisch, 102 „ „ „ „ zum Teil prot. und zum Teil kathol.

Es resultiert, daß in der großen Mehrzahl der Fälle die Kinder pro­ testantisch erzogen werden, auch wenn der Vater katholisch ist. 3n Basel beeinflußt das Vorhandensein einer protestantischen Majorität die Entscheidung über die Konfession der Kinder. Das zeigt die Tatsache, daß die Kinder in 70 von 100 Fällen der Mischehen zwischen katho­ lischen Männern mit protestantischen Frauen einerseits und protestan­ tischen Männern mit katholischen Frauen andrerseits alle Protestanten sind, und nur in 26,4 Fällen katholisch. 3n 3,6 °/o der Fälle folgt

ein Teil der Vaters und Anders Ehepaaren,

auf 3973.

Kinder aus ein und derselben Familie der Konfession des der andere Teil der Konfession der Mutter. in St. Gallen, Tablat und Goffau. Bei 1524 gemischten welche Kinder haben, belief sich die Zahl aller Kinder

Stuckert, Kirchenkund« der reformierten Schweiz.

142

(Es folgten der Konfession

des der des der

prot. Vaters.... kathol. Mutter. . . kathol. Vaters . . . prot. Mutter....

Zahl der Ehen mit Kindern gleicher ungleicher Konfession Konfession 548) 145/ 533) 269/

Zahl der Kinder

1455 385 1459 674

14 15

hier folgten also in mehr als 2/s aller Fälle die Rinder der Kon­

fession des Vaters, sei er nun Protestant oder Katholik. Hus einem paritätischen Kanton wird mitgeteilt, daß auf diesem Gebiet auch viel Wechsel stattfindet. Kinder, welche protestantisch ge­ tauft worden sind, werden katholisch erzogen und umgekehrt, besonders wenn einer der Ehegatten wegstirbt. Bezüglich der Geburtenhäufigkeit in den beiden Konfessionen stellt eine Eidgenössische Statistik 1871 —1890 folgendes fest:

Landwirtschaftliche „ Gewerbliche „ Beruflich gemischte ft ff

prot. Bezirke kath. prot. „ kath. prot. „ kath. ff

Häufigkeit der Verheiratung

Eheliche Fruchtbarkeit

508 417 456 454 495 433

248 279 233 250 256 259

hieraus resultiert, daß bei gleichen beruflichen Verhältnissen die protestantischen Frauen immer die größere Häufigkeit der Verheiratung, dagegen die verheirateten katholischen Frauen immer die größere ehe­ liche Fruchtbarkeit aufweisen. Der erste Umstand wird erklärt aus dem katholischen Preis der Ehelosigkeit, der zweite aus der katholischen Sittenlehre, wonach vorbeugende Verhinderung der natürlichen Folgen des ehelichen Verkehrs eine schwere Sünde ist. Für die Geburten­ häufigkeit wirken diese beiden Einflüße einander offenbar entgegen; der erste hemmend, der zweite fördernd; so daß für den größten Teil sowohl der protestantischen als katholischen Bevölkerung gleichmäßige Ergebniffe zustande kommen. Mit Hilfe der Kriminalstatistik hat man in manchen Gegenden eine Minderwertigkeit der katholischen Moral konstatieren wollen. Die schweizerische Statistik zeigt an Inhaftierten in den Jahren 1892 bis 1896:

VL Andere religiöse Gemeinschaften.

protestantisch . . . Katholisch .... Israelitisch ....

145

Wohn­ bevölkerung

o/o

Absolute Zahlen

°/o

Jahresdurch­ schnitt auf 10000 Einwohner

I 716 548 1 183 828 8 069

58,8 40,6 0,3

8632 5576 40

60,5 39,1 0,3

10,1 9.4 9,9

Vie Gefängnisstatistik von 1893 zeigt

Protestantisch Katholisch

Sträflinge

°/o

1596 Männer 323 Weiber 1021 „ 192 „

61 39

Bei der großen Annäherung der Verhältniszahlen kann in der Schweiz diese Statistik nicht als Grundlage irgend einer Schlußfolgerung dienen.

2. LhristkachoNsche Nirche. Die christkatholische Kirche entsprang der Protestbewegung gegen die vatikanischen Dekrete von der Unfehlbarkeit des Papstes 1870. 3m 3unt 1875 genehmigte die erste christkatholische Nationalsynode in (Olten einen Verfassungsentwurf. 1876 wurde als Bischof gewählt Eduard Herzog, Pfarrer und Professor an der katholisch-theologischen Fakultät in Bern. Die katholisch-theologische Fakultät in Bern wurde durch Dekret des Großen Rats 1874 errichtet. Vie Zahl der Dozenten beträgt fünf, hier erhalten die christkatholischen Geistlichen ihre wissen­ schaftliche Ausbildung. Vie christkatholische Kirche beschränkt sich nicht darauf, die Lehren des vatikanischen Konzils zurückzuweisen, sondern sie hat im kirchlichen Leben, im Kultus und in der Verfassung eine Reihe von Reformen eingeführt, ohne dem Wesen des Katholizismus untreu zu werden, z. B. Einführung der Landessprache und des Gemeindegesanges, Feier des Abendmahls (Messe) im Mittelpunkt des Gottesdienstes, Aufhebung der Verpflichtung zur (Ohrenbeichte und zum Zölibat. (Oberstes und ent­ scheidendes (Organ der Kirche ist die Nationalsynode. Sie stellt die allgemeinen Grundsätze über Kultus und Disziplin der Kirche auf, wählt den Bischof und den Synodalrat und prüft Bericht und Iahresrechnung des letzteren. Der Synodalrat ist vorbereitende, vollziehende und ver­ waltende Behörde und besteht aus fünf Laien und vier Geistlichen, mit Einschluß des Bischofs. Vas christkatholische Bistum hat durch Bundesrat und Kantons­ regierungen formell die staatliche Anerkennung erhalten.

144

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Die Seelenzahl der Ehristkatholiken beträgt 32 — 34 OOO. Den Religionsunterricht besuchen 4772 Rinder. Vas Verzeichnis des Klerus zählt 56 Namen; im aktiven Rirchendienst stehen 47 Geistliche.

In den Rantonen Basel und Neuenburg werden sämtliche Kultus» kosten aus der Staatskasse bestritten, in einigen aargauischen Gemeinden aus dem Erträgnis des Pfründvermögens. 3n andern Gemeinden, wo kein oder nur ein kleines Rirchengut vorhanden ist, werden Steuern erhoben oder freiwillige Beiträge eingesammelt. Die finanziellen Leistungen für Rultuszwecke betrugen 1904 in 26 Gemeinden rund 60 000 Fr. stn die Synodalratskasse wurden 11 603 Fr. abgeliefert. Rus dieser Rasse werden die allgemeinen Auslagen der Kirche, Sub­ ventionen an einzelne Gemeinden und für die Pastoration der Diaspora, sowie ein jährlicher Beitrag von 4000 Fr. an die katholisch-theologische Fakultät in Bern bezahlt. Der Synodalrat verwaltet einen Stammgut­ fonds von 40 853 Fr., einen Stipendienfonds von 52 400 Fr., der Bischofsfonds beträgt 16344 Fr. und das Kapital der Hilfskasse der Geistlichen 24 800 Fr. Ein Fakultätsfonds von 115 000 Fr. stellt die Fakultät in Bern finanziell sicher. Der Ausübung der christlichen Nächstenliebe widmen sich Frauenund Hilfsvereine, sowie Organisationen der Gemeindekrankenpflege. Im Jahr 1904 brachten 22 Frauen- und Hilfsvereine für wohltätige Zwecke 22161 Fr. auf. Kirchenchöre (in der deutschen Schweiz 22 mit 1446 Mitgliedern) machen sich die Verschönerung des Gottesdienstes zur Aufgabe. Die Jungmannschast wird durch die Vereine junger Lhristkatholiken gesammelt, die sich zu einem verband mit 18 Sektionen und 1183 Mitgliedern zusammengetan haben.

Pretzorgane der LhristKatholiKen sind der „Katholik" für die deutsche, der „Catholique national“ für die welsche Schweiz. Die Synode hat folgende amtliche Bücher herausgegeben: Die Metzliturgie; Lhristkatholisches Ritual; Gebetbuch der christkatholischen Kirche; Gesang­ buch der christkatholischen Kirche; Lhristkatholischer Katechismus.

5. Russisch - orthodoxe Rirche. In der Schweiz bestehen zwei russische Kirchen, in Genf und in Vevey. Sie werden von einem Erzpriester und einem psalmisten ver­ sehen, die ihren Wohnsitz in Genf haben und dort regelmätzig Gottes­ dienst halten; ein- oder zweimal im Monat halten sie ihn in Vevey. Wie alle russischen Kirchen im Ausland stehen sie unter dem Metro­ politen von St. Petersburg und dem russischen Ministerium des Aus­ wärtigen. Die Zahl der Mitglieder der russisch-orthodoxen Kirche der

VL Andere religiös« Gemeinschaften.

145

Schweiz schwankt von 60 bis 200. Vas Budget beider Kirchen beträgt mit Inbegriff der Besoldungen 16000 $r.

4. Anglikanische ltirche. Vie anglikanische Kirche1 besitzt in der Schweiz 19 ständige Sta­

tionen, zu denen sich in Sommerfrischen, Bädern usw. noch Saisonstellen gesellen. Zaft alle haben ihre besondere Kirche oder Kapelle und werden von Kaplänen mit festem Wohnsitz oder von Geistlichen bedient, die während des Sommers wechseln. Eigentliche Kirchgemeinden, die ihre Auslagen von sich aus bestreiten, bestehen bloß drei. Die andern sind von englischen Gesellschaften abhängig. Alle Stationen stehen unter der geistlichen Hoheit der Bischofs von London.

s. Schottische presbqterianerkirche. Vie schottische presbqterianerkirche ist nur durch zwei Kongre­ gationen vertreten, die in Lausanne und Montreux eine Kapelle besitzen.

6. Lutherische ttirche. Vie lutherische Kirche zählt in der Schweiz einen Pfarrer und etwa 300 Seelen, davon etwa 200 in Zürich und 50 in Basel. Der lutherische Iünglingsverein „zum guten Hirten" hat vier Mitglieder,

r. Brüdergemeinde? Durch mehrfache Besuche Zinzendorfs in der Schweiz entstanden hier Brüderkreise, die nicht wie in Deutschland aus der Nirche gedrängt, vielmehr innerhalb der Landeskirche religiöse Vereine (Sozietäten) bil­

deten. Dabei handelt es sich um einen freien Dienst, den die Sozietäten der Landeskirche leisten, durch den sie im Gegensatz zu offen oder ver­ steckt nutzer- und antikirchlichen Bestrebungen die, welche das Bedürfnis nach engerer Gemeinschaft haben, in der Landeskirche halten, in der sie ein Salz sein sollen. (Es bestehen in der Schweiz sechs Sozietäten und eine Anzahl kleinerer Brüdergemeinschaften. von brüderischer Literatur sind in der deutschen Schweiz verbreitet: Die Losungen, das Missionsblatt und Uindermissionsblatt, die Mittei­ lungen aus der Brüdergemeine, das Sonntagsblatt Bethania, das Herrn­ hut, die böhmisch-mährischen Blätter, Zeitschrift für Brüdergeschichte und *) vgl. h. Brunner: Die Schweiz. Bibliothek des geographischen Lexikons. Neuenburg 1909. 2) Nach Mitteilungen des Predigers der Zürcher Sozietät, Herrn E. Renkewitz. Stuckert, Uirchenkunde der ref. Schweiz. 10

146

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

„Religion und Geisteskultur". In der französischen Schweiz die fran­ zösischen Losungen, feuille du Sou missionaire, Journal de l’Unite des freres, L’Union, Journal de l’institution morave du Chateau de Prangins.

8. Ehrischona. stuf der Grenze zwischen innerkirchlich und außerkirchlich steht die Ehrischonagemeinschaft. Spittler, ein Mitbegründer der Baslermission, war Enthusiast und Gegner der theologischen Bildung, die man in ihr den Zöglingen gab. Er gründete daher im Gegensatz zur Baslermission 1840 die Pilgermission auf Ehrischona, die sich zu einer Anstalt zur Ausbildung von Arbeitern für die innere Mission entwickelte und ihren Zöglingen nur ein Minimum von theologischer Bildung vermittelt. Manche der dort ausgebildeten Zöglinge treten in den Dienst der innern Mission in Deutschland und der Schweiz, z. V. der Stadtmissionsgesell­ schaften, der Evangelischen Gesellschaften usw. Doch gibt es auch eine ziemliche Zahl, die in Verbindung mit der Anstalt Ehrischona selbständige Evangelisten werden und so besondere Gemeinschaften bilden, deren Stel­ lung zur Landeskirche unklar ist. Es scheint hierin viel vom einzelnen Evangelisten abzuhängen; einzelne und wohl die Mehrzahl nehmen eher eine kirchenfeindliche Stellung ein, haben besonderes Abendmahl und eigenen Konfirmandenunterricht und lassen sich auch in Gemeinden nieder, wo anerkannt „gläubige" Pfarrer wirken; andere suchen ein freund­ liches Verhältnis zur Landeskirche zu gewinnen und mit ihrer Gemein­ schaft als ein Salz in der Kirche zu wirken. Die Grundsätze der Ehrischona für die Evangelisationsarbeit ihrer Evangelisten lassen beiderlei Stellung zu, indem sie überhaupt die Stellung zur Landeskirche nicht berühren. Sie lauten: Die als Evangelisten ausgesandten Brüder haben ihre Aufgabe in folgenden Stücken zu erfüllen: 1. Sie verkündigen, wo der Herr ihnen Türen öffnet, das Evan­ gelium des Heils in Christo, wobei sie hauptsächlich die Fernstehenden zu erreichen suchen, um sie in Lebensgemeinschaft mit Jesu zu bringen. 2. Sie pflegen und fördern die durch Gottes Segen entstandenen Gemeinschaften und suchen sie zu erbauen in der heilsamen Lehre (1 - Tim. 6,3. 5) nach dem Inhalt der ganzen heiligen Schrift und dem

Bekenntnis der wahren Kirche aller Zeiten (stpg. 2, 42). 3. Sie befleißigen sich auch der Unterweisung der Einzelnen, der Erwachsenen und der Kinder bei allen Gelegenheiten, ohne sich dabei auf eine verwerfliche Art aufzudrängen. 4. Sie besuchen Gesunde und Kranke, namentlich in abgelegenen Häusern und Gegenden, und nehmen sich nach dem vorbilde ihres

VL Andere religiöse Gemeinschaften.

147

Meisters der verkommenen, Unwissenden und Elenden besonders an, eingedenk des Wortes: Den Armen wird das Evangelium gepredigt. (Matth. 11, 5). 5. Sie verbreiten heilige Schriften und Traktate, was unter Um­ ständen als Einführung in die Häuser und Anknüpfungsmittel für Gespräche dienen kann, und leiten die Leute auch an zum Lesen des Wortes Gottes und gediegener Schriften. Sie empfehlen Hausandacht und Tischgebet. 6. Vie Pilgermission steht auf dem biblischen Allianzboden und erstrebt und pflegt die Gemeinschaft mit allen Gliedern der Gottes­ familie (Joh.17, 21-23).

