Die verfolgende Unschuld: Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus 9783205790129, 9783205786153

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Die verfolgende Unschuld: Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus
 9783205790129, 9783205786153

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Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 17 Herausgegeben von Klaus Amann Hubert Lengauer und Karl Wagner

Irina Djassemy

Die verfolgende Unschuld Zur Geschichte des autoritären Charakters in der Darstellung von Karl Kraus

Mit einem Vorwort versehen und für die Herausgabe vorbereitet von Stefan Gandler, Joachim Rauscher und Stephan Bundschuh

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78615-3 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Umschlagabbildung: Georges Grosz, The Painter of the Hole 1, 1948 © Hirshorn Museum and Scultpure Garden, Smithonian Institution, Washington DC/ © VBK Wien, 2011 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier Druck  : Prime Rate, 1047 Budapest

Danksagung

Die vorliegende Studie wurde durch den Jubiliäumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank großzügig gefördert. Prof. Dr. Hubert Lengauer und Prof. Dr. Hans Höller danke ich für ihre freund­liche Unterstützung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11

Kapitel 1: Der unmündige Bürger (1899–1914) . . . . . . . . . . . . . . . .  35 Autoritärer Charakter und Habsburgermonarchie Kapitel 2: Die verfolgende Unschuld (1814–1918) . . . . . . . . . . . . . . 113 Die letzten Tage der Menschheit und der Erste Weltkrieg Kapitel 3: Kasmader und die Demokratie (1919–1932). . . . . . . . . . . . 185 Widersprüchliche Tendenzen in der Ersten Republik Kapitel 4: Dritte Walpurgisnacht (1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Vom potenziellen zum manifesten Faschismus Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Werkverzeichnis Irina Djassemy. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Vorwort

Irina Djassemy (geboren 1965 in Wiesbaden) analysiert in dem vorliegenden Buch die literarische Gestaltung und Erforschung des autoritären Charakters im Werk von Karl Kraus. Sie bezieht sich hierbei auf sein Gesamtwerk; der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeit von 1899 bis 1936. Wesentlich für ihre Analyse sind die empirischen Studien der Kritischen Theorie zum Thema der Autorität. Bestimmte theoretische Einsichten der Frankfurter Schule – so die These von Irina Djassemy – hat Karl Kraus in nuce vorweggenommen. An ihrem Manuskript wurden keine Eingriffe vorgenommen – abgesehen von geringfügigen orthographischen Korrekturen. Die Autorin ist bereits als Kennerin von Karl Kraus ausgewiesen. Sie verfasste eine umfassende Studie zur Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno (Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“, Würzburg 2002). In beiden Untersuchungen wird der gesellschaftskritische Charakter des Werkes von Karl Kraus herausgearbeitet und betont. Die Aktualität der beiden Studien – insbesondere der nunmehr vorliegenden – ist angesichts der jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unverkennbar. Irina Djassemy studierte Germanistik und Politische Wissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo sie den Magister Artium erwarb und promoviert wurde. Sie war als Lektorin für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Freiburg im Breisgau, als Lehrbeauftragte für Germanistik und Medienwissenschaft an der Universität Frankfurt und als Lektorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Salzburg beschäftigt. Seit Mai 2005 lebte sie als freie Literaturwissenschaftlerin und Deutsch­leh­ rerin in Wien, wo sie auch am Institut für Politikwissenschaft der Universität lehrte. Die Marx’sche Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und die Kritische Theorie waren zentrale Bezugspunkte ihres Denkens. Trotz wissenschaftlicher Anerkennung erhielt Irina Djassemy keine feste akademische Anstellung. Einige Wochen vor ihrem Tod formulierte sie ein ausführliches Exposé für ein Forschungsprojekt mit dem Titel: Die Idee der Freiheit und ihre Darstellung in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Intendiert war eine Untersuchung literarischer Texte von Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Peter Weiss, Gert Jonke, Doron Rabinovici und Michael Scharang.

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Vorwort

Am 26. Oktober 2009 starb Irina Djassemy kurz nach dem Sturz aus einem Frankfurter Hochhaus; im Polizeibericht wird Suizid als Todesursache vermerkt. Mexiko-Stadt/Frankfurt am Main/Düsseldorf Stefan Gandler · Joachim Rauscher · Stephan Bundschuh

Einleitung

Der autoritäre Charakter, wie ihn die moderne Gesellschaft hervorbringt, gehört zu einem ihr inhärenten Bedrohungspotenzial, das allgemeiner als Dialektik von Zivilisation und Barbarei, Aufklärung und Gegenaufklärung, Herrschaft und Freiheit zu beschreiben ist. Wahre Demokratie bedarf mündiger, selbstbewusster, vernünftig urteilender und an einem friedfertigen Zusammenleben interessierter Citoyens, nicht aber beschädigter Persönlichkeiten, die sich ihr allenfalls oberflächlich anpassen. Dieses Problem hat nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die Literatur Eingang gefunden. Während wissenschaftliche Analysen durch die Verbindung von Soziologie und Psychologie helfen, die Genese und die Funktionsweise autoritärer Mechanismen zu erklären, leistet die kritische Darstellung in der Kunst ihren spezifischen Beitrag dazu, autoritäre Züge kenntlich zu machen, Widerwillen gegen sie zu erwecken und im besten Fall Selbstreflexion zu fördern. Das Gesamtwerk von Karl Kraus ist in dieser Hinsicht quantitativ und qualitativ besonders ergiebig  : In seinem Figurenpersonal findet sich eine große Zahl von Charakteren aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, die ausgeprägt autoritäre Züge tragen. Untersuchungszeitraum ist der Erscheinungszeitraum seiner Zeitschrift Die Fackel (1899–1936)1, wobei auch Dramen und Gedichte herangezogen werden. Dass die Kraussche Satire so häufig und mannigfaltig Elemente des autoritären Charakters präsentiert, liegt nicht zuletzt an ihrer Entstehungszeit  : Als Kraus die Fackel zu schreiben begann, hatte sich die autoritäre Charakterstruktur in ihrer modern-antimodernen Form gerade formiert, und als er starb, hatte sie sich bis zur nicht nur potenziell, sondern eingestanden faschistischen Persönlichkeit weiterentwickelt. Die chronologische Gliederung trägt dem Umstand Rechnung, dass die Erscheinungsformen des autoritären Charakters ebenso wie die Darstellungsformen der Fackel von der jeweiligen Epoche geprägt sind. Immerhin umfasst der Untersuchungszeitraum nicht nur 37 Jahre, sondern drei Gesellschaftsformen (Monarchie, Demokratie, Faschismus), wobei noch eine Untergliederung der monarchischen Phase in die Zeit bis 1914 und die Zeit des Ersten Weltkriegs notwendig ist. Eine Gliederung nach ideologischen Aspekten wie Antisemi-

1 Die Fackel, hg. von Karl Kraus, Wien 1899–1936, im Folgenden mit der Sigle F + Heftnr. zitiert.

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tismus und Misogynie wäre wegen der Relevanz der historischen Transformationsprozesse ebenso wenig sinnvoll gewesen wie eine Gliederung nach psychologischen Aspekten wie autoritäre Aggression und Konventionalismus. Gegenüber konservativen und psychoanalytischen Deutungen, die Kraus’ kritische Darstellung seiner Zeitgenossen aus dem vermuteten Charakter des Autors ableiten, ist demnach einzuwenden, dass seine Darstellung zeittypische Erscheinungen kritisiert und in satirischer Mimesis auf deren Bedrohlichkeit reagiert. Explizit ist auch hervorzuheben, dass das Autorsubjekt der Fackel – von der empirischen Persönlichkeit des Karl Kraus ganz zu schweigen – insgesamt keineswegs eine autoritäre Charakterstruktur im Sinne der kritischen Theorie aufweist, sondern sich in der von Unterprivilegierten, Machtlosen und Fremden, in der Verabscheuung von Krieg und Gewalt, im Eingedenken individuellen Leidens, in der Modernität seiner künstlerischen Formen sowie in der Bekundung wie auch Förderung von autonomem Urteilsvermögen und Sensibilität als ausgesprochen nicht-autoritär erweist. Indessen, wie empirische Studien sogar bei extremen low scorers noch gewisse gegenläufige Tendenzen festzustellen pflegen, so ist auch das Kraussche Werk nicht frei von ihnen. Insbesondere zwei Aspekte sind in dieser Hinsicht zu vermerken  : Kraus’ schwieriges Verhältnis zum Judentum und die der Satire immanente Neigung zur Typologie. Dass Kraus in einem jüdischen Elternhaus aufwuchs, eine für das aufgeklärte jüdische Bürgertum typische Erziehung und Ausbildung genoss und von der Öffentlichkeit (ungeachtet seiner Distanzierung von der Israelitischen Kultusgemeinde und seiner Propagierung der Assimilation) als Jude wahrgenommen wurde, führte dazu, dass er jüdische Zeitgenossen mit der ganzen Schärfe kritisierte, die ein Nicht-Autoritärer gewöhnlich gegenüber der Eigengruppe erkennen lässt. Dabei geht er aber teilweise so weit, propagandistische Elemente des Antisemitismus, mithin eine verzerrte Fremdwahrnehmung zu übernehmen, deren Motive er doch in seiner Darstellung des Antisemitismus sehr scharfsichtig durchschaut. Die seiner Darstellung zugrunde liegenden, teils antisemitischen, teils aber auch philosemitischen Klischees verweisen indessen darauf, dass seine Satire gesellschaftliche Typen präsentiert und damit in ein Spannungsverhältnis zur Parteinahme für das einzelne Individuum mit seinem Anspruch auf die Anerkennung seiner Nichtidentität gerät. Auf solche Widersprüche wird in der vorliegenden Studie an besonders signifikanten Stellen hingewiesen  ; im Vordergrund steht jedoch die instruktive Darstellung des autoritären Charakters und seiner antisemitischen Elemente, die Kraus selbst leistet.

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Der Begriff des autoritären Charakters In den Dreißiger- und Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts führte das Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Reihe von empirischen Studien durch, die um das Thema der Autorität gruppiert waren. 2 Motiviert waren diese Studien durch den international sich ausbreitenden Faschismus. Als 1939 im US-amerikanischen Exil ein Plan zu einer Antisemitismus-Studie in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert wurde, war das Interesse davon bestimmt, angesichts faschistischer Propaganda in den USA einerseits und angesichts der immer hemmungsloseren Judenverfolgung in Deutschland andererseits zu untersuchen, mit wie viel Zustimmung eine ähnliche Politik in den USA rechnen könnte und worin die Triebkräfte dieser Zustimmung begründet seien. Wegen des Mangels an Ressourcen konnte das Projekt3 jedoch erst 1944 begonnen werden  ; die entscheidenden Befragungen wurden nach Kriegsende durchgeführt. Finanzielle Unterstützung für das Projekt erhielt das Institut schließlich vom American Jewish Committee (AJC). Inzwischen hatte sich die Situation geändert  : Nachrichten über die Schoah führten dazu, dass offen antisemitische und faschistische Politik in der schockierten Öffentlichkeit nur mehr wenige Anhänger fand. Damit waren die Ressentiments gegen Juden und andere diskriminierte Minoritäten nicht verschwunden  ; es galt aber in weiten Kreisen als inakzeptabel, radikale politische Maßnahmen zu befürworten. In dieser historischen „Atempause“ wurde das Konzept nach einer Idee von Adorno, die bei Horkheimer begeisterte Aufnahme fand, verändert  : Die empirischen Erhebungen konzentrierten sich nun auf das potenziell faschistische Subjekt, auf Menschen, die nicht erklärtermaßen Faschisten waren, tatsächlich aber eine Anfälligkeit für faschistische Propaganda aufwiesen. Für das AJC hatte diese Fragestellung einen hohen praktisch-politischen Wert, weil sie helfen konnte, passende Gegenmaßnahmen für die Ausbreitung 2 Einen hilfreichen Überblick gibt das Standardwerk von Martin Jay  : Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, hier v.a. Kapitel IV und VII. 3 Der Titel lautete nicht von Anbeginn The authoritarian Personality  ; zuvor war u.a. The potential Fascist im Gespräch gewesen. Vgl. dazu Rolf Wiggershaus  : Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. München/Wien 1986, S. 458. – The authoritarian Personality, by T. W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, R. Nevitt Sanford. New York 1950, erschien in der von Max Horkheimer herausgegebenen Reihe Studies in Prejudice (5 Bde., New York 1949–50).

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des Antisemitismus zu entwickeln  ; Gegenmaßnahmen, deren Adressaten die große Masse der Vorurteilsvollen, aber noch nicht in radikaler Feindseligkeit Erstarrten sein sollten. Dass die Studien zum autoritären Charakter weit über die Grenzen der USA hinaus bis heute so instruktiv geblieben sind, hängt ebenfalls mit der veränderten Fragestellung zusammen, da bedauerlicherweise die Analyse des innerhalb der Demokratie entstehenden antidemokratischen Potenzials ihre Dringlichkeit nie verloren hat. Ausgangsfragen der Untersuchung waren  : „Wenn es ein potentiell faschistisches Individuum gibt, wie sieht es, genau betrachtet, aus  ? Wie kommt antidemokratisches Denken zustande  ? Welche Kräfte im Individuum sind es, die sein Denken strukturieren  ? Wenn es solche Individuen gibt, sind sie in unserer Gesellschaft weit verbreitet  ? Und welches sind ihre Determinanten, wie der Gang ihrer Entwicklung  ?“4 Die methodologischen Ansätze beruhten auf der These, dass die Überzeugungen und die Charakterzüge einer Person ein gemeinsames Syndrom bilden, dass also die Anfälligkeit für faschistische Propaganda auf die Charakterstruktur zurückzuführen ist. Je irrationaler die Überzeugungen erscheinen, sei’s, weil sie den materiellen Interessen ihrer Vertreter zuwiderlaufen, sei’s, weil sie mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis unvereinbar sind, umso tiefer wurzeln sie in psychischen Bedürfnissen (Trieben, emotionalen Impulsen, Wünschen). Deshalb verwundert es nicht, dass sich bei den für faschistische Propaganda besonders Anfälligen eine einheitlichere Charakterstruktur findet als bei den einigermaßen resistenten Demokraten. Die Untersuchung der high scorer nach Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung hilft, die Beziehungen zwischen Psyche und Überzeugung besser zu erklären. Da nur eine Minderheit in der Bevölkerung – damals wie heute – weitgehend resistent gegenüber allen Elementen faschistischer Propaganda ist, treffen die an den high scorers gewonnenen Erkenntnisse in eingeschränktem Umfang auch auf den Teil der Bevölkerung zu, dem ein mittelmäßig ausgeprägtes faschistisches Potenzial zu eigen ist. Wenn die Vertreter dieses Konzepts davon ausgehen, dass der Affirmation einer bestimmten Ideologie psychologische Bedürfnisse zugrunde liegen, impliziert das allerdings keinen Automatismus in der Beziehung von Ideologie und Psychologie  : „Gleiche ideologische Trends können in verschiedenen Individuen verschiedene Ursachen haben, und gleiche persönliche Bedürfnisse können sich in unterschiedlichen ideologischen Trends ausdrücken.“5 Vor4 Theodor W. Adorno  : Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/Main 1973, S. 2 5 Ibid.

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schnelle Schlüsse von einer Einzelmeinung auf die innere Motivation sollten deshalb vermieden werden  ; erst ein umfassendes Bild von der Haltung einer Person zu gesellschaftlichen Fragen erlaubt eine entsprechende Zuordnung. Und umgekehrt stellt die Charakterstruktur zwar eine Disposition dar, die das Potenzial zu bestimmten Überzeugungen enthält, nicht aber legen bereits einzelne Charakterzüge die dauerhafte Beibehaltung einer Meinung fest. Schließlich wird die Beziehung zwischen Ideologie und Psyche von äußeren Faktoren wie der gesellschaftlichen Situation und den ideologischen Manipulationen mitbestimmt. Diese Einschränkungen sind wichtig, weil vor einer Trivialisierung der Erkenntnisse durch simplifizierende Kurzschlüsse ebenso gewarnt werden muss wie vor einer unzulässigen Psychologisierung politischer Debatten und gesellschaftlicher Entwicklungen. Auch in diesem Kontext gilt es zu beachten, dass insbesondere die irrationalen Überzeugungen Rückschlüsse auf die Psychologie ihrer Vertreter erlauben, was ja im Fall paranoider (antisemitischer, rassistischer) Konstrukte unmittelbar evident ist, während politische Urteile, die auf der Basis vernünftiger Argumentation gewonnen wurden, auch den Anspruch erheben dürfen, rational diskutiert zu werden. Pointiert gesagt, ergibt das Verfahren einer Rückführung politischer Ansichten auf ihre psychischen Antriebskräfte nur Sinn, wenn es sich um irrationale (hier  : um potenziell faschistische) handelt  ; für den rationalen Diskurs, das heißt für Debatten dezidiert nicht-faschistischer Ansichten, ist es ungeeignet und sogar kontraproduktiv. Überdies muss in der Analyse politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen die Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und Psychologie ebenso beachtet werden wie die zwischen Sein und Bewusstsein  : Vorurteile entstehen nicht ad hoc, sondern meist auf der Basis verbreiteter Ressentiments. Zu Stereotypen verfestigte Vorurteile bieten ihren psychisch beschädigten Adepten die Möglichkeit, innere Konflikte durch die Projektion auf gesellschaftlich diskriminierte Fremdgruppen nach außen zu verlagern. Und auch die diesem Vorgang zugrunde liegende Beschädigung  : Der Mangel an self-awareness, der die Reflexion der eigenen Wünsche, Ängste, Triebe und Motive verhindert, ist durch eine Gesellschaft in dem Grade bedingt, in dem sie selbstbestimmtes Leben verunmöglicht. Die Unfähigkeit zur Selbstreflexion führt nach Adorno dazu, dass die eigenen, nicht akzeptierten Triebe, Wünsche und Impulse in verzerrter Form auf diskriminierte Fremdgruppen projiziert werden – bei gleichzeitiger Idealisierung der Autoritäten der Eigengruppe. Dabei kommt es häufig vor, dass Vorurteilsvolle die gleiche Handlung gegensätzlich beurteilen, je nachdem, ob sie von einem Mitglied der Eigengruppe oder von dem einer verhassten Fremd-

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gruppe begangen wird  : Im ersten Fall bewerten sie das Verhalten etwa als tüchtig, mutig und klug, im zweiten als gierig, aggressiv und verschlagen. Projektivität ist demnach ein zentraler psychologischer Mechanismus, der bei den Autoritären pathologisch ausgeprägt ist. Dabei können auch sexuelle Motive eine Rolle spielen  : Die Entzweiung mit der eigenen Natur (ein ebenfalls gesellschaftlich bedingtes Problem) kann dazu führen, dass sexuelle Triebe und Ängste in verzerrter Gestalt auf die Außenwelt projiziert werden. Ein verbreitetes Stereotyp wie das vom sexuell zügellosen „Neger“ erlaubt es, jene Triebe und Ängste in einer weithin akzeptierten Weise zu kanalisieren. Projektivität und Sexualität wurden wegen ihrer besonderen Relevanz als eigene Variablen getestet, obwohl sie keine Charaktereigenschaften darstellen. (Angemerkt sei an dieser Stelle, dass in den Elementen des Antisemitismus, wie sie in der Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet werden, eine verzerrte Form von Mimesis als Kehrseite der pathischen Projektion erkannt wird.) Im folgenden kurzen Überblick werden die übrigen sieben Variablen, die sich auch als Charakterdimensionen begreifen lassen, in drei Gruppen zusammengefasst (wobei der in Klammern genannte Buchstabe die Position auf der ursprünglichen Liste6 anzeigt). Die Darstellung stützt sich nicht nur auf die Formulierung der Variablen und ihre Explikation, sondern auch auf andere Abschnitte der Authoritarian Personality (sowie auf die allgemein bekannten gesellschaftstheoretischen Einsichten der kritischen Theorie), weil hier keine Notwendigkeit mehr besteht, zwischen Hypothesen und verifizierten Syndromen zu unterscheiden. 1. Autoritäre Aggression und Autoritäre Unterwürfigkeit (c/b) 2. Anti-Intrazeption, Machtdenken und „Kraftmeierei“, Destruktivität und Zynismus (d/f/g) 3. Aberglaube und Stereotypie, Konventionalismus (e/a) Ad 1.: Die Neigung, „nach oben zu buckeln und nach unten zu treten“ bzw. sich Mächtigeren einspruchslos zu unterwerfen und weniger Mächtige die eigene Überlegenheit fühlen zu lassen, ist vermutlich so alt wie gesellschaftliche Herrschaft selbst. Wird dieses Verhalten nicht bloß taktisch begrenzt und bewusst zur Erreichung eines Ziels eingesetzt, sondern als reflexartiges Verhalten gleichsam automatisiert und zudem affektiv besetzt, dann handelt es sich um ein Element des autoritären Charakters. Zu gehorchen, zu befehlen und den wirklichen oder vermeintlichen Ungehorsam anderer der Bestrafung 6 Theodor W. Adorno  : Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt 1973, S. 45

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zuzuführen, wird zur psychischen Notwendigkeit, allerdings kaschiert durch moralisierende Rechtfertigung. Psychologische Voraussetzung ist die unzureichende Ausbildung einer inneren Autorität  : des eigenen Gewissens  ; ein solches wird durch die fraglos adaptierten Befehle von oben ersetzt. Da die Betroffenen ihre Autoritätspersonen uneingeschränkt zu verehren trachten, müssen gleichwohl auftretende Hassgefühle gegen sie verdrängt, Wut und Frustration in Ehrfurcht und Gehorsam transformiert werden. Diese Hassgefühle sowie rebellische Impulse sind umso stärker, je weniger das Autoritätsverhältnis sachlich begründet und je mehr es Teil einer irrationalen Hierarchie ist  ; sie werden an die jeweils Schwächeren weitergegeben. Aber die politische Psychologie der autoritären Aggression reicht weit über dieses sog. Radfahrersyndrom hinaus  : Viele Menschen erfahren sich in der modernen Gesellschaft als austauschbar, fremdbestimmt und abhängig, und das erzeugt Angst, vor allem, wenn sie sich die kritische Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie leiden, nicht gestatten. Die autoritäre Reaktion darauf ist die Sehnsucht nach Gratifikation (Sicherheit, Bestätigung) bietenden, idealisierten Autoritäten der Eigengruppe, z. B. in Gestalt politischer oder religiöser Führer, welche Hoffnung auf eine Belohnung der Anpassungsleistung bieten und die eigene Person von Verantwortung entlasten  ; an die Stelle einer solchen Identifikationsfigur kann aber durch einen Abstraktionsvorgang auch die Identifikation mit der Eigengruppe und mit gesellschaftlicher Macht im Allgemeinen treten. Die aus Unterwerfung und Angst entspringenden Aggressionen transformieren sich in ein Strafbedürfnis gegenüber devianten Einzelpersonen, Opponenten und Minoritäten, wobei die Aggression besonders stark ausbricht, wenn von einer als schwach eingestuften Minorität zugleich behauptet wird, sie habe mehr Einfluss, als ihr zukomme – daher rührt die besondere Attraktivität des Antisemitismus für die autoritäre Aggression. Autoritäre Unterwürfigkeit und autoritäre Aggression manifestieren sich als masochistische Lust an der Selbstzurichtung als solcher, an der eigenen Abhängigkeit, an der Unterwerfung unter nicht hinterfragte Regeln, als Lust am Beherrschtwerden schlechthin und als sadistische Lust am Befehlen und Strafen als solchem bzw. in der Identifikation mit Befehlenden und Strafenden. In seinem frühen Entwurf für die Studien über Autorität und Familie sprach Erich Fromm deshalb vom sadomasochistischen Charakter, ohne dass damit zwangsläufig eine sexuelle Störung gemeint sein sollte. 7 Die relevante 7 Erich Fromm  : Sozialpsychologischer Teil. In  : Studien über Autorität und Familie [1936], hg. v. Max Horkheimer, Lüneburg 21987, S. 77–135

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gesellschaftliche Konstellation erfuhr im Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft einen Wandel ihrer hierarchischen Strukturen  : In dem Maße, wie der Schein einer notwendigen, von Geburt an festgelegten Hierarchie schwand, rückte die Erkenntnis ihrer Irrationalität in greifbare Nähe und ihre Ungerechtigkeit wurde stärker empfunden  ; zugleich wurde die Einordnung in diese Hierarchie immer weniger mit dauerhafter Sicherheit der Lebensverhältnisse belohnt und die sozialen Beziehungen wurden anonymer. Diese gesellschaftlichen Veränderungen förderten, je nach psychischer Disposition, emanzipatorische oder regressiv-autoritäre Bedürfnisse. Ad 2.: Bezeichnend für den autoritären Charakter ist des Weiteren die oft nur dürftig rationalisierte Verherrlichung von Macht, Stärke und Gewalt. Anstatt sich eigene Schwächen einzugestehen, zeichnen die Betroffenen ein Selbstbild, das in übertriebener Weise von Stärke und Erfolg geprägt ist. Es besteht eine Neigung zur Identifikation mit Gewaltmenschen bzw. Siegertypen, die kaum mehr moralisch, sonder eher durch ein Denken im Freund-FeindSchema legitimiert wird. Alles Schwache wird verachtet, weil Mitgefühl auf die Spur der eigenen Angst vor Schwäche geleiten würde. Ein ebenso misanthropisches wie sozialdarwinistisches Weltbild dient dann dazu, diese inhumanen Regungen als objektiv notwendig und naturgegeben zu rationalisieren, obwohl es den eigenen Interessen bei den Angehörigen der unteren Schichten entgegensteht. Unter Anti-Intrazeption verstehen Adorno et al. die Abwehr alles Sensiblen, von der modernen Kunst bis zur Hilfe für Verfolgte. Im Extremfall werden andere Menschen kaum anders als Dinge wahrgenommen und auf ihren materiellen Nutzen oder ihre Quälbarkeit hin taxiert. Damit glauben die Destruktiven und die „Kraftmeier“ (nicht ganz ohne Grund), sich Vorteile im Konkurrenzkampf aller gegen alle zu verschaffen. Indessen zahlen sie dafür einen hohen Preis  : Einerseits stehen sie permanent unter Druck, keine Schwäche zu zeigen, andererseits fehlt ihnen der Rückhalt in genuinen, von individueller Zuneigung geprägten sozialen Beziehungen. Wenn die Eigenschaften dieser zweiten Gruppe dominieren, kann von einem Gewissen selbst in der externalisierten Form, wie es bei den Gehorsamen des sadomasochistischen Typus und bei den Konventionellen feststellbar ist, kaum mehr die Rede sein. Allenfalls radikalisiert sich die Destruktivität so weit, dass sie sich gegen die eigene Person und gegen die Eigengruppe richtet, weil Gewaltausübung und Untergang als solche faszinieren. Falls aber jene anderen Elemente ebenso stark ausgeprägt sind, können diese selbstzerstörerischen Tendenzen auch den Charakter einer Selbstbestrafung annehmen.

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Ad 3.: Aberglaube, Stereotypie und Konventionalismus lassen sich als drei Varianten begreifen, emotionale und intellektuelle Überforderung durch ein starres Weltbild zu kompensieren. Insbesondere dem Aberglauben, soweit er für die Analyse des autoritären Charakters in Betracht kommt, liegt gesellschaftlich produzierte Angst zugrunde  : Komplexe Herrschaftsverhältnisse sowie schwer durchschaubare politische und ökonomische Mechanismen werden durch die Fixierung auf Irrationales kompensiert. Das Übersinnliche (der religiöse Wahn) soll der technisierten Welt einen Sinn verleihen. Ebenso wie vermittels des Aberglaubens können auch vermittels stereotyper Fremdgruppenbilder paranoide Tendenzen kanalisiert und nichtintegrierte, unbewusste Impulse nach außen projiziert werden. Während kritische Erkenntnis durch Selbstzensur unterbunden wird, findet das menschliche Leid und Elend mithilfe simplifizierender Weltbilder eine – wenn auch krude – Erklärung. Durch Starrheit ist darüber hinaus der Konventionalismus charakterisiert  : Gemeint ist hier ein Festhalten an den middle class values (allgemeiner  : an den Normen der Eigengruppe, die abhängig von Milieu und Epoche variieren), das nicht mit der Verinnerlichung dieser Normen in Form ihrer Integration in die Persönlichkeit einhergeht. Da sie sich insgeheim gegen diese Normen auflehnen, verteidigen die Autoritären sie umso aggressiver nach außen hin und lauern darauf, Verstöße durch „deviante Personen“ zu ahnden oder ahnden zu lassen. Sind Integration und Internalisierung der fraglichen Normen hingegen gelungen, dann kann deviantes Verhalten anderer gelassener beurteilt werden. Das starke Strafbedürfnis indiziert demnach misslungene Zivilisation  : Die kulturellen Codes sind insgeheim so verhasst, weil der Triebverzicht, den ihre Adaption erfordert, gesellschaftlich nicht mit einem entsprechenden Zuwachs an Selbstbestimmung, Glück und materieller Sicherheit kompensiert wird. Das Ziel der vorliegenden Studie ist es zu zeigen, dass und wie die von der kritischen Theorie analysierten Elemente des autoritären Charakters in den Schriften von Karl Kraus ihre literarische Gestaltung finden. Da es sich bei dem Figurenpersonal der Fackel um literarische Gestalten handelt, kommt die Genese dieser Charakterzüge allenfalls in gesellschaftlicher bzw. kultureller Hinsicht in Betracht. Die in der amerikanischen Fassung der Authoritarian Personality intendierte Ableitung der Charakterstruktur aus der individuellen Familiengeschichte ist hier nur am Platz, soweit familiäre Sozialisation in der Fackel explizit zum Gegenstand wird, denn satirische Typen haben keine „Lebensgeschichte“. Überdies können die einschlägigen Abschnitte der Authoritarian Personality am wenigsten überzeugen  : Obwohl sie interessante Beob-

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achtungen zu den Resultaten der qualitativen Interviews enthalten, erscheint die Deutung des Interviewmaterials immer dort, wo in Freudianischer Dogmatik versucht wird, alle Befunde aus dem Eltern-Kind-Verhältnis abzuleiten, reichlich gewaltsam.8 Adorno selbst ging bereits damals davon aus, dass die Familie als Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Individuum an Bedeutung verliert und ihre Funktionen bis zu einem gewissen Grad an Kollektivverbände, an die Kulturindustrie und an die ökonomische Sphäre abtritt. 9 Bevor das Verhältnis zwischen dem literatur-wissenschaftlichen und dem sozialpsychologischen Ansatz der vorliegenden Studie erörtert wird, sei hier kurz an die Rezeption der Krausschen Kultur- und Gesellschaftskritik durch die kritische Theorie erinnert, eine intensive Rezeption, die gerade auch in den Studien zum autoritären Charakter ihre Spuren hinterlassen hat. Sowohl Horkheimer als auch Adorno bekannten in außergewöhnlich emphatischen Worten, wie viel die kritische Theorie Karl Kraus verdanke. Obwohl dieser als Künstler keine wissenschaftliche Terminologie entwickelte, finden sich zentrale Denkmotive der kritischen Theorie im Allgemeinen und der Theorie des autoritären Charakters im Besonderen in der Fackel präformiert. In seiner Einleitung zum Sammelband Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie würdigt Adorno die Kraussche Sprachkritik als Modell soziologischer Verfahrensweisen.10 Aufgrund der Objektivität der Sprache gelinge es Kraus, aus sprachlichen Mängeln gesellschaftliche zu extrapolieren. „Die Kraus’sche Sprachphysiognomik hätte nicht in Wissenschaft und Geschichtsphilosophie so tief hineingewirkt ohne den Wahrheitsgehalt der sie tragenden Erfahrungen.“11 Mehr noch  : „Die von Kraus entfaltete Physiognomik der Sprache hat darum mehr Schlüsselgewalt über die Gesellschaft als meist empirisch-soziologische Befunde, weil sie seismographisch das Unwesen aufzeichnet, von dem die Wissenschaft aus eitel Objektivität zu handeln bor  8 Gegnern der kritischen Theorie waren diese Passagen höchst willkommen, um das Konzept als ganzes zu diskreditieren  ; aber auch die wohlwollende Rezeption konnte nicht umhin, hier methodische und analytische Mängel festzustellen.   9 Siehe dazu Adornos Brief an Erich Fromm vom 16.11.1937, in  : Adorno/Horkheimer  : Briefwechsel, Bd. 1, S. 539–545 sowie das Kapitel über Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung und seine Fortsetzung in Adornos Essay Das Schema der Massenkultur (in  : GS 3, S. 299–335). 10 Theodor W. Adorno  : Einleitung, in  : Th. W. Adorno, R. Dahrendorf, H. Pilot, H. Albert, J. Habermas, K. Popper  : Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt 1988, S. 7–79, hier S. 55–58 11 L.c., S. 57

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niert sich weigert.“12 In seinem Kraus-Essay aus den Sechzigerjahren vertritt Adorno bezüglich der erstmals 1908 erschienen Aufsatzsammlung Sittlichkeit und Kriminalität die Auffassung, diese Texte blieben aktuell, auch und gerade nachdem sich „der Spießer als Eichmann, der Erzieher, der die Jugend abhärtet, als Boger“ entpuppt hatten  : Kraus „ist vom Schlimmeren nicht überholt, weil er im Mäßigen das Schlimmste erkannte, und indem er es spiegelte, es enthüllte.“13 Dies liegt nicht zuletzt an präzisen Erkenntnissen psychologischer Art  ; obgleich Kraus ein „antipsychologische(r) Psychologe“ gewesen sei14, habe er „alles über die Rolle des Sexualneids, der Verdrängung und der Projektion in den Tabus“ gewusst15. Diesen für die Analyse des autoritären Charakters überaus relevanten Aspekt hebt Adorno auch deshalb so nachdrücklich hervor, weil er an die uneingelöste Hoffnung erinnern möchte, die einst mit sexueller Liberalisierung verbunden war  : „Die Befreiung des Sexus von seiner juristischen Bevormundung möchte tilgen, wozu ihn der soziale Druck macht, der in der Psyche der Menschen als Hämischkeit, Zote, grinsendes Behagen und schmierige Lüsternheit sich fortsetzt.“16 Eine liberalisierte Gesetzgebung genügt demnach mitnichten, um der antizivilisatorischen Dynamik kulturell bedingter Triebdeformationen Einhalt zu gebieten. Ähnlich enthusiastisch äußerte sich Horkheimer über Kraus  : „An der Verschandelung der Wörter und Sätze wird er der Entmenschlichung der Menschen und ihrer Beziehungen inne, der Zerstörung des Geistes durch Marktwert und entartete Konkurrenzmethoden. Die Sprache wird ihm zum Beweisstück der gesellschaftlich produzierten Verdummung […]  ; zum Beweisstück der Verrohung, die den Sprachleib ergreift, ehe sie in Kriegen, Diktaturen und Konzentrationslagern sich austobt. Als die Katastrophe hereinbrach, bestätigte sie nur, was Kraus der Sprache längst abgehört hatte.“17 Die beschädigte Sprache verwehre den Menschen die lebendige Erfahrung und verleite sie dazu, unreflektiert in Stereotypen zu denken. Wie Adorno 12 L.c., S. 56 13 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität. Zum elften Band der Werke von Karl Kraus. In  : ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1981 (= GS 11), S. 367–387, hier S. 381 14 L.c., S. 369 15 L.c., S. 368f. 16 L.c., S. 368 17 Max Horkheimer  : [Karl Kraus und die Sprachsoziologie], 9. Vortrag der Sendereihe Die Soziologie der Gegenwart im Hessischen Rundfunk. In  : ders.: Gesammelte Schriften, Bd.13, S. 19–24, hier S. 22f.

