Katharsis: Reinigung als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum 3525252331, 9783525252338

Die Arbeit will zum Verständnis des Katharsisbegriffs in der aristotelischen Poetik beitragen, indem sie seiner Vorgesch

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Katharsis: Reinigung als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum
 3525252331, 9783525252338

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Hypomnemata 135

Fortunat Hoessly

Katharsis: Reinigung als Heilverfahren Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum

Vandenhoeck & Ruprecht

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V&R

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 135

Vandenhoeck & Ruprecht

Fortunat Hoessly

Katharsis: Reinigung als Heilverfahren Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit sowie zum Corpus Hippocraticum

Vandenhoeck & Ruprecht LTroXos TTpoxdw CTTexeue cj>epoixra/ KaXrj xpuaeiq uTTep apyupeoio Xeßiyros/ vipacrGai (Vgl. II. 24.304L, wo aus xep^ßa ein fälschlicher Sg. xepyLßoy gebildet wurde, der dann als Waschschüssel verstanden wurde: S. Leumann S. 160); ferner : II. 16.230 viifaTo xefpas; Od. 2.261; 10.182; 12.336: xdpa? V'ipdpiev(-os/-oi). Füsse: vom Waschen der Füsse des Odysseus durch Eurykleia: Od. 19.317,356,358,374,376,387,392,505; 23.75. Hände und Füsse: Od. 22.478. 19 Siehe vorhergehende Anmerkung. 20 xepyL4J bei Homer nur im Akk. xepyLßa (=myk. ke-ni-qa; siehe Risch S. 194): Od. 1.136; 3.440, 445; 4.52; 7.172; 10.368; 15.135; 17.91. Zu xepiaßov "Waschschüssel (II. 24.304) siehe unten Anm. 83; vgl. oben Anm. 18. xepviTTTop.aL: bei Homer nur Aor. xepyLpavTO II. 1.449. Zu Fragen der Wortbildung siehe Risch S. 181, 194. 21 Od. 19.343, 504; siehe Risch S. 42, 220. 22 Siehe Chantraine s.v. vl£w. 23 Zum Unterschied Xoüüj - vi^co - ttXwuj vgl. LSJ s.v. Xouüj.

Teil I

22

dern stets die von Lebewesen, in den meisten Fällen von Menschen; doch auch das Baden des Pferdes im Flusse bzw. das Waschen des Pfer¬ des durch seinen Pfleger kann durch Xoütü/Xoüop.cu ausgedrückt werden, und ebenso kann XonecrGai bildlich von im Meer untergehenden bzw. aufgehenden Gestirnen verwendet werden.24 Bei Menschen bezieht es sich meist auf das warme Bad in der Bade¬ wanne (daapivGos') (27x) oder auf die Leichenwaschung (6x) und ist in diesen beiden Fällen ebenso wie

fürs Händewaschen fest im ho¬

merischen Formelsystem verankert.25 Doch auch fürs Baden im Flusse kann Xoüw / XoGopai verwendet werden (8x).2b Wenn das, Objekt, das wegewaschen wird, angegeben ist - in diesem Falle steht dTroXodoj (mit oder ohne Tmesis) — so handelt es sich um (geronnenes) Wundenblut (ßpÖTO?) oder Meersalz (dXpri).27 Neben Xoüüj / Xonopai findet sich bei Homer auch das davon abgelei¬ tete Substantiv XoeTpöv "Bad", auch "Badewasser", das ebenso wie das Grundwort fürs "Bad" von Gestirnen im Meer und fürs warme Bad in

24 Von Pferden: II. 6.508 = 15.265; 23.282. Vom dcrrf)p oTTwptvö?: II. 5.6 XeXoupeyos ÜKeavolo. 25 Leichenwaschung: II. 16.669, 679; 18.345, 350; 24.582/587. Die Formelverse für Badeszenen sind besonders reich entfaltet in der Odyssee, doch sind viele auch dem Iliasdichter bekannt. Durch sie erhalten die Badeszenen einen bestimmten, schemati¬ schen Ablauf (siehe auch Arend S. 124-126): Im ausführlichsten Fall geht dem Baden der Befehl an die Badediener(innen) voraus, ap4>i Trupi orfiaai TpiTroSa peyay (Od. 8.434 = II. 22.443 = 23.40); darauf folgt die Ausführung, in drei Versen geschildert: cd 8e Xoerpoxöoy TpiTroS’ ioraaav ev Trupi KT|Xew/ev 8' dp' Ü8wp exeoy, vrrö 8e £üXa SaTov eXoüam./ ydarpriv pey tplttoSos' TTÜp dpcjieTTe, GeppeTO 8' ü8ojp (Od. 8.435-7). Nun erfolgt der Einstieg in die Badewanne: es p' dcrapiyGoy ßdv9'...(Od. 8.450) / es p' (es 8') aoapivGous ßames eü^euTas XoucrayTO (Od. 4.48; 17.87; II. 10.576). Dann folgt der Vers, der das Wa¬ schen und Salben durch Badedienerinnen bezeichnet: tov/toüs 6' enei oüy 5pwai Xoüaav Kai xpiovr eXaito (Od. 4.49; 8.454; 17.88; vgl. 4.252; 8.364; 23.154; 24.366), der im Falle einer einzigen Badedienerin durch einen ähnlichen ersetzt werden kann: airrap enei Xoücjev Te Kai expmev Xin’ eXaio: Od. 3.466; 10.364, 450 (vgl. II. 10.577; ferner vom Fluss¬ bad: Od. 6.96, 227). Daran schliesst sich der Formelvers, der das Ankleiden bezeichnet: dpeTre, GeppeTO 8’ üScop: II. 18.346-8; TÖy 8 enei ouy 8piuai Xoücrav Kai xpDav eXaito : II. 24.587; Kai tötc 8i) Xoücrdv Te Kai rjXeu()ay Xltt’ eXaito: II. 18.350. äp4>i 8e piy ’ ps (sc. KXuTaipvf|CTTpas') Gavöv angos wcrre 8ixjgevr|s egaaxaXiaGri44 (sc. 'Ayagegvaiv), Kam XouTpoiaiv rapa KTiXISag e£epa£;ev.

der Form pacrcraTe in Od. 20.152. Dieses reinigende Besprengen mit Wasser ist zu unter¬ scheiden vom beschmutzenden mit Blut (II. 12.431; Od. 20.354) und Sand (II. 11.282). 41 Das Simplex pdcrauj, das v.a. "kneten" bedeutet, beruht entweder auf dem Stamm gay-, idg. *mdg-, der sich z. B. auch in dt. "machen" findet, oder auf paK- (*mnk-), was zu idg. *menq- (z.B. dt. "mengen") gehören würde. Siehe Chantraine s.v. gdaaw; Frisk s.v. pdcjaw. 42 Zum Sinn vgl. Ameis-Hentze II 2, S. 7 (zu Od. 19.92) und Anhang 4, S. 8 (zu Od. 19.92). 43 Hdt. 1.155: Kroisos bittet Kyros, Sardes nicht zu zerstören, da er der Schuldige der früheren Unbilden gegen die Perser sei und dafür habe büssen müssen: Ta per yap TTpÖTepov eyö tc eirpri^a Kai eyw KecfaXf) avapdfjas cfepw: "Die früheren Untaten habe ich getan und trage ich, an meinem Haupte angeschmiert" (d.h. "und ich habe dafür büssen müssen"; vgl. J.E. Powell, A Lexicon to Herodotus, Cambridge 1938, s.v. dvagduaw). 44 Mit epacrxciXia0Ti spielt Soph. auf Aisch. Cho. 439 an; siehe hierzu unten Teil II Anm. 66.

Teil I

26

...von der er - wie ein Feind verachtet - getötet wurde und verstümmelt und die zur Reinigung4 (oder: nach dem Bad) die Blutflecken (am Schwerte) an seinem Haupte abwischte.46 Freilich ist in Od. 19.91f. das Bild zu schlicht und real, als dass mit Rohde und Nilsson angenommen werden müsste, dass Homer hier auf diesen Brauch anspielt.47 Andere moderne Interpreten führen den Ausdruck in Od. 19.92 auf einen verwandten, dem Wesen nach nicht verschiedenen Brauch zu¬ rück, nach dem bei Opferhandlungen das Blut am Opfermesser am Kopf des geschlachteten Tieres abgewischt worden sein soll, um da¬ durch die Schuld

des Opfernden aufs Opfertier abzuwälzen.

Diese

Schuld sehen einige in einem durchs Opfer zu sühnenden Vergehen des Opfernden begründet, andere im Akt des Tötens des Opfertiers als solchem (sie fassen den Brauch also als Teil der sog. "Unschuldskomö¬ die" auf - ein Begriff, der von K. Meuli geprägt wurde);48 doch leider unterlassen es alle, einen antiken Beleg für den Brauch als solchen an¬ zuführen.49 aTToXüpaiyopaL, Xüpcrra, XuGpov, örrToXupavTfip Alle diese Wörter gehören zum selben Stamm. crrToXupcuvopai ist von Xüga abgeleitet. Xüpa kommt bei Homer nur im Akk. PI. Xugorra vor und bezeichnet den durch die Reinigung

zu beseitigenden Schmutz:

II.

14.171: von Hera, die sich für ihre Begegnung mit Zeus schönmacht:

(dpßpocrii]...dTTÖ xpoo? ipepöevTOS') XepaTct i\avTa KdGppev; ebenso in II. l. 314: von den Griechen nach der Pest: ol 8’ äTroXugaiyovTO Kai eis äXa 45 So R.C. Jebb, Sophocles. The Plays and Fragments. Part VI. The Electra, im Kommentar zur Stelle: "eui here = with a view to (cp. Ant. 792 erri Xößa, O.T. 1457 em. ..KaKÖ), andern Xoirrpols = em KaGdpoei". An Jebb schliesst sich J.C. Kammerbeck, The Plays of Sophocles, Commentaries, Part V: The Electra, Leiden 1974 im Kommentar zur Stelle an. 46 Eust. ad Od. 19.92 (II p. 192.20ff. ed. Stallbaum): tö 8e duapa^eLg aim toö TrpoaTpiifeis, aacjjearepov 8e avTi toü TTpocrKoXXriQfjvai TT0ir|0'ei5 airrfj tt) KecfaXfj. Kal ecmv evpelv ToiauTT|v evvoiav Kal Trapä tö ZocfjoKXel, evGa cf>aiveTaL Tals TTecj)oveupevüjv KecfaXals evaTTopaTTeaGai tö ev toTs ipcfeo'i.v alpa, cos eis KecfaXiJv 8rjGev eKeluois Tpenopevou toö kokoD. Die Sitte erklären auch die Schol. Soph. El. 445: eiüGetaav töv avaipoupevioy eis tös KecfaXds aTropdaaei.v tö öa-nep aTTOTpoTTLaCöpevoi tö pöoos tö ev tö 4>övü). 17 Rohde I S. 326; Nilsson G.G.R. S. 92. Beide verweisen auch auf die ähnliche Sit¬ te, dass der Mörder das Blut des Ermordeten aufsaugte und wieder ausspie, um sich vom Blut der Ermordeten freizumachen (Ap. Rhod. 4, 477f.) 48 Die erste Auffassung bei Ameis-Hentze II 2, l.c., die zweite bei J. Russo in Omero Odissea V, S. 228. W.B. Stanford, The Odyssey of Homer, Vol. II, New York 19672, S. 318 f. (zu Od. 19.91-2) führt den angeblichen Brauch an, ohne sich bei der Deutung der Schuld des Opfernden festzulegen. Eust. l.c. und die Schol. Soph. Menschen.

El. l.c. beziehen sich eindeutig auf das Töten von

Reinigung bei Homer

27

Xi3|iaTa ßaXXov. Hier ist mit XupaTa konkret der "Schmutz" gemeint, von dem sie sich gereinigt haben, also die "Reinigungsrückstände", wohl das schmutzige

Waschwasser.

dTroXugamopai

heisst

demnach

"den

Schmutz entfernen".50 Zu diesem anoXu(icuvo|iai ist wohl auch dTroXupauTf|p zu ziehen (Od. 17.220, 370), so dass man

das Wort

im

Sinne

von

"Tafelsäuberer"

(Schob BHQ zu Od. 17.220: töv tü aTTOKaGapgaTa twv euwxuäv' eaGlovTa) zu verstehen hat. Dies scheint ratsamer, als es zu erst später bezeugtem (von Xdp.r| abgeleitem) Xnpaivopai "misshandeln,

zerstören" zu ziehen

und es als "Verderber (der Freuden) eines Mahles"

(Schob V zu Od.

17.220: Xugeöjea tgjv eutjjxuüv) zu verstehen.51 Zum selben Stamm wie XugaTa gehört ferner XuGpov, das die antiken Quellen als durch Schmutz, Staub oder Schweiss verunreinigtes Blut des Kämpfers definieren,52 wobei, wie die Etymologie zeigt, die Vor¬ stellung des Schmutzes das Ursprüngliche ist. Die Bedeutung "Blut" ist erst in der epischen Sprache hinzugekommen

durch die Verbindung

des Wortes mit alpa in der Formel aipan Kai XuGpw TTeTTeXayiievov, wo man XbBpco in der ursprünglichen Bedeutung noch fassen kann.53 Die Wurzel

dieser Wörter findet sich in lat. ’polluo1

"beflecken"

(aus *porluo), ’lutum’ "Dreck", Kot", sowie 'lustrum' "Morast" und in gewissen anderen indogermanischen Sprachen wieder.54 Die Wörter etymologisch an Xuto oder Xoeo) zu knüpfen, ist nach Chantraine "pas plausible".55 Burkert weist auf den Zusammenklang der akkadischen Wörter für "beschmutzt", 'lu”u', luwwu', mit XugaTa und XuGpov hin und schlägt Entlehnung vor.56

50 Zu Xv/uara- siehe LSJ s.v. Xüga "water used in washing", or "dirt removed by washing", "offscourings"; ebenso Burkert G.R. S. 135; id. O.E. S. 62 (zum symbolischen Ne¬ bensinn von XupaTa an dieser Stelle siehe unten S. 93f.). Zu äTroXv\xaivonai ' siehe E. Fraenkel, Griechische Denominativa in ihrer geschichtlichen Entwicklung und Verbreitung, Göttingen 1906, S. 4, Anm. 2. vgl. ibid. S. 49 zum Simplex in derselben Be¬ deutung. 51 Siehe T.A. Sinclair, On two words in Homer, in: Festschrift Franz Dornseiff, Leipzig 1953, S. 332; Frisk s.v. Xüpa; Chantraine s.v. Xüga. 52 Zu den Schwierigkeiten der Wortbildung von XupaTa/Xij0pov siehe Chantraine l.c. Die antiken Quellen zu XuGpov sind zusammengestellt bei Tagliaferro S. 186 Anm. 53. 53 S. Tagliaferro, S. 186f. 54 siehe J. Pokomy, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, Bern und Mün¬ chen 1959, S. 681. 55 Chantraine l.c. 56 Burkert O.E. S. 64 und Anm. 47.

Teil I

28

2. Profane Anlässe der Reinigung 2.1. Reinigung im Rahmen der K0|ii8rj Wie Odysseus seinen Vater im Fruchtgarten seines Landgutes in er¬ bärmlichem Aufzuge - mit schmutzigem,

geflicktem, garstigem Ge¬

wände, geflickten Gamaschen, Handschuhen und Kappe aus Ziegen¬ fell ausstaffiert - erblickt, spricht er ihn, ohne sich ihm zu erkennen zu geben, mit folgenden Worten an: Alter! Nicht beweist du Unkunde in der Besorgung des Gartens, sondern gut ist es um die Pflege (KOgiSij) deines Gartens bestellt, und gar nichts, kein Strauch, kein Feigenbaum, kein Weinstock, wahrlich! kein Olivenbaum, kein Birnbaum, kein Gemüsebeet ist dir ohne Pflege (dveil KO^LiSfjs-) im Garten. Doch ich will dir etwas anderes sagen, du aber fasse keinen Groll in deinem Herzen: Dir selber wird keine gute Pflege zuteil (aÜTÖv a' oük äya0f] KopiSi) eyei), sondern zusätzlich zu deinem elenden Alter bist du schmutzig und trägst hässliche Kleider. Sicher¬ lich lässt dir dein Herr nicht der Faulheit wegen keine Pflege zukommen (oü ae KO|iiCei), auch zeigt sich gar nichts von einem Sklave an dir, wenn man dich an¬ blickt, in Bezug auf Gestalt und Grösse: denn du gleichst einem königlichen Man¬ ne. Doch für einen solchen ziemt es sich, dass er, wenn er gebadet und gegessen hat, weich schläft. Das ist nämlich das Recht der Alten. (Od. 24.244-255). Diesen Versen liegt eine Reflexion über den Begriff der "Pflege" (koptÖTj) zugrunde. Zwei Vorstellungen lassen sich herausschälen: 1. Wie jede Pflanze bedarf auch jeder Mensch von Natur aus der Pflege, damit er gedeiht. 2. Pflege ist zudem eine Frage der sozialen Stellung. Je angesehener und mächtiger ein Mensch in einer Gesellschaft ist, desto mehr hat er das Recht - und die Pflicht

sich zu pflegen. Hinzuzufügen ist, dass

die Pflege, so wie Odysseus sie in seiner Rede ins Auge fasst - in einem Bad, reiner, ungeflickter Kleidung, ausreichendem Essen und einem bequemen Bette bestehend - einen gewissen Wohlstand voraussetzt, weshalb sie sich auch vom materiellen Standpunkt aus nur ein Mann aus höherem

Stande regelmässig leisten kann. Sklaven und Bettler

dagegen sind auf die Güte eines Herrn angewiesen, wenn sie einmal in ihren

vollen

Genuss kommen

wollen.57 Pflege, innerhalb

welcher

Was die Sklaven angeht, so lässt Odysseus selber in seiner Rede durchblicken, dass ein tüchtiger Sklave von seinem Herrn eher Pflege erwarten kann. Bettler dage¬ gen, üvSpeg dArpai, sind, obwohl sie Pflege nötig haben (KO|n5fj5 KexpruievoOi gänzlich auf die Gutmütigkeit einer Penelope angewiesen, die sie gut aufnimmt und bewirtet und ihnen Mantel und Leibrock als Bekleidung gibt, wenn sie nur schlau genug sind und ihr irgendeine erfundene Geschichte von Odysseus auftischen. (Od. 14.122ff.).

Reinigung bei Homer

29

Reinigung und reine Kleider eine wichtige Position einnehmen,

be¬

wirkt demnach eine soziale Abstufung, eine Trennung innerhalb der Schichten der Gesellschaft.58

Der erste Aspekt der Pflege, den mart den hygienischen nennen könnte, tritt noch an anderen Stellen der Odyssee hervor, etwa wenn Odysseus die mangelnde physische Leistungsfähigkeit seiner Glieder auf einen Mangel an Pflege infolge seines Schiffbruches zurückführt,59 oder wenn Odysseus und Diomedes, während sie, von ihrem nächtli¬ chen Abenteuer erschöpft, im Meer ein Bad nehmen,

fühlen, wie ihr

Herz von neuem Leben erfüllt wird.60

Der andere,

soziale Aspekt der Pflege zeigt sich z.B. auch in Od.

6.61f., wo Nausikaa ihren Wunsch, am Fluss die Kleider zu waschen, vor dem Vater damit begründet, das es sich für ihn, wenn er "unter den Ersten" sei, in sauberen Kleidern Rat zu halten gezieme. Dass der Dichter eine solche Pflege für ein grosses Privilegium hielt, wird auch daraus ersichtlich, dass er sie zum Hauptmerkmal des ge¬ nussreichen Lebens des Märchenvolkes der Phäaken machte. "Stets ist uns ein Mahl lieb, sowie die Kithara und Reigentänze, Gewänder zum Wechseln, warme Bäder und Ruhebetten", sagt der Phäakenkönig Al¬ kinoos stolz von seinem Volke.61

2.2. Reinigung des Gastes Es versteht sich, dass ein ßacnXeus dufip die Pflege, von der Odysseus spricht, nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Gästen zukommen liess. Den Grundsatz, den der Gastgeber dabei befolgte, erklärt Nausikaa den Mägden, die beim Anblick des nackten und verunstalteten Odys¬ seus erschrocken das Weite gesucht haben: Dieser da ist als irgendein Elender auf seiner Irrfahrt hier gelandet. Den muss man nun pflegen (toi; vvv xpf) Kopien;). Denn von Zeus sind alle, Fremde und Ar¬ me, und so klein eine Gabe ist, so lieb ist sie. Doch gebt, Mägde, dem Manne Speis und Trank, und wascht ihn im Flusse....62

58 Vgl. hierzu Burkert G.R. S. 129. 59 Od. 8.230ff.; vgl. Laser S. S136. 60 II. 10.575: dvebnxöer 4>Aov rjTOp; vgl. Laser S. S139, inkl. Anm. 369. 61 Od. 8.248f. Als Kontrast zu den eipaTa e^Tigoißa beachte man, dass Eumaios in Od. 14.513f. von den Schweinehirten sagt, dass sie nicht viele Kleider zum Wechseln hät¬ ten, sondern nur eines für jeden Mann. 62 Od. 6.206-210.

Teil I

30

Auf diese Belehrung hin legen die Mägde neben Odysseus Mantel und Leibrock sowie Öl hin, und nachdem er sich im Flusse gewaschen, ge¬ salbt und bekleidet hat, geben sie ihm Speis und Trank. Wenn auch die äusseren Umstände dieser "Pflege" des Gastes unty¬ pisch sind, so läuft die Bewirtung doch in derselben Reihenfolge ab, wie sie gewöhnlich in einem Herrenhaus vonstatten geht: Auf ein Bad folgt die Salbung mit Öl, darauf die Ausrüstung mit neuen Kleidern, woran sich die Mahlzeit schliesst. Dieser Ablauf der Bewirtung ist fest durch Formelverse abgestützt.63 Dass es dem Gast besonders angenehm ist, wenn er gleich nach der Ankunft, noch bevor er sich vorgestellt hat, in den vollen Genuss die¬ ser Bewirtung kommt, langer

Irrfahrt

und

wissen Menelaos und Helena, die erst nach

mehrfacher

Inanspruchnahme

fremder

Gast¬

freundschaft (£eief|ia TroXXd 4>ayövTes)64 von Troja nach Hause zurück¬ gekehrt sind, am besten. Daher lassen sie den Nestorsohn Peisistratos und Telemachos gleich nach der Ankunft,

ohne zuerst nach ihrem

Namen zu fragen, ins Haus führen und, nachdem sie dessen Glanz bewundert haben, von Dienerinnen baden, salben und neu bekleiden: es p’ aaapivGous ßdimes eUjeaTas XouaavTO. tous 8’ euei ow 5p.oal Xoüaai' Kal xpicrav eXaio, dpxju 8’ dpa xXarnas oüXas ßdXov f|8e x^Tuvas.

In die Badewannen stiegen sie und wuschen sich. Nachdem Dienerinnen sie gewaschen hatten und mit Öl gesalbt hatten, legten sie ihnen wollene Mäntel und Unterkleider an. (Od. 4.48-50). Darauf setzen sie sich zu Tische neben Menelaos: es pa Gpovous ICovto map’ ’ATpe'L8r|u MeveXaoic (Od. 4.51).

Sogleich giesst ihnen eine Dienerin Waschwasser über die Hände und stellt vor ihnen einen Tisch auf: Xepvißa 8’ dpxfiTToXos trpoxow eirexeue cfepoucra KaXfj xpwUiy fiTrep apyupeoio Xeßr|TOs viijjaaGai' Tiapä 8e (jeaTriv ctävvooe TpaiTeCae. (Od. 4.52-54).

Darauf setzt die Schaffnerin Brot und Speisen auf: cfTtou 8’ aiSoiri Tapiri TrapeGr|Ke cfepouaa eiSaTa ttoXX' emGeiaa, xapiCopievri TTapeöimov. . (Od. 4.55-56).

63 64

Siehe oben Anm. 25. Od. 4.33

Reinigung bei Homer

31

Nachdem Menelaos sie aufgefordert hat, zu essen und erst nach dem Mahle

sich

vorzustellen,

und

ihnen

fette,

gebratene Stücke

vom

Rindsrücken gereicht hat (Od. 4.59-66), greifen sie zu:

ol 8’ 6tt' övetaG’ eTotpa -npoKelpeva yGpas iaXXov. (Od. 4.67). Erst jetzt beginnt die Konversation. Das Bad zu Beginn einer solchen Bewirtung dient einerseits gewiss wie bei der Pflege des eigenen Körpers (Kap. 2.1.) rein praktischen, hy¬ gienischen Zwecken: der Fremde soll sich vor der Mahlzeit den Staub von den Gliedern wegwaschen lassen und sich von den Strapazen der Reise erholen.65 In gewisser Hinsicht liegt der Zweck einer solchen Bewirtung sicherlich auch im Erzielen einer physischen Verschöne¬ rung, die Homer vielfach als Folge eines Bades beschreibt.66 Wichtiger aber erscheint die symbolische

Bedeutung

des Bades, die Hermann

Fränkel herausgestellt hat: Der Wanderer gilt erst dann als recht eigentlich angekommen und aufgenommen, wenn der Staub der Fremde abgespült ist.b7 65 Vgl hierzu Od. 10.363, wo Odysseus als Zweck des Bades bezeichnet, die verzeh¬ rende Ermattung aus den Gliedern zu nehmen (öpct |ioi ck Kdgorrov 9ugo4>06pov clXcto yuicov). 66 So heisst es von Telemachos, nachdem er als Gast bei Nestor von seiner Tochter Polykaste gebadet worden ist: ck p' dcrapivBou ßfj Segas aGavaTounv öpoios (Od. 3.468); ebenso von Odysseus, bevor er sich mit Penelope wiedervereinigt, Od. 23.163. Häufig wirkt dabei ein Gott mit eigenen Händen mit, um die Verschönerung zu steigern, so beim Flussbad des Odysseus im Beisein Nausikaas (Od. 6.229-235), beim eben erwähnten Bad des Odysseus vor der Wiedervereinigung mit Penelope (Od. 23.156-162), sowie beim Bad des Laertes, nachdem ihn Odysseus wegen seiner mangelnden Kopi8f| getadelt hat (Od. 24.367-369). 67 Hermann Fränkel, Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München I9602, S. 98. Dass der Fremde in der Tat erst nach dem Bad und durch das Bad als voll in die neue Gesellschaft aufgenommen gilt, trifft nicht nur für die naheliegenden Fälle zu, wo das Bad unmittelbar nach der Ankunft erfolgt (ausser Od. 6.206ff. und Od. 4.48ff. noch Od. 17.87ff.): Wenn Odysseus nach seiner Heimkehr erst am Abend des zweiten Tages in den Genuss eines Bades kommt (Od. 23.153ff.; vgl. oben Anm. 66), so liegt das daran, dass er zuerst in der Bogenprobe und dem Kampf mit den Freiern die Hindernisse aus dem Weg räumen muss, ehe sein endgültiger Wiedereintritt in seine heimatliche Stel¬ lung, Würde und Ehe, der durch das Bad markiert wird (vgl. H. Fränkel l.c. Anm. 3), Tatsache werden kann. Ähnlich wird Odysseus bei den Phäaken erst am Abend des zweiten Tages ein Bad - ebenso wie reichliche Gastgeschenke - zuteil, nachdem er sich im Wettkampf als ein Mann bewährt hat, der den äpicrroi der Phäaken zumindest eben¬ bürtig ist (Od. 8.426ff.). Diese Funktion des Bades - die Signalisierung der endgültigen Aufnahme - wird auch im Kirkeabenteuer des Odysseus deutlich: So wird Odysseus, nachdem er sich gegenüber Kirke als Mann (auch im Bett!) bewährt hat und sich somit als ein ihrer würdiger Gast gezeigt hat, als erstes ein Bad zuteil (Od. 10.358ff.); und wenig später signalisiert sie durch das Baden seiner Gefährten, die sie wieder in Men¬ schen zurückverwandelt hat, dass sie sie nunmehr als echte Gäste anerkennt (Od. 10.449ff.).

Teil I

32

Durch die Reinigung wird also der Gast aus dem Bereich der Fremde in den Bereich der neuen Gaststätte übergeleitet, die Reinigung mar¬ kiert den Übergang von der Fremde in den Bereich der neuen Gaststät¬ te. Damit hat die Reinigung des Gastes ähnlich wie die Pflege eines ßaCTiXeus ai'f|p eine trennende Funktion. Der Unterschied besteht darin, dass sie nicht wie diese verschiedene Schichten innerhalb Gesellschaft voneinander

derselben

abgrenzt, sondern zwei voneinander

ver¬

schiedene soziale bzw. politische Bereiche: den Bereich der Fremde, des Auslands vom Bereich der Heimat, der neuen Gaststätte.68

2.3. Reinigung nach dem Kampf Nicht nur in der alltäglichen Körperpflege und als Ankömmling

aus

der Fremde, sondern auch nach dem Kampf nimmt der homerische Held gewöhnlich ein Bad.69 Gewiss geht es auch hier einerseits um ein natürliches, hygienisches Bedürfnis nach Reinigung von störender, unreiner Materie, zu der neben Schmutz auch Schweiss und Blut gehörten.70 So. führen die ßacnAfieg ’Axaiaiv Achilleus nach seinem Toben auf dem Schlachtfeld zum Zelt des Agamemnon

und befehlen daselbst

Herolden, ans Feuer einen grossen Dreifuss zu stellen, ei TTemOoiev rir|\eL5r|v XoucraaGai crno ßpoTov aigaTÖevTa (II. 23.41). Die Schob T geben zwei mögliche Bedeutungen für ßpÖTov an dieser Stelle an : tö crrrö Ro¬ vern a'iga, oi 8e töv ttt|X6v. Die zweite Bedeutung, "Schmutz",

ist wohl

deswegen angenommen worden, weil sich Achilleus, seitdem er sich aus Trauer um Patroklos mit Asche beschmutzt hat (II. 18.32ff.), nicht mehr gewaschen hat. Da aber sonst ßpÖTo? "(geronnenes)

1,8 18f. 69

Wunden-

Zu dieser verschiedene Erfahrungsbereiche trennenden Reinigung vgl. Parker S Bad nach Kampf: II. 10.572ff.; 21.560; 22.442ff.; 23.38ff.

70 E. Tagliaferros Behauptung (S.189 Anm. 68), dass bei Homer cdga, ßpÖTOv allein nie als unrein, beschmutzend aufgefasst sei (ln. II. 4.146 (gidv0i]v 8' aigcm gTipoi) will sie giaivw - entgegen auch von ihr zitiertem LSJ s.v. giaivw, der die Stelle unter "stain, sully" einordnet, - als "tingere, colorare" auffassen, während sie II. 5.99f., wo sich u.a. die Worte uaXdcraeTO 8 aigan 0ojpr)£ finden, als Interpolation betrachtet), widersprechen Stellen, in denen klar vom Blut als einer störenden, unreinen Materie die Rede ist, die durch Reinigung entfernt werden muss: so II. 16.667f. KeXaiveipES' alga Ka0Tipov...ZapTTTi56va; ferner die Formel Xowi]/Xoijaeiay/Xoi3aa(j0ai ütto ßpoTov alpaToevTa (II. 14.7; 18. 345; 23.41), schliesslich II. 24.419f. (von der Leiche Hektars) nepi 8 aiga vcvitttcu.,/ oi)8e ttoBi giapö?. Zum Blut als unreiner Materie siehe ferner Moulinier S. 25; Parker S. 233.

Reinigung bei Homer

blut

33

bedeutet,71 haben wir keinen Anlass, es nicht auch hier so zu

verstehen. Was die ßacnArjes ’Axaicüv eben v.a. an Achilleus stört, ist der Umstand, dass er noch mit Blut vom Kampf besudelt ist; Blut, das ei¬ nerseits seiner eigenen Schramme entstammt, die er am rechten Ellbo¬ gen vom Speer des Asteropaios empfangen hatte (II. 21.166f.), anderer¬ seits das Blut, mit dem Achilleus sich "die unbezwingbaren Hände be¬ fleckte", als er, einem verheerenden Waldbrand vergleichbar,

mor¬

dend unter seinen Feinden einherstürmte, während seine Pferde Lei¬ chen und Schilder zerstampften, die Achse und das Geländer des Wa¬ gens mit Blut bespritzend.72 Es mag sein, dass der Wunsch, sich vom Blute zu reinigen, beson¬ ders dann heftig verspürt wurde, wenn es sich um das Blut des im Kampfe getöteten Gegners handelte.73 Allerdings ist darauf hinzuwei¬ sen, dass man, wenn das Blut des Gegners einmal weggewaschen war, - wie im späteren Griechenland auch - kein weiteres Bedürfnis nach Reinigung empfand.74 Die wichtigste Funktion

der Reinigung

dem Kampfe scheint wieder in der symbolischen Trennung

nach

zweier

Bereiche zu liegen. Wenn sich der homerische Held am Abend nach der Schlacht reinigt, trennt er dadurch den Bereich des Schlachtfeldes vom Bereich des Lagers, trennt er Kampf, kriegerische Aktivität von friedfertiger Aktivität und Erholung.