In der Schweiz bestehen 27 Stationen der Thrischona, von denen aus meist noch eine Anzahl Nebenstationen bedient werden. Am zahl­ reichsten im Kt. Zürich und Aargau. 3m Ausland d. h. Deutschland 23, Gsterreich 1. An den meisten Orten besitzt die Thrischona selbst eine Kapelle oder Vereinshaus, manchmal sind auch Privatpersonen oder Gesellschaften deren Besitzer. 61 dieser Gebäude gehören der Thrischona selbst. Auch auf 25 Nebenstationen sind Vereinshäuser oder Säle erstellt worden. An 13 Orten ist die Pilgermission noch nicht die Besitzerin der Gebäude. vonseiten der Pfarrer wird die Arbeit der Thrischona ebenso ver­ schieden beurteilt wie diejenige der Evangelischen Gesellschaft im Kt. Bern. Vie Leitung der Pilgermisston betont wohl, daß die Arbeit nicht im Gegensatz zur Landeskirche oder zu irgendeiner bestehenden christlichen Gemeinschaft geschehen soll. Und so stehen die Thrischonagemeinschaften an einigen Orten in freundlichem Verhältnis zur Kirche. Doch sind die Klagen häufiger. Ein Zürcher Bericht sagt von einer Gemeinde: „Man lebte im Frieden, da kam ein junger propagandalustiger Thrischonaprediger und lehrte die Leute über Kirche und Pfarrer absprechen." Ein Aargauer Bericht bringt nur Klagen: „Die Thrischona arbeitet unter der Maske der Kirchenfreundlichkeit zielbewußt an der Ausbreitung ihrer eigenen Macht und Herrlichkeit." „Vie Thrischona hat Glieder unserer Gemeinde gewonnen mit List, indem den Leuten zuerst erklärt wurde: wir wollen euch nicht von der Landeskirche entfremden; aber nach einigen Jahren wurde die Landeskirche als ungläubige Welt ver­ dammt. Die Direktion der Thrischona bringt ihre Sendlinge in furcht­ baren Konflikt mit der Wahrhaftigkeit." „Die Stellung zur Kirche ist unaufrichtig." Trotzdem sollten sich die Pfarrer nicht erbittern lassen. Die Stellung der Thrischona kann sich auch wieder ändern, und mit Recht heißt es in dem letztgenannten Bericht: „Der Grundsatz einer nicht nur auf dem Papier stehenden, sondern auch wirklich geübten Toleranz ist für den Pfarrer das beste Auskunftsmittel."

148

Stuckert, Uirchenkunde der reformierten Schweiz.

Nichüandeskirchliche Gemeinschaften. Die bedeutendste nichtlandeskirchliche Gemeinschaft sind wohl die Methodisten, welche in die bischöfliche Methodistenkirche und die Evan­ gelische Gemeinschaft zerfallen. Die bischöflichen Methodisten, zuerst 1816 beim Revell in Genf aufgetaucht, haben seit 1856 auch in

Lausanne, Zürich und andern Rantonen Eingang gefunden. Sie haben ein Predigerseminar in Frankfurt, ein Verlagshaus und eine Diakonissen­ anstalt in Zürich. Die Evangelische Gemeinschaft, nach ihrem Stifter Jak. Albrecht, f 1808 in Pennsqlvanien, auch Albrechtsbrüder genannt, arbeiten am liebsten an den religiös lebendigen Christen, fischen im Fischkasten, haben schlichte vibelbetrachtungen, trefflich geleitete Sonntags­ schulen und gehen den Erwachsenen unermüdlich nach. Ihr (Organ für Deutschland und Schweiz ist der „Botschafter". Die Statistik beider Zweige der Methodisten von 1905 zeigt: Arbeitsfelder Rapellen Gemeinschaften Prediger Aktivglieder

Bischöfliche 44 257 52 9114

Mbrechtrbrüder 28 101 41 5420

zusammen 72 257 101 93 14534

Ziemlich verbreitet, besonders in der welschen Schweiz, sind auch die Darbysten, auch Plqmouthbrüder genannt, deren 1000 gerechnet werden. Sie lehnen die Rirche und die Wissenschaft, selbst Musik und Kunst, schroff ab. Unter sich zerfallen sie in eine Reihe einander heftig bekämpfender Gemeinschaften. Eine Mitgliederzahl von 500-1000 mögen die Baptisten haben, deren Stifter Joh. Gg. Eucken sich 1834 in der Elbe bei Hamburg durch einen amerikanischen vaptistenproseffor taufen ließ. Sie haben strenge Gemeindezucht und verlangen zur Taufe völliges Untertauchen (je tiefer ins Waffer, desto tiefer in die Gnade) und den Glauben, taufen also nur Erwachsene. Daher nennen sie sich auch Taufgesinnte oder gläubig getaufte Christen. Die Jrvingianer nehmen eine fteundlichere Stellung zur Rirche ein, lehren das nahe Weitende und erneuerten das Apostelamt, von ihnen zweigte sich 1878 die Neuapostolische Gemeinde ab, die gegen die Rirche eine maßlos heftige Polemik entfaltet, aber in der Schweiz keine großen Eroberungen gemacht haben. Nach ihrer Lehre sind alle Pfarrer Miet­

linge, Heuchler und Mammonsknechte. Die Heilsarmee fand seit 1884 Eingang und wegen ihrer sozialen Werke auch Anklang in der Schweiz. Ihr Hauptquartier ist in Zürich. Sie besitzt zehn soziale Anstalten in der Schweiz und wird nicht nur in

VL Andere religiöse Gemeinschaften.

149

der Selbstverleugnungswoch e von vielen privaten, sondern auch von einer Anzahl von Behörden unterstützt. Line wenig aussichtsreiche Kopie der Heilsarmee ist die Freiwilligenmission des Exkapitän Windmüller, der von seinem Hauptquartier in Frankfurt aus einige Posten in der Schweiz unterhält und sein Organ „Überwinder" verbreitet. Vie übrigen ausländischen Sekten sind inbezug auf Zahl bedeutungs­ los und haben nach Pfarrer Ritter in Zürich mehr symptomatische Be­ deutung für die Schwäche des menschlichen Gehirns und Herzens. Die Sabbatisten oder Adventisten des siebenten Tages, gestiftet von dem Farmer Will. Miller, der den Tag der Wiederkunft auf den 21. März 1844 berechnete und von den Baptisten ausgeschlosien wurde, verbreitet durch Joseph Bates f 1846, der die Sabbatfeier einführte, haben nur kleine Gemeinschaften in Aarau, Basel und Zürich. — Den Mormonen gelingt es hie und da einige weibliche Personen für ihr Paradies im Staate Utah zu gewinnen. - Dr. Doroie aus Thikago, der sich für den Propheten Elias IE. ausgab, fand vorübergehend bei seinem Auftreten in Zürich Beifall und taufte in der städtischen Badanstalt einige hundert Personen, ist aber seit seinem Sturz im Sommer 1906 und darauf­ folgenden Tod bedeutungslos. - Ruffel mit seinen Millenniumsbrüdern wird kaum eine starke Vermehrung seiner Anhänger in Thun und Köniz sehen, von den Swedenborgianern und Spiritisten, Theosophen und Scientisten sind keine größeren Gemeinschaften gebildet worden. Etwas anders verhält es sich mit denjenigen außerkirchlichen Ge­ meinschaften, die schweizerischen Ursprungs sind. Die ältesten sind die Wiedertäufer, die bald nach der Reformation und blutiger Verfolgung von (eiten der Kirche ihre revolutionären Ideen zurücktreten ließen und eine Gemeinschaft stiller, friedfertiger Leute wurden. Sie verwerfen die Kindertaufe, verweigern den Eid und genießen seit 1815 gesetzliche Duldung. Ihr Hauptgebiet ist das Emmental und der Berner Jura; auch im Kt. Zürich und Thurgau kommen sie vor. Reben ihnen sind die Neutäufer, Fröhlichianer nach ihrem Stifter Fröhlich; sie kommen vor in den Kt. Aargau, Zürich, Bern (800 Mit­ glieder), Thurgau, Schaffhausen, St. Gallen. Sie betreiben eine kräftige

Propaganda, die Kirche ist ihnen Babel, die Theologie satanisch. Die Antonianer, gestiftet von Anton Unternährer (1759- 1824),

waren einst eine gefährliche antinomistische Sekte im Kt. Bern, die in der freien Liebe das wahre Sakrament der Vereinigung mit Thristo erkannten, heute bestehen nur noch dürftige Überreste dieser harmlos gewordenen Leute. — Die hansulianer oder Tannentalbrüder oder Safenwyler sind ähnlich den württembergischen Michelianern eine stille Ge­ meinschaft beschaulicher Mystiker, deren Stifter Hans Uli Liechti 1802 bis 1878 durch sein schlichtes Reden von der seligen Gemeinschaft mit

150

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Christus und durch seine Demut viele herzen gewann. - In Basel entstand gleichzeitig die Gemeinschaft der Nazarener durch den Seiden­ weber Joh. Jak. Wirz 1778-1848. Seine Lehre ist asketisch und theosophisch. Kirche und Theologie wird verachtet, heute gibt es auch

Nazarener in Württemberg und im Wuppertal. In der Schweiz sind sie selten, im KL Aargau und Bern. - von kleineren in der Schweiz entstandenen Sekten seien noch genannt die Borbezatistes de Bienne, die Bruderianer, die Chretiens in pruntrut, die Freres im bernischen Iura, die Leutholdianer im KL Zürich, die Robertisten in Biel und die Gemeinde der gläubigen Christen in Basel, die alle sehr klein sind. Lic. Bru&net, dessen in Aarau 1909 gehaltenem Vortrag über „Vie Stellung der Landeskirche zu den außerkirchlichen Gemeinschaften" ich das meiste über die Sekten hier Erwähnte verdanke, berechnet die Kopfzahl der den außerkirchlichen Gemeinschaften Angehörigen für die Schweiz aus 40-60 000. pfr. Jotz in Bern (1881) auf 12,75°/oo der Bevölkerung. Das Verhältnis der Landeskirche zu ihnen ist seit Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit durch die Bundesverfassung von 1874 ein schiedlich-friedliches Nebeneinander. Der Kampf wird nicht mit Schelten geführt, sondern mit vermehrter Fürsorge für die Jugend, treuer Seelsorge, volkstümlicher predigt und Beachtung der Bedürfnisse nach Gemeinschaft und engerm Anschluß. (Es ist nicht zu leugnen, daß manche arme Seele in der engern Gemeinschaft ein Feuer­ lein findet, an dem sie erwärmen und froh werden kann.

10. Israelitischer Kultus. Im Jahre 1900 zählte man in der Schweiz 12 264 Juden; heute sind es etwa 15 000, so daß sie 1/soo der Gesamtbevölkerung aus­ machen. Die Mehrzahl stammt aus den Nachbarländern Deutschland (Baden, Elsaß), Gsterreich und Frankreich. Inbezug auf den Kultus

bilden sie 22 Genossenschaften, welche privatrechtliche Gesellschaften und vom Staat unabhängig sind. Jedes Mitglied der Kultusgenossenschast ist steuerpflichtig. In jeder Gemeinde bestehen auch philanthropische und Hilfsgesellschaften. Der Zionismus zählt Anhänger in allen Ge­ meinden, namentlich aber unter den jungen Israeliten, welche studieren. Außer den im ganzen 22 Kultusgenoflenschaften finden sich Is­ raeliten über die ganze Schweiz hin zerstreut, aber meist in geringer Anzahl. Alle israelitischen Kultusgenossenschasten sind in blühenden verhältniflen. Der einzige Abbruch, der der Ausübung des israelitschen Kultus getan wird, ist das verbot des Schächtens der Schlachttiere, das die Genoflenschasten zum Unterhalt von besondern Schlachthäusern an der Landesgrenze veranlaßt.

VI. Hnöere religiöse Gemeinschaften.

151

Freidenker. Die Freidenker entfalten schon seit längerer Seit eine lebhafte Propaganda. In Genf und Neuenburg ist schon mehrmals der anar­ chistische und atheistische Wanderprediger Saure aufgetreten, der in seinen Vorträgen die Existenz Gottes und das Christentum überhaupt bekämpft und sittlich sehr laxe Anschauungen vertritt. Er hatte großen Sulauf,

aber auch die Pfarrer Kamen und sind ihm in der Diskussion mutig entgegengetreten, und wenn Saure mit seinen Schlagworten auch reich­ lich Beifall sand bei dem sehr gemischten Publikum, so ist doch weder links noch rechts ein eigentlicher Erfolg zu verzeichnen. Im Kt. Waadt gründeten sie freidenkerische Sonntagsschulen und arbeiten daran, den Religionsunterricht aus der Schule zu entfernen. 1906 versandte ihr Komitee Zirkulare mit beigelegten Formularen: Rn den Präsidenten der Schulkommission in . . . Geehrter Herr! hier­ mit ersuche ich mein (oder meine) Kind(er) für das laufende und die

folgenden Jahre vom Religionsunterricht zu dispensieren. Im Kt. Neuenburg faßten sie eine Resolution auf Rufhebung des Kultusbudgets, Rbfchaffung des Religionsunterrichts in der Volksschule, Abschaffung der theologischen Lehrstühle an den Universitäten, lebhafte Propaganda unter Frauen und Kindern. Aber mit alledem wird es noch gute weile haben. Ihre Sonntagsschule in Neuenburg wird nur von ein paar Dutzend Kindern besucht. Die Gesamtzahl der Freidenker in der welschen Schweiz wurde 1908 auf 14 Sektionen mit 830 Mit­ gliedern angegeben. Im Kt. Bern versuchte Prof. Vetter für die Siele der ethischen Kulturbewegung mobil zu machen, um mit dem toten Ballast der Jahrhunderte in der Kirche aufzuräumen, denn für die meisten Seit« genossen seien der Glaube an den persönlichen Gott, an die Erlösung, Ruferstehung und Himmelfahrt, Weltgericht und Seligkeit, nebst sämt­ lichen Wundergeschichten des Neuen Testaments im besten Fall ehr­ würdige Fabeln. Die schönen Kirchen sollen endlich wieder einen Sweck erhalten, sie sollen Tempel alles Idealen werden. Sie sollen widerhallen von edler Musik und Rede und beständig erstrahlen im Glanze der schönsten Kunstwerke. Aquarien und Gemälde, Vortrag erhebender Dichtungen, Mitteilung von neuen Triumphen des menschlichen Geistes, kurz ein herrlicher Menschenvergötterungskultus soll hier Platz greifen. Über auch damit hat er bisher noch wenig Glück gehabt. Dann stehen im Kt. Bern einmal kirchenfeindliche Lehrer auf und träumen davon, daß in einigen Jahrzehnten die Pfarrer auf der Kanzel durch die Lehrer ersetzt sein werden, wodurch die Pflege des Idealen eine mächtige Förderung erfahren würde.

152

Stuckert, Rirchenkunde der reformierten Schweiz.