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betont auch Horkheimer die soziologische Relevanz der Krausschen Kritik  : „Das Recht dessen, was sich Kultursoziologie nennt, hängt davon ab, ob es in der Erkenntnis sprachlicher Sachverhalte zugleich jener Kritik mächtig bleibt, die Denker wie Kraus geübt haben.“18 In der Entwicklung der berühmten F(Faschismus)-Skala zur Messung autoritärer Einstellungen, einer Sammlung von im Ton alltagssprachlichen, oft phrasenhaften Sätzen, die eher eine bestimmte Haltung gegenüber dem jeweiligen Gegenstand zum Ausdruck bringen als sachlich fundierte Urteile über ihn, kamen Adorno die an der Fackel gewonnenen Einsichten zugute  : Er und seine Kollegen achteten offensichtlich auch auf den Subtext, mit dem sich die Vorurteilsvollen identifizierten.

Zur Verknüpfung von Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie Karl Kraus’ Beitrag zum Autoritarismus-Problem ist die künstlerische Arbeit an der kollektiven imagerie autoritärer Züge, ihrer Manifestationen in Sprache und Handlungen, ihrer psychologischen Dynamik, ihrer kulturellen Entstehungsbedingungen, aber auch am Entwurf von Gegenbildern. Seine allegorischen Bilder bezieht er im Unterschied zu den meisten anderen Künstlern aus der Empirie, häufig vermittelt durch ihre Darstellung in der Presse, während andere herausragende Darstellungen des autoritären Charakters, insbesondere die Hauptfiguren von Heinrich Manns Roman Der Untertan (1914) und Joseph Roths Roman Das Spinnennetz (1923), im traditionellen Sinne fiktive Gestalten sind. Die Bearbeitung des vorgefundenen Materials und seine Präsentation im Rahmen der Fackel macht den sozialen Gehalt erst der Erfahrung zugänglich, und zwar einer Erfahrung, die sowohl kognitive Erkenntnis als auch psychische Identifikation ermöglicht  ; im besten Fall verbinden sich emotionale und intellektuelle Lektüreerfahrungen zu einer nachhaltigen Immunisierung gegen autoritäre Anmaßung und (prä-)faschistische Propaganda. Denn die Satire verurteilt nicht nur, sie führt auch die Deformiertheit des Verurteilten präzise vor  : Ihren Bildern lässt sich ablesen, was die Gesellschaft ihren Mitgliedern antut. Um den gesellschaftlichen Gehalt nicht auf Moralismus oder Ästhetizismus zu reduzieren und auf diese Weise zu beschneiden, bedarf es aber einer philosophischen Deutung, die eine hinreichende Affinität zu Kraus’ künstlerischem Konzept aufweist. Es wurde schon an anderer Stelle ausführlich darge18 L.c., S. 24

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legt, welche Affinitäten zwischen der Krausschen und der Adornoschen Kulturkritik bestehen.19 Historisch-genetisch ist sie vor allem dadurch begründet, dass die kritische Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in kontinuierlicher Reflexion der Schriften von Karl Kraus sowie Walter Benjamin (der Kraus ebenfalls viel verdankt), Sigmund Freud und Karl Marx entwickelt wurde. Die Begriffe der Deutung und der Allegorie übernahm Adorno von Benjamin und adaptierte sie seiner eigenen Konzeption  ; beide Begriffe sind eng auf das mikrologische Verfahren bezogen, das Kraus, Benjamin und Adorno in je spezifischer Weise ausgeformt haben. Allegorisch gedeutet werden von Adorno nicht nur sprachliche und visuelle Bilder, sondern auch menschliche Gesten, Tiere, Mobiliar, sogar bestimmte Kompositionstechniken, kurz  : Es gibt keine Einschränkungen in der Frage, was zur Allegorie werden kann. Im Gegensatz zur Barockzeit, der Blütezeit einer traditionell allegorischen Kunst, lassen sich allegorische Bilder aber nicht mehr in ein verbindliches religiöses Ideensystem (wie dem Dualismus zwischen dem irdisch-Ephemeren und der göttlichen Ewigkeit) einfügen  ; stattdessen wird der gesellschaftliche Gehalt dechiffriert und auf das bisherige Verharren der Menschheitsgeschichte in mythischer Naturgeschichte bezogen.20 In seinem Kraus-Essay erklärt Adorno, dass schon „Kraus die Gesellschaft als Fortsetzung der verruchten Naturgeschichte diagnostiziert“.21 Daneben findet sich in Adornos Schriften allerdings auch eine traditionellere, meist abwertende, Verwendung des Begriffs Allegorie  : Er bezeichnet dann nicht die historisch angemessene Konzeption von Rätselbildern, die auf das Zergehen des Scheins sinnhafter Geschichte und entsprechend sinnhafter Symbolik reagiert, sondern die künstlerisch fragwürdige Verwendung traditioneller religiöser Allegorien, insbesondere durch Richard Wagner. In welchem Verhältnis Adornos und Benjamins Allegorie-Begriffe zueinander stehen, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden22  ; vielmehr gilt es nun, die Relevanz dieser Konzeption für eine sozialpsychologisch fundierte Deutung der Krausschen Schriften zu skizzieren.

19 Irina Djassemy  : Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg 2002 20 Vgl. l.c., Kapitel 2.2.1. und die dort angegebenen Quellen. 21 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 382 22 Diese Frage wird ausführlich erörtert und mit Angaben zur Forschungsliteratur versehen in  : Burkhardt Lindner (Hg.)  : Benjamin Handbuch. Stuttgart 2006.

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Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kraus die Bilder für seine Satiren aus der empirischen Wirklichkeit – meistens durch die Presse vermittelt – bezieht. Auch die Figuren der Fackel haben meist empirische Vorbilder, die aber in ein satirisches Figurenpersonal transformiert werden. Die aktuelle Studie erhebt nicht den Anspruch, Gültiges über die Psychologie der empirischen Personen (z. B. die Richter Johann Feigl und Moriz Mayer) auszusagen, sondern sie deutet wiederum die Darstellung der auf ihnen basierenden Figuren der Fackel und befragt sie nach ihrer sozialpsychologischen und kulturkritischen Aussagekraft.23 Durch diesen Prozess der Literarisierung entzieht Kraus die Personen ihrer kontingenten Existenz und verweist auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die dieses – in der fiktionalisierten Darstellung erst angemessen befremdliche – Sosein ermöglichen. Mit Adorno ist von einer „Reproduktion gesellschaftlicher Konflikte im Individuum“ auszugehen24  ; „die geschichtlichen Tendenzen realisieren sich nicht nur gegen“ die Menschen, sondern „in und mit ihnen“.25 Ohne kritische Distanz kann dieser Prozess der Internalisierung sozialer Antagonismen nicht bewusst reflektiert werden  : „So gehen die wichtigsten, nämlich bedrohlichsten und darum verdrängten Momente der sozialen Realität in Psychologie, in das subjektive Unbewußte ein. Aber verwandelt in kollektive imagines […]“26. „Solche imagerie ist die gegenwärtige, Soziales verschlüsselnde Gestalt des Mythos […]“ und damit „notwendiges falsches Bewußtsein“.27 Die falschen Bilder zu zertrümmern ist die vordringlichste, destruktive Aufgabe des Satirikers, aber ein produktives Element ist ihr stets inhärent  : Die Präsentation des Falschen in der eigenen Bildproduktion verweist in der bestimmten Negation dessen, was die Menschen und ihre Beziehungen zueinander nicht sein sollen, zugleich auf das Potenzial des Anderen, Besseren. Dass die von Kraus entworfenen Gegenbilder nicht immer schon die „wahren“ sind, sondern ihrerseits die Wundmale des beschädigten Lebens und Denkens tragen, kann insofern nicht verwundern, 23 Feigl und Mayer scheinen sich im Lauf der Zeit zum Besseren verändert zu haben und somit nicht auf die dargestellte psychische Disposition festgelegt gewesen zu sein  ; die Satire jedoch kennt bekanntlich keine Besserung der Welt, jedenfalls nicht, solange ein Feigl und ein Mayer, wie sie satirisch präsentiert wurden, weiterhin möglich sind. 24 Theodor W. Adorno  : Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in Soziologische Schriften I (= GS 8), S. 42–85, hier S. 55 25 L.c., S. 56 26 L.c., S. 91 27 L.c., S. 92

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als der Künstler selbst eben der von ihm kritisierten Gesellschaft nicht enthoben ist  : Er kann zwar versuchen, zu seinen Gegenständen auf Distanz zu gehen, aber er kann keinen Standpunkt außerhalb der menschlichen Geschichte einnehmen. Um der literarischen Qualität der Fackel gerecht zu werden, darf sich die Untersuchung nicht darauf beschränken, unter Missachtung der Form einen argumentativ-kritischen Inhalt zu extrahieren. Gerade in der sprachlichen Darstellungsform, die ihrerseits nicht losgelöst vom Inhalt betrachtet werden kann, finden sich Gegenmodelle zum Kritisierten, die das bestehende Unwesen transzendieren.28 Adorno wie Benjamin hoben die mimetischen Qualitäten der Krausschen Sprachkunst hervor.29 Die künstlerische Mimesis an das verurteilte Schlechte, aber auch an die Spuren des Anderen, ist für die Wirkungsästhetik der Fackel, insbesondere für ihr Einwirken auf verschiedene psychologische Schichten, von entscheidender Bedeutung. Indem sie sich mit dialektischer Erkenntnis, mit diskursiver Rationalität verbindet, vermag sie es ebenso, auf wissenschaftliche Erkenntnisprozesse einzuwirken wie spontane psychologische Identifikation zu erzeugen. Dieses Vermögen entspringt nicht zuletzt der Kombination einer extremen Präsenz der Autorsubjektivität mit sonst fast immer antiauktorialen Formen der literarischen Moderne (Montage und Collage, insbesondere dokumentarischer Elemente, Sprachparodie), indem nämlich die Rezipienten animiert werden, das eigene Kritikvermögen an ihrer Fackel-Lektüre zu schärfen, dann autonom auf das unkommentierte Material (der Fackel, aber auch der Dramen und Gedichte von Karl Kraus) anzuwenden und schließlich in der Lektüre aller möglichen Texte selbständig weiterzuentwickeln. Wie in der Rezeption vielfach kritisiert und vor allem bei Elias Canetti bezeugt wurde, blieben viele zeitgenössische Rezipienten allerdings dabei stehen, sich kritiklos mit Karl Kraus zu identifizieren (um sich dann oft irgendwann abrupt von ihm abzuwenden, ohne viel gelernt zu haben). Diese Gefahr einer autoritären Unterwürfigkeit dem Autor gegenüber besteht heute aufgrund des historischen Abstands und allem, was inzwischen befremdlich geworden ist, weniger  ; eher droht das Befremden die produk28 Dies gilt indessen nicht gleichermaßen für alle Texte der Fackel  : Viele frühe Texte sind mit verhältnismäßig geringem künstlerischen Anspruch geschrieben und lassen sich eher noch als guten Journalismus bezeichnen, etwa ab dem Jahr 1902 erscheinen immer mehr Texte, in denen der Darstellungsform und der künstlerischen Fantasie ein größeres Gewicht zukommt. 29 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 385  ; Walter Benjamin  : Karl Kraus, in  : Illuminationen, Frankfurt/Main 1977, S. 353–384, hier S. 375

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tive, autonome Rezeption zu beeinträchtigen. Wer aber bereit ist, sich auf die sperrige Lektüre einzulassen, wird gerade vom Autonomie fördernden Publikumsbezug der Krausschen Schriften profitieren. Ein Ziel der vorliegenden Studie besteht darin, eine solche Rezeption – innerhalb und außerhalb von etablierten Bildungsinstitutionen – anzuregen und durch Deutungsvorschläge zu unterstützen. Die ästhetischen Verfahren der Darstellung des autoritären Charakters bei Karl Kraus sind so vielfältig, dass ihre Untersuchung nach einem einheitlichen Schema, einer einheitlichen Methode, ihnen nicht angemessen wäre. Bei vielen Texten ist es nötig, die gesamte Konstruktion zu beachten (und sie eventuell mit der übergeordneten des Heftes oder der Szenenfolge in Beziehung zu setzen), in anderen erfolgt die Darstellung autoritärer Haltungen so weit isolierbar, dass eine Überschau der Darstellung eines Motivs, wie es in verschiedenen Texten vorkommt, hilfreicher erscheint. In jedem Fall gilt es zu analysieren, wie Karl Kraus die einzelnen Elemente der autoritären Charakterstruktur darstellt (und tatsächlich gelangen in seinem Gesamtwerk alle oben genannten Elemente zur Darstellung), welche Einsichten in die psychologische Dynamik dieser Elemente seine Darstellung bietet, inwiefern sie signifikant für die Kultur sind, aus der sie hervorgehen, und auf welche Weise die ästhetische Darstellung Abscheu vor dem Gegenstand erregt. Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung ist somit auf den objektiven kritischen Gehalt der Texte gerichtet, nicht auf die Psychologie des Verfassers, denn eine Rückführung des Textes auf die psychischen Bedürfnisse seines Urhebers, wie sie bis in die 1970er-Jahre hinein praktiziert wurde, kann (aufgrund des Mangels an gesichertem biografischen Material) weder diesem selbst noch den Kunstwerken gerecht werden. Sie ist deshalb ebenso abzulehnen wie die in der selben Zeit vorfindliche Trivialisierung der Literatursoziologie durch deren Reduktion auf den Nachweis von Klasseninteressen des Verfassers. Indessen gehört die Autorsubjektivität, soweit sie in die Texte integriert und damit objektiviert ist, durchaus zum Gegenstandsbereich der Untersuchung. Dies vorausgesetzt, ist die Analyse der literarischen Darstellung auf die gesellschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Erwägungen der kritischen Theorie und auf satiretheoretische Erwägungen bezogen, welche helfen mögen, jenen objektiven, kritischen Gehalt der Krausschen Schriften zu dechiffrieren. In der Satiretheorie wurde der Satire generell eine Affinität zum Konservatismus zugeschrieben, die mit der Notwendigkeit eines verbindlichen, allgemein bekannten, wenn auch nicht immer explizit benannten, Systems von Normen beruhe. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass der Begriff des Konservativen in

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der Kunst nicht die gleiche Bedeutung hat wie in der Politik, weil die Kritik, die politisch konservative Künstler gegen das Bestehende wenden, oft Kunstwerke hervorbringt, denen objektiv ein utopischer Gehalt zu eigen ist, der wie über das kritisierte Neue so auch über ihre Idealisierung der Vergangenheit hinausweist. Überdies wurde die Form der Satire in der Moderne immer mehr von progressiven und politisch unabhängigen Künstlern genutzt, entweder indem sie nun auf ein neues, emanzipatorisches Konzept bezogen wurde, oder indem eine Form gefunden wurde, bei der auf ein normatives System überhaupt verzichtet werden konnte. Diese letztere Form hat nun insbesondere Karl Kraus meisterhaft entwickelt. Seine Sprachsatire verfährt negativ, indem sie die Unsittlichkeit, die Widervernunft, die Hässlichkeit und die Verlogenheit des Objekts hervortreten lässt. Kein verbindlicher Normenkatalog liegt seiner Darstellung zugrunde  ; sie stützt sich ausschließlich auf die allgemeinen Begriffe von Vernunft und Mündigkeit, Sittlichkeit und Gottgefälligkeit, ohne sie positiv zu definieren und zu systematisieren. Sie ist mithin, nach Helmut Arntzens Wort, Utopie ex negativo.30 Die emphatische, sensible, zugleich scharfsinnige und bestimmte Ablehnung des Inhumanen (und das heißt für die vorliegende Untersuchung vor allem  : all dessen, was die Menschheit in Unmündigkeit, in „Naturgeschichte“ verharren lässt), steigert das Kritisierte zum Negativ, das zwar nie in ein positives Bild der ersehnten Welt, in eine „ausgepinselte“ Utopie, umgewandelt wird, diese aber zumindest so weit antizipierbar macht, wie es für das Eintreten gegen das als falsch Erkannte notwendig ist. Damit hat die Kraussche Satire teil an jener negativen Dialektik, die von Adorno in der Philosophie entwickelt wurde. 31 Mit dem Problem der Normativität verschwistert ist das der Autorität in ihrem Verhältnis zur Satire. Ohne für sich eine Art von geistiger Autorität in Anspruch zu nehmen, könnte kein Satiriker, keine Satirikerin an die Öffentlichkeit treten, impliziert doch schon dieser Akt, dass er oder sie Gültiges, aber (noch) nicht allgemein Bekanntes und Akzeptiertes über die Welt und ihre Widersprüche zu sagen habe. Aus dem selben Grund muss für die Autorsubjektivität, falls sie hervortritt, ein hohes Maß an Integrität, gewöhnlich auch an Bildung, Intelligenz und Autonomie, vorausgesetzt werden (die durchaus, wie bei Jean Paul, mit Selbstironie verbunden sein kann), sonst wäre dem Nachweis der Wider30 Helmut Arntzen  : Literatur im Zeitalter der Information. Frankfurt/M. 1971, S. 166 31 Die an dieser Stelle skizzierten Überlegungen werden ausführlich und in Auseinandersetzung mit anderen Theorien dargelegt in  : Irina Djassemy  : Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit (zentral  : S.  31–38), vgl. auch die dort zitierte Sekundärliteratur.

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sprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Gesellschaft, Person und Institution bei anderen die Basis entzogen. Und schließlich übt gerade die „strafende Satire“ (Schiller) eine Tätigkeit aus, die der Sanktionierung durch die Instanzen der familiären, schulischen und juristischen Autorität verwandt ist, was übrigens auch in umgangssprachlichen Redewendungen (von jemandem auf die Finger klopfen bis ihn vernichtend kritisieren) zum Ausdruck kommt. Doch alles, was mithin zur Autorität der Satire vorgebracht werden mag, verbürgt zugleich ihren Widerspruch zum autoritären Charakter, wie er von der kritischen Theorie konzipiert wurde. Die Autorität der Satire setzt eben jenen Überschuss an Vernunft und Integrität voraus, der dem Mangel an diesen Eigenschaften bei den Autoritären entgegensteht, und die künstlerische „Strafe“ wird in einer guten Satire nicht aus Strafsucht, sondern aus der Erkenntnis der Verderblichkeit des (in der Regel mächtigen) Objekts vollzogen, überdies symbolisch vollzogen, als „ästhetisch sozialisierte Aggression“ (Jürgen Brummack). Dass die Satire am Problem der Autorität in der genannten Weise teil hat, verleitet Schriftsteller und Publizisten mit ausgeprägt autoritären Zügen immer wieder dazu, sich an dieser Form zu versuchen (um nicht zu sagen  : zu vergreifen)  ; dass sie aber mit dem autoritären Charakter inkompatibel ist, führt zu einer weit über den gewöhnlichen Umschlag des philosophisch Unwahren ins künstlerisch Unwahre hinausreichenden Selbst-Desavouierung solcher Satiren. In der Fackel thematisiert Karl Kraus diesen Zusammenhang, indem er immer wieder, von der frühen Verspottung „bodenständiger“ Publizisten bis zur Abrechnung mit Nazi-Schriftstellern in der Dritten Walpurgisnacht, die geradezu Lebensüberdruss hervorrufende Trostlosigkeit dieser pseudokünstlerischen Fabrikate in Erscheinung treten lässt. Einzig in der bereits angesprochenen Typisierung, die aller Satire inhärent und für ihr aufklärerisches Wirken unverzichtbar ist, liegt ein Potenzial, das diese Kunstform mit der autoritären Charakterstruktur verbindet. Die entscheidende Differenz liegt in der Frage, ob sie (die Satire) es vermag, durch produktive Widersprüche ihre eigene Typisierung zu transzendieren oder ob letztere sich zur Stereotypie verfestigt. In Gestalt dieser notwendigen Widersprüchlichkeit verbindet auch das Problem der Autorität die Kraussche Satire mit Adornos negativer Dialektik, deren Einsicht in die Ausgrenzung des Nichtidentischen durch die Sprache der Philosophie sie der unverzichtbaren analytischen Verwendung von Allgemeinbegriffen, Thesen und Argumenten nicht enthebt, sondern ihre Transzendenz vermittels eines Spannungsfelds dialektischer Widersprüche erforderlich macht. Sowohl Kraus als auch Adorno beziehen sich in ihrer Kritik autoritärer Haltungen auf philosophische Theoreme von Immanuel Kant, und zwar vor allem

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auf seinen Begriff der Mündigkeit und auf den praktischen Imperativ. Kants Wahlspruch  : „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen  !“,32 könnte als Motto über der gesamten Fackel stehen, in deren Eröffnungstext programmatisch jenseits nationaler und parteipolitischer Meinungskartelle an das kritische Denken aller appelliert wird, um auf die erklärten Ziele  : das „Erkennen socialer Notwendigkeiten“ und die dazu notwendige „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“, hinzuwirken.33 In seiner Kritik der Presse als einer zentralen Instanz zur Verbreitung gebrauchsfertiger ideologischer Sprachmittel verfolgt Kraus diese Ziele ebenso wie in seiner Kritik staatlicher Institutionen. Für das Wortfeld mündig (mündig, unmündig, entmündigt, entmündigen und die jeweiligen Substantive) verzeichnet die Fackel-Edition der Digitalen Bibliothek vom ersten bis zum letzten Heft nicht weniger als 103 Fundstellen. Auch wenn man die wenigen abzieht, die in fremden Texten stehen, und außerdem einbezieht, dass die auf psychiatrische oder kindliche Unmündigkeit bezogenen Textstellen eher indirekt mit dem allgemeinen Problem zusammenhängen, bleibt eine beeindruckende Quantität der Wortverwendung übrig, deren aufklärerische Qualität in den einzelnen Abschnitten der vorliegenden Studie untersucht wird. Denn aufklärerisch ist die Kritik der Unmündigkeit selbst in den politisch fragwürdigsten Jahren der Fackel vor dem Ersten Weltkrieg, als Kraus den Begriff der Aufklärung aus Abscheu vor seinen liberalen Apologeten gelegentlich herabsetzt und als Platzhalter für ihn den Begriff der Mündigkeit in seinen genannten Varianten verwendet. 34 Was Kraus den Vertretern des Liberalismus vorwirft, ist eine Verabsolutierung des Mittels. Sprache, Technik, nicht zuletzt die Menschen selbst werden instrumentalisiert, um den zum Zweck pervertierten Mitteln (der wirtschaftlichen Dynamik, dem technischen Fortschritt) zu dienen. Allerdings erkennt der Autor der Fackel im Verlauf des Ersten Weltkriegs, dass diese Instrumentalisierung unter konservativer Herrschaft noch bedrohlichere Formen annimmt als unter liberal-demokratischen Verhältnissen. Letztere werden deshalb von ihm begrüßt, aber auch beständig mit dem nichteingelösten Emanzipationspotenzial konfrontiert, etwa wenn er seinem berühmten Gedicht Nach dreißig Jahren das

32 Immanuel Kant  : Beantwortung der Frage  : Was ist Aufklärung  ?, in  : Was ist Aufklärung  ?, hg. von Erhard Bahr, Stuttgart 1996, S. 8–17, S. 9 33 F 1, S. 2 34 Die Kantische Tradition der Krausschen Pressekritik betont in der rezentesten Sekundärliteratur Simon Ganahl  : Ich gegen Babylon. Karl Kraus und die Presse im Fin de Siècle. Wien 2006 (zentral  : Kapitel 2.4).

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Postulat „Der Mensch sei nicht das Mittel, doch der Zweck  !“ mit einiger Emphase der „falschen Freiheit“ und ihrer „umgekehrte[n] Lebensordnung“ entgegenhält.35 Damit zitiert Kraus Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der, ausgehend von der Prämisse, dass der Mensch „als Zweck an sich selbst“ existiert und „nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“,36 der praktische Imperativ formuliert wird  : „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“37 Während in der liberalen Ideologie ein Widerspruch zwischen der Forderung, den Menschen als Zweck ins Zentrum zu stellen, und seiner beständigen Unterordnung unter die Mittel besteht, verschärft sich das Problem im Denken, Fühlen und Handeln des potenziell faschistischen Subjekts in Richtung einer radikalen, schrankenlosen, gänzlich dehumanisierten Instrumentalisierung der Sprache und der Menschen. In der publizistischen und terroristischen Praxis des Nationalsozialismus erkennt Kraus 1933 eine Kulmination dieser Entwicklung, deren Vorboten er dem klischeehaften Sprachgebrauch seit jeher abgelesen hat.38 Die Fundierung seiner Kritik in der kantischen Ethik ist indessen keine explizit philosophische  ; vielmehr ist Gerhard Scheits Bemerkung zuzustimmen, Kraus habe „aus der Kritik der Sprache den praktischen Imperativ dieser Philosophie gleichsam noch einmal hervorgebracht“.39 Auch für Adornos kritische Analyse des autoritären Charakters sind Unmündigkeit und Instrumentalisierung zentrale Bezugspunkte. Konsequenterweise rekurriert er in seinen Überlegungen zur Frage einer angemessenen Erziehung und Bildung nach Auschwitz immer wieder auf den Begriff der Mündigkeit, sodass der Titel Erziehung zur Mündigkeit mit vollem Recht über die kleine Textsammlung gesetzt werden konnte, die seine an ein größeres Publikum adressierten Vorträge und Gespräche zu diesem Thema versammelt.40 Gerade für Erziehung und Bildung gilt, neben Kants praktischem Im35 F 810, S. 6. Der Untertitel wird in der Edition der Digitalen Bibliothek (Verlag Zweitausendeins) übrigens in der Kopfleiste zum Text falsch angegeben („Rückblick in Eitelkeit“ statt „Rückblick der Eitelkeit“, S. 31–523ff.), obwohl er im Textkorpus korrekt eingescannt wurde. 36 Immanuel Kant  : Werkausgabe, Bd.VII, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt  : Suhrkamp 1974, S. 59f. 37 L.c., S. 61, im Original gesperrt 38 Das würdigt insbesondere Horkheimer in jenem bereits zitierten Rundfunkvortrag über Karl Kraus. 39 Gerhard Scheit  : Jargon der Demokratie. Über den neuen Behemoth. Freiburg 2006, S. 227 40 Theodor W. Adorno  : Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/Main  : Suhrkamp, 1971

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perativ, das von Adorno in der Negativen Dialektik formulierte Postulat  : „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen  : ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“41 Für den Bildungssektor ergibt sich daraus die Konsequenz, pädagogisches Handeln und Lehrinhalte nach dem zentralen Kriterium zu beurteilen, ob sie geeignet sind, der Verfestigung autoritärer Charakterzüge und potenziell faschistischer Überzeugungen entgegenzuwirken. Als Gesellschaftstheoretiker widmet Adorno indessen den sozialen Verhältnissen, die Mündigkeit ermöglichen oder aber verhindern, eine Aufmerksamkeit, die in Kants idealistischer Philosophie nur sehr eingeschränkt und in Kraus’ künstlerischer Darstellung nur sehr vermittelt vorhanden ist. Insbesondere in der Negativen Dialektik werden die unterschiedlichen Potenziale der Moderne im Hinblick auf die Möglichkeit einer Form von Aufklärung, die gewährleisten könnte, dass „nichts Ähnliches geschehe“, so präzise und differenziert zur Darstellung gebracht wie in keinem anderen Text Adornos. Da an dieser Stelle seine eigenen Erwägungen – geschweige denn diejenigen der Debattanten in der Kontroverse um Moralphilosophie bei Adorno – nicht ausführlich diskutiert werden können, seien im folgenden nur einige Aspekte genannt, die geeignet scheinen, das in der Fackel präsentierte Material in eine sozialphilosophische Perspektive zu rücken. In der Beschreibung gesellschaftlicher Vorgänge vermittels naturgeschichtlicher oder mythologischer Kategorien, wie sie in der Fackel häufig zu finden ist, manifestiert sich, von ihrem Autor nicht philosophisch reflektiert, die Erkenntnis der Gesellschaft als „zweite Natur“. Diese Erkenntnis, bei Marx in den Begriffen der Naturwüchsigkeit und der menschlichen Vorgeschichte präformiert, wird von der kritischen Theorie zu einer umfassenden Theorie der gesellschaftlichen „Naturgeschichte“ entfaltet.42 Im Modell Freiheit diskutiert Adorno dieses Problem unter dem Aspekt des Verhältnisses von Freiheit und Determinismus  ; einer Frage, die unter den Bedingungen des Spätkapitalismus weder obsolet werden noch aber gelöst werden könne, weil der zugrunde liegende Widerspruch von der Gesellschaft beständig reproduziert werde  : „Je

41 Ders.: Negative Dialektik. Frankfurt/Main  : Suhrkamp  : 1966 (= GS 6), S. 358, vgl. den Anfangssatz von Erziehung nach Auschwitz, in  : Erziehung zur Mündigkeit, S. 88 42 In der Negativen Dialektik geschieht das vor allem im Exkurs zu Hegel (= Modell II, S. 295–353). Die Schlusspassagen (S. 347–353) bieten eine komprimierte Bestimmung des Begriffs Naturgeschichte, auf S. 335–353 stellt Adorno die widersprüchlichen Konsequenzen dieser Entwicklung für die historische Form der Individuation dar.

