Karl Kraus. Diener der Sprache – Meister des Ethos 3-7720-1900-5

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Karl Kraus. Diener der Sprache – Meister des Ethos
 3-7720-1900-5

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Joseph P Strelka (Hrsg.)

Karl Kraus Diener der Sprache Meister des Ethos

NUNC COGNOSCO EX PARTE

THOMAS J. BATA LIBRARY TRENT UNIVERSITY

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Karl Kraus

EDITION ORPHEUS

Beiträge zur deutschen und vergleichenden Literaturwissenschaft Herausgegeben von Joseph P. Strelka

1

Joseph P. Strelka (Hrsg.)

Karl Kraus Diener der Sprache Meister des Ethos

francke vertag

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Karl Kraus : Diener der Sprache - Meister des Ethos / Joseph P. Strelka (Hrsg.). — Tübingen : Francke, 1990 (Edition Orpheus ; 1) ISBN 3-7720-1900-5 NE: Strelka, Joseph P. [Hrsg.]; GT

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier

© 1990 • Francke Verlag GmbH Tübingen Dischingerweg 5 • D-7400 Tübingen 5 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutlingen Printed in Germany ISBN 3-7720-1900-5 ISSN 0937-1877

Inhaltsverzeichnis Joseph P. Strelka: Anstatt eines Vorworts

I.

Gattungsprobleme Klaus Weissenberger Zum Rhythmus der Lyrik von Karl Kraus. Das schöpferische Prinzip eines »Epigonen«.

19

Edward Timms Die letzten Tage der Menschheit. Documentary Drama and Apocalyptic Allegory.'39 Gerwin Marahrens Über die sprachliche Struktur und Genesis der Aphorismen von Karl Kraus.

49

Dietmar Goltschnigg Theorie und Praxis des Essays bei Theodor W. Adorno (Der Essay als Form) und Karl Kraus (Sittlichkeit und Kriminalität). Klaus Weissenberger Der Essay bei Karl Kraus im Spannungsfeld seiner produktionsästhetischen Typologie.

II. Sprach- und Stilprobleme Sander L. Gilman Karl Kraus, Oscar Wilde and the Hidden Language of the Jews.^5 Rolf Max Kully Namenspiele. Die erotische, die polemische und die poetische Verwendung der Eigennamen in den Werken von Karl Kraus 139 Sigurd Paul Scheichl Stilmittel der Pathoserregung bei Karl Kraus.167

III. Probleme der Satire Horst Jarka Zum Kraus-Echo in der Satire der Linken. Leo A. Leasing »In the Wiener Werkstätten of the Mind« The Not-So-Fine Arts in Karl Kraus’s Die Fackel .

.

.

Margarita Pazi »Es war die falsche Lanze...«, der Polemiker Karl Kraus 5

IV. Karl Kraus und andere Autoren Antonio Ribeiro Karl Kraus und Shakespeare. Die Macht des Epigonen .

.

237

James K. Lyon »Gleich und Gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze ziehen sich an«. Das dialektische Verhältnis Karl Kraus - Bertolt Brecht

.

267

Donald G. Daviau Karl Kraus and Hermann Bahr.287 Reingard Nethersole Kraus, Nietzsche, Wittgenstein.309 V.

Probleme der Karl Kraus Rezeption Harry Zohn Karl Kraus in der heutigen englischsprachigen Welt. Kritische Anmerkungen aus der Werkstatt eines Übersetzers.319 Amy Colin Karl Kraus und die Bukowina. Ein unbekanntes Kapitel in der Kraus-Rezeption.

333

Franz H. Hackel Karl Kraus und die Nachwelt. Überlegungen zur Neuedition seiner Schriften im Suhrkamp Verlag.347

6

Diener der Sprache, Meister des Ethos Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Karl Kraus

Anstatt eines Vorworts In den fünf Jahrzehnten, seit Karl Kraus verstorben ist, hat sich zumin¬ dest in einer Hinsicht kaum etwas verändert: er ist so umstritten wie eh und je, und es scheint nur Anhänger oder Gegner zu geben. Aber wenn die Gegner dazu ansetzen, durch ein Kraus-Zitat als Beleg Entrüstung und Abscheu zu erwecken, dann hat Kraus in der Regel durch seine geistreich-brillanten Formulierungen entgegen ihrer Absicht die Lacher auf seiner Seite. Und wenn ein kenntnisreicher Anhänger - wie etwa Ed¬ win Hartl in seiner Rede »Vorschau auf das Karl-Kraus-Jahr 1986«' auch die namhaftesten Gegner etwas unter die Lupe nimmt, dann erwei¬ sen sie sich als Wahrheitsverfälscher oder als kenntnislos oder als beides. Es ist durchaus nötig, eine kritische, distanzierte Stellung zu beziehen, aber dies muß an den Punkten geschehen, an denen die wirklichen Ei¬ genarten von Karl Kraus liegen. Dadurch, daß er sich keinem anderen Gesetz und keiner anderen Regel beugte als denen der Sprache, diesen aber mit vollständiger Konsequenz, wurde er zu ihrem vollkommenen Diener. Daß er diese Unterwerfung in nicht weniger konsequenter Aus¬ nahmslosigkeit in den Dienst unbestechlichen ethischen Bemühens und Wahrheitsstrebens stellte, macht ihn zu einem Meister des Ethos. Die literarischen Formen seiner satirischen Hochleistungen sind der Essay, der Aphorismus, die Gedankenlyrik und das Drama. Letzteres ist jedoch so geartet, daß weniger ein Handlungsablauf im Vordergrund steht, als daß es sich aus Dialogen zusammensetzt, welche Elemente der drei vorher genannten Gattungen verarbeiten. Die aufgewandte sprachliche Gestaltungskraft und Formkunst sind da¬ bei immer meisterhaft. Die Inhalte indessen, auf welche sie angewendet 1

Edwin Hartl, Vorschau auf das Karl-Kraus-Jahr 1986, Rede in Berlin (Ost) am 25. Okto¬ ber 1985: »Hüben und Drüben«. In: PEN Informationen 13, Jahresbericht 1985, S. 2-9.

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werden, sind in ihrer Größe und Bedeutung dieser Meisterschaft einmal mehr, einmal weniger angemessen. Gewiß, er hat von sich sagen kön¬ nen: »Die Partei der Menschenwürde habe ich nie verleugnet«, aber mit¬ unter besteht fast ein Mißverhältnis zwischen dem aufgewandten Pathos und der Großartigkeit der Formkraft einerseits und der Bedeutung des Anlasses und Gehalts andererseits. Nicht zufällig hieß eine Glossenreihe der Fackel »Kanonade auf Spatzen«. Ja, gelegentlich - wie wissenschaft¬ liche Akribie gezeigt hat - kam es sogar vor, daß Kraus unrecht hatte v Nichts indessen kann die ungewöhnliche Größe, Wahrheitsbesessen¬ heit und Gerechtigkeitsliebe verkleinern, die diesen wahrhaft unabhän¬ gigen Geist - ungeachtet gelegentlichen politischen Anschauungswech¬ sels - ausgezeichnet haben. Er hat Ernst gemacht mit seiner eigenen Ma¬ xime: »Man muß jedesmal so schreiben, als ob man zum ersten und zum letzten Male schriebe. So viel sagen, als ob’s ein Abschied wäre, und so gut, als bestände man ein Debüt.« Selten aber, glaube ich, hat Karl Kraus offener sein innerstes Wesen enthüllt als in den beiden letzten Versen seines Gedichts »Der Grund«, in denen er von sich bekannte: »Wurzelnd dort, wo ich hasse, wachse ich über die Zeit.« Nicht, daß er gerne gehaßt hätte, aber er hat gut gehaßt, und er hat das Dumme und das Böse gehaßt um des Guten willen. Er war der klassische Fall eines »pathetischen Satirikers« im Schillerschen Sinne, und sein ne¬ gatives Pathos, das Pathos dieses dem Guten zuliebe gewährten Hasses ist uns heute erträglicher als sein positives Pathos, das es auch gegeben hat. Im Wien der Jahrhundertwende, jenem Wien eines teils ästhetisierten, teils fatalistischen Hedonismus, inmitten einer Verfallskultur ohne ethi¬ sches Zentrum, erschien eines Tages plötzlich die Zeitschrift Die Fackel, zunächst größtenteils, später ganz allein von Karl Kraus verfaßt, der sich in ihr als Satiriker von solchem Unerbittlichkeitsanspruch auswies, daß das erste Quartal der Zeitschrift mit folgendem Rechenschaftsbericht schloß: Anonyme Schmähbriefe Anonyme Drohbriefe Überfälle

236 83 1

Eines ist dabei, vor allem anderen, zu verstehen wichtig: Kraus war nicht naiv genug, das abstrakte bestehende Staats- und Gesellschaftssystem 2

8

Vgl. Edward Timms, Karl Kraus, New Haven and London, 1986, S. 343.

anzugreifen und sich von der Änderung des Systems als solchem alles Heil zu erwarten. Allenfalls griff er einzelne Gesetze - zumal Sozialge¬ setze - oder einzelne Institutionen - zumal die Presse - an. Aber auch da¬ bei ging es ihm vor allem um konkrete, einzelne Individuen. Ausdrück¬ lich hat er einmal erklärt: »Ich weiß, daß es bequemer wäre, die Seiten der >Fackel< mit Pauschalan¬ klagen gegen die >Gesellschaftsordnung< zu füllen, die, wie mir erfahrene Leute versichern, für Bankenraub, Actienschwindel und Defraudation des Zeitungstempels allein verantwortlich ist. Bequemer und vor allem unge¬ fährlicher. Und ich könnte mir vielleicht sogar die ärgsten Sünder hinter je¬ ner spanischen Wand, die zu bekämpfen ohne weiteres gestattet wird, wie¬ der zu Freunden machen.«

Diese Grundhaltung hat nichts daran geändert, daß es immer wieder zu dem Mißverständnis gekommen ist, in Kraus einen entweder »links« oder einen »rechts« stehenden Kritiker zu sehen. Dabei hat er eigens ein Gedicht geschrieben, um den scheinbaren Widerspruch zu klären und um mit aller Deutlichkeit zu zeigen, daß und weshalb er in die allgemei¬ nen Klischee-Vorstellungen nicht einzuordnen ist: Mein Widerspruch Wo war Wo war Mit

Leben sie der Lüge unterjochten, ich Revolutionär. gegen Natur sie auf Normen pochten, ich Revolutionär. lebendig Leidenden hab’ ich gelitten.

Wo Freiheit sie für die Phrase nützten, war ich Reaktionär. Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten, war ich Reaktionär. Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.