2.4. Reinigung vor der Mahlzeit Als wesentliche Funktion der Reinigung liess sich bislang feststellen, dass sie verschiedene Bereiche symbolisch voneinander

trennt:

auf

sozialer Ebene die königliche Existenz und die sklavische, auf "frem¬ denpolitischer" Ebene den Bereich der Fremde und den Bereich der Heimat, Gaststätte, auf militärischer Ebene den Bereich 'Kampf' und den Bereich 'Ruhe'. Diese Trennung ist dabei nicht von der Art, dass sie nicht den Über¬ gang von einem Bereich in den anderen ermöglichte, vielmehr voll¬ zieht sie sich gerade in diesem Übergang: Durch Pflege "wird" Laertes vom Sklaven zum ßacnAeäs dvf|p und bewirkt gerade dadurch eine Trennung zwischen den beiden. Ähnlich geht der Gast durch das Bad vom Bereich der Fremde in den Bereich der Gaststätte über und grenzt

71 72 73 74

Siehe oben S. 22 mit Anm. 27. II. 20.490ff., v.a. 20.503: Xu9pw 5e TraXdacreTO xeipas adnTous. Vgl. Laser S. S 138 Anm. 367. Siehe Parker S. 113 mit Anm. 37 sowie unten Anm. 224.

Teil 1

34

die Bereiche dadurch voneinander ab. Und dasselbe ist beim Bad des Kriegers der Fall. Genau dieselbe trennende bzw. überführende Funktion der Reini¬ gung lässt sich auf einer niedereren, alltäglicheren Ebene feststellen: Da trennt sie Alltag und Mahlzeit, führt vom Alltag zur Mahlzeit über. So ist es wohl kein Zufall, dass gerade in den bisher behandelten Fällen auf das Bad fast immer eine Mahlzeit folgt. So sagt Odysseus zu Laertes, dass es sich für einen ßaaiXeus avrip zieme, nach Bad und Essen (eirel XouaaiTo cfayoiTe) weich zu schlafen; und in der Tat kommt der Alte wenig später vor dem

Essen in den

Genuss eines Bades.75 Und von den vielen Bädern (insgesamt 11), die in der Odyssee den Gästen angeboten werden, folgt nur auf eines keine Mahlzeit.76 Und ebenso setzt sich der aus der Schlacht kommende Held in der Ilias gleich nach dem Bad an den Tisch.77 Das Bad hat also in diesen Fällen eine doppelte Funktion: einerseits trennt es die Bereiche 'königliches Dasein' - 'sklavisches Dasein' resp. 'Heimat/Gaststätte' - 'Fremde'

resp. 'Ruhe'

- 'Kampf,

andererseits

führt es - auf einer anderen Ebene - zur Mahlzeit über. Zu diesem Bad auf der Ebene des Alltags ist nun freilich eine Ein¬ schränkung zu machen: Wiewohl Odysseus das Bad vor der Mahlzeit als einem königlichen Manne angemessen bezeichnet, hat er damit wohl nicht den Luxus eines täglichen Bades gemeint. Nur der Phäakenkönig kann sich rühmen: aiei 8’ f||jLLv 8gus tc cjnXri KiGapG tc yopoi "re eiporrd t’ e£r|poißd XoeTpa re Geppa Kai edvai.78

Der normale homerische Mensch dagegen muss sich im Alltag vor dem Essen in der Regel mit einer flüchtigeren Reinigung, dem Hän-

dewaschen, zufriedengeben, die dennoch genauso sehr wie heute den Reinheitsanforderungen einer Mahlzeit zu genügen vermochte, auch wenn man damals zum Essen mehr als heute die blossen Hände ge¬ brauchte79.

75

Od. 24.254f.; 365ff.

7b Bad von Gästen mit nachfolgender Mahlzeit: Od. 1.310 (Mahlzeit durch TeTapTTÖpevo? T6 cfiXov Krjp angedeutet); 3.464ff.; 4.48ff.; 6.209ff.; 8.449ff.; 10.361ff., 449ff.; 17.87ff.; 19.320ff.; in 4.252f. wird die Mahlzeit nicht genannt, ist aber doch wohl vor¬ auszusetzen. Bad ohne Mahlzeit: Od. 5.264 (vor der Abreise des Odysseus von der Ka¬ lypsoinsel). 77 II. 10.572ff.; 23.39ff. (wo Achill das Bad ablehnt, ehe er im Zelt mit den ßauiXfjes Axauijv das Mahl einnimmt). 78 Siehe oben Anm. 61. 71 Ausser den blossen Fingern benutzte man zum Essen nur Löffel. Das Messer wurde nur zum Zurichten des Fleisches verwendet, und auch die Tischgabel war nicht bekannt;

Reinigung bei Homer

35

So ist denn Händewaschen vor der Mahlzeit in der Odyssee 8x (da¬ von 6x in einem alten Formelvers)

belegt, wobei es dreimal einem

Gast nach einem gerade genossenen Bade zuteil wird (hier scheint die sonst zweifache Funktion des Bades - Überleitung aus dem Bereich der Fremde in denjenigen der Gaststätte und gleichzeitig Überleitung zur Mahlzeit - in 2 Reinigungen - Bad und Händewaschen - auf geteilt).80 Dass sich die profane Reinigung gerade um die Mahlzeit konzent¬

rierte, hat einerseits ihre Gründe in den hygienischen Erfordernissen der Mahlzeit, mag aber auch damit Zusammenhängen, dass die Mahl¬ zeit als solche für die Griechen ein besonderer, feierlicher Anlass gewe¬ sen zu sein scheint, zu dem man - wie zu einer feierlichen Kulthand¬ lung - gereinigt zu erscheinen hatte.81

2.5. Reinigung zu kosmetischen Zwecken Es wurde schon erwähnt, dass das Bad an sich als Nebenwirkung eine Verschönerung herbeiführen kann und dass dabei zuweilen ein Gott mit eigenen Händen zur Steigerung der Schönheit mitwirken kann.82 Daneben gibt es nun auch Szenen,

in denen die Reinigung nebst

anderen kosmetischen Massnahmen bewusst und in erster Linie zur Steigerung der Schönheit vor genommen wird, selbstverständlich von Damen, die ihre Attraktivität zu steigern suchen. Am berühmtesten ist zweifellos die Szene im 14. Buch der Ilias (II. 14.170ff.), in der Hera sich sorgfältig herausputzt, um so Zeus zum Bei¬ schlaf zu gewinnen und vom Kampfgeschehen abzulenken: Am Anfang ihrer aufwendigen Toilette steht dabei die Reinigung ihrer Haut mit "Ambrosie": apßpocri)] \iev uparrov dcrrö xP°ös i-pepöenTos-/ \vpcrra Trdi'Ta Kaöipev. Darauf salbt sie sich mit wohlduftendem, ambro¬ sischem Öl, kämmt sich die Haare, macht schöne, ambrosische Haar¬ flechten, legt ein ambrosisches Gewand an und befestigt es mit golde-

vgl. Gerda Bruns, Küchenwesen und Mahlzeiten, Archaeologia Homerica Q, Göttingen 1970, S. Q 21 f.; Q 39; H. Blümner, Leben und Sitten der Griechen, Leipzig 1887 S. 33f. 80 Händewaschen allein vor Mahlzeit: Od. 1.136ff., 146; 7.172ff.; 10.182; 15.135ff. Händewaschen eines Gastes vor Mahlzeit nach vorausgegangenem Bad: Od. 4.52ff.; 10.368ff.; 17.91 ff. Zum alten Formelvers siehe oben Anm. 18. 81 Vgl. Parker S. 20f., der zur Mahlzeit sagt: "meal, which is itself, for the Greek a ceremonial occasion" (S. 21) und daher zwischen der Reinigung, die einer Kulthandlung vorausgeht (siehe Kap. 3.1) und derjenigen vor der Mahlzeit keinen generellen Unter¬ schied macht, insofern Reinheit nicht eine spezielle Vorbereitung auf den Gottesdienst darstelle, sondern eine Bedingung für formales, respektvolles Benehmen jeglicher Art sei (S. 20). 82 Siehe oben Anm. 66.

Teil I

36

nen Heftnadeln an der Brust, legt einen Gurt, mit hundert Troddeln versehen,

und Ohrringe mit

drei Kugeln wie Augäpfel, maulbeer-

förmige, sowie ein schönes, neues Kopftuch an. Schliesslich gelingt es ihr auch noch, Aphrodite den gemusterten, bunten Riemen

zu ent¬

locken, in den alle Bezauberungen (0eÄ.KTf|pia) gewirkt sind: Liebe, Ver¬ langen, verführerisches Gekose, das auch der Verständigsten Sinn be¬ tören kann. In diesem Putz (KÖcrpon II. 14.187) begibt sie sich auf den Ida um Zeus zu verführen, nicht vergebens: 01) ydp trj) 1T0T6 p’ (l>8e 0e äs epos oi)8e ywaiKÖs Gupou evi CTTf|9ea(jL TTepmpoxuGeis eSapaaaeu, Denn noch nie hat mich das Verlangen nach einer Göttin oder einer (sterblichen) Frau so sehr überwältigt und mir das Herz in der Brust rings umströmt,

gesteht Zeus, von ihrem Anblick überwältigt. (II. 14.315L). Eine andere, kürzere Verschönerungsszene findet sich in der Odys¬ see (Od. 18.187ff.), wo Hera der Penelope, nachdem sie süssen Schlaf auf sie herabgegossen hat, "unsterbliche

Gaben"

(äpßpoTa 8tjpa) gibt,

damit die Achaier sie bewunderten. Ähnlich wie in der Ilias reinigt sie ihr als erstes das schöne Gesicht mit einer Schönheitssalbe, mit einer ambrosischen, mit der sich die schönbekränzte Aphrodite zu salben pflegt, sooft sie zum lieblichen Reigen der Chariten geht:

KaVei pev oi TrpwTa TTpoaurrraTa KaXä KaGripeu äpßpoaiw, oitp TTep eucTTebar'os KuGepeia XpieTaL, 6i)t’ au Li] XapiTou xopöi' ipepoewa. Und ähnlich ist die Reaktion der Freier, wie sie sie nach vollendeter Verschönerung erblicken: 8’ auToi) \i)to youvaT’, epo 8’ äpa Gupöv eGeXx^ic -navres 8’ fippoavTo Trapai Xexeeaai KXiGrjyai. tüv

Auf der Stelle wurden ihre Glieder schwach, und von Begierde wurde ihr Herz be¬ zaubert, und alle begehrten, sich im Bette neben sie zu legen.

Reinigung bei Homer

37

3. Religiöse Anlässe der Reinigung

3.1. Reinigung als Zutritt zum Heiligen Im vorhergehenden Kapitel liess sich als hauptsächliche Funktion der Reinigung die symbolischen Trennung verschiedener Bereiche erken¬ nen: sklavische Existenz - königliche Existenz; Fremde - Heimat; Kampf - Erholung; Alltag - Mahlzeit. Der zweite Bereich bzw. Zustand, in den die Reinigung "überleitet", erscheint dabei - wenn auch vielleicht nicht in jedem Fall gleich deut¬ lich - eher als der angenehmere, positivere, bessere - entsprechend dem physischen Empfinden nach der Reinigung. Ganz deutlich ist dies bei religiösen Reinigungen der Fall. Hier steht die Reinigung zwischen dem profanen Bereich und dem heiligen, führt vom profanen Bereich zum heiligen über. Von der Schlacht kommend, wehrt Hektor seiner Mutter Vorschlag, Zeus Wein zu spenden und darauf zur Stärkung selber einen Schluck zu trinken, mit folgenden Worten ab: Xepcri 6’ diÄTTTOiaiv All Xelßeiy aiGoira olvov äCo|iai- ouSe tti] ecm KeXaivebei Kpoviovi aip.aTi

Kai

XuGpip TTeTTgXayp.evoy

euxcTdaaGai.

Mit ungewaschenen Händen Zeus funkelnden Wein zu spenden, scheu ich mich; und keinesfalls geht es an, zum schwarzwolkigen Kronossohn mit Blut und Schmutz befleckt zu beten. (II. 6.266-268).

Hektor scheint sich hier auf eine rituelle Vorschrift zu beziehen, ge¬ mäss der man zum Zwecke einer Kulthandlung nicht schmutzig vor den Gott treten durfte, sondern sich zuvor zu reinigen hatte. Aus sei¬ nen Worten ist zu entnehmen, dass sich diese Reinigung norma¬ lerweise auf das Waschen der Hände beschränkte, wohl deswegen, weil die Hände besonders an der Kulthandlung beteiligt sind und man da¬ her bei der Reinigung v.a. auf sie zu achten hat und weil für eine Kulthandlung unter normalen, alltäglichen Bedingungen eine Reini¬ gung der Hände zur Erlangung der geforderten Reinheit durchaus ge¬ nügen mochte. In der Tat war das Händewaschen die übliche Form der Reinigung vor Spende und Opfer:

38

Teil 1

In der Ilias wird es 5x vor Spende oder Opfer erwähnt, immer dann, wenn es dem Dichter besonders wichtig erschien, darauf hinzuweisen, dass alle rituellen Vorschriften richtig befolgt worden sind: vor bedeut¬ samen, ausführlich geschilderten Ritualen in entscheidenden Situati¬ onen. So steht das Händewaschen am Anfang des wichtigen, ausführ¬ lich beschriebenen Opfers, mit dem die Achaier Apollon versöhnlich stimmen und zur Abwendung der Pest bewegen wollen: XepiXijjoa'To 8’ eTTCLTa Kai oiAoxvras aveXovTO. Und sie wuschen sich darauf die Hände und hoben die Opfergerste auf. II. 1.449.

Ebenso lassen sich die ßaaiXfjes der Troer und Achaier von Herolden Wasser über die Hände giessen, ehe sie das bedeutende, ausführlich geschilderte Eidesopfer vollziehen, das den Friedensvertrag zwischen den verfeindeten Parteien besiegeln soll: (Kf|puK6s) ßacrLXeüaiv Ü8wp em xUpas exeuav. (Herolde) gossen den Königen Wasser über die Hände. II. 3.270.

Desgleichen lässt sich die Gesandtschaft der Griechen, die Achill ver¬ söhnen soll, vor der Spende und dem Gebet, das sie an Zeus richten, ehe sie ihre wichtige Mission antreten, von Herolden Wasser über die Hände giessen: aÜTiKa KT]puK65 pev i>8ojp em xeipa? exeuav. Sogleich gossen ihnen Herolde Wasser über die Hände. II. 9.174.

Und ebenso erwähnt der Dichter das Waschen der Hände vor der auch in ihrer Vorbereitung zum Ritual erhobenen, vom Dichter detailliert beschriebenen Spende, die Achill für Zeus verrichtet, um ihn um Un¬ terstützung seines Gefährten Patroklos im Kampfe sowie um seine gesunde Rückkehr zu bitten: Er holt im Zelt aus einer Truhe einen gutgearbeiteten Becher, von dem kein anderer Mensch Wein getrun¬ ken hatte und mit dem er keinem anderen der Götter ausser Zeus zu spenden pflegte: "Diesen nahm er nun aus der Truhe und reinigte ihn erst mit Schwefel, dann wusch er ihn mit schönen Güssen Wassers, und er wusch sich selber die Hände...", ehe er die Spende und das Ge¬ bet verrichtet: tö pa tot’ ek xnAmo Xaßöi' eraBripe Geeip TTpü/rov, CTTeiTa 8’ evfcß’ üSaTos KaXfjai pofjai, UpaTO 8’ aÜTÖs xUpas... • I1.16.228ff.

Reinigung bei Homer

39

Deutlich kann man spüren, wie sehr Achill versucht, durch eine Sorg¬ fältigkeit in der Beachtung der rituellen Vorschriften, die über das ge¬ wöhnliche Mass hinausgeht - er nimmt einen nur für Zeus reservier¬ ten Becher und achtet nicht nur auf die peinliche Reinheit der Hände sondern auch auf jene des Bechers, indem er ihn sowohl mit Schwefel als auch mit Wasser reinigt -, Zeus' Gunst zu erlangen. Dennoch ge¬ währt ihm Zeus nur den einen Teil der Bitte, den andern versagt er ihm (II. 16.250). Schliesslich wäscht sich Priamos die Hände vor der Spende und dem Gebet, das er, ehe er seine gewagte Reise zu Achill antritt, an Zeus richtet, um ihn um die Sendung seines Adlers als günstiges Vorzei¬ chen zu bitten. Entsprechend der Bedeutung des Gebetes widmet der Dichter dem Händewaschen drei ganze Verse: f| pa, Kai dpc()(.TToXov Tagiriv ÖTpuv’ 6 yepaiös Xepaiv üSwp emxeijom aKripaTov f) 8e TTapeoTri Xepvißoiv dpcJÜTToXos upöxoov 0’ dpa xcp^iv exouaa.

Sprach's nun, und der Alte forderte die dienende Schaffnerin auf, auf die Hände reines Wasser zu giessen; und die Dienerin trat herzu mit einem Wasserbecken und zugleich einer Wasserkanne in den Händen. II. 24.302ff.

Diese Stelle gibt uns zugleich Aufschluss darüber, wie man sich das Händewaschen vor der Kulthandlung praktisch vorzustellen hat: Der sich Waschende lässt sich von einer Dienerin (oder einem Diener) aus einer Wasserkanne (upoxoosO Wasser über die Hände giessen. Gleich¬ zeitig hält sie (oder er) unten ein Wasserbecken(hier x^Pvlß0lö sonst Xeßr|s) zum Auffangen des Wassers hin.83 In der Odyssee wird das Händewaschen vor der Kulthandlung ins¬ gesamt 5x angeführt84, wobei der Dichter bei seiner Erwähnung nach ähnlichen Prinzipien verfährt wie der Dichter der Ilias. Insbesondere scheint er durch die Anführung des Händewaschens andeuten zu wol¬ len, dass der die Kulthandlung Ausführende fromm ist und alle rituel¬ len Vorschriften beachtet, so beim ausführlich beschriebenen Opfer, das der fromme Nestor, der "mehr als andere Recht und Vernunft

83 Dass xepvi-ßov hier dasselbe wie sonst bei Homer Xeßps bedeutet und dass darun¬ ter das das Wasser auffangende Gefäss zu verstehen ist, sagen die Schol. A. zu II. 24.304: dOeTetTüL, cm uapci to aweöe? ai)Ttp yjäpvifiov tö ayyelov tö imoSexöpevov tö üScop, u>s f|peis. toüto 8e eitoöe KaXelv "Xeßr|Ta". Zur Entstehung der Form und Bedeutung von xepvißov aus xepi'ißa siehe Leumann S. 160, vgl. oben Anm. 18. Zur äusseren Form einer upöxoog und eines Xeßps siehe Laser S. S149f. (Abb. 18). 84 Vor Opfer: Od. 3.445; vor Spende und Opfer: Od. 3.338; vor Spende allein: Od. 21.270; vor Gebet: Od. 2.261; 12.336.

Teil I

40

kennt" (TiepioiSe Slkcx? f|5e 4>povtv oXXwp: Od. 3.244), Athene darbringt, nachdem sie ihn Tags zuvor besucht hat.85 Genau denselben Zweck erfüllt die Erwähnung des Händewaschens vor dem Gebet, das Odysseus auf der Insel Thrinakie - abseits von sei¬ nen Gefährten - an die Götter richtet86: Der fromme Odysseus wäscht sich die Hände sogar vor einem einfachen Gebet und wird so in auffäl¬ ligen Gegensatz zu seinen Gefährten gestellt, die wenige Verse später das Händewaschen unterlassen, ehe sie das frevelhafte Werk - die Schlachtung der Rinder des Helios - beginnen, wie sie denn bei diesem "Opfer" noch andere kultische Vorschriften missachten, die das Opfer betreffen: statt Opfergerste verwenden sie zarte Eichenblätter, statt Wein giessen sie Wasser über die brennenden Opfergaben.8' Händewaschen ist also eine wichtige Voraussetzung der Kulthand¬ lung: es bereitet den Menschen auf die Kulthandlung vor, führt ihn vom profanen Bereich in einen höheren, heiligen über und hebt ihn dadurch ein wenig aus seinem alltäglichen Zustand heraus, verleiht ihm "einen Hauch von Heiligkeit".88 So ist es denn nicht erstaunlich, dass Händewaschen auch in nach¬ homerischer Zeit vor Opfer, Spende und Gebet - soweit es mit einem Ritual verbunden ist - erforderlich ist.89 Zudem hat man an den Ein¬ gängen zu den Heiligtümern Becken mit Wasser aufgestellt, mit dem sich jeder, der eintrat, zu besprengen hatte. Fest angebrachte Wasserbe¬ cken, die zu diesem Zwecke dienten, sog. TTepippam-fipia, sind vom En¬ de des 7. Jh. an, also kurze Zeit nach Homer bezeugt.90 Doch nicht nur Händewaschen, sondern auch Baden und das An¬ ziehen neuer, reiner Kleider kann der Vorbereitung der Kulthandlung dienen.

85 Od. 3.418ff.: Natürlich sollen nicht nur das Händewaschen (3.445), sondern eben¬ so die umfangreichen, sorgfältigen Vorbereitungen, die Nestor zum Opfer trifft, sowie das umsichtige, ausführlich beschriebene Vollziehen des Opfers selbst auf Nestors Frömmigkeit hinweisen. Zur 'pietas' des Nestor im Kontrast zu den Freiem vgl. Omero Odissea I S. 290. 86 Od. 12.336f. 87 Od. 12.356ff. Zum regelwidrigen Verlauf des Opfers vgl. K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, S. 94. 88 Siehe Parker S. 20f. und 31. 89 Zum Händewaschen am Anfang des Tieropfers: siehe Burkert G.R. S.102; vor der Spende, ibid. S. 132, vgl. Hes. Op. 724f. |rr|6e ttot ijoüs All XeißgLv cllGottgl oivov/ xgpcriv dvtiiTOLCTLv aXXoL? dGavaTOLcnv; vor Gebet, mit Ritual verbunden■ Burkert od cit S.126. 90

Siehe Parker S. 19, inkl. Anm. 4 (mit Literaturangabe).

Reinigung bei Homer

41

Diese Form der Reinigung war in klassischer Zeit v.a. vor individu¬ ellen Weihen, Mysterieninitiationen und Hochzeit üblich.91 Parker erklärt sie mit folgenden Worten: The more closely involved psychologically the mortal was in the ceremony to be performed, the greater and more formal the preliminary requirements became.92

Diese Regel lässt sich bereits auf Homer anwenden. Schon hier scheint das Bad und das Anziehen reiner Kleider vor der Hochzeit üblich zu sein. So lockt Athene Nausikaa, während sie ihr im Traum in der Gestalt einer Gespielin erscheint, mit der Begründung an den Fluss: Deine Hochzeit ist nahe, an der du selber schöne Kleider tragen musst und solche jenen darbieten, die dich zum Bräutigam führen...Komm wir wollen beim Morgen¬ grauen waschen gehen... Od. 6.27ff.

Ebenso fordert Odysseus Telemachos und seine Helfer auf zu baden, neue Kleider anzuziehen und die Mägde sich umkleiden zu lassen, bevor der Sänger zum Reigentanz aufspielen solle, damit man draussen meine, es finde eine Hochzeit zwischen Penelope und einem Frei¬ er statt: Als erstes nun nehmt ein Bad und legt euch (neue) Leibröcke an, und befehlt den Mägden im Hause sich (andere) Kleider anzulegen; Doch ein göttlicher Sänger soll uns mit einer helltönenden Leier zum abwechlungsreichen93 Tanz auf spielen, damit man, wenn man es von aussen hört, glauben könnte, es finde eine Hochzeit statt. Od. 23.131ff.

Und während sie seine Anweisungen befolgen (Od. 23.141ff.), nimmt Odysseus selber ein Bad und zieht neue Kleider an: Aber den mutigen Odysseus badete in seinem Hause Eurynome, die Schaffnerin, und salbte ihn mit Öl und legte ihm einen schönen Mantel und einen Leibrock um; Aber über das Haupt hinab goss ihm Athene viel Schönheit... Od. 23.153ff.

Das Raffinerte an der Szene ist dabei, dass das Baden und Umkleiden nicht nur den Auftakt zu einer vorgetäuschten Hochzeit bildet - sonst wäre die Erwähnung von beidem wohl wenig zweckmässig -, sondern

91 92 93

Burkert G.R. S. 133; Parker S. 20. Parker ibid. Zu TToXiiTTaL'y|J.üJV siehe Omero Odissea VI S. 298 "con molti giochi e scherzi; ricco

di mutamenti"

Teil I

42

dass beides in der Tat die Einstimmung und Vorbereitung auf eine "Hochzeit" darstellt: die endliche Wiedervereinigung des Odysseus und der Penelope nach zwanzigjähriger Trennung.94 Das Bad und das Anziehen reiner Kleider scheint nun bei Homer nicht nur vor der Hochzeit geläufig gewesen zu sein, sondern kommt einmal auch vor Gebet und Opfer vor: Ehe Penelope, die vom Anschlag der Freier auf Telemachos gehört hat, auf Eurykleias Anraten Athene unter Darbringung von Opfergers¬ te bittet, sie möge Telemachos vor dem Tode retten und die Freier abwehren, badet sie sich und legt reine Kleider an: Nachdem sie gebadet hatte und reine Kleider um den Leib gelegt hatte (ij 8' ö6pr)i-,a|uenr| KaGapd XP°1 e'ipaG’ eXoüaa), ging sie ins Obergeschoss hinauf mit den

dienenden Frauen, legte Opergerste in einen Korb und betete zu Athene... Od. 4.759ff.

Dass man unter der dem Anziehen neuer Kleider vorausgehenden, durch u8ppvapenr| ausgedrückten Handlung das Waschen des ganzen Körpers, also "Baden" zu verstehen hat, ist doch wohl die nahelie¬ gendste Auffassung, die nicht nur von einigen modernen Interpreten, sondern auch von Eustathius vertreten wurde95: Das Baden und An¬ ziehen neuer Kleider hebt die Bedeutung der Kulthandlung für Pene¬ lope hervor und soll sie psychologisch entsprechend darauf vorberei¬ ten.95 Auch Hektar scheint mit seinen an die Mutter gerichteten Worten im 6. Buch der Ilias (s. oben S. 17), wiewohl er in 6.266 (xepoi 8’ äHrrToiaiv) nur das Händewaschen anspricht, doch an eine gründlichere Reinigung, nämlich ein Bad, zu denken, das ja, wie bereits gezeigt, all¬ gemein für einen vom Kampfe Zurückkehrenden üblich ist.9. Denn es ist kaum anzunehmen, dass er in jener Situation nur an den Händen "mit Blut und Schmutz befleckt" (aigcm. Kai \69ptp TreTraXaypevog) ist, und ausserdem könnte seine Mutter seinen Einwand gegen eine Spende leicht beseitigen, indem sie ihm nebst Wein auch Hand¬ waschwasser (yepvujj) brächte, wodurch sie Hektar in seiner Eile - ganz

94 95

Vgl. auch oben Anm. 67. Siehe oben Anm. 36.

% In ähnlicher Situation findet sich das Bad, Anziehen neuer Kleider (durch den¬ selben Formelvers ausgedrückt wie im 4. Buch) vor dem Gelübde, das Penelope auf Te¬ lemachos Geheiss den Gütern tut, falls Zeus die Werke der Freier vergelten werde (Od 17.48ff.). 97 Siehe oben Kap. 2.3.

Reinigung bei Homer

43

anders, als wenn sie ihm warmes Badewasser (0ep|id XoeTpd) vorzube¬ reiten und darzubieten hätte - kaum länger aufhalten würde.98 Nicht nur der Mensch hat sich als Vorbereitung zur Kulthandlung zu reinigen, auch

die bei der Kulthandlung

benützten

Gegenstände

haben rein zu sein. Dies liess sich schon aus II. 16.227ff. ersehen, wo Achilleus den Be¬ cher vor der für ihn persönlich - aber auch für den weiteren Verlauf der Gesamthandlung des Werkes - wichtigen Spende einer besonders gründlichen Reinigung unterzieht (siehe oben S. 38). Auch zum

Apollonfest99, das den Rahmen zum Bogenwettkampf

und Freiermord bilden wird, lässt Eurykleia das Haus von den Mägden gründlich reinigen: Greift zu, ihr da fegt hurtig das Haus, besprengt den Boden und legt auf die schöngefertigten Sessel purpurne Decken; ihr dagegen wischt alle Tische mit Schwämmen ringsum ab und reinigt die Kratere und die zweihenkligen Becher, die wohlgefertigten; ihr schliesslich geht zur Quelle, Wasser zu holen, und bringt es herbei, euch sputend. Denn nicht mehr lange werden die Freier dem Hause fernbleiben, sondern sehr bald zurückkehren, da gar für alle ein Fest ist. Od.20.149ff. Die gründliche Reinigung des Hauses ist vom Dichter wohl nicht nur konkret als Vorbereitung fürs Fest gedacht, sondern soll wohl auch symbolisch auf die kommenden

Ereignisse vorausweisen,

wie denn

auch der letzte Satz eirei Kai TräaLv eopn) durchaus zweideutig aufge¬ fasst werden kann.100

98 Ähnlich argumentieren die Scholien T zu II. 6.266 (wenn ich auch das Bad vor der Spende nicht generell als apxalov wvf) Kai Traar] 8uvdper ...TL5...r) ttoXi? r) iSulrrris f) eGvog' ... toü 'AttöXXwvos Kal Tfjs ApT€|ii8os Kal Trjs At|toDs Kal AGriväg npovoias; ferner das Prinzip der negativen Konträraussage, eine Aussageform früher Literatursprachen: |if|T airroi tt)v iepäy yrjv epyaaeaGai |iryr' dXXa) CTTiTpeijjclv, aXXa ßopGriaeLV ™ 0ew...; schliesslich unlogische Koordinationen: ßori0f|aeiv tw 0ew Kai tt) yfj..., xelPL Kai ttoSI Kai 4>wvf) Kai Tracnj Suvapei (siehe Siewert l.c.). Siewert

Reinigung bei Homer

51

ähnlichen Fluch gegen die Meineidigen sollen die Athener - gemäss einer ebenfalls umstrittenen Inschrift aus dem 4. Jh. - vor der Schlacht von Platäa vor der Schlacht von Platäa ihren Eid beschlossen haben: Wenn sie irgendetwas vom Geschworenen überträten und das im Eid Geschriebe¬ ne nicht einhielten, so sollten sie selbst, die dies schworen, ein dyos haben.123 Dass nun ein solches, aus einem Sakrileg resultierendes dyos für den Griechen

der nachhomerischen

Zeit ein

gefährliches,

ansteckendes

Unheil bedeutet, das von einer Befleckung (piacrpa) kaum verschieden ist, wird daraus ersichtlich, dass es auch als piacrpa bezeichnet werden kann1 4 oder dass es dieselben Folgen wie ein piaapa haben kann125 oder ebenso wie ein giaaga den normalen Opferverkehr mit den Göt¬ tern verunmöglicht,126 ferner daraus, dass ein (aus blossem Mord be-

(op. cit. S.78) nimmt die von Plut. Sol. 11.2. angeführten tcov AeX4>wv wopvripaTa als Quellen für die Amphiktyoneneide (einen weiteren Eid überliefert Aeschin. in 2.115) an. Einen interessanten Zusammenhang zwischen den evayets in Athen und jenen in Kirrha versuchte G. Forrest, The first sacred war, BCH LXXX 1956, S. 33ff. herzustel¬ len: Das von den Kirrhäern kontrollierte, prokylonische Delphi erklärte die Almeoniden für evayels, worauf der geächtete Alkmeonide Alkmeon die Athener gegen dieses kirrhäische Delphi auf der Seite der Amphiktyonen in den Krieg führte und so mit¬ half, dass die neue, von den Amphiktyonen eingesetzte Leitung in Delphi die Kirrhäer ihrerseits für evayeis erklärten. Problem für Forrests These ist, wie Forrest selber zu¬ gibt, v.a. die Annahme eines Strafzugs gegen Delphi und einer Neubesetzung seiner Leitung durch die Amphiktyonen im Rahmen des 1. Heiligen Kriegs, die einzig durch Hom.h. Ap. 532ff. gestützt zu werden scheint. Demgegenüber versuchte N. Robertson, The Myth of the sacred war, CQ 28,1978, S. 38-73 den gesamten 1. Heiligen Krieg und somit auch die von Aesch. überlieferten Nachrichten als literarische Fiktion hinzu¬ stellen (Widerspruch bei G.A. Lehmann, Historia 29, 1980, S. 242ff.). K. Tausend, Amphiktyonie und Symmachie, Stuttgart 1992, S. 161ff. hält dagegen nur die Teilnah¬ me Sikyons und Athens am 1. Heiligen Krieg für eine Fiktion. 123 P. Siewert, op. cit., S.7, Zeile 48ff. Siewert versuchte in seinem Buch, den inschriftlich überlieferten Eid, entgegen der communis opinio, die sich hauptsächlich auf Theopomp (FGrHist 115 F 153) berief, als echt zu erweisen. 124 Aisch. Suppl. 366ff.: Nachdem die an den Altar geflohenen Danaiden den König davor gewarnt haben, sie nicht den Söhnen des Aigyptos auszuliefern, antwortet dieser, dass sie nicht an seinem Altar sässen; wenn daher die Stadt insgemein befleckt zu wer¬ den drohe (puiiveTai V. 366), so sei diese auch gemeinsam für die Abwehr einer Befle¬ ckung zuständig. Doch die Danaiden halten dem entgegen: "Du bist die Stadt...hüte dich vor einem dyos!" (V. 375). 125 So soll das dyos für die Meineidigen in Aeschin. 3.111 (siehe Anm. 122) Missernte, Missgeburten, Unfruchtbarkeit der Tiere, Untergang ihrer Häuser und ihres Geschlech¬ tes zur Folge haben, genauso wie in Theben das piacrpa Missernte, Unfruchtbarkeit von Menschund Tier sowie Verderben für die Menschen (durch die Pest) hervorruft (Soph. O.T. 25-30; 97). Vgl. auch Eid bei Platäa, bei Siewert, op. cit. S. 6f. Zeilen 40-46. 126 So sollen die Meineidigen in Aeschin. l.c. pf|TTOT€ öultos den Göttern Opfer darbringen können, so dass die Götter sie nicht annehmen, ebenso wie Befleckte, die nach Antiphon 5.82 durch ihre Anwesenheit schon oft verhindert haben, dass tö iepa vopiCöpeva dargebracht werden können, und sich dadurch als oi)x öcnoi övtcs entpuppt haben.