Lebhaftere Propaganda mit zahlreichen Vereinsgründungen und Vorträgen machte 1908 und 1909 in der Gstschweiz Ingenieur Richter in Zürich, Herausgeber des „Freidenker". Er wurde wegen Gottes­ lästerung in dem ultramontanen Luzern eingekerkert, aber vom Bundes­ gericht, an das er appellierte, freigesprochen. Venn in der Schweiz neigt man sich der Ansicht zu, daß jede Gotteslästerung, auch die öffent­ liche, in beschimpfenden Ausdrücken erfolgende, ein Ärgernis erregende, straflos bleiben müsse infolge der garantierten Religionsfreiheit, und daß auch die öffentliche Beschimpfung der Einrichtungen und Gebräuche einer staatlich anerkannten Religionsgenossenschaft keine strafbare Hand­ lung sei. Freilich holte sich Ingenieur Richter nicht bei allen Vorträgen Lorbeeren, sein Fanatismus wurde hie und da durch philosophische Überlegenheit, leider auch durch handgreifliche Grobheit der Gegner zurückgewiesen. 3m Dezember 1909 wurde er an Verfolgungswahn geisteskrank. 3m Anschluß an seine Propaganda gründete sich in Lern ein „internationaler Grden für Ethik und Kultur", der die ganze Erde umspannen und den mit der Kirche Zerfallenen einen Ersatz bieten will. Die Ortsgruppen nennen sich Heime, die wöchentlichen Versammlungen sollen mit Beratungen und erbauenden Vorträgen ausgefüllt werden, die zum Gemüt sprechen und an die Pflicht erinnern. Auch für Be­ erdigungen, Hochzeiten usw. wird der Grden von seiner Zentralstelle aus aushelfen durch Schaffung geeigneter Liturgien und Ansprachen und Anstellung paffender Personen. Ebenso beabsichtigt er nach seinem Programm Einfluß auf die Jugenderziehung dadurch zu gewinnen, daß er Lehrer und Mütter in den Grden beizieht. An der Spitze steht der zum Beitritt zum Grden - einladende profeffor Dr. A. Forel in pvorne. Es ist nicht anzunehmen, daß diese Freidenkerkirche einen nennens­ werten Umfang erreichen wird. Schlimmer als diese entschloffenen Gegner der Kirche ist der weitverbreitete 3ndifferentismus. Vie Sozial­ demokraten sind meist religionsfeindlich, viele junge Leute meinen ihre Mündigkeit durch religiöse Gleichgültigkeit dokumentieren zu müssen; Staats- und Gemeindebeamte halten sich mancherorts von allem Religiösen fern, vornehme und Reiche tragen größte religiöse Dürftigkeit zur Schau, viele Gebildete sehen die Religion als Nebensache oder für einen über­ wundenen Standpunkt an. Doch solche 3ndifferenz ist eine allgemein menschliche Erscheinung, sie kommt und geht mit der allgemeinen Strömung des Geisteslebens. Es kann nach der materialistischen Periode auch wieder eine andere kommen. Anzeichen dafür sind vorhanden.

VII. kirchlicher und öffentliches Leben.

153

VII. kirchlicher und öffentlicher Leben.

Schule und Mche. Dem Schulwesen wird in der Schweiz große Aufmerksamkeit ge­ schenkt. Kleinkinderschulen oder Kindergärten meist nach Fröbelschem System bestehen (1906) 928 mit 1 226 Lehrerinnen und 44 106 Schülern. Sie sind in den Kantonen Waadt, Neuenburg, Gens und Basel vom Staat übernommen, in der übrigen Schweiz der Initiative von Ge­ meinden und privaten überlaffen. Die obligatorische Primarschule beginnt mit dem zurückgelegten sechsten oder siebenten Altersjahr. (Es besteht eine 6-8 jährige Alltags­ schulpflicht. Dem Unterricht in den weiblichen und Knabenhandarbeiten, der Schulhygiene und der Fürsorge für Schwachsinnige und Schwach­ begabte wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. (Es bestehen 3388 Schulgemeinden mit 12 820 Schulabteilungen, 7177 Lehrern und 4323 Lehrerinnen, sowie 517 417 Schülern. Die Sekundarschulen (auch Real- oder Vezirksschulen genannt) schließen in verschiedener Weise an die Primarschulen an oder gehen parallel mit den obersten Klaffen derselben. Sie führen die allgemeine Bildung weiter und bereiten daneben auch zum Eintritt in die Lehrer­ seminarien und Kantonsschulen vor. (Es bestehen im ganzen 606 Schulen mit 1540 Schulabteilungen, 1476 Lehrern und 237 Lehrerinnen, so­ wie 44 407 Schülern. Die Fortbildungsschulen sind Rekrutenvorbereitungskurse, oder ge­ werbliche, landwirtschaftliche oder hauswirtschastliche Fortbildungsschulen. Sie können obligatorisch oder fakultativ sein. Man zählt (1906) 2119 allgemeine Fortbildungsschulen mit 37 520 Schülern; 295 Ge­ werbe- und Zeichenschulen mit 19 080 Schülern, 77 kaufmännische mit 9418 Schülern, 12 landwirtschaftliche mit 257 Schülern, 410 haus­ wirtschaftliche mit 10 459 Schülerinnen. Öffentliche Lehrerbildungsanstalten bestehen in 17 Kantonen, privatseminarien in acht. Auf das akademische Studium bereiten die Kantonschulen (Gymnasien usw.) vor. Sie sind sehr verschieden organi­ siert, meist eine Gymnasial- und Real-Abteilung umfaffend. Für die

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

154

berufliche Ausbildung bestehen sechs Techniken, zehn Kunstgewerbe-, Mo­ dellier- und Zeichnungsschulen; acht Gewerbe- und Handwerkerschulen, eine Anzahl Berufsschulen für Metall- und Textilindustrie, Töpfer- und Schnitzlergewerbe; viele Verkehrs- und Handelsschulen; etwa 20 land­ wirtschaftliche Schulen und eine große Fülle von Schulen für Hauswirt­ schaft und weibliche Berufsarten. Vie einzige dem Bund gehörende Unterrichtsanstalt des Landes ist das Eidgenössische Polytechnikum in Zürich. Es bestehen darin: Architekten-, Ingenieur-, Mechanisch-technische, Themisch-technische, phar­ mazeutische, Forst-, Landwirtschaftliche, Uulturingenieur-Schule, ferner Schule für Fachlehrer, philosophische, staatswirtschaftliche und militärwisienschaftliche Abteilung. Hochschulen (Universitäten) der Kantone bestehen ferner in sieben Kantonen; ihre Frequenz zeigt folgende Tabelle:

Studierende

von den Studierenden sind

Hörer Total

Hochschulen

Nantons- Andere bürger Schweizer Ausländer

männl. weibl.

Zürich .... Bern .... Basel .... Genf .... Lausanne . . Freiburg . . . Neuenburg . . 1906/07

1007 1120 566 644 617 469 117

332 506 14 557 449 46

363 558 125 433 306 139 153

1702 2184 705 1634 1372 608 316

4540

1904

2077

8521

264 453 198 135 156 43 76

319 336 262 107 130 127 54 2660

756 837 120 959 780 299 33 3784

Der Bund beteiligt sich durch Subventionen usw. in weitgehendem Matz am Unterrichtswesen der Kantone. Er hat 1906 Bundesbeiträge (60 Up. pro Kops der Wohnbevölkerung) von 2 084137 Fr. an die Kantone ausgerichtet, die in verschiedener Art für das Primarschulwesen verwendet wurden, wie Bau von Schulhäusern, Errichtung neuer Lehr­ stellen, Aufbesierung der Besoldungen, Abgabe von Lehrmitteln usw. Ferner wird ein großer Teil des Fortbildungsschulwesens vom Bund bestritten. Die Gesamtausgaben für das schweizerische Schulwesen im Jahr 1906 werden berechnet für Kantone und Gemeinden 63^2 Millionen Fr., für den Bund fast sechs Millionen Fr. Besonders wichtig für das Verhältnis von Kirche und Schule ist der Religionsunterricht. Vie Schweiz hat den verfasiungsgrundsatz „Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse

VH. Kirchliches und öffentliches Leben.

155

ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können." Infolgedessen kann die Religion nicht zum obliga­

torischen Unterrichtsgegenstand der öffentlichen Schule erklärt werden. Niemand kann dazu angehalten werden, sein Rind an irgend einem Religionsunterricht der öffentlichen Schule teilnehmen zu lassen, selbst wenn derselbe als konfessionsloser erklärt würde. Die Eltern, welche ihr Rind vom Religionsunterricht der Schule fernhalten, haben der Staatsbehörde nicht den Nachweis zu erbringen, daß für den religiösen Unterricht des Rindes anderweitig in ausreichender Weise gesorgt ist. In einem Rekursfall hat das Bundesgericht entschieden, daß auch der biblische Geschichtsunterricht religiösen Charakter habe, daher könne das Zach des Religionsunterrichts in jedem Fall nur fakultativ sein. Damit ist nun nicht gesagt, daß der Religionsunterricht der Volks­ schule nur von einem Teil der Rinder besucht werde. 3n Wirklichkeit besuchen ihn fast alle. Ruf den untern Stufen vom ersten bis dritten oder dritten bis sechsten Schuljahr wird er immer vom Lehrer erteilt. In den innern Rantonen gibt es viele rein katholische Schulen, an denen z. B. Lehrschwestern wirken. Da die ganze Bevölkerung katho­ lisch ist, hat auch der Religionsunterricht katholischen Charakter. 3n den mehr protestantischen Rantonen ist der Religionsunterricht nicht konfessionell gefärbt, meist biblische Geschichte oder Nloralunterricht. Meist wird er dann auch von katholischen Rindern besucht. 3n dem Katholischen Kanton Freiburg mit protestantischer Diaspora besteht eine besondere protestantische Schule, mit protestantischen Lehrern, wodurch ein Konflikt vermieden wird. Solcher protestantischer Diasporaschulen gibt es mehr. 3n paritätischen Gemeinden wird es oft so eingerichtet, daß die katholischen Rinder vom katholischen Pfarrer (oder Lehrer), die evangelischen vom evangelischen Pfarrer (oder Lehrer) ihren Re­ ligionsunterricht erhalten. 3n einer Sekundarschule kam es vor, daß ein katholischer Lehrer die protestantische Klaffe in der alttestamentlichen Geschichte unterrichtete und sich die Vorbereitung dazu beim protestan­ tischen Pfarrer geben ließ. Obwohl die Eltern jedes Rindes ihr Rind vom Religionsunterricht können dispensieren fassen, geschieht das im Ganzen doch selten auf dem Boden der Volksschule; auf der Sekundarschulstufe ist es aller­ dings häufig, von den 5000 Rindern, welche in Lausanne die städti­ schen Schulen besuchen, waren nur 29 dispensiert (1905), hauptsächlich

katholische und jüdische Rinder. Demnach entspricht der dort erteilte Religionsunterricht dem Denken und Fühlen des Volkes. 3n der Stadt Bern lasten sich meist nur eine Anzahl katholischer Rinder vom Re­ ligionsunterricht der Primarschule dispensieren, während christkatholische und selbst israelitische ihn besuchen. Dispensationen reformierter Rinder

156

Stuckert, Uirchenkunde der reformierten Schweiz.

sind selten. 3n der städtischen Knabensekundarschule war (1907) von 1160 reformierten Schülern ein einziger vom Religionsunterricht dis­ pensiert. Anders freilich steht es wieder in Zürich, wo sehr viele Dispen­ sationen vorkommen. Kn andern (Orten dringen scharfe Rapläne darauf, datz alle katho­ lischen Rinder dispensiert werden. Auch Lehrer, die dem Christentum ganz entftemdet sind, unterziehen sich der (Erteilung des Religions­ unterrichts, den sie dann freilich aus ihre Weise treiben, vielleicht zum Schaden des Rindergemüts. (Es kommt auch vor, datz strenggerichtete Eltern sich zusammentun und an Stelle der vom Lehrer oder von einem Reformpfarrer erteilten Religionsstunde ihre Rinder einem Lehrer nach ihrem herzen übergeben, und so ein paralleler Religionsunterricht in einer Schulanstalt stattfindet. (Es ist freilich unverkennbar, datz die Tendenz unserer Zeit immer mehr darauf hinausgeht, den Religionsunterricht aus dem Programm der Schule auszuscheiden und ganz der Rirche zu überlassen. Dies ist begreiflich; denn der Staat und somit auch die Volksschule ist inter­ konfessionell, und wenn eine grötzere Zahl von Eltern da ist, die ver­ schiedenen Konfessionen angehären, Protestanten, Katholiken, Israeliten, Sekten oder Freidenker, die überhaupt nichts wissen wollen von Re­ ligionsunterricht, so stehen dem Religionsunterrichte in der Schule grotze Hindernisse im weg. Inwieweit diese Tendenz bereits verwirklicht ist, soll eine auf die einzelnen Kantone eingehende Übersicht noch zeigen. Zu vergleichen ist hierbei das S. 99 über den pfarramtlichen Religions­ unterricht Gesagte. Vie Kantone Baselland, Thurgau und Zürich lassen den Religions­ unterricht in der Volksschule zuerst vom Lehrer, in den Hähern Jahren dagegen vom Pfarrer im Rahmen der Schule erteilen; Baselland vom zehnten; Zürich vom zwölften; Thurgan vom dreizehnten Altersjahr an. Im Rt. Bern wird aller Religionsunterricht in der Schule vom Lehrer erteilt bis zum Austritt der Kinder aus der Schule. Im paritättschen Rt. St. Gallen sagt die Rantonsverfafiung Art. 3: Der Religionsunterricht wird durch die von den betreffenden Konfessionen zu bestellenden (Organe erteilt. (Es sind für denselben die öffentlichen Schullokale zur Verfügung zu stellen und ist im Schulplan die hierfür geeignete Zeit offen zu laffen. Das Erziehungsgesetz Art. 74 sagt: Für die Erteilung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Lehranstalten haben die kirchlichen (Oberbehörden zu sorgen. Sie wählen oder be­ zeichnen auch die Religionslehrer. Vie Schulordnung Art. 13 sagt: von der wöchentlichen Unterrichtszeit sind je zwei Stunden für den Religions­ unterricht einzuräumen. - Vie Kosten für die Erteilung dieses Unter­ richts können im Rt. St. Gallen die Schulgemeinden tragen, wird der

VH. Kirchliches und öffentliches Leben.

157

Religionsunterricht in der Schule von den Lehrern erteilt, so haben die Pfarrer das Rufsichtsrecht darüber. Vie kirchliche Verfassung des Kt. Graubünden bestimmt in § 35 kurz und bündig: Der Geistliche ist ver­

pflichtet dafür zu sorgen, datz in der Schule genügender Religions­ unterricht zweckmäßig erteilt werde, wenn möglich erteilt er ihn selbst, wenigstens in den obern Klössen, und verständigt sich wegen Erteilung in den untern Klaffen mit dem Lehrer. Die Stundenzahl, der Stufen­ gang usw. werden nach Grtsverhältnissen bestimmt. 3m Kt. Neuenburg ist aller Religionsunterricht ausschließlich der kirchlichen Fürsorge zugewiesen. Rrt. 40 des Gesetzes über den primär­ unterricht (vom 27. April 1889) bestimmt: Die Schulzimmer stehen von rechtswegen innerhalb der Grenzen der öffentlichen Ordnung zur Ver­ fügung aller Kulte für ihren Religionsunterricht. Vie Schulbehörden wachen darüber, daß dieser Unterricht zu paffenden Tagesstunden statt­ finde, sei es vor, sei es nach den andern Fächern. Entsteht ein Konflikt über den Gebrauch der Schullokale für den Religionsunterricht, so ent­ scheidet der Staatsrat. Das Generalreglement der Nationalkirche Rrt. 116 und 117 bestimmt: 3n der Regel werden die Religionsstunden in der Schule durch die Pfarrer erteilt. Jedes Kind von 7-16 Jahren soll mindestens eine Stunde per Woche erhalten. 3n Kirchgemeinden, in denen die Pfarrer nicht alle notwendigen Religionsstunden erteilen können, sind sie berechtigt, sich mit Einwilligung des Altestenkollegiums durch jede andre geeignete Person helfen zu lassen, hauptsächlich durch Lehrer und Lehrerinnen, die sich hierfür bereit erklären. Die eventuellen Kosten fallen zu Lasten der Kirchgemeinden. So finden wir denn im Kt. Neuenburg sowohl Pfarrer als Lehrer den Religionsunterricht erteilen; meist ein bis zwei Stunden per Woche; immer außerhalb des Stundenplans der Schule, wohlgesinnte Lehrer in Stellvertretung oder zur Entlastung des Pfarrers tun es oft gratis, oder gegen sehr mäßige Belohnung. Die Kirche sieht in der Aus» schaltung des Religionsunterrichts aus der Schule einen Fortschritt und eine Wohltat, weil dadurch die Gewissensfreiheit voll gewährleistet und die Gefahr abgewendet wird, daß unchristliche oder atheistische Lehrer dazu gezwungen sind, Religionsstunden zu erteilen. Vie Neutralität des Staates in Sachen der Religion geht so weit, daß im Kt. Neuen­ burg das Gebet zu Beginn des ordentlichen Schulunterrichts verboten wurde. Eine religiöse Lehrerin half sich so, daß sie einige Minuten vor dem Stundenschlag das Rnfangsgebet hielt, wobei es den Schülern freigestellt blieb, beizuwohnen oder nicht. 3n Zürich beklagte sich Kürzlich ebenfalls jemand über das Schulgebet, als mit der Glaubens­ freiheit unvereinbar. Der Erziehungsrat wies die Klage ab. Es sei Kein Kind gezwungen dem Gebet beizuwohnen, aber auch könne es