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mehr Freiheit das Subjekt, und die Gemeinschaft der Subjekte, sich zuschreibt, desto größer seine Verantwortung, und vor ihr versagt es in einem bürgerlichen Leben, dessen Praxis nie dem Subjekt die ungeschmälerte Autonomie gewährte, die es ihm theoretisch zuschob. Darum muß es sich schuldig fühlen. Die Subjekte werden der Grenzen ihrer Freiheit inne an ihrer eigenen Zugehörigkeit zur Natur wie vollends an ihrer Ohnmacht angesichts der ihnen gegenüber verselbständigten Gesellschaft.“43 Die aufgrund dieses Widerspruchs gesellschaftlich produzierte Angst bildet einen Nährboden für die Deformationen der Psyche und des Bewusstseins, wie sie in The Authoritarian Personality beschrieben werden. Deshalb reicht Kants moralischer Appell an die Individuen, ihre „selbstverschuldete Unmündigkeit“ zu überwinden, nicht aus  : Die gesellschaftliche Form der Individuation bedarf ebenso einer kritischen Analyse wie die gesellschaftlichen Bedingungen der Freiheit. Neben der Überwindung einer bloß formalen Freiheit durch die gesellschaftliche Praxis stellt eine Revision des Verhältnisses zur Natur, insbesondere zur inneren Natur des Menschen, das zweite in Abgrenzung von Kant geltend gemachte Postulat dar.44 Denn die unerfüllbare Forderung nach totaler Beherrschung der inneren Natur lässt den Nährboden für das unmündige, potenziell faschistische Subjekt mit seiner unreflektierten Projektivität und seinem im „Unbehagen in der Kultur“ (Freud) wurzelnden Hass auf die Moderne noch fruchtbarer werden, erst eine Versöhnung mit den leiblichen Bedürfnissen und den spontanen Impulsen kann „die angstlose, aktive Partizipation jedes Einzelnen“ am Ganzen der Gesellschaft45 ermöglichen. Kants moralischer Appell an die Subjekte, sich selbst aufzuklären und sich aus freien Stücken der Objektivität des Sittengesetzes zu unterwerfen, wird von Adorno aber keineswegs einfach verworfen. Dass die Herausbildung eines Gewissens, von dem Adorno in anderen Texten nicht recht entscheiden mag, ob es die repressive Gesellschaft repräsentiert oder den Widerstand gegen Repression gewährleistet, in der bestehenden Gesellschaft widersprüchliche Elemente im Hinblick auf den Prozess der Emanzipation aufweist, liegt am strukturellen gesellschaftlichen Antagonismus, welcher die von der Idee des Gewissens vorausgesetzte Übereinstimmung der

43 L.c., S. 220 44 Mit beiden Kritikpunkten befasst sich – im Namen einer „Utopie des autoritätsfreien Sollens“ – ausführlich  : Klaus Günther  : Modell 1  : Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft I. Dialektik der Aufklärung in der Idee der Freiheit. In  : Negative Dialektik, hg. v. Axel Honneth und Christoph Menke, Berlin 2006, S. 119–150, Zitat S. 123. 45 L.c., S. 261

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individuellen und der allgemeinen Interessen zur falschen Ideologie entstellt. Erst wenn das besondere und das allgemeine Interesse in der realen gesellschaftlichen Verfassung versöhnt wären, könnte an die Stelle der deformierten Form von Individuation und Gewissensbildung wahre Emanzipation treten.46 Obwohl eine repressive Moral in der partikularistischen Gesellschaft mithin falsches, unmündiges, beschädigtes Bewusstsein fördert, enthält die Idee des Sittengesetzes zugleich ein gegenläufiges Potenzial, das mitnichten nur ideell gesetzt wird, sondern einem emanzipatorischen Potenzial der realen Individuationsprozesse korrespondiert. Die von Nietzsche intendierte Verabschiedung der Moral weist Adorno mit dem Argument der Wandlungsfähigkeit zurück  : Es reife „in der Verinnerlichung gesellschaftlichen Zwangs zum Gewissen mit dem Widerstand gegen die gesellschaftliche Instanz, der jene am eigenen Prinzip kritisch mißt, ein Potential heran, das des Zwangs ledig wäre. Kritik des Gewissens visiert die Rettung solchen Potentials, doch nicht im psychologischen Bereich sondern in der Objektivität eines versöhnten Lebens von Freien.“47 Adorno rekurriert damit implizit auf das Marxsche Postulat, eine herrschaftsfreie Gesellschaft müsse als Assoziation freier Individuen so eingerichtet werden, dass das allgemeine Interesse von den Einzelnen als ihr eigenes erfahren werden könne. Diese Perspektive ist keine bloß utopische Wunschvorstellung, die unverbunden neben der Behauptung einer negativistischen Geschichtsteleologie stünde, wie es der Nachweis angeblicher Aporien bei Adorno vor allem in der auf Habermas’ zurückgehenden Tradition der Kritik der Kritischen Theorie in den Achtzigerjahren behauptete, vielmehr eröffnet sich die emanzipatorische Perspektive in dieser Form erst unter den Bedingungen der modernen antagonistischen Gesellschaft. Wenn diese ein Potenzial enthält, das den Keim zur Überwindung ihrer Beschädigungen enthält, dann ist es die Aufgabe kritischer Aufklärung, dieses Potenzial zunächst im Bewusstsein der Menschen und dann in der gesellschaftsverändernden Praxis zu aktualisieren. Dazu taugt indessen kein positiv formuliertes normatives Systems, sondern der strukturell negativ-dialektische Nachweis der Widersprüche und des Nichteingelösten. In diesem Kontext erschließt sich ein weiteres Mal die Faszination der Krausschen Kulturkritik für Adorno  : „Er hält der Gesellschaft nicht die Moral entgegen  ; bloß ihre eigene. Das Medium aber, in dem sie sich überführt, ist die Dummheit. Zu deren empirischem Nachweis wird bei Kraus Kants reine praktische Vernunft […]. An Dummheit 46 L.c., S. 272 47 L.c., S. 271

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erweist Kraus, wie wenig die Gesellschaft es vermochte, in ihren Mitgliedern den Begriff des autonomen und mündigen Individuums zu verwirklichen, den sie voraussetzt.“48 Indem Adorno in seinem mit diesen Sätzen eröffneten Gedankengang erläutert, es sei die „verselbständigte instrumentelle Vernunft“, die in Dummheit übergehe,49 verweist er auf den Zusammenhang von Unmündigkeit und Instrumentalität. Die in der Dialektik der Aufklärung und in Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft ausführlich analysierte Verabsolutierung des Mittels reproduziert sich in den einzelnen Menschen durch Beschädigungen der Psyche und des Bewusstseins, die sie für menschliche Zwecke im emphatischen Sinn blind werden lässt und nur mehr einen instrumentellen Bezug auf Dinge und Menschen, auf die eigene wie auf die fremde Person ermöglicht. Wie der Gebrauchswert nach der Kritik der politischen Ökonomie auf eine notwendige Eigenschaft der Ware zur Realisierung des Tauschwerts degradiert ist und die Produzenten Anhängsel ihrer eigenen Maschinerie darstellen, so verselbständigt sich auch in der beschädigten Subjektivität die Haltung, bewusst oder unbewusst die ganze Umgebung auf einen – sei’s rationalen, sei’s irrationalen – Nutzen hin zu taxieren. So verschränkt sich im Fall des Antisemitismus, wie sowohl Kraus als auch Adorno zeigen und die neuere Forschung bestätigt, der psychologische Nutzen einer Projektion eigener Wünsche und Ängste auf das Objekt mit realen Aneignungswünschen. Eine ähnliche Verbindung rationaler und irrationaler Antriebskräfte ist sowohl bei anderen Varianten rassistischer, nationalistischer oder sexistischer Diskriminierung als auch bei anderen Formen autoritären Verhaltens in Familie, Schule und Arbeitswelt zu beobachten. Dieses Problem kann so wenig auf einer rein psychologischen Ebene gelöst werden wie das des Gewissens im Allgemeinen, die Irrationalität der verselbständigten Zweckrationalität kann aber ins Bewusstsein gehoben werden, zumal evident ist, dass insbesondere im instrumentellen Charakter potenziell faschistischer Subjektivität die irrationalen Elemente viel ausgeprägter sind als die rationalen. Die von Karl Kraus präsentierten Figuren der Unmündigkeit leisten hierzu einen erheblichen, noch viel zu wenig beachteten Beitrag.

48 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 378 49 L.c., S. 379

Kapitel 1

Der unmündige Bürger (1899–1914) Autoritärer Charakter und Habsburgermonarchie

Für den Entwicklungsstand des autoritären Charakters zur Zeit der Jahrhundertwende, als der 25-jährige Karl Kraus in Wien seine Zeitschrift Die Fackel gründete, ist eine Konstellation von Staat und Gesellschaft determinierend, die durch erhebliche Ungleichzeitigkeit geprägt ist. Während die k.k. Doppelmonarchie – formell eine konstitutionelle Monarchie, faktisch jedoch mit absolutistischen Zügen – weitgehend obrigkeitsstaatlichen Charakter besaß, waren im Gefolge einer kapitalisierten Wirtschaft insbesondere in der Hauptstadt ein modernes Bürgertum und eine bürgerliche Kultur entstanden, die mit der feudalen teils konkurrierte, teils verschmolz. Die in der Fackel geschilderten autoritären Charakterzüge sind, der skizzierten Konstellation entsprechend, zum Teil feudal-paternalistische1, zum Teil schon die für das 20. Jahrhundert typischen. Die folgende Darstellung gliedert sich in die Abschnitte Polizei und Justiz sowie Antisemitismus und Rassismus. Im Zusammenhang mit allen vier Themen wird die für Karl Kraus gerade in dieser Zeit besonders relevante kulturelle Deformation der sinnlichen Triebe berücksichtigt. Das Interesse an dieser Problematik verband ihn damals mit Sigmund Freud und ließ ihn zentrale Überlegungen der kritischen Theorie von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse antizipieren.

1 Der Begriff des Paternalismus wird hier verwendet, um unter sozialpsychologischen Aspekten die Entmündigung der Bevölkerung durch den Staat im Rahmen der politischen Autoritätsverhältnisse hervorzuheben. Zur allgemeinen Charakteristik der Monarchie ist er weniger geeignet, weil er in solcher Verwendung politische und ökonomische Herrschaftsverhältnisse durch die Familienmetapher verharmlost. – Den antiaufklärerischen und antimodernen Charakter der Habsburger-Monarchie betont insbesondere Johann Dvořák im dritten Kapitel seiner Monographie Theodor W. Adorno und die Wiener Moderne. Ästhetische Theorie, Politik und Gesellschaft, Frankfurt  : Peter Lang, 2005, S. 35–48  ; das vierte Kapitel (S. 49–95) reiht die Fackel als „Paradigma der Moderne“ in die Darstellung der Wiener Moderne ein (Zitat S. 79).

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Polizei und Justiz Berufen, die mit einer Übertragung staatlicher Machtbefugnisse verbunden sind, eignet eine spezifische Attraktivität für autoritäre Charaktere. Sie bieten mannigfaltige Möglichkeiten zur ungestraften Aggressionsabfuhr, zum Ausleben des bei dieser Charakterstruktur besonders stark ausgeprägten Strafbedürfnisses und der Omnipotenzwünsche. Innerhalb eines überschaubaren, Sicherheit bietenden Systems von Regeln und Hierarchien dürfen somit Impulse ausgelebt werden, die von einer autoritären Sozialisation in übersteigerter Form hervorgebracht, gewöhnlich aber negativ sanktioniert werden. Je nach Institution und Position kann dabei das unmittelbar physische Agieren im Vordergrund stehen oder es können sublimere Formen der Autoritätsausübung wie bürokratische und technokratische Verfügungen dominieren. Während die bürgerlichen Ideale Mitleid und Friedfertigkeit im Umgang mit anderen Menschen fordern, führen in Berufen wie Polizist, Offizier, Richter, Verwaltungsbeamter Kälte oder Aggressivität oft genug zu Macht und Ansehen. Inwiefern das in einer bestimmten Gesellschaft zutrifft, hängt freilich von der jeweiligen Funktion jener Institutionen und vom Verhältnis zwischen Staat und Bürgern ab. Das staatliche Gewaltmonopol erfüllt eine pazifizierende Funktion, indem es die Bürger vor Gewalt gegeneinander schützt und verhindert, dass partikulare ökonomische oder physische Überlegenheit unmittelbar in Herrschaftsgewalt umgesetzt wird. Darüber hinaus kommt dem Staat die Aufgabe zu, die Austauschprozesse in der kapitalistischen Gesellschaft zu regeln und systemgefährdenen Formen der Verelendung entgegenzuwirken. Aus diesen Gründen sind die genannten Berufe nicht ausschließlich für autoritäre Charaktere attraktiv, sondern auch für gesellschaftskonforme Menschen mit ausgeprägtem Gerechtigkeitsstreben. Welchem psychologischen Typus ein mit staatlicher Autorität verbundener Posten die meisten Möglichkeiten bietet, hängt davon ab, ob sich der Staat in der Krise befindet oder nicht, ob autoritäre oder demokratische Konzeptionen des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern vorherrschen und ob der Zugriff des Staates auf das Leben der Bürger eher eingeschränkt oder eher umfassend ist. In der Phase von 1899 bis 1914 findet sich in der Fackel eine Kritik der Institutionen Justiz und Polizei, die vor allem im Zusammenhang mit ökonomischen und mit sexuellen Fragen in Kraus’ Blickfeld rückten. Durch die Ausblendung des ersten Aspekts erweckt die Kraus-Rezeption den falschen Eindruck, Legislative, Exekutive und Judikative seien für Kraus überhaupt nur in ihrer Beziehung zur sexuellen Frage interessant gewesen. Immerhin ist durch

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die extensive Befassung mit dem Sammelband Sittlichkeit und Kriminalität dieser Bereich des Krausschen Schreibens recht gut erforscht. Reinhard Merkel behandelt ihn aus juristischer Sicht, bei Nike Wagner und Edward Timms stehen kulturkritische Fragen im Vordergrund, ansonsten dominieren sprachkritische Überlegungen.2 Auf der Basis dieses Forschungsstands kann sich die vorliegende Studie auf die Darstellung des Autoritarismus konzentrieren. Der Fackel zufolge besteht der zentrale Widerspruch für die Justiz schon darin, dass der Staat auf elementare gesellschaftliche Konflikte, nämlich Klassen- und Geschlechtskonflikte, mit Restriktion und Bestrafung der jeweils Unterprivilegierten reagiert, anstatt durch eine zweckmäßigere Sozialpolitik zur Problemlösung beizutragen. Ideologisch wird der Schein erweckt, jene Konflikte ließen sich in den Griff bekommen, indem ihre normwidrigsten Folgeerscheinungen (Diebstahl, Vagabundieren, Prostitution, Ehebruch) juristisch sanktioniert werden. Da jedoch auch die härteste Bestrafung nichts an den zugrunde liegenden Problemen ändert, entsteht eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch an Polizei und Justiz, für Ordnung zu sorgen, und ihrem realen Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft. Aus dieser Diskrepanz speist sich – bei entsprechender psychischer Disposition – die Aggressivität vieler Richter und Staatsanwälte, welche durch übertriebene moralische Strenge gegenüber den Einzelnen, die sie in ihre Gewalt bekommen, ihre Machtlosigkeit im Hinblick auf die beständige Reproduktion der sozialen Probleme zu kompensieren versuchen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem autoritären Charakter das Fortbestehen der Übel sogar entgegenkommt, weil es die fortbestehende Möglichkeit einer aggressiven Reaktion sicherstellt (diese heimliche Begeisterung fürs eigene Scheitern gilt vermutlich noch verstärkt für die deutsche Kultur). Gegenstand der Krausschen Kritik sind deshalb Machtwahn und autoritäres Verhalten der Staatsrepräsentanten ebenso wie die Gesetzgebung in bestimmten Fragen und die Institutionen Justiz und Polizei als Ganze  ; Ziel ist der Schutz des Individuums, seiner Freiheit und seiner Privatsphäre vor staatlicher Bevormundung sowie die Sensibilisierung für gesellschaftliche Konflikte, die außerhalb des juristischen Einflussbereichs liegen. Damit verbunden ist der Versuch, der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) und Unverantwortlichkeit der Allgemeinheit entgegenzu2 Da Karl Kraus’ Aphorismen zum Problemkreis von Sittlichkeit und Kriminalität hier nur vereinzelt herangezogen werden, sei an dieser Stelle auf eine neuere, vergleichende Studie und die dort zitierte Sekundärliteratur verwiesen  : Dorota Szczęśniak  : Zum Aphorismus der Wiener Moderne. Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus. Stuttgart 2006.

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wirken und die Entwicklung mündiger, selbstverantwortlicher, urteilsfähiger Individuen zu fördern. 1. Polizei Eine frühe Satire mit dem Titel Die Polizei erschien bereits im Juli 18993. Damals war Kraus von der Entfaltung seines satirischen Stils als eines soziokulturellen Erkenntnismediums noch weit entfernt  ; gleichwohl enthält dieser – auch in formaler Hinsicht herausragende – Text schon relevante Elemente seiner Kritik, indem er in einem traditionellen kontrastiven Verfahren satirischer Essayistik die Selbstdarstellung der Polizei mit ihrer wirklichen Funktion konfrontiert und überdies das Verhältnis von Polizei und Bürgertum kritisch durchleuchtet. Der Anlass zu diesem Text war das von Gewalt und sachlich unbegründeten Arretierungen geprägte Vorgehen der Polizei bei Wahlrechtsdemonstrationen. Bevor Kraus auf dieses Thema zu sprechen kommt, erinnert er jedoch an die Jubiläumsausstellung von 1898, in der die Polizei mit Exponaten präsentiert wurde, die den Polizisten als Freund und Helfer zeigen, z. B. als Freund der Kinder und Helfer bei Verkehrsunfällen. Ein langes Selbstzitat4 aus einem damals publizierten Feuilleton ironisiert die idyllische Darstellung des Verhältnisses von Polizei und Bürgern und lässt zugleich in der vorgeblichen Zurückweisung von Vorwürfen wie der Verletzung der Privatsphäre und des politischen Handlangertums, aber auch in den nur scheinbar harmlosen Kalauern über die „lieben Kleinen“, die der Polizist gern an sein Herz drückt,5 schärfere Kritik an zentralen Praktiken der Polizei erkennen. Der verklärten Selbstdarstellung der Polizei hält Kraus im Anschluss an das Selbstzitat den aktuellen Vorwurf von Übergriffen entgegen. Zunächst wird das im öffentlichen Diskurs gewöhnlich nicht hinterfragte Bild der Polizei als Ruhestifter, der Arbeiterbezirke aber als unsichere Gegenden, mit satirischem Witz durchbrochen, und zwar vermittels eines Perspektivwechsels, indem ausnahmsweise nicht die Position des vornehmen Ersten Wiener Bezirks eingenommen wird  : „[…] für keinen Vorstädter besteht ein zwingender Grund, aus den polizeisicheren Gegenden, wo höchstens die Messerklingen harmloser Zuhälter drohen, hinaus in jene fernen Gefilde der Inneren Stadt zu schweifen, deren enge Gemarkung der grimme Mann mit dem Ringkra3 F 12, S. 9–16 4 L.c., S. 10f. 5 Ein Fall von sexuellem Missbrauch im Amt wird z. B. in F 32, S. 25 behandelt.

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gen dröhnenden Schrittes durchmisst.“6 Die satirische Darstellung macht sich die sprachliche Eigenheit zunutze, dass das Kompositum „polizeisicher“ als „sicher durch die Polizei“, aber auch als „sicher vor der Polizei“ verstanden werden kann. Nebenbei impliziert der Satz Kritik an der unzureichenden Verbrechensbekämpfung, zentral ist jedoch der Aspekt der Bedrohlichkeit der Polizisten selbst, um welche nach Kraus sogar die „ruhigen Bürger“ der Inneren Stadt einen großen Bogen machen.7 Bei Straßenkundgebungen greifen solche Vermeidungsstrategien nicht mehr, und die Demonstranten werden dergestalt mit „Faustschlägen, Püffen, Huftritten und Säbelhieben“ traktiert, dass sich die „Polizeistaatmisère“ nicht länger verdrängen lässt. Mit parodistischem Bezug auf den Polizeijargon stellt Kraus deshalb fest  : „Wer bei den letzten Demonstrationen das Einschreiten des Polizeiaufgebotes beobachtete, musste zur Ueberzeugung gelangen, dass die Polizei es bei solchen Anlässen als ihre Hauptaufgabe betrachtet, für exacte Störung des Verkehrs, für thunlichste Aufreizung einer friedlichen, gar nicht gewaltthätigen und im Grunde ordnungsliebenden Menge, schließlich für die Ueberbürdung der Richter mit ‚freien‘ Würdigungen des Diensteides [d. h. mit zweifelhaften Aussagen über die Demonstranten] zu sorgen.“8 Eine politische Motivation für dieses scheinbar kontraproduktive Handeln vermag Kraus in dieser Zeit noch nicht zu erkennen (das simple Verfahren einer Aufreizung der Demonstranten zum Zweck ihrer Kriminalisierung und Desavouierung entgeht ihm offenbar9), wohl aber eine psychologische  : die Polizei agiere „aus dem berauschenden Gefühl ihrer schrankenlosen Macht, aus dem Bewusstsein ihrer Verantwortungslosigkeit, kraft deren sie mit den Volksmassen in weiten Grenzen nach Belieben schalten kann, ohne mehr zu riskieren als eine Interpellation im Parlamente“.10 Dreißig Jahre später wird Karl Kraus sich seinerseits mit einem verklärten Blick an die habsburgische Polizei erinnern, die nur mit Säbelhieben und nur gegen Demonstranten, nicht aber mit scharfer Munition gegen Passanten jeden Alters vorging.11 Was er jedoch schon 1899 in nuce   6 F 12, S. 12   7 Ibid.   8 Ibid. In eckige Klammern gesetzte Ergänzungen in Zitaten stammen von der Verfasserin der vorliegenden Studie.   9 Allerdings gibt er in der übernächsten Fackel einer Zuschrift Raum, in der dieser Zweck erkannt und kritisiert wird (F 14, S. 19). 10 L.c., S. 13 11 F 766, S. 64f. Dem Militär spricht die Fackel bis zum Ersten Weltkrieg mehr Besonnenheit zu als der Polizei (vgl. F 14, S. 13).

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erkennt, zur Zeit der beginnenden Destabilisierung des monarchistischen Vielvölkerstaates und der agitatorischen Erfolge kleinbürgerlicher Ideologie, ist das von den Exekutivorganen ausgehende Bedrohungspotenzial  : „[U]nser Bürgertum huldigt seinen Schergen und winselt um ihre Gnade, statt über sie nach Ermessen zu verfügen. / So wird das Polizeicorps eine Prätorianergarde der jeweilig mächtigeren Schichten, die nach Belieben schalten kann, weil sie es nie mit einer einheitlichen öffentlichen Meinung zu thun bekommt, sondern der Sympathien aller jener, gegen die es gerade nicht geht, sicher sein kann.“12 Auch dieses verkehrte Verhältnis von Polizei und Bürgertum erklärt Kraus mit einem psychologisch-ideologischen Syndrom  : Jeder Österreicher, der über ein gewisses Einkommen und etwas politischen Einfluss verfüge, sei selbst eine „Polizeiseele“13 und rufe bei jeder Gelegenheit nach der Polizei, um keinen Nachteil hinnehmen zu müssen. An die Stelle der Konfliktlösung durch politisches Handeln tritt so das Einschreiten der Exekutive und ggf. der Judikative, selbst bei Konflikten innerhalb des Bürgertums. Darin erkennt Kraus nicht zuletzt ein Defizit des österreichischen Bürgertums im Hinblick auf demokratische Bestrebungen  : „Anderswo mausern sich die Demokraten zu Höflingen, bei uns mausern sie sich zu Polizisten.“14 Der Text endet mit der Perspektive einer von der Exekutive abhängigen Regierung. In dieser frühen Phase der Fackel, als tagespolitische Themen in ihr noch ausführlich diskutiert wurden, druckte Kraus auch Zuschriften ab, in denen Funktionen und Aktivitäten der Institution Polizei kritisiert wurden. So schildert schon im nächsten Heft der Fackel ein Demonstrant ironisch, wie er grundlos verhaftet und unter den üblichen, ebenso demütigenden wie gesundheitsgefährdenden Umständen im Polizeigefangenenhaus festgehalten wurde, bis man ihn am folgenden Tag schließlich freisprach.15 Dabei gibt er nicht einzelnen Polizeibeamten die Schuld, sondern kritisiert die Einschüchterungsfunktion dieser Institution in einem Staat, der zu liberal ist, um Demonstrationen zu verbieten, aber zu despotisch, um sie ungestört stattfinden zu lassen. Wiederum im folgenden Heft der Fackel erscheint eine Zuschrift, in der die Unfähigkeit der Polizei hinsichtlich der eigentlichen Verbrechensbekämpfung (hier  : einer Einbruchserie) an einem lokalen Fall illustriert wird.16 In dieser 12 L.c., S. 15 13 L.c., S. 14 14 L.c., S. 15 15 F 13, 11–14 16 F 14, S. 18–20

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Abfolge von Texten zeigt sich das kontrastive Verfahren der Fackel, in dem Symmetrie und Asymmetrie eine große Bedeutung zukommt. Zugleich erzieht Kraus sein Publikum auf diese Weise zur eigenständigen aufmerksamen Rezeption entsprechender Zeitungsmeldungen. Wer die drei Fackelhefte (Nr. 12, 13 und 14) aufmerksam gelesen und in Zusammenhang gebracht hat, wird – im Idealfall – zukünftige Meldungen über Demonstrationen einerseits und Verbrechensbekämpfung andererseits in diesem Kontext sehen. Insbesondere die Diagnose des Missverhältnisses zwischen der politischen Funktion der Polizei für den Staat (hier  : der Provokation und Kriminalisierung von Demonstranten) und ihrer Schutzfunktion für die Bürger wird in allen drei Texten bekräftigt.17 Ereignisse in einen Kontext zu stellen, in dem sie gewöhnlich nicht wahrgenommen werden, ist eine herausragende Qualität der Fackel, die sie in einen Gegensatz zur Tagespresse stellt  ; überflutet diese doch die Leser und Leserinnen mit flüchtig zu rezipierenden und schnell vergessenen, weil größtenteils disparaten Meldungen. Das philosophische Problem einer Dialektik von Kontingenz und Notwendigkeit beschäftigte Karl Kraus auf seine Weise, ohne dass er eine Lösung in philosophischer Terminologie angestrebt hätte. Was er jedoch immer wieder ins Bewusstsein hebt, ist der innere Zusammenhang von zunächst nur zufällig zur gleichen Zeit oder am gleichen Ort stattfindenden Ereignissen  : Dem Zufall geschuldet ist zwar das jeweilige Zusammentreffen der Ereignisse  ; die Voraussetzungen dafür, dass sie stattfinden können, und die Faktoren, die sie tatsächlich so stattfinden lassen, sind jedoch soziokulturell determiniert. In diesem Sinne bringt Kraus Anfang Oktober 1906 in Die Konfiskation der ‚Fackel‘ das im Titel genannte Ereignis mit dem rohen Verhalten eines Polizisten gegenüber einem behinderten Kind zusammen.18 Für die vorausgegangene Konfiskation des letzten Fackelheftes hat Kraus nur gelassenen Spott übrig, da die beanstandete Mahnung zur Menschlichkeit in einer Begnadigungsfrage ihn nicht in Gefahr bringen und überdies aufgrund einer Interpellation im Abgeordnetenhaus sechs Tage später doch noch erscheinen konnte.19 Sein Spott richtet sich auf den Staatsanwalt und auf eine Polizei, die,

17 Zu Kraus’ Text s.o., in den Zuschriften  : F 13, S. 13  ; F 14, S. 19. 18 F 208, S. 6–9 19 Das Verfahren der Immunisierung beschreibt (mit Ergänzungen zu den Ausnahmegesetzen im Krieg) John Halliday  : Satirist and Censor  : Karl Kraus and the Censorship Authorities during the First World War, in  : Karl Kraus in neuer Sicht, hg. v. S. P. Scheichl und E. Timms, München 1986, S. 174–199, darin S. 185–188.

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anstatt sich den Wiener „Platten“ (Gaunerbanden) zu widmen, einen Nachmittag lang damit beschäftigt wird, alle aufliegenden Fackelhefte ins Landesgericht zu schleppen. Doch dann nimmt der Text unvermutet eine ernste Wendung. Mit den folgenden Worten leitet Kraus zu einem langen Zitat aus einer Tageszeitung über, in dem jenes zweite Ereignis geschildert wird  : „Ja, am 17. Juli hatte die Wachmannschaft alle Hände voll zu tun. […]“ Nicht etwa, Einbrecher zu fangen, indessen  : „Bei voller Anspannung aller disponiblen Kräfte ist vielerlei zu erreichen, und so konnte denn damals im Wirbel jener Tätigkeit, die die Polizisten als Austräger der ‚Fackel‘ erscheinen ließ, und in einer Gegend, in der die wichtigsten Verschleißstellen der ‚Fackel‘ etabliert sind, eine Amtshandlung vorgenommen werden, die durch ein Abendblatt vom 17. Juli der Nachwelt überliefert ist.“ Nun folgt die detaillierte Schilderung, wie ein Wachmann am selben Nachmittag um halb drei „einen etwa achtjährigen einbeinigen Knaben“ über den Wiener Graben hetzte und das verängstigt weinende Kind, nach dem es gestürzt war, ungeachtet der Proteste von Passanten in eine Kutsche warf, um es, unter dem Verdacht einer Bettlergilde anzugehören, zur nächsten Wachstube zu befördern.20 In ihrer Widerwärtigkeit steht diese „Amtshandlung“ für sich und bedarf keines direkten Kommentars. Dem Zitat folgt nur noch ein einziger Satz, der – nach dem zufälligen äußeren Zusammentreffen der polizeilichen Aktivitäten – nun einen inneren konstituiert  : „Dort [auf der Wachstube] waren inzwischen die ersten Exemplare der ‚Fackel‘ eingebracht, die wegen einer Mahnung zur Menschlichkeit konfisziert worden war.“21 Diese Form der Darstellung bewirkt, dass die einzelne Untat als symptomatisch für eine institutionalisierte Unmenschlichkeit gedeutet werden kann, welche Kraus in seiner kultur- und gesellschaftsdiagnostischen Funktion der Nachwelt überliefert. Überdies ist hier die Abfolge der Texte zu berücksichtigen  : Auf den ersten fünf Seiten dieser Ausgabe bringt Kraus ausschließlich eine unkommentierte Zitatmontage unter dem Titel Ein österreichischer Mordprozeß, in der die Scheußlichkeit demütigender Indiskretionen, verübt durch die Vertreter des Gerichts gegenüber der Angeklagten, den Satiriker ebenfalls schweigend zurücktreten lässt. Es handelt sich dabei um den Prozess Rutthofer, den Kraus allerdings im folgenden Heft selbst kommentierte (beide Texte wurden später in den Sammelband Sittlichkeit und Kriminalität aufgenommen). Im Anschluss an Die Konfiskation der ‚Fackel‘ folgt Der Amtsdiener, ein Text, der anhand von vier Einzelfällen die folgende These entfaltet  : „So 20 Alle Zitate aus F 208, S. 8. Der „Graben“ ist eine noble Einkaufsstraße im Zentrum von Wien. 21 L.c., S. 9

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unerträglich der österreichische Bureaukretinismus im Ganzen ist, am unerträglichsten ist er dort, wo der Machtwahn, von schlechter Bezahlung üppig genährt, sich in unmittelbarer Reibung mit dem Publikum austoben kann – in den subalternen Regionen.“22 Dies haben die Amtsdiener, Kraus zufolge, mit den Polizisten der unteren Rangklassen gemeinsam, von denen es an anderer Stelle heißt  : „Schäbig genug dankt das System seinen Dienern, schlecht lohnt der Staat jenen, die sich von ihm mißbrauchen lassen.“23 Und wie jener Wachmann auf dem Graben und seinesgleichen gerade von den Schwächsten in der Gesellschaft sich gereizt fühlen, so steigert sich die Frechheit gegenüber den angesehenen Bürgern zur Tyrannei, sobald es gegen das (Sub-)Proletariat geht  : „Kein Napoleon kann das Hochgefühl des Triumphs nachfühlen, den ein k. k. Exekutionsdiener in einer Dachbodenkammer erlebt, wenn er eine rechtskräftige Forderung von zwei Kronen fünfzig in der Hand hält und eine ausgehungerte Armee von Familienangehörigen eines vazierenden Hilfsarbeiters ihm zu Füßen liegt  : ‚Zahlts, ös Bagasch  !‘“24 Was in dieser kleinen Szene sich ankündigt, ist die im Weltkrieg zur vollen Entfaltung gelangte Bestialität der zweiten Natur  : das (von Kraus in sarkastischer Anspielung auf einen Buchtitel von Felix Salten sogenannte) „österreichische Antlitz“.25 Dessen Physiognomie der Öffentlichkeit zu präsentieren, die „wahre Maske“ des Machtwahns und der Lust am Unglück anderer dem Abscheu zu empfehlen, bringt Kraus durch seine gesamte Tätigkeit hindurch eine Feindschaft ein, die sich bisweilen zu Morddrohungen versteigt. Das verwundert insofern nicht, als Selbstreflexion und Selbstkritik Fähigkeiten sind, die diesen Charakteren zuallererst ermangeln. Gerade weil ihr Machtgefühl so transigent ist, weil sie wissen, dass sie schon bald wieder auf ihre subalterne Position im Amt oder auf der Wache verwiesen sind, muss die Einsicht in das Schäbige ihres Triumphes durch starke, nach außen gerichtete aggressive Impulse unterdrückt werden. Karl Kraus’ Stärke gegenüber bloßen Moralisten besteht nicht zuletzt darin, dass er bei den von ihm kritisierten Vertretern bestimmter Berufe, z. B. bei Polizisten und Journalisten, auch das berücksichtigt, was er „das System“ nennt  : die Arbeitsbedingungen und den organisatorischen Aufbau der Institution. Diejenigen, die nicht von sich aus Unrecht tun wollen, werden oft 22 F 208, S. 9f. 23 Sittlichkeit und Kriminalität (= Schr. 1), S. 150 24 F 208, S. 11 25 Vgl. dazu das folgende Kapitel der vorliegenden Studie.