Teil I

52

stehendes) |_uacr|aa auch als äyog bezeichnet werden kann,127 schliess¬ lich aber auch daraus, dass das einem solchen Frevel

angemessene

Verfahren (sofern es sich nicht um eine kleinere rituelle Verfehlung handelt, die durch rituelle Reinigung und Entsühnung wiedergutge¬ macht werden kann) entsprechend der ersten Massnahme gegenüber dem Mörder in der Vertreibung des Frevlers besteht, wie die häufig vorkommenden Wendungen tö dyo? eXaweiv, eXaweLv tous evayets, ayr|XaTeiv demonstrieren.12H

3.2.2. Reinigung von Befleckung in nachhomerischer Zeit Die Reinigung, die der Beseitigung einer Befleckung (piaapa, dyos), des gefährlichen, ansteckbaren Zustandes, der den Betroffenen rituell un¬ rein macht, dient, ist je nach Schwere des Ereignisses mehr oder weni¬ ger umständlich. Bei Geschlechtsverkehr besteht sie meist schlicht in Waschen vor dem Betreten des Tempels. Bei der Geburtsbefleckung genügt das erste Bad von Mutter und Kind gleich nach der Geburt nicht zur Herstel¬ lung der Reinheit, sondern es sind weitere Rituale in den darauffol¬ genden Tagen notwendig.129 Bei der Befleckung durch Tod ist das Haus des Toten mitsamt sei¬ nen Insassen bis zur cKcjwpd am 3. Tag befleckt, offenbar gleich nach der Beerdigung folgte dann ein Bad der Angehörigen, das allerdings noch nicht

zum

sofortigen

Betreten

des

Tempels

berechtigt

zu

haben

scheint, sowie - einen Tag darauf - die Reinigung des Hauses, die in Iulis auf Keos im Besprengen mit Meerwasser, Einreiben mit Erde und

127 So werden in Soph O.T. 402 von Oidipus die Worte piatTga...eXaweiv...av8pTiXaToüvTa (V. 97ff.), die sich auf den Mörder Laios beziehen, durch ayr|Xcm)creiv wieder aufgenommen, dyos für blossen Mord ferner in Aisch. Cho. 635; Soph. O.T. 1426; vgl. Parker S. 8 Anm. 35. 128 tö dyos eXaöveiv, ayriXcrreiv, siehe oben Anm. 102; eXaweiv toös evayels: Thuk. 1.126.12; ferner 1.139.1 (nepi tüv evaywv Tf|S eXacreiüs); vgl. Hdt. 5.72.1 e£;eßaXXe...Toös evayeas. Diese Fälle beziehen sich alle auf Mord bzw. Mord in Verletzung des Asyl¬ rechts. Doch wenn nach Aeschin. 3.108 diejenigen oi eis tö iepöv tö ev AeXcfols Kai uepi tö dva6ijpaTa rjaeßow (siehe Anm.122) als Sklaven verkauft wurden, so scheint das nichts anderes als die utilitaristische Umwandlung des dyos eXaüveiv zu sein (siehe Williger op. cit. S.28); und die Vorstellung des dyos eXaöveiv scheint auch die Behand¬ lung der Tempelräuber beeinflusst zu haben, denen nach einem athenischen Gesetze des 5. )hds. nach der Hinrichtung die Bestattung im eigenen Lande verweigert wurde (J.H. Lipsius, Das attische Recht und Rechtsverfahren, Leipzig 1905 Bd.l S. 443). Zu weite¬ ren Massnahmen, die an dyos eXaweiv gemahnen, siehe Parker S.170 Anm.150 und 151. Zur Reinigung nach Geschlechtsverkehr siehe Parker S. 74f.; zur Reinigung von Geburtsbefleckung siehe Parker S. 50ff.

Reinigung bei Homer

53

Ausfegen bestand und durch Verbrennen von Räucherwerk auf dem Herde (0i3r| 9ueu e4>[icma]) beschlossen wurde.130 Am aufwendigsten war das Reinigungsritual des Mörders. Wir sind in der glücklichen Lage, dass erst kürzlich dazu eine neue Quelle ge¬ funden worden ist, die ein authentisches Zeugnis dafür ist, wie ein Mörder von seiner Tat gereinigt wurde. Es handelt sich um eine 1993 veröffentlichte Inschrift auf einer Bleitafel aus Selinus,

die etwa auf

460 v. Chr. datiert wird:131 Das auf ihr beschriebene Reinigungsritual zielt offenbar in erster Linie darauf ab, den Mörder, auToppeKTas, von den ihn verfolgenden Rachegeistern (eXacrrepoi) zu befreien:132 Zuerst soll der Mörder eine Ankündigung machen (TrpoeiiTov), wo immer er will und im Jahre, in dem er will, und am Monat, an dem er will, und am Tage, an dem er will, und ankündigend wohin er will. Durch sie soll der Mörder offenbar einen Gastgeber finden.133 Dann soll er die Reinigung beginnen (KaGoupecrGo). Als erstes soll der, der ihn aufnimmt (dem Mörder) zu waschen geben und einen Schluck ungemischten Wein zu trin¬ ken und Salz.134

130 Siehe Parker S. 36ff. Reinigung des Hauses in Iulis auf Keos: LSSG 97 A 14-17. Es empfiehlt sich, hier unter 0ür| Räucherwerk zu verstehen, dessen Verbrennen einerseits - kathartischem Zwecke dienend - die Reinigung abschliessen soll (vgl. Od. 22.481ff.: siehe S. 80f. unten), andererseits - als Opfer - den unterbrochenen Kontakt zu den Göt¬ tern wiederherstellen soll (vgl. Ziehen RE XVIII, 587 s.v. Opfer). Anders will das Wort ]. Casabona, Recherches sur le vocabulaire des sacrifices en grec, Aix-en-Provence 1966, S. 112 hier eher als Gebäck verstehen, Stengel G.K. S.99 folgend. 131 Jameson Kolumne B (die Ergänzung der ersten Zeile ist unsicher; siehe Jameson S.12): [ai] k’ ävGpwrros [auTopeK]Ta[s eXJaorepov dTTOKa[0cape9ai.| Xcl], upoeiTröv hÖTTo Ka Xcl Kai tö Ee[T]eos hÖTTo Ka Xcl Kai [tö pevös] | hoTTeio Ka \ei Kai äpepai hoTTeiai Ka XL, tt(o)pcLTTÖv hÖTTui Ka Xcl, KaGaLpeaGw, [kol ho hu-: coni. Canon] | TroSeKÖpevos drrroviöacrGai 86to KciKpaTi^aaGaL Kai haXa toi au[ToppcKTaL: coni. Canon] | Xolpov

[k]o'l

Gücras töi Ai

airrö lto Kai TrepLcrrfL JpatfeoGo | Kai TroTayopeaGo Kai ctltov haipeaGo Kai KaGaeu-

8cto hÖTre k- | a Xcl. ai t'l? ko Xei fjeuLKÖv e TraTpöiov, e

TraKoucrröv e '(fopaTÖv | e Kai

XÖvnva KaGaipeaGai, töv auTÖv tpöttov KaGaLpeaGo | houTrep hoi)Top6KTas CTrei k’ eXaaTCpo aTTOKaGdpcTai. | hiapelov tcXcov em töl ßopöi töi SapoaioL Giiaa? KaGapö-1 s eaTO' 8iopi^a? haXi Kai xpucröL airopavapevog öittlto. | hÖKa töl eXaaTcpoi XP^C61 Gdev, Güev höaTTep tols | aGavciTOLCTL. crc]>aCeT0 8' e? yäv. Zur Datierung siehe Jameson S. 46ff. ("mid-fifth

Century

or somewhat earlier11)132 Bl eX]aaTepov dTTOKafGaLpeaGai], B9 houTOppeKTas...eXaaTCpo aTTOKaGaipeTai., Zur Bedeutung des aTTa^ Xeyöpevov auTO

pCKTas (= Mörder ) und von eXdcrpopos (= aXacjTtjp, dXaaTopos, Rachegeist) siehe Jameson S. 44, 54,116ff. 133 So Canon CPh 91, 1996 S. 176 Anm. 72, gegen Jameson, S. 41, 54ff., wo die eXdoTepoi als Adressaten der Proklamation angenommen werden. 134 Gegen Jamesons (S. 56 Anm.2) Auffassung, dass immer noch der Mörder Subjekt ist, siehe Canon op. cit. S. 175ff., der in Zeile 4 anstelle des von Jameson vorgeschlagenen töl aü[TÖL] glaublicher töl au[ToppeKTaL] ergänzt.

Teil I

54

An sie schliesst sich ein Ferkelopfer an Zeus: Und nachdem er Zeus ein Ferkel aus eigenem Besitze geopfert hat, soll er gehen und sich herumdrehen. Erst jetzt ist der Mörder offenbar hinlänglich rein und kann angespro¬ chen, richtig verpflegt werden und sich schlafenlegen: Und er soll angesprochen werden und Speise zu sich nehmen und schlafen, wo immer er will. Nachdem das Ritual auf weitere Fälle - die Reinigung "von

einem

fremden, oder einem väterlichen (Elasteros), entweder einem gehörten oder gesehenen, oder von sonst irgendeinem" - ausgedehnt worden ist, wird die Reinigung durch ein Schafsopfer an einem öffentlichen Altar beschlossen135: Nachdem er ein voll ausgewachsenes Schaf auf dem öffentlichen Altar geopfert hat, soll er rein sein. Die erlangte Reinheit soll durch eine letzte Reinigung markiert wer¬ den: Und nachdem er mit Salz und mit Gold eine Abgrenzung gemacht hat und sich mit Wasser besprengt hat, soll er Weggehen. Wenn er will, kann er auch noch dem Elastoros ein Opfer darbringen, also einen Privatkult einrichten, in dem die Beziehung zum Dämon dauerhaft geregelt wird: Wenn er dem Elasteros opfern will, soll er ihm wie den Unsterblichen opfern. Doch er soll zur Erde hin schlachten. Sehr ähnlich findet sich das Reinigungsritual des Mörders in der Lite¬ ratur reflektiert: bei Aischylos in den Eumeniden (zu diesen s. Kap. II 1.1.2.2.2), die etwa aus der gleichen Zeit wie die Inschrift stammen, und etwa 200 Jahre später bei Apollonios Rhodios. Bei Aischylos (s. unten S. 121ff., besonders S. 131) hören wir aller¬ dings nichts von einer Ankündigung des Mörders. Der Mörder hat, befleckt und von den Erinyen verfolgt, ausser Landes ins Exil zu gehen und bis er gereinigt ist, stumm zu sein und soziale Kontakte und das Betreten von Heiligtümern zu meiden. 135

Um sich reinigen,

dringt er

Zeile BIO f. beschliessen das in B 3 begonnene Verfahren. Siehe Jameson S. 45.

Reinigung bei Homer

55

schweigend ins Haus eines Schutzherrn ein und setzt sich mit einem von Wolle umwundenen Ölzweig an seinen Herd. Die Reinigung er¬ folgt, indem ein Ferkel so geschlachtet wird, dass sein Blut über den Befleckten strömt und darauf mit Wasser weggewaschen wird. Nun kann der Mörder von sich behaupten, dass er rein und ungefährlich ist, darf wieder sprechen und am sozialen und religiösen Leben teil¬ nehmen, auch wenn in Aischylos'

Eumeniden die Erinyen - im Ge¬

gensatz zu denEXdorepot in Selinus - dieses Reinigungsritual nicht anerkennen und Orestes zusätzlich vor ein Gericht geführt werden muss. Ebenso machen bei Apollonios

Rhodios die Mörder vor der Reini¬

gung keine Ankündigung, sondern Jason und Medea folgen Kirke auf ihr Geheiss ins Haus und setzen sich schweigend auf den Herd der Gastgeberin, und geben dadurch, dass sie nicht emporblicken, sondern teils ihre Stirn in ihren Händen verbergen (Medea), teils die Mordwaf¬ fe in den Boden heften (Jason), zu erkennen, dass sie Mörder sind, die der Reinigung bedürfen. Darauf werden die Hände der Mörder von Kirke mit dem Blut eines Ferkels übergossen, das anschliessend mit Wasser weggewaschen wird; dann werden die Reinigungsrückstände (Xüpcrra) weggetragen; zuletzt werden Zeus und die Erinyen durch das Verbrennen unblutiger Opfer und weinlose Spenden versöhnt.136 Wie bei der Inschrift von Selinus

dürfen sich die Mörder erst jetzt

nach vollzogener Reinigung hinsetzen und mit der Gastgeberin reden.

136 A.R. 4.693-717. Umstritten ist V. 707ff.: aim? 8e Kal äXXois / iielXiaaev xGAoicn KaGdpaiov ayKaXeouaa/ Zfjva... Die meisten verstehen die Verse wie F. Vian in seiner Ausgabe: "puis, avec d'autres libations, eile propitiait dans ses invocations Zeus le Purificateur"; so offenbar auch Parker in seiner Paraphrase der Stelle S.370: "then she poured offerings to Zeus of Purification, with invocations" (üXXols übergeht er still¬ schweigend). Die Vertreter dieser Auffassung nehemen also an, dass schon aipan xöpas /reyyev (V.706f.) als "Libation" aufzufassen ist. Problem dieser Auffassung ist aller¬ dings, 1.) dass das Blut, mit dem der Mörder übergossen wird und das doch die Unrein¬ heit absorbieren soll (vgl. Parker S. 230), noch an ihm kleben bliebe; 2.) dass offenblie¬ be, was die XüpaTa (V.710) sind. Am meisten Sinn macht es doch, wenn man darunter v.a. das Blut versteht, das die Unreinheit absorbiert hat und darauf weggewaschen worden ist. Es scheint daher vernünftiger, unter xvrXa "Übergiessungen mit Wasser" (so Ginouves S.322 Anm.12, "Badewasser, "Bad" zu verstehen wie in Lyc. 1099, Euph. 9.7 (siehe LSJ s.v.). Dann sind die Verse wohl so wiederzugeben: "Und sie stimmte die Göt¬ ter gnädig durch die Anwendung anderer Übergiessungen bzw. Übergiessungsmittel (näml. Wasser), Zeus den Reiniger anrufend." (so bekäme KaGapcnov einen ganz konkre¬ ten Sinn). So scheinen die Verse auch Stengel G.K. S. 159 und v.a. Ginouves S.322 (der die Deutung "Libation" kritisiert) zu verstehen. Zur Reinigung mit Ferkelblut + Wasser vgl. auch Paus. V 16.8 (Die Hellanodiken und die cKKaiöcKa yuvaiKes machen sich nicht eher an ihre Pflichten, uplv t) x°^Pö Te eTTiTT|8eLw Ttpö? KaGappöv Kal üSan aiTOKaGalpiuvxai). Zum Reinigungsritual für den Mörder allgemein siehe Parker S. 370-374, Burkert G.R. S.137f., Ginouves S. 319-325.

Teil I

56

3.2.3. Befleckung und Reinigung bei Homer? 3.2.3.1. Die Divergenz unter den Forschern Die grosse Streitfrage unter den Philologen besteht darin, ob Homer die Vorstellung einer nicht nur physischen,

sondern auch 'metaphysi¬

schen', metaphorisch aufgefassten Befleckung, die der Betroffene sich bei Geschlechtsverkehr, Geburt, Tod und Mord automatisch zuzieht und ihm den Kontakt mit den Göttern verbietet, sowie der Brauch der speziellen Reinigung,

die der Beseitigung einer

solchen

Befleckung

dient, bekannt ist. Ein abschliessendes Urteil in der umstrittenen Frage nach der Ent¬ wicklung

der

Befleckungsvorstellungen

und

Reinigungsgebräuche

von Homer an bis in die klassischen Zeit ist wohl nicht möglich. Den¬ noch wird im folgenden versucht, erst die wichtigsten philologischen Auffassungen zu diesem Problemkreis aufzuzählen und sie darauf so gut es geht - gegen einander abzuwägen. Moulinier, wie zuvor schon Stengel und Gillies, vertrat die Auffas¬ sung, dass Homer die klassische Vorstellung

einer metaphorischen

und immateriellen Befleckung, die ansteckend ist und den Kontakt mit den Göttern verunmöglicht, sowie das Reinigungsritual zu deren Beseitigung nicht kenne. Unreinheit sei immer materiell

und konkret

aufgefasst: Blut, Staub, Schweiss, Schmutz oder Kot. Ebenso seien die Reinigungen - sowohl jene nach dem Kampf oder vor dem Essen als auch jene vor der Kulthandlung - gänzlich materiell und der körperli¬ chen Sauberkeit dienend. Demnach verunmögliche bei Homer nur die materielle Unreinheit den Kontakt mit den Göttern, sei für Homer Befleckung einfach Schmutz.137 Was speziell die Befleckung

durch den Tod angeht, betonte Mouli¬

nier, dass der Tote bei Homer nicht an sich für unrein gelte, sondern nur, wenn er schmutzig sei, und dass der Kontakt mit ihm nicht befle¬ cke.138 Und Stengel hob hervor, dass bei Homer selbst die Götter unbe¬ denklich Leichen berühren,139 während Gillies darauf hinwies, dass die Angehörigen nach der Beerdigung sich nicht einer Reinigung zu un¬ terziehen pflegten.140 V.a. aber betonten Stengel, Gillies und Mouli¬ nier, dass bei Homer der Mörder nicht als befleckt gilt und nicht einem

117 Moulinier S. 25ff.; Stengel G.K. S. 156; Gillies S. 71ff. 138 Moulinier S. 30f. 1J“ Stengel G.K. S. 157 mit Anm. 2; er stellt diese Tatsache den Stellen E. Alc.22' Hipp. 1437 und I.T. 381 f. gegenüber. 140 Gillies S. 73, bezugnehmend auf II. 23.258; 24.802; Od. 12.10.

Reinigung bei Homer

57

blutigen Reinigungsritual unterzogen wird.141 Als Beweis dient ihnen eine Stelle aus dem 15. Buch der Odysse, wo der Mörder Theoklymenos sich dem opfernden Telemachos nähert, um ihn um Schutz zu bitten: Es findet sich dort, so betonten sie, weder ein Hinweis darauf, dass er befleckt wäre und seine Gegenwart das Opfer entweihen würde, noch wird ihm nimmt

ihn

von

Telemachos

Telemachos

ohne

eine

Reinigung

Umstände

und

zuteil.

ohne

die

Vielmehr geringste

Furcht auf seinem Schiff auf.142 Moulinier zählt weitere Punkte auf, die seiner Meinung nach dagegen sprechen, dass der Mörder bei Ho¬ mer als befleckt galt: 1.) die Tatsache, dass fliehende Mörder wie Lykophron, Epeigeus und Patroklos immer gut aufgenommen werden;143 2.) dass man, wenn man sich in der Fremde als Mörder ausgibt - wie Odysseus es an einer Stelle tut144 - keinerlei Anstoss erregt; 3.) die Möglichkeit für den Mörder, statt zu fliehen, Blutgeld zu bezahlen;145 4.) den Umstand, dass die Kraft, die den Mörder ins Exil treibt, nicht seine Befleckung ist, sondern die Angst vor der Rache der Verwandten des Opfers, wie der Fall des Theoklymenos zeigt.146 Erste sichere Zeugen für eine Lehre von der Befleckung des Mör¬ ders, Toten etc. und der Forderung nach Reinigung kann Moulinier erst nach Homer finden: Er weist darauf hin, dass die erste sichere Rei¬ nigung des Mörders sich in der Aithiopis des Arktinos von Milet (2. Hälfte 7. Jh.?) findet,147 dass die 'Reinigung'

der Stadt durch das Aus¬

treiben des cjxxpgaKÖs, die den Glauben an die Befleckung der Stadt vor¬ aussetzt, seit dem 6. Jh. (durch Hipponax) bezeugt ist,148 dass die erste Reinigung von der Befleckung des Todes im 6. Jh. bezeugt ist (Peisistratos' Reinigung von Delos),149 dass zum ersten Mal Ende des 7.Jhds. von der Austreibung von Urhebern eines Sakrilegs (KtAwueiov cryog)

141 Stengel G.K. S.156f.; Gillies S. 73f.; Moulinier S. 31f.

142 Od. 15.222ff. 143 Lykophron: II. 15.430-39; Epeigeus: II. 16.571-75; Patroklos: II. 23.85-90. Mouli¬ nier S. 31f. 144 Od. 13.259-75; Moulinier S. 32. 145 Blutgeld: II. 9.632-36; 18.497-508; Moulinier ibid. 146 Theoklymenos: Od. 15.273ff.; Moulinier ibid. Vgl. Gagarin S. 10, der nach einer Auflistung sämtlicher Mordfälle im Epos zu folgendem Schluss kommt: "It is apparent also from the example of Theoklymenos and others that this flight is the direct consequence of the necessity to escape death at the hands of the victim's relatives seeking revenge, and although it is likely that this desire for revenge was stronger in some cases than in others (cf e.g. II. 23,497-508 and Od. 24,430-525), the threat of vengeance probably lay ultimately behind every case of exile for homicide." 147 T.W. Allen, Homeri Opera V p.l05.28ff.; siehe Moulinier S. 42f.;58. Zur Datie¬ rung vgl. Parker S. 131 Anm. 102. 148 Hippon. Fr. 5-11 West. Moulinier S. 50; 58. 149 Hdt. 1.64; Thuk. 3.104 (vgl. oben Anm. 111). Moulinier S. 49f.; 58.

Teil I

58

die Rede ist150 und dass erst in der archaischen Zeit Reinigungspriester, KdBapTOU, auftauchen wie Epimenides, Bakis, Abaris.151 Aufgrund dieser Quellenlage gibt Moulinier zu, dass der Schluss naheliege, dass der Glaube an die Befleckung und das Bedürfnis nach Reinigung zu ihrer Beseitigung eine nachhomerische Neuerung sei.152 Doch betrachtet er einen solchen Schluss als voreilig. Er gibt zu beden¬ ken, dass weder in der Erinnerung der klassischen Griechen noch in der Legende eine Zeit heraufbeschworen wird, in der die klassischen Befleckungsvorstellungen nicht bekannt gewesen wären,153 und fasst die Möglichkeit ins Auge, dass Homer die Befleckung des Mörders und des Sakrilegs bewusst verschweigt, sei es, weil er daraus keinen literari¬ schen Nutzen ziehen zu können glaubte, sei es aus Angst, die Dinge beim Namen zu nennen.154 Schliesslich ist er der Ansicht,

dass die

Vergangenheit Griechenlands so reich an verschiedenen Elementen sei, dass es gute Gründe brauche, um zu sagen, dass ein Faktum, das uns neu scheine, es auch wirklich sei. Hinsichtlich der Vorstellungen von Befleckung und Reinigung jedoch, meint er, hätten wir keine sol¬ chen Gründe, die die Annahme

von Neuerungen im 7. und 6. Jh.

rechtfertigen würden.155 In zweierlei Hinsicht unterscheiden sich Nilsson,

Dodds und Bur-

kert grundsätzlich von Mouliniers Auffassung. Zum einen sind sie der Auffassung, dass sich bei Homer durchaus Ansätze einer kathartischen Praxis feststellen lassen; zum anderen geben sie Gründe an, die zu ei¬ ner weiteren Ausbildung und Intensivierung

dieser Lehre in nach¬

homerischer Zeit geführt haben könnten. So sind alle drei der Auffassung, dass sich bei Homer die Auffassung der Krankheit als einer Befleckung, die durch eine Reinigung entfernt werden musss, bereits vorfindet.156 Nilsson und Dodds sehen auch in der Reinigung des Hauses durch Odysseus nach dem Freiermord mehr als nur eine ästhetische oder hygienische Massnahme.157

Zum KuXaiveiov äyos siehe oben Anm. 118; zur Vertreibung der evayels vgl. unten Kap. II 2.2. Moulinier S. 46f.; 58. 151 Zu Epimenides siehe unten Kap. II 2.2.; zu Bakis und Abaris siehe unten Kap. II 2.1. Moulinier S.51f.; 58. 152 Moulinier S. 59. 153 ibid. 154 Moulinier S. 60. 153 Moulinier S. 61. 156 IL E313ff. Nilsson, Griechische Feste S. 98; G.G.R. S.91; Dodds S. 180 Anm. 39Burkert G.R. S. 135f.

Reinigung bei Homer

59

Was die Reinigung des Mörders angeht, so will Nilsson sogar nicht ausschliessen, dass sie, obwohl Homer sie nicht erwähnt, - sogar im Falle des Theoklymenos

oder bei der Erwähnung

des Wergeides -

dennoch stattgefunden haben kann,158 und er erinnert in diesem Zu¬ sammenhang auch an "Sitten von grausamer Urtümlichkeit, die ein hohes Alter haben müssen" und "wie eine primitive Reinigung" aussehen: die eine bestand darin, dass der Mörder das Blut des Ermordeten aufsaugte und gleich wieder ausspie, die andere, an die Homer wohl an einer Stelle anspielt,159 darin, dass er die blutige Mordwaffe am Haupte des Getöteten abzuwischen pflegte.160 Dennoch sind Nilsson, Dodds und Burkert der Ansicht, dass an der Schwelle von der Welt Homers zur archaischen Epoche die Angst vor Befleckung und das Bedürfnis nach Reinigung in bemerkenswertem Masse zuzunehmen scheint. Nilsson hebt v.a. die ethische Seite der Veränderung hervor: Wie¬ wohl er Homer die Kenntnis

der Reinigung des Mörders nicht ab¬

spricht, gibt er zu, dass in der homerischen Gesellschaft, wo Kampf und Totschlag an der Tagesordnung waren, das Gefühl für Blutschuld und Blutsühne abgeschwächt war, so dass im Falle eines Mordes die Zahlung des Wergeides in den Vordergrund trat. Er glaubt, dass in der homerischen Gesellschaft "die Achtung vor dem Menschenleben verringert" war: Die Gefahr lag nahe, dass eine Mordsache sich in eine Prestigefrage oder gar ein Geschäft verwandelte und dass das Recht des Ermordeten selbst vernachlässigt wurde.161 In der archaischen Zeit dagegen - so Nilsson - setzte sich "die Forde¬ rung der Religion" durch162: Mord wird in jedem Fall als eine schwer¬ wiegende Befleckung aufgefasst, Reinigung und Sühnung zur binden¬ den Pflicht. Dadurch wurde "die Achtung vor dem Menschenleben, über dessen Vernichtung

man

sich nicht leichtfertig hinwegsetzen

durfte", gefördert. Als verantwortlich dafür, dass sich die "Forderung

157 Od. 22.437ff.; Nilsson, Griechische Feste S. 99; G.G.R. S. 92. Dodds l.c. Moulinier S. 28 fasst die Handlung vorwiegend als der "esthetique" dienend auf; Gillies S. 74 spricht von einer hygienischen Massnahme. 158 Theoklymenos siehe oben Anm. 142. Nilsson G.G.R. S.91f. 159 Siehe oben S. 7f. 160 Nilsson G.G.R. S. 92 inkl. Anm. 1 und 2. Vgl. oben Anm. 46. 161 Nilsson G.G.R. S. 92 und S. 634. 162 Im folgenden wird auf Nilsson G.G.R. S. 632-637; Greek Piety S. 42-47 Bezug ge¬ nommen.

Teil I

60

der Religion nach Reinigung und Sühnung"

durchsetzen konnte, be¬

trachtet Nilsson das Orakel von Delphi, das in der archaischen Zeit zur Blüte gelangt war: Es war selbstverständlich, dass der Gott der Sühnungen sich v.a. der Mordsühne annehmen musste und auf ihr bestehen musste. Nilsson glaubt, dass der delphische Gott mit seinem

unerbittlichen

Bestehen auf der Befleckung des Mörders und seiner Forderung nach Reinigung beim Staate ein offenes Ohr fand, da diesem nunmehr ein Mittel an die Hand gegeben wurde, "die Blutrache, die das Zusammen¬ leben der Bürger zu zerrütten drohte, zu unterdrücken" und "zugleich die Bestrafung der Mörder, statt sie den Verwandten des Mörders zu überlassen, in die eigene Hand zu nehmen".