158

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

keinem Lehrer verboten werden, ein Gebet zu Beginn der Schule zu halten. 3m Kt Waadt wird der Religionsunterricht der Volksschule fast durchweg von den Lehrern erteilt, und zwar zwei bis drei Stunden per Woche. Jedoch ist seit dem neuen Volksschulgesetz von 1906 kein Lehrer gezwungen Religionsunterricht zu erteilen. Will er sich dem aus irgend welchen Gründen entziehen, so wird er für die ausge­ fallenen Stunden anderweitig beschäftigt, und sein Gehalt bleibt in allen Fällen das gleiche. Der Religionsunterricht wird ausdrücklich für fakultativ erklärt und vor und nach den obligatorischen Lehrstunden angesetzt. AIs Ziel wird genannt: Studium der Geschichten des A. und N. Testaments vom erzieherischen Standpunkt aus. 3tt den Sekundarschulen der Waadt erteilt meist der Pfarrer den Religionsunterricht, eine Stunde per Woche. Lehrgegenstand ist st. und n. Testament und Rirchengeschichte. Der Rirchengeschichte wird Wichtig­ keit beigemessen. (Ein waadtländischer Bericht bemerkt hierüber: „Die Moral kommt in der biblischen Geschichte und im Ronfirmandenunterricht zu ihrem Recht. Die Rirchengeschichte als solche sonst nirgends. Sie erläutert und ergänzt die Weltgeschichte. Sie bietet einen Faden, an den sich alles anreiht und gibt ohne Mühe Gelegenheit zu zeigen, daß das Christentum ein Zentralpfeiler ist. Sie erlaubt ohne Polemik und durch die einfache Darstellung der Tatsachen die Macht des Ratholizismus zu zeigen, sowie seine Gefahren, seine Ansprüche und sein Ziel, welches immer das gleiche ist, nämlich alles aufzusaugen."

2. Politische Parteien. Das kirchliche Leben steht nicht in direktem Zusammenhang mit dem politischen. Immerhin soll bei dem folgenden Überblick über die in der Bundesversammlung vertretenen politischen Parteien der Schweiz gezeigt werden, an welchem Punkt eine Berührung stattsindet. Aufgrund einer Reihe kantonaler und eidgenössischer Abstimmungen und Wahlen kann schätzungweise die Stärke der schweizerischen politischen Parteien (1906) angegeben werden: Freisinnig-demokratische Partei 285 000 Stimmen. Demokratische Partei 17 600 „ Sozialdemokratische Partei 62 400 „ Ratholische Volkspartei 132 000 „ Liberalkonservatives Zentrum 63 300 „ Die freisinnig-demokratische Partei bezweckt nach ihrem Programm (1904 angenommen) „die Förderung der Volkswohlfahrt auf dem

VH. kirchliches und öffentliches Leben.

159

Boden der Freiheit, Gleichheit und Volkswohlfahrt. Sie bekennt sich zu den Grundsätzen der venkfreiheit, der freien wissenschaftlichen For­ schung, der freien Meinungsäußerung, der Freiheit des Glaubens und Gewissens. Sie bekämpft alle Bestrebungen, welche auf die Verschärfung der konfessionellen und Klassengegensätze gerichtet sind. Sie ist eine Partei der sozialen und wirtschaftlichen Reform. Sie erstrebt eine fried­ liche Ausgleichung der sozialen Gegensätze durch eine kräftige, aber mit den Verhältnissen rechnende Sozialreform auf Grundlage der Solidarität der Interessen des ganzen Volkes." Nachdem bis in die 60 er Jahre im Bund und den meisten Kan­ tonen die liberale Partei geherrscht hatte, übernahmen seit Annahme der neuen Bundesverfassung von 1874 die Freisinnig - demokratischen die Herrschaft und haben sie bislang mit bedeutender Nlehrheit be­ hauptet. Durch Verstaatlichung der Hauptbahnen (1898), Sieg über eine von andrer Seite befürwortete Volksinitiative (1900), Eliminierung der Sozialdemokraten bei den Nationalratswahlen (1905) hat sie ihre Stellung neuerdings befestigt. Es wurde früher darauf hingewiesen, daß diese Partei den religiösen Freisinn der Reformrichtung öfters be­ günstigt hat, wie sich andrerseits die Reformrichtung auf Staatsmänner dieser Partei stützt. Neuerdings scheinen auch hier die politischen und religiösen Fragen besser getrennt zu werden. Vie demokratische Partei, konstituiert 1905, zählt ihre Anhänger­ schaft hauptsächlich in den Rantonen St. Gallen, Glarus, Appenzell und Ehurgau und zählt vier Mitglieder in der Bundesversammlung. Radikal und zentralistisch zugleich stimmt sie in allen Hauptfragen mit der freisinnig­ demokratischen Partei, unterscheidet sich aber von ihr durch weiter­ gehende demokratische Forderungen wie Volkswahl des Bundesrates, Gesetzesinitiative, Nationalratsproporz, und besonders durch stärkere Betonung der Sozialreform und Fühlung mit der Arbeiterschaft. Die sozialdemokratische Partei fordert in der Prinzipienerklärung ihres Programms von 1904 die „Überführung der Produktionsmittel aus dem Privatbesitz in den Besitz der Gesellschaft und den Ersatz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch eine Gemeinwirtschaft auf demokratischer Grundlage." Die Partei erstrebt die Sozialisierung der Produktionsmittel zunächst auf dem Wege der Verstaatlichung und Kommunalisierung der hierzu am besten geeigneten Gebiete wie Ver­ kehrsmittel, Baugrund, Wasserkräfte, Wälder. Sie kämpft für stete Er­ weiterung ihrer politischen Macht und gleichzeitige Ausdehnung der ge­ werkschaftlichen Organisation. Die sozialdemokratische Partei wird ge­ bildet aus a) dem Grütliverein, b) den kantonalen Arbeiter- und Partei­ verbänden, c) den lokalen Arbeiterunionen, d) einzelnen Vereinen an Orten, wo keine größern verbände bestehen. Vie Gesamtmitglieder-

160

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

zahl beträgt (1906) rund 25 000. Bis jetzt gelang es der Partei ohne bürgerliche Unterstützung nicht, eine politische Aktion in der Schweiz durchzuführen oder einen Vertreter in die Bundesversammlung zu wählen. Ihre Initiative für das Recht auf Arbeit 1894 wurde ver­ worfen, zwei sozialdemokratische Referendumsfeldzüge von 1905/6 gegen die Nationalbank und gegen das neue Rnarchistengesetz blieben ohne Erfolg. Die Gründung der schweizerischen antimilitaristischen Liga 1905 trug neben den wirtschaftlichen Kämpfen hauptsächlich zu ihrer Nieder­ lage bei den Nationalratswahlen 1905 bei; seitdem hat sie ungerechter­ weise nur noch sieben Vertreter in der Bundesversammlung. Der Kirche stehen die meisten Sozialdemokraten indifferent gegen­ über. Kirchen- und religionsfeindliche Artikel in ihrer preffe gehören nicht zur Seltenheit. Doch ist die schweizerische Sozialdemokratie einige Grade weniger scharf als die deutsche. Die Arbeiterbewegung verläuft in republikanischen Verhältnissen naturgemäß milder. Die meisten So­ zialdemokraten, auch die zielbewußten, bleiben Kirchenglieder, lassen taufen, konfirmieren, trauen, beerdigen. Eine sozialdemokratische Aus­ trittsbewegung aus der Kirche gibt es nicht. Dagegen gibt es in Zürich einen kräftigen verein sozialdemokratischer Kirchgenossen. Die Kirchenfeindliche Pose der Genossen ist nicht so ernst zu nehmen, wenn nur erst die Kirche beweist, daß sie Sinn hat für die sozialen Gedanken der Arbeiter. Manche Sozialdemokraten sind fleißige Kirchgänger, manche sogar eifrige Christen, die als Kirchenvorsteher die rechte Hand des Pfarrers sind, besonders wenn es sich um humanitäre, gemeinnützige Veranstaltungen handelt. Auch ist anzuerkennen, daß die sozialistische preffe auch Artikel aufnimmt, die Religion und Kirche verteidigen. Die schärfsten Religionsgegner in ihren Reihen sind früher katholische Ausländer. Im Gegensatz zu der 1894 konstituierten freisinnig-demokratischen Partei gründete sich 1894 die katholische Volkspartei, welche konser­ vativ und föderalistisch ist. Sie pflegt ein Mitglied des Bundesrates zu stellen, und gegenwärtig sitzen im Nationalrat 34, im Ständerat 16 Katholisch-konservative. Politisch hat die Partei nicht viel errungen, die radikale und zentralistische Aktion der Eisenbahnverstaatlichung wirkte lähmend auf sie. Einen Ersatz dafür bietet den Katholiken der 1903 gegründete Schweizerische katholische Volksverein, deffen Mit­ gliederzahl schon bei der Konstituierung 40 693 betrug, und der alle zwei bis drei Jahre einen Katholikentag abhält. Er ist entstanden aus einer Verschmelzung des Schweizerischen Katholikenvereins, des Ver­ bandes der katholischen Männer- und Arbeitervereine, der Federation catholique de la Suisse romande und des Zentralverbandes der christlich-sozialen Arbeiterorganisationen der Schweiz. Zweck ist Er-

VH. kirchliches und öffentliches Leben.

161

Haltung und Förderung des Katholischen Glaubens, Förderung einer gesunden Volkswirtschaft, pflege christlicher Liebeswerke, Pflege des Schul- und Unterrichtswesens, Unterstützung der katholischen presse und Literatur, pflege veredelnder Volksunterhaltung. Das Zentralkomitee teilt sich nach den genannten Zwecken in sechs Untersektionen. Endlich ist zu nennen das Zentrum; in der Schweiz nicht die ultra­ montane Fraktion, sondern eine liberal-demokratische Gruppe, welche die Mitte hält zwischen der katholisch-konservativen Rechten und der radikalen Linken. (Es hat nach Programm von 1893 den Zweck, „die­ jenigen Elemente zu vereinigen, welche auf dem Boden der gegen­ wärtigen politischen und sozialen Ordnung eine patriotische und fort­ schrittliche Tätigkeit entfalten wollen, die unsern demokratischen Institu­ tionen entspricht." Das Zentrum zählt etwa 16 Mitglieder im Na­ tionalrat, eines im Ständerat. 3n der politischen Richtung ihm nahe­ stehend ist die protestantisch-konservative Parteiorganisation des Eid­ genössischen Vereins zu nennen. Ls liegt nahe, daß in der Regel die kirchlich Ronservativen sich auch an die politisch konservative Gruppe anlehnen, ohne jedoch mit ihr zusammenzufallen. Nicht aufgezählt wurden im vorangehenden Gruppen wie Bauern­ verband, Arbeiterbund usw., deren Angehörige sich auf verschiedene poli­ tische Parteien verteilen. —

3. presse. Die schweizerische presse stellt sich im Verhältnis zur Bevölkerungs­ ziffer unter allen Ländern in den zweiten Rang (den ersten hat Nord­ amerika). Sie zählte 1908 1136 Organe, von denen etwa 100 täg­ lich erscheinen. Zwei Drittel aller Zeitungen und Zeitschriften erscheinen in deutscher, 30 °/o in französischer und 2,8 °/o in italienischer Sprache. Die welsche Schweiz ist an Zeitungen am reichsten. Wenige Ausnahmen abgerechnet, kann man nicht sagen, daß die politische presse für kirchliche und religiöse Angelegenheiten viel Sinn zeigt. Oft steht sie ihnen mit Indifferenz, ja feindselig gegenüber, vor allem die sozialdemokratische presse. Aber auch in der andern preffe findet die katholische Rirche oft mehr Beachtung als die in der Öffent­ lichkeit zurücktretende evangelische. Doch ist damit, daß von einer Sache nicht viel geredet wird, nicht gesagt, daß sie wenig Bedeutung besitze. 3m Volksleben wurzeln die evangelische Rirche und die Religion darum nicht minder. Die Rommission für kirchliche Liebestätigkeit hat auch durch eine Anzahl von kantonalen Preßkomitees begonnen, die politische presse mehr in Fühlung mit der Rirche zu bringen. Sodann bestehen eine Menge von Sonntagsblättern, die in religiösem Sinn ge­ stuckert, Uirchenkunde der ref. Schweiz.

11

162

Stuckert, Rirchenkunde der reformierten Schweiz.

schrieben auch das politische berücksichtigen und viel gelesen werden, firn weitesten verbreitet sind wohl das Appenzeller Sonntagsblatt und der Basler Volksbote. Einige Rantonalkirchen haben neuerdings angefangen, besondere kirchliche Drgane erscheinen zu lassen. 3m KL Bern ist es „Der Säe­ mann", zu dessen Herstellung sich alle Richtungen die Hand reichen und der ein einigendes Band für die Gemeinden bildet. Dem Blatt werden auch Runstbeilagen beigelegt. Vie Auslage ist 26 OOO. Für die Gstschweiz besteht in ähnlicher Weise der ostschweizerische Rirchenbote (Thurgau und St. Gallen). Ferner bestehen ein Schaffhauser und Aar­

gauer Rirchenbote. Das Grgan der Waadtländer Nationalkirche ist der Semeur vaudois, dasjenige der Neuenburger Freikirche die Voix du dimanche mit Auflage von 2300 Exemplaren. von den Grganen der verschiedenen kirchenpolitischen Richtungen wurde früher gerebet1 Auf katholischer Seite erscheint in Luzern die

Schweizerische Rirchenzeitung, ferner sechsmal im Jahr in heften die Schweizerische Rundschau. Eine protestantisch-theologische Sweimonatsschrift ist die Schweizerische theologische Zeitschrift, eine auf ein weiteres Publikum berechnete Monatsschrift sind die „Neuen Wege"?

*) Siehe S. 82. 2) Statt eines Abschnitts über Veranstaltungen und Vereine für soziale Fürsorge in der Schweiz verweisen wir hier auf das soeben erscheinende Buch dieses Inhalts von A. wild, Zürich, 1910.