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genug durch die Institution dazu gedrängt  : „Nicht immer bringen sie den Dienst ihrer Person, oft genug ihre Person dem Dienst zum Opfer. Aber dem Dienst frommt solches Opfer nicht.“26 Aggressionsfördernde Bedingungen wie überlange Arbeitszeiten und der Druck, „Erfolge“ vorzuweisen (z. B. in Gestalt zahlreicher Verhaftungen), führen dazu, dass ein missbräuchliches Ausnutzen der Amtsgewalt zum allgemeinen Usus wird, anstatt nur eine Folge persönlicher Deformationen zu sein. Das vordringlichste Ziel der Fackel ist es nun, der Autoritätshörigkeit seiner Mitbürger entgegenzuwirken. Obwohl Kraus in Die Polizei die Angehörigen des österreichischen Bürgertums als Polizeiseelen bezeichnet, beruft er sich gerade in dieser frühen Phase der Fackel, aber auch später noch gelegentlich, auf eine oppositionelle Öffentlichkeit, die staatliche Übergriffe verabscheut. Einiges deutet darauf hin, dass diesem Widerspruch eine antagonistische Haltung der Öffentlichkeit zugrunde liegt  : Zwar besteht die Tendenz, den staatlichen Autoritäten und ihrer Strafgewalt eine devote Haltung entgegenzubringen, doch bei besonders empörenden Einzelfällen treten widerständige Regungen hervor, die sonst unterdrückt werden. Folgt man der journalistischen Darstellung der Affäre auf dem Graben, so erregte die polizeiliche Rohheit gegenüber dem einbeinigen Kind den Zorn eines nach Hunderten zählenden Publikums, „das mit geschwungenen Stöcken und geballten Fäusten dem Wagen folgte, der zur Wachstube auf dem Petersplatz fuhr. Noch lange Zeit standen dann die Leute lebhaft diskutierend vor der Wachstube.“27 Bei allem, was Karl Kraus gegen seine Landsleute vorbringt, sollte deshalb nicht übersehen werden, dass es widerständige Impulse gab, an die er appellieren konnte, und sei es durch die provozierend resignative Versicherung, alle Bemühungen um Verbesserung seien vergeblich. Aber die Empörung über polizeiliche Übergriffe wird allzu leicht von Skandalen verdrängt, die mehr Lustgewinn und weniger Unannehmlichkeiten versprechen. Dieses Problem thematisiert Kraus im folgenden Monat (November 1906) anlässlich eines Prozesses gegen die Bordellwirtin Regine Riehl in einem ein ganzes Fackelheft füllenden Essay.28 Während den Autor der Fackel vor allem die Mitschuld der Polizei und der repressiven Sexualmoral, als deren Vollstreckerin sie auftritt, interessiert, wirft er der Öffentlichkeit vor, „den 26 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 150 27 F 208, S. 9 28 F 211  : Der Prozeß Riehl, unter dem Titel Der Fall Riehl auch in Sittlichkeit und Kriminalität, S.228– 251. Nach dieser – bearbeiteten – Version wird hier zitiert.

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Pikanterien der Bordellsphäre den Vorzug gegeben“29 zu haben. Statt sich mit einer „Mischung von Sittlichkeit und Neugierde“30 heuchlerisch an den durch Ausbeutung und Freiheitsberaubung geprägten, in der Presse und im Gerichtssaal detailreich geschilderten Zuständen zu weiden, soll das Publikum die Rolle der Moral, der Justiz und eben der Polizei überdenken, die dem Verbrechen solcher Bordellwirtinnen Vorschub leisten. Der spezielle Korruptionsskandal soll dabei nur zum Anlass genommen werden, sich vom Autoritätsglauben insgesamt zu verabschieden  : „Haben sie die Autorität mißbraucht, um den Mißbrauch zu autorisieren, haben sie einmal darauf verzichtet, Providenz zu spielen, um Provision zu empfangen – spuckt ihnen ins Gesicht  ! Denn allzu schmerzlich haben sie euch über euer Unentbehrlichstes, den Autoritätsglauben, hinweggeholfen […].“31 Solange aber christliche Moral statt moderner Rechtsgrundsätze das Handeln der Polizei maßgeblich bestimmt, bleibt sie eine rückständige und widersinnige Institution.32 Eine Reihe von Glossen und Essays widmet Kraus dem Delikt der Falschmeldung. Unverhüllt und prinzipiell stellt er dabei das Meldewesen als Ganzes infrage. Der Meldezettel wird ihm zum Symbol des habsburgischen Paternalismus, weil er dem Staat als Vorwand dient, das Privatleben der Bürger und Bürgerinnen seiner Kontrolle zu unterziehen. An den vielfältigen Problemen, die sich um die Meldepflicht herum kristallisieren, entzündet sich die satirische Phantasie immer wieder aufs Neue. Im hiesigen Kontext sind vor allem die auf die Polizei bezogenen Aspekte relevant. Zentral ist zunächst der Mangel an Respekt vor dem Individuum und seinem Recht auf Selbstbestimmung. Die Fackel dokumentiert, dass das im Nazismus zur Herrschaftsfestigung im allgemeinen und zur Durchsetzung der „Rassenpolitik“ im besonderen entwickelte System von Denunziation und Kontrolle, mit seinen diversen Instanzen – der Polizei, der Gestapo, der Hausund Blockwarte – keineswegs aus dem Nichts kam. Die Nazis konnten – in Deutschland wie in Österreich – auf eine aus der Zeit der Monarchie stammende Tradition der Schnüffelei aufbauen, die in der nicht einmal zwei Jahrzehnte währenden Epoche der Republiken zwar gemildert, jedoch nicht zum 29 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 229 30 L.c., S. 228 31 L.c., S. 229 32 Die Notizen am Ende von Sittlichkeit und Kriminalität enthalten eine Glosse, in der Kraus den Widerspruch zwischen modernen Methoden und obsoleter Ideologie betont  : „Die Polizeikriminalistik mag noch so wissenschaftlich tun  : die Meßbänder helfen nicht, solange in einem Staat die Meßgewänder Mode sind.“ (S. 329)

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Verschwinden gebracht wurde. Denn das Habsburgerreich ist nach Karl Kraus nicht nur ein Polizeistaat, sondern auch ein „Hausmeisterstaat“.33 Tatsächlich treten in zahlreichen Gerichtsverhandlungen, welche die Kulturkritik der Fackel inspirieren, Hausmeister als Zeugen des Lebenswandels der – meist weiblichen – Angeklagten auf. Den kulturgeschichtlichen Hintergrund bildet der Usus, dass Mieter und Mieterinnen in der Regel keinen Haustorschlüssel besaßen, sondern (insbesondere in der Nacht) von den Hausmeistern eingelassen wurden. Auf diese Weise waren Letztere über den sogenannten Lebenswandel der von ihnen Betreuten, etwa über deren Ausgehverhalten und über den Empfang von Besuchen, am besten informiert. Obwohl die Hausmeister damals ja nicht offiziell im Dienst des Staates standen wie später Blockund Hauswarte, wandte sich die Polizei (und im Fall eines Prozesses auch die Justiz) doch regelmäßig an sie, um Auskünfte über verdächtige Personen zu erhalten. Dabei galt die Lieferung von Belastungsmaterial offenbar als so selbstverständlich, dass nur eine entlastende Aussage vor Gericht Entrüstung hervorrief.34 Polizisten und Hausmeister stellen sich der Fackel als Repräsentanten e­ iner frauenfeindlichen Kultur dar. Frauen im Allgemeinen und junge, hübsche, unverheiratete Frauen im Besonderen werden von ihnen als bedrohlich, weil patriarchalen Kontrollwünschen nicht ganz subsumierbar, wahrgenommen. Sie gelten als das Andere, erinnern sie doch an die Natur im Menschen, an Bedürfnisse, die sich nicht restlos integrieren, auch nicht restlos beherrschen oder gar unterdrücken lassen. Ganz unabhängig davon, wie weit sie selbst gesellschaftliche Konventionen akzeptieren, werden sie stets als das von der Konvention einer christlichen bürgerlichen Kultur Abweichende misstrauisch beäugt. War einer irgendwie aufgefallenen Frau kein wirklich justiziables Delikt nachzuweisen, so gab es doch eine Reihe kleinerer Vergehen, die von der Polizei selbst mit Arrest geahndet wurden. Vom Eifer der Polizei, Strafen zu verhängen, sind freilich auch Männer betroffen, insbesondere Arbeiter oder Deklassierte. Wenn Karl Kraus in der Fackel eine verkehrte Welt präsentiert, in der die Polizei viel weniger Energie darauf verwendet, zu einem Delikt den Täter zu suchen, als zu einer einmal ins Visier geratenen Person ein Delikt 33 F 219, S. 39 34 Ein solcher Fall findet sich in Sittlichkeit und Kriminalität, S. 257. Sogar die Zurechnungsfähigkeit des Hausmeisters stellt der Staatsanwalt infrage, weil jener nicht die gewünschten Klatschgeschichten vorträgt. – Vor diesem Hintergrund ist evident, warum die satirische Polemik der Fackel die „Sperrsechserl“ als Ersatz für einen Staatssold deutet.

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finden oder gar zu erfinden, so ist das nicht einfach ein Ausdruck seiner satirischen Lust am Karnevalistischen  ; seine Darstellung beruht vielmehr auf jahrelangem Studium von Gerichtsverhandlungen und Lokalmeldungen. Die Leistung des Satirikers besteht vor allem darin, Kontraste wahrzunehmen und zu schärfen, zwischen Sein und Schein, Anspruch und Wirklichkeit, scheinbarer und wirklicher Relevanz einer Handlung, individuellem Glücksanspruch und staatlicher Überwachungssucht.35 Nach dem Prozess Riehl beobachtete Kraus, wie die durch ihn „aufgebrachte Moral ihre Opfer fordert“  : „Arglose Spaziergängerinnen, deren Toilette darauf schließen läßt, daß sie das Schaffelreiben nicht als ihren ausschließlichen Lebenszweck betrachten, wurden von Polizisten belästigt, und die Wachstuben etablierten sich als Salons. In die Tugendhöhle des Landesgerichts aber wurden zwei junge Mädchen geschleppt, die sich an dem Allerheiligsten des österreichischen Staatslebens versündigt hatten  : am Meldzettel. Falschmelderin  ! Ein Schauder erfaßt einen. ‚Judex ergo cum sedebit, quidquid latet adparebit, nil inultum remanebit.‘ Ihr Antlitz wenden Verklärte von dir ab – Hausmeister, Polizeiagenten und Magistratsdiener …“36 Über den Richter, einen Mann, den Kraus sonst wegen seiner presserechtlichen Entscheidungen so sehr schätzte, dass er ihn noch 1934 in ehrenvoller Erinnerung erwähnte37, schreibt er hier  : „Von ihm hätte man eher erwartet, daß er einen Hausmeister, der ihm als Zeuge einer Meldzettelaffaire erzählt, die ‚auffallenden Kleider‘ der angeklagten Mädchen seien ihm ‚bedenklich vorgekommen‘, hinauswirft, nicht ohne ihm vorher eingeschärft zu haben, daß es seine Pflicht sei, das Stiegenhaus in sauberm Zustand zu erhalten. Herr v. Heidt aber vernimmt sogar einen Polizeiagenten als Autorität in Fragen der Sittlichkeit, findet, daß der falschen Ausfüllung des Meldzettels eine Strafe von drei Tagen schweren Arrests angemessen sei, und trägt der ‚Bedenklichkeit‘ der beiden Mädchen, die Ausländerinnen sind, durch die Ausweisung aus den österreichischen Kronländern Rechnung.“38 In der späteren Fassung wird als nützliche Aufgabe des Hausmeisters statt der Trep35 Wenn die Satire die solchen Kontrasten entspringende Komik freisetzt, so vergisst sie doch nie das Leid, das für die Betroffenen aus einer harmlosen Begebenheit entstehen kann. Der satirische Spott schlägt deshalb oft in die ernsteste und schärfste Anklage um. 36 F 212, S. 26, aus  : AdH/Sittenrichter. Der Text wurde in bearbeiteter Form unter dem Titel Wegen Bedenklichkeit in Sittlichkeit und Kriminalität aufgenommen. Dort heißt es beispielsweise auf S. 252 im letzten Satz der zitierten Textstelle „Hausmeister und Kerzlweiber“, weil die Moralkritik noch mehr in den Vordergrund gerückt ist, und die Polizeikritik in den Hintergrund. 37 F 890, S. 285 38 F 212, S. 26

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penreinigung das Aufstreuen bei Glatteis empfohlen39, sodass der Gegensatz zwischen der realen Gefährdung der Öffentlichkeit (durch Glatteis) und der imaginären Gefährdung (durch die beiden Mädchen) stärker hervortritt, und mit ihm das Missverhältnis zwischen dem von den Wienern Hausmeistern im allgemeinen aufgewandten Eifer gegenüber dieser und ihrer Nachlässigkeit gegenüber jener Gefahr. Im darauf folgenden Heft der Fackel greift Kraus den Fall noch einmal auf, indem er sich über den angeblichen Abschreckungseffekt des Meldezettels lustig macht.40 Und als im Februar 1907 die Meldepflicht dahingehend verschärft werden sollte, dass sie nun auch Angaben über die Vergangenheit und über die familiären Verhältnisse beinhaltete, war das Maß voll. In seiner Reaktion darauf, schlicht Der Meldzettel betitelt, gibt der Autor der Fackel zwecks Distanzierung vom satirischen Objekt zunächst vor, die Nachricht von der Meldzettelreform nicht zu glauben, weil diese „eine Übertreibung des Österreichertums“ wäre, und sie für den Faschingsulk e­ ines Einbrecherball-Komitees zu halten.41 Den Aspekt des Übergriffigen hebt Kraus hervor, indem er den Staat als aufdringlichen Herrn personifiziert  : „Der Staat belästigt Frauen und Mädchen nicht nur auf der Straße, sondern verfolgt sie sogar bis in ihre Wohnungen, und während andere Steiger sich mit der Adresse begnügen, verlangt er auch die Angabe des Jahres und Tages der Geburt, wünscht zu wissen, ob die Dame schon ein Kind hat, wann es geboren wurde, ob der Vater beschnitten ist usw. Erotik oder müßige Neugier – daß einer, der Dinge erkunden will, die ihn jedenfalls nichts angehen, den Befragten zu schriftlicher Beantwortung seiner Fragen zwingt, ist unerhört.“ 42 Im Protest gegen staatliche Bevormundung ist sich Karl Kraus mit der Sozialdemokratie und mit dem Liberalismus durchaus einig. Seine Satire verspottet den paternalistischen Staat, indem sie sprachlich eine Volksschul-Atmosphäre evoziert  : Die liberale Presse traue sich nicht zu sagen, dass die Wiener Polizei „zur endlichen Erreichung ihres Zweckes, ein paar Verbrecher zu erwischen, sich nicht anders als durch das Mittel helfen kann, die ganze Bevölkerung ihrer Freiheit für verlustig zu erklären und zu sagen  : ‚Einer wird’s schon gewesen sein  !‘“.43 39 Sittlichkeit und Kriminalität , S. 253 40 F 213, S. 13 41 F 218, S. 1 42 F 218, S. 4. Auch dieser Text findet sich in Sittlichkeit und Kriminalität. Vgl. zur polizeilichen Belästigung von Frauen aus nichtigem Anlass auch  : Die Hetzjagd auf das Weib, in  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 35–38. 43 F 218, S. 5. Ähnlich, in einem Fall, den man heute als Rasterfahndung bezeichnen würde  : F 291, S. 11

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Sein Bedürfnis nach Abgrenzung von allen politischen Richtungen ließ ihn sehr uneinsichtig reagieren, als der von ihm als zu gemäßigt kritisierte Liberalismus in der Bekämpfung dieser Reform erfolgreich war44  ; dieser zweite Text wurde jedoch nicht in Sittlichkeit und Kriminalität aufgenommen. Wohl aber eine kleine Glosse aus der selben Zeit, die den polizeilichen Machtwahn ebenso dokumentiert wie Kraus’ passiven Widerstand  : „In einer Gerichtsverhandlung, in der es sich um die Beschwerde eines ‚Exzedenten‘ über einen der neuesten[s] so beliebten polizeilichen Übergriffe handelte, wurde nebenher die folgende Äußerung, die der amtierende Polizeikommissär getan haben soll, erwähnt  : ‚Nur Eisen anlegen, wenn er keck ist  ! Ich bin Herr im Bezirke und herrsche über 200.000 Menschen‘. Der Zar von Ottakring heißt Johann Kubachka. Johann Kubachka der Erste. Es ist sehr erfreulich, daß in den meisten anderen Bezirken Wiens schon die Konstitution eingeführt ist. Ich bin Untertan des Kommissariats Wieden, dessen Bevölkerung ihrem Herrscher eine Reihe freiheitlicher Errungenschaften dankt. Als ich zum Beispiel einst wiederholten Vorladungen wegen des Meldzettels keine Folge leistete, wurde mir, dessen hochverräterische Gesinnung klar zu Tage lag, stillschweigend Amnestie gewährt. […]“.45 Allerlei Falschmeldungen  : So betitelt Kraus im Oktober 1912 eine Glosse, in der er sehr heftig auf Strafen, die völlig verarmten Menschen wegen Falschmeldung auferlegt wurden, reagiert. Es handelt sich um zwei „Falschmeldungen aus Scham“  : Die einen hatten sich unzutreffend als verheiratet gemeldet, der andere wollte im Massenquartier nicht seinen guten Namen registriert wissen. Den von Kraus zitierten Zeitungsbericht nimmt er zum Anlass, Österreich vorzuwerfen, es begehe die Falschmeldung als Kulturstaat, „aber nicht aus Scham, sondern aus Gewohnheit“.46 In der Perspektive der Fackel ist das ein exemplarischer Fall von Kriminalisierung durch den Staat  : „Die polizeilichen Erhebungen haben ergeben, daß der Angeklagte unbescholten ist, und bewirkt, dass er es nicht mehr ist. Solches sollte den Leumund der Polizei bestimmen.“47 In der Fackel war es um deren Leumund freilich schon seit Langem schlecht bestellt. Kurz nach dem Prozess Riehl hatte Kraus mit Bezug auf

44 F 219, S. 32–35 AdH/Mieter 45 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 332f. In der Fackel war die Glosse unter AdH/Untertan erschienen (F 221, S. 19f.). Das hier ergänzte s am Ende von „neuestens“ war in der Version der Fackel noch vorhanden  ; da kein Komma eingefügt wurde, muss es sich wohl um einen Druckfehler handeln. 46 F 357, S. 65 47 Ibid.

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zwei jener Fälle, in denen gegen einen Arbeiter und gegen eine allein lebende junge Frau aus lächerlichen Gründen Anklage erhoben wurde (gegen letztere wegen geheimer Prostitution), an die unrühmliche Tradition der österreichischen Polizei seit 1848 erinnert  : „Man spürt fast etwas wie Herzweh, diesem österreichischen Polizeigeist, der seit dem Ende seiner offiziellen Glanzzeit unter allen möglichen Namen Falschmeldung begeht und unter der Kontrolle der allgemeinen Verachtung von einem Schlupfwinkel in den andern zieht, sich immer wieder öffentlich abmeldet, um sich immer wieder heimlich anzukündigen – man scheut sich, ihm das letzte Asyl zu rauben, in dem er sich wenigstens vor der Obrigkeit der Heuchelei gesichert wähnte  : das Schlafzimmer. Aber ich habe die Polizei im Verdachte, daß sie, die seit einiger Zeit keine politische Beschäftigung hat, geheime Prostitution treibt. Und darum muß sie hinaus  ! Es darf nicht geduldet werden, daß sie ihre zweifelhafte Subsistenz von den Märzgefallenen zu den ‚Gefallenen‘ hinüberrettet und weil sie den alten Herrn nicht mehr hat, nämlich den Fürsten Metternich, sich jetzt darauf verlegt, junge Mädchen in ihr Haus zu nehmen.“48 2. Justiz Die Fackel fordert unermüdlich – nicht nur, aber forciert, in den Jahren 1902 bis 1907 – eine Rationalisierung des Strafrechts. Der Staat, so lautet der Kern der Forderungen, soll sich auf den Schutz der wenigen wirklich relevanten Rechtsgüter beschränken, diesen Schutz aber auch kontinuierlich und konsequent betreiben. In die Privatsphäre soll der Staat nur dann eingreifen, wenn ein soziales Interesse, mithin das Recht anderer, verletzt wird, nicht aber zur Durchsetzung moralischer Prinzipien. Die autoritätskritischen Implikationen der intendierten Trennung der Sphären Sittlichkeit und Kriminalität wurden in den bisherigen Untersuchungen zum Thema nur en passant gestreift  ; die folgende Darstellung ist hingegen unter diesem Aspekt strukturiert. Wenn Kraus den Rückzug des Staates aus der individuellen Lebensgestaltung fordert, so stehen – meist unausgesprochen – die kantischen Ideale des mündigen Menschen und der praktischen Vernunft dahinter. Obwohl Kraus keine philosophischen Abhandlungen verfasste, basiert seine Kritik auf der Maxime der Aufklärung, dass der Mensch frei sein solle, die Freiheit des Einzelnen jedoch dort ende, wo die Freiheit des Nächsten beginne. Dient die Freiheit des Einzelnen dazu, dass er seine Fähigkeiten, speziell in der intel48 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 259f.

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lektuellen Sphäre  : seine Urteilskraft, entfalten möge, so dient die Grenze der Freiheit dazu, dass er die anderen nicht an ihrer Entfaltung hindert. Soweit kommt das Modell ohne den Staat aus, und eben darin zeigt sich der über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisende utopische Gehalt der frühbürgerlichen Ideale. Da jedoch ein solches Verhalten der Einzelnen unter den bestehenden ökonomischen Bedingungen nicht auf freiwilliger Basis etabliert werden kann  ; da die bürgerliche Gesellschaft auf Tausch- und Konkurrenzverhältnissen beruht, die notwendigerweise die Menschen dazu bringt, sich als des Mitmenschen Wolf (Hobbes) zu verstehen, so kommt dem Staat als Inhaber des Gewaltmonopols die Aufgabe zu, sie in ihre Grenzen zu weisen. Der Zeitraum von der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert bis zur Gründung der jeweiligen Republik ist davon bestimmt, sukzessiv und von Rückschlägen unterbrochen, die direkte feudale Herrschaft über das Leben der einzelnen Menschen zurückzudrängen. Die Fackel reflektiert diese Entwicklung, indem sie die drei staatlichen Gewalten der Legislative, der Judikative und der Exekutive auf diese Aufgabe verweist und zugleich in satirischer Phantasieproduktion immer neue Bilder für die Überschreitung ihrer Kompetenzen hervorbringt. Denn solange der Staat über das erforderliche Maß hinaus in das Intimleben eingreift, betätigt er eben den Zwang, den abzuwehren in der Moderne seine Aufgabe ist. Ein recht durchsichtiges Einverständnis besteht deshalb um 1900 zwischen dem Staat und einer repressiven Moral, die beide zunehmend anachronistisch werden, weil sie mit der Entwicklung der Gesellschaft nicht mehr Schritt halten. Auch dieser Nexus wird im satirischen Witz stets aufs Neue thematisiert. Die Forderung nach rational umgrenzbaren Rechtsgütern, auf denen Gesetzgebung und Rechtsprechung basieren sollen, weist zunächst die Entmündigung der Einzelnen durch den paternalistischen Staat zurück  : „Das Strafgesetz ist eine soziale Schutzvorrichtung. Je kulturvoller der Staat ist, umso mehr werden sich seine Gesetze der Kontrolle sozialer Güter nähern, umso weiter werden sie sich aber auch von der Kontrolle individuellen Gemütslebens entfernen. Wenn ich mein eigenes materielles, leibliches, moralisches Wohl gefährde, wenn ich hazardiere, von der Eisenbahn abspringe, mich prostituiere, so kann nur die Beschränktheit in Volksschulzucht zurückgebliebener Gesetzgeber mich ‚schuldig‘ werden lassen.“49 Somit werden alle wirklich oder vermeintlich zu Selbstschädigung führenden Handlungen, die in christlicher Tradition zu strafen der Staat sich anmaßt, vom Geltungsbereich des 49 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 67f.

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Strafrechts ausgenommen. Bevormundung soll hier zurückgenommen werden, um Selbstbestimmung zu ermöglichen, denn nur sie gibt der Entfaltung von Selbstverantwortung den nötigen Raum. Hingegen lehnt Kraus die Kritik der Bevormundung im ökonomischen Bereich, wo sie als Codewort für den „manchesterliche[n] Schwindelgeist“ gebraucht werde50, ab. Staatliche Reglementierung soll hier den Schutz der jeweils ökonomisch Schwächeren – der Arbeiter vor den Unternehmern, der kleinen Aktionäre vor den Kapitalgesellschaften, der Kunden vor Monopolpreisen – garantieren und so Massenverelendung, Börsencrashs und die eklatantesten Formen der Übervorteilung verhindern. „Aber mit der Sorge für die wirtschaftliche Sicherheit halte ich die Mission des Gesetzgebers beinahe für erfüllt. Er möge dann noch über der Gesundheit und Unverletzlichkeit des Leibes und des Lebens und über anderen greif- und umgrenzbaren ‚Rechtsgütern‘ seine Hand halten.“51 Moralische und religiöse Belange gehören für Kraus jedoch nicht dazu (und das Rechtsgut der Ehre sollte zumindest reformiert werden). Der sittliche Bereich kommt überhaupt nur in Betracht, soweit jene allgemeinen Rechtsgüter zur Disposition stehen. Unermüdlich wird deshalb auf die drei Rechtsgüter hingewiesen, die es in diesem Bereich zu schützen gilt  : „Aber auf dem Gebiete der Sexualmoral können bloß die Unmündigkeit, die freie Selbstbestimmung und die Gesundheit als Rechtsgüter in Betracht kommen, nie und nimmer die Sittlichkeit als solche  ; und nur für die Schädigung des andern Teils kann ich zur Verantwortung gezogen werden.“52 An anderer Stelle, aber im gleichen gedanklichen Kontext, hebt Kraus hervor, dass der staatliche Schutz gerade dieser Rechtsgüter unzureichend ist  : „Auf diese noch arg verwahrlosten Rechtsgüter werfe sich die Sorge, die heute das Privatleben von staatswegen belästigt.“53 Ausführlicher bestimmt er das Skandalon der unverhältnismäßig strengen Bestrafung persönlicher sexueller Vorlieben (bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit) in dem nicht zuletzt durch Adorno so berühmt gewordenen Text Die Kinderfreunde, als ein des Kindesmissbrauchs für schuldig Befundener nicht deshalb, sondern wegen Homosexualität betraft wird, und zwar – wie auch Kraus anerkennt – durchaus im Einklang mit den Gesetzen  : „Der Gesetzgeber […] hat im Sexualreich bloß drei Rechtsgüter zu schützen  : die Gesundheit, die Willensfreiheit und 50 L.c., S. 12 51 L.c., S. 13 52 L.c., S. 69 53 L.c., S. 15

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die Unmündigkeit. Der Staatsanwalt lasse das Individuum, das im Bewußtsein ­einer venerischen Erkrankung seine venerische Wirksamkeit fortsetzt, wie einen tollen Hund einfangen, er klage die Gewaltanwendung an und den Mißbrauch von Kindern. Was willige und mündige Menschen miteinander tun, davon lasse er seine Hand. Rechtsgut kann nie die private Sittlichkeit, höchstens der öffentliche Anstand sein. Was innerhalb der vier Wände geschieht, kann kein Ärgernis erregen, und die Staatsgewalt ist nicht genötigt, sich vor’s Schlüsselloch zu stellen.“54 Für die Frage der Homosexualität gilt deshalb das Gleiche wie für außerehelichen Geschlechtsverkehr und spezielle Sexualpraktiken, die weder den Staat noch die Öffentlichkeit etwas angehen  : Ihre Behandlung zeigt, inwieweit jene aufklärerische Maxime in der Praxis Gültigkeit besitzt.55 Dass die Exekutive und die Judikative mit ihnen überhaupt befasst sind, und noch dazu recht zeit- und personalintensiv, wie man heute sagen würde, lässt Kraus polemisch klagen  : „Er [der Gesetzgeber] eifert stets dort, wo Trieb und freier Wille mündiger Menschen ein Einverständnis schufen.“56 Auf diese Weise werden nicht nur die Betroffenen in ihrer Selbstentfaltung behindert, sondern auch ebenso unmoralische wie kriminelle Handlungen, die die Justiz eher beschäftigen sollten, von staatlicher Seite begünstigt  : „Der Denunziant und der Erpresser sind die Bundesgenossen des Sittenjuristen. Wird die Moral zum Rechtsgut, so sind die Lebensgüter der Freiheit, des Seelenfriedens und der wirtschaftlichen Sicherheit gefährdet. Die Kuppelei gedeiht als Wucher und Ausbeutung, wenn das kriminelle Risiko mitbezahlt werden muß. Homosexueller Verkehr  : auf dem Fettboden der Strafdrohung blüht der Weizen der Chantage.“57 In der Sprache der Gerichtssaal-Akteure, wie die Fackel sie präsentiert, zeigt die fatale Mischung der Sphären Sittlichkeit und Kriminalität durch die Behandlung der Moral als Rechtsgut ihre ver54 F 187, S. 19 (mit kleinen Änderungen auch in Sittlichkeit und Kriminalität, S. 182f.). Vgl. zur Gesetzeslage  : Reinhard Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Frankfurt/M. 1998, S. 239f. 55 Kraus übernimmt die zeitgenössische Unterscheidung zwischen angeborener und erworbener Homosexualität, wertet die letztere aber im Gegensatz zu Psychiatern, die nur jene „entschuldigen“ wollen, viel höher (Sittlichkeit und Kriminalität, S. 153, S. 184–186 und S. 301–303). Obwohl ihm angeborene Homosexualität aufgrund seines Schemas  : „Mann – Geist, Frau – Geschlecht“ ein Gräuel war (entsprechend der feministischen Bewegung), forderte er ausdrücklich auch ihre Straffreiheit und erklärte sich in dieser juristischen Hinsicht nicht nur mit Sigmund Freud, sondern sogar mit Magnus Hirschfeld explizit solidarisch (ibid. und F 697, S. 48). 56 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 16 57 L.c., S. 183

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dorbene, verderbliche Physiognomie. Es ist die Fratze derer, die nicht etwa strafen, um einen Schaden zu verhindern, sondern die grimmig dankbar für jede Verfehlung sind, die sie zum Anlass für ihre Strafsucht nehmen können. Richter, Staatsanwälte und Geschworene sind in der Lage, durch sprachliche Handlungen auszuagieren, wovon selbst ernannte Sittenrichter nur träumen  : die Regelverstöße zu ahnden, deren mit einem hohen Maß an psychischer Energie erkaufte Vermeidung als Surrogat der kulturellen Identität anderen aufgezwungen werden muss. Auf der Basis der Studies in Prejudice kann diese Sprachphysiognomie als Ausdruck der autoritären Aggression gedeutet werden, welche sich potenziert, wenn sie nicht auf ihr Pendant, die autoritäre Unterwürfigkeit, sondern auf mutige, selbstbewusste oder sonstwie eigenwillige Kontrahenten (hier  : Angeklagte) trifft. Reichhaltiges Material bietet in diesem Kontext der „Ehebruchsprozeß P.“, von dem Kraus in seinem Essay Sittlichkeit und Kriminalität ausgeht.58 Der Text beginnt mit einer Montage von Shakespeare-Zitaten, deren meiste aus dem thematisch relevantesten Stück Maß für Maß stammen. Im ersten Teil des Essays widmet sich Kraus den bereits zitierten allgemeinen Betrachtungen zur Problematik, im zweiten untersucht er jenen Ehebruchsprozess als ein „Schulbeispiel gesetzlich geförderter Unmoral“.59 Der Fall selbst war alles andere als außergewöhnlich  : eine durch einen Heiratsvermittler zustande gekommene Ehe, ein Ehemann, der aus Enttäuschung über die finanziellen Verhältnisse seiner Frau sie misshandelte und sexuelle Beziehungen zu den weiblichen Dienstboten knüpfte, jedoch in keine Scheidung einwilligen wollte, eine verzweifelte Ehefrau, die auch deshalb die Ehe brach, um sie auflösen zu können, schließlich die Tob- und Eifersucht des betrogenen Betrügers. Außergewöhnlicher war schon, dass es zu einem Doppelprozess wegen Ehebruchs kam, also wegen eines Antragsdelikts, das aus naheliegenden Gründen meistens nicht angezeigt wurde  ; und in seiner übersteigerten Form außergewöhnlich war wohl auch das offen parteiische Verhalten des Richters, das nicht nur in der Fackel und ihrem Umfeld, sondern auch in der liberalen Öffentlichkeit auf Empörung stieß. Anstatt aber „die gute Sache aus Abscheu gegen ihre Verfechter im Stich“ zu lassen, wie er es eingestandnermaßen in anderen Fällen getan hatte60, nutzte Kraus den Extremfall, um jenes allgemeine Unrecht kenntlich zu machen, das einer auf die Sensation fokussierten Tagespresse, 58 Sittlichkeit und Kriminalität, im titelgleichen Essayband, S. 9–28 59 L.c., S. 19 60 L.c., S. 12

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selbst wenn sie den Richter kritisiert, nicht zufällig entgeht. Gleich zu Beginn hebt er den kulturdiagnostischen Aspekt der Angelegenheit hervor  : „Seit Monatsfrist würge ich an der alle Kulturillusion vernichtenden Schmach, die ein Doppelprozeß wegen Ehebruchs, seine Führung und seine journalistische Behandlung uns angetan hat.“61 Und speziell auf das Denken und das Verhalten des Richters Mayer bezogen, heißt es  : „Wenn Meyers Lexikon vergilben sollte, wird Mayers Sittenkodex sich noch sprichwörtlichen Rufes erfreuen und Kulturforschern ein wertvoller Behelf sein bei der Ergründung jener Anschauungen über die Rechte des Gatten und die Pflichten der Frau, die in Wien am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts maßgebend waren.“62 Ähnliches gilt für Mayers Autoritätsexzess63, der, wie der Sammelband und noch mehr die Fackel dokumentieren, für die Anschauungen über die Rechte des Richters und die Pflichten der Angeklagten nicht weniger repräsentativ war. Nur hätte es kein Staatsrepräsentant gewagt, das Recht auf Demütigung der Angeklagten und deren Pflicht des Erduldens explizit zu verteidigen, weil die Emanzipation der Bevölkerung von der staatlichen ‚Obrigkeit‘ immerhin weiter vorangeschritten war als die der Frauen von den Männern. Da Frau P. geständig war und zudem ein langes Martyrium hinter sich hatte, besaß das langwierige öffentliche Ausbreiten intimer Details zumindest in diesem Teil des Doppelprozesses nicht einmal den Schein juristischer Notwendigkeit, geschweige denn ethischer Angemessenheit. Der Text fordert nicht nur, sondern realisiert auch selbst die nüchterne Diskretion, die für derartige Prozesse – solange es sie aufgrund der ad absurdum geführten Gesetzeslage64 überhaupt gab – wünschenswert war  : „Die Angeklagte erzählte, wie sie durch Vermittlung zur Ehe und durch Mißhandlung zum Ehebruch gelangte.“65 Danach hätte man, so Kraus, direkt zur Urteilsfällung schreiten können. Doch der Richter nutzte den Fall, um Größenwahn und Frauenverachtung auszuleben. Zahlreiche Zitate aus Gerichtssaalberichten belegen diese Darstellung. Besonders signifikant ist die folgende Passage  : Die Mo61 L.c., S. 11 62 L.c., S. 20 63 L.c., S. 21f. 64 Vgl. das bekannte Wort von der Strafzelle als Ehegemach, l.c., S. 23 65 L.c., S. 21. Solche Sachlichkeit schließt Mitgefühl und Inschutznahme nicht aus, etwa, wenn Kraus darauf hinweist, „daß schon lange vor der Verletzung der ehelichen Treue Verletzungen am Oberarm konstatiert wurden“ (l.c., S. 26). Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Verletzung“ verdeutlichen das Missverhältnis zwischen den Taten der Eheleute und dem, was sie jeweils ertragen mussten.