So glaubt Nilsson, dass

"die Blutsühne und die Formalitäten des Mordprozesses in der grie¬ chischen Polis offenbar unter der Mitwirkung und Sanktion des del¬ phischen Gottes geregelt" wurden. Den Einfluss Delphis sieht Nilsson auch in der Institution der e£r|yr|Tai TTe0oxpr|crTOi sich widerspiegeln, die seiner Meinung nach "die Beauftragten des Gottes" waren und "be¬ sonders über Reinigungen Auskunft gaben". Dodds sieht den Unterschied zwischen den homerischen und den archaischen Befleckungsvorstellungen hauptsächlich darin, dass in der archaischen Zeit die Befleckung im Gegensatz zu vorher

als anste¬

ckend, vererblich und dadurch als gefährlicher und furchterregender aufgefasst wurde. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, stellt er Telemachos'

ungezwungenen Entschluss, einen

kameraden aufzunehmen

Mörder als Schiffs¬

(Od. 15.256ff.), den übertrieben ängstlichen

Befleckungsvorstellungen des 5. Jhds. gegenüber, aufgrund derer ein Angeklagter in einem Mordprozess versucht, seine Unschuld von der Tatsache her abzuleiten, dass sein Schiff den Hafen sicher erreicht hat (Antiphon 5.82f.). Und ebenso weist er auf die "trennende Kluft" hin, die sich beim Vergleich der homerischen Oidipus-Version, der zufolge Oidipus auch nach der Aufdeckung der Schuld weiterhin König von Theben bleibt (Od. 11.275ff.; II. 23.679E), mit jener des Sophokles auftue, gemäss welcher Oidipus als Befleckter aus der Gesellschaft ausgestossen werde, zermalmt von der Last einer Schuld, 'die weder die Erde noch der heilige Regen noch das Son¬ nenlicht hinwegnehmen können’ (Soph. O.T. 1425ff.)."’3

Dodds, S. 23f. Mit der Ausstossung des Oidipus verhält es sich freilich kompli¬ zierter als Dodds angibt. Wie in den Phoinissen des Euripides bleibt Oidipus auch bei Sophokles zunächst in Theben. Denn Kreon befiehlt nicht etwa, wie Dodds weismachen will, das cfyos, "das weder die Erde noch der heilige Regen noch das Sonnenlicht an-

Reinigung bei Homer

61

Dodds sieht diese neue Auffassung vor dem Hintergrund einer allge¬ meinen Entwicklung von der "Schamkultur"

zur "Schuldkultur", die

er in der archaischen Zeit glaubt verfolgen zu können. Das archaische Schuldempfinden, so meint Dodds, äussere sich in diesem neuen Be¬ fleckungsglauben.164 Auch was die Reinigung angeht, erinnert Dodds an den Unterschied zwischen "der einfachen homerischen Reinigung, die von einem Lai¬ en ausgeübt wird" und "den berufsmässigen 'kathartai'

der archai¬

schen Zeit mit ihrem ausgeprägten und schmutzigen Ritual".165 Gewisse dieser KaBapTcu wie Abaris und Epimenides glaubt Dodds auch der Herkunft nach klassifizieren zu können: Sie sind seiner Mei¬ nung nach Vertreter des skythischen Schamanismus, wobei er freilich beim Kreter Epimenides einschränkt, dass ihn nur die Überlieferung dem Typus des nördlichen Schamanen angeglichen habe.166 W. Burkert weist beim Vergleich zwischen Homer und der archai¬ schen Epoche v.a. auf Neuerungen hinsichtlich

der Befleckung und

Reinigung des Mörders hin: Er erinnert daran, dass die Reinigung des Mörders bei Homer noch nicht, wohl aber in der Aithiopis bezeugt ist, dass Orestes bei Homer noch nicht, wohl aber bei Stesichoros von Erinyen verfolgt wird, dass noch vor Stesichoros Athen durch Epimeni¬ des von Blutschuld gereinigt worden ist.167 Auch er anerkennt den Einfluss Delphis auf diese Neuerungen, den er darin sieht, dass von Delphi aus eingeschärft und bestätigt worden ist, dass Mord einer Sühne bedarf, dass es aber auch möglich ist, durch Entsühnung über die Katastrophe hinwegzukommen. Diesen Einfluss Delphis sieht er sich auch im Mythos wiederspiegeln, der Apollon selbst für den Mord an der Schlange Python sich der Rei¬ nigung unterziehen lässt sowie seit Aischylos den Gott persönlich in

nehmen können" zu verstossen, sondern "Oidipus möglichst schnell ins Haus zu bringen". Und obwohl Oidipus ihn V. 1436 bittet: "Wirf mich möglichst schnell aus diesem Lan¬ de!" und diese Bitte 1517 wiederholt, will Kreon ihr nicht nachkommen, bevor er die Götter befragt hat. Im O.C. 430ff. erfahren wir dann, dass die Polis Oidipus erst nach langer Zeit (xpövw V. 437, xpovoiv V. 441), als er schon gelernt hatte mit seinem Leid umzugehen, aus dem Land vertrieben habe. Die Vertreibung bei Sophokles scheint in erster Linie eine Folge des Beginns des O.T. (V. 236ff.) zu sein, in der Oidipus sich selbst den Fluch gab. 164 Dodds S. 23-25. Die Entwicklung der "Schamkultur" zur "Schuldkultur", die er freilich relativ verstanden wissen will, skizziert Dodds im 2. Kapitel (S. 17-37). Vgl. dazu auch W. Burkert, Creation of the Sacred, Cambridge Massachusetts and London 1996, 165 166 167

S. 125ff. Dodds S. 24. Dodds S. 77ff. Burkert, Itinerant Diviners S. 115.

Teil 1

62

seinem Tempel die blutige Reinigung an Orestes vollziehen lässt, und er erinnert daran, dass Apollon bereits in der Ilias Anwalt der Reinheit ist.168 Trotz Anerkennung des delphischen Einflusses und Respektbekun¬ dung gegenüber Dodds These des Übergangs von der "Schamkultur" zur "Schuldkultur" glaubt Burkert allerdings, dass diese Neuerungen sich nicht allein als Folge einer eigenständigen, kulturimmanenten und unabhängigen Entwicklung der griechischen Kultur erklären las¬ sen, sondern hält vielmehr auch interkulturelle

Kontakte als verant¬

wortlich für sie. So vertritt er die These, dass die Griechen v.a. das Ri¬ tual der Reinigung durch Ferkelblut, das sie in erster Linie dem Mör¬ der, doch auch Wahnsinnigen zuteil werden liessen, im 7. Jh. von den Babyloniern übernommen haben. Er gibt zu, dass dieses Ritual in Baby¬ lonien

nur dem Kranken

zuteil

wurde, nicht

dem

Mörder.

Doch

macht er darauf aufmerksam, dass in archaischen Gesellschaften sozia¬ le und leibseelische Störungen nicht klar geschieden werden, dass Ver¬ fehlung und Krankheit ineinander übergehen: Orestes ist nicht nur Mörder, er ist auch wahnsinnig, "krank".

So konnte seiner Meinung

nach das Ritual der Reinigung durch Ferkelblut, das die Babylonier für den Kranken vorbehielten,

leicht auch für den Mörder als geeignet

erscheinen. Er nimmt an, dass die Griechen dieses Ritual von wan¬ dernden babylonischen Beschwörungspriestern

im 7. Jh. kennenge¬

lernt haben, und hält es für keinen Zufall, dass der berühmteste uns bekannte Reinigungspriester, Epimenides, - ebenso wie Thaletas - aus Kreta stammte, das in der geometrischen und frühorientalisierenden Epoche - nächst Zypern - der dem semitischen Orient am nächsten verbundene Bereich Griechenlands war. Doch nicht nur das Ritual der Reinigung durch Blut, auch andere Reinigungstechniken haben die Griechen nach der Ansicht Burkerts von den Babyloniern übernommen: das Reinigen mit Fackel und Räu¬ cherbecken, mit Zweigen, Asphalt, Zwiebeln,

sowie "das Abreiben"

(aTTogaTTeip) und die Entsorgung der Reinigungsrückstände. Zudem glaubt er hinsichtlich des Vokabulars der griechischen Reinigungsrituale an die Übernahme von Lehnwörtern aus dem semiti¬ schen Sprachraum, als welche er KaBaipeiv/ «aGapos, sowie \tjgcrra/ XoGpov ansieht, wobei er freilich zugibt, dass diese Wörter zur Zeit Ho¬ mers den Fremdwörterstatus längst überwunden haben.169 Im Gegensatz zu Moulinier, Nilsson, Dodds und Burkert bezweifeln Lloyd-Jones und Parker grundsätzlich, dass sich hinsichtlich der Vor-

168 Burkert G.R. S. 232. ,6t’ Burkert Itinerant Diviners S. 115-119; O.E. S. 57-65. Zu KaGaLpeiv/ Ka9apÖ5 siehe oben bei Anm. 12; zu Vipcrra/ VGpov siehe oben bei Anm. 50 und 52.

Reinigung bei Homer

63

Stellungen von Befleckung und Reinigung zur Zeit des Übergangs von der homerischen zur archaischen Epoche etwas geändert habe. Die bei¬ den geben zu, dass Befleckung bei Homer im Gegensatz zur Tragödie des 5. Jhs. eine geringe Rolle spielt; doch ihrer Meinung nach hängt dies nicht damit zusammen, dass in der Zwischenzeit die Angst vor Befleckung zugenommen hätte, sondern ist dies durch die Verschie¬ denheit des Genres und durch die unterschiedlichen persönlichen Ak¬ zentsetzungen der jeweiligen Dichter bedingt.170 Nichtsdestoweniger bemühen sie sich zu zeigen, dass Befleckung und Reinigung bei Ho¬ mer dennoch nachzuweisen ist. Lloyd-Jones geht von der These aus, dass der Seher, der Sänger und der Arzt, die bei Homer drei verschiedene Berufe repräsentieren, ur¬ sprünglich in ein und derselben Person vereinigt waren: im Typus des 'Schamanen',

yör|s, der in historischer Zeit durch Epimenides und

Empedokles vertreten war, und zu dessen Praktiken seiner Meinung nach von Anfang an das Ritual der Reinigung gehörte. Spuren dieser ursprünglichen Personalunion des Sehers, Sängers und Arztes glaubt er noch an den Heilmethoden der homerischen Ärzte Machaon und Podaleirios zu erkennen, zu deren Repertoire seiner Meinung nach auch Beschwörungen und Reinigungen

gehörten. Und gerade diese

Reinigungen will Lloyd-Jones von rituellen Reinigungen nicht ver¬ schieden wissen.171 Zudem vermutet er, eine Hypothese von W. Burkert aufgreifend, dass sich der Typus des yör|S selbst hinter den Bpfjvuv (Allen nach Handschriftengruppen cfhi; vulg. Oppeon?) efjapyous (II. 24.721) verbirgt,172 und erinnert daran, dass Melampus - in seinen Au¬ gen ein mythischer Vorgänger der 'Schamanen'

der archaischen Epo¬

che -, der später im hesiodischen Frauenkatalog und in der Melampodie als Heiler der Töchter des argivischen Königs Proitos vom Wahn¬ sinn oder einer ekelhaften Hautkrankheit auftritt, bereits bei Homer bezeugt ist, wobei er freilich zugibt, dass dies nicht beweist, dass bereits zu Homers

Zeiten

Reinigungen

zu

solchen

Zwecken

angewendet

wurden.1'3 Was die Befleckung angeht, so glaubt Lloyd-Jones nach einem Ver¬ gleich des Anfangs der Ilias mit dem Beginn des sophokleischen Oidipus Tyrannos, dass, wiewohl bei Homer das Wort "Befleckung" nicht falle, die Sache selbst dennoch in ihrem wichtigsten Aspekt vorhanden sei, insofern nämlich

das Vergehen eines einzelnen

Mitgliedes der

Gemeinschaft eine mysteriöse Strafe über alle heraufbeschwöre. Und 170 Lloyd-Jones S. 76f.; Parker S. 15f. 171 Lloyd-Jones S. 72. Dass der Schamane "Arzt, Seher und Sänger in einem war", hat schon K. Meuli, Scythica, Hermes 70, 1935 S. 165 gesagt. 172 Lloyd-Jones ibid.; siehe Burkert rOHZ, besonders S.45. 173 Lloyd-Jones S. 72f.

Teil 1

64

als Beweis dafür, dass selbst der technische Begriff der Befleckung prä¬ sent sei, führt er die Tatsache an, dass sich die Achaier auf Agamemnons

Befehl

reinigen

und

die

Rückstände

ins

Meer

werfen

(II

1.313f.).174 Parker präzisiert Lloyd-Jones' Ausführungen, indem er darauf hin¬ weist, dass das Vergehen Agamemnons,

das über alle eine göttliche

Strafe heraufbeschworen hat, in einem Sakrileg, einem Frevel gegen Apollo, bestand.175 Dennoch charakterisiert auch er die Situation als Befleckung. Denn er rechnet - wie bereits ausgeführt176 - das Sakrileg grundsätzlich zu den Befleckungen. Daher ist er berechtigt zu sagen, dass die Befleckung des Sakrilegs, dyos ("not the word, but the experience"), bei Homer allgegenwärtig ist.177 Lloyd-Jones betont auch, wie schon Nilsson, das Alter der erst bei Aischylos vom Mörder überlieferten, primitiven Gebräuche des gauXaXiagös' sowie der Sitte, das Blut der Ermordeten aufzusaugen und wieder auszuspeien, und weist darauf hin, dass solche Gebräuche den Glauben an das Fortleben des Getöteten als Rachegeist voraussetzen.178 Der Glaube an Rachegeister aber, so meint er, sei bereits bei Homer zur Vorstellung der Erinyen sublimiert worden, in denen er mit Rohde ursprünglich die zürnenden,

sich selbst Rache holenden

Seelen der

Ermordeten selbst sieht, die jedoch schon bei Homer zu Hüterinnen des Rechts schlechthin geworden seien. Als solche traut er ihnen je¬ doch schon zu Homers Zeiten zu, dass sie gegebenenfalls auch einer ganzen Gemeinde Strafe bringen könnten, sollte diese es zulassen, dass ein Mörder ungestraft davonkomme.179 Parker geht besonders ausführlich auf die Befleckungen durch den Tod und durch Mord ein. Bezüglich

der Befleckung

durch

den

Tod

weist er darauf hin, dass die Todesfälle, die Homer beschreibe, in der Schlacht Vorkommen, und erinnert daran, dass nirgends bezeugt sei, dass Krieger durch den Tod ihrer Kameraden je als befleckt gegolten

174 Lloyd-Jones S. 74. 175 Parker S. 175f. betrachtet den Priester als "a kind of walking temple". Ein Ver¬ gehen gegen ihn, wie dasjenige des Agamemnon gegen Chryses (Parker S. 176 Anm. 179), ist daher ein Sakrileg. 176 oben S. 24ff. 17/ Parker S. 189: "The common view that fear of pollution is virtually unknown to Homer is obviously based on an implicit exclusion of the pollution of sacrilege, which is ubiquitous in him; vgl. ferner S. 9: "1t would be possible in these terms to offer a compromise solution to the notourious problem of pollution in Homer; while 'miasma' cannot be shown to be present in him, agos' (not the word, but the experience) he undeniably recognizes." Uoyd-Jones S. 75. Nilsson G.G.R. S. 92, vgl. oben Anm. 160 sowie Anm. 44, 47. 1,1 Lloyd-Jones S. 75f. Zu den Erinyen vgl. auch H. Lloyd-Jones, Erinyes. Semnai Theai, Eumemdes, in: E. M. Craik (ed.) Owls to Athens, Oxford 1990, S. 203-211.

Reinigung bei Homer

65

hätten.180 Dennoch glaubt er, bei Homer eine Verbindung zwischen Tod und Schmutz feststellen zu können, wiewohl es vielleicht nicht gerechtfertigt sei, von Befleckung im klassischen Sinne zu sprechen: Reinheit, so glaubt er aus der Bedeutung der profanen und rituellen Reinigungen bei Homer feststellen zu können, war für die homerische Gesellschaft "a Symbol of good Order". Die gegenteilige Funktion weist er dem Schmutz und der physischen Befleckung zu, indem er darauf hinweist, dass Reaktionen auf ein Unglück sich bei Homer gewöhnlich auf eine physische

Beschmutzung konzentrieren.181 Insbesondere er¬

innert er an Achilleus, der sich auf die Nachricht von Patroklos' Tod hin "russigen Staub über das Haupt giesst und sein schönes Antlitz entstellt" (II. 18.23f.) und sich später nach der Schlacht weigert, ein Bad zu nehmen, mit der Begründung, dass es nicht erlaubt (of) ©egts) sei, vor der Beerdigung des Patroklos zu baden (II. 23.43ff.). Parker meint, dass das Wort Begig andeuten könnte, dass es sich bei der Selbstbefle¬ ckung und beim Nichtwaschen um Trauervorschriften handeln könn¬ te, und hält es für nicht beweisbar, dass Achills Zustand vom Zustand eines Befleckten in klassischer Zeit verschieden sei. Denn was auf den ersten Blick wie ein grosser Unterschied aussehe - die Feststellung, dass der Schmutz an Achill selbstzugefügt und materiell, nicht auto¬ matisch und immateriell sei und dass sein Zustand nicht ansteckbar und gefährlich sei - könne auch nur ein scheinbarer sein, wenn man berücksichtige, dass die materielle Befleckung Symbol für die immate¬ rielle sein könne. So sei es möglich, dass sich die Trauernden in Iulis im 5. Jh., um ihre immaterielle Befleckung sichtbar zu machen, viel¬ leicht selbst zu beflecken pflegten. Dies - so glaubt er - könnte auch Achill im 18. Buch der Ilias tun, und ist der Auffassung, dass Achill, solange er schmutzig blieb, nach homerischer Etikette - ebenso wie der Befleckte der späteren Zeit - vom sozialen Leben und Gotteskult aus¬ geschlossen blieb und somit ebenso der einzigen praktischen Auswir¬ kung der Befleckung, die tatsächlich bezeugt ist, unterworfen war.182 Parker bezweifelt auch hinsichtlich der Bestattungsgebräuche, dass sich aufgrund der archäologischen Zeugnisse in archaischer Zeit eindeutig ein plötzlicher Wechsel von intramuraler zu extramuraler Bestattung ausmachen Hesse, der allenfalls von zunehmenden Befleckungsängs¬ ten zeugen könnte;

und auch in Peisistratos' Reinigung von Delos

sieht er nicht in erster Linie eine Reaktion auf zunehmende

Befle¬

ckungsängste.183 180 Parker S. 67. 181 Parker S. 67f. 182 Parker S. 68f. 183 Parker S. 70ff. Zum Übergang zur extramuralen Bestattung siehe jedoch I. Morris, Burial and Ancient Society: The Rise of the Greek City State, Cambridge 1987 , S. 62ff.,

Teil I

66

Ganze 13 Seiten widmet Parker "dem Schweigen Homers" in Bezug auf die Befleckung

und Reinigung des Mörders,184 Er glaubt, dass man

im Grunde nur hinsichtlich des Reinigungsrituals berechtigt sei, von einem "Schweigen Homers" zu sprechen. Denn das "Bündel der Phänomena", die in den klassischen Texte die Befleckung konstituierten bzw. durch sie erklärt würden, glaubt er bereits bei Homer vorfinden zu können:185 1. die Tatsache, dass der Mörder im eigenen Land keine Zuflucht finden kann, sondern ins Exil gehen muss (dass er stattdessen auch, wenn es ihm gelingt, die Verwandten des Mörders dazu zu überreden, ein Wergeid bezahlen kann, hält Parker unter Hinweis auf afrikani¬ sche Parallelen nicht für unvereinbar mit einer Lehre der Befleckung); 2. die Tatsache, dass spezielle Arten des Tötens göttlichen Zorn heraufbeschwören, nämlich Verwandtenmord und das Töten von Gäs¬ ten;186 3. zumindest die Möglichkeit, dass untätige Verwandte von Geis¬ tern bestraft werden können;187 4. die Metapher der Befleckung. Parker gibt zwar zu, dass die eigent¬ liche Metapher der Befleckung bei Homer abwesend ist, doch will er deren Existenz in homerischer Zeit indirekt aus dem Ares zugeordne¬ ten Epitheton |jLiauj>övog erschliessen, das er als "one who kills in a polluting way" interpretiert. Aus diesen Gründen ist er nur bereit, die Abwesenheit chen

des eigentli¬

Reinigungsrituals bei Homer zuzugestehen188 und dieses allen-

182ff.; id. Death-Ritual and Social Structure in Classical Antiquity, Cambridge, 1992, S. 26. 184 Parker S. 130-143. 185 Parker S. 131-134. 186 Verwandtenmord zieht nach der Vermutung Parkers den Zorn der Erinyen auf sich, die - wie er im Anschluss an Lloyd Jones (S. 75) meint - die Rechte der Eltern und Geschwister aufrechterhalten; dass Töten von Gästen den Zorn der Götter heraufbe¬ schwört, ist aus Od. 14.402ff.; 21.24ff.; II. 24.583ff. ersichtlich. Parker S. 133 mit Anm.

112. 187 Parker (S. 133f. inkl. Anm. 116) schliesst dies aus Stellen, aus denen hervorgeht, dass der Tote intervenieren kann, um den Lebenden anzustossen und ihn an seine Pflich¬ ten zu erinnern (II. 23.69-107; 22.358) und aus der generellen Funktion der Erinyen, die darin besteht, sicherzustellen, dass jedes Familienmitglied gegenüber dem anderen seinen Verpflichtungen nachkommt. 188 Er widerspricht damit K.O. Müllers Ansicht, dass die Reinigung des Mörders bei Homer bezeugt sei. K. O. Müller, Aischylos, Eumeniden, Griechisch und deutsch mit erläuternden Abhandlungen, Göttingen 1833, S. 134 Anm. 10 beobachtete, dass der Scholiast T zu II. 24.480-82 offensichtlich dvSpos es ayviTew in II. 24.482 las, wenn er schreibt: töv 8e Ka0cupovTa Kal ayviTriv eXeyov. Müller wollte daher in II. 24.482 statt des überlieferten dySpös es dcjiveioi) die Worte dHSpös es dyviTew lesen, wodurch die Mordreinigung bei Homer bezeugt wäre. Doch Parker (S. 135 Anm. 124) zieht die über¬ lieferte Lesart vor.

Reinigung bei Homer

67

falls als eine nachhomerische Neuerung anzuerkennen (eine Vermu¬ tung G. Grotes aufgreifend, hält er es für möglich, dass es aus Lydien eingeführt worden ist).189 Allerdings ist er eher geneigt, "the unfashionable view" von K. O. Müller wiederzubeleben, dass, wenn der home¬ rische Mörder bei einem fremden Herrn "um Schutz flehte"

(iKeTeu-

cre), er ihn implizite auch um Reinigung ersuchte, dass nur der Dich¬ ter, nicht die Gesellschaft, die er beschreibt, die Reinigung weglässt,190 Parker glaubt auch nicht, dass sich aus der unterschiedlichen Be¬ handlung der Helden Oidipus und Orestes durch Homer und die Tra¬ giker das Auftauchen von neuen Befleckungsvorstellungen ableiten lasse.191 Wenn Homer Orestes, den Muttermord überspielend, als bei¬ spielhafte Figur, die von keinen Erinyen belästigt wird, darstellt, wenn sein Oidipus auch nach der Aufdeckung seiner Verbrechen in Theben weiterlebt und bei seinem Tod wie jeder andere Held mit Leichenspie¬ len geehrt wird, so ist dies nach Parkers Auffassung nicht damit zu er¬ klären, dass der Dichter sich der Monstrosität ihrer Taten nicht bewusst gewesen wäre, sondern damit, dass er diese absichtlich in den Hinter¬ grund gedrängt hat, da er andere Prioritäten setzte. Ausserdem weist er darauf hin, dass auch Homers Oidipus nicht frei von Leiden ist,192 und glaubt, dass Sophokles' Version von "Ödipus1 life as a wandering outcast" wohl schlicht in athenischen Ansprüchen auf sein Grab ihren Ursprung habe. Parker sieht demzufolge keinen Grund zur Annahme einer plötzli¬ chen Wende im 8. oder 7. Jh. und bemüht sich daher, auch die Erklä¬ rungen derer, die von einer Wende ausgingen, zu widerlegen. Vor allem versucht er, den Einfluss

Delphis herunterzuspielen.193

Auf R. R. Dyer (JHS 89, 1969, 38-56) Bezug nehmend, weist er darauf hin, dass Apollon - im Gegensatz zu Zeus - auf der Ebene des Kultes mit der Reinigung von Mord keine Verbindung hatte, und meint, dass er nur zu einer Autorität in Fragen der Mordbefleckung wurde, weil er als Orakelgott immer wieder in solchen Belangen befragt worden sei. Er bezweifelt jedoch, dass der delphische Gott durch seine Orakeltätig¬ keit für die Entstehung und Verbreitung einer neuen, einheitlichen Lehre verantwortlich sein konnte, schränkt den Einfluss Delphis auf die Exegeten in Athen ein und verwehrt sich gegen Theorien, die die aischyleische Orestie zu einer "delphischen Orestie" machen, die die

189 Parker S. 134 mit Anm. 121. 190 Parker S. 135. K.O. Müller op. cit. S. 137. 191 Parker S. 136f. 192 Siehe Od. 11.279f.; Parker S. 136 Anm. 130. Zu Oidipus vgl. oben Anm. 163. 193 Parker S. 138-142.

Teil I

68

Lehre verkörpere, dass Töten manchmal eine Pflicht ist, aber in jedem Fall der Reinigung bedarf.144 Parker ist auch skeptisch gegenüber der Hypothese, dass die Reini¬ gungsriten von

Kreta nach

könnten,195 und

hält

auch

Griechenland orphische

eingeführt

Einflüsse

für

worden

sein

unwahrschein¬

lich.196 So schliesst Parker seinen Exkursus über die Frage nach posthomeri¬ schen Veränderungen in den Gebräuchen der Befleckung und Reini¬ gung mit den Worten ab: This historical excursus ends negatively. Nothing has emerged to explain the post-Homeric transformation. But, very probably, there was nothing to explain.

3.2.3.2. Stellungnahme zum Forschungsstreit Zunächst soll auf die Frage eingegangen werden, ob Homer die Vor¬ stellung einer nicht und

immateriellen

nur materiellen,

sondern

auch

metaphorischen

Befleckung kennt.

Stengel, Gillies und Moulinier haben zweifellos recht, wenn sie dar¬ auf hinweisen, dass die Wörter giaivüj und TraXdaaoj bei Homer stets eine materielle Beschmutzung bezeichnen. Sie übersehen jedoch da¬ bei, wie Parker wohl zurecht einwendet, dass diese materielle Befle¬ ckung zugleich als Symbol für etwas anderes stehen kann, genauso wie es mit seinem Gegenteil, der Reinigung, steht. Es ist bereits gezeigt worden, dass Reinigung bei Homer meist in ei¬ nen besseren, erstrebenswerteren Zustand überführt

(vom

ähnlichen zum königlichen, vom Status des "Fremden" des "Aufgenommenen",

vom

alltäglichen Zustand zum

Zustand des Speisenden oder zum "heiligen"

sklaven¬

zum Status feierlichen

Zustand des Andächti¬

gen).148 Parker darf daher wohl zurecht behaupten, dass Reinheit für die homerische Gesellschaft "an unconscious symbol of good Order" gewesen sein muss. Im Gegensatz dazu scheint Schmutz Symbol für die Störung des normalen Zustands, für etwas Düsteres, besonders den Tod, zu sein, und zwar sowohl in der epischen Technik des Dichters als auch in der Gesellschaft, die er beschreibt.

194 195 196 197

Siehe Parker S. 141 mit Anm. 155. Parker S. 142f. Parker S. 143. ibid.

198 Siehe oben Kap. 2.1-2.4; 3.1.

Reinigung bei Homer

69

Parker hat darauf hingewiesen, dass der Dichter, wenn er ein Unheil mitteilen will, oft die Aufmerksamkeit auf eine scheinbar nebensächli¬ che Beschmutzung

richtet:199 Die Misshandlung

des toten

Hektors

durch Achilleus fasst er mit den Worten zusammen: Und das Haupt lag ganz im Staube, das einst so anmutige. (II. 22.402f.). Und

die

verhängnisvolle

Wirkung

von

Apollons

Schlag,

der

Patroklos' Besiegung ermöglichte, deutet er mit den Worten an: Dahinkollernd klirrte unter den Füssen der Pferde der hochröhrige Helm und die Haare des Helmbusches wurden mit Blut und Staub befleckt. Zuvor jedenfalls war es nicht erlaubt gewesen, dass der rossmähnige Helm vom Staube besudelt wurde, sondern des göttlichen Mannes Haupt und anmutige Stirn schützte er, des Achilleus. (II. 16.794-99). Der Dichter geht in dieser Technik so weit, dass er das negative Ereig¬ nis, die Verwundung, den Tod, das Töten gar nicht eigens nennt, son¬ dern statt dessen die Beschmutzung geradezu zum Symbol für dieses düstere Ereignis macht: So deutet der Dichter die Verwundung des Diomedes durch den Pfeil des Pandoros schlicht mit den Worten an: Und der Panzer wurde mit Blut befleckt.200 Das Sterben eines Helden nach dem Eindringen eines Speeres ins Ge¬ hirn drückt er durch die Worte aus: Und das Hirn war innen ganz (mit Blut) besudelt.201 Und das Niedermetzeln der Feinde durch den einherstürmenden Agamemnon oder Achilleus deutet der Dichter mit den Worten an: Mit Mordblut beschmutzte er die unbezwingbaren Hände.202 Doch auch in der vom Dichter geschilderten Welt hat die Beschmut¬ zung einen symbolischen Wert. Um seinem Schmerz über einen Tod Ausdruck

zu

geben, beschmutzt

man

sich

selbst.203

Durch

diesen

Schmutz deuten die Trauernden das düstere Ereignis an, das über sie herabgekommen ist. Der Streit dreht sich nun aber um die Frage, ob die Befleckung bei Homer zugleich automatisch und übersinnlich ist, ob also auch derje199 Siehe oben zu Anm. 181. 200 II. 5.100: TTctXdcjcjEETO 8’ ai|iaTi 0wpr|G 201 II. 11.97f.; 12.185f.; 20.399U eyKecfaXos 8e / ev8ov diras ueTrdXaKTo.

vgl. oben bei Anm. 203 Selbstbeschmutzung in II. 18.23-26; 23.44-46; ferner 22.414; 24.163-5, 640. 202 II. 11. 169; 20.503: XoGpco 8e TTaXacroeTo xüpas' darrTou?;

72.

Teil 1

70

nige, der sich nicht beschmutzt, als befleckt gilt, für ansteckend und gefährlich gehalten wird und von Kult und sozialem Leben ausge¬ schlossen wird. Parker scheint bei seinem Versuch, dies zu beweisen, vom Methodi¬ schen her inkonsequent vorzugehen. Einerseits weist er darauf hin: "Deaths in Homer occur in battle, but there is no evidence that soldiers ever were polluted by the deaths of their comrades",204 andererseits versucht er gerade anhand des Beispiels eines "death's occuring in batt¬ le" zu beweisen, dass der Tote seine Angehörigen befleckt. Denn Parkers Hinweis, dass im Kriegsfall andere Gesetze gelten als im Friedensfall - gerade hinsichtlich

des Trauerns - , ist zweifellos

richtig; auch Odysseus deutet dies an, wenn er Achilleus, der am Mor¬ gen nach Patroklos' Tod ohne Essen in den Kampf ziehen will, belehrt, dass es im Kampf nicht möglich sei, mit dem Magen einen Toten zu betrauern. Denn allzuviele fallen schnell aufein¬ ander den ganzen Tag; wann könnte da einer vom Kummer sich erholen? Viel¬ mehr muss man, wenn einer stirbt, ihn mitleidlosen Herzens begraben, indem man ihn nur während eines Tagens beweint. Und all die, welche vom verhassten Krieg übrigbleiben, müssen der Speis und des Tranks gedenken, damit wir noch stärker mit feindlichen Männern kämpfen immerfort.2u5 Wie also Fasten im Krieg als Zeichen der Trauer für den homerischen Helden nicht möglich ist, ist auch nicht der Glaube an eine gefährliche, ansteckende Befleckung des Toten, sollte er ihn in Friedenszeiten ge¬ kannt haben, in Kriegszeiten für ihn praktikabel, TTveuaeie

ttövolo;

ttötc

Ken tis ava-

würde wohl auch da Odysseus fragen. Und in der Tat

gilt auch Achilleus, wiewohl er sich nach der Nachricht von Patroklos' Tod befleckt hat und sich bis zur Beerdigung zu waschen weigert,206 seinen Gefährten - entgegen Parkers Meinung - nicht als ein ansteck¬ barer, gefährlicher Befleckter, den man meiden und vom sozialen Le¬ ben und Gotteskult ausschliessen muss. Im Gegenteil, sie setzen alles daran, um Achilleus nach seinem sehnlichst erwarteten Entschluss, seine selbstgewählte Isolation aufzugeben, wieder in die Gesellschaft aufzunehmen.

Wie Achilleus nach der Entgegennahme der Waffen

aus Thetis' Hand die Achaier zur Versammlung

zusammenruft,

da

204 Siehe oben bei Anm. 180. 205 II. 19.225-232. Zum Fasten bei Homer vgl. P.R. Arbesmann, Das Fasten bei den Griechen und Römern, Giessen 1929, S. 28. 206 Selbstbefleckung Achilleus’: II. 18.23ff. Weigerung sich zu waschen: II. 23.42ff. Dass Achilleus sich nach der Selbstbefleckung bis zum Zeitpunkt, wo er die Weigerung ausspricht, irgendeinmal gewaschen hat, steht nicht im Text und ist auch nicht anzu¬ nehmen. Zu Parker siehe oben bei Anm. 182.