VIII. Religiös-sittlicher Leben.

163

VIII. Religiös-sittliches Leben. Dar religiöse Leben. Eine Darstellung des religiös-sittlichen Lebens in der schweizerischen reformierten Kirche ist schwierig. Sie wird erleichtert durch regelmäßige Berichterstattungen einzelner Kantonalkirchen; z. B. Visitationsbericht über die Verhältnisse und Zustände der evangelisch-reformierten Kirche des KL Zürich, 1898-1905, der auf den Berichten der einzelnen Gemeindekirchenpflegen beruht; oder der alle vier Jahre erscheinende „Bericht über das religiöse, kirchliche und sittliche Leben der bernischen Landeskirche" ebenfalls auf Grund der Einzelberichte; oder jährlich er­ scheinend im KL Waadt ein „Rapport de la Commission synodale au Synode sur la marche de l’eglise nationale evangelique reformee du canton de Vaud“. Vie früher gegebenen statistischen Angaben über Taufe, Konfirmation, Abendmahl usw. zeigen, daß die Religion im Volksleben eine Macht ist. Besonders auf dem Land gehören Kirchlichkeit und ordentlicher Lebens­ wandel vielfach zusammen. Umgekehrt lehnen Sozialdemokratie und Freidenkertum fast durchwegs das kirchlich Religiöse von sich ab. Der Hauptteil des Volkes steht in der Mitte. Ein Zürcher Bericht meint: „Ein gut Stück christlich kirchlicher Sitte und Denkart hat sich zwar in Familien und Gemeinden erhalten, aber er gleicht dem Uferfelsen am Meer, von dem die Brandung im Lauf der Zeit Teilchen um Teilchen abbröckelt. Die alten Formen der Frömmigkeit sind im Abgang be­ griffen." Daneben mutz jedoch gesagt werden, daß, wenn die kirchliche Sitte nicht mehr dieselbe Macht ist wie früher, der Einzelne umsomehr vor eine persönliche Entscheidung gestellt ist, und dann da, wo er dazu hindurchdringt, seine Frömmigkeit entschiedener und ernster zu sein pflegt. Ein Berner Bericht sagt: „In der Verwirrung der Gegenwart, wo die entgegengesetztesten Anschauungen an den Einzelnen herantreten, tasten doch viele nach einem sichern Weg für die Zukunst; zugleich nähert sich die soziale Stimmung unsers Zeitalters, die Fürsorge für die Benachteiligten, Armen, Kranken, dem Tätigkeitskreis der Kirche, in welcher jedermann in allen diesen Bestrebungen einen Bundesgenoffen 11*

164

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

finden mutz." In einem andern Verner Bericht reden acht Gemeinde­ berichte von einer Schwächung, 44 von einer Stärkung des Ansehens der Kirche, 108 konstatieren keines von beiden. Doch wenden wir uns von diesen bald pessimistischer, bald opti­ mistischer lautenden allgemeinen Urteilen zu Einzelnem. Die Sonntags­ feier bildet einen gewissen Matzstab kirchlicher Sitte. Die reformierte Kirche hat sich von jeher durch strengere Sonntagsfeier ausgezeichnet. Auch in der Schweiz wirkt das nach, fim Sonntag wird im allgemeinen nicht gearbeitet. Ls kommt nicht vor, wie man das in andern Ländern beobachten kann, datz am Sonntag gepflügt, Dünger geladen, Garten­ arbeit verrichtet, gewaschen oder andere Handarbeit getan wird. Datz in regnerischen Zeiten an einem schönen Sonntag vom Landmann Heu oder Garben nach Haus geführt werden, ist freilich nicht selten. 3n Zeiten guter Witterung tut es der Bauer nicht, der etwas auf sich hält. Fast alle Kontone haben Sonntagsgesetze, in denen von staatswegen für Heilighaltung des Sonntags und Freihaltung der gottesdienstlichen Zeiten von störenden Einwirkungen gesorgt ist. Darin finden sich auch die nötigen Bestimmungen über das Schlietzen der verkaufslokale, Wirt­ schaften, Rasierstuben usw. Ein ziemlich strenges gutes Sonntagsgesetz nahm 1909 Basel mit 6700 Ja gegen 2770 Nein an. Der Kt. Thur­ gau verbietet die Abhaltung der gewerblichen Fortbildungsschule wäh­ rend des Sonntag vormittags, zum Teil aus Achtung gegen die Landes­ kirche. 3m Kt. Glarus hat die Landgemeinde mit glänzender Mehrheit das Abhalten von Feuerwehrübungen am Sonntag vormittag verboten. Auch im Kt. Bern sind sie verboten. Andere Kantone stehen darin un­ günstiger da, so datz zur gottesdienstlichen Zeit von den Schützenvereinen darauf losgeknallt wird, oder Turner und militärischer vorunterricht ihre Übungen abhalten. 73 bernische Gemeinden berichten, datz Fort­ bildungsschulen und militärischer vorunterricht der Jugend die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst abgewöhnen, wogegen in 32 Gemeinden keine Störungen stattfinden; 11 Kirchenpflegen haben gegen Störung von Sonntagsruhe und Gottesdienst mit Erfolg die Hilfe der staatlichen Behörden angerufen. An andern (Orten lasten die Leiter des Vorunter­ richts von Zeit zu Zeit Feldgottesdienst abhalten, oder die Mannschaft besucht in corpore den Gottesdienst. Mit dem Allem ist freilich noch nicht gesagt, datz der Sonntag nun auch überall heilig gehalten wird. Besonders der Nachmittag wird oft durch Lärm, Wirtshausleben, Fest­ leben, Tanzmusik, Gejohl und Geschrei bis in die Nacht hinein usw. entweiht. Manche Leute können sich überhaupt einen Sonntag nicht denken, ohne datz irgend etwas los ist. Besonders schadet die Fremden­ industrie der Sonntagsheiligung. Ein Berneroberländerbericht sagt: „Die Sonntage bringen den lebhaftesten Touristenverkehr, das lärmendste

vm. Religiös-sittlicher Leben.

165

Wirtshaustreiben, die meisten Ausschreitungen, von den vielen Personen, die vom Fremdenverkehr leben, vom Hotelpersonal, den Führern, Rut­ schern usw. sieht man während der Saison wenige in der Rirche. Da, wo man auch noch eine Wintersaison hat, bleiben nicht mehr viel Sonntage zum Nachholen übrig. Und viele entfremden sich dem Gottes­ haus nach und nach derart, daß sie es auch nicht mehr aufsuchen, wenn sie Zeit hätten. Der Sonntag wird auch von oben herab zu wenig geschützt, sonst wäre z. B. nicht beim Bau der Harderbahn an den Sonntagen gesprengt und gearbeitet worden, wie an den Werktagen." Gin verein von Sonntagsfreunden mit Kantonalen Sektionen, desien Organ „Schweizer Sonntagsfreund" heißt, sucht den Mißständen ent­ gegenzuarbeiten. Fragt man, wie es mit der Hausandacht und dem Lesen der Bibel steht, so ist es schwer eine für größere Kreise richtige Antwort zu geben; bemerkt doch allein im Kt. Bern der eine Bericht: „Das Wort Gottes wird bei uns in der großen Mehrzahl der Familien in Ehren gehalten und täglich benützt", und ein anderer: „Sch glaube, daß in meiner großen Kirchgemeinde die Bibel von Männern zwischen 20 und 50 Jahren sozusagen nie aufgeschlagen wird. Der sichtlich in zunehmendem Wachstum begriffene Großteil unseres Volkes weiß nicht mehr, was er an der Bibel hat." Neben der Bibel fehlt es nicht an andern Lrbauungsmitteln. von den Sonntagsblättern und ihrer Ver­ breitung sprachen wir schon in anderm Zusammenhang.1 Erwähnens­ wert sind die gemeinnützigen Bestrebungen des Vereins für Verbreitung guter Schriften, der seine unterhaltenden Heftchen sehr billig bietet, um der Schundliteratur und den Hintertreppenromanen entgegenzuwirken. Daneben bestehen viele Jugend- und Volksbibliotheken, doch werden sie wenigstens auf dem Land nicht immer in der gewünschten Weise benützt, von anderer Seite trägt die Seelsorge bei zur Hebung des religiösen Lebens. Sie ist die Krone des pfarramtlichen wirkens. An manchen Orten wird sie fast nur an Krankenbetten geübt und da gern gesehen, während bei Gesunden wenig verlangen nach geistlichem Zu­ spruch ist. Anderwärts dienen seelsorgerliche Hausbesuche mit und ohne veranlaffung dazu, ein zutrauliches Verhältnis zwischen. Pfarrer und Gemeinde herzustellen, und die Leute reden gern mit dem Pfarrer über religiöse Fragen. Manche Kirchenordnungen und Gemeinden verlangen ausdrücklich, daß der Pfarrer Hausbesuche mache oder daß er im Lauf eines Jahres alle Haushaltungen besuche. Diese Besuche werden geschätzt, auch von denen, die keine tiefen religiösen Bedürfnisse haben. Selbst ein Freidenker verlangte es von seinem Gemeindepfarrer. (Es kam vor, ’) Siehe S. 161.

166

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

daß ein Pfarrer im Lauf des Jahres 1000-1200 Hausbesuche machte. (Ein anderer im Kt. Bern klagte, daß er es auf nur 200 brachte, ob­ wohl es 500 hätten sein sollen. Ein Urteil über die Hrt der Volksfrömmigkeit zu fällen, ist gewagt. Mit Recht bemerkt ein Berner Bericht: „Uber nichts ist das Volk zurückhaltender als über sein religiöses Empfinden. Negative Äußerungen wagen sich eher hervor als die positive Russprache. Man kehrt das heiligste nicht gern heraus, will sich nicht der Frömmelei verdächtig machen,- aber das Religiöse sitzt in einem Winkel des Herzens, zurückgedrängt durch die irdischen Sorgen und Geschäfte, wenn diese durch schwere Erfahrungen beiseite gerückt werden, dann kann das religiöse Bewußtsein oft mit Macht hervorbrechen." Diese Zurückhaltung in religiöser Hinsicht ist das häufigste; es sei denn, man wäre durch methodistische Einflüsse auf ein anderes Geleise geraten. Gewöhnlich urteilt man, daß die Frömmigkeit im Bauernstand den besten Boden finde, schon darum, weil der Bauer konservativ und kirchlich zu sein pflegt. „Vas Rithergebrachte wird schon als solches hoch geschätzt. Vie Religion wird als ein Erbteil der vorfahren heilig gehalten und geübt. Der Landmann geht zur Rirche, weil es Sitte ist und sich schickt." Rber durchwegs gilt das nicht. Der schweizerische reformierte Bauer ist nicht rückständig. Wenn er auch seine Zweifel dem Pfarrer gegenüber nicht äußert, so macht er sich doch seine Ge­ danken. Nicht alle Bauerngegenden sind kirchlich, manche sogar ent­ schieden unkirchlich. Ein Zürcherpfarrer meinte, in seiner Landgemeinde glaube kaum ein einziger Mann an das ewige Leben. Richtig ist, daß die Bauernreligion häufig einen gesetzlichen Zug hat. Bitzius sagt: „Vie Frömmigkeit des Berners ist fast ausschließlich eine praktische, äufr äußere Leben, das Rechttun gerichtete. Dagegen gebricht es ihr in hohem Maß an innerem Leben, an stiller Frömmigkeit der Seele, am Gottesdienst des Herzens." Übereinstimmend sagt ein Bericht aus dem Berner Seeland: „vorkommnisie des täglichen Lebens, das Leben selbst sowie das Sterben werden ost von einem ziemlich prosaischen Stand­ punkt aus betrachtet, dem die höhere, sittlich-religiöse Betrachtungsweise ftemd ist." Und aus dem Niederstmmental: „Vie Viehzucht und der ausgedehnte, schwunghafte Viehhandel beherrscht das allgemeine Interesse, und gar viele gehen in diesem Hauptinteresse auf und haben daneben für wenig anderes, am wenigsten für geistige Interessen Sinn. Vas merkt jeder, der sich in die Eisenbahn setzt oder Hausbesuche macht, daß dieses Interesse auch das tägliche Gespräch beherrscht, und das wohlgepflegte Rind für viele Hausväter wohl ebenso wichtig oder wich­ tiger ist, als das wohlgeratene Rind." Rnders ein Bericht aus dem Saanergebiet: „Vie Religiosität des

Vm. Religiös-sittlicher Leben.

167

Saaners gibt sich auch in seinen Reden sofort zu erkennen. Ls ist eine ausgeprägte Bibelfrömmigkeit. Besonders sind es Spuren von dem wirken der Heimbergerbrüder, die man hier vorfindet. Unsere Be­ völkerung ist durchaus religiös gesinnt. Vas Tischgebet ist überall gang und gäb. (Es ist nicht bloße Gewohnheit, sondern ein innerer Trieb den zu verehren und anzubeten, zu loben und zu preisen, dessen All­ macht man täglich fühlt und van dem man sich Schritt für Schritt ab­ hängig weiß. Der Bauer fügt sich willig in die Schickung mit dem Bewußtsein, daß Saat und Ernte, Frost und Hitze Gattes Gaben und Güte sind; und in Zeiten der Not sagt er: (Es wird o zu appis guet fi." Dach heißt es fünf Jahre später aus derselben Gegend: „Vas alte patriarchalische, gleichmäßige Wesen ist durch den wachsenden Verkehr, die Rus- und Einwanderung verschwunden und hat einer reichen Mannig­ faltigkeit Platz gemacht. 3m allgemeinen darf gesagt werden: Unsere Bevölkerung ist in ihrer großen Mehrheit wohl nach gut kirchlich, aber nicht eigentlich religiös. Der größere Teil weiß eigentlich vom persön­ lichen religiösen Leben nichts, er begnügt sich mit dem äußerlichen kirchlichen Leben." Ruders als der Bauer ist der Städter. Auf dem Land ist die Uirchgemeinde eine große Familie, die einzelnen Glieder kennen sich gegenseitig und kommen van selbst dazu, Gemeinschaft zu pflegen und sich allerlei Handreichung zu tun. Sie Kannen auch mehr oder weniger alle in einem persönlichen Verhältnis zum Pfarrer stehen, die Fäden des vertrauens können angespannen werden. Auf die Jugend vermag der Geistliche zusammenhängend, erzieherisch einzuwirken. 3n alledem bildet die große Stadtgemeinde das gerade Widerspiel. „Die weit­ schichtigen, dichtbevölkerten städtischen häuserkomplexe sind zum großen Teil von Menschen bewohnt, denen eine bewußte Stellung zu Religion und Uirche fehlt. 3n den erbansässigen Familien wirkt aus früherer Zeit ein Gemeindebewußtsein nach, das sich zumeist auch iy der Treue an der eigenen Rirche äußert. Allein was vermögen diese Wenigen gegen die Sturmflut der Masseneinwanderung! (Es wird immer nur in sehr beschränktem Maße gelingen, diese Elemente kirchlich anzugliedern. Ganze Bevölkerungsteile sind in beständiger Bewegung begriffen, ziehen van einer städtischen Gemeinde in eine andere, ahne sich irgendwo fest einzuwurzeln. So werden sie in keinem Gotteshause heimisch und ge­ winnen zu Keinem Pfarrer ein dauerndes Vertrauensverhältnis." Aus viel: „Wir leiden immer nach unter den Nachwehen der materialistischen Hochflut. Sie entsprach allzusehr dem Hang der menschlichen Natur nach schrankenloser Freiheit, als daß sie nicht fteudig begrüßt worden wäre und auch jetzt nach mit aller Zähigkeit festgehalten würde. Man erwarb sich durch das Nachbeten materialistischer Phrasen mühelos den

168

Stuckert, Rirchenkunde der reformierten Schweiz.