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tive der Frau P. seien Mayer wohl nicht entgangen  ; dennoch hielt er „den Kolportageton der großen Vergeltung, der das Bezirksgericht Wieden zum Weltgericht machen sollte, mit erstaunlicher Zähigkeit fest  : ‚Was dachten Sie sich, als die Frau ihre eigene Schande preisgab  ?‘ fragte er den Kläger und ließ ihn die schönen Worte sprechen  : ‚Ich dachte, daß sie sich auf den letzten Gang vorbereiten wolle.‘ Mit den Schrecken des jüngsten Gerichts aber, die damals über die arme Sünderin trotz alledem nicht hereingebrochen sind, sollte erst Herr Mayer, der jüngste Richter, dienen, und er rief ihr gleich zu Beginn ihrer Vernehmung die Worte zu  : ‚Sie stehen nach langen Irrfahrten vor ihrem Richter. Bleiben Sie bei der Wahrheit  !‘“.66 Die Form der Darstellung hebt mit der Lächerlichkeit von Mayers Diktion zugleich die Unangemessenheit juristischer Urteile über Fragen der Sexualmoral ins Bewusstsein. Implizit67 verweist sie auf das längste der vorangestellten Shakespeare-Zitate, das mit den Versen beginnt  : „Könnten die Großen donnern / Wie Jupiter, sie machten taub den Gott  : / Denn jeder winz’ge kleinste Richter würde / Mit Jovis Himmel donnern, – nichts als donnern  !“68 Immerhin lassen sich (auch jenseits der juristische Sphäre) zwei Varianten von „Donnerern“ unterscheiden  : diejenigen, die sich starke Gegner suchen, und diejenigen, deren Aggression gerade an der Schwachheit sich entzündet, wobei vor allem die letzteren eine Affinität zum autoritären Charakter besitzen. Schon die Shakespeare-Übersetzung fährt fort  : „O gnadenreicher Himmel  ! / Du mit dem scharfen Flammenkeile spaltest / den unzerkeilbar knot’gen Eichenstamm, /N i c h t z a r t e M y r t e n   : Doch der Mensch, der stolze Mensch, / In kleine, kurze Majestät gekleidet /[…] / Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel […]“.69 Es ist die einzige Stelle in der Zitat-Montage, die Kraus, der bekennende Frauenverehrer, gesperrt druckt. Die besondere Scheußlichkeit, den Autoritätsexzess vor allem an der „auf jede Weise gedemütigten Angeklagten“70 auszutoben, wird dadurch betont und die Berufung der Sittenrichter auf religiöse Gebote zurückgewiesen. Typisch für das Syndrom aus Frauenverachtung und Machtbesessenheit ist neben Mayers deplaziertem Pathos auch sein deplazierter Humor, der zugleich die Komplementarität von Sittenstrenge und Zotigkeit erhellt. Mit Bezug auf das Haar, 66 L.c., S. 24f. 67 An anderer Stelle geschieht dies auch explizit  : l.c., S. 27. 68 L.c., S. 10 69 Ibid. 70 L.c., S. 22

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das Frau P. auf Druck ihres wegen des Liebhabers enragierten Ehemanns zur Strafe sich abschneiden musste, feixt er  : „[I]ch fürchte, daß dies nicht der einzige Schmuck ist, der Ihnen in jener Nacht in Verlust geraten ist.“71 Und sogar die von einer Zeugin stotternd referierte Aufforderung des Ehemanns, sich zu ertränken, nutzt Mayer für einen Heiterkeitserfolg.72 Unter soziologischen Aspekten sind zweierlei Arten von Komik zu unterscheiden  : diejenige, bei der das Lachen der symbolischen Befreiung vom gesellschaftlichen Zwang entspringt, von derjenigen, die selbst für Zwang und Gewalt Partei nimmt. Die Fackel dokumentiert nicht zuletzt den Siegeszug dieser zweiten Art von Komik, und es zeugt für seine seismografische Sensibilität, dass Kraus um 1900 schon im scheinbar harmlosen Spott eines Richters die sich ankündigende Katastrophe wahrnahm. Repräsentanten des Gerichts, die ihre Autoritätsstellung für die Verspottung von Zeugen und Angeklagten missbrauchen, lassen erstens zur in der bürgerlichen Gesellschaft notwendigen Rechtspflege ein irrationales Moment der autoritären Aggression hinzutreten, und sie fördern zweitens die „Unsittlichkeit“, psychologisch  : die Deformation der Charakterstruktur, indem sie die Öffentlichkeit einladen, mit ihrer Art der Herrschaftsausübung sich sadomasochistisch zu identifizieren. Im Fall Mayers ist solcher Spott Teil „einer Prangerjustiz gegen die Frau und eines Rehabilitierungsverfahrens für den Mann“, denn Richter und Kläger vertreten nach Kraus eine brutale „Männermoral“, die mit zweierlei Maß misst.73 Mit diesen Aspekten ist auch die Theatermetaphorik verknüpft  : „Arm in Arm mit einem aufgeregten Ehemann raste die Justiz über die Szene, zu der das Tribunal ward. Arm in Arm mit dem Privatkläger, der sich zum Anwalt staatlicher Interessen erhöht fühlen konnte, weil er eine in französischen Possen wie im Leben abgedroschene Kalamität gerichtsordnungsmäßig feststellen ließ.“74 Die Dramaturgie dieser Gerichtsszenen vermischt Inkompatibles, nämlich Elemente der Tragödie, des Trauerspiels und der Komödie, je nachdem, wie die Akteure gerade sich zu präsentieren trachten. Dadurch wird die unsittliche Wirkung einer juristischen Verhandlung dessen, was ohnehin nur nach einem anachronistischen Rechtsverständnis justiziabel ist, noch verstärkt. Anstatt der Sphäre der Dramatik ein schales Substrat theatralischer Formen zu entlehnen, sollte, einem bekannten Diktum zufolge, die Legislative den Sachgehalt 71 L.c., S. 25 72 Ibid. 73 L.c., S. 22, S. 27, S. 24 74 L.c., S. 20

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der relevanten Dichtung sich zu eigen machen, denn „dort ist Kultur, wo die Gesetze paragraphierte Shakespearegedanken sind“75, und auch die Judikative, so darf im Geist der Fackel hinzugefügt werden, sollte hinter sie nicht zurückfallen. Im speziellen Fall fordert Kraus (außer der skizzierten allgemeinen Liberalisierung des Sittenrechts) eine gesetzliche Reform, „die richterlichen Losgehern auf dem Moralterrain Zügel anlegt.“76 Damit thematisiert er die fatalen psychischen Impulse, die solche Gerichtsverhandlungen kontaminieren. An dieser Stelle bezieht er denn auch explizit zwei jener ShakespeareZitate auf den Richter Mayer  : das vom kleinen Richter als Donnerer aus Maß für Maß und das vom Büttel und der Hure aus König Lear, und zwar in einer satirischen Form, die ihr Objekt noch zusätzlich dadurch verspottet, dass der Autor zunächst behauptet, es liege ihm fern, eine solche Beziehung herzustellen, im nächsten Satz aber mit Bezug auf das kolportierte Mayer-Zitat „Ich irre mich nie“ erläutert, er wolle „nur irdische Richter, die irren können, und nicht Vertreter einer höheren, menschlichen Einflüssen entrückten Gerichtsbarkeit zur Selbstbesinnung mahnen“.77 Selbstbesinnung ist auch für die kritische Theorie ein zentrales Stichwort  : In diesem Kontext müsste sie dem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ dienen, sowohl auf gesellschaftlicher Ebene, wie es bei Kraus die Trennung der Sphären Sittlichkeit und Kriminalität intendiert, als auch auf individueller Ebene, als Reflexion der eigenen Impulse, die das Urteil über die anderen und ihr Verhalten mitbestimmen. Das Autor-Subjekt geriert sich konsequenterweise nicht als Amateuranalytiker, der besserwisserisch gleich ein bestimmtes Erklärungsschema zur Hand hat, sondern gibt verschiedene Dispositionen zu bedenken, die die Aggressivität gegenüber der weiblichen Angeklagten hervorrufen könnten  : ungebremstes Machtstreben, Projektion unterdrückter Wünsche, freudlose Unerfahrenheit, die zu übertriebener Strenge, oder übersättigte Erfahrung, die zur Wut gegen das sonst Begehrte führt. Möglicherweise hat seine Mahnung auf den jungen Richter sogar Eindruck gemacht, denn in einem späteren Ehebruchsprozess trat Mayer zumindest nicht mehr als Frauenverächter und Moralprediger in Erscheinung, während er auf die Überbetonung seiner richterlichen Autorität, diesmal gegenüber dem zum Verzeihen gedrängten Ehemann, noch immer nicht verzichtete.78 75 L.c., S. 12 76 L.c., S. 27 77 Ibid., zum Zitat von Mayer S. 22 78 F 121, S. 25

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In Maß für Maß und anderen Stücken konnte Kraus tatsächlich Erkenntnisse präformiert finden, die in Staat und Gesellschaft noch lange nicht die erwünschte Wirkung zeigten. Daher rührt sein berühmtes Diktum  : „Shakespeare hat alles vorausgewußt.“79 Obwohl voreheliche und außereheliche Sexualität heute in den meisten Ländern kein strafbares Delikt mehr darstellt80, bleibt Shakespeares Kritik als psychologisch seltsam moderne Moralkritik auch hier noch immer aktuell, überdies als Kritik repressiver Herrschaft überall dort brisant, wo die sexuelle Revolution noch nicht stattgefunden hat. Im Folgenden werden die für die vorliegende Studie relevanten Aspekte des Stücks skizziert. Die Komödie vom milden Herzog, der den sittenstrengen Lord Angelo als Statthalter einsetzt, um die Moral seiner Untertanen zu heben, zeigt, wie gerade die naturwidrige Sittenstrenge zur Eskalation von Unzucht, Unmoral und Verbrechen führt. Zunächst verstößt er in doppelter Weise gegen die Gerechtigkeit  : Die von ihm auf der Grundlage eines seit Langem nicht angewandten Gesetzes verhängte Todesstrafe für außerehelichen Geschlechtsverkehr steht in einem Missverhältnis zur geahndeten Tat und trifft obendrein in dem jungen Claudio willkürlich einen durch Zufall Ertappten, der im Gegensatz zu vielen anderen mit der Geschwängerten immerhin verlobt ist.81 Soweit handelt Angelo, der selbst keine sexuelle Lust kennt, noch ganz aus übersteigertem Sexualhass heraus. Doch seine Tyrannei erreicht eine neue Stufe, als Angelo von Claudios Schwester Isabella aufgesucht und um Gnade gebeten wird, einer angehenden Nonne, deren als Reinheit verklärte Asexualität zusammen mit ihrer Schönheit in Angelo eine Begierde weckt, die keine sinnliche Frau in ihm erregen konnte. Im Zwiespalt zwischen christlicher Moral und entfesseltem Trieb verliert Angelo jedes Maß  ; er verstrickt sich immer tiefer in Erpressung, Wortbruch und Lüge. Am Ende hat er die gleiche Schuld auf sich geladen wie Claudio82, jedoch um die eben genannten Missetaten verstärkt. So unterschiedliche Figuren wie die angehende Nonne, Angelos weiserer Stellvertreter Escalus, der „Wüstling“ Lucio und ein Gefängniswärter erinnern ihn vergeblich an die einfachsten Gebote der Sittlichkeit. Erst die In79 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 11 80 Bezeichnend (vor allem für die Macht der katholischen Kirche) ist freilich der Umstand, dass Österreich den einschlägigen Paragraphen (§ 194) erst im Zuge des EU-Beitritts gestrichen hat, zeitgleich mit der Türkei. 81 Vgl. dazu die von Kraus angeführten Zitate aus I,3 und II,1. 82 An Isabellas Stelle, der er als Gegenleistung für ihre Hingabe Claudios Begnadigung verspricht, schläft seine von ihm verlassene Braut mit ihm, ohne dass er die List bemerkt.

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trigen des Herzogs und seine offizielle Rückkehr stellen das Recht wieder her. Auch dieser ist am Ende um eine Erkenntnis bereichert  ; entgegen seiner Drohung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten („Maß für Maß“), werden Angelo und alle anderen von ihm begnadigt und zugleich verheiratet, da er Gnade und Ehe nun für wirksamere Mittel der Pazifizierung hält als strenge Strafen. Während die übrigen Delinquenten ohne besonderen Grund frei kommen, bilden bei Angelo die Reue, die ihn das Todesurteil akzeptieren lässt, und das Misslingen seiner Untaten vermittels der Rettung Isabellas und Claudios unverzichtbare Voraussetzungen. Vertrauen in die durch Milde geförderte Besserungsfähigkeit der Menschen ersetzt die als schädlich erwiesene Repression. Zu Recht weist Kraus die Fehldeutung zurück, Angelo von vorneherein als Heuchler zu interpretieren83, denn sie reduziert den Gehalt des Stücks auf das Diktum des Herzogs am Ende des dritten Akts  : „Schande dem, der tödlich schlägt / Unrecht, das er selber hegt  !“84 Zwar mögen solche Fälle der literarischen Bearbeitung zugrunde gelegen haben85, und auch im Wien der Jahrhundertwende summierten sich Fälle von Juristen in verschiedenen Positionen, die, im Gerichtssaal die größten „Donnerer“, wegen kriminellen und ausschweifenden Lebenswandels in die USA auswandern mussten, derart, dass die Fackel spöttisch von der New Yorker Filiale der Wiener Justiz zu berichten beginnt86, doch der brisantere moralkritische Gehalt des Stücks, wie er hier bei aller gebotenen Kürze herausgearbeitet wurde, wird durch jene Reduktion verfehlt. Was die Figur des Angelo von einem traditionellen Gauner im Amt unterscheidet und in die Entwicklungsgeschichte des autoritären Charakters einreiht, ist die Zwanghaftigkeit seines Handelns. Seine Begierde ist von Beginn an durch eine von schlechtem Gewissen noch verstärkte Aggressivität geprägt87, und einmal entfesselt, stellt sie die „Unmoral“ des verurteilten Hedonismus der anderen weit in den Schatten. Der zur Lüsternheit deformierte Trieb als Kehrseite einer restriktiven Sexualmoral bildet denn auch in der Fackel ein bis in die Dreißigerjahre wiederkehrendes Motiv  : Die Moral verdammt den Sexus als etwas Schmutziges, die Lüsternheit genießt

83 Anlässlich einer Inszenierung mit Josef Kainz als Angelo  : F 98, S. 15. Auch beim jungen Richard Wagner findet sich eine solche Fehlinterpretation (vgl. dazu Adorno, GS 13, S. 11). 84 William Shakespeare  : Maß für Maß, in  : Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin/Weimar 51994, S. 211– 301, hier S. 264, III,2 Z. 286–287 85 Vgl. ibid., Anhang, S. 903. 86 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 308–311, die Fackel-Quellen werden im Anhang genannt. 87 Vgl. den Schlussmonolog in II,2 sowie die ganze Szene II,4.

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ihn als Schmutziges  ; in beiden Fällen misslingt dem Subjekt die Versöhnung mit seiner inneren Natur. Allerdings stößt die destruktive Dynamik bei Angelo an eine Grenze, als er sich am Ende entdeckt findet88, wohingegen der autoritäre Charakter in seiner ausgeprägtesten Form dadurch charakterisiert ist, dass er sich gegen Selbstkritik abdichtet und die Schuld stets auf andere projiziert. – Ein über psychologische Handlungsmotive hinausweisender Aspekt wird im Stück von Claudio zur Sprache gebracht  : „Sei’s, daß die Tyrannei im Herrscheramt,/ Sei’s, daß sie wohn’ im Herzen Seiner Hoheit“89. Einer hierauf gestützten Lesart zufolge, die freilich im Sinne Walter Benjamins eine Lesart gegen den Strich wäre, kommen Angelos destruktive Leidenschaften erst dadurch zur Entfaltung, dass ihm Verfügungsgewalt über andere Menschen verliehen wird.90 Nur das Ende gesellschaftlicher Herrschaft vermöchte es, diesem psychischen Potential die Basis zu entziehen. Diese Konsequenz wird im Stück umgangen, indem die Handlung, die doch in weiten Teilen der Dramaturgie eines bürgerlichen Trauerspiels91 entspricht, mit viel Mühe zu einem versöhnlichen Ende gebracht wird. Shakespeare gelingt es auf diese Weise, im Rahmen christlicher Moralvorstellungen (durch die Apologie der Ehe und der Gnade) und vorbürgerlicher Herrschaftsformen (durch die Apologie des gütigen Herrschers) zu bleiben. Doch das Stück selbst durchkreuzt diese Konformität  : Dass die vom Herzog verfügte Heirat am Schluss gleich in drei Fällen das Todesurteil ersetzt92, wirft ein fragwürdiges Licht auf die ansonsten nicht infrage gestellte Institution Ehe, und der fortbestehende soziale Antagonismus lässt das Problem des in jeder Herrschaft angelegten Missbrauchs ungelöst. Triebstruktur und Gesellschaft verbleiben im Widerspruch, auf dessen Überwindung der Herzog durch resignative Milde verzichtet. 88 „Mich schmerzt, daß ich euch diesen Schmerz bereitet,/Und solche Reu’ durchdringt mein wundes Herz,/ Daß mir der Tod willkommner scheint als Gnade./ Ich hab’ ihn wohl verdient und bitte drum  !“ (Maß für Maß, S. 298). 89 Maß für Maß, S. 220 (in I,3 Z. 45–46) 90 Wer sich nicht in einer Machtposition befindet, muss überzeugend um die Geliebte werben und kann im besten Fall an dieser Aufgabe wachsen, sich weiterentwickeln, wie übrigens die allzu tugendhafte Isabella selbst an der Aufgabe, ihren Bruder zu retten, wächst (sehr deutlich bereits im Verlauf der Szene II,2) und folgerichtig am Ende den Herzog – und nicht Angelo – zum Mann bekommt (darin unterscheidet sich Shakespeares Bearbeitung des Stoffs von der seiner Vorläufer). 91 Auch Adorno datiert die Anfänge des Trauerspiels auf Shakespeares Dramatik zu Beginn des 17. Jahrhunderts, allerdings in Anspielung auf Hamlet (Adorno, GS 11, S. 303 und GS 19, S. 217). 92 Nämlich bei Angelo, Claudio und Lucio. Eine weitere voraussichtliche Ehe (des Herzogs mit Isabella) und eine weitere Begnadigung (des Mörders Bernardino) kommen hinzu.

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Der Eingangsessay Sittlichkeit und Kriminalität eröffnet die Perspektive, in der die folgenden Texte wahrzunehmen sind. So kehrt das Motiv der Selbstinszenierung von Gerichtsrepräsentanten in mehreren Texten wieder und wird dort weiter entfaltet  : In Die Humoristen kennzeichnet Kraus das Verhalten von Richter und Staatsanwalt (es handelt sich um die – Fackellesern seit Langem bekannten – Herren Feigl und Pollak), indem er die Begriffe Satiriker, schlagfertig, Pointenruhm, pikant auf sie anwendet.93 Hinzu tritt die unsachliche Wertung (abstoßend, unanständig, obszön, unflätig94), mit der der Richter Liebesbriefe an den Angeklagten bedenkt. Mit ihr ist – noch über den Missbrauch der Machtposition hinaus – ein weiteres Element des autoritären Charakters verbunden  : die übertriebene Beschäftigung mit sexuellen Ausschweifungen anderer, seien sie nun imaginär oder wirklich. Da ihr psychologischer Wert vor allem in der Gelegenheit zu Projektionen besteht, befasst sich diese Neigung am liebsten mit Andeutungen. Wieder empört Kraus hier sowohl das Auftreten des Richters als solches als auch die Korrumpierung der Öffentlichkeit. Denn zunächst werden die Geschworenen (und vermittels der Presse die ganze Öffentlichkeit) neugierig auf den angeblich so obszönen Inhalt gemacht, dann aber bleiben die Briefe doch geheim, nicht weil der Angeklagte dies fordert, sondern weil der Richter sich nach eigenem Bekunden schämt, sie vorzulesen. Kraus bemerkt dazu  : „Wie machen’s doch die Kulissenplauderer  ? ‚Geschichten könnte ich erzählen, Geschichten  ! Na, es ist besser, man schweigt darüber  !‘.“95 Natürlich unterlässt es Kraus nicht festzustellen, dass erotische Briefe erst „in dem Moment obszön und abstoßend sind, da ein Dritter, den sie nichts angehen, in sie Einblick nimmt.“96 In der Öffentlichkeit erscheint nun die Exliebhaberin, eine Schauspielerin, als Hauptschuldige, obwohl sie mit dem Eigentumsdelikt, um das es geht, nichts zu tun hat  ; die antisemitische Presse gibt obendrein noch ihren vollen Namen unter Verwendung der typischen Wendung  : „Es ist die Jüdin …“, bekannt.97 So gesellen sich Autoritätsmissbrauch, Sexualhass und Antisemitismus zueinander, ohne dass von der öffentlich Geschmähten irgendeine gegen soziale Interessen verstoßende Tat begangen worden wäre.98

93 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 29 94 L.c., S. 30 95 Ibid. 96 L.c., S. 31 97 Ibid. 98 Vgl.: Eros und Themis, S. 151–156, insbesondere S. 152. In der Vorlage zu diesem Text, Sexual-

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Die Fackel enthält sogar eine (nicht in Sittlichkeit und Kriminalität aufgenommene) Glosse, die bis auf den Schluss den Stil einer Theaterkritik parodiert und den behandelten Gerichtsprozess als Premiere deutet.99 Dieses Verfahren wäre den anderen in Sittlichkeit und Kriminalität zitierten Fällen jedoch nicht angemessen, weil es wichtige kulturkritische Erkenntnisse ausblenden würde. In einem Abschnitt von Nulla dies … belegt Kraus „die richterliche Unabhängigkeit von Takt, Würde, Einsicht und Erbarmen“ durch die Konfrontation von zwei „publizistischen Tatsachen“, die offenbar auch schon in der Zeitung nebeneinander standen100  : Es handelt sich um die Mahnung an einen die Verhandlungsführung betreffenden Erlass des Justizministers und um die detaillierte Schilderung eines Prozesses. Während in der linken Spalte der Tabelle überaus vernünftig gefordert wird, der Vorsitzende solle „durch die gelassene und sachgemäße Methode seines Verfahrens beruhigend und ernüchternd wirken“101, Kritik am Verhalten der Zeugen unterlassen und auf die Äußerung persönlicher Auffassungen „über allgemein gesellschaftliche, sittliche, religiöse und ähnliche Fragen“ verzichten102, zeigen die rechts angeführten Zitate, wie ein präsidierender Richter und ein Staatsanwalt in ihrem Verhalten gegenüber einer 13-jährigen Zeugin genau das Gegenteil praktizieren. In seinem Kommentar hebt Kraus die Vermischung der Judikatur mit christlicher Moral hervor, sodass sich „die Natur mit ihren Ansprüchen auf den Kirchenrechtsweg“ verwiesen findet103 und die neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse abgewehrt werden104. Das Justizministerium reagierte mit seiner Publikation unter anderem auf die öffentliche Kritik (nicht zuletzt der Fa ­justiz betitelt, werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Fälle detaillierter analysiert (F 179, S. 3).   99 F 167, S. 18 AdH/Gerichtshabitué 100 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 290 101 L.c., S. 291 102 L.c., S. 292 103 L.c., S. 293 104 L.c., S. 294. Vgl. zum nicht nur feindseligen Verhältnis der Fackel zur Psychoanalyse Nike Wagner  : Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 118–131, und Edward Timms  : Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874 bis 1918, Frankfurt/M. 1999, S. 141–174. Eine materialreiche Aufarbeitung dieses Themas findet sich neuerdings auch bei Beate Petra Kory  : Im Spannungsfeld zwischen Literatur und Psychoanalyse  : die Auseinandersetzung von Karl Kraus, Fritz Wittels und Stefan Zweig mit dem „großen Zauberer“ Sigmund Freud. Stuttgart  : ibidem, 2007, S. 13–99. Allerdings berücksichtigt diese Arbeit weder die literarische Darstellungsform der Krausschen Texte noch jenen psychologischen Gehalt, der hier von zentralem Interesse ist.

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ckel) an der Verhandlungsführung in einem Innsbrucker Mordprozess.105 In der Fackel war zunächst eine unkommentierte Montage von Zitaten aus dem Prozess Rutthofer erschienen, im folgenden Heft dann ein Kommentar von Karl Kraus  ; beide Texte sind in Sittlichkeit und Kriminalität enthalten.106 Aufgabe des Gerichts war es zu klären, ob die Angeklagte ihren Mann in Notwehr getötet hatte (nachdem sie schon öfter von ihm misshandelt worden war), wie sie selbst angab, oder ob die Tat als Mord bzw. Totschlag zu qualifizieren sei. Der präsidierende Richter hielt es freilich für angebracht, etwa zu fragen  : „Wie haben Sie es mit der Religion gehalten  ? Was für Anschauungen hatten Sie von der Religion  ? Sie sollen sich einmal abfällig über die Auferstehung geäußert haben  ?“107 Der Versuch einer Diffamierung der Angeklagten vor den Geschworenen und vor der Öffentlichkeit wurde auch dadurch unternommen, dass belanglose Details aus dem Eheleben sowie außereheliche Affären der Angeklagten ausgiebig in verschiedenen Befragungen zur Sprache gebracht wurden und so den Eindruck vermittelten, die Schuldfrage sei von solchen, eigentlich sachfremden Informationen über die Person der Angeklagten abhängig (was ebenfalls im Gegensatz zu jenem Erlass steht). Bei den Geschworenen und bei der christlichsozialen Presse erwies sich diese Taktik wie so oft als erfolgreich. Am Ende wurde Luise Rutthofer wegen Totschlags verurteilt108, und die Deutsche Zeitung nahm den Fall zum Anlass, ihre antisemitischen Wahnideen über jüdische Unmoral, Verweiblichung und Verweichlichung vorzubringen.109 Von der Wehrhaftigkeit der Angeklagten zeigte sich Kraus begeistert. Seine Zitatmontage enthält einige ihrer Repliken  : „Ich weiß nicht, warum Sie das alles den Geschworenen sagen“, „Sie verspotten mich, Herr Präsident“, „Sie spotten ja schon wieder, Herr Präsident  !“, „Herr Präsident, Sie verdrehen meine Worte  !“110, und in der Schlusspassage seines Kommentars zollt er ihrer intellektuellen Schlagfertigkeit mit Bezug auf ein weiteres Zitat höchsten Res105 Vgl. zu diesem Zusammenhang  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 290 und S. 293. 106 Ein österreichischer Mordprozeß, l.c., S. 218–221  ; Zum Prozeß Rutthofer, l.c., S. 222–224 107 L.c., S. 218 108 Trotz der unfairen Verhandlungsführung billigte ihr das Innsbrucker Gericht noch mildernde Umstände zu. Der OGH hob dieses Urteil auf und verschärfte die Strafe mit der juristisch fragwürdigen Begründung, sie sei ihrem Mann wegen seiner höheren sozialen Stellung zu besonderem Dank verpflichtet und ihr Vorleben sei nicht untadelhaft gewesen, von sieben auf zehn Jahre schwere Kerkerhaft (F 213, S. 4f.). 109 L.c., S. 223 110 L.c., S. 218, S. 219, S. 220, S. 220

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pekt. Wer in der Fackel das „Positive“ sucht, kann es an solchen Stellen finden, hier  : in der Präsentation von mutigem Auftreten gegenüber der staatlichen Autorität. Aber diejenigen, die es einfordern, dem Autor Negativismus vorwerfend, werden sich seiner Begeisterung für solche Widerständigkeit wohl kaum anschließen, dokumentiert doch schon die Forderung nach dem Positiven das Einverständnis mit der Gesellschaft. Die, so Kraus, gebirgskretinistische Stimmung111, in der er stattfand, verbindet diesen Prozess mit dem Fall Hervay, welchen Reinhard Merkel folgendermaßen zusammenfasst  : „Im Sommer 1904 erschoß sich im steirischen Mürzzuschlag der Bezirkshauptmann Franz von Hervay. Seine Ehefrau war wegen ihres vor- und außerehelichen ‚Lebenswandels‘ ins Gerede und in die Klatschspalten der Lokalzeitung gekommen. Aus dem Labyrinth der öffentlichen Bosheit und der anschließenden amtlichen Suspendierung von seinem Dienst fand der Bezirkshauptmann keinen anderen Ausweg als den in den Tod. Die Ehefrau wurde verhaftet  ; unklar war zunächst, warum. Nach fünfmonatiger Untersuchungshaft, in deren Verlauf sich im Nebel des Vorlebens der Frau von Hervay immerhin die Umrisse des Verbrechens der Bigamie […] erkennen ließen, wurde sie im November 1904 vom k. k. Kreisgericht Leoben deswegen zu einer fünfmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt.“112 Merkel behandelt den Fall Hervay unter dem Aspekt der in der Fackel häufig thematisierten allzu leichtfertigen Verhängung von Untersuchungshaft, und da das Urteil angesichts der damaligen Einschätzung renommierter Juristen, der auch Merkel sich anschließt, sachlich falsch war113, drängt sich der Eindruck auf, dass die Strafe bloß die Untersuchungshaft rechtfertigen und dem Volkszorn Genüge tun sollte. Tatsächlich waren zunächst eher Delikte wie Betrug und Falschmeldung im Gespräch, für die es jedoch keine ausreichenden Indizien gab. Kraus bemerkt dazu sarkastisch  : „Und österreichische Behörden, die sonst im Schweiße ihres Angesichts den Täter suchen, fahndeten diesmal steckbrieflich nach der Tat.“114 So erreicht die von der Fackel diagnostizierte Tendenz, die Strafe als Selbstzweck zu behandeln, ihren Höhepunkt  : Ein Anlass zur Betätigung der Strafsucht wird durch offenkundigen Rechtsbruch erst konstruiert, weil die Gefangene sich „der Herstellung eines Tatbestandes hart-

111 L.c., S. 222 112 Reinhard Merkel  : Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, S. 403 113 Ibid. 114 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 107