Fast tausend Nummern der Fackel sind erschienen. Sie war sofort ein Er¬ folg. Die erste Nummer, zunächst eigentlich nur in einer Auflage von einigen hundert Exemplaren für die österreichische Provinz geplant, mußte in wenigen Tagen in Zehntausenden von Exemplaren nachge¬ druckt werden. Zunächst wendete sich Kraus mehr noch als gegen andere Mißstände gegen Lüge, Heuchelei und die Unterdrückung der Würde der Frau. Die ersten beiden Sammlungen seiner ausgewählten Fackel-Essays in Buch¬ form, Sittlichkeit und Kriminalität und Die chinesische Mauer, verteidi¬ gen nicht nur die unmittelbarsten Rechte der Frauen, sondern attackie¬ ren die hoffnungslos veraltete, österreichische Sexualgesetzgebung. Einer seiner bekanntesten Aphorismen in diesem Zusammenhang lau¬ tet: »Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht«, und 9

in einem für Kraus charakteristischen Wortspiel mit dem Titel »Christli¬ cher Umlaut« heißt es: »Seit die Lust aus der Welt entschwand, und die Last ihr beschieden, Lebt sie am Tag mit der Last, flieht sie des Nachts zu der List.«

Kraus bekämpfte aber in der Fackel alle Arten von Mißständen und Dummheit, und als er im Jahr 1919 eine Art rückblickender Zusam¬ menschau der behandelten Thematik gab, da schrieb er: »... mag’ ich stammelnd dereinst nicht wissen, was das Thema war. Geschlecht und Lüge, Dummheit, Übelstände, Tonfall und Phrase, Tinte, Technik, Tod, Krieg und Gesellschaft, Wucher, Politik, der Übermut der Ämter und die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist, Kunst und Natur, die Liebe und der Traum vielfacher Antrieb, sei’s woher es sei, der Schöpfung ihre Ehre zu erstatten: Und hinter allem der entsühnte Mensch, der magisch seine Sprache wiederfindet...«

Bald hatte sich als eines der zentralen Hauptziele der Angriffe von Kraus die »schwarze Magie« der Presse herausgestellt, die nach seiner Meinung den Untergang der Welt herbeizuführen begonnen hatte. Hier liegt auch einer der wesentlichsten Punkte seiner zeitlosen Aktualität, denn weder die sprachliche Ungenauigkeit, die die Lügen der Presse tarnt, noch die Art dieser Lügen selbst haben sich in der Zwischenzeit im geringsten ge¬ ändert. Mit Recht hat der Kraus-Herausgeber Heinrich Fischer darum geurteilt: Wäre der Inhalt der Fackel nur das gewesen, was sie in den ersten Jah¬ ren war, aus strenger, wahrer Sittlichkeit erwachsende Angriffe auf Übelstände und Heuchelei, sie »wäre kaum mehr als ein interessantes Kulturkuriosum geblieben. Aber ihr Verfasser entwickelte sich künstle¬ risch, sprachlich und zeitkritisch in ungeahnter Weise. Daß er unter allen Gegnern seiner Epoche den mächtigsten und den am schwersten faßba¬ ren attackierte, konnte anfangs wie eine Marotte erscheinen. Fünfzehn Jahre später war es klar - einer der ersten, die den großen Zusammen¬ hang sahen, war Theodor Haecker in seiner Schrift >Sören Kierkegaard und die Philosphie der Innerlichkeit -, daß hier eine Gemeinschaft der apokalyptischen Prophetie von Balzac und Kierkegaard zu Karl Kraus führte.« Die angegriffene »schwarze Magie« der Presse hatte sich bald auf die erfolgreichste eigene Verteidigungsstrategie geeinigt: auf das Totschwei10

gen. Aber die Fackel erschien weiter in ihrem kleinen Verlag; der große Vortragssaal, in dem Kraus seine Satiren öffentlich zu lesen begann, war bis auf den letzten Platz gefüllt, und eine zwar relativ kleine, aber erle¬ sene Gemeinde von Anhängern rezipierte nicht nur die letzte Feinheit und das letzte Detail seiner Satiren, sondern trug deren Geist auch wei¬ ter. Auch im Hinblick auf die »schwarze Magie« hat Kraus das Wesentli¬ che seiner Botschaft wiederholt in feingeschliffenen Aphorismen zusam¬ mengefaßt. Einer von ihnen besagt: »Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.«

Ein anderer bekannter Aphorismus lautet: »Je größer der Stiefel, desto größer der Absatz«

und wieder ein anderer erklärt: »Ein Feuilleton schreiben heißt, auf einer Glatze Locken drehen.«

Gleichsam als Satyrspiel am Rande, nicht völlig unabhängig von der Presse und doch nicht völlig identisch mit ihr, gibt es auch eine wohlfun¬ dierte, parallele »Razzia auf Literarhistoriker«. Kraus hat mangelndes Qualitätsbewußtsein, mangelnde Faktenkenntnis und fehlerhafte Spra¬ che kritisiert. Zum Format eines Zeitkritikers von zeitloser Größe wuchs er jedoch empor, als nach zwei Jahren sinnlos blutigen Massenmordens im Ersten Weltkrieg Presse und Politiker sich in Begeisterung für seine fortgesetzte Rechtfertigung verloren. Flier war eine Weltkatastrophe ausgebrochen, welche die Gegenstände aller vorherigen Kassandrarufe und Warnungen bei weitem übertraf und dem rückhaltlosen Vertreter von Wahrheit und Sittlichkeit ein Thema von gigantischen Ausmaßen abgab. Seit 1916 hielt Kraus Vorlesungen gegen den Krieg, seit 1916 wurde die Fackel mehrmals beschlagnahmt, und als 1919 schließlich die erste Fassung des Riesen-Dramas Die letzten Tage der Menschheit erschien, da war es ein fast unaufführbares Monster-Stück, das nicht zufällig zuerst in Sonderheften der Fackel herausgekommen war, denn es stellte die Fort¬ setzung der essayistischen Satire mit dramatischen Mitteln dar. Es war zugleich die Vorwegnahme jener Art von Dokumentations¬ drama, wie es erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Peter Weiss und Rolf Hochhuth zur allgemein geübten Gattung wurde, denn die Szenen und einzelnen Sätze der verschiedenen Rollen sind fast durchwegs Zitate aus Dokumenten, aus der Presse oder aus abgelauschten Gesprächen zu¬ sammengestellt. Lediglich die autobiographische Figur des »Nörglers« steht ebenso wie der kommentierende Chor dem mit der Schicksalsun11

entrinnbarkeit einer griechischen Tragödie abrollenden Weltuntergangs¬ geschehen gegenüber und bricht den Stab über die unzähligen Verbre¬ chen der Zeit mit der bitteren und erschütternden satirischen Schärfe von Kraus. Es war ein großer österreichischer Autor, es war Karl Kraus, der sehr früh und in einer direkteren und demaskierenderen Weise als bisher ge¬ wohnt die besondere, im Grunde »wienerische« Grundhaltung als den negativen, nein, als den negativsten Aspekt des Österreichischen be¬ schrieb, wenn er seiner Abstraktion des »Österreichischen Antlitz« am Beispiel der Hinrichtung Battistis mit Heurigenmusik als Hintergrund und dem »fidelen Scharfrichter« als Vordergrund die Worte in den Mund legt: »Aus Tod wird Tanz, aus Haß wird G’spaß, aus Not wird Pflanz, was ist denn das? Ist alles stier, is’s einerlei, denn mir san mir und a dabei. Ein guter Christ sagt: Kinder bet’s und Henker ist man nur aus Hetz.«

Aber Kraus war nicht einseitig, und sein Bekenntnis zur Menschheit war weder auf Angriffe auf österreichische Mißstände noch auf Kritik von Unterdrückungen seitens der sogenannten politischen Rechten be¬ schränkt. Im Jahr 1922 war die endgültige Fassung der Letzten Tage der Menschheit erschienen, und bereits 1924 schrieb er seine berühmt gewor¬ dene Antwort auf eine Anfrage des sowjetischen Journalisten J. Gakin. Gakin hatte Kraus ersucht, an einer Enquete teilzunehmen, die sich die Beantwortung der Frage zum Ziel gesetzt hatte, was die russische Oktoberrrevolution von 1917 für die Weltkultur geleistet hätte. Er erbat eine Antwort in zehn bis zwanzig Druckzeilen, wenn möglich mit Bild und Autogramm, die gleichzeitig in der verbreitetsten literarischen Zeit¬ schrift Russlands Krasnaja Niva veröffentlicht werden sollten. Kraus antwortete in der genauen Länge von zehn Druckzeilen folgen¬ des: »Sehr geehrter Herr Gakin: Die Auswirkungen und Folgen der russischen Revolution für die Weltkultur bestehen meiner Auffassung nach darin, daß die hervorragendsten Vertreter auf dem Gebiete der Kunst und Literatur von den Vertretern der russischen Revolution aufgefordert werden, in zehn bis zwanzig Druckzeilen, wenn möglich mit ihrem Bild und Auto-

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gramm, das gleichzeitig veröffentlicht wird, also ganz im Geiste des vorre¬ volutionären Journalismus ihre Auffassung von den Auswirkungen und Folgen der russischen Revolution für die Weltkultur bekannt zu geben, was sich manchmal tatsächlich in vorgeschriebenen zehn bis zwanzig Druckzeilen durchführen läßt.«

Als 1927 anläßlich des sogenannten Justizpalastbrandes in Wien der da¬ malige Polizeipräsident Schober den Befehl gab, die berittene Polizei möge mit Gewalt gegen die Demonstranten einschreiten, worauf es neunzig Tote und zahlreiche Schwerverletzte gegeben hatte, von denen manche gar keine Demonstranten gewesen waren, da prangten auf allen Litfaß-Säulen Wiens Plakate, auf denen nur der eine Satz stand: »Herr Polizeipräsident Schober: Ich fordere Sie auf, abzutreten: - Karl Kraus.« Der Polizeipräsident dachte nicht nur nicht daran, abzutreten, son¬ dern erwiderte die Angriffe mit anmaßender Dummheit, indem er er¬ klärte, er hätte nur seine Pflicht getan. Worauf Karl Kraus wieder einmal das Drama und Theater zur Kanzel seiner Satire machte und das Stück Die Unüberwindlichen schrieb, in dem auch das berühmt gewordene und gleichfalls zeitlos aktuelle »Schober-Lied« von der getanen Pflicht seinen Eingang fand. Die getane Pflicht sollte eine der Parade-Ausreden für die Verbrechen eines jeglichen Totalitarismus von rechts oder links werden. Viele dieser Verbrechen hat Karl Kraus nicht mehr erlebt. Wohl aber erlebte er noch den Ausbruch des »Tausendjährigen Reiches«, und hier kommen wir zu einem Punkt, an dem man ihm, dem man zeitlebens gerne Unrecht getan hat, auch nach dem Tod noch besonders bitteres Unrecht getan hat. Denn der viel und überall zitierte Ausspruch »Zu Hitler fällt mir nichts ein« hat Anlaß dazu gegeben, daß nicht nur viele Journalisten, son¬ dern auch Literarhistoriker, die seiner Razzia entronnen waren, die Behauptung aufstellten, dies sei alles, was Kraus zum Problem des Na¬ zismus zu sagen gehabt hätte, und die damit eines seiner wichtigsten Bücher als nicht-existent erklärten. Ich spreche von der Dritten Walpur¬ gisnacht. Hier finden sich unter anderen bitter-satirische Enthüllungen, etwa die folgende:

»... Denn unbezähmbar ist der Drang nach Erneuerung der Gebote, gegen den die alten nichts mehr auszurichten vermöchten; und fata-morganahaft lockt der Heiligenschein, der im Blutdurst ersteht. Daß sich die Gleich¬ schaltung von Nibelungen und Hunnen unter der Sonne vollziehen kann, verhindert sie nicht, trotz allem, was sie sieht, zu lachen. Denn der Ver¬ such, noch Tag und Nacht gleichzuschalten, kommt ihr untunlich vor, wie etwas, dem zum Hirn-Gespinst etwas fehlt...«

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Um nur noch eine weitere Stelle von den zahllosen zu zitieren, die Kraus zu Hitler eingefallen sind, sei die folgende angeführt: »...Fällt es den Deutschen nicht auf - denn den andern fällt es auf -, daß keine Nation nicht nur so häufig sich darauf beruft, daß sie eine sei, son¬ dern daß im Sprachgebrauch der ganzen Welt durch ein Jahr nicht so oft das Wort >Blut< vorkommt wie an einem Tag dieser deutschen Sender und Journale? Blut und Erde, als gäbe es so etwas nur hier. Und immer neue Begriffsbestimmungen für den Deutschen, für die Deutsche, und für das Deutsche, als wäre das alles eben erst von einer deutschen Expedition ent¬ deckt worden. Mammutknochen aus der Scholle geholt. >Der deutsche Menschder deutsche Arbeitsmenscfn, das Staatsvolk, der Reichsbürger, der dem Reichsvolk zugehört, und dergleichen mehr, womit sich der Arme keine Stulle belegt.«

Und er zitiert in seiner ironischen Manier Goethe: »Sind’s Menschenstimmen, die mein Ohr vernimmt? Wie es mir gleich im tiefsten Herzen grimmt: Gebilde, strebsam, Götter zu erreichen. Und doch verdammt, sich immer selbst zu gleichen.«

Karl Kraus starb zum Glück, ehe Österreich ein Teil Hitlerdeutschlands wurde. Obwohl er von sich einbekannte, daß er, wurzelnd da, wo er haßte, über die Zeit hinaus wuchs, so haßte er doch nur um der Verge¬ waltigung und Tötung jener Dinge willen, die er liebte. Darüber hinaus aber gibt es auch einen Karl Kraus, der nicht satirisch-kämpferisch haßt, sondern der sensibel ist, liebend, hingebungsvoll bis zum Pathos. Die wichtigste Seite, das Hauptthema seiner Liebe, ist wohl die deut¬ sche Sprache. Mitunter findet sich in der einen oder anderen Strophe sei¬ ner Lyrik ein bekenntnishafter, kondensierter Hinweis darauf. Etwa in einer der Strophen seines Gedichts »Abenteuer der Arbeit«, in der es heißt: »Das Wort trieb mit den Winden und spielt mit Wahngestalten. Im Wortspiel sind enthalten Gedanken, die mich finden.«

Oder in dem kleinen Gedicht »Die Sprache«, das nur aus einer einzigen kurzen Strophe besteht, heißt es bezeichnungsvoll: »Mit heißem Herzn und Hirne naht’ ich ihr Nacht für Nacht. Sie war eine dreiste Dirne, die ich zur Jungfrau gemacht.«

In der Gesamtausgabe seiner Werke ist einer der wichtigsten Auswahl-

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bände seiner Essays, jener mit dem Titel Die Sprache, ausschließlich die¬ sem Thema gewidmet. Ein zweiter wichtiger Sektor seiner Liebe und Verehrung wird von je¬ nen Autoren seiner Zeit eingenommen, für die er auf verschiedeneWeise eingetreten ist: in den ersten Jahren der Fackel, als er die Zeitschrift noch nicht völlig allein schrieb, waren es jene Dichter, von denen er Pro¬ ben in der Fackel abdruckte. Sie waren in der Regel wenig bekannt und gar nicht gerühmt, und manche sind es bis heute geblieben. Um nur einige der wichtigsten Namen hier zu nennen: da waren Frank Wedekind und Albert Ehrenstein, Otte Stoessl und Else Lasker-Schüler, Herwarth Waiden und Georg Trakl. Da war der jung und völlig unbe¬ kannt im Ersten Weltkrieg gefallene Franz Janowitz und der fast völlig unbekannte, von den Nazis hingerichtete Felix Grafe. Ferner gab es als eine Art benachbartes, drittes Gebiet seiner Liebe je¬ nes Territorium, das er das »Theater der Dichtung« nannte. Er bezeichnete damit jene Dichtungen, die oftmals, aber keineswegs immer Dramen waren und die er mit ungewöhnlichem Einfühlungsvermögen einem atem¬ los stillen Vortragspublikum im großen Saale vorlas: Timon von Athen und die Sonette von Shakespeare, die er übersetzt hatte, Goethes Pan¬ dora, Offenbachs Perichole, Hauptmanns Hannele und nicht zuletzt Nestroy. Kraus war wohl der eigentliche Entdecker der dichterischen Größe Nestroys. Er hat die Rede zu Nestroys 50. Todestag mit der Aufforderung begonnen, sein Andenken feiern zu wollen, »indem wir uns zu einer Schuld bekennen, die wir zu tragen haben, wir Insassen einer Zeit, wel¬ che die Fähigkeit verloren hat, Nachwelt zu sein...« Diese Schuld ist seit¬ her höchstens noch gewachsen, ihr Sichtbarmachen ist ein weiterer Grund für die große Aktualität von Karl Kraus, und auch hier und heute könnte sehr wohl eine Rede zu seinem 50. Todestag mit demselben Satz eingeleitet werden. Seine Haltung in dieser Hinsicht kommt besonders deutlich in einem seiner Gedichte zum Ausdruck, das sogar den Titel »Bekenntnis« trägt und für sein »Theater der Dichtung« ebenso charak¬ teristisch und wichtig ist wie für seine eigene Selbsteinschätzung: »Ich bin nur einer von den Epigonen, die in dem alten Haus der Sprache wohnen. Doch hab’ ich drin mein eigenes Erleben, ich breche aus, und ich zerstöre Theben. Komm' ich auch nach den alten Meistern, später, so räch’ ich blutig das Geschick der Väter. Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen und an allen jenen, die die Sprache sprechen. Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner. Ihr aber seid die kundigen Thebaner.«

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Da ist weiterhin als ein vierter wichtiger Aspekt das Gebiet der Aphoris¬ men. Wenn diese Aphorismen auch mitunter satirische Angriffe zum Thema haben, ihr eigentliches Wesen besteht doch in ihrer fein ziselier¬ ten, zugespitzten und vollkommenen Form als Ausdruck sprachlicher Kennerschaft und Könnerschaft. »Was vom Stoff lebt«, heißt es gerade im Hinblick darauf in einem von ihnen, »stirbt an dem Stoffe. Was in der Sprache lebt, lebt mit der Spra¬ che.« In einem anderen heißt es: »Liebe und Kunst umarmen nicht, was schön ist, sondern was eben dadurch schön wird.« Da sind auch die Vorlesungen, die er 1925 an der Sorbonne hielt und die mit ein Grund dafür waren, daß er von Frankreich für den NobelPreis vorgeschlagen wurde. Und da ist schließlich, unter dem Positivsten von allem, in vielem ver¬ schieden von den meisten anderen Kraus-Texten, seine Lyrik. Zwar be¬ dient sie sich auch wie viele seiner Satiren bisweilen des Wortspiels, doch fehlt ihr oft völlig die satirische Note. Sie ist mitunter heiter und spiele¬ risch, mitunter bekenntnishaft. Es ist Gedankenlyrik in traditionellen, strengen Formen. Mitunter sind die Gedichte, zumal die kürzeren, so streng durchdacht und so straff gebaut, daß ihre gedankliche Botschaft schon in der Struktur zum Ausdruck kommt, wie etwa in der antitheti¬ schen Struktur des Gedichts »Leben ohne Eitelkeit«: Sieh, mein Außenbild ist fügsam, sieh, mein Haben so genügsam, achtet wohl des Gleichgewichts. Hat es wenig, dankt für viel es, wahrt des Weges, Maßes, Zieles und Verzichts. Doch mein Innensein verzichtet, eh es sich genügsam richtet, achtet nicht des Gleichgewichts. Immer steig’ es oder fall’ es, hat es vieles, will es alles oder nichts.

Im Jahr 1935, zwei Jahre nach der Niederschrift der Dritten Walpurgis¬ nacht und ein Jahr vor seinem Tod begann Karl Kraus seine Arbeit an ei¬ ner Sprachlehre. Seiner Überzeugung nach bestand der wichtigste Beitrag, den ein Autor gegen die Gefahren des Totalitarismus leisten konnte, in einem Beitrag zur Wahrheit, zur Richtigkeit, zur Reinheit der Sprache. »Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln«, schrieb er, »wenn der Deutsche keiner anderen Ordonanz gehorsamste als der der Sprache.« 16

Der enge Zusammenhang zwischen richtigem Leben und erträglicher Gesellschaftsordnung einerseits und richtigem Beistrich, Wort-Genauig¬ keit und adäquater Grammatik andererseits geht unter anderem beson¬ ders deutlich aus folgenden Sätzen von Kraus »über die Sprache« hervor: »Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahe zu kommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lernen, wo Gemeinplätze sind - das wäre die pädagogische Auf¬ gabe an einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebens¬ güter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt zu sein - mehr durch die Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen - ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. >Volk der Dichter und Denkere seine Sprache vermag es, den Besitz¬ fall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst er¬ schlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Außerhalb, das die Fülle ent¬ behrten Glückes umfaßt: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen.«

Kaum ein anderer deutschsprachiger Autor des Jahrhunderts hat ihr so bewußt und hingebungsvoll gedient wie Karl Kraus. Zu den im folgenden abgedruckten Texten ist noch zu sagen, daß die meisten davon Beiträge zu einem Internationalen Karl Kraus Sympo¬ sium darstellen, das 1986 an der Staatsuniversität von New York in Al¬ bany abgehalten wurde. Einige der Beiträge zum Symposium fehlen al¬ lerdings in diesem Band, während umgekehrt einige neue für den Band geschrieben wurden, nämlich die Beiträge von Sander L. Gilman, Ger¬ win Marahrens, Antonio Ribeiro und der »Essay«-Aufsatz von Klaus Weissenberger. Besonders verpflichtet für ihre Hilfe bin ich Dr. Bernhard Stillfried vom österreichischen Außenministerium, Frau Brigitte Narr vom Francke Verlag und nicht zuletzt Frau Barbara Budka von der Staatsuni¬ versität New York in Albany. Ihnen allen sei auch hier herzlich gedankt.