Ruhm eines „freien" Denkers, einen Ruhmestitel, den namentlich unter unserer Männerwelt viele durch ostentative Indifferenz in allen religiösen Fragen sich meinen erhalten zu müssen." Aus der Stadt Berit: „Ls ist kein Zweifel, daß die Zahl derjenigen, die die Gemeinschaft ihrer Seele mit Gott pflegen und aus innerem religiösen Bedürfnis zur Rirche kommen, nicht gering ist. Vas religiöse Denken beschränkt sich für viele auf das Anhören der predigt. Wir kennen aber auch Gemeinde­ glieder, welche gerne religiöse Bücher und Blätter lesen, die nicht aus­ schließlich erbaulich verfaßt sind, sondern in die Tiefe religiöser Ge­ dankenwelt führen. Sonst finden sich alle Schattierungen vertreten von einem äußerlichen, bequemen Gewohnheitschristentum bis zu einer leben­ digen, gemütstiefen Religiosität. Daß daneben auch der krasseste theo­ retische und praktische Materialismus und Atheismus seine Anhänger hat, braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden." Aus Zürich: „Über das Röstlichfte haben wir kein Urteil. Wir spüren hie und da an den wohlerzogenen unter den Rindern, was für ein schönes Leben daheim waltet, wir erkennen hie und da an den Opfern, welche Familienglieder für einander bringen, die Liebe Gottes, welche ausgegoffen ist über die Menschen, und aus der heroischen Geduld, mit welcher ein Leid getragen wird, was für eine Gotteskraft dem zu­ grunde liegt." Über die industrielle Bevölkerung äußert sich ein Neuenburger Bericht: „Vas Fabrikleben hat einen schlimmen Einfluß. Vie Ein­ wanderer sind meist junge Leute, die am Sonntag an nichts anderes denken, als sich zu amüsieren. Auch die erwachsenen Männer und ihre Frauen haben viel Mühe, den Weg zur Rirche zu finden. In den meisten dieser Uhrenfabriken herrscht ein irreligiöser Geist, der sich schnell der jungen Arbeiter und Lehrlinge bemächtigt. In diesen Fa­ briken wird jeder ernste Lhrist leicht der Spott seiner Rameraden, und es braucht eine große Lharakterstärke, um frommen Gewohnheiten treu zu bleiben." Aus dem Berner Jura: „Der Fabrikbetrieb zieht be­ denkliche Folgen nach sich. Hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen verlassen jeden Morgen unsere Dörfer, um sich in die Fabrik zu be­ geben. Die Eisenbahn ist ein permanenter Rlub, man liest da viel Zeitungen, man unterhält sich im allgemeinen in ganz anständiger Weise, aber es gibt auch Ausnahmen, und die Vertreter umstürzlerischer Systeme führen das laute Wort. Diese merkwürdige Wiederaufnahme des Nomadenlebens bedroht das Familienleben. Eine Rlaffe von Ar­ beitern scheint von einem Trieb zum herumziehen ergriffen, sie ziehen beständig von einer Fabrik zur andern. Auch diese Wurzellosen ent­ ziehen sich jeder Einwirkung. Die reichliche Arbeitsgelegenheit und der gesteigerte verdienst hat bei manchen eine geistige Verarmung und eine

Vin. Religiös-sittliches Leben. sittliche Betäubung

erzeugt."

Hus dem Kt Zürich

169 lautet es

etwas

anders: „Neben den innern Hemmnissen die äußern, die engen Woh­ nungen und viel zu dicht bevölkerten Wohnhäuser, die unglücklichen Erwerbsverhältnisse, welche häufig beide Eltern dem Hause entziehen, das beständige wandern, welches dem Rinde das nicht allein be­ glückende, sondern auch sittlich und religiös schützende Heimatsgefühl raubt. Doch auch die industrielle Bevölkerung zeigt religiöses Interesse. Im allgemeinen hat man den Eindruck, daß Religion und Kirche in den meisten Häusern keineswegs als Nebensache betrachtet wird." Und aus einer andern großen zürcherischen Fabrikgemeinde: „wenn wir von dem kirchlich-religiösen und sittlichen Leben unserer Kirchgemeinde Rechen­ schaft geben sollen, so brauchen wir das, Gott sei Dank, nicht mit Seufzen zu tun. wenn von den äußern sittlichen Wirkungen auf die innern religiösen Ursachen geschlossen werden darf, so bietet die gegen­ wärtige Situation kein unerfreuliches Bild. Gewiß fehlt es dem Bild nicht an düstern Zügen, aber den guten Gesamteindruck vermögen sie nicht zu verwischen. Alles in allem genommen haben wir Ursache zu­ frieden zu sein, von einem Zerfall des kirchlichen Lebens ist nichts zu spüren. Ein frischer kirchlicher Zug geht durch unsere Leute." Immer­ hin auch aus dem Kt. Bern: „Die in mehreren Ortschaften bei Thun stark vertretene Arbeiterschaft nimmt eine freundliche Stellung zur Kirche ein und beteiligt sich stark am kirchlichen Leben." Ein besonderes Gesicht zeigt die Frömmigkeit da, wo sie von kleinen pietistischen Kreisen beeinflußt ist. Doch wird dieser Einfluß sehr verschieden beurteilt. Aus dem Kt. Bern hörten wir oben den Einfluß der Heimbergerbrüder loben. Andrerseits sagt ein Bericht aus der Gegend von Thun: „Allerdings ist das Pathos in jenen Kreisen ein starkes, aber den heftigen Aufregungen und Zuckungen des religiösen Lebens entspricht das Ergebnis durchaus nicht. Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Kreise das Salz des Bernervolkes sind." Dagegen aus dem Kt Zürich: „Der lebendige religiöse Sinn der Gemeinde in der Gegenwart ist zumeist einer Gruppe von Familien zu danken, welche sich seit alter Zeit in besondern, intimen Versammlungen neben dem öffentlichen Gottesdienst zu erbauen pflegten. Auch bei denen, die sich von den „Stunden" fernhalten, regt sich vielfach lebendiges reli­

giöses Interesse, manche sind wohl mehr, als sie sich selbst eingestehen, durch jene Frommen angeregt und beeinflußt." — Richtig ist, daß die pietistischen Kreise meist ein enges, gegenüber Wissenschaft, Theologie und Bildung ängstliches Thristentum haben, doch findet sich in der rauhen Schale neben Scheinwesen und Richtgeist oft auch viel kraftvolle Herzens­ frömmigkeit und hauptsächlich (vpferwilligkeit für alle Werke des Reiches Gottes.

170

Studiert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz. Aberglaube scheint sich im reformierten Teil des Volkes nicht

viel breit zu machen. Nur aus dem Kt. Bern wird berichtet, daß etwa von verhexten Kühen im Stall die Rede sei. „Jener junge Mann fürchtete sich, des Nachts in seiner Wohnung allein zu sein, weil der Teufel ihm erscheine. (Es wird wohl der Alkoholteufel gewesen sein. Jener Bursche hatte sich in einem Beutel zwei Fledermausherzen auf die Brust gehängt, weil ihm das unfehlbar Glück bringen müsse. Vie kirchliche Fürbitte am Rarfreitag wird für besonders kräftig gehalten, das Brot der ersten Kommunion etwa statt in den Mund in die Tasche gesteckt, um es zu allerlei Hokuspokus zu gebrauchen. Weiße Blätter an Blumentöpfen oder im Garten gelten als Todesboten, der „lust­ hangende Brief" ist noch in mancher ältern Hausbibel zu finden, die „drei höchsten Namen" kursieren noch immer, um mit ihnen zu heilen. Vas Laufen zu Wunderdoktoren und das Tagewählen (Mittwoch und Freitag) wird auch noch geübt."

3n jedem Fall gibt uns der Rückblick auf das religiöse Leben

unserer Tage keinen Grund zum verzagen. Wir sprechen mit einem Berner Bericht: „Vie Zeiten der Anfänge des Thristentums waren doch noch schlimmer, und doch hat Jesus nie über die Zeit geklagt; er hat wohl das Gericht über die Sünder kommen sehen, aber auch das sichere Kommen des Gottesreiches, und ist nie müde geworden, das ihm vom Vater übertragene Werk zu tun. Für die Zukunft seiner Ge­

meinde war ihm nie bange. So kann und soll es auch uns nicht bange werden; denn die Kraft aus der höhe ist größer und stärker als alle Kräfte und Mächte der Erde."

2. Dar sittliche Leben. Die Sittlichkeit unserer Zeit trägt Kein religiöses, sondern ein soziales Gepräge. Der Nachdruck liegt nicht auf dem Ernst der Ver­ pflichtung, auf den ewigen unverbrüchlichen Forderungen Gottes an jede Menschenseele, sondern auf der Abwehr von übelständen und Nöten aller Art im menschlichen Gemeinschaftsleben. Diese Moral der Huma­ nität hat ihre schöne Seite; aber sie schafft auch ein verwöhntes, ober­ flächliches Geschlecht, in dessen Leben es keine starken Akzente, keine unbedingten Werte, keine großen Gpfer, keine mächtigen Charaktere gibt. Vie Kirche muß die Humanität auf eine höhere Stufe, zum Dienst des Ewigen im Menschen erheben. Da aber, wo Frömmigkeit und Moral noch eng verbunden sind, ist Sittlichkeit vielfach bloß Sitte. Sitte und Sittlichkeit aber sind ihrem Wesen nach verschieden wie Form und Geist, wie äußerliches und innerliches, hier muß die Kirche die

Vm. Religiös-sittliches Leben.

171

Gewissen schärfen, damit, was Überlieferung ist, Gesinnung wird. So äußert sich ein Zürcher Bericht. Der allgemeine Stand der Sittlichkeit wird sich bemessen lassen am Familienleben, am Berufsleben und an der Geselligkeit des Volkes. Bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung begünstigt die Kon« stanz der Verhältnisse und die Notwendigkeit gleichmäßiger Arbeit die Macht einer einfachen ehrbaren Sitte. Zahlreicher sind die Feinde der Familie in der industriellen Bevölkerung; doch ist auch hier solides, ehrbares Familienleben kein Ding der Unmöglichkeit. „Wenn wir trotz aller Hemmungen und Versuchungen von außen auch unter unsern Arbeitern einen soliden und ehrbaren Kern mit einem gesunden Fa­ milienleben haben, so hat dies seinen Grund in dem sittigenden Einfluß, den das Christentum, vermittelt durch Kirche, Schule und Haus, durch manche Sitte und Einrichtung in stiller, aber stärkerer Weise, als wir oft denken, heute noch ausübt." So aus dem Kt. Zürich. Und aus dem Kt. Bern: „Unser Volk besitzt gute sittliche Eigenschaften: Einfach­ heit, Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Redlichkeit im allgemeinen, und nach der Seite des persönlichen Charakters: Bedächtigkeit, Umsicht, Ruhe, Familiensinn, eine gewisse Abgeschlossenheit und Selbständigkeit, die sich freilich oft bis zur Verschlossenheit steigert, viel Gutes geschieht in aller Stille, nachbarliche Beihilfe ist selbstverständlich." Was die Sittlichkeit im engern Sinn betrifft, so fällt der ver­ gleich mit frühern Zeiten nicht zu ungunsten der Gegenwart aus. Wer sich frühere Zustände als „gute alte Zeit" gern zurückwünscht, soll nur die alten Chorgerichtsprotokolle der Gemeinden studieren, so wird er entdecken, daß es damals nicht nur ländlich-sittlich, sondern sehr oft ländlich-schändlich und zwar greulich-schändlich zu- und herging. Dann darf man doch in mancher Beziehung einen Fortschritt konstatieren, vielfach ist eine Abnahme der unehelichen Geburten zu konstatieren. Leichtsinnige Ehen und Ehescheidungen sind leider häufig. Jnbezug auf den vorehelichen Umgang junger Leute, der im Kt. Bern Kiltgang ge­

nannt wird, ist das Urteil je nach der Gegend sehr verschieden. Selbst innerhalb des Kt. Bern heißt es in manchen Berichten, der Kiltgang habe abgenommen, während andere sagen: „Man muß sich entsetzen, wie der Kiltgang zum Massenbetrieb ausgeartet ist. Es ist ein wahrhaft schamloses Treiben; die Mädchen, die die Burschen in Zucht halten sollen,

stehen da in keinem bessern Licht.

Am schlimmsten treiben es die, die

auch verheiratete Männer nicht zurückweisen." „Ich habe zwar den Eindruck, daß die Mußheiraten etwas seltener geworden sind, aber sie kommen doch noch ziemlich zahlreich vor, und auch in den guten Bauernfamilien. Doch ist damit noch nicht entschieden, ob die Bauern­ töchter wirklich züchtiger oder nur raffinierter geworden sind." „viele

172

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

Mädchen haben fingst vor dem Sitzenbleiben, wenn sie der allgemeinen Sitte widerstünden; und dies Schicksal trifft auch manche sittenreine Tochter, während das lockere Volk der leichtsinnigen Mädchen eine heirat ergattert, die ein minderwertiges eheliches und häusliches Leben häufig im Gefolge hat." Die Landbevölkerung pflegt wenigstens den vorehelichen Verkehr meist durch nachfolgende heirat zu legalisieren,

fiuch in der Gstschweiz gibt es immer eine ordentliche Zahl braver Bauerntöchter, aber auch überall geheimes schamloses Wesen; sittenreine junge Burschen sind seltener. Unter der industriellen Bevölkerung ist es mit der Sittlichkeit übrigens nicht besser bestellt. Tin Glück ist es, daß in mancher leichtsinnig geschlossenen Ehe unter der Not und firbeit des Lebens in gesetztem filier Mann und Frau unter günstigen Um­ ständen sich doch noch zu ehrenfesten Hauseltern entwickeln. Wenn der Berneroberländer singt: Auf der film, da gibt's kei Sünd! oder

3 Städte hei's viel Zwang und Strrst, Me meint, i d's Fägfüür z'cho, hie obe sq ganz ander Lüt! Die müsse nüt drvo. so heißt das den Mund viel zu voll genommen. Und richtiger singt ein Freund des hochgebirgs wie der Schweizer Professor äbt):

Welch ein lieblicher Traum von Glück umschwebt dort die Hütte! Aber von ferne nur weile mit zögerndem Fuß. Denn trittst näher du hin, zerfließt er vielleicht; du wendest Getäuscht dich hinweg, wohnen doch Menschen darin, Menschen, die immer sich gleich mit ihren Gebrechen und Fehlern, Gb sie der hohe Palast, ob sie die Hütte genährt.

Doch darf man sagen: So durchseucht von der Unsittlichkeit wie einige andere Völker ist das Schweizervolk glücklicherweise nicht. 3m Kt. Zürich wurden vor einigen Jahren die staatlich kontrollierten Bor­ delle durch Volksbeschluß aufgehoben, und als von gewisser Seite die 3nitiative ergriffen wurde auf Wiedereinführung derselben, wurde sie mit 49 000 gegen 18 000 Stimmen verworfen. Und aus Bern wird be­ richtet: „Der Kampf gegen die schlechten Häuser wird mit aller Energie fortgeführt und die Bemühungen des Münsterkirchgemeinderates, der in nachahmenswerter Weise vorgegangen ist, sind durch die Polizeibehörden, den Staatsanwalt und das Uichteramt unterstützt worden. 3nfolgedessen haben sich die schlechten Häuser vermindert. Die Bewohner eines Stadt­ quartiers haben auch durch Einrichtung eines nächtlichen Patrouillen­ dienstes den Halter eines Bordells zur Aufgabe seines Geschäfts ge­ zwungen. Ganz zu Boden ist man mit der Sache nicht gekommen.

Vlll. Religiös-sittliches Leben.