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näckig widersetzt“.115 Und statt dass ein kritische Öffentlichkeit kontrolliert, ob die Verhaftung einer Mitbürgerin denn unbedingt notwendig war, bildeten die Lynchgelüste der Bevölkerung gar die Grundlage für ihre Verhaftung. Die Gründe für den Hass sind weniger bei Frau Hervay zu suchen, über deren ihr Vorleben betreffende Lügengeschichten eine weniger bornierte Nachbarschaft nur gelacht hätte, sondern im hasserfüllten Mob, zu dem sich Angehörige sehr unterschiedlicher sozialer Schichten formieren, selbst  : Seine aus dem Zusammenprall zweier Welten resultierenden Triebkräfte sind Eifersucht, Neid und die Projektion unterdrückter Bedürfnisse. Aufschlussreicher als die Charakteristik der Angeklagten ist deshalb die ihrer Gegner, zu deren Sprachrohr die christlich-soziale Presse sich macht. „Die Weltanschauung des ‚Deutschen Volksblatts‘, in der sich das sittliche Ideal eines St. Marxer Viehtreibers mit dem ästhetischen eines Kerzlweibs organisch verbindet, ist nicht oft so klar zu Tage getreten wie in diesem Tobsuchtsausbruch […].“116 Deutlich wird hier, dass Kraus mit der viel zitierten „ästhetischen Wertung der Menschen“117 ein bestimmtes Verhältnis zur Natur und damit auch zum eigenen Körper im Sinn hat. Dem ästhetischen Blick kann ein kultivierter Gauner wohlgefälliger sein als ein barbarischer braver Bürger  : „Auch an der Tafel des Lebens ist manchmal jener der leidlichere Genosse, der das Messer in die Tasche, als der es ins Maul steckt.“118 Oft genug wurde indessen das Messer erst ins Maul und dann in die Tasche gesteckt, wie Kraus anhand von Korruptionsfällen aus der Sphäre der Antisemiten nachweist. Jedenfalls ist ihm im erotischen Bereich „ein reingewaschener Sünder“ lieber „als drei Gerechte mit Schweißfüßen“119, und entsprechend angeekelt stellt er nach der Urteilsverkündung fest  : „Die übelriechende Tugend hat über das soignierte Laster gesiegt.“120 Auf diese

115 Ibid. 116 L.c., S. 99 117 Ibid. 118 Ibid. Eine sprachlich weniger prägnante Vorstufe zu diesem Aphorismus findet sich in F 156, S. 19, eine Zwischenstufe zur Verfeinerung des Motivs in F 192, S. 2. 119 Der Fall Hervay, S. 99. Bedenkt man, wie wenig Wert damals noch auf ein Badezimmer gelegt wurde, erscheint diese Alternative keineswegs willkürlich. In einem Brief an Kraus behauptet jedenfalls die gepflegte Sünderin  : „In Mürzzuschlag erregte es öffentliches Ärgernis, daß ich lieber auf eine ‚gute Stube‘ verzichtete und mir dafür ein Badezimmer einrichten ließ“ (aus einem Brief von Frau Hervay, F 170, S. 18, dort teilweise gesperrt). Die Zeiten, in denen das Baden wegen der erforderlichen Nacktheit in der christlichen Kultur überhaupt als unmoralisch galt, waren noch nicht lange und offenbar nicht vollständig überwunden. 120 Der Hexenprozeß von Leoben, S. 119

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Weise versucht Kraus, die Konnotationen des Widerwärtigen, Schmutzigen und Ungesunden von der Sexualität fort- und auf den Moralismus hinzulenken. Ungesund und sogar tödlich ist in der Perspektive der Fackel nicht die „Sittenverderbnis der Großstadt“, wie es die Provinzpresse will, sondern das „sexuelle Tirolertum“, das in Mürzzuschlag ebenso beheimatet ist wie in Innsbruck.121 Entscheidender noch als der Kleinstadtskandal sei für Hervays Selbstmord gewesen, dass er „sein Mürzzuschlag in sich getragen“ habe122. Und mit Bezug auf zwei Faust-Zitate, die Hervay als männliches Gretchen erscheinen lassen, erklärt Kraus  : „Ist der verführte deutsche Hans eine tragische Figur  ? Nicht als Opfer der Verführerin, wohl aber als Opfer seiner Erziehung.“123 Hervay starb demnach an einem Konventionalismus, in dem er mit seinen Verfolgern einig war. Kraus zeichnet seine geistige Physiognomie als die des Musterknaben, der Wert auf das gute Elternhaus und die Unberührtheit seiner Braut legt.124 Dass brave, aber lebensfremde Beamte sich verführen lassen, ist der Fackel zufolge unvermeidlich  ; deshalb hat er nur Spott übrig für eine Öffentlichkeit, die es wutschnaubend beklagt. Seine sprachparodistischen Einlassungen hierzu können an dieser Stelle nicht in voller Länge zitiert werden  ; ihr kultursatirischer Gehalt verbindet Karl Kraus mit Heinrich Mann, dessen im darauf folgenden Jahr erschienener Roman Professor Unrat eine ähnliche Konstellation aufweist (und von dem noch etwas später bekanntlich Beiträge in der Fackel erschienen sind). Als Schuldige erscheint bei Kraus jedenfalls nicht die Verführerin, sondern „eine staatliche Ordnung, in der die Regierenden sich vor den Regierten durch größere Weltfremdheit auszeichnen und in der es vorbildlich ist, nichts erlebt zu haben  ; […] ein System, vermöge dessen Männer, deren Leben eine prolongierte Gymnasialzeit ist – mit guter Sittennote, vielen Büchern und einem Weib –, Sexualgesetze schaffen und auslegen, als Familienväter verkappte Vorzugsschüler zu Ordnern im Chaos des Geschlechtsverkehrs bestellt sind.“125 Der Spott über die Vorzugsschüler, welcher spätestens seit der Schulreform zur Signatur des antiintellektuellen Spießers geworden ist, trifft zu Kraus’ Zeiten jene Überangepassten, die sich gerade wegen ihres Surplus an Konformität in der Welt jenseits des 121 Der Fall Hervay, S. 103, vgl. zur Herkunft des satirischen Begriffs „sexuelles Tirolertum“ F 142, S. 15. 122 L.c., S. 103 123 L.c., S. 104 124 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 103, S. 120 125 Der Fall Hervay, S. 101. Mit diesem Satz leitet Kraus zur Gesetzgebung über, die damals gerade reformiert wurde.

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Gymnasiums nicht zurechtfinden. Zum gesellschaftlichen Problem wird ihre Weltfremdheit, indem sie sich zu einer die Legislative und die Judikative bestimmenden Ideologie hypostasiert, welche wiederum auf die kulturellen Normen in der Gesellschaft zurückwirkt. Der psychologische Gehalt seiner Darstellung, den Kraus hier bedeutend weiterentwickelt, ist so verblüffend prägnant, dass an dieser Stelle noch einmal an Adornos Würdigung erinnert sei  : „Kraus wußte alles über die Rolle des Sexualneids, der Verdrängung und der Projektion in den Tabus.“126 Diese Worte lassen sich auf mehr als einen Text beziehen, sicherlich aber auf die folgende Passage aus Der Hexenprozess von Leoben  : „Das sexuelle Tirolertum endet meistens letal … Oder es staut sich zu einem Haß gegen das Leben, der jede Regung, die es selbst unterdrücken muß, bei Anderen brünstig verfolgt. Der Wahn, daß geschlechtliche Betätigung sittliche Wertminderung bedeute, erzeugt eine Verbissenheit, die ihre Orgien in der Kontrolle des Freien genießt. Die Überzeugung liegt im ewigen Kampf mit der eigenen Natur  ; unterliegt sie, ist sie durch die Bewußtheit der Sünde zweifach geschwächt und nimmt Rache an der Natur – des Andern. Plötzlich hört man aus irgend einem Gebirgswinkel, daß ein Gerichtsvorsteher zwei Liebesleuten die Alternative gestellt hat, zu heiraten oder auseinanderzugehen. Geschlechtsneid, meine Herren  ; der sich doch wenigstens feindselig mit den Dingen befassen will, auf die er wie gebannt starrt, deren Namen (Kokotte, Konkubinat) seine Einbildungskraft beschäftigen und auf deren Genuß er von amtswegen verzichten muß.“127 Die Wörter „brünstig“ und „Orgien“ zeigen an, dass es um mehr geht als um Moralismus als Ideologie  : um die fatale Eigendynamik der Triebunterdrückung nämlich, die eine repressive Kultur selbstdestruktive Züge annehmen lässt. Aus dem unbefriedigten Sexualleben folgt zwar nicht unmittelbar die Barbarei, aber es bringt ein Aggressionspotenzial hervor, das dann politisch in Dienst genommen und kanalisiert werden kann. Dem Bedürfnis nach Rache für kulturell bedingte Versagungen bieten sich schon früh Zielobjekte an, die – je nach Milieu und psychischer Disposition – „die Kokotte“, „der Neger“ oder „der Jude“ heißen können. Aus diesen Gründen ist übersteigerte Triebunterdrückung als gesellschaftliche oder gar staatliche Norm (anders als die freie individuelle Entscheidung zu Enthaltsamkeit oder Treue) nichts weniger als harmlos. Die Eigentümlichkeit der Krausschen Schriften besteht darin, dass sie diese Zusammenhänge der ästhetischen Erfahrung zugänglich 126 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 368f. 127 Der Hexenprozeß von Leoben, S. 120f.

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macht, indem sie sie aus Presseberichten über reale Vorgänge extrapoliert. Dadurch unterscheidet sie sich von wissenschaftlichen Ansätzen wie der Psychoanalyse einerseits und von fiktionaler Literatur wie Heinrich Manns Romanen andererseits. Der zitierte Textabschnitt endet folgendermaßen  : „Ihr, die ihr Triebe des Herzens verkennt, sagt, warum rächt Ihr euch am Leben  ? Warum pfuscht Ihr beständig dem Herrgott ins Handwerk  ? Und warum spielt sich der jüngste Richter immerzu als jüngstes Gericht auf  ? Warum erkühnt Ihr euch, der von Seelenkennern ‚unerforschten Macht des Weiberwillens’ mit der Paragraphenschlinge beikommen zu wollen, führt ein Hochgericht auf, so grausam, so abnorm in seinem Gang und Urteil, ‚daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir, sich sterblich lachen würden‘  !“128 Kraus verwendet hier für seine Textcollage eine Arie aus Figaros Hochzeit von Mozart, eine sprichwörtliche Redewendung, eine selbstreferenzielle Anspielung auf den Essay Sittlichkeit und Kriminalität, eine Anspielung auf die Hexenprozesse, ein ShakespeareZitat aus König Lear (IV, 4) und eins aus Maß für Maß (II,2) als Sprachmaterial. Sie fügen sich aber so zusammen, dass in Gestalt der anklagenden Rede ein neuer, auf den aktuellen Gegenstand bezogener Text entsteht. Die literarische Tradition wird im Hegelschen Sinne in dieser Anklage aufgehoben, indem Kraus sie dekontextualisiert und doch ihren Gehalt bewahrt.129 Kraus nannte dieses Verfahren die „Einschöpfung“ von Zitaten. Eher als Montage denn als Collage ist hingegen seine Verwendung von Zitaten aus einer kulturgeschichtlichen Darstellung der Hexenverfolgung zu begreifen. Der Text konfrontiert die Vorgänge in der eigenen Epoche, die sich als Zeitalter der Humanität und des Fortschritts ansieht, mit grausamen Praktiken des Mittelalters. Provokativ behauptet er sogar eine Verschlimmerung von Presse und Pranger als Folterinstrumenten, die „nur“ physische Qual bereiten, zu modernen Einrichtungen, die das Bewusstsein quälen, und folgt damit einer satirischen Logik, der das Gegenwärtige und Heimische stets als

128 L.c., S. 121 129 Während der Bezug zum übrigen Material evident ist, bedarf die Verwendung der Mozart-Arie einer Erklärung. In der Version der Fackel wurde ihr Titel noch in Anführungszeichen zitiert  : „Ihr, die ihr Züge des Herzens kennt“. Mit der Änderung in verkennt verzichtete Kraus darauf. Die liebesdurstige Welt des Figaro wird nur mehr implizit evoziert, und sie erinnert an die Dialektik von Fortschritt und Regression  : kein Regierender maßt sich mehr das Recht auf die erste Nacht mit der Braut an, doch der Prozess der bürgerlichen Emanzipation von feudalistischer Bevormundung bringt eine lustfeindliche, repressive Moral, die wiederum durch staatliche Eingriffe ins Liebesleben durchgesetzt wird, mit sich.

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das Schlimmste gilt.130 Allerdings besteht im Gesamtwerk von Karl Kraus eine gewisse Spannung zwischen dem idealistischen Primat des Geistes, das sich in solchen Wertungen bekundet, und seiner Sensibilität für physisches Leid, die ihn auf direkte Gewalt stets noch empörter reagieren lässt. Evident ist jedenfalls die Intention, die eigene Epoche als „Zeitalter einer barbarischen Humanität“ zu kennzeichnen, wie es dann explizit in Nulla dies geschieht131, und zwar unter religiösen, psychologischen und juristischen Aspekten. Schon das als Motto vorangestellte Zitat konfrontiert die inhumane Praxis des Christentums mit dessen ideellem Eigenanspruch  : „Nur Wenige, nur sehr Wenige überstanden wie durch ein Wunder alle die Qualen und wurden dann […] als Krüppel an Leib und Geist aus der Kerkerhöhle entlassen, um über die ‚Religion der Liebe‘ nachzudenken.“132 Bei Kraus selbst findet sich keine Kritik des Christentums als Religion, er kritisierte jedoch scharf die Macht, die die katholische Kirche über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Familienleben ausübte, und die christlich-soziale Presse. In der Feindseligkeit gegen die Fremde, die mehrere Sprachen spricht, sich auch im Deutschen gewählter ausdrückt als die Einheimischen, auf Seidenwäsche und ein gepflegtes Äußeres Wert legt, und so dem Bezirkshauptmann den Kopf verdreht, lebt der satirischen Darstellung zufolge der alte Teufels- bzw. Hexenglaube fort, welcher ja ebenfalls der Abwehr kundiger und sinnlicher Frauen, die der kirchlichen Ordnung störend erschienen und nicht selten dem Rachedurst der Neidgefühle diente. Kraus thematisiert den Hang zur Regression in dieses Entwicklungsstadium auf psychologischer Ebene, indem er eine „Nostalgie nach dem Mittelalter“ und „das tiefe Heimweh der Volksseele nach jenen altehrwürdigen Einrichtungen“, der Folter nämlich, diagnostiziert.133 Es „ward ein Senkblei in den tiefsten Brunnengrund österreichischen Volksempfindens hinabgelassen, und

130 Das Wortspiel mit dem Homonym Presse findet sich schon bei Oscar Wilde. Kraus zitiert in der Fackel, die dem Hexenprozeß vorangeht, eine längere Passage aus Gustav Landauers Übersetzung von Der Sozialismus und die Seele des Menschen, in der es unter anderem heißt  : „In früheren Zeiten hatten die Menschen die Folter. Jetzt haben sie die Presse.“ (F 167, S. 12, dort gesperrt). Allerdings fährt Wilde fort  : „Gewiß, das ist ein Fortschritt. Aber es ist doch noch sehr schlimm und demoralisierend.“ (ibid.). Vgl. bei Kraus selbst auch Sittlichkeit und Kriminalität, S. 25 (Presse), sowie F17, S. 32, und F 168, S. 2 (Pranger, -justiz). 131 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 293 132 Der Hexenprozeß von Leoben, S. 105 (Zitat aus  : Johannes Scherr  : Geschichte deutscher Kultur und Sitte) 133 L.c., S.105, S. 106

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siehe, es stieß auf den Wunsch nach Teufelsaustreibung.“134 Tatsächlich scheut das Deutsche Volksblatt nicht davor zurück, vom „teuflisch gearteten Judenweib“ zu sprechen und auf diese Weise alte Ressentiments zu mobilisieren. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. Bezeichnend für die Justiz in der Provinz ist es, dass das Kreisgericht, anstatt die Aggressoren in die Schranken zu weisen, deren Bedürfnissen entgegenkommt, indem sie die Bedrängte in Haft nimmt, sie zwischenzeitlich zu einem psychiatrischen Fall macht und in jenem fragwürdigen Prozess wegen Bigamie durch exzessive Befragungen über allerlei Details aus dem Leben der Angeklagten einer Reihe von Zeugen Gelegenheit gibt, Bosheit und Indiskretion öffentlich auszuagieren. Die Satire straft dieses Vorgehen, indem sie das Gericht als „Malefizgericht“ und das Beweisverfahren als „peinlich Frag“ bezeichnet135, die Behandlung der Angeklagten „mittelalterlicher Exorzierkunst“ und den Richter einem „Büttel“ gleichsetzt.136 Wie dem Ehebruchsprozess P. weist Kraus auch diesem Prozess eine kulturgeschichtliche Bedeutung zu und entrückt somit das Gegenwärtige zum befremdlichen Forschungsobjekt.137 Allerdings scheint die Empörung über das Leobener Gericht die einstige noch übertroffen zu haben, denn zumindest in Wien nahm Kraus eine „Erbitterung“ wahr, in der sich alle einig gewesen seien, „einig in der Verdammung einer Justiz des Hasses, die nach einem in der Gegenwart beispiellosen Beweisverfahren mit steinerner Ruhe ihr Vorurteil verkündet“ habe.138 Die Gegenaufklärung behält die Oberhand im widersprüchlichen Prozess bürgerlicher Rationalisierung, solange beständig nicht nur in der öffentlichen Meinung das Urteil zum Vorurteil regrediert, sondern auch in der Rechtsprechung. Dass außereheliche Liebschaften als Indizien für beliebige Delikte herangezogen wurden, musste Kraus noch öfter erleben  ; die bekanntesten dieser Fälle sind die Prozesse Klein und Rutthofer.139 Insofern übertreibt seine Satire hier nicht einmal, indem sie die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgehens hervorhebt. Adorno führt als Beleg für Kraus’ psychologische Einsichten einen religionskritischen Passus aus Die Reverenz an140, dessen Genese und Weiterentwicklung eine nähere Betrachtung lohnt  : „Man muß die leichte Reizbarkeit 134 L.c., S. 106 135 L.c., S. 106, S. 111 136 L.c., S. 117 137 Ibid. 138 L.c., S. 119 139 Vgl. Sittlichkeit und Kriminalität, S. 162, S. 222. 140 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 369

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des katholischen Gefühls kennen. Es gerät immer in Wallung, wenn der Andere es nicht hat. Die Heiligkeit einer religiösen Handlung hält den Religiösen nicht so ganz gefangen, daß er nicht die Geistesgegenwart hätte, zu kontrollieren, ob sie den Andern gefangen hält, und die von wachsamen Kooperatoren geführte Menge hat sich daran gewöhnt, die eigentliche Andacht nicht so sehr im Abnehmen des Hutes wie im Herunterschlagen des Hutes zu betätigen.“141 Kraus fährt mit Bezug auf den speziellen Fall wie auch allgemein auf die extrem restriktive Gesetzgebung fort  : „Eine Justiz aber, die ihre Würde vom Talar bezieht, arbeitet jahraus jahrein im Dienste des Klerus, dessen Machtgefühl lieber auf die Köpfe als auf die Hüte verzichtet.“142 In Wirklichkeit geht es nicht so sehr um den Schutz religiöser Gefühle, welcher in solchen Fällen stets vorgeschoben wird, sondern um die Möglichkeit zur Verfolgung anderer. Psychologisch formuliert  : Die Identifikation mit der religiösen Eigengruppe und ihren Ritualen ist vom Zweck dominiert, anderen Normverstöße nachweisen zu können, und zwar möglicherweise deshalb, weil sie einerseits den Schutz einer mächtigen Institution, der Kirche, bietet, andererseits aber deren Normen mit einem solchen Maß an Zwang eingedrillt werden müssen, dass eine Aggressivität entsteht, die nun nach außen gewendet wird. In einer früheren Glosse schreibt Kraus dazu  : „Keine Gefühle lassen sich lieber verletzen als die der katholischen Bevölkerung. Sie liegen förmlich auf der Lauer nach Verletzung, und sind am Ende auch durch diese Konstatierung verletzt.“143 Umso schlimmer, wenn der Staat pathologische Regungen dieser Art auch noch juristisch absichert.144 Ein zwanghaftes Strafbedürfnis erkennt Kraus nicht nur im Bereich der Religion, sondern auch beim Patriotismus. In der Polemik Der Patriot aus dem Jahr 1908 (gemeint ist der deutsche Publizist Maximilian Harden) wird der Geltungsbereich jener Erkenntnis folgendermaßen erweitert  : „So wie das religiöse Gefühl der meisten Frommen sich erst bekundet, wenn es verletzt wird, so liegt auch der Patriotismus auf der Lauer der Gelegenheit, gekränkt zu sein. Der Sprachgebrauch, der davon spricht, daß einer, der leicht zu beleidigen ist, ‚gern‘ beleidigt ist, hat Recht. Das religiöse und das patriotische Gefühl lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung. […]

141 Karl Kraus  : Die Reverenz, in  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 225–227, Zitat S. 225f. 142 L.c., S. 226 143 F 173, S. 20 144 Kraus dokumentiert, dass man selbst als Christ weder beim Feiertags-Spaziergang, noch im Wirtshaus, noch bei einer Beerdigung vor den lauernden Eiferern sicher war (Sittlichkeit und Kriminalität, S. 225, S. 318f.).

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Der wahre Patriot liebt zwar das Vaterland, aber er würde selbst das Vaterland opfern, um jene hassen zu dürfen, die das Vaterland nicht lieben oder nicht auf die selbe Art lieben wie er. Der wahre Patriot ist immer ein Denunziant der Vaterlandslosen, wie der wahre Christ ein Denunziant der Gottlosen ist.“ 145 Das hat sich in der politischen Psychologie zweier Weltkriege bewahrheitet, in denen lieber bis zum legendären „letzten Mann“ gekämpft wurde, als durch eine realitätsgerechte Kapitulation dem zerstörerischen Hass auf den äußeren und inneren ‚Feind‘ wie auch der Zerstörung des eigenen Landes ein Ende zu bereiten. Doch schon im Frieden erkannte Kraus die Funktion patriotischer Gefühle als Gelegenheit zur Projektion von Hassgefühlen. Der letzte Satz bekräftigt, dass dieses Syndrom nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum der patriotischen wie der christlichen Ideologie angesiedelt ist. Erhebliche psychische Energien müssen aufgewandt werden, um ihnen trotz Aufklärung und Naturwissenschaft konform zu bleiben, und als Ersatz bieten sie eben diese Möglichkeit der Aggressionsabfuhr. Da Kraus bezüglich der Sexualmoral eine vergleichbar eifernde Haltung wahrnahm, nimmt der Gedanke in den Aphorismen schließlich die folgende Form an  : „Religion, Moral und Patriotismus sind Gefühle, die sich erst dann bekunden, wenn sie verletzt werden. Der Sprachgebrauch, welcher sagt, daß einer, der leicht zu beleidigen ist, ‚gern‘ beleidigt ist, hat recht. Jene Gefühle lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung, und sie leben ordentlich auf in der Beschwerde über den Gottlosen, den Sittenlosen, den Vaterlandslosen. Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem keine so große Genugtuung wie ihn jenen vom Kopf zu schlagen, die andersgläubig oder kurzsichtig sind.“146 Auf die Irrationalität – oder, mit Adorno gesprochen  : den pathogenen Charakter – der herrschenden Ideologie und ihrer Manifestation in der juridischen Praxis weisen auch die von Kraus im Kontext der Justizkritik verwendeten Wortverbindungen mit -wahn, -rausch und -exzess hin. So beginnt Kraus’ eigener Text in der bereits zitierten Satire Aus dem dunkelsten Österreich mit den Sätzen  : „Keine Woche darf ohne Justizschande vergehen. Vom politischen Größenwahn und vom moralischen Verfolgungswahn geblendet, mißt die Gerechtigkeit Männern und Frauen den gleichen Anteil an Qual und Unrecht zu.“147 Im ersten Fall beantragte der Staatsanwalt die Verurteilung eines italienischen Arbeiters wegen Majestätsbeleidigung, weil dieser den 145 Der Patriot, in  : Literatur und Lüge, S. 86–98, Zitat S. 89f. 146 A 1694, in  : Aphorimen, S. 59 147 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 257

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österreichischen Kaiser „König“ genannt hatte  ; im zweiten Fall wurde eine junge Frau wegen Verdachts auf geheime Prostitution angeklagt, weil sie sich auffällig kleidete und abends spät nach Hause kam. Diese alltäglichen Fälle werden ihrer Selbstverständlichkeit enthoben, indem Kraus sie ironisch der Schöpfungsgeschichte zuordnet und durch solche experimentelle Enthistorisierung gerade ihren sozialgeschichtlich transigenten Charakter verdeutlicht  : „So wie der Lauf dieser Welt ist, muß es eine Majestätsbeleidigung gegeben haben, bevor es Kaiser gab, und Gott schuf den Hausmeister, damit er Adam und Eva aus dem Paradies jage. Aber die delirante Justiz ist lächerlicher, wenn sie sich moralisch, als wenn sie sich politisch erhitzt. In ihrem Eifer, das Heimlichste zu sehen, reißt sie die Binde von den Augen, um ihre Scham damit zu bedecken.“148 Eine vollendete Sprachparodie des zugrunde liegenden Konservatismus gelingt Kraus in dem Satz  : „Es wäre ein trauriges Zeichen der systematischen Untergrabung des Autoritätsglaubens, wenn das Wort des Portiers in Dingen der Moral nicht mehr gehört würde.“149 Autoritätsglaube geht mit Unmündigkeit einher  : „Und man gibt uns mündigen Staatsbürgern eher das allgemeine Wahlrecht als den Haustorschlüssel. So werden wir zwar in Freiheit vorgeführt, aber dressiert von eben jenem christlichsozialen Geiste, der die Gefahr der Freimaurerloge für Österreich glücklich durch die Portierloge paralysiert hat.“150 Einen „Machtrausch“ erkennt Kraus aber nicht nur bei professionellen Juristen, sondern auch bei manchen Geschworenen. Er verwendet dieses Wort in einer unbetitelten Glosse aus dem Jahr 1902, die seltsamerweise nicht in den Sammelband Sittlichkeit und Kriminalität aufgenommen wurde.151 Den Ausgangspunkt bildet für Kraus hier die Kritik advokatischer Redekunst als einer Schmeichlerkunst im platonischen Sinne  ; im Zentrum steht dann aber das Verhalten der Geschworenen. Der Machtrausch äußert sich in diesem Fall nicht in einer Strafe, sondern in einem Freispruch, der als Strafe für das Opfer gedacht ist. Freigesprochen wurde nämlich von den Geschworenen ein geständiger Mörder, der seine Gattin mit einer Hacke erschlagen hatte. (Ob die schon früher schwer misshandelte Frau mit dem Ehebruch, der dieser Tat vorausging, wie jene Frau P. eine Scheidung herbeiführen wollte, kann nicht mehr eruiert werden.) Der Verteidiger jedenfalls stellte es als allgemeinen Brauch 148 Ibid. 149 L.c., S. 259 150 Ibid. 151 F 117, S. 18–21, Zitat S. 19

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hin, „das schamlose Weib“ zu töten, um die verletzte „Ehre“ wiederherzustellen, und appellierte nicht nur an die weise Erkenntnis, sondern auch an „das goldene Wienerherz“ der Geschworenen, welches sie besonders befähige, mit dem „Unglücklichen“, dem Täter nämlich, zu empfinden.152 „Das goldene Wienerherz“, so Kraus, „hat sich nicht vergebens mahnen lassen“ 153, aber er gibt nicht nur dem Verteidiger die Schuld. Dass das Votum der Geschworenen nicht in spontaner „Gefühlsduselei“ zustande kam, zeigt die Begründung, die ihr Obmann, Besitzer einer Konditorei, vermittels einer Zeitung kundtat  : „Durch einen (verdammenden) Urtheilsspruch hätten wir den Frauen Wiens förmlich einen Freibrief für den Ehebruch ausgestellt … Es darf doch nicht so weit kommen, daß ein Weib ungestraft sich mit dem Arbeiter ihres Mannes in ehebrecherische Beziehungen einläßt.“154 Diese Begründung bestätigt zum einen das Verdikt der Fackel über Geschwornengerichte im allgemeinen  : „Theils Classen-, theils Gefühlsjustiz.“155 Zum andern manifestiert sich in ihr eine Apologie von Gewalt gegen Frauen, die normalerweise auf das private Wirkungsfeld begrenzt ist, nun aber, da für wenige Wochen eine Machtposition ergattert wurde, geltendes Recht aus den Angeln heben kann. Entsprechend kommentiert Kraus die Worte des Obmanns der Geschworenen, Gfrorner  : „Den Frauen Wiens sollte kein Freibrief für den Ehebruch, aber den Männern Wiens ein Freibrief für den Meuchelmord ausgestellt werden  ! […] Das klärt die Situation. Der Glaube, daß sich die Geschwornen bloß als weichherzige Männer benommen haben, ist gründlich zerstört, und bewiesen ist vielmehr, daß sie sich als Richter und zwar als Nachrichter über eine Todte fühlten. Nicht Milde gegen den Angeklagten, sondern Strenge gegen sein Opfer sollte ihr Urtheil bedeuten, und während ihnen der Mann auf der Anklagebank durch jene dramatische Furcht, die nach Lessing das auf uns selbst bezogene Mitleid ist, zum Helden emporwuchs, haftete ihr Blick gebannt an dem Gespenst der Frau, das hinter seinem Rücken auftauchte.“156 Die Referenzen an Lessing und Shakespeare sind insofern sarkastisch, als bei den Geschworenen kein kathartischer Effekt eintritt, die Identifikation mit dem Angeklagten vielmehr zur positiven Sanktionierung seiner Selbstjustiz führt. Zugleich kann die grausame Kälte gegenüber der Erschlagenen umso unverhüllter artikuliert 152 L.c., S. 19 153 L.c., S. 19f. 154 L.c., S. 20 155 F 28, S. 2 156 F 117, S. 20f.