Reinigung bei Homer

71

sind diese weit davon entfernt, ihn als Befleckten zu meiden: Im Ge¬ genteil, sogar diejenigen, welche zuvor im Schiffslager zu bleiben pflegten, die Steuerleute waren und die Steuer der Schiffe hielten und die Verwalter bei den Schiffen wa¬ ren, Geber von Speise, ja sogar diese kamen damals zur Versammlung, weil Achilleus erschienen war; lange nämlich hatte er von der schmerzlichen Schlacht abgelassen.20'

Und später sind es Agamemnon und Odysseus, die auf der Übergabe der Geschenke und dem Eidopfer beharren, während Achilleus zu¬ nächst beides aufschieben will;208 und es sind die 'yepouTes- Axaiuiv, die ihn vor der Schlacht und nach der Schlacht bitten, mit ihnen zu spei¬ sen, und mit ihrer Bitte erst das zweite Mal Erfolg haben;209 dabei ist interessant, dass sie dadurch, dass sie Achilleus in der Folge Wasch¬ wasser anbieten, zu erkennen geben, dass sie seinen Zustand des Beflecktseins, den er sich selber zufügte, nicht als bindend anerkennen, und dass sie, um Achilleus für seine Besiegung Hektors mit einem Mahle ehren zu können, auch ohne weiteres über seine Weigerung, sich der homerischen Etikette bezüglich der Reinigung zu fügen, hin¬ wegsehen.210 Es kann also weder behauptet werden, dass Achilleus1 Selbstbefle¬ ckung gleichzeitig automatisch und übersinnlich, gefährlich und an¬ steckend war und von Kult und sozialem Leben ausschloss, noch ist die Stelle beweiskräftig für die Frage, ob Homer eine automatische und übersinnliche Befleckung gekannt habe. Beweiskräftig können nur Stellen sein, wo ein Tod nicht im Kriegsfall erfolgt. Und da bietet sich der Tod des Elpenor an, wenn auch hier die äusseren Umstände aussergewöhnlich sind: Odysseus befindet sich auf der Insel einer Zaube¬ rin, und ehe er eine Reise in die Unterwelt unternimmt, stirbt ein Ge¬ fährte, dessen noch ruheloser tjjuxB er dann in der Unterwelt wieder begegnet, wo sie ihn um Bestattung bittet, "damit ich dir nicht zu ei¬ nem 0eiäv |if|viga werde". Um diesem "Zorn" des Toten zu entgehen, wird sein Leichnam dann gleich nach der Rückkehr an die Oberwelt beerdigt. Dabei ist keine Rede von einer Befleckung der Trauernden

207 208 209 210 fleckt

II. 19.43-46. II. 19.53-237. Vor der Schlacht: I1.19.303ff.: nach der Schlacht: II. 23.35ff. Zudem scheint sie an Achilleus weniger der Schmutz, mit dem er sich selbst be¬ hat, zu stören, als vielmehr das Blut aus der Schlacht; siehe oben S. 32f.

Teil I

72

oder von ihrer Reinigung gleich nach der Beerdigung vor dem Essen, das ihnen zu bringen sich Kirke in keiner Weise gescheut hat.211 Freilich scheint es, dass die Leiche, die verwest, entstellt oder phy¬ sisch unrein

ist, dem homerischen

Menschen

als

unrein

(giapo?)

gilt.212 Die Überlebenden müssen daher alles tun, um die Verwesung, Entstellung und Beschmutzung der Leiche zu verhindern.213 Dazu hal¬ ten die Götter sie an: So warnt Iris Achilleus, falls er der drohenden Schändung von Patroklos’ Leiche durch Hektor untätig zusehe: Dir wird es eine Schande sein, wenn der Leichnam irgendwie entstellt zurück¬ kommt.214 Besonders Apollon tritt als Anwalt solcher Reinheit auf, wenn er die anderen Götter als schrecklich (axeTXioi) und verderblich (SriXfjgoves) beschimpft, weil sie der grausamen Misshandlung von Hektars Leiche durch Achilleus mitleidlos Zusehen: Aber er bindet den göttlichen Hektor, nachdem er sein Herz geraubt hat, an die Pferde und schleift ihn um das Grab seines Gefährten. Gewiss ist dies für ihn weder schön noch gut. Dass wir es ihm nur nicht übelnehmen, mag er noch so tüchtig sein! Denn sogar empfindungslose Erde schändet er in seinem Groll.215 Zu den Massnahmen der Verhinderung der inaporris des Leichnams gehören neben der sofortigen Bergung die Waschung und Salbung, die die Angehörigen dem Toten in Krieg und Frieden als erste Pflicht im Totenkult schulden.216

211 Die Elpenor-Episode ist in Od. 10.551-560; 11.51-83; 12.8ff. erzählt. Zur Reini¬ gung gleich nach der Beerdigung vor dem Leichenmahl in klassischer Zeit siehe Parker S. 36 mit Anm. 15; vgl. oben zu Anm 130. 21" Dies geht aus II. 24.41 lff. hervor: Hermes versichert Priamus, dass der Leichnam Hektars weder durch Hunde noch durch Vögel noch durch Verfaulung, noch durch Wür¬ mer noch durch Achills Umherschleifen enstellt ist. Er würde wohl selber bestaunen, olov eepapeis Keinen, nepi 8' aiga veviTmn, oü8e tto0l fuapög. Vgl. oben Anm. 103. 1 II. 18.180 (Iris zu Achilleus, der der drohenden Schändung von Patrokols' Leiche durch Hektor untätig zusieht): aol Xtoßi-p a'i Key ti vckus i^xuM-gevos eXGip 19.24ff. (Achilleus zu Thetis): 8ei8üj pf| |iol TÖcJipa Mevorriou äXKigov uiov gulai KaSSwaL kcitci xiXr| Tpocfös EvpijKX.eia, fjveiKev 8’ äpa irt)p Kal Gf|iov. (Od. 22.492-93). Darauf vollzieht Odysseus die Schwefelung des Hauses: aÜTÖp 'OS^aaeüs / eü SieGeluxrev pi'yapov Kai 8öpa Kal aü\.f|v. (Od. 22.493-94).

Dass es sich bei dieser Schwefelung nicht einfach um eine normale, hygienische Reinigung handelt, die zum Ziel hätte, das Blut, das dem ästhetischen Empfinden und Hygienebewusstsein des Dichters wider¬ strebt,235 zu beseitigen, geht schon rein technisch nicht und wird aus¬ serdem durch die Bezeichnung des Geeiov als koikgjv ctKog deutlich. Das Blut ist bereits durch die ersten Reinigungsmassnahmen,

die Reini¬

gung der Tische und Stühle mit Schwämmen und das Abschaben des Bodens mit Schurfeisen, entfernt worden, und dennoch ist da noch ein kciköv, zu dessen Beseitigung es eines speziellen "Heilmittels"

bedarf,

des Schwefels. Damit aber ist das "Übel" geheilt. Dieses "Übel" scheint dabei vor allem Odysseus zu bedrohen, denn im Gegensatz zu den an¬ deren Reinigungsmassnahmen

führt er die Schwefelung persönlich

durch, und im Gegensatz zu Eurykleia hält er die Schwefelung für das im Moment

Dringlichste, indem er deren Vorschlag, ihm zunächst

neue Kleider zu bringen (Od. 22.487-89), mit den bestimmten Worten zurückweist: Tri)p vüv (loi TTpÖTiCTTOv cvl (leyctpoicri ycyeCTGco..

Als allererstes soll mir nun ein Feuer im Hause entstehen. (Od. 22.491). Wiewohl der Ablauf der Reinigung an die Reinigung des Hauses erin¬ nert, die die Verbliebenen in Iulis nach einer Befleckung durch den

235

Siehe oben Anm. 157

Reinigung bei Homer

81

Tod zu vollziehen hatten,236 so ist doch darauf hinzuweisen, dass Odysseus selbst nie als gefährlich gilt und dass er selber keine förmliche Reinigung durch Blut in der später bezeugten Form vollzieht.237 Die Reinigung des Hauses nach dem Mord der Freier und der Erhängung der Mägde, die sich mit ihnen eingelassen haben, ist daher wohl in erster Linie als eine Reinigung der 'Atmosphäre'

zu verstehen,

ver¬

gleichbar etwa mit der Reinigung des Hauses, die Jahrhunderte später Properzens Cynthia anordnen wird, nachdem sie den Dichter beim "Ehebruch" ertappt hat: Dann räucherte sie jede Stelle aus, die die fremden Damen berührt haben, doch die Schwelle besprengte sie mit reinem Wasser, und sie befiehlt alle Lampen auszuwechseln und berührte dreimal mein Haupt mit dem Schwefelfeuer. (Prop. IV 8.83-86). So scheint denn, wenn man von der Sonderstellung von Q 480ff. ab¬ sieht, der Glaube an eine Befleckung des Mörders bei Homer höchstens in Ansätzen spürbar zu sein. Vor allem aber muss man wohl Dodds Auffassung beipflichten, dass es bei Homer keine Anzeichen dafür ge¬ be, dass Befleckung ansteckend sei und sich auf andere Menschen über¬ tragen könnte.238 Auffällig ist auch, dass - abgesehen von der sichtba¬ ren Beschmutzung des Odysseus in Od. 22. 401ff. nach dem Blutbad an den Freiern - nirgends explizite von einer Befleckung des Mörders gesprochen wird. Ebenso ist festzuhalten, dass sich das Ritual einer Reinigung von Blut durch Blut bei Homer nicht nachweisen lässt.

3.2.4. Reinigung von Krankheit bei Homer Im homerischen Epos ist die Reinigung als therapeutische Massnahme in zwei Fällen bezeugt: Einerseits spielt sie bei der Behandlung von traumatischen Krankheiten eine Rolle, andererseits bei der Heilung von der Seuche (Xoipös).

236 Siehe oben bei Anm. 130. 237 Parker S. 135 Arun. 126 erachtet die Stelle nicht als beweiskräftig dafür, dass Homer die Reinigung des Mörders nicht gekannt habe, da Odysseus die Ermordung als "justifiable homicide with no compensation payable" betrachte. 238 Siehe oben S. 60.

Teil I

82

3.2.4.1. Reinigung bei der Behandlung traumatischer Krankheiten Der vom Pfeil des Paris verwundete Eurypylos wendet sich, da die Ärz¬ te Podaleirios und Machaon unabkömmlich

sind, mit der Bitte um

Heilung an Patroklos: Schneide den Pfeil aus dem Schenkel, wasche von ihm das schwarze Blut mit lauem Wasser weg, streue darauf lindernde cfapgaKa, nützliche, derer du, wie man sagt, von Achilleus her kundig bist, welchen Cheiron unterwiesen hatte, der gesittetste unter den Kentauren. (II. 11. 829-32). Sobald er den Verwundeten ins Zelt geführt hat, kommt Patroklos die¬ ser Aufforderung wenig später nach: Nachdem er ihn dort hingelegt, schnitt er ihm aus dem Schenkel mit dem Messer das scharfe Geschoss, das sehr schmerzhafte, und wusch von ihm das schwarze Blut mit lauem Wasser, darauf streute er bittere Wurzel, die er mit den Händen zerrieben, schmerzstillende, die ihm alle Schmerzen nahm; die Wunde trocknete, und das Blut hörte auf herauszufliessen. (II. 11.844-848). An dieser Stelle wird am ausführlichsten beschrieben, wie man eine Wunde zu heilen pflegte: Zuerst wird der Pfeil mit einer paxaipa ent¬ fernt, dann das Blut von der Wunde gewaschen, darauf erfolgt die Applizierung von schmerz- und blutstillenden pflanzlichen Heilmitteln. Nach dem gleichen Schema erfolgt die Heilung des Menelaos durch den Arzt Machaon in II. 4.213ff., mit dem Unterschied,

dass er die

Wunde nicht mit lauem Wasser reinigt, sondern aussaugt. Sogleich zog er aus dem gut angefügten Gürtel den Pfeil.... Aber als er die Wunde sah, wo der bittere Pfeil eingedrungen war, saugte er das Blut aus (alp.’ eKgavf|fl uaTpos, ös ev uovaa) kcTtol KpaTep’ äXyea ttöctxov, 8r|pöv TT|KÖp.euos, aTU'yepös 8e oi expae 8alp.ojv, aaTTaaiou 8’ dpa tov ye Oeoi KaKÖTrjTog eKvoav, ÖS ’OSuCTfj’ daTTaüTÖu eelaaTO yala Kai üXt)...

Wie wenn willkommen das Leben des Vaters den Kindern erscheint, der in einer Krankheit daliegt und starke Schmerzen leidet, lange hinsiechend, denn ein verhasster Daimon hat ihn angefallen, und willkommen also haben die Götter diesen von dem Übel befreit: so willkommen zeigte sich dem Odysseus das Land und der Wald... 5.394ff.).

(Od.

Ebenso könnten Laser und Burkert recht haben, wenn sie den lr|TTip KaKÖv in Od. 17.384 in die Nähe des panns rücken. Die gerade zitierte Stelle, an der eine innere Krankheit als Anfall eines 'Dämons'

diag¬

nostiziert und Befreiung von ihm mit religiösen Mitteln gesucht wird, könnte ein Beispiel für die diagnostische und therapeutische Arbeit eines solchen gduTts' f| ir)Tf]p koiköu sein. In dieselbe Richtung der Per¬ sonalunion von Seher und Arzt weist auch das oben (S. 52) erwähnte Fragment der Iliupersis, das Podaleirios die Gabe zuspricht, "alles Un¬ sichtbare zu erkennen und das Unheilbare (Ungesunde?) zu heilen" und insbesondere Wahnsinn zu prognostizieren. So ist es denn auch nicht erstaunlich,

dass selbst in klassischer Zeit ein hippokratischer

Arzt, wenn nicht sogar Hippokrates selbst256, von seinen Kollegen in der Prognose dieselben "mantische

Fähigkeiten",

wie sie der Seher

Kalchas hatte, "der das Gegenwärtige, das Zukünftige und das Vergan¬ gene wusste"257, fordert:

255 Burkert O.E. S. 43. ’5b Deichgräber S. 163 vermutete Hippokrates als den Verfasser von Epid. I. Wider¬ spruch bei B. Alexanderson im Vorwort zu seiner Ausgabe von Prog. S. 17ff. Vgl. auch Jouanna, Hippocrate S. 535. ‘57 II. 1.70: ös r)8r|

tö t’

eövTa Ta

t’

eaaöpeva npö

t’

eoftra. vgl. unten S. 92.

Reinigung bei Homer

89

Das Vergangene sagen, das Gegenwärtige erkennen, das Zukünftige Vorhersagen: Ebendies üben!258

Und der wahrscheinlich gleiche Autor259 gibt in der Einleitung zum berühmten hippokratischen npoyvtoaTiicöv die Gründe für die Wich¬ tigkeit der medizinischen Prognose an: Es scheint mir das beste zu sein, dass der Arzt das Vorhersehen übt. Denn wenn er bei den Kranken das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige im voraus erkennt und voraussagt und vervollständigt, was die Kranken unerwähnt lassen, glaubt man ihm wohl mehr, dass er sich auf die Zustände der Kranken versteht, so dass die Menschen es wagen, sich dem Arzte anzuvertrauen. Auch die Therapie dürfte er wohl am besten machen, wenn er das Zukünftige aufgrund der gegenwärtigen Zustände vorausweiss. Denn alle Kranken gesund zu machen, ist unmöglich; dies wäre nämlich besser als die Zukunft vorauszuwissen. Da aber die einen Men¬ schen, bevor der Arzt gerufen wird, durch die Macht der Krankheit sterben, die anderen auch unmittelbar nach dem Herbeirufen (des Arztes) hinscheiden - teils nach einem Tag, teils nach etwas mehr Zeit - , ehe der Arzt mithilfe der Texvr] gegen die jeweilige Krankheit ankämpfen konnte, ist es nun nötig, die Natur sol¬ cher Krankheiten zu erkennen, wieweit sie der (Abwehr-)Kraft des Körpers überlegen sind, und zugleich auch, ob etwas Göttliches in den Krankheiten inne¬ wohnt, und ihre Voraussicht gründlich lernen. Denn so dürfte einer wohl zu Recht bewundert werden und ein guter Arzt sein. Denn diejenigen, die die Krankheiten überleben können, kann er wohl noch besser retten, da er innerhalb längerer Zeit für alles Vorsorgen kann, und, wenn er die, die sterben werden, und die, die geret¬ tet werden, voraussieht und voraussagt, ist er wohl frei von Schuld.260

So mag denn auch der irprip kgiküjv in der Odysse durchaus ähnliche Gründe gehabt haben, sich "mantische Fähigkeiten" anzueignen,

ob¬

gleich die oripcla, auf die er seine Trpö'yvwcns stützte, gewiss noch mehr im Übernatürlichen und Religiösen zu suchen sind als die natürlichen

258 Epid. I 11 (II 634 L): Xeyeiv rä upoyevöpeva' ylvwctkclv tci TrapeövTa- TrpoXeyeiv tö ecröpeva' peXeTäv TaÜTa. 256 Siehe Deichgräber S. 17ff., bes. S. 23. 260 Prag. I (II 110 L.) Töv irjTpov SokcT poL dpiorov eivai TTpövoiav eTTiTr|8eijei.v TrpoyLVüXTKüjv ydp Kai upoXeycjjv Trapa Tolai vocreouai tci re rrapeövTa Kai Ta upoyeyovoTa Kai Ta peXXovTa eaeaBai, ÖKÖaa tc TrapaXeLTTOuorv oi öcrBeveovtcs CKÖiriyotjpevog, moreöoiTo äv päXXov ymiKJKeiv Ta töv voaeovTwv TTpijypaTa, öaTe ToXpäv emTpeTreiv tous av0pÖTTous acfea? eioirroös tö ir|Tpö. Tijv tc 0epaTTeir|v üpLara dv TroieoiTO, upoeiöws tö ecröpeva h töv TrapeovTcüv Tra0r|pdTtJV. 'Yyieas pev ydp ttoicIv äiTavTas toü? voaeovTas äSuvaTov toüto ydp Kai toü TTpoyivöcjKeiv Ta peXXovTa dTToßf|aepave, roig 8' epyoLoiv ob (vgl. Willink S. 129f., 133.). Zum Gegensatz zwischen 8ö^a und aXf|0eia siehe E. Or. 235f.

38

41 Siehe Prag S. 44f. mit Plate 28. Prag hält eine Abhängigkeit von Stesichoros' Oresteia für möglich, wenn er auch nicht an eine getreue Illustration des StesichorosTextes glaubt. So ist unsicher, ob auch Stesichoros die Erinyen als Schlangen gedacht hat. Es könnte sein, dass der Künstler der Metope sich bei seiner Darstellung der Erinyen von Stesichoros' Bild der Schlange, die Klytaimestra im Traum erscheint (PMG Fr. 219, siehe oben) und offenbar den toten Agamemnon darstellt, zwar inspirieren liess, es dann aber für seine Zwecke - zur Darstellung der Erinyen - umgeformt hat (Prag S. 75). Zur Datierung der Metope siehe Prag S. 12. Zu den Erinyen als Schlangen vgl. Aisch. Eum. 128. Die Identifikation der Metope mit einer Erinye und Orestes ist jedoch umstritten: siehe LIMC III 1, S. 841, wo darauf hingewiesen wird, dass es - mit einer Ausnahme keine sichere Darstellung von Erinyen vor Aischylos gibt.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

107

Bereits C. Robert hat darauf hingeweisen, dass sich aus der Tatsache, dass schon bei Stesichoros Apollon als Beschützer des Orestes erscheint, der Schluss ergibt, dass der Muttermord bereits bei ihm, wie im atti¬ schen Drama, auf Geheiss Apollons geschieht.42 Wie bei Aischylos standen sich also auch bei Stesichoros zwei über¬ irdische Mächte gegenüber: die Erinyen auf der einen Seite, die Rechte der Mutter fordernd und dem Muttermörder hart zusetzend, Apollon auf der anderen Seite, die Rechte des Vaters (bzw. des Sohnes, der sich mit dem Vater identifiziert)41 verteidigend und Orestes' Tat deckend. Über den Ausgang des Konflikts lässt sich aufgrund der unsicheren Quellenlage nur soviel mit Sicherheit sagen, dass Orestes als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen sein muss, wenn der Bogen hielt, was der Gott versprochen hatte, genauso, wie er letztlich auch bei Aischylos freigesprochen wurde. Dies bedeutete allerdings nicht das Ende von Orestes' Wirksamkeit: Der Muttermörder und Vaterrächer Orestes war als Heros weiterhin mächtig und gefährlich.

So schwört Orestes in

Aisch. Eum. 763ff. nach seinem Freispruch Athene und ihrem Land auf alle Zeiten, "dass nie ein Mann am Steuer meines Landes kommen und ein wohlgerüstetes Heer herbeiführen wird." Und er verspricht, dass er als Heros von seinem Grabe aus selbst dafür sorgen werde, dass die Argiver seinen Schwur nicht brechen: Denn wir selbst werden, wenn wir dann im Grabe sind, gegen die, die meinen gegenwärtigen Eid übertreten, mit unabwendbarem Missgeschick - indem wir ihre Märsche betrübt machen und ihre Wege dem Vogelflug zuwider - bewirken, dass

42 C. Robert, l.c. (Anm. 12), S. 175f. Ihm sind die meisten Forscher gefolgt. Wider¬ spruch bei Delcourt S. 22ff.: Aufgrund des Vorkommens der Amme Laodameia bei Stesi¬ choros (PMG Fr. 218), deren Sohn von Aigisthos gemäss Pherekydes FGrHist 3 F 134 statt des geretteten Orestes getötet wurde, schliesst sie darauf, dass auch Stesichoros' Orest als "enfant menace au oours du drame soit par Egisthe soit par Clytemnestre et sauve par une personne de la maison" dargestellt hat. Sie glaubt, dass Stesichoros dann das Motiv der "hostilite de Clytemnestre envers son fils" im Moment der Rache wie¬ derholt habe und - wie auf manchen Vasenbildern (siehe Prag Plate 6-16) - Klytaimestra ihrem Geliebten gegen Orestes mit einer Axt zu Hilfe kommen Hess. Der Mutter¬ mord Orests sei darauf nicht vorsätzlich erfolgt, sondern als ein unbewusster Abwehrre¬ flex gegen die Bedrohung von seiten der Mutter oder aus Notwehr. Apollons Rolle habe demnach nur darin bestanden, die Tat im nachhinein als unbeabsichtigt zu verteidigen. Doch - dies als Einwand gegen Delcourts These - muss Apollon bei Stesichoros einen triftigen Grund gehabt haben, Orestes ein so bemerkenswertes Geschenk wie seinen Bo¬ gen zur Abwehr der Erinyen zu geben, und dieser Grund kann wohl nur darin bestanden haben, dass er den Muttermord auch befohlen hat. 43 Diesen psychologischen Hintergrund des Muttermords hat M. Delcourt S.103ff. schön dargestellt. Sie sieht in Apollon 'Timage du jeune dieu assistant le jeune homme, son double" und in der Ermordung des Pythons, des Vertreters der "puissance maternelle", und der Einsetzung von "oracles clairement formules" durch Apollon ein "Wunsch¬ bild d'un gar^on qui cherche ä se liberer de son enfance et de tout l'inconscient dont eile l'opprime encore” und eine Parallele zu Orests Muttermord.

Teil II

108

sie ihr Unterfangen bereuen. Wenn dagegen mein Eid eingehalten wird und sie diese Stadt der Pallas stets ehren mit einem verbündeten Heer, dann werden wir ihnen wohlgesinnter (eüiievecrrepoi) sein. Wenn Aischylos hier ein - sonst nicht bezeugtes44 - Heroon des Orestes in Argos voraussetzt, von dem aus Orestes zu wirken verspricht (im Unterschied zu Göttern kann ein Heros nur im Umkreis seines Grabes wirken45), so berichtet uns Herodot von einem Grabe des Orestes in Tegea, das schon durch die (7 Ellen umfassende!)

Grösse seines Leich¬

nams von der Macht des Heros kündete: In der Tat, solange die Gebei¬ ne in Tegea waren, "kämpften die Spartaner stets unglücklich gegen die Tegeaten". Nachdem die Spartaner aufgrund eines Orakels aus Delphi seine Gebeine von Tegea nach Sparta verlegt hatten,

"gewannen

die

Spartaner von dieser Zeit an im Krieg stets die Oberhand, sooft sie sich miteinander massen".46 Nach Herodot sollen die Spartaner diese Über¬ legenheit "um die Zeit des Kroisos und die Königsherrschaft des Anaxandridas und Ariston" - also offenbar zur Zeit des Stesichoros - er¬ reicht haben. Da Stesichoros in seiner Oresteia Agamemnons Palast von Mykene nach Sparta verlegte,

ist nicht ausgeschlossen,

dass Stesichoros

das

Werk für Sparta schrieb und darin Orestes nach seinem Sieg über die Erinyen - ähnlich wie Aischylos ihn

als Beschützer

des athenisch-

argivischen Bündnisses darstellt - als mächtigen Beschützer Spartas ankündigte, so dass "die Spartaner im Krieg von dieser Zeit an stets die Oberhand gewannen".47

1.1.2.2. Orestes bei Aischylos: Wahnsinn und Verfolgung durch die Erinyen, Reinigung und Freispruch vor dem Areopag. 1.1.2.2.1. Choephoroi Um den Zorn des toten Gatten, der sie in einem Angsttraum schreckte, zu besänftigen, hat Klytaimestra den Chor von kriegsgefangenen Skla¬ vinnen

an Agamemnons

Grab geschickt, um

Weihgussopfer

(xoai)

44 45 46

A. H. Sommerstein S. 237. Burkert G.R. S. 316. Hdt. 1.67f.

47

Palast in Sparta: PMG 216. Zur prospartanischen Tendenz der Oresteia, die auf

einem Besuch von Sparta durch Stesichoros beruhen könnte, siehe Bowra l.c. S. 112-115; M.L. West, Stesichorus, CQ 21, 1971, S. 305. A. Lesky, RE XVIII Sp. 978 hält es, an Bow¬ ra anknüfend, für möglich, dass das Gedicht "an einem spartanischen Frühlingsfest nach einem Kriegsende, vielleicht nach der Beendigung der Händel mit Tegea durch die Überführung der Orestesgebeine aufgeführt" wurde. Vgl. auch M. Bock l.c. (oben in Anm 34).

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

109

darzubringen. Doch der Chor ist überzeugt, für vergossenes Blut gibt es kein Lösungsmittel/8 sondern Strafe kommt bestimmt im Laufe der Zeit in Form einer heftigen "Krankheit" (Aisch. Cho. 66-74): Wegen des Blutes, das von der nährenden Erde getrunken wurde, ist das rächen¬ de Blut fest geronnen, ohne wegzufliessen. Durch und durch schmerzliches Unheil (ctTT|)

hält den Schuldigen hin, bis er von ganz starker Krankheit strotzt. Und

(wie) es kein Heilmittel gibt für den, der ein jungfräuliches Gemach berührt hat, (so) dringen alle Flüsse in einem Bett vergeblich an, wenn sie den die Hände befle¬ ckenden Mord wegwaschen und wegreinigen wollten/9

Der Chor ist also fest davon überzeugt, dass das im Mord bestehende giaaga a) zu Krankheit führt und b) durch keinen KoBapgös beseitigt werden kann. So ist denn Elektra ratlos, welche Worte sie zu den yoou an den Va¬ ter richten soll: Dem Sinn von x°ca gemäss wäre, zu sagen, das Opfer komme von einer lieben Gattin für ihren lieben Mann. Doch weil die xoai der Klytaimestra pervers sind, erwägt auch Elektra die Perversion des Rituals, mit dem sie vertraut ist, indem sie das Weihgussopfer zum Reinigungsopfer für das durch Klytaimestra befleckte Haus machen würde: Oder soll ich schweigend ohne Ehre, gerade wie der Vater umkam, dies ausgies¬ sen, einen von der Erde eingesogenen Opferguss, und wie jemand, der die Reini¬ gungsrückstände (KaGdpoia) wegsendet, zurückgehen ohne die Augen umzuwen¬ den, nachdem ich das Gefäss weggeworfen habe? (Aisch. Cho. 96-99).

Elektra nimmt hier auf den attischen Brauch der Reinigung des Hauses Bezug, gemäss dem man nach der reinigenden Räucherung das töner¬ ne Räuchergefäss, das die "Befleckung" aufgefangen hat, auf Dreiwegen weggeworfen hat und darauf ohne sich umzuwenden zurückgegangen ist.50 Dass man sich dabei nicht umwendete, kann darauf beruhen, dass man von den gefährlichen Reinigungsrückständen nicht infiziert wer¬ den wollte und dass man die Rückstände den unheimlichen

Geistern

und ihrer gefährlichen Herrin, der chthonischen Göttin Hekate, weih¬ te, die auf den Dreiwegen ihr Unwesen trieben, um sie künftighin vom Hause fernzuhalten.51 Dieser Usus, sich nicht umzuwenden,

(cipeTa-

Aisch. Cho. 48: tl yap Xirrpor ttcctovto? aipurros ttc8oi; 49 TTÖpoi T6 TTavres £K pias 080Ü f ßaivovTes (cfoißalrorTes Tucker) TÖr xepopuaf) cf>6vov KaGaipovTeg iGuaar pidTav (Aisch. Cho. 72-74). Zum Gedanken vgl. Soph. O.T. 1227f. 50 So die Scholien zur Stelle (I Aisch. Cho. 98a): toüto npös tö Tiap' ’A0r|ralois eGos, otl KaGaipovTe? oiKiav öorpaKircoi GupuaTripLüjL ptijiarTes er Tals TpLÖSoL? tö öorpaKor dgeTaorpeTTTei drexöpour. Zur Räucherung vgl. unten Kap. 1.3. Siehe Harpocr. s. v. ofuGupia = FGrHist 353 F2: AiSupo? 8e 'AuTOKXei8ou Xefiv uapa’ypdijjas’ eK TÖr e£r|yr|TiKÖn r|OTr, ö^uGupua tö KaGöpgaTa XeyeTai Kal duoXiipiaTa■ TaÜTa yap dTTocfepeaGai eis tö? Tpiööou?, örav tö? oldas KaGaipocriv. er 8e tö uTToprfjpaTL tö 48

51

Teil II

110

crrpeTm) ist sehr geläufig bei 'unheimlichen'

den Griechen, sondern auch bei den Römern mein

den Wunsch

Ritualen nicht nur bei und signalisiert allge¬

nach strikter Trennung und keiner

Kontaktauf¬

nahme mit dem Gefährlichen.52 Elektra entscheidet sich schliesslich auf den Rat des Chors hin für eine andere Perversion der xoab indem sie, statt den Toten mit den Weihgüssen zu besänftigen, während der Spenden ein Rachegebet an ihn richtet und den Chor auffordert, zu den x°at unter Wehklagen "einen Heilsgesang für den Toten" (uaiäva

tou

öavövrog) zur Abwehr

der Befleckung zu singen (Aisch. Cho. 151).55 Und der Chor gibt sich darin überzeugt, dass Agamemnons Grab "ein Bollwerk des Guten" ist (insofern Hilfe vom Toten ausgehen kann) "und zugleich ein Monu¬ ment der Befleckung, ein verfluchtes, das der Abwehr des Bösen die¬ nen muss, jetzt, wo die Weihgüsse ausgegossen sind,"54 und erwartet sehnlichst den dvaXimjp Sogaiv, den bewaffneten, kämpferischen Erlöser des Hauses. Dieser erscheint alsbald in der Person des Orestes, und nach

der

freudigen Wiedererkennung des Bruders (Aisch. Cho. 164-245), der für Elektra nunmehr vier Rollen in einem vertritt (Vater, Mutter - denn die eigene hasst sie - , Schwester und Bruder), berichtet Orestes von Apollons Befehl, an den Mördern des Vaters Rache zu nehmen:

Falls

er die am Vatermord Schuldigen nicht tötet, sagte er ihm frostiges Unheil tief hinein in seine warme Leber an (Bucrxeip-cpous dTas öcf>’ f)TTap Geppöv e£au8utpeuos'. (Aisch. Cho. 271f.). Einerseits kündigte er ihm eine durch den Zorn der Unterirdischen hervorgerufene Hautkrankheit (uöcrous) an: sich auf dem Fleisch ausbreitende, mit wilden Kiefern die ursprüngliche Gestalt ausfressende Flechten. Und weisse Haare würden über dieser Krankheit hervorspriessen. Andererseits kündigte er andere Angriffe der Erinyen an, die vom vä-

KüTä AripaSou Ta ev Tals- TpiöSoi? 4>tiep6v tlvcs, ä ö£u9upia KaXeiTai; siehe Rohde Bd. II S. 78f., 85f.

52

Eustath. ad Od. 22.481 Vol. II p,191,15ff. (siehe unten Anm. 270), Odysseus in 10.528, Theocr. 24.96 (siehe unten S. 166), Ap. Rh. 3,1038f„ 4.1315; Soph. O.C. 490; Fast. 5.439, 6.164; Verg. Buc. 8.102; Plin. nat. hist XXI 176. Zur Funktion des Usus weiteren Beispielen auch bei anderen Völkern siehe Rohde Bd. II S. 85f., Frazer zu Fast. 6.164.

Od. Ov. und Ov.