Joseph P. Strelka

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I. GATTUNGSPROBLEME

Zum Rhythmus der Lyrik von Karl Kraus Das schöpferische Prinzip eines »Epigonen« Klaus Weissenberger (Houston)

Mit Ausnahme von wenigen vergeblichen Bemühungen, die Bedeutung der Lyrik von Karl Kraus unter Beweis zu stellen,1 hat die Forschung die¬ sen Bestandteil des Werkes von Karl Kraus unberücksichtigt gelassen. Dafür sind mehrere Gründe und nicht zuletzt Kraus selber verantwort¬ lich gewesen. Der Hauptgrund ist ohne Frage darin zu sehen, daß der Sa¬ tiriker, Polemiker und Sprachkritiker Karl Kraus den Lyriker so sehr überschattet hat, daß seine Lyrik auch gar nicht - oder höchstens als Fortsetzung seiner Polemik in Versen - in das etablierte Bild von ihm hineingepaßt hat. Dazu hat selbstverständlich der Titel der Lyriksamm¬ lung Worte in Versen in seiner betonten Abkehr von dem damaligen erlebnis- und stimmungshaften Lyrikbegriff beigetragen. Dementspre¬ chend hat die mehrfache Selbsteinschätzung als die eines Epigonen vor allem in den Versen »Ich bin nur einer von den Epigonen,/ die in dem al¬ ten Haus der Sprache wohnen«, die in der zugegebenen Abhängigkeit von oder Orientierung an Goethe eine Bestätigung zu besitzen scheint, ebenfalls das Urteil der Forschung bestimmt. Doch hätte die Forschung bei ihrem Zugeständnis an die Sprachkunst von Karl Kraus gerade diese Formulierung zum Anlaß nehmen sollen, den Begriff des Epigonentums nicht vordergründig zu verstehen, son¬ dern im Kontext von Kraus’ poetischen und poetologischen Stellungnah¬ men neu zu reflektieren. Allerdings ist es notwendig, diese Stellungnah¬ men in den noch umfassenderen Zusammenhang eines prinzipiellen Rhythmusverständnisses und einer damit korrespondierenden Produk¬ tionsästhetik zu stellen. Auch wenn der hier zugrundegelegte Rhythmus1

Vgl. vor allem Werner Kraft, Karl Kraus. Beiträge zum Verständnis seines Werkes, Salz¬ burg: Otto Müller, 1956; Caroline Kohn, Karl Kraus als Lyriker, Paris: Didier, 1968 (= Germanica Nr. 11); Jens Malte Fischer, Karl Kraus. Studien zum »Theater der Dich¬ tung« und Kulturkonservatismus, Kronberg/Ts.: Scriptor, 1973; Roger Bauer, »Prolego¬ mena zu einer Interpretation der >Worte in VersenNächtliche StundeDraußen ein Vogel sagt: es ist FrühlingDraußen ein Vogel sagt: es ist Todvergeht< abwechselte. Doch vor der Möglichkeit solcher Abwechslung sichert es der durchwaltende Wille, hier nur wiederholen und nicht ein¬ klingen zu lassen; der einzige Reim, aus dem es besteht, dreimal gesetzt: >wende - Ende< gibt die ganze Trübnis des Gedankens, welcher die Disso¬ nanz: Tag, Frühling, Tod entspricht. Indem es dreimal dieselbe Strophe ist, an der sich nichts verändert als die einander entgegengestellten Zeit¬ maße von Nacht zu Tod, ist eine solche Einheit von Erlebnis und Sprache erreicht, eine solche Eintönigkeit aus dem Motiv heraus, daß nicht nur der Gedanke Form geworden scheint, sondern die Form den Gedanken selbst bedeutet« (Der Reim, S. 409f.). So überraschend einsichtsvoll diese Selbstinterpretation ist, so hat Kraus allerdings nicht erwähnt, daß der Gleichlaut der ersten drei Verse in allen drei Strophen vollkommen dem Beharren auf seiner eigenen unermüdlichen nächtlichen Arbeitsweise entspricht und dieses Arbeitsethos für ihn die einzige Garantie darstellt, der menschlichen Existenz gerade in der dissonanten Folge von » Tag, Frühling, Tod« eine Sinnhaftigkeit abzugewinnen. Erst der ungewöhnli¬ che identische oder nur leicht abgewandelte Wortlaut der ersten drei Verse in jeder Strophe und das Durchbrechen des rhythmischen Modell¬ bezugs, der im umgreifenden Reim angelegt ist, lassen das dichterische 35

Selbstverständnis in seiner Tiefe erkennen und verleihen ihm Gültigkeit gegenüber der offensichtlichen Sinnlosigkeit der allgemeinen Entwick¬ lungsabfolge. Allerdings schien Kraus in seinem letzten und umstrittensten Gedicht, das im Fackel-Heft vom Oktober 1933 erschien und seine erste Antwort auf Hitlers Machtergreifung war, vor diesem Anspruch resigniert zu ha¬ ben - so zumindest nach dem überwiegenden Urteil der Zeitgenossen. Doch genauso mißverstanden hatte die Leserschaft den lapidaren aphori¬ stisch zugespitzten Einleitungssatz zur Dritten Walpurgisnacht »Mir fällt zu Hitler nichts ein« und Kraus deshalb angegriffen. Dabei ist gerade die rhythmische Struktur des Gedichts verkannt worden, aus der die eigentli¬ che dichterische Intention eindeutig hervorgeht. Man frage nicht, was all die Zeit ich machte. Ich bleibe stumm; und sage nicht, warum. Und Stille gibt es, da die Erde krachte. Kein Wort, das traf; man spricht nur aus dem Schlaf. Und träumt von einer Sonne, welche lachte. Es geht vorbei; Nachher war's einerlei. Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.i_

Rhythmisch gesehen beruht das Gedicht auf dem offensichtlichen Gegen¬ satz zwischen vier fünfhebigen iambischen Versen mit weiblichen gleich¬ bleibenden Reimen und drei kurzen zwei- bis dreihebigen alternierenden männlichen Paarreimen - also aus dem Schema abbaccadda. Durch den Gegensatz zu den kurzen rhythmisch prägnanteren Paarreimen einer¬ seits und dem gleichlautenden Reim der längeren Verse andererseits, drücken letztere eine obstinate Monotonie aus, die dem unbeirrbaren Be¬ harren auf einem grundsätzlichen Standpunkt entspricht. Auf diese Mo¬ notonie der ersten drei Langverse antworten die in sich beinahe ausgewo¬ genen Paarreime und bewirken dadurch eine Faktizität, die die Haltung des Beharrens nur um so eindringlicher zu bestätigen scheint. Darin glei¬ chen die Paarreime, die als Einheit jeweils auch fiinfhebige Iamben erge¬ ben, dem klassischen Pentameter mit seiner Mittelzäsur, eine Anspie¬ lung, die durch die männlichen Kadenzen verstärkt wird. Der zutiefst ele¬ gische Charakter dieser Verse ist unüberhörbar, allerdings läßt die Kürze des Gedichts den der elegischen Haltung inhärenten Ausgleich nicht zu, so daß nur die verzweifelte Klage bleibt, die der letzte Vers durch seine deutliche Zweiteilung noch mehr bestätigt. Dabei kommt dem abschlie¬ ßenden Wort »erwachte« noch eine gesonderte Bedeutung zu; unter den vier Reimworten »machte - krachte - lachte - erwachte« ist es das einzige 12

36

Die Fackel, Nr. 888, S. 4.

poetisch klangvolle und gewichtige, doch zugleich auch von einer fatalen Beladenheit. Denn die Assoziation des Halbverses »als jene Welt er¬ wachte« mit der NS-Parole »Deutschland erwache! Juda verrecke!«, auf die sich Kraus in der Dritten Walpurgisnacht auch direkt bezieht,13 ist zu offensichtlich, um nur zufälliger Natur zu sein, so daß das Gedicht die ganze Ohnmacht der sich im Wort manifestierenden Kultur in der Unter¬ werfung unter die sich bis ins Wort dokumentirende Unkultur offenbart. Doch höchstwahrscheinlich enthalten diese Verse noch eine weitere versteckte Anspielung, die allerdings nur den Wienern verständlich gewe¬ sen ist. Der erste Paarreim »Ich bleibe stumm;/ und sage nicht, warum.«, der rhythmisch die Ohnmachtserklärung der polemisch-kritischen Hal¬ tung von Karl Kraus resultativ dokumentiert, könnte zugleich auch den Wortlaut des Heurigenliedes »Wenn der Herrgott net will, nutzt das gar nichts« in leicht abgeänderter Form aufgreifen. Das Lied fährt nämlich fort »schrei nicht um, bleib schön stumm, denk es war nichts. Renn nur nicht gleich verzweifelt und kopflos herum, denn der Herrgott weiß im¬ mer, warum«. Diese Kontrastierung von tragischem Pathos mit volkstüm¬ licher Weinseligkeit gehört ganz dem Bereich der Satire an, als deren Mei¬ ster Karl Kraus Nestroy verehrt hat. Doch was die Satire in diesem Fall entlarvt, ist keineswegs das Pathos des schriftstellerischen Ethos, sondern gerade die resignierende oder selbstgefällige Weinseligkeit und ihr vor¬ dergründiges leichtfertiges Reimen »Es geht vorbei;/nachher war’s einer¬ lei«. Denn Kraus hat selber über das NS-Übel prophezeit: »Es wird vor¬ übergehen, wie eine Marschkolonne; aber die Frage ist, was zurückbleibt«14, und »einerlei« kann es nur sein, wenn die Barbarei, wie Kraus zurecht befürchtet hat, den Geist bis zur totalen Elimination auslöschen wird. Dann hat nämlich nicht nur die Satire ihre Funktion verloren, son¬ dern auch die »epigonale« Dichtung ihre in Sprache und Kultur veran¬ kerte Basis, und Kraus kann nur abschließend mit dem letzten Wort des Gedichts der sich bis in die Sprache durchsetzenden Verrohung widerstre¬ bend Tribut zollen.