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werden, als sie schon im Voraus durch den sentimentalen Lokalpatriotismus des Verteidigers zur Großherzigkeit gegenüber dem Angeklagten umgedeutet wurde.157 Angesichts des Umstands, dass heute Tötungsdelikte innerhalb der Familie alle anderen bei Weitem überwiegen und dass Eifersucht als Motiv in den Massenmedien noch immer verharmlost wird, kann Kraus’ eindeutige Haltung in dieser Frage gar nicht hoch genug bewertet werden. Denn er ahndete in der Fackel kontinuierlich Fälle, in denen das Leben und die körperliche Unversehrtheit gering geschätzt, die Ehre und das Eigentum aber überbewertet wurden (durch die Justiz, aber auch durch die Presse oder die Psychiatrie), wobei er ebenso scharf die dahinterstehende patriarchale Ideologie „der zur Unterleibeigenen bestimmten Frau“ kritisierte.158 Neben diversen „Polizeiexzessen“159 und „Sittlichkeitsexzessen“160 handelt auch der richterliche „Autoritätsexzess“ vom Umschlag der Ordnung in Willkürherrschaft. Vom „Autoritätsexzess“ des Richters im Ehebruchprozess P. war schon die Rede. Indessen sind im kulturellen Gedächtnis der Fackel Autoritäts- und Strafexzess mehr noch mit einem Namen verbunden, den jeder Fackelleser, jede Fackelleserin kennt  : es ist der Name Johann Feigl. Feigl, unter dessen „Regie“161, wie Kraus einmal sagt, insbesondere die Prozesse Krafft und Beer stattfanden, ist eine der zentralen Figuren in Ein Unhold, Die Kinderfreunde, Die Humoristen und Die Reverenz. Unter den Charaktermasken gesellschaftlicher Herrschaft stellt diese Figur die widerwärtigste dar, denn 157 Zur juristischen Diskussion des Falls siehe Merkel, l.c., S. 302f. – Als Gfrorner kurze Zeit später selbst wegen Gesundheitsschädigung angeklagt ist und nach einer Verurteilung in der ersten Instanz schließlich freigesprochen wird, bietet sich Kraus die Möglichkeit, auf die Unverhältnismäßigkeit des Schutzes so unterschiedlicher Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Ehre hinzuweisen, denn der freisprechende Richter hatte Kraus einst zu einer hohen Geldstrafe wegen Ehrenbeleidigung verurteilt (vgl. F 147, S. 19–22 und F 154, S. 25f., dort v.a. den letzten Absatz). Zum Missverhältnis zwischen der Bestrafung von Körperverletzung und der von Eigentumsdelikten vgl. F 143, S. 22f. und F 351, S. 54–56. Noch heute ist im internationalen Vergleich zu beobachten, dass der Schutz der körperlichen Unversehrtheit und damit der Ware Arbeitskraft umso besser gewährleistet ist, je höher ihr Wert steigt. – Zur Konfrontation diverser Eifersuchtsund anderer Gewalttaten sowie ihrer Behandlung durch Presse, Psychiatrie und Justiz vgl. das Versepos Tod und Tango (F 386, S. 18–24 [mit Presse-Zitaten], Gedichte, S. 17–21). 158 F 163, S. 22 159 Eine Glosse in F 188, S. 16f. (dort noch AdH/Passant, in F 189, 3. Umschlagseite, als Polizeiexzesse angeführt) hebt den Widersinn des polizeilichen Wirkens noch einmal komprimiert hervor. Vgl. auch F 121, S. 5 und F 122, S. 22. 160 exemplarisch  : F 160, S. 10 161 F 221, S. 17

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ihr haben sich die Züge des Hohns, der Gehässigkeit, des Wahnsinns und der Herrschsucht eingeprägt wie keiner anderen. Die Klimax der Anti-Feigl-Satiren ist denn auch Ein Unhold162 betitelt, und sie bietet die stärksten Worte aus der Sprache der Literatur und der Judikatur auf, um in Gestalt Feigls das Unrecht im Recht anzuklagen. Der Beginn dieser polemisch-satirischen Anklageschrift verleiht der „Tat“ des Johann Feigl, seiner Verhängung lebenslänglicher Kerkerhaft für einen Handtaschenraub, gleich eine historische Dimension  : Unter dem Titel Ein Unhold steht als Motto ein Hamlet-Zitat („Des Himmels Antlitz glüht,[…] / Dies Weltgebäu […] / Als nahte sich der jüngste Tag, gedenkt / Trübsinnig dieser Tat“, III,4), dann folgt, stilistisch kontrastierend und gleichwohl noch mit dem Oberton des weltgerichtlichen Pathos’ versehen, die sachliche Benennung der „Tat“, wie sie in einer Rechtschronik stehen könnte, und nun die historische Einordnung in die Geschichte der Rechtspflege. Da der nach geltendem Recht minderjährige Täter „in Not und Trunkenheit eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr die Handtasche zu entreißen versucht hatte“, schreitet der Autor vor seinem geistigen Auge „die Reihe der Sünder im Talar“ ab, „die in nüchternem Zustand die leibhaftige Gerechtigkeit attackiert, vergewaltigt, geschändet haben“, und gelangt zu dem Schluss, er könne nur Feigl „keinen Milderungsgrund zubilligen“.163 Nicht etwa, dass Kraus Feigl Gesetzesbruch vorwirft, im Gegenteil  : „Er ist der persönlichen Freiheit der Staatsbürger am gefährlichsten geworden, er, der einzige, der dem Wahnwitz jenes hundertjährigen Gesetzes buchstäblich gerecht ward.“164 Tatsächlich galt damals noch das Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1803, wenn es auch 1852 reformiert worden war.165 Feigls beispielloses „Wüten“ wird im weiteren Verlauf des Texts als „Spiel mit Menschenleben und Menschenwürde“ charakterisiert166, und im Namen der Wiener Bevölkerung heißt es  : „Wir haben es satt, diesen Räuschen des Blutdurstes beizuwohnen, in die eine nüchterne Verhöhnung des Angeklagten am Schlusse des Schauspiels verfällt.“ 167 Feigl erfülle „die Spielerfreude seiner Machtvollkommenheit, das widerliche Behagen an dem Mißverhältnis zwischen einem kleinen Menschen und einem großen Amt.“168 Und im Anschluss werden auch hier noch einmal die ein162 Ein Unhold, in  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 42–46, Nachträge S. 46–52 163 Alles l.c., S. 42, vgl. zum letzten Zitat S. 47 oben. 164 L.c., S. 42 165 dazu ausführlich  : Merkel, Strafrecht und Satire 166 Ein Unhold, S. 42, S. 43 167 L.c., S. 43f. 168 L.c., S. 44

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schlägigen Stellen aus Maß für Maß zitiert. Mit dieser Charakteristik verfolgt Kraus verschiedene Ziele  : das durchaus praktische Nahziel, Feigl aus seinem Amt entfernt zu sehen, das Fernziel, Vernunft und Transparenz im juridischen Bereich durchzusetzen, und schließlich die Abschreckung der Öffentlichkeit vor solchen Charakteren. Das Nahziel wurde nicht erreicht  ; die publizistische und kollegiale Kritik an Feigl konnte seine Karriere nicht beenden. Eine Rationalisierung des Strafrechts und der Strafprozessordnung konnte in den hundert Jahren, die auf die Gründung der Fackel folgten, immerhin bewirkt werden, und daran hatte ihr publizistisches Wirken, welches Verbündete in allen politischen Lagern fand, seinen Anteil (obwohl eine an Kraus geschulte Lektüre von Prozessberichten auch heute noch reichlich realsatirisches Material vorfindet). Literarisch gelungen ist es in jedem Fall, die Schäbigkeit des Behagens an der Machtausübung fassbar zu machen. Psychologisch erklärt Kraus den „Wahnwitz“169 des Urteils als Rache Feigls für einen Prozessverlauf, in dem er seine Überlegenheit einbüßte. Denn der Angeklagte Anton Krafft, ein offenbar völlig verarmter und verzweifelter junger Mann, ließ sich nicht demütigen, sondern behauptete sich selbstbewusst, klug und witzig gegen alle Einschüchterungsversuche. Feigl aber konnte ihm nicht verzeihen, dass er „den Richter nicht als sein Schicksal betrachtet, nach dessen Mienenspiel nicht ängstlich forscht, sich nicht duckt, dem Spott nicht mit Erröten, dem Schimpf mit Trotz anwortet.“170 Die einzige Äußerung Kraffts, die Kraus wörtlich zitiert, ist bezeichnend für seine Nichtanerkennung der autoritären Hierarchie  : „Das mag Ihre Ansicht sein, Herr Präsident  ! Ich teile diese Ansicht nicht“.171 Durch die Weglassung des inhaltlichen Kontexts wird die Aufmerksamkeit auf den sprachlichen und psychologischen Gestus gelenkt. Weder die Wortwahl noch die Anrede geben Grund zur Beanstandung. Dass Feigl sich durch solche Äußerungen aus der Fassung bringen ließ, kann nur erklärt werden, indem man Kraffts Ausspruch als Sprechakt begreift, und zwar als einen Sprechakt, der den Popanz der Feiglschen Übermacht zergehen lässt. Kraus kommt insgesamt zu dem Schluss  : „Am 10. März 1904 wurde in Wien lebenslänglicher schwerer Kerker wegen kecken Benehmens im Gerichtssaal diktiert.“172 Das Strafmaß steht in keinem Verhältnis zur Tat (am Vortag war

169 L.c., S. 45 170 Vgl. l.c., S. 45f. 171 L.c., S. 45 172 L.c., S. 46

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ein Messerstecher zu fünf Tagen Arrest verurteilt worden)173, aber im umgekehrten Verhältnis zur Unterwürfigkeit gegenüber der staatlichen Autorität. Feigls Taten hingegen bleiben ungesühnt, und so hofft Kraus trotz seines Appells an die Regierung, den Vizepräsidenten des Landesgerichts „unschädlich“ zu machen174, am Ende mit satirisch gebrochenem Pathos auf das Weltgericht  : „Wenn Herr Feigl einst sein tatenreiches Leben endet, das etwa zehntausend Jahre, die andere im Kerker verbrachten, umfaßt hat, so mag sich ihm in schwerer Stunde, vor der Entscheidung einer höhern Instanz, die Beichte seiner schwersten Sünde entringen  : ‚Ich habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz angewendet  !‘“.175 Wer sich für den Fall als justizgeschichtlichen interessiert, findet dazu noch einiges Material in der Fackel  ; das wichtigste ist in der Suhrkamp-Ausgabe von Sittlichkeit und Kriminalität enthalten.176 Anton Kraffts Strafe wurde vom Oberlandesgericht auf zwölf Jahre herabgesetzt, aber er starb, wie viele andere, nach vier Jahren an Tuberkulose. Feigls Karriere schadete das nicht. Immerhin ging in den fünf Jahren, die diesem Prozess folgten, nach allgemeiner Einschätzung eine überraschende Wandlung mit ihm vor, die ihn zu einem milden und vernünftigen Richter werden ließ. Welchen Anteil daran die Fackel hatte, welchen Anteil die Kritik von Juristen, die Kraus’ Argumentation unterstützten, und welchen das Gewissen, lässt sich nicht entscheiden. Als satirische Figur schied er sukzessive aus der Fackel aus, denn für die satirische Gesellschaftskritik ist es nicht entscheidend, wie eine bestimmte Person ihren Handlungsspielraum nutzt, sondern dass es überhaupt möglich ist, ihn auf so ungeheuerliche Art zu nutzen  ; nicht, durch wen die pathologischen Tendenzen der Gesellschaft sich geltend machen, sondern dass sie es überhaupt tun. Der Jurist Edmund Benedikt warnte anlässlich des Falls Krafft in einer Fachzeitschrift davor, „aus der Strafjustiz eine willkürliche und sinnlose Straferei “ zu machen.177 Ebenso tritt Karl Kraus für eine möglichst konsequente Gewährleistung von Proportion und Rechtssicherheit im Strafrecht ein. Gleichwohl artikuliert er auch prinzipielle Kritik am Rechtssystem, ohne sich in dieser Frage je auf einen festen „Standpunkt“ zu stellen, was er ohnehin ablehnte. 173 Ibid. 174 L.c., S. 43 175 L.c., S. 46 176 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 46–52 und S. 359–363 177 Zitiert in  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 49

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Durch Presse, Film und Fernsehen überliefert sind Fälle, in denen Delinquenten eigens zu dem Zweck die Gesetze übertreten, um inhaftiert zu werden. Während sie in der Kulturindustrie als standardisierter Gag wiederkehren, nimmt die Fackel an ihnen nicht nur die Verzweiflung von Menschen wahr, die sich freiwillig in Unfreiheit begeben, sondern auch den Widersinn der Gesellschaft. Ein solcher Fall findet sich in Sittlichkeit und Kriminalität unter den Notizen.178 Ein arbeitsloser Vagant bedauert, dass er nicht bis zur wärmeren Jahreszeit, in der es wieder Arbeit gibt, im Arrest bleiben kann. Er ist gerade deswegen nach Wien gekommen, weil er gewusst hat, dass er hier „abgeschafft“ (das heißt  : ausgewiesen und mit Rückkehrverbot belegt) war  ; nun enttäuscht ihn die kurze Haftstrafe. Kraus’ Kommentar beginnt so  : „Können wir’s in dieser besten aller Welten weiter bringen  ? Der strafende Staat, der Momo der Erwachsenen, hat seine Schrecken eingebüßt – auf freiem Fuß sein bedeutet Schmach und Jammer.“179 Mit seiner rhetorischen Frage stellt er sich in die Tradition der kritischen Aufklärung  : Schon Voltaire widerlegte Leibniz’ idealistisches Theorem von der besten aller Welten in Candide ou l’optimisme nicht durch metaphysische Argumentation, sondern durch die Konfrontation mit physischem und psychischen Leid, das die Menschen zu erdulden haben. Das Wort vom strafenden Staat als „Momo der Erwachsenen“ verweist darauf, dass das Strafrecht prinzipiell mit Unmündigkeit einhergeht, da Menschen, die nicht aus Einsicht, sondern aus Angst vor Strafe Verbrechen unterlassen, weder aufgeklärt noch mündig sind. Wenn aber die selbst schon problematische Abschreckung nicht mehr funktioniert, weil die Schrecken der Freiheit infolge eines widersinnigen Wirtschaftssystems, das Arbeitswillige ausschließt und ins Elend wirft, größer sind als die der Unfreiheit, dann ist der Höhepunkt der Vernunftwidrigkeit erreicht, und das Gesetz dient nur mehr der Möglichkeit seiner Übertretung  : „Ein Staat, der mehr Arreste als Arbeitsstätten hat und der den armen Teufel vor dem Verhungern bewahrt, weil er Gesetze hat, die der arme Teufel übertreten kann, ist ein Musterstaat. Wenn der Reverent es zu einer lebenslänglichen Verköstigung im Prytaneum bringen könnte, wäre die Straferei endgültig ad absurdum geführt. Unsinn wird Vernunft, Plage Wohltat.“180 Bemerkenswert ist die Umkehrung des Faust-Zitats „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ am Schluss des Textes, denn aus ihr geht hervor, dass nicht etwa vernünftige Strafpraktiken in diesem Grenzfall 178 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 317f. 179 L.c., S. 318 180 L.c., S. 318

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ihren Sinn verlieren, sondern der Unsinn, die Armut zu bestrafen, zur sinnvollen Verköstigung und die Plage des Arrests zum wohltätigen Schutz vor Kälte und Hunger wird. Zu diskutieren, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der Elend und „Straferei“ verschwinden, fällt unter das Bilderverbot der Fackel und wird der Arbeiterzeitung überlassen. Dass die „Straferei“ aber dort besonders widersinnig ist, wo sie die Ärmsten in der Gesellschaft trifft, hatte Kraus zuvor schon in grundsätzlicherer Form deutlich gemacht. Anlässlich der Verurteilung einer verwitweten Mutter von fünf Kindern wegen Bettelei durch einen Richter namens Schachner heißt es da  : „Die meisten [Richter] schöpfen ihr Urteil aus dem ‚unwiderstehlichen Zwang‘ zum Betteln und nicht bloß aus dem unwiderstehlichen Zwang zum Strafen […]. Herr Schachner ist ein Ausnahmsfall. Aber warum lehnen es die anderen Richter nicht endlich kategorisch ab, das Elend strafrechtlich zu sanieren  ?“181 Die Strafsucht betätigt sich demnach nicht nur im Bereich der Sittlichkeitsprozesse, sie findet ihre Opfer auch im Proletariat und im Subproletariat. Wer disponiert ist, sich zu gerieren wie jene oben genannten Amtsdiener, kann sich durch Gesetzgebung und Kommunalpolitik abgesichert fühlen, wobei der Entscheidungsspielraum offensichtlich recht groß war. Mehrere andere Allegorien kommunalpolitischen Widersinns, darunter die berühmte Kehrrichtwalze, unterstützen die Kritik an der derzeit christlich-sozialen Politik, die Armut durch Arretierung der Bettler zu bekämpfen.182 Die Fackel dokumentiert freilich auch, dass übertriebene Härte und Missachtung des Lebens, insbesondere der Arbeiter und Arbeiterinnen, im Rechtswesen selbst angelegt sind. Zwei Fremdbeiträge beklagen den Mangel an Strafrichtern, der dazu führt, dass selbst bei kleinen Delikten unverhältnismäßig lange Untersuchungshaft verhängt wird, um die Beschuldigten greifbar zu haben, wenn der Prozess endlich stattfinden kann. Dies gilt vor allem für Arbeiter und Arbeiterinnen, weil sie einerseits die Kaution nicht leisten können und andererseits öfter umziehen. Uneinig sind die Verfasser nur in der Frage, ob im Gegensatz dazu am Handelsgericht zu viele Richter beschäftigt sind oder eine hohe Quote in jedem Fall zu begrüßen sei.183 Karl Kraus resümiert, diese Verhältnisse seien bezeichnend für die Kultur eines Staates, „in welchem so reichlich – vielleicht überreichlich – für die Rechtssicherheit des Wirtschaftslebens gesorgt ist, während Leben, Freiheit, Ehre, Gesundheit 181 F 178, S. 5f., aus  : Die Wiener Straße, F 178, S. 4–7 182 L.c., S. 7 183 F 134, S. 1–4  ; F 137, S. 6–8

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und Glück von Tausenden, die unserem verrotteten Strafverfahren zum Opfer fallen, nichts gelten.“184 Der radikale Gestus spitzt sich noch zu in dem bekannteren Diktum, die österreichische Justiz sei „das zur Institution erhobene Vergehen gegen Gesundheit, Freiheit, Ehre oder Eigentum der österreichischen Staatsbürger.“185 Und an einer versteckten Stelle der Fackel, die für die Publikation der Glosse in Sittlichkeit und Kriminalität getilgt wurde, erscheint die Justiz überhaupt als eine schädliche und überflüssige Einrichtung.186 Begeistert zeigt sich Kraus von der Realsatire Wilhelm Voigts, des „Hauptmanns von Köpenick“. In Karl der Große und Wilhelm Voigt187 ergießen sich zunächst Zorn und Spott über die Patrioten, die Karl dem Großen in Wien ein Denkmal errichten ließen, einem Herrscher, von dem nichts anderes bekannt sei, als dass er einmal 4500 Heiden an einem Tag aufhängen ließ. Als sympathische Gegenfigur fungiert dann Wilhelm Voigt, den Kraus anstelle des Herrschers geehrt sehen möchte. Wie bei Gerichtsverhandlungen das Verhalten wehrhafter Angeklagter, so würdigt er im Fall Wilhelm Voigts die Subversion der Autoritätsverhältnisse durch eines ihrer Opfer. Er gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass Voigt begnadigt wird, und verweist in diesem Kontext auf das „von Polizeihunden zerfleischte Leben dieses Mannes“, auf seinen „von der Ordnungsbestie zernagten“ Lebensfaden. Die von ihm zitierte Begründung der Zubilligung mildernder Umstände leitet Kraus mit dem Satz ein  : „Und wie der große Epilog auf dem Leichenfelde der staatlichen Ordnung klingt die Urteilsbegründung, die man in Moabit gehört hat“. Bemerkenswert ist aber auch die Erwägung des Berliner Gerichts, „daß Voigt tatsächlich ein Opfer der Verhältnisse und der bestehenden staatlichen Ordnung geworden“ sei.188 Kraus vergleicht diesen Fall mit den Prozessen Riehl, Krafft und Rutthofer, wobei er zu den folgenden Erkenntnissen gelangt  : „[I]m Köpenicker Fall ist gerichtsordnungsmäßig festgestellt worden, daß die staatliche Gerechtigkeit Vorschub leistete, als ein Schuster rauben ging. So sitzt der Wahn preußischer Justiz doch einmal über sich selbst zu Gericht. […] Hier wird der Angeklagte schwerer verurteilt, weil seine Tat sich vor allem als ein Verbrechen gegen die Gesellschaftsordnung qualifiziert. Dort wird er milder gerichtet, weil vor allem

184 F 137, S. 8 185 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 324 186 F 208, S. 17f. AdH/Wiener, vgl. v.a. den Schluss dieser Glosse 187 Karl der Große und Wilhelm Voigt, in  : F 213, S. 1–5. Von Zuckmayers späterer Dramatisierung dieses Stoffs hielt Kraus dagegen nichts (vgl. F 852, S. 18). 188 Alle Zitate  : l.c., S. 3  ; das letzte ist in der Fackel teilweise gesperrt.

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die Gesellschaftsordnung eines Verbrechens gegen den Angeklagten überführt wird.“189 Und weiter  : „In Berlin hat ein Gerichtshof den Mut, einen Verbrecher gegen die in Justiz und Polizei organisierte Niedertracht bürgerlicher Vorurteile zu schützen. In Wien hat ein Gerichtshof den Mut, die ‚Undankbarkeit‘ und das ‚nicht untadelhafte Vorleben‘ einer Frau als erschwerende Umstände bei einem Todschlag anzunehmen und mangels einer ‚Bescholtenheit‘ die ‚Vergangenheit‘ zu berücksichtigen […]“190, kurz  : sein Urteil auf jene bürgerlichen Vorurteile zu stützen. Diese, im deutschen Sprachraum seltene Form politischer Prosa hat ihr Fundament in der Sensibilität und der Aufrichtigkeit ihres Autors, in seiner Idiosynkrasie gegen Dummheit, Gewalt und Ausbeutung  ; die Intransigenz ihres aufklärerischen Impetus deckt sich mit der Intransigenz der Sprache. Allerdings vermag sie die gesellschaftlichen Missstände nicht zu erklären und keine Gegenstrategie zu entwickeln. Es verwundert deshalb nicht, dass ihr radikaler Gestus einen großen Teil der oppositionellen Jugend als Leser gewinnen konnte, von denen sich viele jedoch enttäuscht wieder abwendeten, weil die immanente Kulturkritik der Fackel die erhoffte politische Orientierung nicht bieten konnte und wollte. Texte wie dieser zeigen aber  : Wer die Grenzen der Fackel akzeptiert und unabhängig genug ist, sein politisches und theoretisches Denken anderswo zu schulen, kann von der Lektüre am meisten profitieren, denn sie wirkt dem Ticketdenken, der unreflektierten Applikation politischer Phrasen auf alle möglichen Gegenstände, entgegen und fördert die Fähigkeit zur offenen geistigen Erfahrung wie keine andere. Nach dem Erscheinen von Oscar Wildes Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen in der Übersetzung von Gustav Landauer und Hedwig Lachmann veröffentlichte Kraus in den Jahren 1904 und 1905 mehrmals Auszüge aus diesem (eher anarchistischen als sozialistischen, in jedem Fall aber noch heute lesenswerten) Text, der den Begriff der Autorität in verschiedenen Sphären der Gesellschaft (Regierung, Justiz, Kunst, Lebensgestaltung) durchleuchtet und einem vernichtenden Urteil unterzieht. Einen Passus zur Justizkritik und seinen eigenen Kommentar dazu hat Kraus in Sittlichkeit und Kriminalität unter dem Titel Verbrecher gesucht aufgenommen.191 Wilde prognostiziert (für den ersehnten Sozialismus): „Mit der autoritären Gewalt wird die Justiz verschwinden. Das wird ein großer Gewinn sein – ein Ge-

189 L.c., S. 4 190 L.c., S. 4f. 191 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 147–150

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winn von wahrhaft unberechenbarem Wert.“192 In seiner Begründung thematisiert er vor allem die Verrohung durch Strafen (die Kraus vor allem an der Todesstrafe, die er offensichtlich ablehnte, wahrnahm)  : „[E]ine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht, als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen.“193 Dieses Argument wurde in den prinzipiellen Debatten um das Strafrecht im zwanzigsten Jahrhundert immer wieder aufgegriffen. Doch Wilde spitzt die These folgendermaßen zu  : „Daraus ergibt sich, daß, je mehr Strafen verhängt werden, umso mehr Verbrechen hervorgerufen werden […]. […] Je weniger Strafe, umso weniger Verbrechen. Wenn es überhaupt keine Strafe mehr gibt, hört das Verbrechen entweder auf, oder, falls es noch vorkommt, wird es als eine sehr bedauerliche Form des Wahnsinns, die durch Pflege und Güte zu heilen ist, von Ärzten behandelt werden.“194 (Die monokausale Herleitung von Verbrechen aus der Strafjustiz wird von Wilde im Originaltext gleich wieder zurückgenommen  : „Starvation, and not sin, is the parent of modern crime. […] When private property is abolished there will be no necessity for crime, no demand for it  ; it will cease to exist.“195 Er weist im Anschluss darauf hin, dass auch jene Verbrechen, die keine Eigentumsdelikte sind und nicht unmittelbar dem Elend entspringen, doch von der aufs Eigentum fixierten Gesellschaft vermittels der Wut- und Neidgefühle, die sie entstehen lässt, hervorgerufen werden.) Kraus hat offensichtlich viel Sympathie für diese Gedanken.196 Er erkennt aber auch, dass eine „spontane Freigabe des Diebstahls und Raubes in einer vom Eigentum besessenen Gesellschaft fast so unheilvoll [wäre], wie der Schutz, den ihr die Holzinger, Feigl und deren sächsische Blutsverwandten angedeihen lassen“.197 Die Zukunftsgesellschaft kann nicht ad hoc durch die Abschaffung der Justiz herbeigeführt werden, aber ein Schritt auf dem Weg zu ihr wäre es, im Zuge der Justizreform den Glauben an den „Selbstzweck der staatlichen Gewalten“ zu erschüttern.198 Hierin stimmt Kraus wieder mit Wilde überein  : Der Staat soll nichts anderes sein 192 L.c., S. 147 193 Ibid. 194 Ibid. 195 Oscar Wilde  : The soul of man under socialism, in  : The complete works of Oscar Wilde, New York  : Perennial Library, 1989, S. 1088 196 Vgl. die Version der Fackel, wo sie der „Reihe wundervoller Sätze“ zugeordnet werden  : F 177, S. 4. 197 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 147 198 L.c., S. 148

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als eine vernünftige und notwendige Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten (wodurch er, wenn man von der unscharfen anarchistischen Terminologie abrückt, aufhören würde, Staat zu sein), während in der Gegenwart das Verhältnis von Mittel und Zweck verkehrt ist. Kraus konzentrierte sich mithin weitgehend auf die immanente Justizkritik. Und doch veröffentlichte er zwei Jahre später den Montage-Text Nulla dies, der ihm eine Anklage wegen Aufwiegelung einbrachte, welche allerdings aus unbekannten Gründen wieder fallen gelassen wurde.199 Darin heißt es  : „Kein Tag vergeht, ohne daß ein Gerichtsfall die Erkenntnis von der wahren Bestimmung aller Gesetzlichkeit und Behördlichkeit predigte  : ein Hohn ihrer Bestimmung, ein Lohn ihrer Verhöhnung zu sein. […] Diese dreiste Richterspielerei erwachsener Schulknaben […] taugt nichts. Diese ganze Institution ‚Justiz‘ kann in einer Welt, in der der Mensch ein Fremdling ist und der nur die Tat gilt, nie etwas anderes bedeuten als die kostbare Gelegenheit für die Rotte schlechtbezahlter Sünder, sich an den Gerechten zu rächen […].“200 Dass Oscar Wildes Worte ihm unvergessen sind, zeigt sich wörtlich hierin  : „Wie lange werden ihre Richter ungestraft strafen dürfen  ? […] Die Summe moralischen und materiellen Schadens, der einem Volk durch seine Verbrecher zugefügt wird, ist nichts neben der Summe moralischen und materiellen Schadens, den seine Richter bewirken.“201 An der negativen Dialektik von Immanenz und Transzendenz in der Fackel konnte die kritische Theorie ihr eigenes Verhältnis zu diesem Problem schulen, auch wenn sie, auf der Basis der Kritik der politischen Ökonomie, eine klarere Vorstellung von der Gesellschaft hatte, die es zu überwinden galt. Indessen wurde vor allem während der „Hexenjagd“ der Fünfzigerjahre Gesellschaftskritik weitgehend verschlüsselt artikuliert. Dafür sei hier ein Vorbild aus der Fackel an den Schluss gestellt, das der Zensur Rechnung trägt und doch an der Inkompatibilität des Habsburger-Staats mit der Vernunft keinen Zweifel lässt. Kraus zitiert als Beispiel für richterlichen Zeitvertreib  : „Zwei 15jährige Schusterbuben Josef B. und Franz M. waren vor dem Bezirksgericht Leopoldstadt wegen Hasardspiels angeklagt, weil sie mit einem dritten Kollegen auf einer Wiese im Prater ‚Kopf oder Adler‘ gespielt hatten. Der eine hatte vier, der andere sechs Heller bei sich. […]“. Sein Kommentar lautet  : „Wie lange soll noch Kopf oder Doppeladler gespielt werden  ? Es sollte ein verbotenes 199 Zur fallen gelassenen Anklage  : F 521, S. 131 200 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 287 201 L.c., S. 287f.

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Spiel sein, weil der Einsatz groß und die Chance gering ist. Und der Kopf gewinnt nie.“202

Antisemitismus und Rassismus Im Gegensatz zu Karl Kraus’ polizei- und justizkritischen Schriften sind diejenigen über Antisemitismus und Rassismus in praktischer Hinsicht auf Bewusstseinsveränderung begrenzt, unmittelbar politische oder juristische Forderungen beinhalten sie nicht. Obwohl die Fackel selbst nicht frei von antisemitischen Klischees ist, finden sich bereits hier sehr präzise Charakteristiken, deren Elemente bis hin zur Dritten Walpurgisnacht (1933) immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt werden konnten. Während dieser Gegenstand häufig zur Sprache kommt, seine Kritik aber eben auch durch die eigene Stereotypie von Karl Kraus beeinträchtigt wird, verhält es sich mit dem gegen Schwarze gerichteten Rassismus umgekehrt  : Nur wenige Texte thematisieren ihn (wohl vor allem deshalb, weil es damals in Österreich nur sehr wenige Schwarze gab), aber die Parteinahme für die Opfer ist eindeutig, die satirische Schärfe infolge der Unzugehörigkeit des Satirikers zu dieser Gruppe ungetrübt. Zentrale Aspekte der satirischen Rassismusdarstellung sind im Übrigen auch für die Kritik des Antisemitismus, insbesondere natürlich des rassistischen Antisemitismus, relevant. 1. Antisemitismus Die wichtigsten Erkenntnisse über den Antisemitismus entwickelte Kraus innerhalb dieser Phase in den ersten fünf Jahren der Fackel. Dass er sich in dieser Zeit eher beiläufig in kleinen Glossen mit der Thematik befasste, sollte nicht über die Relevanz dieser Erkenntnisse hinwegtäuschen, sind hier doch zentrale Motive der Dritten Walpurgisnacht wie die Einsicht in die Projektivität der antisemitischen Psychologie und in den antizivilisatorischen Charakter der Bewegung bereits vorgeformt. Indessen sind gerade in dieser Phase zentrale Einsichten in die Funktionsweise der antisemitischen Psychologie und Ideologie mit eklatanten Fehleinschätzungen hinsichtlich der jüdischen Reaktionen auf die antisemitische Bewegung vermischt. Ermöglicht wurde diese seltsame Mischung aus Erkenntnissen und Irrtümern auf der subjektiven Seite durch 202 F 291, S. 19

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eine Abkehr von der jüdischen Gemeinde, die Kraus nie davon abhielt, sich dem Judentum weiterhin verbunden zu fühlen, und auf der objektiven Seite durch jene Entwicklungsphase des modernen Antisemitismus, in der er sich zwar zu einer extrem aggressiven antimodernen Bewegung formierte, die historische Tendenz zur Gleichstellung der Juden in der christlichen Gesellschaft jedoch nicht aufhalten konnte.203 Bereits in der ersten relevanten Fackel-Glosse zum Thema Antisemitismus wird dieser als exterritorial zum Gebiet des Geistes und argumentativer Auseinandersetzung bestimmt. Der im fünften Fackel-Heft erschienene Text stellt eine Reaktion auf Leserbriefe dar, in denen Kraus nach eigenem Bekunden aufgefordert wurde, sich „doch einmal über die Wiener Antisemiten herzumachen und endlich ob dem wüsten Treiben im niederösterreichischen Landtag empört zu sein.“204 Obwohl er damals für derartige Vorschläge durchaus noch offen war, weist er das Ansinnen zurück, indem er den Antisemitismus mit allerlei Naturmetaphern belegt, während als Objekt satirischer Kritik nur bewusstes menschliches Handeln infrage kommt. Ironisch bezeichnet er die aktuellen Vorstöße antisemitischer Politiker in Wien und im niederösterreichischen Landtag als „das anziehende Schauspiel einer Überschwemmung“ und den antisemitischen Abgeordneten Gregorig als ein „Elementarereignis“205, weiters ist von Schlamm, von „christlichsocialen Kothwellen“ die Rede, von einem „Strom“, einer „entfesselten Urgewalt“206. Es handelt sich also um ein sowohl widerwärtiges als auch bedrohliches Naturphänomen, und Kraus bekennt „einigen physischen Degout“ an der „Schmutz- und Tobsucht“ eines weiteren antisemitischen Abgeordneten, Ernst Schneider.207 Indessen hebt er die Unzuständigkeit der Satire auf diesem Gebiet hervor und befindet einzig

203 Einen komprimierten Überblick der antisemitischen Strömungen in Österreich am Ende des 19. Jahrhunderts bieten z. B.: Allan Janik/Stephen Toulmin  : Wittgensteins Wien, München/Wien 21985, S. 61, S. 65–71  ; Jacob Katz  : Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700–1933. München 1989, zentral  : S.  290–297. Ausführlicher und detaillierter sind die folgenden Monografien  : Steven Beller  : Wien und die Juden 1867–1938, Wien 1993  ; John Bunzl/Bernd Marin  : Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien. Innsbruck 1983  ; Bruce F. Pauley  : Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung. Wien 1993  ; Peter Pulzer  : Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004. 204 F 5, S. 15 205 Ibid. 206 L.c., S. 16 207 Ibid.