Zum Paian zu kathartischen und apotropäischen Zwecken siehe Deubner Paian S. 388, Kappel S. 44ff.; vgl. Ilias 1.472ff., siehe oben S. 92. Aisch. Cho. 154-156: epupa TÖ8e KeSvüv KaKÖv t’ cittötpottov äyog drreüxeTov, kcXupevwv xoäv. Diese Interpretation der schwierigen Stelle folgt einem Hinweis von W. Burkert.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

111

terlichen Blut bewirkt würden.55 . Denn die dunkle Waffe der Unterirdischen von solchen, die in der Familie gefallen sind und Rache fordern, sowohl Wahnsinn als auch nichtige Furcht in der Nacht, erregt, verwirrt und treibt seinen mit Bron¬ ze-geschlagener Peitsche misshandelten Körper aus der Stadt. Und solchen sei es nicht erlaubt, am Mischkrug teilzuhaben, noch am zur Spende gehörigen Tropfen, und von den Altären dränge ihn der Zorn des Vaters zurück, obwohl er nicht ge¬ sehen werde. Und keiner werde ihn aufnehmen und mit ihm zusammen einkehren, aller Ehren verlustig und ohne Freunde sterbe er allmählich hin, auf üble Weise mumifiziert durch ein allvernichtendes Los.56 Aus dieser und den bisher betrachteten Stellen lässt Aischylos folgen¬ den Mechanismus der Mordbefleckung erkennen: 1. Nicht nur der Mörder (hier Klytaimestra) ist befleckt, sondern die nächsten Verwandten des Opfers (hier Orestes) werden von einem ebenso heftigen, einer Befleckung gleichkommenden

Unheil bedroht,

falls sie den Mord nicht rächen.57 2. Beförderer und Promotoren des befleckungsartigen Zustands sind der Zorn des Toten bzw. dämonenhafte, chthonische Mächte, die im Interesse des Toten agieren: so wird Klytaimestra nachts vom

"Zorn

der Unterirdischen" heimgesucht;58 Orestes bedrohen "Zorn von Übelgesinnten aus der Erde" (tü ck yfjs Suacßpovwv ppvipaTa), "Angriffe der Erinyen" (TtpoaßoXds- ’EpiviJüju), "der Unterirdischen dunkle Waffe von solchen, die im Geschlecht gefallen sind und Rache fordern" (tö ctkoTeLvou Twe evepTepov ßeXos ck Trpocrrpouaiojv ev yevet ueTTTUKÖTOJv), d.h. Agamemnon als "Rachegeist".59 3. Der befleckungsartige Zustand, den die chthonischen Mächte her¬ beiführen, ist einerseits physischer und psychischer Art, d.h. in einer Krankheit bestehend, andererseits sozialer und ritueller Art. So ist Kly¬ taimestra einerseits krank: sie wird von

nächtlichen

Angstträumen

heimgesucht, aus dem Agamemnon hören wir zusätzlich von blutun-

55 Aisch. Cho. 280-284: crapKujv eTTapßaTfjpas, aypiais yvaGois / Xetxfjvas e£ecr0oyTas apxcüav (jhicjiv / XeuKdg Se KÖpoas Tr)8' eTTavTeXXetv vöaur / aXXas t ecfövei TTpocrßoXds 'EpunGv / €K TÖv TTciTpöwv aipaTiov TeXouperag. 56 Aisch. Cho. 286-296 tö ydp ctkotcivöv twv evepTepwv ßeXos / ck TTpooTpoTTcticov ev yeveL ttctttcükötüjv, / Kai Xuocra Kai paratos ck vvktüv cjtößos / klvU Tapdoaet Kat 8iiXooTr6v8oi) Xißös, / ßüjpöv t' diTeipyeiv oöx optopevriv TTaTpös' / pfjvtv dexeoQcti ovoXißei Tvxa pf]v empaiveTai, Xißog ctt' oppaTwv aipaTos e pTipcTTCL. Zu dieser Interpretation siehe E. Fraenkel, Aischylos Agamemnon, edited with a Commentary III, Oxford 1950, S. 672f. und vgl. Hp. Morb. Sacr. 15.7 = VI 390 L. (Entzündung des Gesichts und rot angelaufene Augen bei Furcht und beim "Glau¬ ben, etwas Schlechtes getan zu haben": dorrep oüv Kai eypqyopÖTi tötc päXXov tö TTpöaa>ttov cfXoyiä, Kai oi ötfGaXpoi epeüGovTai, cfrav 4>oßf|Tai Kai lj yvdpr| emvorj ti koköv epyaaaaGai, oütio Kai ev tö irrvip Traoxei) sowie Aretaios SA 1.6.10 (zu peXavxoXia neigende haben schwarze Bilder vor Augen, zu pavia neigende rötliche, purpurrote und blitzähn¬ liche, ein Teil der Wahnsinnigen hat auch rötliche und blutunterlaufene Augen: npö töv ocfGaXpdv IvSdXpaTa Kudvea fj peXava, olclv ec peXayxoXir|v f) Tpomy epuGpÖTepa 8e ec paviqv, Kai (jxxviKea 4>avTdcpaTa, ttoXXoici pev de änacTpaTTTovToc Trupöc Kai Tapßoc avTeouc de and ckt]tttoü Xapßdvec peTe^eTepoici 8e Kai evepuGpoi Kai ixjiaipoi öt^GaXpoi). Vgl. auch I E. Or. 256 toüs paivopevou? Gcjjaigov ßXeireiv Kai Tapaxü8es. Aisch. Ag. 1645.

61 62

Aisch. Cho. 281. Es handelt sich bei Xeixrjv um eine Form der Lepra, XeÜKTp bei der die Haare weiss werden: Arist. HA 518 a 13: ev 6e tö e?av0f|vaTi ö KaXeiTai XeiiKTp ndaai (sc. ai Tpixe?) TtoXiai yivovTai. Col. 797 b 15 Kav koto pepos ti to£i adpaTos ef;av0f|ai] XetJKTp Kai tö? Tpixas iaxowiv dnavTes XeuKas koto töv töttov toutov. Vgl. Garvie S. 115, J. Dumortier, Le vocabulaire medical d1 Eschyle et les ecrits hippocratiques, Paris 1975 , S. 80ff. bes. 82. Vgl. dazu auch die Krankheit der Proitiden (siehe unten nach Anm. 205). 63 Hp. Aph. III 20 (IV 495 L.) Tod pev ydp fjpog, tö paviKa, Kai tü peXayxoXiKa, Kai Ta emXr|TTTiKä, ... Kai Xeupai, Kai Xeixfives, Kai aXcßoi...

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

113

hen aufzufassen und die Kranken aus der Gesellschaft auszuschliessen.64 Im Kommos (Aisch. Cho. 306-478) beschwören Orestes, Elektra und der Chor Zeus, die xööftoi und den Toten, ihnen bei der Rache an den Mördern zu helfen, denn "die Hände der Herrschenden sind unrein" (onx öaicu).65 Nach der Ermordung des Vaters haben sie ihn dTipots- be¬ erdigt, ohne die letzte Ehrung durch Bürger und ohne die Klagen der Gattin (Aisch. Cho. 429ff.), ausserdem wurde er Opfer des grausamen Brauchs, den Mörder anzuwenden pflegen, um den Toten unschädlich zu machen und sich zu reinigen, des pacrxaXiCTpös-.66 Wie die Chorführerin Orestes den Inhalt von Klytaimestras Angst¬ traum67 erzählt (es schien ihr, sie habe eine Schlange geboren, in Win¬ deln gewickelt und ihr die Brust dargereicht, worauf diese ihre Brust beim Saugen verletzt und mit der Milch Blut aus ihrer Brust gesogen habe), deutet Orestes diesen auf sich und ist fest zum Muttermord ent¬ schlossen: Zur Schlange gemacht, werde ich sie töten, wie dieser Traum ankündigt.68 Subtil deutet der Dichter an, wie dadurch, dass Orestes sich mit der Schlange gleichsetzt, die sein toter Vater Klytaimestra im Traum ge¬ sandt hat, die chthonische Macht des toten Vaters,

die sich in der

Schlange ausdrückt,69 ganz vom Sohn Besitz genommen hat und somit eine volle Identifikation von Sohn und totem, in Schlangengestalt Ra¬ che forderndem Vater stattfindet.70 Die Mörder sollen daher, wie sie mit List einen geehrten Mann getötet haben,

64

Perser, die Aussatz auf Vergehen gegen den Sonnengott zurückführen: Hdt. 1.138 "Os dv 5e töv öcttüv XeTipr|v f| XeuKT)v exn, es rröXiv ovtos oü tcorrepxeTaL oi>8e aupgiayetcü. Toten äXXoiCTi Flepcrflov baut 8e puv es töv t)Xlov apapTÖvTa tl Tarrra exeiv. Juden: Aus¬ sätzige sind unrein, werden aus Gesellschaft ausgeschlossen und müssen nachher zur Sühne Schuld-, Sünd- und Brandopfer darbringen: Lev. 13, 46; 14,10ff. siehe W. von Sie¬ benthal, Krankheit als Folge der Sünde, Hannover 1950, S. 33. Aisch. Cho. 377f. Danach schnitt der Mörder dem Ermordeten die Extremitäten ab, reihte die abge¬ schnittenen Teile zu einer Kette und hängte sie dem Ermordeten um den Hals, wobei er die Schnur "unter den Achseln" (kqtü töv paaxdXwv) durchzog (I Soph. El. 445, Suid. s.v. ep.aovea 1 Soph. El. 445); "um sich von der Tat zu reinigen (tö epyov d^oaioöpevoL Suid. s.v. epaaxaXloÜTi); siehe Rohde Bd. 1 S. 322ff. Vgl. oben Teil I Anm. 44. Ein Anklang an Stesichoros' Traummotiv; siehe oben Kap. 1.1.2.1. bei Anm. 32.

65 66

67 68 69 70

Aisch. Cho. 549f. Siehe oben S. 105 mit Anm. 34. Siehe Garvie S. 193f.

Teil II

114

ebenso mit List überwältigt werden, im selben Netze sterbend, wie es auch Loxias ausgesprochen hat:71 Die Identifikation mit dem toten Vater bewirkt, dass Orestes Loxias' Befehl sich nun ganz zu eigen machen kann. Er sieht den Racheplan klar vor Augen: Als Fremder will er um gastliche Aufnahme bitten. Doch "von den Türwächtern wird wohl keiner ihn strahlenden Sinnes aufnehmen, da das Haus von bösen Geistern besessen ist" (eiTeLSfi 8aipovid 8ögos koikoIs': Aisch. Cho. 565f.). Bevor Aigisthos sagen kann: "Woher kommt der Fremde?", wird Orestes ihn töten: Und die Erinye wird, ohne an Blut Mangel zu leiden, als dritten Trank ungemischtes Blut trinken. (Aisch. Cho. 577f.j. Diese vampirartigen Geister, die sich im Hause eingenistet haben und sich vom Menschenblut in ihm nähren, ist die "Schar der verwandten Erinyen",

die den Verwandtenmord rächen.72 Orestes, der sich eben

noch mit der Blut saugenden Schlange an seiner Mutter Brust identifi¬ ziert hat, glaubt, dass nun mit seinem Muttermord diese "Vampire" ihren letzten Bluttrank tun.73 Nachdem der Chor die Monstrosität von Agamemnons Tod mit den Schrecken der Natur und des Mythos verglichen hat, meint er am Ende des 1. Stasimons zuversichtlich im Hinblick auf die Durchsetzung der Alkt|: Fest steht der Stamm der Dike (Gerechtigkeit), und die Aisa (Schicksal), die (ihr ) Schwert macht, schmiedet es im voraus. Und die berühmte tief denkende Erinye bringt allmählich das Kind ins Hause, um für die Befleckung älterer Blutstaten zu büssen.74 (Aisch. Cho. 646-51). Wie zuvor der Muttermörder und Vaterrächer Orestes sich selbst mit den Erinyen assoziiert, so scheint diesmal der Chor mit der "berühm¬ ten tief denkenden Erinye" deutlich an seine Mutter Klytaimestra an¬ zuspielen: Sie bringt ihr Kind, "die Erinye" Orestes, nach Hause, um für die "Befleckung einer älteren Blutstat", des Mords an Agamemnon, zu büssen, und sie wird - was der Chor dann allerdings nicht mehr wahrhaben will75 - als "Erinye" Orestes nach seinem Mord an ihr ver¬ folgen.76

71 72 73

Aisch. Cho. 556-58. Aisch. Ag. 1186-1190. Siehe Garvie S. 199f.

74

tckvov 6' eTreiac)>epei 86|iot.s / aipdTwv TTaXaLTepwv

/ tlvclv ihjctos xpövw kXutoi /

'EpiVl>9. Aisch. Cho. 1051 ff.

ßucjoöcfpujv

75

Siehe Garvie S. 222f. Vgl. Aisch. Ag.1497-1504, wo Klytaimestra behauptet, nicht sie habe Agamemnon getötet, sondern der Rachegeist (aXacTTtup) des Atreus habe

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

115

Kurz vor dem entscheidenden Kampf mit Aigisthos ist der Chor un¬ schlüssig, wie er Zeus richtig um Sieg bitten soll: Denn jetzt werden, befleckt (mit Blut), die Spitzen menschenmordender Schlachtmesser entweder ganz den Untergang von Agamemnons Haus für alle Zeit bewirken, oder ein Feuer und Licht für die Freiheit anzündend, wird er die stadtverwaltenden Herrscherrechte und den grossen Reichtum des Vaters be¬ kommen." Doch wie auch immer der Kampf ausgeht, ohne piacrpa wird es nicht gehen: Das menschenmordende befleckt.

Schlachtmesser wird in jedem

Fall

Wie Klytaimestra nach Aigisthos' Ermordung ihrem Sohn gegenü¬ bersteht, zeigt sie ihm ihre Brust und beschwört ihn, die Mutterbrust, die ihn ernährt habe, zu achten. Nun wird Orestes zum erstenmal un¬ sicher: Vor der Mutterbrust stehend, realisiert er zum ersten Mal, was er vorhat zu tun: seine Mutter zu töten. Und in den Rat suchenden Worten an Pylades nimmt er zum ersten Mal das Wort "Mutter"

in

den Mund: Pylades, was soll ich tun? Soll ich mich scheuen, die Mutter zu töten? (Aisch. Cho. 899). Doch durch des Phokers Mund antwortet der Gott seines Landes: Was wird künftig aus Loxias1 Orakelsprüchen, den vom pythischen Gott geweissagten, und aus den zuverlässigen Eiden? Halte eher alle Menschen für Feinde als die Götter.78 Und Orestes gibt sich geschlagen: Ich glaube, dass du Sieger bist. Der Gott von Delphi hat gesiegt.79 Vergeblich beschwört Klytaimestra ihren Sohn, "den Mutterfluch zu scheuen",80 versucht ihm noch ein-

ihre Gestalt angenommen und sich an Agamemnon für die Tötung der Kinder des Thyestes gerächt: cuixet? elvai tö6c Toüpyov epöv / (nj 8' eTTiXexGÜS' / ’Ayapepvoviai) elvai |r' äXoxov. / 4>avTa£6|revo5 8e yuvaiKL veKpoü / toü5' 6 TTaXaiös Spipüs aXdonop / ’ATpetos xaXeTToü Goivcrrfjpos / tov8' aTTeTeuxev, / TeXeov veapolg emGiiaas. Aisch. Cho. 859-865 (Lesung wie Garvie): vvv ydp peXXouai piayGeicrai / TTeipai ko•rcdvwv dv8po8aLKTwv / f| nävu 0f|CTem 'Ayap.epvoviiw / o’lkcüv öXeGpor 8tä TtavTÖs, / f| TTÜp Kai (füg ctt1 eXeuGepia / 5aiwv apxas Te TToXuTaovö|i.ous (M) / TiaTepaiv 0’ e^ei (Weil) peyav öXßov. Aisch. Cho. 900-902. Aisch. Cho. 904, vgl. R. P. Winnington-Ingram, Studies in Aischylos, Cambridge 1983, S. 117: "Will Clytemnestra win yet another victory? But Apollo speaks with the voice of Pylades. T count thee victor (903)' replies Orestes; for the victory in the contest belongs neither to the son nor to the mother, but to the god of Delphi."

77

78 79

Teil II

116

mal den Greuel vor Augen zu führen, dass er die eigene Mutter töten werde81 und wie dieser letzte Appell nicht fruchtet, setzt sie ihre War¬ nung in die Tat um und greift zum einzigen Mittel, das ihr übrigbleibt, dem Fluch der Mutter, der die Erinyen in Bewegung setzt: Schau her! Hüte dich vor den zornigen Hunden der Mutter!82 Orestes' Antwort zeigt seine ganze Tragödie: Wie aber soll ich denen des Vaters entrinnen, wenn ich dies fahrenlasse?81 Erst jetzt realisiert Klytaimestra,

dass Orestes und

die Schlange im

Traum ein und derselbe sind. Düster deutet Orestes' letzter Satz auf die kommenden Ereignisse: Du tötetest, den (zu töten) sich nicht ziemte, so erleide auch du, was sich nicht ziemt.84 Nachdem Orestes seine Mutter zur Ermordung fortgeschleppt hat und während er die grässliche Tat im Hause vollzieht,

fordert der Chor

zum lange ersehnten85 Jubelgeschrei, dem öXoXuypös’, auf: Schreit jauchzend auf angesichts der Befreiung des Herrenhauses von den Übeln und von der Verprassung des Vermögens durch zwei Beflecker, von seinem be¬ jammernswerten Schicksal.84 Ambivalent ist das Wort eTToXoXufjorre. Es kann ein normaler Freuden¬ schrei gemeint sein, der die Befreiung des Hauses von den beiden pidoropeg feiern soll. ’OXoXuypög ist jedoch auch "der griechische Brauch des Opferschreis" ('EXXpi'ucöv vöpiopa GuardSog ßofjg), der beim Opfer des Tieres den tödlichen Schlag zu begleiten pflegte und das Todesrö¬ cheln übertönen sollte.87 Die Befreiung

des Hauses ist zugleich ein

"Menschenopfer": Ein neues piaapa kündet sich an, mögen Dike und Apollon Orestes noch so sehr unterstützt haben (Aisch. Cho. 946-961).

80 81

Aisch. Cho. 912: ou8ev creßi£q yeveöXiou? apag, tckvov; Aisch. Cho. 922.

82 Aisch. Cho. 924. Zum Fluch der Mutter, der die Erinyen in Bewegung setzt, siehe Homer Od. 2.135, 11.280. 83 Aisch. Cho. 925. 84 Aisch. Cho. 930. 85 Aisch. Cho. 340ff., 386ff, 819ff. 84 Aisch. Cho. 942-945: eTToXokii^aT1 co Secnrocruvwv 86ptüv / avacjnjyg koküv Kai KTcdvcov Tpißäs / uttö Suoiv piaoröpoiv / Sucrolpou Ti>xas-. K/ Aisch. Sept. 269; siehe L. Deubner, Ololyge und Verwandtes, Berlin 1941, Burkert HN S.12.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

117

Der Chor freilich ist überzeugt, dass endlich Licht zu sehen ist und das Haus sich wieder aufrichten kann: Richte dich auf, Haus, gar lange Zeit lagst du auf dem Boden. Bald wird die(se) Zeit vollständig aus der Vordertür des Hauses kommen, wenn sie die ganze Be¬ fleckung vom Herde vertrieben hat durch Reinigungen, die Unheilstaten austreiben.88

Der Chor hofft offenbar, dass die lange Zeit, in der das Haus am Boden lag und durch die beiden gidoTopes' befleckt war, nun

vorüber ist,

nachdem sie die piacrropes' durch "Reinigungen von ihnen" vom Herd vertrieben hat.89 Doch durch den Muttermord ist ein neues, grauenhaftes piaapa ent¬ standen. Zwar sehen wir zunächst Orestes inmitten seiner Opfer in ei¬ nem schauderhaften Auftritt über seine Gegner, "das Tyrannenpaar, die vatermordenden

Zerstörer des Hauses",

triumphieren.

Selbstbe¬

wusst sucht er den Muttermord zu rechtfertigen, indem er das FangGewand, in dem Agamemnon ermordet wurde,90 vorstellt und auf Klytaimestras schlangenhaften Charakter verweist (Aisch. Cho. 973-1006). Doch wie der Chor die Abscheulichkeit der Tat tadelt und Orestes Lei¬ den voraussagt (Aisch. Cho. 1007-1009), findet in ihm in den folgenden Versen ein Wandel statt: Erst versucht er sich zu verteidigen: Tat sie es oder nicht? Dieses Gewand dient mir als Zeuge, wie Aigisthos' Schwert es gefärbt hat. (Aisch. Cho. 1010-11.)

Dann schickt er sich zur Totenklage seines Vaters an: Nun kann ich ihn lobpreisen, nun kann ich ihn beklagen, indem ich da bin und dieses Gewand, in dem mein Vater getöte wurde, anspreche. (Aisch. Cho. 1014-5).

Doch diese ungewöhnliche Art der Totenklage beim Anblick des Ge¬ wandes, in dem der Vater getötet wurde, und der ermordeten Mörder führt ihn dann zur Klage über alle Taten und Leiden, über das ganze Geschlecht und schliesslich über sich selbst:

88

Aisch. Cho. 963-967: dvorye pdv Sopor

ttoXw

dyav xpovov / xapaiTieTcG eKeicrGe. /

Taxa 8e TravTeXf|g xporo? dpeibcTai / TTpöGupa Stupanov, ÖTav acj>' ecma? / püaos anar

eXaai] / KaGappoicnv aTär eXaTpptois. Zum Verständnis siehe Garvie S. 314. 89 Zur Vorstellung der Zeit als "Reinigerin" vgl. Aisch. Eum. 286: xpövos KaGaipei navTa yripdaKcov öpoü. Zur Auffassung der Tötung als einer Form des raGappös vgl. Soph. O.T. 99f.

Teil II

118

öÄ.y gen epya Kai udOos yevos re uäv, aCr|Xa u'LKris TgaS’ extov gLdagaTa. Mich schmerzen die Taten, das Leiden und das ganze Geschlecht, während ich die nicht beneidenswerte Befleckung durch diesen Sieg habe. (Aisch. Cho. 1016-7). Eben noch triumphierender Sieger, anerkennt der Muttermörder, dass sein Sieg in einer Befleckung (puaaga) besteht, nur ein weiteres giaaga ist in einer Serie ununterbrochener, entsetzlicher giacrgaTa in der Fa¬ milie. Bald darauf fühlt Orestes in seinem Zwiespalt zwischen Befleckung und Sieg den Wahnsinn nahen.91 Langsam treten dabei die Götter aus dem Hintergrund hervor und Orestes wird zu ihrem Spielball:92 Auf der einen Seite befallen ihn nun "Angriffe der Erinyen": "die zornigen Hunde der Mutter" reissen seinen Verstand fort und in seinem Herzen schickt die Furcht sich an, zu ihrem "Zorn"

zu tanzen, ohne dass O-

restes die Angreiferinnen zunächst sehen könnte.93 Sie lassen nun sei¬ ne Tat als "frevlerisches Wagestück" (VoXga) erscheinen und Apollons Orakel als "Zaubertrank", der ihn dazu verhext hat, und beharren auf Orestes' Befleckung. Auf der anderen Seite steht Apollon, der Reiniger, der Klytaimestra als "vatermordende Befleckung und Abscheu der Göt¬ ter" (TraTpoKTÖrw giacjpa Kai Gewn cmjyos') zu beseitigen befahl und den Mord somit als gerechtfertigt erscheinen liess, andererseits aber Orestes auch auftrug, nach seiner Befleckung durch den Muttermord "mit die¬ sem (Öl-)zweig und der (wollenen) Verzierung94 als Schutzflehender"

90

Aischylos scheint sich darunter ein netzartiges, dünnes Gewand ohne Öffnungen für Hände und Kopf, wie auf einem Kalyx-Krater in Bosten um 460 v. Chr. abgebildet, vorgestellt zu haben: siehe Prag Plate 3; Sommerstein S. 162f. (zu Aisch. Eum. 460-1). Aisch. Cho. 1021-1039.

91 92 93

Vgl. K. Reinhardt, Aischylos als Regisseur und Theologe, Bern 1949, S. 136. Aisch. Cho. 1022-1025. Die Erinyen nur als Symptom, nicht aber auch als Ursache von Orestes Wahnsinn anzuschauen, wie es Brown in JHS 103, 1983, S. 13ff. will, verbie¬ ten die Verse 278ff., wo Apollon klar Krankheiten als "Angriffe der Erinyen" bezeich¬ net und unter solchen Krankheiten auch Wahnsinn auflistet - abgesehen von der Tatsa¬ che, dass mit ÜTTopxelaGai kötu> in V. 1025 sichtlich auf prp-pös eyKÖrovg KÜvas in V. 924 angespielt wird (vgl. Garvie S. 337). Dass Orestes zunächst nur eine Veränderung seines Geisteszustands (Verlust der Kontrolle über die cfpeves und Furcht, die unter Zorn tanzt) als Zeichen nahenden Wahnsinns an sich wahrnimmt und erst später bei eingetretenem Wahnsinn auch die Verursacherin vor sich sieht, scheint ein vollkommen natürlicher Vorgang bei Fällen von göttlicher Kcrroxn bzw. eveouaiaapos. So wirkt auch Kassandra in Aisch. Ag. 1035ff. auf die Aussenstehenden unansprechbar und verstört (vgl. Aisch. Ag. 1064: f| paiveTat ye), bevor ihr prophetischer Wahnsinn ausbricht und sie den Urhe¬ ber Apollon vor sich sieht (Aisch. Ag. 1072t.). Inwiefern sich Orestes1 Befallenwerden von den Erinyen von Kassandras "madness as divine possession" (Brown op. cif. S. 19) dem Wesen nach unterscheiden soll, ist nicht einzusehen: in beiden Fällen nehmen gött¬ liche Mächte von den cfipeves' Besitz.

94

Aisch. Cho. 1035: die Insignien der Schutzflehenden, siehe Aisch. Eum. 40f.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

119

an seinen Herd nach Delphi zu fliehen, um sich von ihm reinigen zu lassen. Wie die Chorführerin ihn mit den Worten

aufzumuntern

sucht:

"Du hast die ganze Stadt der Argiver befreit, indem du mühelos

die

Häupter von zwei Schlangen abschnittest",95 da bricht auf das Stichwort "Schlange" Orestes' Wahnsinn aus, und er sieht "nach Art von Gorgo¬ nen schwarz gekleidete Frauen mit dichtgedrängten Schlangen um¬ flochten. Ich kann nicht mehr bleiben".96 Die Chorführerin versucht, ihn zu beruhigen und seine Vision als "blosse Einbildungen" (8ö£ai) abzutun: Welche Einbildungen, dem Vater von den Menschen liebstes Kind, beunruhigen dich? Bleib stehen, fürchte dich nicht, da du bei weitem Sieger bist. Tmes ae 5ö£;ai, cjuXTaT’ duOpÖTTiov -naTpi, CTTpoßoCiaiv; laxe, gf) cfoßoü, ulkcov ttoXu. (Aisch. Cho.l051f.). Doch Orestes besteht darauf, dass seine Leiden nicht eingebildet, son¬ dern klar durch die Erinyen verursacht sind: Das sind keine Einbildungen von Leiden für mich. Denn dies sind deutlich die zürnenden Hunde der Mutter. ovk eioi 86£ai Tv8e TTripaTciv egor

aacfws yäp aiSe gpTpös cy kotoi kwes. (Aisch. Cho. 1053f.).

Jetzt also kann er die Verursacherinnen seines Wahnsinns erkennen, die vorher in seinem Herzen "Furcht unter ihrem Zorn" haben "tan¬ zen" lassen: Es sind "die zornigen Hunde der Mutter", vor denen diese ihn vor der Tat gewarnt hatte.97 Die Chorführerin freilich versucht, seine "Verwirrung" schlicht auf das frische Blut an seinen Händen zu¬ rückzuführen: Frisches98 Blut ist noch an deinen Händen Daher befällt Verwirrung deinen Sinn." TTOTaiuiov yap aipa aoi xepoiv Irv aai.. ’ Avafjoryopas kcil eTepoL tüv ((»uctioXöywv* yiyvea0ai...eK toü äppevos to cmep|j.a, tö 8c 0f)Xu Trapexeiv tottov. Dass Aischylos die Theorie von Anaxagoras übernommen habe, vermutet Sommerstein S. 206. 156 Aisch. Eum. 754ff.; siehe oben S. 107f. 137 Ennyen als 'Apai: Aisch. Eum. 417. Ihre Androhungen von Unheil an Polis: Gefahr (Aisch. Eum. 711f.; 719f.); Unfruchtbarkeit der Erde, Unfruchtbarkeit der Pflanzen und Menschen durch "Flechten" (XeLxnv äuXXos aTCKVos), die "menschenvemichtende Be¬ fleckungen (ßpoTocJGöpous Kr|\18as') ins Land bringen (780-7 = 810-7; XcLXTjr wird schon in Aisch. Cho. 281 als Strafe der Erinyen angekündigt; siehe oben Anm. 55, 62); Abschwö¬ ren: Aisch. Eum. 916-987: Die Erinyen wünschen Sonne für Emtewachstum, keine Tro¬ ckenheit, keine Unfruchtbarkeit des Feldes in Form einer ÜKapTros aicivf]5 vöcro?, Frucht¬ barkeit des Viehs und Gedeihen von Jungen und Mädchen, keinen Bürgerkrieg.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

131

Es bleibt noch, festzuhalten, welche Auffassungen und Massnahmen in den Eumeniden für die Reinigung des Mörders bezeugt sind, auch wenn Aischylos selber im Stücke dieses Reinigungsritual relativiert, wenn nicht gar entmachtet.138 1. Der Mörder ist unrein, hat Blut an den Händen. 1. Er wird von den Erinyen verfolgt, die ihn in den Wahnsinn trei¬ ben. 1. Befleckt und von den Erinyen verfolgt, muss er ausser Landes ins Exil und sich einen Schutzherrn suchen, der ihn reinigt 1. Bis er von diesem gereinigt ist, muss er stumm bleiben, darf nicht sprechen, darf keinen sozialen Kontakt zu anderen haben, da er ihnen sonst schaden würde, und kein Heiligtum betreten, da er dies sonst be¬ flecken und schädigen würde.139 1. Um

den

Schutzherrn

zur

Reinigung

zu

zwingen,

dringt

er

schweigend, mit einem von Wolle umwundenen Ölzweig in dessen Haus ein und lässt sich am Herd nieder.140 1. Die Reinigung erfolgt "durch Reinigungen mit einem getöteten Ferkel", KaGappoL? xo'-Pok™1'01-^ Das Ferkel wird dabei so geschlachtet, dass der Befleckte mit seinem Blut übergossen wird; darauf wird das Blut mit fliessendem Wasser hinweggespült. So ist die Befleckung aus¬ gewaschen (piapoü8oy tö 8' öyog’ oö XeXoLTie goi. 157 E. Or. 35f: Tieawy ev SegyioLS KelTai. 158 E. Or. 42f. xXayiSiwv 8' eaw Kpuc|)0eis. 159 E. Or. 800-802; 879-883; 1015-1017.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

135

heftiger Krankheit hinschwindend liegt er im Bette. Die Eumeniden, die das Blut der Mutter repräsentieren und die Elektra sich zu nennen scheut, verfolgen ihn mit Wahnsinnsanfällen, quälen ihn mit Angst.160 Sein Atem ist so schwach, dass er tot zu sein scheint.161 Er hat seit sechs Tagen keine Nahrung zu sich genommen und ist darum dem Tod nah: Der Verfasser der hippokratischen Schrift riepi aapKwv meint:

Wenn

man sieben Tage nichts isst, stirbt man.162 Psychisch pendelt er zwischen drei Zuständen: der Phase des Schlafes, der Phase der Erleichterung von der Krankheit, in der er bei vollem Verstand ist und weint, und der Phase von Wahnsinnsanfällen, in der er vom Bette aufspringt wie ein Fohlen unter dem Joch hervor.163 Alle drei im Prolog angedeuteten Phasen werden in den ersten 315 Versen vorgeführt: a) Schlaf: E. Or. 1-210. b) Phase bei vollem

Verstand: E. Or. 211-252. Gewiss nicht zufällig er¬

wacht Orestes aus seinem Schlaf in dem Moment, wo Elektra an sei¬ nem Lager sitzend ihre tote Mutter unter Stöhnen anklagt, sie habe den Vater und ihre Kinder zugrunde gerichtet (E. Or. 194-207). Wie Orestes erwacht, wendet er sich erst dankbar an den Schlaf als Zaubermittel für die Krankheit (üttvou

GeXyriTpov emKoupov

vöctou) und die mit ihm

kommende Göttin Lethe, die das Unglück vergessen macht (Af|9r| twv xaKiäv). Elektra kümmert sich gleich um den Kranken, richtet ihn auf, wischt ihm den Schaum ab, der von seinem letzten Anfall noch an Mund und Augen haftet,164 legt ihn dann wieder ins Bett, da er sich ge-

160 E. Or. 36-38: tö ppTpös 6' alpd vtv TpoxpXaTet / paviaiaiv 6vopd£eiv yäp alSoüpaL 0eäs / eüpevlSas, a'i töv8’ efjapLXXövTai cj)6ßw. 161 E. Or. 83-85: eyw pev öuttvos ndpeSpos äGXiw veKpö / — veKpös yäp outos oüveKa CTglKpäs TTVOpS - / 0ClCTCTü).