13

Vgl. Die dritte Walpurgisnacht, München: Kösel, 1952, S. 16 und 112.

14

Die Fackel, Nr. 890, S. 138.

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Die letzten Tage der Menschheit Documentary Drama and Apocalyptic Allegory Edward Timms* (Cambridge) Die letzten Tage der Menschheit is a masterpiece of anti-war satire. But despite the labours of several generations of scholars, the work remains shrouded in mystery. It has rarely been staged - indeed, it seems to defy performance. Its dialogue, mostly based on contemporary documents, is a disconcerting blend of fact and fantasy. It exploits such an astonishing range of linguistic registers that - like Joyce’s Ulysses - it eludes transla¬ tion. Moreover English readers have to rely on versions that have been tendentiously edited as well drastically abridged.1 Even in German there is no critical edition, and the best available commentary misconstrues the author’s ideological stance.2 It is naively assumed by almost every critic that the central figure in the play, the Grumbler (>Der Nörgler Voice from Above< pronounces jud¬ gement on an irredeemable world. Once again we are confronted by in¬ compatible paradigms. The techniques of deconstruction deployed in the course of the play seem to deny the possibility of any universal meaning. But in the Epilogue (as in the Preface) Kraus seeks to reaffirm a cosmic moral order. The tension between the closed form of a framework and the fractured structure of the play itself remains unresolved. The Epilo¬ gue, completed in 1917, is more traditional in conception (even though it uses such imaginative techniques). But as Kraus, during the final proces¬ ses of revision in 1919-21, added ever more horrifying material to the fi¬ nal scenes of the play, the anarchy of events tended to strain the closed form to breaking point. What finally emerges is an unstable text with three distinct (and mutually incompatible) endings. The Epilogue, although it ends with the symbolic destruction of the earth, is the most reassuring of Kraus’s endings. For it portrays a uni¬ verse in which God is still in control. And the Antichrist ist defeated by divine retribution. The same sense of a transcendent moral order is sus-

8 9

Emil Sander, Gesellschaftliche Struktur und literarischer Ausdruck: Über >Die letzten Tage der MenschheitMannheimer< in this speech by the Grumbler (A II. 8). He later altered it to >Oppenheimer< to enhance the mythopoetic resonance. The name derives from the notorious Jewish financier Joseph Süss-Oppenheimer (1692-1738), who was hanged for his alleged misdeeds, giving rise to the >Jud Süss< figure of German folk¬ lore and literary legend. The tendency to subsume war-profiteering under a specifically antisemitic myth generates in the monologues of the Grumbler a hybrid form of anti-Jewish anti-capitalism.

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tained in the second of Kraus’s three climaxes - the final monologue of the Grumbler (V. 54). Here the strands of coherent meaning are stret¬ ched closer to breaking point, as the Grumbler recapitulates the unmiti¬ gated horrors of the war in an anguished monologue. But this anguish at the death of innocent men finds consolation in the creative act itself. The memory of the dead will be eternally cherished, while the survivors are condemned to perpetual purgatory, as >shadows< transfixed by the text of the play. The Grumbler, like Horatio, finds consolation in the act of bea¬ ring witness to the >unknowing worldapparitions< to haunt their tormentors. The idea is borrowed from Richard III, where the spirits of those he has murdered return to curse the King on the eve of the battle of Bosworth. Kraus reinforces this motif by means of a more resonant archetype - Belshazzar’s Feast, the drunken revel that is brought to an end by the writing on the wall. What Kraus’s imagination projects on to the wall of Divisional Headquarters are not words but cine¬ matographic images - documentary in origin but visionary in effect. The scene ends in disintegration and horror->total darkness< (>Völlige Finster¬ nis^, a sudden >wall of flames< (>Flammenwandscreams of death< (>Todesschreiefaulted< in a geological sense. The seismic shift of history - and of Kraus’s own response - means that the different strata of his play are no longer aligned. And the reader has to dig through accrued layers of meaning to find underlying cohe¬ rence. Whether this faulted structure is also an artistic defect depends on the criteria we apply. The reader who, contemplating the horrors of 1914-18, is still able to see human history as part of a harmonious pattern will no doubt prefer Hofmannsthal’s Das Salzburger Große Welttheater to Kraus’s Die letzten Tage. But it can be argued that even the faults of Kraus’s play are the product of a more radical truthfulness - a determina¬ tion to >tell it as it was< which is frustrated by the sheer refractoriness of events. For the events themselves would not keep still, while the position of the author was spinning from right to left through 180 degrees. It is in short a play not for a static theatrum mundi but for a dynamic revolving stage. And it is here that Die letzten Tage must finally reveal its multiple meanings - not on the printed page, but in the living theatre. 48

Uber die sprachliche Struktur und Genesis der Aphorismen von Karl Kraus Gerwin Marahrens (Edmonton)

»Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß mit einem Satz über sie hinauskommen.« Karl Kraus. Sprüche und Widersprüche.1

1. Forschungsstand, Zielsetzung und Methode der Arbeit Karl Kraus veröffentlichte seine Aphorismen in drei Büchern, die ersten im Jahre 1909 (19242) unter dem Titel Sprüche und Widersprüche, die nächsten im Jahre 1912 unter dem Titel Pro domo et mundo und die letz¬ ten im Jahre 1918 unter dem Titel Nachts. Keiner seiner drei Aphorismen-Bände trug also den Titel Aphorismen2. Heinrich Fischer veröffent¬ lichte die Krausschen Aphorismen im Jahre 1953 unter dem Titel Beim Wort genommen,Christian Wagenknecht im Jahre 1986 unter dem Titel Aphorismen. Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, die typische syntaktische und stilisti¬ sche Struktur der Aphorismen von Karl Kraus und das Herauswachsen seiner Grundüberzeugungen aus seinem Verständnis der Sprache und des Wortes zu untersuchen. In der inzwischen bereits recht umfangreich gewordenen Literatur über Karl Kraus begann sich zunehmendes Interesse an seinen Aphoris¬ men ungefähr zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg abzuzeichnen. In großer Dichte erschienen in den siebziger Jahren Arbeiten über seine

1

2

Kraus’ Aphorismen werden zitiert nach der Ausgabe: Karl Kraus. Schriften. Band 8. Aphorismen: Sprüche und Widersprüche. Pro domo et mundo. Nachts. Hrsg, von Chri¬ stian Wagenknecht. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986 (= suhrkamp taschenbuch 1318). Die Ausgabe ist seitengleich mit: Karl Kraus. Beim Wort genommen. Hrsg, von Heinrich Fi¬ scher. München: Kösel, 1955. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenzah¬ len dieser Ausgaben. Das Motto: Seite 17. Die Behauptung von Elisabeth Brock-Sulzer, daß man Kraus' Aphorismen »Maximen und Reflexionen« nennen könnte (Hochland 48 (1955-1956), S. 565), ist unhaltbar. Die Nicht-Aphorismen sind Glossen und Essays.

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Aphorismen. Allerdings ist der gesamte Stand an Forschungsarbeiten über Karl Kraus’ Aphorismen immer noch leicht zu überblicken. Die Aphorismen von Karl Kraus werden in drei verschiedenen Gruppen von Forschungsarbeiten behandelt: erstens in Gesamtdarstellungen (Werner Kraft: Karl Kraus: Beiträge zum Verständnis seines Werkes, (1956)3; Paul Schick: Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, (1965)4; Jens Malte Fischer: Karl Kraus, (1974)5; zweitens in Monographien und Artikeln über die Sprachauffassung und die Satire-Konzeption von Karl Kraus (Helmut Arntzen: »Deutsche Satire des 20. Jahrhunderts«6, »Exkurs über Karl Kraus«, (1961 )7; »Karl Kraus oder Satire aus Sprache«, (1971)8; C.E. Williams: »Karl Kraus: The Absolute Satirist«, (1974)9; Christian Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus, (1975)10; Josef Quack: Bemerkungen zum Sprachver¬ ständnis von Karl Kraus, (1976)11; Jay F. Bodine, »Karl Kraus’ Concep¬ tion of Language«, (1975)12; »Hermann Broch und Karl Kraus: zum Zu¬ sammenhang von Kritik und Utopie in der modernen Satire«, (1975)13; Jay F. Bodine: »Die Sprachauffassung und Sprachkritik von Karl Kraus: Ein Forschungsbericht über Untersuchungen der siebziger Jahre«, (1981)14; Helmut Pfotenhauer: »Sprachsatire als Ursprung und Crux dra¬ matischer Formen: Überlegungen zu Karl Kraus«, (1983)15;

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Werner Kraft, Karl Kraus: Beiträge zum Verständnis seines Werkes, Salzburg: Otto Mül¬ ler, 1956; bes. S. 200-210. Paul Schick, Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Ham¬ burg: Rowohlt, 1965. (= Rowohlts Monographien Nr. 111). Jens Malte Fischer, Karl Kraus, Stuttgart: Metzler, 1974. (= Sammlung Metzler 131). Helmut Arntzen. »Deutsche Satire des 20. Jahrhunderts«. In: Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Band I: Strukturen und Gestalten. Hrsg, von Hermann Friedmann und Otto Mann. Heidelberg: Wolfgang Rothe, 41961, S. 225-243. (Arntzen I). »Exkurs über Karl Kraus«. In: siehe Anmerkung 6, S. 245-255 (Arntzen II). Helmut Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze, Essays, Glossen, Frankfurt: Athenäum, 1972, S. 203-215. (Arntzen III). Cedric Ellis Williams. »Karl Kraus: The Absolute Satirist«. In: The Broken Eagle: The Politics of Austrian Literature from Empire to Anschluss, London: Elek, 1974, S. 187-235. Christian Wagenknecht, Das Wortspiel bei Karl Kraus, Göttingen: Vandenhoeck & Ru¬ precht, 21975. Josef Quack, Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus, Bonn: Bouvier, 1976 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 232). Jay F. Bodine. »Karl Kraus’ Conception of Language«. In: Modern Austrian Literature 8 (1975), no. 1-2, S. 268-314. (Bodine I).