173

Der Männersittlichkeitsverein ist im stillen stetsfort tätig, den Zeitungs­

kiosken wird nachgegangen und in betreff der dort verabfolgten Lite­ ratur, soweit es möglich ist, eine Aufsicht ausgeübt." Über die Kindererziehung wird meist die Klage laut, daß es an Ernst und Festigkeit fehle. Das weichgewordene, verwöhnte Ge­

schlecht unserer Tage ist stark im verwöhnen, in der Nachgiebigkeit gegenüber den Torheiten der Jugend, aber schwach in der echten Liebe, die durch Zucht und strafenden Ernst die jugendliche Unart und Lüstern­ heit besiegt und den Charakter ausbildet. Gehorsam und Ehrfurcht gegen die Eltern nehmen ab. Lassen die Eltern den Kindern ihren Willen, so müffen sie bald erfahren, daß diese sich um den Willen der Eltern nicht mehr bekümmern. Aus landwirtschaftlichen Gegenden kann es heißen: „Schlingel und Gassenbuben können sich hier nicht entwickeln; die Gelegenheit dazu fehlt gänzlich." Aber in den Städten fehlt es an passender Beschäftigung für die Jugend. Zahlreiche Mütter müffen ihren Erwerb außer dem Hause suchen, die Kinder sind den ganzen Tag sich selbst überlassen. Kinderkrippen und Jugendhorte greifen hier wohltätig ein, sind aber doch nur Notbehelfe. Schlimme Wohnungs­ verhältnisse, wo einer großen Familie nur eine einzige Stube mit we­ nigen Betten zur Verfügung steht, helfen die kindliche Reinheit ver­ derben. Am schlimmsten steht es mit der Kindererziehung beim wan­ dernden Volk, das ohne die bewahrende Macht der Ordnung und Sitte in den Tag hineinlebt, heute in Saus und Braus, weil Geld da ist, um morgen die Kinder auf den Bettelgang zu schicken. Un­ günstig wirkt der Umstand, daß die Kinder zu früh (vom 14. Jahr an) Gelegenheit bekommen, durch die Fabrikarbeit Geld zu verdienen. Zum Nachteil ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung werden sie von faulen Eltern ausgenützt, oder gehen ihren eigenen Weg, indem sie ihren Verdienst für Vergnügungen, Wirtshausleben, Ausflüge, Velosport, Vereinsinteressen vergeuden und sich weigern, zum Unterhalt der jüngern Geschwister etwas beizutragen. Die Klage über gewissenlose Kinder ist verbreitet, die es ihren Eltern zu fühlen geben, daß sie von ihrem Erwerb abhängig sind. Aber auch wo es nicht soweit kommt, gibt die häusliche Erziehung den Kindern den Geist der Zucht nicht mit, der in unserer Zeit das unerläßliche Gegengewicht gegen Lebensgenuß und Zerstreuung bildet. Daneben freilich auch „eine schöne Zahl von Eltern, welche ihre Kinder nicht nur schulen lassen wollen, sondern denen es das oberste Anliegen ist, sittliche Tüchtigkeit und ernste Frömmigkeit in ihnen zu pflanzen." Anzuerkennen ist, daß Gemeindebehörden, welche Kinder zu versorgen haben, sie nicht mehr an denjenigen verdingen, der am wenigsten verlangt, wie Jeremias Gotthels es noch schildert. Die Verdinggemeinde ist abgeschafft. Die Pflegeplätze werden gewissenhaft

174

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

ausgesucht, Waisen werden in guten Familien, eventuell in Anstalten, untergebracht, wenn es auch noch Pflegeeltern gibt, die meinen, es sei genug, wenn ihre Verdingkinder z'ässe und z'wärche hätten, so rechnet der rechte Bauer es sich doch zur Ehre an, wenn aus einem Hüterbuben oder Meitli einst ein tüchtiger Unecht oder eine anstellige Magd wird. 3m allgemeinen hat der Wohlstand zu-, die Armut abgenommen? Pauperismus ist oft eine Folge des Alkoholismus. „Ich weiß hier keine Armen, als die es durchs Trinken geworden sind." Doch aus demselben KL Bern: „Es gibt unleugbar Familien, wo der Verdienst des durchaus fleißigen und soliden Hausvaters beim besten Willen für die Bedürfnisse der Familie nicht ausreicht. 3m allgemeinen aber nehmen die Ersparnisie der Leute zu. Wo ungeordnete und in ökonomischer Hinsicht im argen liegende Zustände in den Haushaltungen vorhanden sind, da haben sie oft ihren Grund darin, daß Frauen nicht recht im­ stande sind, eine Haushaltung zu führen." Vie Heimarbeitsausstellung in Zürich 1909 hat gezeigt, daß hier die Löhne manchmal so gering sind, daß man sich entsetzen muß und größtes Elend unabwend­ bar ist. Trotzdem wird in betreff der Lebenshaltung die alte Einfachheit mehr und mehr verdrängt; Aufwand, Luxus und Vergnügungssucht nehmen zu. Für Kleidung und Wohnungsausstattung gelten feinere Normen als noch vor etwa 20 Jahren. 3n den Hinterstuben finden wir bereits Parkettböden, moderne Fabrikstücke von Möbeln, schwellende Sofas in allen Farben. Mit dem Schwinden der alten schönen Landes­ tracht kommt bei den Mädchen, die es den Städterinnen nachmachen wollen, das Flatter- und Plunderzeug auf. Dienstboten, die am Sonn­ tag im vollen Staat, am Werktag mit zerrissenem und beschmutztem Zeug daherkommen. Hoffart und Genußsucht bestricken das jüngere Geschlecht und lähmen Lust und Fleiß zur Arbeit. Dazu mehren sich auch auf den Dörfern die Anlässe zu Belustigungen, wie die zahlreichen Einladungen in den Anzeigern es ausweisen. Wenn auch an musikalische und dramatische Darbietungen höhere ästhetische Anforderungen gestellt werden, so machen sich die Auswüchse in der niedrigen Schicht städtischer Bevölkerung noch breit genug, wo sie der Naivität entkleidet als raffi­ nierte Gemeinheit in Spelunken und varistetheatern gepflegt werden. Zur Bekämpfung des Kleiderluxus bei der Konfirmationsfeier hat eine Kirchenpflege die Bestimmung getroffen, daß die Mädchen die hüte vor­ her im Pfarrhause abzulegen haben. Bei einem Konzert berechnete ein Spaßvogel, daß auf der Empore der vorfkirche an den Sänge« x) Siehe Einleitung S. 5.

VH!. Religiös-sittliches Leben.

175

rinnen für 780 Fr. hüte zu sehen waren! Die Armen meinen mit den Reichen Schritt halten zu sollen. Lin Rrebsübel am Volksleben ist der Alkoholismus. Der ver­ brauch geistiger Getränke im jährlichen Durchschnitte von 10 Jahren, 1893/1902 bei einer mittleren Bevölkerung von 3 180 000 Einwohnern, beträgt in der Schweiz:

per Kopf

Absoluter Alkohol

per Kopf

Hektoliter

Liter

Hektoliter

Liter

2 850 000 900 000 1 975 000 155 000

89 8/4 28 62 5

275 000 45 000 90 000 92 000

8,05 1,40 2,83 2,80

502 000

15,78

Einfuhr und Produktion

wein . . . TUoft . . . Bier .... Schnaps . .

3n einem einzigen Jahr werden 175 Millionen Franken vertrunken, das Fünffache sämtlicher Schulausgaben, das Sechsfache des Militärbudgets. Die Betriebszählung von 1905 ergab in der Schweiz 23 796 Wirt­ schaften; darin inbegriffen 3063 Gasthöfe und fünf automatische Bier­ hallen. Durchschnittlich kommt auf 149 Einwohner, Frauen und Rinder inbegriffen, oder auf 37 erwachsene Männer eine Wirtschaft. In den Rantonen Tessin, Thurgau, Schwyz, Graubünden, Appenzell und Glarus trifft es auf 100 Einwohner oder 25 Männer eine Wirtschaft. In den Rantonen Baselstadt, Luzern, Freiburg und Bern auf mehr als 200 Einwohner oder 50 Männer eine solche. Durch allgemeine Volksabstimmung wurde nun allerdings das Recht zur Herstellung und Einfuhr gebrannter Wasser ausschließlich dem Bund zugewiesen (Klkoholmonopol), monopolfrei sind nur diejenigen gebrannten Wasser, die im Inland aus Rohstoffen einheimischer Herkunft gewonnen werden. Der Monopolgewinn des Lundes auf Trinksprit beträgt 120 bis 150 Fr. pro Hektoliter absoluten Alkohols, von dem erzielten Gesamtgewinn verteilt der Bund an die Kantone den sog. Alkohol­ zehntel mit jährlich durchschnittlich sechs Millionen, die von den Ran­ tonen zur Bekämpfung des Alkoholismus usw. sollten verwendet werden. Ferner wurde am 5. Juli 1905 durch Volksabstimmung mit 233 000 Ja gegen 135 000 Rein das Absinthverbot angenommen. Der Absinth, ein in Frankreich und im Welschland beliebter Schnaps, war immer mehr zur Volksgefahr geworden; 50 — 80 °/o Alkohol enthaltend, betrug sein Konsum in der Schweiz im Jahr schon gegen eine Million Liter. Durch jene Abstimmung ist er nun aus dem Gebiet der Schweiz verbannt.

Stuckert, Kirchenkunde der reformierten Schweiz.

176

Durch diese Alkoholgesetzgebung des Bundes, unterstützt durch die energische Arbeit der verschiedenen alkoholgegnerischen vereine* ist der Schnapskonsum in der Schweiz wesentlich zurückgedrängt worden. So­ wohl aus der (Vst- wie Westschweiz begegnet man Berichten, welche Konstatieren, daß das Wirtshausleben abnehme und der Alkoholismus im Rückgang begriffen sei. Ein Fortschritt sei auch darin erkennbar, daß es viel mehr abstinente Leute gebe als früher und man nicht mehr spotte über die Abstinenzbestrebungen, sondern sie ernster nehme. Der Kampf gegen den Alkohol wird überall ernstlich geführt. 3nt Kt. Aar­

gau arbeitet das Blaue Kreuz in 30 von 53 Gemeinden. Jedenfalls bricht sich die Überzeugung allgemein durch, daß der Kampf gegen den Alkohol das Dringendste ist, was es im sittlichen Gebiet zu

tun gibt. Zu tun gibt es aber noch viel, während der Schnapskonsum zu­ rückgeht, entwickeln Zweiliterwirtschaften und Bierdepots eine lebhaftere Tätigkeit. Der Flaschenbierhandel, welcher Einzelne, auch Frauen, zum häuslichen Trunk verleitet, nimmt zu. Aus einer großen holzreichen Berner Dorfschaft wird berichtet, daß das Geld, welches durch Holz­ ausfuhr im Betrag von etwa 100 000 Fr. gewonnen wird, für die Einfuhr von wein, Bier usw. wieder auswandert. Schlimm ist im Kt. Bern auch das Trinken des sog. „Schwarzen", d. h. schwarzer Kaffee, stark mit Schnaps vermischt, der in Bauernhäusern großen Schaden an­ richtet und sogar den Kindern gegeben wird, während man die Milch den Kälbern gibt. Der Alkoholismus ist also immer noch ein Krebsschade. Richt überall hat man Verständnis für eine radikale Bekämpfung. Gft hört man die Ausrede: Ach, die Wirte beten auch ums tägliche Brot. Gder es wird der Fanatismus und die Engherzigkeit der alkoholgegnerischen vereine getadelt. Doch ist bei den verständigen die Einsicht in die Gefahr des Alkoholismus erwacht, Trunksucht gilt nicht mehr als un­ schuldige Torheit und der Trinkzwang hat seine Macht verloren. Die möglichen Schatten des Temperenzlebens fallen angesichts des Segens, den es stiftet, gar nicht in Betracht, viele Pfarrer beteiligen sich direkt oder indirekt bei der Sache der Temperenzvereine. Alkoholfreie Kost­ häuser, Kaffeehallen usw. nehmen an Zahl zu. 3n die Lesebücher der Schulen werden Abschnitte ausgenommen, die schon der Jugend die Ge­ fahren und Schäden des Alkohols vor Augen führen. 3m Kt. Waadt wird jedem Konfirmanden von der Kirche ein Schriftchen „Wachet und seid nüchtern" in die Hand gegeben, welches vor dem Alkoholismus warnt,

hier im Kampf gegen den Alkohol haben wir in der Schweiz

*) Siehe S. 129 f.

VM. Religiös-sittlicher Leben.

177

ein Gebiet des sittlichen Lebens, von dem man freudig sagen darf: (Es geht vorwärts. Ruf dem Gebiet der Volksvergnügungen ließe sich auch noch manches verbessern. Der Feste, die Jahr für Jahr im Schweizerland gefeiert werden, sind Legion. Eidgenössische, kantonale und Bezirks-

Schützenfeste, Sängerfeste, Turnfeste, Ring-, Schwing- und Klplerfeste, Feste von allen möglichen Vereinen, Fahnenweihen und waldfeste, Volksfeste, Ronzerte, Rufführungen musikalischer und theatralischer Rrt usw. Im KL Waadt wurden z. B. im Jahre 1906 1044 öffentliche Feste gefeiert. (Es ist natürlich, daß das Volk seine Freuden und ge­ selligen Anlässe haben will, aber veredelt, besonders aus dem Bann des Alkoholismus gelöst, müßten diese Anlässe doch werden. Am wirk­ samsten sind hier wohl gut arrangierte Familienabende mit Projek­ tionen, oder noch zügiger Volksschauspiele, wie solche aus Anlaß der Gedenkfeiern des Eintritts in den Schweizerbund in mehreren Ran­ tonen aufgeführt wurden: Szenen aus der vaterländischen Geschichte; daneben die Tellschauspiele in Rltorf, Freiluftbühne in Zürich: Rarl der Rühne, sogar die Passionsspiele in Selzach im Rt. Solothurn. Beliebt sind gewisse kostümierte Umzüge, die jährlich wiederkehren wie das Sechseläuten in Zürich, das Narzissen- und Winzerfest in Vevey und weniger volksbildend die Fastnachtsumzüge in Basel und anderwärts. Der Schweizer ist bekannt wegen seiner heimatsliebe. Doch ist die blühende Fremdenindustrie hierfür eine Gefahr. Um Geld zu ver­ dienen, will man den Fremden in allem zu willen sein, nimmt fremde Sitten und Einflüsse auf und vergißt und verliert die Kräftige Eigenart. Doch regt sich dagegen immer wieder die Vaterlandsliebe, das hängen an der Scholle und der Sitte der Väter. Vereine für Heimatschutz treten dem alles nivellierenden internationalen Wesen entgegen. Ulan sucht den Sinn zu wecken für die Schönheit der alten Bauernhäuser im Aargau und Bernbiet, die so breit und heimelig mit ihren tief herab­ gehenden Strohdächern zwischen alten Birn- und Apfelbäumen stehen. Selbst in den Städten fängt man an statt unförmlicher Backsteinkästen und Mietskasernen wieder stilvollere und künstlerisch befriedigendere Häuser auszurichten. Die alten Baudenkmäler werden erhalten und geschont, das Bild der Dorfstraße, der Rirche und ihrer Umgebung usw. einheitlicher aufgefaßt. Unschöne Plakate, die die Gegend entstellen, werden entfernt. Die Volkstrachten, unter denen einige Kantone (Bern, Appenzell) recht schöne aufzuweisen haben, konserviert. Alte kirchliche und örtliche Sitten werden wieder belebt. Man wird sich bewußt, daß die heimatliebe und Heimatsitte eine nicht zu unterschätzende Stütze der Frömmigkeit und Sittlichkeit ist, daß dagegen da, wo der Mensch

aus der

Heimat und allen festen Beziehungen

Stuckert, Uirchenkunde ter ref. Schweiz.

entwurzelt ein vom 12

178

Stuckert, Rirchenkunde der reformierten Schweiz.

wind verwehtes Blatt wird, auch das Seelen- und Gefühlsleben leicht Not leidet. Der Boden, den die Rirche im Auftrag ihres Herrn bearbeitet, ist oft schwer und hart, und die Ernte, die an religiös-sittlichem Leben darauf erzielt wird, eine sehr unbefriedigende, ja es möchte manchmal scheinen, als ob es an fruchtbarem Erdreich ganz fehle. Aber die zähe Arbeit des Landmannes weist uns auf die rechte Spur. Dort drüben, wo jetzt der Weizen im Winde hin und her wogt, dehnten sich auch einst Steppe und Tümpel, jetzt ist es urbares, fruchtbares Land ge­ worden. wenn die schwache Menschenhand so Großes zustande gebracht hat, wie viel mehr kann Gottes Hand da, wo menschliches Auge nur sittliche Niederungen und religiöse Verflachung sieht, das Leben wecken. Die Rirche soll in Glauben und Treue ihre Pflicht tun, umsonst wird es nicht sein, wenn die Zukunft auch anders ausfällt als wir denken. Er sitzt im Regiments und führet alles wohl.

Inhaltsverzeichnis. Seite

Einleitung............................................................................................................

1

1. Land und Leute................................................................................... 2. Geschichtliches........................................................................................ 3. Kirchengeschichtliches...........................................................................