162 E. Or. 4t: (ektov t66’ ppap) öv oirre orra 8iä Sepps e8e£aTÖ. 187-189: Xo. OpoeL tls KaKÜv TeXeirrä pevewHX. 0avetv oßoü, vlkwu ttoXi); siehe oben S. 119. 172 Siehe oben S. 105f. 173 E. Or. 277ff. tl xpf|p' aXtiio, TTveüp' aveis eK nXeupövtüv; ttol ttoI tto0' pXäpeaGa 8epvlüjv aTTO; 6K KVßdtTOJV yap auGi? av yaXiju' opö. Vgl. Hp. Flat. 14.7 (VI 114 L.): Bei der heiligen Krankheit, die sich der Autor durch Verstopfungen des Bluts in den Adern durch eindringende Luft erklärt, geht "der Sturm" zu Ende, wenn der durch die Anstren¬ gungen des Kranken erwärmte Körper auch das Blut in den Adern und die in sie einge¬ drungene Luft erwärmt, worauf diese sich auflöst und damit auch die Ansammlung des Blutes auflöst, indem sie zum Teil zusammen mit dem Atem, zum Teil mit dem Phlegma hinausgeht, so dass schliesslich "Meeresstille" im Körper entsteht: FLote ovv TTauovTcu TTi? VO0CTOU Kai TOÜ napeoarog yetyuwwg- oi imö toütou toü voCTfjpayos aXiaKÖpevot, eyb cßpotcjtjj. ’OTTÖTav yupvacrGev üttö töv ttövcov to aöpa GeppavGrp GeppatveTai Kai tö aipa- tö 8e aipa 8ta0eppav0ev ei;e0epprive tös 4>ücras- airrai 8e 5ia0eppav0elcjai SiaXuovrai Kai 8taXüouai tt]v mJOTaaiv toü aipaTog, ai pev awefkXGoüaaL peTÖ toü TrveüpaTOS, ai 8e peTa toCi cfXeypaTO?- ... Kai yaArjvrjg ev tö crbpaTt yevopeuti?, TTCTrauTai tö vöappa. Zur Datierung und Verfasserschaft (vielleicht sogar Hippokrates selbst) von flepi cfucröv siehe Teil III Anm. 169.

138

Teil II

ihm Betrübnis (Xuttti), Wahnsinnsanfälle

(paviai) und Visionen

(4>au-

Tacr|iaTa) der Erinyen, "der drei der Nacht gleichen Frauen" beschere.174 Dass sich Euripides bei seiner Darstellung von Orestes' Wahnsinn von der Wirklichkeit oder vielmehr den Beobachtungen der zeitgenös¬ sischen Ärzte inspirieren liess, lässt sich aus einem Vergleich mit der im CH überlieferten medizinischen Schrift Elepi TrapBevitjjv ersehen, die von Jouanna ins 4. Jh.v.Chr. datiert wird.175 Der Autor spricht da über die sogenannte heilige Krankheit und über die durch Schlagfanfall Gelähmten und über die Ängste, durch die die Menschen sich (so) heftig fürchten, dass sie wahnsinnig werden und irgendwelche gegen sie zürnende 'Daimones' zu sehen glauben, bald nachts, bald bei Tag, bald zu beiden Tageszeiten. In der Folge ha¬ ben sich wegen einer solchen Vision schon viele erhängt, aber mehr Frauen als Männer.176 Er meint darauf, insbesondere Jungfrauen im heiratsfähigen Alter sei¬ en von dieser Krankheit befallen, und erklärt sie sich bei diesen mit einem Übermass an Blut wegen Speise und Körperwuchs, das bei ge¬ schlossenem Gebärmuttermund keinen Ausfluss aus dem Körper hat und darum ins Herz und Zwerchfell fliesst, diese Organe anfüllt und betäubt (egGjpojSri),

worauf

sich

Lähmung

(udpKT])

und

schliesslich

Wahnsinn (-napduoia) einstelle. Er meint, dass das Blut aus Herz und Zwerchfell nur langsam abfliesse, weil die Adern quer verlaufen und die Körperstelle für Wahnsinn anfällig (es Te TTapacj)pocnjim|y Kai gaviriv eToipos) sei, und schliesslich auch Schüttelfrost und Fieber herbeiführe. Darauf versucht er, die einzelnen Symptome, die bei dieser Krankheit auftreten, zu erklären: Wegen der heftigen Entzündung ist sie wahnsinnig, wegen der Fäulnis ist sie mordgierig (cfouä), wegen der Dunkelheit fürchtet sie sich und hat Angst, wegen des Druckes ums Herz vollziehen sie die Erhängung, wegen der Schlechtigkeit des Blutes ist das Gemüt ausser sich und ängstlich und zieht Schlechtes an. Und (die Kranke) nennt des weiteren auch furchtbare (Erscheinungen); (diese) heissen sie zu springen und in Brunnen zu fallen und sich zu erhängen... Wenn sie ohne Visi-

174 Auf Menelaos' Frage E . Or. 395: tls er’ dTroXXuorv vöctos; antwortet Orestes (E. Or. 396): f] crweaLs, ötl ctuvolSü 8elv' eipyaagevos, und präzisiert dann E. Or. 398ff.: Aüttti gdXiord y’ f) 8ia4>6eipoi>crä ge... gaviai Te, gTiTpös aigaTO? TigtopiaL. Und wie Menelaos weiterfragt (E. Or. 407): tfavracrgdTiuv 8e (v.l. 0Tepqai Tf)cjLy wpi^aiy eneiTa dnö Trjs ToiaÜTrig ödno? ttoXXoI fiSn aTTT1'yX0,yLcrÖr]aay1 TrXeoye^ 8e yuyaiKe^ r\ avöpes.

139

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

onen ist, stellt sich eine gewisse Freude ein, durch die sie nach dem Tod wie nach etwas Gutem verlangt.1 ' Als Therapie stiften die Mädchen der Artemis Weihgeschenke, unter vielen anderen die kostbarsten Kleider, auf Geheiss von Sehern, von denen sie, wie der Arzt meint, betrogen werden. Schwer zu sagen, ob sein eigener, von Sexismus geprägter Therapievorschlag an die Jung¬ frauen erfolgversprechender war, möglichst schnell mit Männern Geschlechtsverkehr zu treiben. Wenn sie nämlich schwanger werden, werden sie gesund.1'8 Wenn wir die Krankheitssymptome betrachten - Wahnsinn (-napayoia, paviri, Trapacßpocrwri),

Furcht

(cßößosy 8eipaTa), Visionen

(cjjavTdapaTa)

von bösen 8aipoves, die sie springen heissen und die Kranken bedro¬ hen und zu vernichten wünschen, Mordgier (cßovci), so findet man bei diesen Kranken fast die gleichen Symptome wie beim Wahnsinn

des

euripideischen Orestes, wenngleich die Krankheit der Patientinnen der medizinischen Schrift im Unterschied zu derjenigen Orests nicht auf einem Mord beruht. Grosse Ähnlichkeiten

weist Orestes' Krankheitsbild auch mit

der

zweiten Art der "dicken Krankheit" auf, welche in der hippokratischen Schrift Flepi tGv cvtos- ttoiBüju (Int. 48, VII 284ff.L) beschrieben wird, die Jouanna (A. S. 513) in die Jahre 400-390 v. Chr., also ungefähr in die Entstehungszeit des Orestes, datiert: Die innere Ursache der Krankheit ist somatischer Natur: ein Gallefluss in die Leber und in den Kopf; die äussere, auslösende Ursache ist psychischer Art: Diese Krankheit befällt (einen) besonders bei einem Aufenthalt in der Fremde und wenn (jemand) irgendwo auf einem einsamen Weg geht und ihn Frucht ergreift. Die Krankheit

beginnt mit

intermittierenden,

bald heftigeren,

bald

schwächeren physischen Beschwerden: Anschwellen der Leber, die sich gegen das Zwerchfell

(cßpeves)

ausdehnt,

Kopfschmerzen,

Hör- und

Sehbeschwerden, Lieber und Fieberschauer. Im zweiten Stadium ver¬ schlimmern sich die Beschwerden, der Kranke sieht nichts mehr und beginnt die Wollflocken von seinem Gewände wegzunehmen

(nach

Prog. 4, II 120 L. ein schlechtes und tödliches Zeichen). Im dritten Sta177 Hp. Virg. VIII 468 L: uttö pev Tfjs öi;uXeypacriTis palveTaL, uttö 8e tt)s airrTeSovos ovä, uttö 8e toü öÄepoü c^oßeeTaL Kai 8e5ouoßcpä övopa£cc Kai kcXcuoucxiv aXXeaGai kql kütctttitttciv cs to cf>peaTa Kal äyxea9aL...- ökötc 8e äveu cj>avTacjpäTiuv, f)8ovi| tis, acß' ns epä toü GavÖTOu öctttcp tivos aya0oü. 178 Hp. Virg. III 468 L: KeXeüiü 8' eywye tqs TrapGevous, ökötov tö toloutov TTaaxüXTLv,

ÖS töxlotq ^uvoLKfjcrai dvSpdaw pv yap kut)crüctiv, üyiees yivovTai.

140

Teil II

dium tritt dann der Wahnsinn

ein, wenn sich die Leber noch mehr

gegen die (offenbar als Zentrum des Denkens gedachten) peves‘ aus¬ dehnt. Hierbei unterscheidet der Autor wie Euripides zwischen den drei alternierenden Phasen Wahnsinn - Schlaf - volles Bewusstsein, und der Wahnsinn des Kranken äussert sich ebenso wie beim Tragiker in Visionen von Ungeheuern, mit denen der Kranke zu kämpfen ver¬ sucht, wobei er die sich ihm in den Weg Stellenden bedroht: Und wenn die Leber noch mehr sich gegen das Zwerchfell ausbreitet, wird er wahnsinnig (/rrapacfpoiAei). Und es scheint ihm, als ob vor seinen Augen Reptilien (!) und mannigfache andere Ungeheuer und kämpfende Hopliten auftauchen, und er selbst glaubt mit ihnen zu kämpfen. Er spricht, als ob er solche Dinge sieht und geht auf sie los und droht, wenn jemand ihn nicht hinausgehen lässt; und wenn er aufsteht, kann er die Beine nicht emporheben, sondern fällt hin... Und wenn er schläft (ÖTan Ka9eu5i]), springt er aus dem Schlaf auf und fürchtet sich, wenn er fürchterliche Traumbilder sieht.... Manchmal aber liegt er sprachlos den ganzen Tag und die Nacht da, wobei er häufig, stark atmet. Wenn er aber aufgehört hat mit dem Wahnsinn (ÖTac 8e ttciijot|tc(l TrapacfpoWoO, kommt er sogleich zu Bewusst¬ sein, und wenn ihn jemand fragt, antwortet er richtig und versteht alles, was ge¬ sagt wird. Wenig später dann liegt er wiederum in denselben Schmerzen.

Als Therapie verschreibt der Autor interessanterweise als erstes eine Reinigung mit schwarzer Nieswurz (siehe unten Kap. 1.2.2.2 mit Anm. 240). Die Szene urimittelbar nach Orests Wahnsinnsanfall (E. Or. 280-315) ist eine Umkehr der vorhergehenen Szenen: Orestes geht es nun bes¬ ser, dafür wird nun der Blick auf seine Schwester gelenkt, die auch krank ist, da sie durch ihre Zustimmung Und wie zuvor

zum Mord mitbefleckt ist.

Orestes in Decken gehüllt weinte und von

seiner

Schwester zärtlich gepflegt wurde, so sehen wir nun Elektra in Decken gehüllt und weinend von ihrem Bruder umsorgt werden. Er schämt sich, dass er ihr mit seiner Krankheit zur Last fällt und sie sich seiner kökq wegen abhärmt, obwohl doch er den Muttermord

begangen, sie

nur die Zustimmung dazu gegeben hat. Und dann klagt er Loxias an, der mich zu dieser höchst gottlosen Tat angetrieben hat und mit Worten erheiter¬ te, doch mit Taten nicht. Ich glaube, dass mein Vater, wenn ich Auge in Auge ihn ausgefragt hätte, ob ich die Mutter töten müsse, viele Bitten an meinem Knie aus¬ gebreitet hätte, niemals zur Schlachtung der Mutter das Schwert zu zücken, wenn jener das Licht nicht wiederherstellen, doch ich Armer solches Unheil bestehen sollte.179

Ein Anflug der Reue, wenngleich diese weniger auf der Einsicht in die moralische Verwerflichkeit der Tat beruht als vielmehr auf der Erfah179

E. Or. 285-293.

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

141

rung ihrer verheerenden Auswirkungen auf den Mörder.180 In einer rührenden Szene fordert er darauf seine Schwester auf, ihr Haupt zu enthüllen und von ihren Tränen abzulassen. Denn in ihrer misslichen Lage seien sie auf gegenseitige Hilfe angewiesen: Wenn du mich mutlos siehst, dann hemme du das Schreckliche und Verdorbene in meinem Verstand und tröste mich. Wenn dagegen du stöhnst, dann müssen wir dasein und dir Liebes zu Gemüte führen. Denn dies sind für die Freunde schöne Hilfen. (E. Or. 296-300). Und gleich macht er sich daran, seine Worte in Tat umzusetzen, in¬ dem er seine von Schlaflosigkeit,

Fasten und Ungewaschenheit

er¬

schöpfte Schwester auffordert, im Hause sich schlafenzulegen, Speise zu sich zu nehmen und sich zu baden. Nicht schöner als in dieser Eingangspartie hätte Euripides die Lage der Geschwister darstellen können: sie sind beide krank und befleckt und bedürfen der ärztlichen Pflege und der religiösen Reinigung. Doch wie ihnen von ihrem nächsten Verwandten Menelaos und vom Volk beides verweigert wird und ihnen auch die Möglichkeit zur Verban¬ nung, ja überhaupt das Recht zu leben genommen wird, werden sie zusammen

mit ihrem mitbefleckten Freund Pylades schliesslich zu

rachesüchtigen Wiederholungstätern, die die Paranoia, dass der Mord der "bösen Mutter" auch schön ist, erst auf den Mord der "bösen Frau" par excellence und schliesslich auf alle "bösen Frauen" anwenden wol¬ len.181 Nach der vermeintlichen

Ermordung Helenas und Verschonung

des phrygischen Sklaven, "weil er weder Frau ist noch zu den Män¬ nern gehört",182 hat sich Orestes (E. Or. 1554ff.) mit Hermione als Geisel

180 Siehe Willink S. 134. 181 Zur Anspielung auf zeitgenössische Verhältnisse in Athen vgl. W. Burkert, Die Absurdität der Gewalt und das Ende der Tragödie, A&A 20, 1974, S. 97-109; Hose S. 127133 (vgl. auch M. Hose in Poetica 26, 1994, S. 233-255). Hose betont freilich zu sehr die plötzliche "Mutation der mitleiderregenden Bedrängten zum Banditentrio" und berück¬ sichtigt zu wenig den pathologischen Aspekt des Dramas, der diesem den inneren Zu¬ sammenhalt gibt. Denn die Entwicklung des Muttermörders zum Frauenmörder ist schon im ersten Teil des Dramas angelegt (siehe oben S. 136) und die Wahnsinnstaten des zweiten Teils sind die (psycho-)logische Konsequenz des im ersten Teil ausführlich geschilderten "Krankheitszustands". Vgl. Burkerts Bemerkungen zu Orestes' Befehl in V. 1618, den Palast in Brand zu stecken (loc. cit. S. 102): "Ein neuer Bühneneffekt in einer festgefahrenen Situation oder ein abermaliger Ausbruch des Wahnsinns? Man wird das Element der Bühnenwirkung nicht ausser Acht lassen dürfen und doch feststellen können, dass sich das Ende zum Anfang fügt, wie ja gerade in der Aufführung die Maske des ver¬ wilderten, von der Krankheit gezeichneten Orestes stets die gleiche bleibt. Das Wort des Chores muss nachhallen: 'das Verbrechen seinerseits - falschdenkender Männer Paranoia’." 182 E. Or. 1528.

142

Teil II

auf dem Dach verschanzt und droht Menelaos, der herbeigeeilt ist, u m Hermione "aus den Händen der mordbefleckten Männer"183 zu retten und sich an ihnen für Helenas Ermordung zu rächen, auch seine Toch¬ ter Hermione zu töten, ihr das Schwert an die Kehle haltend. Menalaos versucht, ihn auf den Wahnsinn seines Vorhabens hinzuweisen: Menelaos: Orestes: Menelaos: Orestes:

Der Muttermörder reiht Mord an Mord? Der Vaterhelfer, den du verraten hast, so dass er sterben muss. Genügte dir der schon vorhandene Mord an der Mutter nicht? Ich werde nicht aufhören, die bösen Frauen ständig zu töten.184

Nachdem Orestes' Paranoia so auf dem Höhepunkt angelangt ist, weist ihn Menelaos darauf hin, dass es für ihn keine Fluchtmöglichkeit ge¬ ben werde. Da droht Orestes, das Haus anzuzünden und Hermione am Feuer gleich mitzuschlachten, falls er nicht von den Argivern seine Rettung erwirke.185 Da fragt ihn Menelaos, ob er denn nach den Morden glaube, dass er noch irgendwo leben könne, ohne sein Umfeld zu befle¬ cken: Menelaos: Orestes: Menalaos. Orestes: Menelaos: Orestes: Menelaos: Orestes: Menelaos: Orestes:

Ist es denn gerecht, dass du noch lebst? Und dass ich über das Land herrsche. Über welches? Hier im pelasgischen Argos. Gut könntest du dann Weihwasser anrühren... Warum denn nicht? und würdest vor der Schlacht Opfer verrichten! Könntest du’s denn schön? (Ja, ) denn ich bin rein an den Händen! Aber nicht im Herzen.186

Orestes’ letzte Antwort, dass es weniger auf die äusserliche Reinheit der Hände, sondern vielmehr auf die innere Reinheit des Herzens an¬ komme, mag für einen Christen fortschrittlich anmuten, aus dem Munde eines doppelten Frauenmörders

klingt aber

paranoid und zy¬

nisch. Der Wahnsinn des mordbefleckten Orestes steigert sich schliess¬ lich so weit, dass er Menelaos' Einlenken (eyeis pe E. Or. 1617) ver¬ kennt und Elektra und Pylades befiehlt, das Haus anzuzünden. In letz¬ ter Verzweiflung ruft Menelaos die Argiver zu Hilfe:

183 E. Or. 1563 dv8pwv ck xepöo piaLcJövwv. 184 E. Or. 1587-1590. Vgl. oben Anm. 170. 185 Mit Willink S. 347 übernehme ich die Umstelllung der Verse 1608-1612 vor die Verse 1600-1607. 186 E. Or. 1600-1604: Me. rj ydp Slkcuov £fjv ae; Op. Kai KpaTelv ye yf|s. | Me. uoias; Op. ey Apyei TÖ8e tu rieXaayLKw. | Me. eü yoüv Giyois äv xepüßwv . . . Op. ti 8t) ydp oü; | Me. Kai acfayia upö Sopös KaTaßdXois. Op. ad 8 cm KaXö?; | Me. ayvös ydp eipu xGpas. Op. aXX’ od Tag 4>pevas.

143

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

Oh Land der Danaer und Bewohner des rossenährenden Argos, eilt schnell zu Hilfe mit bewaffnetem Fussel Denn dieser versucht, von eurer ganzen Stadt sein Leben zu ertrotzen, obwohl er einen unreinen Muttermord begangen hat. (E. Or. 1621 ff.) In diesem Moment der äussersten Bedrohung der Polis durch den be¬ fleckten Muttermörder kommt Apollon,

der Reiniger, zu Hilfe und

schafft Reinigung herbei: Helena hat er dem Schwert des Orestes entris¬ sen. Weit entfernt, "ein grosses Übel"

(pcya

kcikov) zu

sein, wie der

Mörder in seinem Verfolgungswahn meinte, soll die schönste Frau der Welt nach Zeus' Willen inskünfig als Göttin verehrt werden. Die Göt¬ ter haben sie nur als Mittel zur Entfesselung eines Krieges gebraucht, um die Erde von der Überbevölkerung zu befreien. Orestes selber soll zu seiner Reinigung ein Jahr im Exil auf parrhasischem Boden in Ar¬ kadien wohnen, der nach ihm Oresteion benannt wird. Dann hat er auf dem Areopag unter Anklage der Erinyen vor einem Gericht der Götter zu erscheinen, das ihn dann freisprechen wird. Dann soll er über Argos herrschen. Zudem ist es Orestes bestimmt, Hermione, an deren Kehle er gerade das Schwert hält, zu heiraten, ein Ende, das uns Modernen als absurd erscheinen mag,187 dem antiken Arzt jedoch, der den unter der Verfolgung von bösen Daimonen leidenden Jungfrauen Geschlechts¬ verkehr mit Männern als Kur verschreibt, vielleicht als gar nicht so ungeeignete Therapie erscheinen würde, um den jungfräulichen Orestes von seinem misogynen Verfolgungswahn zu befreien.

1.1.2.4. Orestes und die Choen Als Muster für einen Befleckten, piapös, erscheint Orestes im Mythos, der das Aition lieferte für das attische Choenfest, einen "Tag der Befle¬ ckung", ptapa ijpepa,188 zu dessen Sonderheiten Teilnehmer

es gehörte,

dass die

Mordbefleckten gleichgestellt schienen: sie blieben vom

Zugang zu den Heiligtümern ausgeschlossen, denn sämtliche Heilig¬ tümer ausser dem, das sonst verschlossen blieb, dem des Dionysos ev Atpvcas, waren geschlossen; sie durften keine Tischgemeinschaft pfle¬ gen, sondern sassen an getrennten Tischen und verwendeten getrennte

187 Siehe Karl Reinhardt, Die Sinneskrise bei Euripides, in: Tradition und Geist, Göttingen 1960 S. 227ff. vor allem S. 256. Zur Aufnahme von Euripides' "Orestes" in der modernen Forschung siehe J. R. Porter, Studies in Euripides' Orestes, Leiden 1994, S. 2840 und Hose S. 127f. 188 Phot, giapd fipepcr ev

toi 9 Xouctlv

AvGecrrepiüjvos- Mr|vös.

144

Weinkrüge

Teil II

zum

Wetttrinken;

und

sie

durften

nicht

miteinander

schwatzen, sondern pflegten schweigsam zu trinken.189 Orestes berichtet seiner Schwester in Euripides' Iphigenia

in Tauris,

wie er nach der Ermordung seiner Mutter von den Erinyen verfolgt und von Apollon nach Athen zur gerichtlichen Verfolgung vor dem Areopag geschickt wurde. Dort stellt er die Athener vor das Dilemma, entweder

durch

Schutzflehenden

Recht

der

zu verstossen oder sich durch die Aufnahme

Abweisung

des

Mörders

gegen

das

des

Mörders selbst zu beflecken. Durch eine List gelingt es ihnen - nach Phanodemos war es der attische König Demophon190 - , das Paradoxon zu lösen, indem sie ihn wie einen Gast aufnehmen und doch zugleich als Mordbefleckten meiden: nach der vorsorglichen Schliessung sämt¬ licher Heiligtümer191 bewirten sie ihn im gleichen Haus, doch an einem gesonderten Tisch, sie geben ihm zu essen und zu trinken, doch wech¬ seln sie mit ihm kein Wort, sie teilen mit ihm den Wein,

doch jeder

trinkt dabei aus einem gesonderten Weinkrug. Dies wurde zum Ur¬ sprung für das Choenfest: Ich kam dorhin... Zuerst nahm niemand der Gastgeber mich freiwillig auf, in der Meinung, dass ich den Göttern verhasst sei. Doch diejenigen, die Erbarmen hatten, gewährten mir Bewirtung an besonderem Tisch, obwohl wir doch im gleichen Hausgemache waren, und durch ihr Schweigen machten sie mich stumm, damit ich getrennt sei von ihrem Essen und Trinken, Und nachdem sie allen in ein eigenes Gefäss vom Bacchustrank ein gleiches Mass gefüllt hatten, vergnügten sie sich daran. Und ich wagte nicht die Gastgeber zu tadeln, sondern litt Schmerz im stillen und tat, als hätte ich es nicht auf meinem Gewis¬ sen, unter grossem Stöhnen der Mutter Mörder zu sein. Ich höre nun, dass mein Missgeschick den Athenern zum Fest geworden ist und jetzt noch der Brauch andauere, dass Pallas' Volk ein Kannengefäss in Ehren hält.192

189 Zu Verlauf und Interpretation des Choenfests siehe Burkert HN S. 239ff. Zum Ausschuss des Mörders aus dem Tempel, von Herd und Tisch und vom Gespräch: Soph. O.T. 236-243, siehe oben Anm. 145; zum Schweigen des Mörders vgl. Aisch. Eum. 276ff., 448ff. Siehe oben S. 126f; 131. Zum Ganzen siehe Parker S. 125; Wächter S. 68ff. 190 Phanodemos FGrHist 325 F 11. 191 ibid. 192 Eur. I.T. 947ff. eXÖtöv 8' cKelae . . . TTpurra gev p' ouSels | cköv e5e£a9', Ö5 0eoi5 CTju'yougevov | qi 8’ eaxov ai8ö, £evia govoTpÖTTe£d goi [ Ttapeaxov, olkwv övtcs ev ravTtp areyei, J cnyf| 8* eTeKTrjvavT' aTTocftfeyKTÖv g', Öttcü5 | SaiTÖ5 yevo[pnv TTÜpaTÖs t' oo-T-OLg öixcx, | £5 5 ayyo5 Hiov jaov auacn ßaKxioo | geTpgga nXripiuaavTes elXov n8ovni'.| «aytu ceAeycat M-€ly cei'oug ouk rj£ioi>i', | ^Xyouv 8e aiyfi kc(66kouu ouk eiöevai, I Lieya crrepqCüjv ow6K n [ir]Tpos c()oyeus. | kXucd 8’ ’AöriuaLoiai Tct^d bvoTvxf\ \ TeXeTfju y€vea0ai, kqtl

Kultisch-rituelle Reinigung von Krankheit

145

1.1.2.5. Ausserattische Reinigungen des Orestes Auch andere Orte neben Athen und Delphi wurden mit der Reinigung des Orestes in Verbindung gebracht, wobei die Mittel der Reinigung recht unterschiedlich sein konnten.1” So soll Orestes nach Pausanias in Troizen von neun Troizeniern auf einem "heiligen"

Stein vor dem Tempel der Artemis Lykeia gereinigt

worden sein: Man sagt, dass der Stein nahe dem Tempel (der Artemis Lykeia), der heilig ge¬ nannt wird, jener sei, auf dem einst neun Troizenier Orestes reinigten wegen sei¬ nes Mordes an der Mutter. (Paus. 2.31.4). Bevor die Reinigung allerdings erfolgt war, wollte den Muttermörder keiner aufnehmen,

so dass für den Befleckten eigens eine Hütte vor

dem Apollontempel, die man danach cncr|i’i) ’Opeorou nannte, errichtet wurde, in der er gesondert von den anderen bewirtet wurde. Ähnlich wie in Athen wird der Mörder also auch hier isoliert: Vor dem Apollontempel befindet sich ein Gebäude, das 'Hütte des Orestes' ge¬ nannt wird. Denn bevor er vom Blut der Mutter gereinigt war, wollte ihn kein Troizenier im Haus aufnehmen. Nachdem sie ihn nun hier untergebracht hatten, reinigten sie ihn und bewirteten ihn (hier), bis sie ihn gereinigt hatten. Auch jetzt noch speisen die Nachfahren derjenigen, die ihn gereinigt hatten, hier an bestimm¬ ten Tagen. (Paus. 2.31.8). Die Rückstände der Reinigung, zu der neben anderen KaGdpoia Wasser aus der Hippukrene verwendet wurde, wurden neben der Hütte begra¬ ben und liessen einen Lorbeerbaum, den Baum Apollons und der Rei¬ nigung, hervorspriessen: Zeichen, dass der Mörder nun entsühnt ist:194 Nachdem die Reinigungsrückstände unweit von der Hütte begraben worden wa¬ ren, soll aus ihnen ein Lorbeerbaum entsprossen sein, der auch jetzt noch bis in unsere Tage besteht, der vor dieser Hütte. Sie sollen Orest ausser mit anderen Reinigungsmitteln mit Wasser aus der Pferdequelle gereinigt haben. (Paus. 2.31.-

8f-) -

töv

vö|iov peveLv, | x°i|pe? ciyyos FlaXXddos Ti\xäv Xeöv. Zum Choenaition vgl. auch Pha-

nodemos FGrHist 325 Fll. 193 Vgl. zum Folgenden Lesky in RE XVIII, 988ff.; Delcourt S. 92ff. 1,4 Zum Lorbeer als Attribut Apollons vgl. h. Ap. 395f. öti kcv cltti]

(sc.

'AttoXXiüv)

Ar. Plut. 213 ö Ooißos cdrrös nuGiKiji' aeiaas Sacjurriv sowie seine Att¬ ribute AacjjvT^öpos (siehe RE IV 2140 s.v.) und Aa4>vmis in Syrakus (siehe Hsch. s.v.); zum Lorbeer als kathartisches Mittel vgl. Aelian var. hist. 3.1 (Apollon selbst reinigte sich mit Lorbeer im Tempetal vom Mord am Python) und die Reinigung der Milesier von der Pest mit Lorbeerzweigen durch Branchos siehe unten Anm. 273. Zum Lorbeer siehe

Xpeiov 6K &d(j)VTis...;

RE XIII 2, 1431 ff.

146

Teil II

Andere Quellen sprechen von einem Exil des Orestes in Arkadien. Pherekydes gemäss wird der Muttermörder von den Erinyen nach Parrhasia verfolgt. Er flieht ins Heiligtum der Artemis (Hiereia) und setzt sich als Schutzflehender auf den Altar. Aber die Erinyen stürmen gegen ihn an und wollen ihn töten. Doch Artemis wehrt sie ab. Seither wird auch diese Stadt Oresteion genannt von Orestes her. Gemäss Asklepiades soll Orestes dort durch einen Schlangenbiss ge¬ storben sein.'95 Interessant ist auch der Bericht des Pausanias (8,34,lff.), der Orestes mit Megalopolis verbindet. In der Nähe der Stadt ist ein Heiligtum der Göttinnen Maiden, nach Pausanias ein Zuname der Eumeniden: Und ebenda soll Orestes nach der Ermordung seiner Mutter einen Wahnsinnsan¬ fall gehabt haben (gavrjvai). Nicht weit vom Heiligtum ist ein riesiger Erdhügel, der als Denkmal einen aus Stein gefertigten Finger hat, und daher hat der Hügel den Namen Tingerdenkmal' (AaKTiAou puppa). Hier, so sagt man, habe Orestes sich in seinem Wahnsinn einen Finger von der einen Hand abgebissen. An diesen angrenzend befindet sich eine andere Stelle, die 'Heilstätte' ("Akt]) genannt wird, weil an ihr dem Orestes die Heilung von der Krankheit zuteil wurde. Auch da ist den Eumeniden ein Heiligtum errichtet. Diese Göttinnen sollen, als sie im Begriff waren, Orestes wahnsinnig zu machen, ihm schwarz erschienen sein; als er jedoch den Finger abgebissen habe, schienen dieselben ihm weiss zu sein und er habe gleich nach ihrer Sichtung den Verstand wiedererlangt, und so brachte er den ersteren ein chthonisches Opfer dar und wendete so ihren Zorn ab, den weissen da¬ gegen brachte er olympische Opfer dar. Zusammen mit ihnen soll er auch den Chariten geopfert haben. Neben dem Ort 'Heilstätte' befindet sich ein anderes Heiligtum, 'Scherstätte' (Koupetov) genannt, weil sich Orestes dort das Haar ge¬ schert hatte, nachdem er wieder zu sich gekommen war. Psychologisch kann man das Abschneiden des Fingers als symbolischen Akt der Selbstkastration deuten, der die Verfolgerinnen besänftigen soll; jedenfalls aber ist es, genauso wie das Abscheren der Haare,196 ein Akt der Selbstverstümmelung, der als Sühnopfer dient.197 Da die Göt¬ tinnen nach diesem Opfer statt schwarz weiss erscheinen, scheinen durch es nicht nur der Mörder, sondern auch die ihn verfolgenden Göttinnen einer Reinigung unterzogen zu werden, die dann durch die 195 Pherekydes FrGrHist 3 F135 = Asklepiades FGrHist 12 F 25. Von einem Exil in Parrhasia spricht auch Eur. Or. 1643ff., allerdings nur für ein Jahr vor der Anklage am Areopag in Athen, siehe oben S. 143. 1% Das Haaropfer ist auch als rite de passage erklärbar, das den Einschnitt ins bis¬ herige Leben, den Übergang in einen neuen Status markiert, pflegten doch die Jünglinge und Mädchen beim Eintritt ins Erwachsenenalter ihr Haar zu scheren und einer Gottheit zu weihen. Siehe Burkert GR S. 120f. 197 So Delcourt S. 94.