13

Paul Michael Lützeier. »Hermann Broch und Karl Kraus: Zum Zusammenhang von Kri¬ tik und Utopie in der modernen Satire«. In: Modern Austrian Literature 8 (1975) no 1-2 S. 211-239.

14

Jay F. Bodine. »Die Sprachauffassung und Sprachkritik von Karl Kraus: Ein Forschungs¬ bericht über Untersuchungen der siebziger Jahre«. In: Revue beige de philologie 59 (1981), S. 665-683. (Bodine II).

15

Helmut Pfotenhauer. »Sprachsatire als Ursprung und Crux dramatischer Formen: Über¬ legungen zu Karl Kraus«. In: Schiller-Jahrbuch 27 (1983), S. 326-344.

50

drittens in Monographien und Artikeln, die sich auf die Aphorismen von Karl Kraus konzentrieren (Elisabeth Brock-Sulzer: »Spruch und Wi¬ derspruch: Über Karl Kraus als Aphoristiker«, (1955/56)16; Erich Heller: »>Beim Aphorismus genommene Imaginärer Dialog über Karl Kraus nach der Lektüre seiner gesammelten Aphorismen«, (1956)17; Petra Kipphoff: Der Aphorismus im Werk von Karl Kraus, (1961)18; Kurt Krolop: »Nachwort«, (1969)1Q; Helmut Arntzen: »Aphorismus und Sprache. Lichtenberg und Karl Kraus«, (1971)20; Dietrich Simon: »Lite¬ ratur und Verantwortung. Zur Aphoristik und Lyrik von Karl Kraus«, (1975)“1; Wolfgang Nieder: »Karl Kraus und der sprichwörtliche Apho¬ rismus«, (1979)^ und Harald Fricke: »Karl Kraus: Virtuose des Hasses«, (1984)23. Die bedeutendsten und für diesen Artikel förderlichsten Arbeiten sind die drei Monographien von Petra Kipphoff (1961), Christian Wagen¬ knecht (1975) und Josef Quack (1976) und die Artikel von Helmut Arnt¬ zen (1961; 1971), C.E. Williams (1974), Dietrich Simon (1974), Jay F. Bodine (1975), Paul Hatvani (1975) und Harald Fricke (1984). In Petra Kipphoffs Dissertation Der Aphorismus im Werk von Karl Kraus (1961), die sich, was betont werden muß, mit den Aphorismen im gesamten Werk von Karl Kraus befaßt und sich keineswegs auf die drei Aphorismenbände beschränkt, ist das Kapitel über den »Aphorismus als literarische Gattung« am enttäuschendsten; es war bereits beim damali¬ gen Forschungsstand unzureichend. Das zentralste Kapitel ist das über den »Aphorismus« und die »Mittel des Aphorismus«, nämlich die »ge¬ danklich-rhetorischen Mittel« (»die Proportionen: Vergleich, Defi¬ nition, Metapher«); »die antithetischen Formen: Antithese, Chiasmus, Oxymoron, Paradoxon«), die »sprachlich-imitatorischen Mittel (Wort¬ spiel, Zitat, Sprichwort, jede Art von Ausnutzung der Bedeutungs¬ varianten eines Wortes)« und die »drucktechnischen Mittel«24.

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21

Elisabeth Brock-Sulzer. »Spruch und Widerspruch: Über Karl Kraus als Aphoristiker«. In: Hochland 48 (1955-56), S. 563-567. Erich Heller. »>Beim Aphorismus genommen«. Imaginärer Dialog über Karl Kraus nach der Lektüre seiner gesammelten Aphorismen«. In: Forum 3 (1956), S. 217-220. Petra Kipphoff, Der Aphorismus im Werk von Karl Kraus, phil. diss., München 1961. Kurt Krolop. »Nachwort«. In: Karl Kraus. Anderthalb Wahrheiten. Aphorismen. Hrsg, von Kurt Krolop. Berlin 1969. S. 137-157. Helmut Arntzen. »Aphorismus und Sprache. Lichtenberg und Karl Kraus«. In: Helmut Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information: Aufsätze, Essays, Glossen. Frankfurt: Athenäum, 1971. S. 323-338. (Arntzen III). Dietrich Simon. »Literatur und Verantwortung. Zur Aphoristik und Lyrik von Karl Kraus«. In: Karl Kraus. Hrsg, von H. Ludwig Arnold. München: edition text und kritik,

22

1975, S. 88-107. Wolfgang Mieder. »Karl Kraus und der sprichwörtliche Aphorismus«. In: Muttersprache

23

89 (1979). S. 97-115. Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart: Metzler, 1984 (= Sammlung Metzler Bd. 208).

24

Kipphoff, S. 53-133.

51

In Christian Wagenknechts Monographie Das Wortspiel bei Karl Kraus (19752), die schon durch ihre methodische Exaktheit besticht, werden die Definitionen des Wortspiels auf Grund von Rhetoriken, Sprachlehren und Wörterbüchern geschichtlich und systematisch entwikkelt und dann die Haupttypen der Wortspiele statistisch erfaßt und dar¬ gestellt, vor allem die bei Karl Kraus so häufigen Amphibolien, die Paronomasien (Klang-Wortspiel und Variations-Wortspiel), die Kontamina¬ tionen und Interferenzen, die »figurae per detractionem« (Ellipse, Aposiopese, Zeugma); die Satire, die Polemik und das Pathos. Auch Wagen¬ knechts Monographie über das Wortspiel untersucht das gesamte Werk von Karl Kraus, ist also keineswegs auf eine Analyse des Wortspiels in den Aphorismen beschränkt. Die Forschungsarbeiten über die Aphorismen von Karl Kraus untersu¬ chen vor allem ihren satirischen Charakter, die in ihnen zutagetretende Sprachauffassung, die Umwandlung von Sprichwörtern, ihre zahlreichen Wortspiele und die in ihnen verwendeten rhetorischen Formen. Dies sind völlig legitime und wichtige Untersuchungen; sie setzen aber alle von vornherein voraus, daß es sich bei den Aphorismen um Aphorismen handelt25. Eine Satire, ein Wortwitz und eine rhetorische Form machen aber eine Kurzform nicht automatisch zum Aphorismus. Welcher gei¬ stige Prozeß, welche ästhetische Gestaltung und sprachliche Formung die Kurzform zum Aphorismus macht, bei welchen sogenannten Apho¬ rismen diese Gestaltung gar nicht oder nur teilweise durchgeführt wor¬ den ist, so daß also gar kein Aphorismus vorliegt, welche graduellen Qualitätsunterschiede es bei den Aphorismen gibt und worin das spezifi¬ sche Wesen der ästhetisch gelungenste Aphorismus besteht und welch ein inneres Verhältnis zwischen der Sprache und den dominierenden Themen der Aphorismen besteht, das wird allenfalls gelegentlich ge¬ streift, aber nicht systematisch analysiert. Diese Arbeit will durch eine sprachliche, das heißt syntaktisch-stilisti¬ sche Analyse ermitteln, worin die spezifische Struktur und das charakte¬ ristische Wesen der Krausschen Aphorismen beruhen und worin sich seine vollendeten ästhetischen Schöpfungen von den weniger gelunge¬ nen Gestaltungen und von anderen nichtaphoristischen Prosakurzfor¬ men unterscheiden. Bei diesem analytischen Prozeß werden folgende Schritte unternom¬ men: Nach einem kurzen Überblick über die wichtigste Aphoristik-Forschung und die wichtigsten Definitionen des Aphorismus (II. Kapitel) wird Kraus’ Auffassung von Aphorismen, Satire, Polemik, Sprache und Kunst in seinen Aphorismen analysiert (III. Kapitel).

25

52

Elisabeth Brock-Sulzer räumt ein, daß Kraus’ Aphorismenbände «nicht nur Aphorismen enthalten«. Brock-Sulzer, S. 565.

Dann werden die Krausschen Aphorismen hinsichtlich ihrer Satzkon¬ stellationen gruppiert (IV. Kapitel) und die innerhalb dieser Konstella¬ tionen typischen syntaktischen Strukturen und die durch sie und in ihnen erfolgende Einengung der künstlerischen und intellektuellen Spannung untersucht (V. Kapitel). Darauf werden die spezifischen Methoden und Praktiken und die rhetorischen Formen der Spannungserzeugung analy¬ siert (VI. Kapitel). Nachdem die sprachliche und stilistische Struktur des ästhetisch durchgestalteten Krausschen Aphorismus vorgeführt worden ist, wird dieser abgegrenzt gegen weniger gelungene Formen und gegen solche, die in Wirklichkeit zu nichtaphoristischen Prosaformen gehören, in denen aber gelegentlich echte Aphorismen verborgen sein können (VII. Kapitel). Zum Abschluß wird nachgewiesen, wie die wesentlichsten Grundüber¬ zeugungen von Kraus, wie sie in seinen Aphorismen literarisch gestaltet werden, aus seinem Verständnis der Sprache und des Wortes selbst her¬ auswachsen (VIII. Kapitel). 2. Die Aphoristik-Forschung und die Definition des Aphorismus Die sprachlich-stilistische Analyse der Krausschen Aphorismen hinsicht¬ lich ihres literarischen Charakters und spezifischen Wesens als Aphoris¬ mus muß notwendig in einem hermeneutischen Zirkelverfahren von ei¬ nem bestimmten Begriff des Aphorismus ausgehen. Bei der Bestimmung der Gattung des literarischen Aphorismus gerate nach Mautner der Fiterarhistoriker, »der einen Instinkt für literarische Gattungen haben muß«, notwendig in einen hermeneutischen Zirkel »angesichts einer Definition, die weder rein deduktiv von einem Gattungsbegriff (den sie ja ohne Material nicht gewinnen kann) ausgeht, noch rein induktiv vom Material, »das ja erst vom Gattungsbegriff ausgewählt und gesichtet wer¬ den müßte.«26 Durch immer erneute hermeneutisch-zirkelhafte Arbei¬ ten wurden Definitionen des Aphorismus gewonnen, und zwar in der deutschen Fiteraturwissenschaft in allererster Finie durch die Analyse der Aphorismen Fichtenbergs, in zweiter durch die der Aphorismen Nietzsches, in dritter durch die Aphorismen von Friedrich Schlegel, No¬ valis und Goethe. Von der sehr umfangreichen Aphoristik-Forschung, die insbesondere im Jahre 1933 mit den Altmeistern Franz Mautner und Fritz Schalk ein¬ setzte, seien nur die Aphoristik-Forscher erwähnt, die Definitionen von Aphorismen vorgelegt haben, und von diesen auch nur die wichtigsten. Mautner (1965) formulierte seine Definition des literarischen Aphoris¬ mus in der Form einer Zusammenstellung von Minimal-Anforderungen: 26

Franz Mautner. » Der Aphorismus als literarische Gattung«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 27 (1933). S. 133.