1 5 8

I.

Außere Verhältnisse.............................................................................. 14

1. 2. 3. 4.

Bundesverfassung und Kirchen ...........................................................14 Die Kirchgemeinde....................................................................................17 Vie Kirchgebäude....................................................................................19 Vas geistliche Hmt................................................................................... 22

II. Kirchenverfassungen............................................................................... 30

1. Einleitung ................................................................................................30 2. Baselstadt ................................................................................................32 3. Baselland.................................................................................................... 35 4. Waabt........................................................................................................ 35 5. Schaffhausen................................................................................................37 6. Graubünden ............................................................................................38 7. Glarus . . ................................................................................................ 40 8. Bern ........................................................................................................ 41 9. Zürich........................................................................................................ 43 10. Neuenburg................................................................................................ 45 11. Nppenzell.................................................................................................... 47 12. Freiburg.................................................................................................... 48 13. Nargau .................................................................................................... 49 14. St. Gallen ................................................................................................51 15. Thurgau.................................................................................................... 52 16. Genf.............................................................................................................53 17. Unabhängige Kirche Neuenburgs ...................................................... 57 18. Freie Kirche der Waadt....................................................................... 60 19. Freie Kirche Genfs ............................................................................... 62 Anhang: Bekenntnisse undGrdinationsgelübde ....................................64 III. Kirchliche Grgane 1. 2. 3. 4.

..................................................................................... 69

Die schweizerische evangelischeKirchenkonferenz .............................. 69 Die schweizerische reformiertePredigergesellschaft.............................. 70 Die Kommission für kirchlicheLiebestätigkeit....................................72 Geistlicher Stand ..................................................................................... 75

180 Seite

IV. Das kirchliche Leben 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

...................................................................

87

Kirchenbuch und Gesangbuch........................................................... 87 Der Gottesdienst............................................................................... 89 Kirchliche Festtage............................................................................... 92 Die Kinderlehre ............................................................................... 95 Die Sonntagsschule........................................................................... 96 Der pfarramtliche Religionsunterricht.......................................... 98 Die Konfirmation............................................................................... 101 Trauung.................................................................................................... 108 Begräbnis................................................................................................ 109 Taufe.........................................................................................................110 Abendmahl ............................................................................................112 Gpferwilligkeit........................................................................................113 Wahlbeteiligung....................................................................................114 Kirchliche Armen- und Krankenpflege.............................................. 115

V. Kirchliche Vereine............................................................................... 118 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Mifiionsgesellschaften........................................................................... 118 Der protestantisch-kirchliche Hilfsverein..........................................121 Bibelgesellschaft........................................................................................123 Christliche Manner- und Jünglingsvereine...................................... 124 Der Verein des Blauen Kreuzes.......................................................127 Evangelische Gesellschaften................................................................... 131 Kirchenchöre............................................................................................133 Freundinnen junger Mädchen undFreunde des jungen Mannes 134 Landeskirchliche Stellenvermittlung.................................................. 136

VI. Andere religiöse Gemeinschaften.............................................. 138

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Katholische Kirche....................................................................................138 Christkatholische Kirche....................................................................... 143 Russisch-orthodoxe Kirche....................................................................... 144 Anglikanische Kirche............................................................................... 145 Schottische Presbyterianerkirche...........................................................145 Lutherische Kirche....................................................................................145 Brüdergemeinde ....................................................................................145 Chrischona................................................................................................ 146 Nichtlandeskirchliche Gemeinschaften.................................................. 148 Israelitischer Kultus............................................................................... 150 Freidenker................................................................................................151

VII. Kirchliches und öffentliches Leben............................................ 153

1. Schule und Kirche....................................................................................153 2. politische Parteien............................................................................... 158 3. presse........................................................................................................ 161 VIII.

Religiös-sittliches Leben.............................................................163 1. Das religiöse Leben............................................................................... 163 2. Das sittliche Leben............................................................................... 170

Studien zur praktischen Theologie

Di. wollen in zwangloser Folge wissenschaftlich bedeutende Arbeiten aus den verschiedensten Gebieten derselben darbieten, die unser Verständnis der betr. Fragen wirklich zu fördern imstande und doch zugleich für einen weiteren Kreis von unmittelbarem (nicht lediglich historischem) Interesse sind. Die einzelnen Hefte sollen in der Regel nur eine Abhandlung ent­ halten und werden einzeln abgegeben; außerdem sind sie auch im Jahres­ abonnement zu einem erniedrigten Preise erhältlich. Seit Frühjahr 1907 gelangten folgende Hefte zur Ausgabe: Prof. D. Dr. Giemen, Bonn: Zur Reform der praktischen Theologie. (I. Bd. 1. H.) IV, 80 8. M. 1.80; i. Abonn. M. 1.50 Prof. D. Eger, Friedberg i. H.: Die Vorbildung zum Pfarramt der Volkskirche. (I. Bd. 2. H.) IV, 72 8. M. 1.70; i. Abonn. M. 1.40 P. Haupt, North-Tonawanda, N. Y.: Die Eigenart der amerikani­ schen Predigt. (I. Bd. 3. H.) II, 46 8. M. 1.20; i. Abonn. M. 1.— Prof. D. Dr. Schian, Gießen: Die evangelische Kirchgemeinde. (I. Bd. 4. H.) IV, 114 8. M. 2.70; i. Abonn. M. 2.25 P. Liebster, Leipzig: Kirche und Sozialdemokratie. (II. Bd. l.H.) IV, 128 8. M. 3.20; i. Abonn. M. 2.50 Ober-Kons.-R. Dr. v. Rohden, Berl.: Probleme der Gefangenenseel­ sorge u. Entlassenen!ürsorge. (II. Bd. 2. H.) M. 3.60; i. A. M. 2.90 P.Fritze, Nordhausen: Die Evangelisationsarbeit der belgischen Missionskirche. (II. Bd. 3. H.) II, 60 8. M. 1.60; i. Abonn. M. 1.30 Prof.Lic.Matthes, Darmstadt: Aussichten u.Aufgaben d. ev.Landeskirchen i. d. Gegen w. (III.Bd. l.H.) IV,96. M. 2.60; i. Abonn. M. 2.25 Prof. D. Dr. Giemen, Bonn: Der Religions- und Moralunterricht in Nordamerika. (III. Bd. 2. H.) VI, 54 8. M. 1.75; i. Abonn. M. 1.40 P. Haupt, North-Tonawanda, N. Y.: Staat und Kirche in Nord­ amerika. (III. Bd. 3. H) IV, 76 8. M. 2.20; i. Abonn. M. 1.75 P. Lic. Dr. Boehmer, Fürstenfelde: Dorfpfarrer und Dorfpredigt (III. Bd. 4. H.) VIII, 193 8. M. 5.20; i. Abonn. M. 4.50 P. Dr. Schubert, Rom: Unsere Predigt vom auf erstandenen Heiland (IV. Bd. 1. H.) VI, 85 8. M. 2.40; i. Abonn. M. 2.10

Weiterhin sind die nachgenannten Arbeiten angemeldet und zunächst zur Veröffentlichung in Aussicht genommen: Archidiak. Lic. Dr. Dibelius, Grossen: Das evang.-kirchliche Leben Schottlands. Prof. D. Eger, Friedberg: Die Lehre von den Sakramenten im Konfirmandenunterricht. P. Gjessing, Stord: Das kirchliche Leben Norwegens. Pf. Dr. Grilli, Livorno: Das evang.-kirchliche Leben in Italien. Priv.-Doz. Lic. Günther, Marburg: Über Gesangbuchreform. Pf. Lachenmann, Leonberg: Das ev.-kirchl. Leben Frankreichs. Doz. Rodhe, Lund: Das kirchliche Leben Schwedens. Pf. Schmidt, Isselburg: Das evang.-kirchliche Leben Hollands. Prof. D. Simons, Berlin: Der Bußtag einst und jetzt. Dr. Tiedje, Marburg: Das evang.-kirchliche Leben Dänemarks. Außerdem haben sich zur Mitarbeit bereit erklärt: P. Lic. Dr. Becker, Friedenau. Sen. Prof. D. Borne mann, Frankfurt a. M. P. Lic. Brückner, Hoboken, N. J. Sup. Bür kn er, Auma. Pf. Burggalier, Gr.-Strehlitz. P. prim. Burggraf, Bremen. Pf. Lic. Dick, Barmen. Prof. D. Drews, Halle a. 8. P. Geffken, Flammersfeld. Pf. Heine, Wörbzig. Oberl. Dr. Hennig, Zwickau. Kirch.-R.D. Dr. Katz er, Oberlößnitz-Dresd. P. D. Kirmß. Berlin. P. Kramer, Manchester. Prof. Marx, Frankfurt a. M.

P. Prof. D. Mehlhorn, Leipzig. Prof. Meinhof, Gr.-Lichterfelde. Oberl. Lic. Michael, Dresden. Rev. v. Petz old, Leicester. Pf. D. Richter, Schwanebeck. Geh. Kirch.-R. Prof. D. Rietschei, Leipzig. P. Rosenkranz, Liverpool. Sup. Schöttler, Schöneberg. Oberl. Schuster, Frankfurt a. M. P. D. Sülze. Dresden. Kons.-R. D. Teutsch, Hermannstadt. P. Wardenberg, London. P. Weicheit, Zwickau i. 8. P. Wolff, Aachen. Prof. D. Dr. Zimmer, Zehlendorf.

Bitte um Beachtung der Anzeigen auf der 3. u. 4. Umschlag seite.

Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus

Die

wollen alle Erscheinungen ins Auge fassen, durch welche die moderne Lage im Protestantismus bedingt ist, also neben der Auf­ klärung im weitesten Sinne vor allem den Pietismus, die Romantik, den deutschen Idealismus, die Erweckung und die Reaktion des 19. Jahrhunderts. Auch Außerkirchliches soll berücksichtigt werden, da ja die neuere theologische Entwicklung durch die Wandlungen der Gesamtkultur und besonders der Philosophie stark beeinflußt ist. Nur die jüngste Zeit bleibt ausgeschlossen, weil deren streng geschichtliche Behandlung noch nicht möglich ist. Es sollen problemgeschichtliche Untersuchungen, Biographien führen­ der Theologen, Darstellungen der Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie, der Frömmigkeit und der kirchlichen Institutionen gebracht werden. Daneben erscheinen Quellenhefte.

Heft 1. Lic. Horst Stephan: Luther in den Wandlungen seiner Kirche. IV, 136 8. 1907. J6 2.60; geb. 3.50. Heft 2. Lic. K. Bornhausen: Die Ethik Pascals. VIII, 171 8.1907. 4.—. Heft 3. Lic. Her man nM ul er t: Schleiermacher-Studien. I. Teil: Schleier­ machers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie. VIII, 92 S. 1907. 2.50. Heft 4. Prof. D. Joh. Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor 100 Jahren. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers. XII, 364 S. 1908. J6 10.—; geb. 11.— . Heft 5. Fred. Walter Wendland: Die Religiosität und die kirchen­ politischen Grundsätze Friedrich Wilhelms des Dritten in ihrer Bedeutung für die Geschichte der kirchlichen Restauration. VII, 188 8. 1909. Jt> 5.—. Quellenheft 1: Spaldings Bestimmung des Menschen (1748) u. Wert der An­ dacht (1755), mit Einleitung neu herausgegeben von Lic. Horst Stephan. 44 S. 1908. J6 1.—. Quellenheft 2: Schleiermachers Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, neu hrsg.von Lic. Hermann Mulert. 68 8. 1908. J6 1.40. Quellenheft 3: John Toland’s Christianity not mysterious (1696), übers.von W. Lunde, eingeleitet u. unt. Beifügung von Leibnizens Annotatiunculae 1701 hrsg. von Lic. L. Zscharnack. VII, 148 S. 1908. J6 3.—. Quellenheft 4: John Locke’s Reasonableness of Christianity (1695), übersetzt u.m.Einleitung hrsg.von Lic.Leop. Zscharnack. (InVorbereitung.) Als weitere Hefte der Studien sollen erscheinen: Humanismus und Aufklärung i. ihrer Bedeutg. f. d. Entwicklg. der krithist. Theologie i. deutsch. Protestantismus. Von Lic. Zscharnack. Spalding, Herder, Schleiermacher, ein theologischer Querschnitt für die Wende d. 18. Jahrh. Von Lic. H. Stephan, Priv.-Doz. in Marburg. Der Einfluß des Pietismus auf die Kirchlichkeit. Von Lic. Johannes Witte, Pastor in Zanow. Kirchenlied und Gesangbuch in der Zeit der deutschen Aufklärung. — Rationalistische Liedertexte. Von Lic. Leopold Zscharnack. Die deutsche evangelische Predigt im Zeitalter des Rationalismus. Von D. Martin Schian, ord. Professor in Gießen. Kants Einfluß auf die Theologie. Von Lic. Dr. Paul Kal weit, Direktor des Predigerseminars in Naumburg a. Qu. Außerdem haben ihre Mitarbeit freundlichst in Aussicht gestellt: E. Burggalier, Pastor in Groß-Strehlitz. D. P. Drews, Univ.-Prof, in Halle. D. E. Foerster, Pfarrer in Frankfurt a.M. Lic. P. Gastrow, Direktor in Bückeburg. Dr. E. Heintzel, Pastor in Berlin.

D. W. Köhler, Univ.-Prof.in Zürich. Dr. E. Müsebeck, Archivar in Berlin. Lic. Dr. E. Schaumkell, Prof, in LudwigsLic. Dr. P. Torge, Pastor in Berlin. [Inst. D. E. Troeltsch, Univ.-Prof, in Heidelberg.

Studien zur praktischen Theologie Zur Reform der praktischen Theologie Einz. M. 1.80

i,

von

Prof. D. Dr. Carl Clemen

i. Abonn. M. 1.50

Die Vorbildung zum Pfarramt der Volkskirche Besteht die derzeitige theologisch - wissenschaftliche Vorbildung zum volkskirchlichen Pfarramt grundsätzlich zu Recht, und ist sie ausreichend? Einz. M. 1.70

von

Prof. D. Karl Eger

i. Abonn. M. 1.40 von Pastor

Hans Haupt

I, 3. Einzeln M. 1.20; i. Abonn. M. 1.— !•

IX*

i, 4.

17*

1

1



von Prof. D. Dr.

1

Die evangelische Kirchgemeinde

Martin scMan

Einzeln M. 2.70; i. Abonn. M. 2.25 17* ii, i.

i

1

I

*11

j•

Kirche und Sozialdemokratie

von Pastor

Georg Liebster

Einzeln M. 3.20; i. Abonn. M. 2.50

II, 2.

II, 3.

Probleme der Gefangenenseelsorge und Entlassenenfnrsorge Dr.G.evon Rohden kiL.LL Evangelisationsarbeit in der belg.Missionskirche Einz. M. 1.60

III, 1.

von

Pastor Georg Fritze

i. Abonn. M. 1.30

Aussichten ii. Aufgaben der evang. Landeskirchen in der Gegenwart Prof. Lic. H. Matthes Religions- und Moralnnterricht in Nordamerika i. Abonn. M. 2.25

von

III, 2.

Einz. M. 1.75

III, 3.

von

Prof. D. Dr. Carl Clemen

Staat und Kirche in Nordamerika

i. Abonn. M. 1.40

Hans Haupt

Einzeln M. 2.20; i. Abonn. M. 1.75 Tipp

III, 4.

1

IX

P

1*

von Pfarrer Lic. Dr.

j

Dorfpfarrer und Dorfpredigt

Julius Boehmer

Einzeln M. 5.20; i. Abonn. M. 4.50

IV, 1.

Unsere Predigt vom Einz. M. 2.40

von

Pastor Dr. Ernst Schubert C. G. Röder G. m. b. H., Leipzig.

Heiland i. Abonn. M. 2.10