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Abfolge von chthonischem und olympischem Opfer noch markiert wird.198 Bemerkenswert ist auch der Bericht des Pausanias (3,22,1) über einen "unbehauenen Stein" bei Gythion: Man sagt, Orestes sei, als er sich auf ihn gesetzt habe, von seinem Wahnsinn ge¬ heilt worden. Darum wurde der Stein in dorischem Dialekt Zeus Kcnrnoimxs, der Herunter gefallene Zeus,199 genannt.

Hier handelt es sich offensichtlich um einen Stein, den man für einen Meteoritstein hielt und dem man daher göttliche Kraft und eine reini¬ gende und heilende Wirkung zuschrieb.200 Orestes wird auch mit einem Heiligtum der Eumeniden in der achäischen Stadt Keryneia in Verbindung gebracht. Dieses soll Orestes gegründet haben. Wenn jemand, der mit Blutschuld oder mit einer anderen Befleckung behaftet oder auch ein Religionsfrevler ist, hier eintritt und es betrachten will, soll er sogleich vor Schrecken wahnsinnig werden. Und deshalb ist nicht allen und nicht ohne weiteres der Eintritt erlaubt. (Paus. 7.25.7).

So ist verständlich, dass dieses Heiligtum als Gründung des Orestes ausgegeben wurde: Denn hier sollen ihm die Eumeniden wohlgesinnt (eugeueTs') geworden sein, nachdem er bei den Athe¬ nern im Prozess freigesprochen wurde und ihnen ein schwarzes Schaf geopfert hatte. (Schol. Soph. Oed. Col. 42).

Schliesslich soll Orestes nach Strabon XII 2.3 p. 535 im kappadokischen Komana den Kult der Ma, die mit der Artemis Tauropolos gleichge¬ setzt wurde, begründet haben und sich dabei - offenbar wiederum zur Sühnung - das Haar (kÖ|xt|) abgeschnitten haben, woher der Name Kopava stamme: Diesen Kult scheint Orestes zusammen mit seiner Schwester Iphigenia aus dem Taurischen Skythien hierher gebracht zu haben, den der Artemis Tauropolos, und

198 Etwas ähnliches findet sich in der Lex Sacra von Selinus Kolumne A, Zeile lOff. wo erst den TpLTOTraTpeüai als piapois ein reinigendes Opferritual "wie für die Heroen" (Weinlibation durchs Dach, Verbrennen des 9. Teils eines Opfertiers, Besprengung und Ölung) zuteil wird, ehe ihnen als KaGapoI? Opfer "wie für die Götter" (Opfer eines aus¬ gewachsenen Schafes, Libation mit peXitcpaTov sowie GeojjevLa) dargebracht werden, siehe Jameson S. 53, 62ff. 199 Zur Etymologie siehe Frisk s.v. Kcrnwra^. 200 Siehe Nilsson G.G.R. S. 201f. Zu Steinen mit reinigender Kraft sind auch der "heilige" Stein vor dem Tempel der Artemis Lykeia, auf dem Orest gereinigt worden sein soll (Paus. 2.31.4, siehe oben S. 145) sowie das AoktüXou pvfjga bei Megalopolis, bei dem sich Orestes den Finger abgebissen haben soll (Paus. 8.34.2), zu rechnen; siehe Nils¬ son G.G.R. S. 202 Anm. 9.

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hier soll er auch das Trauerhaar entfernt haben, von welchem die Stadt ihren Namen hat.

Andere Quellen berichten von Reinigungen des Orestes mit Flusswas¬ ser an verschiedenen Orten: So soll nach Aelius Lambrinus (Elag. 7.7) Orestes das Bild der Arte¬ mis aus dem Taurerland nach dem syrischen Laodikeia gebracht haben (von dem Pausanias 3.16.8 freilich meint, dass es das Bild von Brauron sei, das die Perser als Beute nach Susa deportiert hätten und später Seuleukos als Geschenk nach Laodikeia habe schaffen lassen) und "nach¬ dem er sich beim Ort 'Drei Flüsse' am Hebros gemäss einem Orakel¬ spruch gereinigt hatte", die Stadt Oreste gegründet haben. Ebenso soll Orestes durch ein Flussbad in Rhegion Heilung gefun¬ den haben: Als Orestes das Kultbild der Artemis von den Taurem aus Skythien wegbrachte, wurde ihm ein Orakel verkündigt, sich in sieben Flüssen, die aus einer Quelle fliessen, zu waschen. Der aber ging nach Rhegion in Italien und wusch sich die Befleckung in den sogenannten durchgehenden Flüssen' ab" (Proleg. zu Theokr. p.2 Wendel).

Cato (Orig. III fr. 71 Pet.) weiss ausserdem zu berichten, dass Orestes auch die Tatwaffe dort an einem Baum habe hängen lassen: Und die Zeit liegt nicht lange zurück, als man an einem Baum ein Schwert sah, das Orestes beim Weggehen zurückgelassen haben soll.

Ein simples Wortspiel mit gavla verbindet Orestes mit dem kilikischen Gebirge Amanon, das einst MeXaimov hiess, aber, seit Orestes dort von seinem Wahnsinn (pauia) befreit wurde,” Apauor genannt wurde" (Schob Lyk. 1374, vgl. Steph. Byz. s.v.” Apavov).

Bei all diesen Berichten ist die Datierung umstritten. Einzelne können ins 6. Jh. zurückgehen, es ist jedoch auch möglich, dass diese Lokalkul¬ te erst nachträglich mit der berühmt gewordenen Orestessage in Ver¬ bindung gebracht wurden.201 In jedem Fall ist erstaunlich, dass sich so

201 Parker S. 386 hält es für möglich, dass die Berichte über Orestes' Heilung in Troizen (Paus. 2.31.4ff.), Gythion (Paus. 3.22.1) und bei Megalopolis (Paus. 8.34.lff.) ins 6. Jh. zurückgehen. Dagegen glaubt Lesky RE in RE 988ff., dass diese Lokalkulte ebenso wie die übrigen oben angeführten Kulte erst nachträglich mit der berühmt gewordenen Orestessage in Verbindung gebracht wurden. Dasselbe glauben Jost S. 528 vom Kult der Mairicu bei Megalopolis bei Paus. 8.34.lff. und Delcourt S. 93 vom Artemiskult bei Oresteion bei Pherekydes FGrHist 3 F 135 (wobei freilich im letzteren Fall die Verbin¬ dung mit der Orestessage früh erfolgt sein muss).

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viele Kulte auf den Muttermörder Orestes zurückführten und dass im Gegensatz zu Aischylos' Eumeniden - dessen Reinigung überall gelang: Orestes ist das Exempel der gelungenen Reinigung. Bemer¬ kenswert sind auch die Mittel der Reinigung. Interessanterweise erfah¬ ren wir nirgends von einer Reinigung mit Ferkelblut, statt dessen er¬ scheinen Wasser, Steine mit reinigender Kraft, Haaropfer, ein Finger¬ opfer, ein nicht näher definiertes chthonisches und olympisches Opfer, ein Opfer eines schwarzen Schafes oder einfach Exilierung als Mittel der Reinigung. Ebenso ist interessant, dass als helfende Gottheit nicht nur Apollon, sondern auch Zeus und Artemis auftreten.202

1.2. Melampus, das mythische Exempel für den Kaöaprris' Als mythisches Vorbild für den Reinigungspriester (Ka0apTf)s'), der mit religiösen Mitteln von Krankheiten, speziell von Geisteskrankhei¬ ten reinigt, kann Melampus gelten. Die verschiedensten Arten von Heilmethoden und Reinigungstechniken sind unter seinem Namen überliefert.203 Es sollen hier nicht die verschiedenen Fassungen des Mythos bzw. die tatsächlichen Rituale und Kultgebräuche, die sie widerspiegeln, re¬ konstruiert werden, sondern nur die Heilmethoden festgehalten wer¬ den, welche Melampus im Mythos zugeschrieben werden.

1.2.1. Melampus bei Hesiod, Bakchylides, Pherekydes: Heilung durch Seherkunst? Grosse Unsicherheit besteht darüber, wie Hesiod den Proitidenmythos verarbeitet hat. Umstritten ist vor allem, ob in den Katalogen Hera oder Dionysos oder beide Gottheiten Sender des Wahnsinns waren oder ob Hera nur in den Katalogen, Dionysos dagegen in der Melampodie.204 202 Zeus als Reiniger vom Mord auch in Selinus und bei A.R. 4.708f. s. oben Kap. I 3.2.2, vgl. Parker S. 139. Artemis als Heilerin auch in Hp. Virg. VIII 468 L (siehe oben S. 139) sowie unten Anm. 209 mit zugehörigem Text. 203 Zu den verschiedenen Fassungen des Mythos siehe L. Preller, Griechische Mytho¬ logie, 4. Auflage von C. Robert, Bd. 2, 1. Buch, Berlin 1920 S. 246-253; G. Radke, Proitides, RE XXIII,1,117-125. Zu den Ritualen, die der Mythos widerspiegelt, siehe Burkert HN S. 189-200. 204 Die Problematik wird bei M. West, The Hesiodic Catalogue of Women, Oxford 1985, S. 78f. in prägnanter Weise dargelegt. Dionysos als Sender des Wahnsinns in der

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Hesiod scheint in den Katalogen zweimal auf den Proitidenmythos Bezug zu nehmen: einmal streift er ihn nur kurz (Fr. 37), das andere Mal scheint er ihn ausführlicher darzustellen (Fr. 129-133). Aus Fr. 37 geht soviel hervor, dass Proitos den beiden Brüdern Bias und Melampus ein Landteil (kXt)pov) als Anteil gab, weil letzterer ihm die Töchter "kraft seiner Seherkunst geheilt hatte" (gavToenjvgs irjcraT’}, als Hera (?) in ihnen zürnend "umherschweifenden Wahnsinn erregt hatte" (f|Xocruvr|v ever)Ke). Im Papyrusfragment 129 fehlen leider genau die Zeilen, wo Hesiod näher auf den Proitidenmythos eingegangen sein muss. Nur noch der Beginn der Geschichte, die Heirat des Proitos mit Stheneboia und die Geburt der drei Töchter [Lysippe, Iphi]noe und Iphianassa, sind auf dem Papyrus erkenntlich.205 Die Fortsetzung müssen wir aus der Tradi¬ tion erschliessen. Da sind uns vier Verse überliefert, die die in Fr. 37 angedeutete f)Xocn3vr|, mit der sie bestraft worden sind, weiter ausmalen: Um ihrer hässlichen Lüsternheit willen vernichtete sie (?)

die zarte Jugendblüte

(Hes. Fr. 132). - Und sie (?) goss ihnen schrecklichen Aussatz (kvuo? aivöv) über ihre Häupter. Denn weisser Schorf (dXcjxis) bedeckte die ganze Haut, und die Haare fielen vom Kopf, und die schönen Häupter wurden kahl. (Hes. Fr. 133).

Wie wir uns die Heilung durch Melampus, die wohl im folgenden aus¬ führlicher geschildert worden ist, im einzelnen vorzustellen haben, bleibt unklar. Soviel aus dem Fr. 37 zu erkennen ist, scheint sie vor allem durch eine mantische Leistung (gcmTocrwi^) des Helden zustan¬ degekommen zu sein. Melampus1 Rolle wäre demnach ähnlich zu se¬ hen wie diejenige des Kalchas im ersten Buch der Ilias: Er diagnosti¬ zierte den Grund der Krankheit und gab die angemessenen Massnah¬ men zu ihrer Heilung an.206 Damit hätte er sich als der pavTis apwcov, wie Homer ihn nennt, bestätigt, der zurecht das ihm offenbar von He¬ siod zugewiesene Prädikat cjuXTaTos- töv tu 'AttöXXgjvi verdient.207 Bei Bakchylides, in seinem Epinikion auf Alexidamos aus Metapont, der als Knabe in Delphi siegte, kommt Melampus nicht vor,208 sondern es tritt eine Göttin an die Stelle des menschlichen Heilers: Wie bei Orestes Apollon, der Gott der Reinheit und der Epheben, als Heiler vom Wahnsinn auftritt, so ist es nun folgerichtig seine Schwester Artemis,

Melampodie nehmen u.a. I. Löffler, Die Melampodie, Meisenheim 1963, S. 38f., sowie Burkert HN S. 191 an. 205 Die fehlenden Namen der Töchter sind aus Apollod. 2.2.2.1.(= 2.26) ergänzt. So sieht Parker S. 209 die Rolle des Melampus bei Hesiod. 207 Od. 11.291; Schob Ap. Rhod. 1.118-121 = Hes. Fr. 261. Siehe Rohde Bd. II S. 52 Anm. 2. 208 Bakchylides 11. 40-112.

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die Göttin der Reinheit und Beschützerin der Jungfrauen, die die Mäd¬ chen von ihrem Wahnsinn heilt.209 Bei Bakchylides erregt Hera den Wahnsinn in den Mädchen, weil sie den Reichtum ihres Vaters für grösser gehalten hatten als denjenigen der Göttin in ihrem Tempel. Die Heilung erfolgt nach dreizehnmonatigem Umherirren an der Lusosquelle in Arkadien, wo Artemis das Gebet des Proitos, der sich zuvor in der Quelle gewaschen hatte, erhört, Hera überredet und den Wahnsinn der Mädchen beendigt: Diese errichteten ihr sogleich ein Heiligtum und einen Altar, benetzten ihn mit Lämmerblut und stifteten Chöre von Frauen. (Bakchylides 11.110-2).

Das Heiligtum der Artemis Hemera in Lusoi, das die Proitiden gestiftet haben sollen, ist vor gut 100 Jahren in einer traumhaften Bergland¬ schaft, nahe des heute fast ausgestorbenen Ruinendorfes Aouctikö, eini¬ ge Kilometer südlich von KaToj Aouaoi, ausgegraben worden.210 In dem unter dem Namen des Pherekydes stehenden Bericht im Schob MV Hom. Od. 15.225 (= FGrHist 3 F 114) wird dieselbe Ursache des Wahnsinns der Proitiden wie bei Bakchylides genannt, doch erfolgt die Heilung durch Melampus, der auch sonst viel Wunderbares durch seine Seherkunst bewirkt haben soll (tToXXd pee Kai akka 8ta tt)? pavtlkt)s Tepdaria e-rroir|CTev'): Auf das Versprechen des Proitos hin, ihm einen Teil seines Königreiches und eine Tochter zur Frau zu geben, heilte Melampus die Krankheit, indem er Hera durch Bitten und Opfer besänftigte

(idaaTo tt|v vocrou MeXagTrous 8ia tc LKeaiöv Kai Ouaiöv Tijv "Hpav geLXL^dgevos).

Die Rolle des Melampus kann nun auf zwei verschiedene Arten ver¬ standen werden: Entweder fand er als Seher (pcums) die Ursache der Krankheit heraus und unternahm als Priester gerade auch die nötigen Massnahmen zu deren Beseitigung (Bittgänge und Versöhnungsopfer an Hera),211 oder er betätigte sich wie Kalchas nur als gdvTts, der den Grund der Krankheit und die nötigen Massnahmen zur Heilung an¬ gab, ohne selbst rituell tätig zu werden.212 Die Formulierung des Textes (LdaaTO...8Ld...0uaiüJv) macht freilich die erste Auffassung wahrscheinli¬ cher.

209 Zu Artemis als Göttin der Reinheit und der Jungfrauen sowie als Heilgöttin siehe Jost S. 418ff.; vgl. oben Anm. 202. 210 Siehe Jost S. 46ff. 211 So Radke RE XXIII, 1, 120. Zu Necria als "Bittgang" siehe Burkert G.R. S. 126. 212 So Parker S. 209 Anm. 14.

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1.2.2. Melampus als Ka0aprf|g In jedem Falle als pdimg und Ka0ap-rf|s in Personalunion, also als praktizierender LaTpögavTis, erscheint Melampus in Schol. Pind. Nem. 9. 30 b: IlpoTTOs eßacjLXeucre toü "Apyous, TÖy GuyaTepojy 8e auToi) payeiadiy MeXdpnmis ßduTLq tau uapeyeyeTO' 6poXoyr|0eyTos 8e aimjj piaGoü twv Suely pepoy Trjs ßaaiXeias, exdOripeu airrdg. Proitos herrrschte über Argos. Als seine Töchter wahnsinnig wurden, kam Me¬ lampus hinzu, da er Seher war. Als ihm zwei Drittel des Königreiches versprochen worden waren, reinigte er sie.

Leider wird aus dem Text weder klar, wer den Wahnsinn der Töchter erregt hat, noch wie Melampus als KaGapTfjs aufgetreten ist.

1.2.2.1. Melampus bei Apollodoros u.a.: Reinigung durch dionysische Katharsis und Reinigung durch Blut. In dieselbe Richtung geht der Bericht des Apollodoros,2'3 der freilich kein einheitliches Bild von Melampus vermittelt, sondern verschie¬ dene Berichte zu kompilieren scheint. Dies geht schon daraus hervor, dass er als Grund für den Wahnsinn der Proitiden entweder - sich auf Hesiod berufend - die Ablehnung der Weihen (TeXeTou) des Dionysos nennt oder - sich auf Akusilaos stüt¬ zend - die Verachtung des hölzernen Kultbilds (£oavov) der Hera. Melampus wird eingeführt als "Seher und Erfinder der Therapie durch Pharmaka und Reinigungen" (pavTis cjv Kai nju 8iä 4>appaKiov Kai KaGapptov Geparrciay TTparros' euppKOJs).214 Er soll, als die Töchter des Proi¬ tos wahnsinnig durch das ganze argivische Land und durch Arkadien "in gänzlicher Unordnung" (geV aKoapiag diTdar|g) streiften, ein Drittel des Königreichs für die Heilung verlangt haben, was Proitos ablehnte. Als darauf die Töchter noch wahnsinniger wurden und mit ihnen die übrigen Frauen dazu, die ihre Häuser verliessen und ihre Kinder töte¬ ten, da stimmte Proitos den Heilungsbedingungen, die Melampus in¬ zwischen um ein weiteres Drittel Land für seinen Bruder Bias erhöht hatte, zu: MeXdgirous 8e TrapaXaßtoy tous SwaTurräTous TÖjy veaviöy geT’ aXaXaygoü Kai tivos eyGeou xopeias ck TÖy öpüy airras eis XiKÜoya awe8ito£e. KaTa 8e TÖy Siwygöy f) TTpeaßuTdTTi Ttijy GuyaTepwv Icfiyor] geTf|XXa£ey Talg 8e XoiTralg Tuxouaaig KaGapgüy CTüjppoyfjaai aweßr). 213 Apollod. 2.2.2. (2.26-29). 2,4 Apollod. 2.2.2.4 (2.27).

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Da nahm Melampus die kräftigsten der Jünglinge mit sich und verfolgte sie unter Jauchzen und einem bestimmten ekstatischen Tanz von den Bergen nach Sikyon. Während der Verfolgung verstarb Iphinoe, die älteste der Töchter. Doch den an¬ deren wurden Reinigungen zuteil und sie kamen wieder zu Verstand.215

Die Heilung scheint sich in zwei Stufen zu vollziehen. Einerseits ist wohl bereits schon die Verfolgung "unter Jauchzen und einem be¬ stimmten ekstatischen Tanz" als therapeutische Massnahme zu be¬ trachten: dies ist die dionysische, homöopathische Therapie: das Heilen des dionysischen euGoucrLaapog durch dessen Steigerung mithilfe eksta¬ tischer Tänze, die Reinigung von Wahnsinn durch Wahnsinn, die sog. dionysische KctGapcn?.216 Dass Melampus diese dionysische KaGapat? vollzieht, passt natürlich zu seinem Ruf als Stifter des Dionysoskultes in Griechenland.217 Doch genügt diese homöopathische Therapie allein offenbar nicht zur Heilung; diese muss vielmehr durch spezielle KaGappot besiegelt werden. Denn Apollodor scheint mit Tuxoucrai? KaGapptav nicht auf eben diese homöopathische KaGapcrt? Bezug zu nehmen, sondern viel¬ mehr in der Verfolgung und den KaGappoi zwei verschiedene Phasen der Behandlung zu sehen.218 Worin bestanden diese KaGappoi? Am ehesten würde man wohl an ein "Reinigungsopfer" denken, das doch schon durch den Tod der Iphinoe angedeutet scheint.219 In der Tat scheint Pausanias solche Reinigungsopfer im Auge zu haben, wenn er berichtet, dass Melampus die wahnsinnigen Töchter des Proitos, die in eine Höhle oberhalb Nonakris geflohen waren, von dort "mit gehei¬ men Opfern und Reinigungen" (Gtxnats re dtTT0ppf|T0i? Kai KaGappoi?) in das Dorf, das Lusoi genannt werde, herabführte. Allerdings geschah nach Pausanias, der ja die Heilung auch nicht in Sikyon enden lässt,

215 Apollod. 2.2.27-8 (2.29). 216 Siehe Rohde Bd. II S. 50f.; Dodds S. 48ff., besonders S. 48: "Wenn ich das frühe Ritual des Dionysoskultes richtig verstehe, so war seine soziale Funktion wesentlich kathartischer Art; es reinigte -psychologisch gesehen - das Individuum von jenen anste¬ ckenden, irrationalen Triebkräften, die aufgestaut Ausbrüche eines Wahnes, der sich im Tanze äusserte, und ähnlicher Erscheinungsformen kollektiver Hysterie verursach¬ ten..." und S. 49: "Als mythisches Vorbild für diese 'homöopathische Therapie’ kann man die Geschichte des Melampus betrachten, der den dionysischen Wahnsinn der argivischen Frauen heilte 'mit Hilfe von rituellen Schreien und einer Art besessenen Tan¬ zes'." Vgl. Parker S. 212 Anm. 25. Zur dionysischen Kd0apats siehe unten Teil II Kap. 3.2. 217 Hdt. 2.49: "EXXticn yap 8ij MeXdpTious ecrri. 6 e£iyyr|crdpevos toF AiovFctou tö tc oüvopa Kat Ttjv Guctltiv Kat ti)v ttopttt]v toO cfaXXoF. 218 So schon Rohde Bd. II S. 51: " Die Heilung geschah durch eine Steigerung der dio¬ nysischen Erregung 'mit Jauchzen und begeisterten Tänzen' " (hierbei verweist er auf Apollod. 2.2.27) "und Anwendung gewisser kathartischer Mittel" (hierbei bezieht er sich auf Apollod. 2.2.2.8). 219 Siehe Burkert HN S. 193.

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die endgültige Heilung durch Artemis im Tempel, die aus diesem Grunde ApTep.ts 'HpepaciLa genannt werde. (Paus. 8.18.7f.) Hier ist also die Tradition der Heilung der Proitiden in Lusoi durch Artemis "die Bänderin", die uns Bakchylides vermittelt,220 mit derjeni¬ gen durch den Dionysospriester Melampus verbunden. Genau dieselbe Verbindung scheint auch auf dem Krater von Canicattini hergestellt zu sein, auf dem die Reinigung der Proitiden durch Melampus im Tempel der Artemis dargestellt zu sein scheint.221 In der Mitte des Bildes hält Melampus in der Linken ein Ferkel über die zu reinigende Proitide und schickt sich an, es mit einem Messer, das er in der Rechten hält, über ihr zu schlachten, damit das Blut ihr über den entblössten Körper ströme und sie vom Wahnsinn reinige. Ein Jüngling, wohl sein Bruder Bias, assistiert ihm dabei, indem er das Mädchen festhält. Links, wo eine der Schwestern - auf einem Altar sitzend und sich erschöpft an ein Mädchen, wohl eine Priesterin, leh¬ nend - bereits halb entblösst noch auf die Reinigung wartet, ist im Hin¬ tergrund eine Mänade mit Krotalen dargestellt, die somit auf den "dio¬ nysischen" Wahninn der Proitiden hinweist.222 Rechts umarmt die letzte der Schwestern, die die Reinigung bereits hinter sich hat, dankbar die Kultstatue der Artemis, sich auf eine Priesterin stützend, während eine andere Gestalt im Begriff ist, das Gewand über die Gereinigte zu ziehen. Wichtig ist, dass wir hier auf ein neues Heilverfahren für den Wahnsinn stossen: die Reinigung durch Blut, die doch auch dem Mör¬ der zuteil werden konnte, dessen befleckter Zustand sich auch in Wahnsinn manifestieren kann.223 Diese Reinigung der Proitiden in Lusoi durch Melampus wird auch in Verbindung gebracht mit einer Quelle bei Lusoi, die wohl zum hei¬ ligen Bezirk der Artemis in Lusoi gehört hat und mit der Quelle "Lu-

220 Bakchylides 11.39 'Hg)epa; ebenso übrigens auch Call. Dian. 236. Zur Übersetzung "die Bänderin" siehe R. Stiglitz, Die grossen Göttinnen Arkadien, Wien 1967, S. 102ff.; doch Widerspruch bei Jost S. 420, die im ursprünglichen Sinne der Epiklesis die faktitive Bedeutung absprechen und sie als "designation propiatoire par antiphrase" betrach¬ ten möchte. 221 Siehe G. Schneider-Herrmann, Das Geheimnis der Artemis in Etrurien, AK 13, 1970 S. 59f.; S. 67 Abb. 1 und Tafel 30.2. Weitere Abbildung: E. Langlotz / M. Hirmer, Die Kunst der Westgriechen in Sizilien und Unteritalien, München 1963, S. 24 Abb. 10. Die Darstellung als "Initiationsszene eines Mädchens in einen Mysterienkult" zu inter¬ pretieren, wie es E. Langlotz op. cit. S. 25 tut, ist wegen der Kultstatue der anwesenden Artemis nicht möglich: Parker S. 230 Anm. 134. 222 So G. Schneider-Herrmann op. cit. S. 60. Die Statuette könnte freilich auch als als Hera (mit einer Schere?) gedeutet werden. 223 Vgl. oben S. 62, 118ff., 132ff.

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sos" des Bakchylides identisch ist.224 Eudoxos von Knidos berichtet dar¬ über: Es gibt eine Quelle in der Azania, die bewirkt, dass diejenigen, welche von ihrem Wasser getrunken haben, nicht einmal den Geruch des Weines ausstehen können; in sie soll Melampus, als er die Proitiden reinigte, die Reinigungsrückstände (cittoKa0dp|iaTa) geworfen haben.22S

So nennt denn ein Epigramm, das an der aus einer Höhle fliessenden Quelle angebracht gewesen sein soll, aus denselben Gründen die Quelle uriyf) |nadp.TTeX.os\226 Vermutlich stellte man sich vor, dass diese Reinigungsrückstände von einem blutigen Reinigungsritual stammten; doch sicher ist dies nicht.

1.2.2.2. Melampus bei Theophrast u.a.: Reinigung durch "Abführung" und Nieswurztherapie Denn Melampus soll noch andere Reinigungspraktiken beherrscht ha¬ ben. Dies deutet ja auch Apollodoros an, wenn er Melampus als pai/Tig tüv Kat tt)v Siä cjtapjidKüJv Kai KaBappGv Bepaueiav Trpdrros eupriKtus' ein¬ führt (2.2.2.4 bzw. 2.27). Mit Ttjv 8ta cjtappdKwv Kai KaBappGü Gepaireiau meint er wohl weniger eine Reinigung mit Blut, an die er - wie wir vermutet haben - vielleicht weiter unten (in 2.2.2.8 bzw. 2.29) denkt, als vielmehr eine Reinigung mithilfe von Abführmitteln, also Purgie¬ rung.227 224 Siehe Stiglitz op. cit. S. 104f. 225 Eudoxos Fr. 313 (Lasserre) = Steph. Von Byzanz s.v. 'A£avia. Eudoxos gibt den ge¬ nauen Ort nicht an; alle Späteren, die darauf Bezug nehmen, lokalisieren sie in Kleitor, was eine Folge der Annexion von Lusoi an Kleitor wohl im 2. Jh. v. Chr. war, siehe Bölte, RE XIII, 1897 und 1899, dort auch die späteren Zeugnisse. Jost (S. 420ff.) dagegen, die die Annexion erst ins 1. Jh. v. Chr. verlegt (S. 46), glaubt an zwei ursprünglich von ein¬ ander verschiedene Versionen der Proitidensage in Arkadien: eine Lusoi-Version, in der die Heilung ohne Melampus durch Artemis in Lusoi erfolgt und die Bakchylides über¬ liefert, und eine Kleitor-Version, in der die Reinigung der Mädchen durch Melampus an einer Quelle bei Kleitor erfolgt, deren Wasser seither den Trinkenden den Ekel vor Wein einflösst. Vertreter dieser Version ist gemäss Jost zuerst Eudoxos und nachher Phylarchos FGRHist 81 F 63 (OiiXapyo? 8e 4>t](jiv ev KXeiTopi etvca Kpijvriv, acf>’ fj? toüs ttlovTas ouk avexecrBai Tijv toü oivou 68p.rjv). Erst Pausanias hat dann - so Jost - nach der Un¬ terwerfung von Lusoi die beiden Traditionen vereinigt und "une Version commune arcadienne" geschaffen. Problem von Josts These bleibt der Krater aus Canicattini aus dem 4. Jh. v. Chr., wo Melampus und Artemis in Lusoi klar verbunden scheinen. 226 Zum Epigramm siehe jetzt D. Page, Further Greek Epigrams, Cambridge 1981, S. 451-453. 227 So Kudlien E.G.P.M., S. 307, der die Stelle so wiedergibt: "a seer who invented a medical treetment based on drugs and purgatives". Zur Bedeutung "Purgans, Abführmit-

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Teil II

Glücklicherweise ist uns durch eine Nachricht von Theophrast (HP 9.10.4) auch überliefert, was für ein (fiapgaKon Melampus verwendet ha¬ ben soll: schwarze Nieswurz (eXXeßopos peXas). Theophrast sagt näm¬ lich: Einige (nues) nennen die schwarze (Nieswurz) eKTopof geXaguoSiov, weil dieser sie zuerst geschnitten und verwendet habe.

Dass er sie nach der Auffassung dieser Tives' zur Heilung der Proitiden verwendet hat, geht aus einer Bemerkung Galens hervor, der es als Gemeinwissen "der unter den Griechen Aufgezogenen" (tQv ev "EXXrjai TeGpappevoju) hinstellt, dass Proitos' Töchter von ihrem Wahnsinn durch Melampus mittels einer Purgierung mit weisser Nieswurz ge¬ heilt worden seien (Dass er statt der schwarzen die weisse Nieswurz nennt, wird ein Versehen sein).228 Auf dieselbe Geschichte nimmt auch Dioskurides, de materia medica 4.162 Bezug: cXXeßopos' peXa^' oi 8e MeXapiroStov... KaXoücu....€TTei8f| 8okcl MeXapnous ttoXos Tas npoiTou GryaTepas paveiaas aimp Ka0fjpai Kai GepaTreüaaL.

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Schwarze Nieswurz: Gewisse aber nennen sie Melampodion...., weil ein gewisser Ziegenhirte Melampus die Töchter des Proitos, als sie wahnsinnig waren, mit ihr gereinigt und behandelt zu haben scheint.

Der Verfasser, offenbar oük wu tis tuv ev "EXXr|crL TeGpappevojv, wird die falsche Angabe über Melampus' Beruf aus Thphr. H.P. 9.10.2 hergeleitet haben, wo steht, dass die Beobachtung der purgierenden Wirkung der weissen Nieswurz an Ziegen zur Entdeckung dieser Pflanze als raGapTiköv geführt habe.229 Es gibt also spätestens seit dem 4. Jh.v.Chr. die Version des Proitidenmythos, dass Melampus die Proitiden mit schwarzer Nieswurz ge-

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