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»Das Minimum der Anforderungen, ihr Kern scheint zu sein, daß der Aphorismus die (1) knappe sprachliche (2) Verkörperung eines (3) per¬ sönlichen, (4) äußerlich isolierten (5) Gedankens sei.«27 Diese Definition nimmt die Momente der Selbständigkeit, Kürze, Subjektivität und Intellektualität wieder auf; sie erfaßt jedoch noch nicht die Momente der Spannung und des ausgesparten Darstellens. Rudolf Wildholz (1969) sieht »das Konstituierende des Aphorismus darin, daß er aus dem Anblick paradoxer Wirklichkeit ein Problem in seine Spannungselemente gliedert, diese aber zugleich vo vereinigt, daß Problem und Lösung in einem zusammengehaltenen Bogen als Einheit erscheinen. Die primäre Spannung, die inhaltlich als Problem erscheint, entlädt sich im paradoxen, verblüffenden gedanklich provozierenden Ablauf. Was auf diese Weise sprachliche Gestalt wird, schließt sich mit akzentuierender Rundung zusammen, so daß die Energie des geschlosse¬ nen Gebildes nicht zerrinnt, sondern als Anreiz den empfänglichen Le¬ ser in die Bewegung einbezieht.«28 Die paradoxe Verfassung der Wirk¬ lichkeit selbst ist also der ontologische Grund für das Spannungsverhält¬ nis innerhalb des Aphorismus und für das Spannungsverhältnis zwischen Aphorismus und Leser. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Wildholz sagt: »Alle übrigen Merkmale wie Kürze, Antithetik, Symmetrie, Meta¬ phorik, Parallelismus und dergleichen folgen erst aus der Grundbestim¬ mung, doch durchaus nicht stets und zwingend.«29 Der Aphorismus also nicht als spezifische Formung und Manipulation eines Wirklichkeits¬ aspektes durch eine literarische Gattung, sondern diese als Resultat der inhärenten Struktur dieser Wirklichkeit. Mit dem Aufkommen der soziologischen Literaturwissenschaft und der in der Germanistik und überhaupt in den Geisteswissenschaften wachsenden Furcht vor Gedanken, Ideen oder gar Werten in der Litera¬ tur ging zusehends der Sinn für den Aphorismus als literarische Gattung verloren. Für Giulia Cantarutti ist der Aphorismus eine »Zweckform«, aber keine »rein ästhetische Gattung«; deshalb wendet sie sich gegen die Versuche einer Definition des Aphorismus, gegen »zeitlos-universalisti¬ sche Behauptungen« und »topographische Koordinaten«30. Auch für Harald Fricke ist der Aphorismus eine Form der Sachprosa: ein »Gebrauchsgegenstand, kein Museumsstück« und als solches »keine

27

Franz H. Mautner. »Aphorismus«. In. Fischer-Lexikon Literatur, Frankfurt/M.: Fischer 1965. Bd. 11,1. S. 44.

28

Rudolf Wildbolz. »Über Lichtenbergs Kurzformen«. In: Geschichte-Deutung-Kritik. Li¬ teraturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Bern: Francke, 1969. S. 126. Wildbolz, S. 126.

29 30

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Giulia Cantarutti. Aphoristikforschung im deutschen Sprachraum. Frankfurt/M., Berlin, New York, Nancy: Peter Lang, 1984. S. 56.

Statue, sondern ein künstlich gemachter Torso.«31 Das Moment des aus¬ sparenden Vorstellens wird mit dem Begriff des »Torsos« verfehlt; denn ein Bruchstück ist der Aphorismus eben nicht. Fricke liefert eine Gat¬ tungsdefinition des literarischen Aphorismus in der Form einer traditio¬ nellen >SatzdefinitionUnd wer das Buch zu lesen beginnt, liest es in einem Zuge durchDas Leben geht wei¬ ten. Als es erlaubt ist« (435). Ein artistisches Feuerwerk im Wechsel der semantischen Ebene brennt Kraus im folgenden Aphorismus ab: »Um¬ gangssprache entsteht, wenn sie mit der Sprache nur so umgehen; wenn sie sie wie das Gesetz umgehen; wie den Feind umgehen; wenn sie umge¬ hend antworten, ohne gefragt zu sein. Ich möchte mit ihr nicht Umgang haben; ich möchte von ihr Umgang nehmen; die mir tags wie ein Rad im Kopf umgeht; und nachts als Gespenst umgeht« (433). Die satirische Behandlung von Sprichwörtern und sprichwörtlicher Redewendungen in Kraus’ Aphorismen ist der Forschung immer schon aufgefallen. Der Anteil an Sprichwörtern wurde zunächst derartig über¬ schätzt, daß Kraus in einem übrigens nicht sehr guten Aphorismus repli¬ zierte: »Ein Literaturprofessor meinte, daß meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von Redensarten seien. Das ist ganz zutref¬ fend. Nur hat er den Gedanken nicht erfaßt, der die Mechanik treibt:

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daß bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr heraus¬ kommt als bei der mechanischen Wiederholung. Das ist das Geheimnis des Heutzutag, und man muß es erlebt haben. (...)« (332). Petra Kipphoff (1961), die Sprichwörter und Zitate getrennt behan¬ delt, erkennt in den drei Aphorismus-Bänden von Karl Kraus insgesamt nur 24 Sprichwörter und sprichwörtliche Redewendungen, »wie sie von Generation zu Generation meist kritiklos und unverändert weitergege¬ ben worden sind« und die Kraus »verdreht, deutet oder erweitert«, um »eine Unwahrheit bloßzustellen oder eine Lüge durch satirische Ver¬ nichtung aus der Welt zu schaffen« oder um »spielerische Motive« zu ge¬ stalten.47 Wolfgang Mieder (1979) weist in Kraus’ Aphorismenbänden 150 Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten nach. Die Zahl ent¬ spricht übrigens 6.9 % aller Krausschen Aphorismen. Nach Mieder zeigt Kraus’»aufklärerische Arbeit«, »daß er dem formelhaften Sprachgut sehr kritisch gegenüberstand«, so daß er »Sprichwörter und Redensarten verdreht, um ihnen eine angemessenere Bedeutung zu verleihen« oder »sie in längeren Ausführungen mit scharfer Satire analysiert«. Auf diese Weise »werden diese >pervertierten< Sprichwörter zum Spiegelbild der herrschenden Zustände, wo Unwissenheit, Dummheit, Unehrlichkeit usw. ausschlaggebend sind«.48 Die auffallendste Methode der satirischen Behandlung der Sprichwör¬ ter und sprichwörtlichen Redensarten ist ihre Umkehrung: »Was ich weiß, macht mir nicht heiß« (36); »Wer anderen keine Grube gräbt, fällt selbst hinein« (57); »Menschsein ist irrig« (300). Eine zweite Methode ist die der satirischen Erweiterung: »In der Nacht sind alle Kühe schwarz, auch die blonden« (33); »Raum ist in der kleinsten Hütte, aber nicht in derselben Stadt für ein glücklich liebend Paar« (272). Eine dritte Me¬ thode ist die der satirischen Änderung und Umgestaltung: »Der Mensch denkt, aber der Nebenmensch lenkt. Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken könnte, daß ein anderer denken könnte« (62); »Die Qual läßt mich nicht zur Wahl? Doch, ich wähle die Qual« (294). Besonders ironisch wirkt die satirische Begründung eines Bibelzitats durch eine Re¬ densart: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Denn: jeder ist sich selbst der Nächste« (57). Da Kraus aber eine sehr hohe Achtung vor dem Sprichwort hatte, wie ein Aphorismus bezeugt: »Ein Sprichwort entsteht nur auf einem Stand der Sprache, wo sie noch schweigen kann « (433), will er keineswegs dessen »Unwahrheit bloßstellen«, wie Petra Kipphoff meint, und ist er auch keineswegs »kritisch gegen formelhaftes Sprach¬ gut« eingestellt, wie Wolfgang Mieder behauptet. Die Gründe für die sa¬ tirische Behandlung der Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten

47 48

Kipphoff, S. 116. Mieder, S. 98.

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liegen in einer tieferen Schicht und sind auch differenzierter; sie hängen mit der Entwicklung seiner Grundüberzeugungen aus der Sprache zu¬ sammen.

7. Die Abgrenzung der Aphorismen von nichtaphoristischen Prosaformen Die Forschung hat bisher nie untersucht, ob alle die von Kraus veröffent¬ lichten Kurzformen wirklich Aphorismen sind44 und ob es nicht unter den echten Aphorismen ästhetische Rangunterschiede gibt. Schon Kraus’ Verfahren, aus Prosatexten einigermaßen »aphoristische« Sätze herauszulösen und sie zu »Aphorismen« umzuformen, läßt Qualitätsun¬ terschiede erwarten. Außerdem macht es der schiere Umfang seines schriftstellerischen Lebenswerkes unmöglich, daß er von allen Texten so viele Fassungen anfertigen und in ihnen so viele Korrekturen durchfüh¬ ren konnte, wie er seinen Lesern immer wieder versichert. Kraus veröffentlichte eine Anzahl von gedanklich unwichtigen und äs¬ thetisch schlecht gestalteten Aphorismen, die intellektuell spannungslos, unpointiert, zu wortreich und, obwohl er ja sein ganzes schriftstelleri¬ sches Leben lang den Journalismus und Feuilletonismus erbittert be¬ kämpfte, zu journalistisch und feuilletonistisch sind und die Wiederho¬ lungen, gequälte Witze und gelegentlich Geschmacklosigkeiten aufwei¬ sen. So sind alle die mit seiner biologistisch-physiologischen Grundauf¬ fassung der Frau zusammenhängenden aphoristischen Äußerungen über die Menstruation der Frau gedanklich-inhaltlich schlechthin geschmack¬ los und ästhetisch nicht durchgestaltet. Ein gedanklich unwichtiger Aphorismus ist folgender: »Kein Zweifel, der Lazzaroni steht über dem Verwaltungsrat. Jener stiehlt ehrlich, was er zum Leben braucht, dann pfeift er sich was. Solches Betragen hegt dem Verwaltungsrat fern. Der Lazzaroni stört mich durch sein Pfeifen. Aber meine Nervosität hat der Verwaltungsrat durch sein Dasein ver¬ schuldet« (342). Einen gequälten Witz enthält folgender Aphorismus: »Die Männer dieser Zeit lassen sich in zwei deutlich unterscheidbare Gruppen einteilen: die Kragenschoner und die Hosenträger« (361). Ge¬ schmacklos ist folgender Aphorismus: »Müssen wir für die Mängel bü¬ ßen, die der Schöpfer an den Weibern gelassen hat? Weil sie in jedem Monat an ihre Unvollkommenheit gemahnt werden, müssen wir verblu¬ ten?!« (37). Kraus veröffentlichte viele Prosatexte, die gar keine ästhetisch durch¬ gestalteten literarischen Aphorismen sind, sondern allenfalls aphoristi-

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vgl. dazu Werner Kraft: Es »können nicht alle Sätze aus Sprüche und WidersprüchePro domo et munde< und >Nachts< als Aphorismen gelten (...).« Kraft, S. 201.

sehe Reflexionen oder essayistische Reflexionen, in den meisten Fällen aber Glossen und Essays. Dabei wird unter »Glosse« verstanden ein »feulletonistischer Kurzkommentar mit polemischer Stellungnahme zu Tagesereignissen«50 und unter »Essay« »eine kürzere Abhandlung über eine aktuelle Frage des geistigen, kulturellen oder sozialen Lebens u.ä. in leicht zugänglicher, doch künstlerisch wie bildungsmäßig anspruchs¬ voller, geistreicher und ästhetisch befriedigender Form, gekennzeichnet durch bewußte Subjektivität der Auffassung, (...) bewußten Verzicht auf systematische und erschöpfende Analyse des Sachwertes zugunsten mo¬ saikhaft lockerer, das Thema von verschiedenen Seiten fast willkürlich, sprunghaft-assoziativ belichtender Gedankenfügung, die wesenstiefe in¬ dividuelle Erkenntnisse zu vermitteln sucht, ein Nachvollziehen des per¬ sönlichen Erlebnisses erstrebt und das Thema in großen Zusammenhän¬ gen sieht, Vorläufigkeit der Aussage bei aller aphoristischen Treffsicher¬ heit im einzelnen und Unverbindlichkeit der aufgezeigten möglichen Zu¬ sammenhänge, die keine Verallgemeinerung zuläßt, schließlich die Sou¬ veränität in der Verfügung über den Stoff.«51 Kraus’ »Aphorismen«, die in Wirklichkeit Glossen oder Essays und meistens eine Mischform von beiden sind, weisen eine Länge von einer halben Seite oder einer Seite und gelegentlich von mehreren Seiten auf und befassen sich vorwiegend mit Fragen des Schriftstellertums, der Kunst, der bürgerlichen Gesellschaft, des Journalismus und des Welt¬ krieges. Diese zeit- und kulturkritischen Anekdoten, Glossen und Es¬ says sind sehr geistreich, witzig und ironisch, oft impressionistisch aufge¬ lockert, enthalten aber auch oft spürbare intellektuelle Verdichtungen des Textes, sozusagen nicht ganz ausformulierte aphoristische Reflexio¬ nen, die leicht zu reinen Aphorismen gestaltet werden könnten. Es gibt auch solche geistigen Verdichtungen, die ästhetisch durchgestaltete Aphorismen gleichsam »induzieren«. Es gibt also Aphorismen im »Aphorismus«, bis zu fünf in einem solchen »Aphorismus«, in der Mitte und am Ende, manchmal aber auch am Anfang. Wie bereits erwähnt, enthalten von den 297 Aphorismen, die keine sind, sondern andere Pro¬ satexte, 70 oder 23.6 % echte Aphorismen. Diese weisen dann alle die sprachlichen, syntaktischen und stilistischen Strukturen auf und verwen¬ den die rhetorischen Stilfiguren, wie sie bei den anderen Aphorismen auch anzutreffen sind. Ein Beispiel eines echten Aphorismus am Beginn eines essayistischen Prosatextes ist folgender: »Das Wort hat einen Feind, und das ist der Druck. Daß ein Gedanke dem Leser der Gegenwart nicht verständlich ist.

50

Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kroner, 61979 (= Kröners Taschenausgabe Band 231). S. 314.

51

von Wilpert, S. 243-244.

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ist dem Gedanken organisch. Wenn er aber auch dem ferneren Leser nicht verständlich ist, so trägt eine falsche Lesart die Schuld.« An dieser Stelle ist der eigentliche Aphorismus, bestehend aus einem Obersatz und zwei Untersätzen, zu Ende. Dann lockert sich der Prosatext auf und geht in die Reflexionen eines essayistischen Prosatextes über: »Ich glaube un¬ bedingt, daß die Schwierigkeiten der großen Schriftsteller Druckfehler sind, die wir nicht mehr zu finden vermögen. Weil man bisher im Bann der journalistischen Kunstauffassung gemeint hat...« (244). Dem eigent¬ lichen Aphorismus folgt eine Dreiviertelseite Prosatext. An einem verhältnismäßig kurzen feuilletonistischen Prosatext kann gezeigt werden, wie er feuilletonistisch einsetzt, dann intellektuell dich¬ ter werdend zu einem Aphorismus führt und dann wieder aufgelockert feuilletonistisch fortfährt: »Auf skandinavischen Bahnen heißt es: >Ikke lene sik ud< und in Deutschland: >Nicht sich hinauslehnenh In Öster¬ reich: >Es ist verboten, sich aus dem Fenster hinauszulehnen.< Draußen sagt man: Es ist dein eigener Schade, wenn du’s tust, oder: Die Folgen hast du dir selbst zuzuschreiben. Idioten sagt man: Es ist verboten, sich umzubringen.« Dann kommt die intellektuelle Verdichtung: »Aus Furcht vor Strafe wird mancher unterlassen, sich zu töten.« Darauf der Aphorismus: »Ein wohlverstehender sozialer Geist verbietet, was das Recht des anderen kränkt. Ein mißverstehender Individualismus sagt: Was du nicht willst, daß dir geschieht, das darfst du dir auch selbst nicht zufügen.« Sodann fährt der Prosatext aufgelockert feuilletonistisch fort: »Ich lasse mir’s nicht ausreden, daß das Rauchverbot in einem öster¬ reichischen Bahncoupe die Warnung vor einer Nikotinvergiftung bedeu¬ tet« (141-142). An einem kürzeren essayistischen Prosatext über Ästheten kann ge¬ zeigt werden, wie der lockere Gedankengang sich allmählich intellektu¬ ell verdichtet, um dann in einem Aphorismus zu enden. Nach der Mitte des Prosatextes heißt es: »Sterne gibt es, die nicht gesehen werden, so¬ lange sie sind. Ihr Licht hat einen weiten Weg, und längst erloschen leuchten sie zur Erde. Sie sind den Nachtbummlern vertraut: was kann Goethe für die Ästheten? Es ist ihr Vorurteil, daß sie ohne sein Licht nicht nach Hause finden. Denn sie sind nirgends zu Hause und für sie ist die Kunst so wenig da, wie der Kampf für die Maulhelden.« Dann setzt die intellektuelle Verdichtung ein: »Auch der Ästhet ist zu feig zum Le¬ ben, aber der Künstler geht aus der Flucht vor dem Leben siegreich her¬ vor.« Darauf schließt der essayistische Prosatext mit einem Aphorismus: »Der Ästhet ist ein Maulheld der Niederlagen; der Künstler steht ohne Anteil am Kampf. Er ist kein Mitgeher. Seine Sache ist es nicht, mit der Gegenwart zu gehen, da es doch Sache der Zukunft ist, mit ihm zu ge¬ hen« (213).

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8. Das Herauswachsen der Grundüberzeugungen der Aphorismen aus dem Verständnis der Sprache Der Leser der Aphorismen von Karl Kraus kann leicht der Faszination seines Geistes und der intellektuellen Brillanz seiner Formulierungen so¬ weit erliegen, daß er es bei der Bewunderung seines Mutes, seiner Pro¬ vokationen, seiner Aggressivität, seines Sarkasmus, seiner Ironie, seines Witzes und seiner Geistesblitze bewenden läßt. Damit würden aber Kraus' Grundintentionen nicht erforscht. Die komprimierende, pointie¬ rende aussparend darstellende Kunst seiner Aphorismen, das Span¬ nungsverhältnis in ihrer sprachlich-syntaktischen und stilistischen Struk¬ tur und die Verwendung bestimmter rhetorischer Stilfiguren haben ihre sehr viel tieferen Gründe. Durch die komprimierte, polar gespannte, aussparende Darstellung erzeugt Kraus intellektuelle Energien, die den Leser zwingen, den intellektuell-künstlerischen Gedankengang des Au¬ tors nachzuvollziehen. Dabei ist der Leser weiter gezwungen, die Entste¬ hung des Gedankens aus dem Geist des Wortes zu wiederholen. Kraus’ Aphorismen leben aus dem Geist der Sprache und des Wortes, und zwar in einem ganz ursprünglichen Sinne. Alle von ihm angewand¬ ten sprachliche, syntaktischen, stilistischen und rhetorischen Methoden und Praktiken dienen ihm lediglich dazu, die Worte zu drehen und zu wenden, sie abzuklopfen und abzuhören, um ihre wahren Herztöne zu vernehmen; die überlieferten, gewohnten und gedankenlosen Wendun¬ gen aufzubrechen, um die Verdeckungen, Überlagerungen und Entstel¬ lungen zu durchbrechen und um zur wahren Gesundheit der Sprache durchzustoßen. So wie am Anfang der abendländischen Metaphysik bei dem Vorsokratiker Parmenides Denken und Sein dasselbe waren, so sind für Kraus die Sprache und die Sache, der Gedanke und das Wort dasselbe: »Wort und Wesen - das ist die einzige Verbindung, die ich je im Leben angestrebt habe« (431 )52. Für Kraus ist die Sprache die Mutter, die den Gedanken gebiert, und das Wort die Gestalt des Gedankens, welcher Gedanke aber nur geboren werden kann, wenn der Geist des Denkenden die Sprache als Mutter befruchtet hat: »Die Sprache Mutter des Gedankens? Diese kein Verdienst des Denkenden? O doch, er muß jene schwängern« (238). Da weiterhin »die Sprache (...) die Wünschel¬ rute« sei, »die gedankliche Quellen findet« (236), kann mit der Sprache das Wesen der Wirklichkeit ergründet werden. So ist Kraus’ Verhältnis zur Sprache nicht nur ein »religiöses«53 und auch nicht nur eine »in erotische und oft geradezu sprach-theologische Metaphorik gehüllte Verehrung des >alten Wortes