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die liberalen Gegenspieler als Objekte seiner Kritik für tauglich  : „Ich kann den Strom nicht satirisch nehmen, sondern nur die sorglosen Wächter, die, wo Entschlossenheit noththut, durch entsetztes Gesticulieren alles zu retten glauben.“208 Doch seine Vorwürfe gehen noch über den der Hilflosigkeit der Liberalen hinaus  : „In einer dreißigjährigen Herrschaft haben diese Leute alle Schleußen der Dummheit geöffnet, – wehklagend stehen sie jetzt der entfesselten Urgewalt gegenüber.“209 Der Verfall des politischen Liberalismus ist denn auch das große Thema in den Anfangsjahren der Fackel, das Kraus sowohl in immanenter Kritik als auch aus der Perspektive der Arbeiterbewegung behandelt. Immerhin kann der Liberalismus an seinen eigenen Maßstäben gemessen und kritisiert werden, wohingegen die antisemitische Bewegung als eine konstitutiv irrationale solcher Kritik nicht zugänglich ist. Dass er sie seiner Betrachtung nicht für würdig hält, ist freilich auch in der folgenden Einschätzung begründet  : „Ein langjähriger liberaler Schnürlregen hat alles verschuldet, und der meteorologisch geschulte Beobachter vermag vorauszusagen, dass sich die Wässer wieder verlaufen werden.“210 Es liegt somit an den Liberalen, den von ihnen entfesselten Gewalten durch eine entschlossene Durchsetzung von Vernunft und Recht Einhalt zu gebieten. In den von Kraus gewählten Metaphern drückt sich aus, dass es eine dumpfe und zerstörerische Seite der Natur ist, die hier wider Vernunft und Zivilisation mobilisiert wird. Adorno und Horkheimer haben diesen Gedanken später aufgegriffen und zum Theorem vom Antisemitismus als einer Rebellion der Natur weiterentwickelt (vgl. Kapitel 4). Die Vorstellung, die antizivilisatorische Urgewalt werde von der Zivilisation selbst hervorgerufen, bildete später die zentrale These in der Dialektik der Aufklärung. In ihrer geschichtsphilosophischen Perspektive konnte der gesellschaftskritische Kern von Kraus’ polemischen Attacken auf liberale Politiker und Journalisten freigelegt werden. Denn so ungerecht eine persönliche Schuldzuweisung an diese auch erscheint  ; das von ihnen verteidigte Wirtschaftssystem bildet in der Tat eine wichtige, wenn auch nicht die alleinige Quelle, aus der jene Schlammflut sich speist. Obwohl Kraus die Erfolge des Antisemitismus gar einem „Naturgesetz“ zuschreibt, nimmt er sie durch den Hinweis auf Handlungsdefizite liberaler Politik zugleich aus dem Bereich des Schicksalhaften und Unvermeidlichen wieder heraus. Insofern zeugen seine Gedanken bei aller Schärfe der Kritik an 208 Ibid. 209 Ibid. 210 L.c., S. 15

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sämtlichen politischen Lagern doch auch von einigem Vertrauen in Vernunft und Zivilisation. Nur so ist auch seine heftige Ablehnung der Zionisten zu verstehen, von denen es im ersten Heft der Fackel heißt, sie wollten „harmlosen Passanten, die glücklich den antisemitischen Kothwürfen entgangen sind, Sehnsucht nach dem gelobten Lande aufdrängen“.211 Dabei ging es ihm nicht um die Besiedelung Palästinas als solche  ; vielmehr richtet sich seine Kritik gegen Resignation im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben in der Diaspora.212 Während Theodor Herzls Idee einer jüdischen Nation auf seiner Einschätzung der Unausrottbarkeit des Antisemitismus basierte, setzte Kraus wie die meisten westeuropäischen Juden seine Hoffnungen in eine Assimilation, die die Feindseligkeit der christlichen Majorität schwinden lassen sollte. Immerhin hatte es der radikale Antisemit Georg Ritter von Schönerer nicht vermocht, breitere Bevölkerungsschichten für sein assimilationsfeindliches alldeutsches Programm zu mobilisieren  ; stattdessen strömten die antisemitischen Kleinbürger – insbesondere Handwerker und akademische Staatsbedienstete213 – Karl Luegers 1891 gegründeter christlichsozialer Partei zu. Dass Lueger bereits 1895 in Wien zum Bürgermeister gewählt wurde, sich jedoch mit der Position des Vizebürgermeisters begnügen musste, bis er 1897 (also zwei Jahre vor der Gründung der Fackel) vom Kaiser im Amt bestätigt wurde, illustriert überdies die Missbilligung auch dieser gemäßigteren Bewegung 211 F 1, S. 4 212 So antwortet Kraus zu einem Zeitpunkt, da seine Broschüre Eine Krone für Zion (1898) noch in der Fackel beworben wurde, einer kritischen Leserin  : „Ad vocem Zionismus  : Gegen die colonisatorischen Bestrebungen hat sich mein Angriff nicht gewendet.“ (F 12, S. 28). – Eine hilfreiche Übersicht zum Verhältnis von Karl Kraus zu Theodor Herzl vor der Gründung der Fackel bietet Friedrich Rothe (F.R.: Karl Kraus, München 2003, S. 128–132). Das Kapitel Ein jüdischer „Antisemit“  ?, das diesen Überblick enthält, ist indessen von einem doppelten Defizit geprägt  : einerseits wird Kraus nicht ausreichend vom zeitgenössischen Antisemitismus abgegrenzt (dazu passt die übertriebene Darstellung Houston Chamberlains als eines ‚Mitarbeiters‘ der Fackel und das Fehlen eines Verweises auf die für Kraus ungewöhnliche Distanzierung von seiner frühen Satire Eine Krone für Zion, F 657, S. 167), andererseits hält Rothe den wirklich eklatanten Entgleisungen der Fackel (im Fall Hilsner und in der von Rothe zitierten Beleidigung Moriz Benedikts, S. 143–145 u. S. 153) nicht das Nötige entgegen, sondern äußert sich sogar zustimmend. – Als Korrektiv sei deshalb exemplarisch genannt  : Leo Lensing  : „Ich und das Judentum“, in  : „Was wir umbringen“. ‚Die Fackel‘ von Karl Kraus [Ausstellungskatalog], Wien 1999, S. 62–67, vgl. zum historischen Hintergrund  : Victoria Lunzer-Talos  : Assimilation und Antisemitismus, in  : l.c., S. 68–73. 213 Vgl. Albert Lichtblau  : Antisemitismus und soziale Spannung in Berlin und Wien 1867–1914, Berlin 1994

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durch die Habsburger. Die liberale Fraktion war zwar schon geschwächt, aber noch nicht von der politischen Bildfläche verschwunden. Es gab somit gute Gründe, Hoffnungen auf eine Emanzipation innerhalb der österreichischen Gesellschaft zu setzen, obwohl aus heutiger Sicht die Errichtung eines jüdischen Staates zum damaligen Zeitpunkt natürlich wünschenswert gewesen wäre. Zu einer gefährlichen Fehleinschätzung führt die Kraussche Haltung erst an dem Punkt, da sie den Juden die Schuld am Antisemitismus gibt und sich somit einen Topos antisemitischer Propaganda selbst zu eigen macht.214 Im Übrigen ist seine Darstellung der nichtjüdischen Majorität (stets auf das Bürgertum bezogen, da Arbeiter in der Fackel nur in Ausnahmefällen zur Darstellung gelangen) keineswegs geeignet, eine Assimilation an sich als etwas Begrüßenswertes erscheinen zu lassen, sodass vermutet werden kann, Kraus habe unausgesprochen eher eine Angleichung aller Bevölkerungsgruppen an das aufklärerische Ideal des mündigen Menschen erhofft als eine Assimilation der jüdischen an die „bodenständige“ Bevölkerung.215 Trotz der befremdlichen Übernahme antisemitischer Topoi erkennt er nicht nur den irrationalen, sondern auch den pathologischen Charakter des Antisemitismus. Hatte er jenem Abgeordneten Schneider Mitte Mai 1899 „Tobsucht“ bescheinigt, so bezeichnet er ihn ein halbes Jahr später, da Schneider „Ritualmord“-Broschüren an die Abgeordneten verteilte, als einen Mann, „der den äußersten pathologischen Flügel der christlichsocialen Gruppe bildet“.216 Als „psychopathische Erscheinung“217, als Waffe des Irrsinns218, sieht Kraus auch die Ausrufezeichen nach jüdischen Namen an, die in antisemitischen Zeitungen selbst ohne erkennbares Motiv offenbar ein empörtes „Aha  !“ bei den Lesern provozieren sollen. In dieselbe Kategorie gehört das gesperrt gedruckte Attribut „jüdisch“ vor Personenangaben.219 Was sich darin 214 Besonders krasse Beispiele hierfür  : F 23, S. 5–7  ; F 33, S. 10ff. 215 Vgl. zum historischen Kontext diesen Haltung Steven Beller  : Wien und die Juden, Kapitel 9 und 10. 216 F 24, S. 7. In diesem Text ist die Einsicht in den pathologischen Charakter des Antisemitismus wiederum mit der Fehleinschätzung verbunden, man solle sein Treiben am besten ignorieren. – Zum Eindruck der „Tobsucht“, also einer Aggressionsbereitschaft, die nur auf Anlässe wartet, um auszubrechen, vgl. z. B. F 154, S. 28  : AdH/Tierarzt, wo ein antisemitisches Zitat aus dem Deutschen Volksblatt von Kraus im trockenen Stil medizinischer Nachrichten kommentiert wird  : „Ein weiterer Fall von Hundswut ist bisher nicht zu verzeichnen.“ 217 F 110, S. 20 218 F 137, S. 17 219 F 114, S. 24 AdH/Irrenwärter

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kundtut, ist eine Mischung von gedanklicher Abstinenz und dem Gestus des Bescheidwissens. Die Ausrufezeichen, die beispielsweise im Deutschen Volksblatt dem Namen „einer gewissen Frau Beer“ folgen, übersetzt Kraus – hier in einer Glosse unter dem Stichwort „Hallstätter Kretin“ – deshalb treffend mit „Kommentar überflüssig“.220 Die „Erkenntnis“, dass es sich um eine jüdische Person handelt, ersetzt jeden weiteren Gedanken. Noch deutlicher wird das in einer Passage aus Der Hexenprozess von Leoben  : „Aber war die Angeklagte nicht auch sympathischer als die Zeugen, die, jeder ein Bündelchen Reisig unterm Arm, herbeigeeilt waren, den moralischen Scheiterhaufen zu erhöhen  ? Da ist der Stationsvorstand von Mürzzuschlag, dem’s bekanntlich ‚wie Schuppen von den Augen fiel  : das muß eine Jüdin sein  !‘  ; und der sicherlich die Verspätung der Südbahnzüge den Künsten dieser Sirene zuschrieb. Uns ist es längst wie Schuppen von den Augen gefallen, daß die Südbahn eine jämmerliche Einrichtung ist, und wir würden wünschen, daß der Betriebsbeamte von Mürzzuschlag sich mehr um die Pünktlichkeit der Lokaltrains als um die Frage bekümmere, ob in seiner Station die Züge des Herzens normal verkehren.“221 Eine Parallele zu dieser Praxis findet sich in dem instruktiven Text Der Neger. Die Klimax aggressiv-unaufgeklärter Reaktionen auf den Anblick eines schwarzen Chauffeurs bildet hier der Ausruf eines „Denkers“, der sich die Stirn hielt  : „Ah – jetzt waß i ollas  !“222 Was sie zu erkennen glauben, könnten die jeweiligen Urheber wohl kaum angeben. Wahrscheinlich liegt all dem ein diffuses Gefühl davon zugrunde, dass die Weltordnung, insbesondere die von ihnen befürwortete Hierarchie und Segregation, bedroht, wenn nicht schon aus den Fugen sei (und deshalb energisch verteidigt werden müsse). Gerade in der Abkopplung des gegen Minoritäten, die von der Moderne profitieren, gerichteten Ressentiments von jeglicher Argumentation zeigt sich ihr bedrohliches Potenzial. Die eigene Idiosynkrasie wird stolz zur Schau gestellt, ohne dass ihr auch nur der Schein einer Begründung (welche ja anfechtbar wäre) nachfolgen würde. Präzisieren konnte Kraus seine Einsicht in die Funktionsweise antisemitischer Psychologie und Propaganda, indem er die pathische Projektion beschrieb, die als ihr charakteristischstes Merkmal angesehen werden kann. 220 F 207, S. 26 AdH/Hallstätter Kretin. Die Antworten des Herausgebers hatte Kraus nach und nach in eine Rubrik mit kleinen Glossen verwandelt, an die Stelle persönlicher Adressaten waren – was auch früher schon gelegentlich vorkam – allgemeine Bezeichnungen getreten. 221 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 113 222 Untergang der Welt durch schwarze Magie (= Schr. 4), S. 306

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Die Ausscheidung antisemitischer Texte aus dem Zuständigkeitsbereich der satirischen Kritik resultierte ja zunächst daraus, dass ihnen kaum ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit nachgewiesen werden kann, weil sie von vorneherein der intellektuellen Dignität ermangeln. Wo immer aber der Antisemitismus als „Antikapitalismus des dummen Kerls“, als personalisierende Zuschreibung von „Profitgier“ und „Plutokratie“ an die jüdische Minorität, auftrat und somit eine Ablenkungsfunktion erfüllte, konnte das ideologiekritische Verfahren wieder greifen. Gerade in den Anfangsjahren sollte die Fackel dem Kampf gegen die Korruption voranleuchten, wobei zu beachten ist, dass Kraus diesen Begriff in einem sehr viel weiteren Sinne als heute üblich, nämlich als Oberbegriff für alle möglichen Formen des Missbrauchs ökonomischer Macht verwendete. Dass nun die antisemitische Kritik der Korruption den Zweck erfüllt, den eigenen Übervorteilungswünschen Vorschub zu leisten, hat Kraus im Lauf der Jahre immer klarer erfasst. In der ersten hier relevanten Glosse (erschienen im August 1900) geht es um die überhandnehmende Bitte um Freiexemplare durch Personen oder Institutionen, die materiell einer solchen Gunst gar nicht bedürfen. Ein derartiges Ansinnen wird denn auch von einem Verlagsbuchhändler mit der Begründung zurückgewiesen, er sei „nicht in der Lage, Bücher an wohlhabende Kreise zu verschenken“, sollten die Bittsteller indessen nachweisen können, „dass die Mitglieder ihres Studentenvereines mehr Wasser als Bier trinken“, dann wäre es ihm ein Vergnügen, „zur Stillung des Wissensdurstes derselben auf meine Kosten beizutragen“.223 Was Kraus daran interessiert, ist die Kommentierung dieses Vorfalls, der eigentlich mit Konfession und Herkunft der studentischen Bittsteller nichts zu tun hat, in einer antisemitischen Zeitung. Kraus schreibt  : „Wer aber nach der Ueberschrift ‚Schnorrende Judenstudenten‘, mit der die Notiz der ‚Ostdeutschen Rundschau‘ versehen war, etwa glaubte, das Blatt des Herrn H. K. Wolff wolle das Schnorren als eine jüdische Unart rügen, hat schwer geirrt. Nicht dass geschnorrt wird, sondern dass ‚Judenstudenten‘ schnorren, brachte die ‚Ostdeutsche Rundschau‘ in Harnisch. Bei der Vordringlichkeit der Juden befürchtet sie, dass die deutsch-nationalen Studenten, wenn sie sich entschließen, schnorren zu gehen, zu spät kommen und bei den schon allzu oft von den ‚jüdischen‘ Verbindungen angebettelten Verlegern taube Ohren finden könnten. Sie richtet also ihre Mahnung an die Verleger. Diese mögen ‚die freche Anmaßung – der Judenstudenten – in ihre Schranken zurückweisen‘. ‚Wenn ein deutscher Buchhändler für deutsche Studenten ein 223 F 51, S. 23

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Opfer bringen will, so wird er bei der Lese- und Redehalle deutscher Hochschüler ‚Germania‘ in Wien hiefür genug Gelegenheit finden.‘ Wie aber, wenn der deutsche Buchhändler von der ‚Germania‘ den Nachweis verlangte, dass ihre Mitglieder ‚mehr Wasser als Bier trinken‘  ?“224 Zwei Jahre (und etliche Fälle) später konnte Kraus diese Praxis bereits verallgemeinern. Der Text225 – wiederum eine unbetitelte Glosse – beginnt mit einer Vorbemerkung zu einem längeren Zitat aus dem Deutschen Volksblatt, die den Eindruck erweckt, es handle sich darum, „einen alten Mißbrauch der Vertrauensseligkeit des Wiener Publicums“, nämlich, wie sich im Zitat herausstellt, Schönschreibunterricht von zweifelhafter Effizienz gegen überhöhtes Honorar, zu kritisieren.226 Kraus bricht das Zitat jedoch mitten im Satz ab  : „Um nun andere Personen […] vor Schaden zu bewahren, warnen wir vor diesen jüdischen Schwindlern – –“227, und schiebt einen Kommentar ein, in dem er seine eigene Ablehnung des Schönschreibunterrichts bekräftigt. Dann aber stellt er die Frage  : „Sollte der kalligraphische Unfug bestehen bleiben dürfen, wenn er – die Confession wechselt  ? Die Notiz des ‚Deutschen Volksblatt‘ ist nämlich mit der Warnung ‚vor diesen jüdischen Schwindlern‘ nicht zu Ende. Dieser folgt noch ein schlichtes Sätzchen, das also lautet  : ‚– – und machen uns gern erbötig, christliche Schönschreiblehrer namhaft zu machen.‘“228 Erst an diesem Punkt stellt sich heraus, dass nicht der Schönschreibunterricht, sondern der antisemitische Geschäftsneid das Thema der Fackel-Glosse darstellt. Dieser Textaufbau lässt die Rezipienten in ihrer Lektüre eben das nachvollziehen, was Kraus dann explizit als These formuliert. Wurde der Fall des Bücher-‚Schnorrens‘ noch als Einzelfall behandelt, so vermag Kraus inzwischen den Wunsch, einen kritisierten unlauteren Vorteil selbst zu genießen, als allgemeines Charakteristikum antisemitischer Propaganda zu erkennen  : „Denn dieses Sätzchen erscheint mir typisch für die Auffassung des Corruptionskampfes, welche sich die antisemitische Tagespresse auf allen Gebieten zurechtgelegt hat.“229 Weitere Beispiele werden nun angeführt, und zwar aus der Sphäre des Theaters und des Bankwesens, in denen die Fackel bereits Ähnliches belegt hatte. Wenn der Kampfruf erschalle  : „Nieder mit der

224 F 51, S. 23f. 225 F 113, S. 14–16 226 L.c., S. 14 227 L.c., S. 15 228 L.c., S. 15 229 Ibid.

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jüdischen Corruption  !“, so sei klar, „[w]elches der beiden letzten Worte dabei betont wird“.230 Der Text endet mit einer Parodie der anfangs zitierten ‚Warnung‘  : „Es bedarf nur mehr eines Restchens von Aufrichtigkeit, und wir werden im ‚Deutschen Volksblatt‘ die folgenden Nothschreie lesen  : ‚Warnung vor jüdischen Wucherern  ! Wir machen uns gern erbötig, christliche namhaft zu machen  !‘ ‚Arische Cavaliere, speculiert nur bei arischen Terminjobbern  !‘ ‚Deutsche Jungfrauen  ! Meidet die jüdischen Mädchenhändler  ! Wir machen uns gern erbötig – – –‘.“231 Was die Satire der Fackel dabei so treffend und zugleich so hilflos erscheinen lässt, ist das spezifische Verhältnis von Rationalität und Irrationalität in ihrem Objekt. Irrational und sogar pathologisch im Sinne eines krankhaft beschädigten Bewusstseins ist der Ausfall jeglicher Selbstreflexion in der Aggression gegen die „Schwindler“, wenn sie der verhassten Fremdgruppe angehören, bei gleichzeitiger Forderung, den Schwindel durch die Eigengruppe begehen zu lassen  ; und eben diese Beschädigung wird durch die Satire dem Spott preisgegeben. Rational ist die Propaganda aber insofern, als sie, nur schwach verhüllt, Vorteile für die Eigengruppe in Aussicht stellt und auf diese Weise durchblicken lässt, welche Doppelbefriedigung sie den Ihren bietet  : einerseits die erlaubte Aggression gegen die fremden „Schwindler“, andererseits die Hoffnung auf einen Extraprofit, wenn deren Konkurrenz ausgeschaltet wird. Durch aufklärerischen Witz allein kann die Attraktivität dieses Programms für autoritäre Charaktere, die sich zu kurz gekommen wähnen, nicht gebrochen werden. So simpel, so leicht durchschaubar der Trick auch erscheint, den Unmut der Bevölkerung über die wirtschaftlichen Verhältnisse auf irgendeine „ethnisch“ abgrenzbare Bevölkerungsgruppe zu lenken, er ist bis heute weltweit vorzufinden, und er verbindet sich deshalb besonders häufig mit dem Antisemitismus, weil diesem die Juden seit jeher als Personifikation des Geldes, als trickreiche Geschäftemacher gelten. Kraus betonte immer wieder, er habe die Neue Freie Presse zu seinem Hauptfeind erkoren, nicht weil sie die schlechteste, sondern weil sie die beste bürgerliche Zeitung in Österreich war. Dass er die antisemitische Presse, sei sie deutschnational oder christlichsozial orientiert, für sprachlich und ethisch minderwertig gegenüber der liberalen – von Kraus „jüdische Presse“ oder gar „Judenpresse“ genannt – hielt, ist evident. So schreibt er anlässlich des Prozesses gegen Leontine von Hervay, den er als Hexenprozess apostrophiert  : 230 Ibid. 231 Ibid.

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„Das muß gegenüber dem Toben einer antisemitischen Presse ausgesprochen werden, die sonst schärferer Kontrolle nicht bedarf, weil sie – neben der jüdischen – einen geringeren Grad von Gefährlichkeit dem höheren Grad von Talentlosigkeit dankt.“232 Adorno kommentierte diese Stelle folgendermaßen  : „Nichts anderes wäre gegen ihn einzuwenden, als daß er über die Grade von Gefährlichkeit sich täuschte wie vermutlich die meisten Intellektuellen seiner Epoche. Er konnte nicht voraussehen, daß gerade das Moment des unterkitschig Apokryphen, das nicht weniger als den Streicherschen ‚Stürmer‘ ein Wort wie ‚Völkischer Beobachter‘ auszeichnet, am Ende der Ubiquität einer Wirkung half, deren Provinzialismus Kraus mit räumlicher Begrenzung gleichsetzte.“233 Nun lässt sich gegen den Duktus der Krausschen Kritik an jüdischen Journalisten durchaus noch etwas mehr einwenden. Zu Recht verteidigte Adorno Kraus aber gegen den notorischen Versuch einer restaurativen Gesellschaft, „den intransigenten Kritiker unter Berufung“ auf seinen angeblichen Antisemitismus „loszuwerden“234, denn dadurch wird die Rezeption seiner Beiträge zur Analyse des Antisemitismus gerade verstellt. Im November 1903 bekennt der Autor der Fackel  : „Wenn ich mich entscheiden sollte, welche Parteipresse ich für die vernageltste halte, so würde ich doch der deutschnationalen den Vorzug geben. Was in den ‚völkischen‘ Gehirnen dieser in den deutsch-österreichischen Provinzen postierten ‚Schriftleiter‘ eigentlich vorgeht, zu ergründen, wäre von pathologischem Interesse.“235 Es folgt eine satirische Betrachtung der Eindeutschungen („Nebelung“ statt „November“236), auf die sich Kraus dann in der allgemeineren Bemerkung bezieht  : „Diese Presse genügt dem nationalen Bedürfnis der ‚Deutschen in Österreich‘, die sich ihrer freilich auch gern an Orten bedienen, wo man einem internationalen Drang Betätigung schafft, an Orten, die man sonst mit einem Fremdwort bezeichnet, für die ich aber den teutonischen Sprachreinigern den Ausdruck ‚Stoffwechselstube‘ zur Verfügung stelle …“237 In der Attacke auf Fremdwörter, selbst wenn sie längst ins allgemeine Vokabular eingegangen sind, erkannte Kraus lange vor dem Ersten Weltkrieg einen pathologischen Hass wie auf das Ausland, so auch auf die Sprache selbst. Unter Berufung auf das Deutschtum wird ver-

232 Sittlichkeit und Kriminalität, S. 117. Ähnlich  : z. B. F 156, S. 18 233 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, in  : Noten zur Literatur, S. 375 234 L.c., S. 374 235 F 147, S. 22 AdH/Provinzler 236 Ibid. 237 L.c., S. 22f.

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sucht, die historisch im Austausch mit anderen Sprachen entwickelte deutsche Sprache durch ein künstlich konstruiertes Germanentum zu verschandeln. Dies sich-Abdichten gegenüber der Außenwelt stimmt psychologisch mit der Fixierung auf die Sphäre des Analen und des Schmutzes zusammen. Ohne dass Kraus je Freuds Konzeption des analen Charakters adaptiert hätte, bestätigt seine Darstellung sie immer wieder und in einem Ausmaß, das die Fackel geradezu als Illustration einer psychoanalytischen Theorie der destruktiven Charakterstruktur erscheinen lässt. Das Wort vom „internationalen Drang“ bekräftigt demgegenüber die leibliche Einheit der Gattung Mensch, während in der deutschen „Stoffwechselstube“ nicht nur jener, sondern auch der Drang nach Absonderung geistigen Unrats, betätigt wird. Das „geistige Niveau der deutschvolklichen Presse Österreichs“ wird dann noch durch eine gegen die Fackel gerichtete Dummheit belegt.238 Mit Bezug darauf schließt die Glosse  : „Doch von all den deutschen ‚Wehren‘ und ‚Wachten‘ und ‚Warten‘ muß ich mir Belehrung gefallen lassen, und da dank dem Schneeballensystem der Dummheit, das in der modernen Presse eingeführt ist, die Leistung einer schlechten Feder von hundert guten Scheren übernommen wird, aber dank dem Totschweigesystem die Publizität der ‚Fackel‘ nur auf den Leserkreis der ‚Fackel‘ beschränkt bleibt, bin ich zwischen Mürzzuschlag und Meseritsch ein verlorener Mann, und die Schriftleiterweisheit triumphiert. Das kommt davon, weil auf dem Titel dieses Blattes noch immer der jüdische Ausdruck November und nicht ‚Nebelung‘ steht, und eine Fackel nicht der Benebelung der Gehirne dienen will.“239 Bezeichnend ist die Verwendung aufklärerischer Metaphorik gerade im Kontext der Antisemitismusanalyse. Wenn es den Autor der Fackel auch ärgerte, von unliebsamen Lesern den Auftrag zu empfangen, er solle doch in diese oder jene Sphäre „hineinleuchten“, so ist es doch offenkundig das Ziel seiner Publikation, gesellschaftliche Zusammenhänge zu erhellen, Licht ins Dunkel der Reflexionslosigkeit zu bringen. Anhand der Darstellung in der Fackel lässt sich nachvollziehen, dass der zeitgenössische Antisemitismus einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Moderne, der Aufklärung, der gesellschaftlichen Rationalität vollzieht, zugleich aber in seiner spezifischen Kombination alter Mythen mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen eine neue Form von kollektivem Wahn entstehen lässt. Besonders signifikant ist in diesem Kontext Der Fall Hervay. Er entstammt einer Zeit, in der Kraus sich besonders häufig und in besonders 238 L.c., S. 23 239 Ibid.

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scharfer Form mit dem Antisemitismus befasste, nämlich der Phase von 1902 bis 1904.240 Dass auf der ersten Seite des Fackelheftes, in dem Der Fall Hervay erschien, das Gerichtsurteil über eine erfolgreiche Ehrenbeleidigungsklage des antisemitischen Politikers und Publizisten Ernst Vergani gegen Karl Kraus abgedruckt werden musste, ist deshalb kein bloßer Zufall.241 Der Text beginnt mit der Imago eines keineswegs durch kitschige Paris-Klischees idealisierten Flanierens in der französischen Hauptstadt, das durch eine jähe Schockerfahrung unterbrochen wird  : „Was muß ich hören  ? Welch barbarische Klänge stören den Frieden der elysäischen Felder  ? Es klingt wie von Stampfen, Paschen und Juchezen  ! So schreiten keine ird’schen Pariser Weiber. […] Sie feiern den Sieg des Schuhplattlers über den Chahut, das Sündenvolk hat sich bekehrt, und auf zerklatschten Hirschledernen wird der Wert der ‚Gesundheit‘ demonstriert …“242 Doch die Tiroler Volkstanztruppe, als die der Spuk sich erweist, findet beim Publikum keinen Anklang, da selbst ein Sittenprediger sich „von der ordinären Gesundheit dieser Lederhosenorgie“ ab- und „der kulturvollen Verkommenheit“ des Pariser Nachtlebens zuwenden würde243  ; „[d]ie Gesundheit war durchgefallen.“244 Erst jetzt leitet Kraus zum Fall Hervay über. Am Tag nach der skizzierten Pariser Erfahrung habe er aus einer Wiener Zeitung vom Selbstmord des Bezirkshauptmanns von Mürzzuschlag, Franz von Hervay, erfahren, dessen Frau zum Objekt einer Hetzkampagne geworden war. „Zauberin, Bigamie, Pflichtgefühl, Mürzzuschlag – das flimmerte nur so vor den Augen. Aber ich erkannte sofort, daß es doch wohl hauptsächlich auf Mürzzuschlag ankommen werde.“245 Demnach ist der Fall Hervay in Wirklichkeit ein Fall Mürzzuschlag. Von öffentlichem Interesse ist nicht die Moral der Witwe, sondern die kulturelle Verfassung, in der sich ihre provinziellen Verfolger und deren städtische Sympathisanten befinden, welche durch den 240 Statistisch kann das durch die Trefferzahl für das Deutsche Volksblatt belegt werden, die in der von der ÖAW bereitgestellten Online-Version der Fackel in diesem Zeitraum 114 beträgt, gefolgt von der Phase bis 1901 (wenn man jeweils drei aufeinander folgende Jahre betrachtet) mit 89 Treffern. 1905 bis 1907 sind es noch 40, danach bis zur Einstellung des Erscheinens 1919 nur noch insgesamt 19 Treffer (vgl. AAC – Austrian Academy Corpus  : AAC-FACKEL, Online Version  : »Die Fackel. Herausgeber  : Karl Kraus, Wien 1899–1936«, AAC Digital Edition No 1, http  ://www.aac.ac.at/fackel). 241 F 165, S. 1, vgl. S. 24  : AdH/Antisemit 242 Der Fall Hervay, in  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 95 243 Ibid. 244 L.c., S. 96 245 Ibid.

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Textaufbau und den Kontrast zu Paris als Hauptstadt der Kultiviertheit von vorneherein als Barbaren eingeführt werden. Gemeinsam sind ihnen das „dreckige Selbstbewußtsein, das hinter einem Jäger’schen Normalhemd pocht, die Freude an der eigenen Schäbigkeit, das Behagen an der üblen Ausdünstung des eigenen Charakters, Beschränktheit und Roheit, Dummheit und Stolz“.246 Gleichwohl erkennt Kraus in dem Artikel „Die Jüdin“ im Deutschen Volksblatt noch eine besondere Note, der die Differenz des ‚modernen‘ Antisemitismus zum traditionell provinziellen erkennen lässt  : Frau Hervay erscheine dort als „eine Missionärin der Alliance israélite, die in das stille Alpental gesendet wurde, um dessen biedere Insassen durch die ‚Lehren der Talmudisten und der jüdischen Morallehrer‘ zu Falle zu bringen.“ Diese Sichtweise scheint Kraus „mehr nach Hallstatt als nach Mürzzuschlag zu tendieren“247, den Provinzialismus mithin an regressivem Bewusstsein noch zu überbieten. Wer der Alliance Israélite Universelle, einer international tätigen Hilfsorganisation, Subversion unterstellte, gehörte in der Regel zum radikalen Flügel der durch paranoide Machtphantasien geprägten Antisemiten, die den alten religiösen Wahn durch Pseudoenthüllungen politischer oder historischer Art neu zu fundieren suchten. Obwohl Kraus darauf nicht näher eingeht, beschäftigt er sich in diesem wie auch im anlässlich der – juristisch ungerechtfertigten – Verurteilung der Angeklagten erschienenen Essay zur Sache viel ausführlicher mit dem Deutschen Volksblatt als mit jeder anderen Zeitung und bekundet damit, welche er in dieser Angelegenheit für die gefährlichste hält. Beide Texte verurteilen die mit antisemitischen Insinuationen verknüpfte christliche Sexualfeindlichkeit, die sich in der Presse wie auch in dem Prozess, der schließlich gegen Frau Hervay stattfinden sollte, artikuliert. Dieser Aspekt wurde im Kontext der Justizkritik bereits behandelt. Im hiesigen Kontext soll er nur insofern Beachtung finden, als er mit dem Antisemitismus verbunden ist. Kraus charakterisiert die Sicht der Einheimischen als Neid auf die weltgewandtere und in erotischen Belangen erfolgreichere Frau, die einige Zeit in Frankreich gelebt hatte, folgendermaßen  : „Zu lange hat man sich diese Frau mit ihren besseren Manieren und ihrer besseren Unterwäsche gefallen lassen, zu lange hat sie ungestraft den Ort rebellisch gemacht. Nicht nur, daß sie den feschen Bezirkshauptmann gekapert hat, ist sie auch auf dem besten Wege, den anderen Ehemännern den Kopf zu verdrehen.“248 Dem von Neid geprägten Ressentiment gegen die 246 L.c., S. 98 247 Ibid. 248 L.c. S. 96f.

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Frau aus der Fremde verkehrt sich nicht nur das Mondäne ins Dämonische, es vermischt sich überdies mit antisemitischen Impulsen, und zwar sowohl bei den Einheimischen (vgl. die oben zitierte Bemerkung des Bahnbeamten) als auch in der Presse  : „Im ‚Deutschen Volksblatt‘ ist die publizistische Verbindung zwischen Hexenglauben und Gegenwart hergestellt, und in der engstirnigen Roheit, die von dem ‚teuflisch gearteten Judenweib‘, von dem ‚modernen Vampyr‘ leitartikelt […], hören wir verirrte Stimmen“ aus der Zeit der Hexenprozesse.249 In der mehrfachen Attribuierung als „raffiniert“250 (wiederum durch das Deutsche Volksblatt) korrelieren Sexualneid und Antisemitismus. Für die Satire besonders ergiebig ist dabei der Umstand, dass sogar die juristische Unschuld der Angeklagten als Beleg für ihre Raffinesse herhalten muss  : habe sie sich doch einer Betrugsanklage dadurch entzogen, dass sie diesen Tatbestand nicht herstellte. In Schutz genommen wird von derselben Zeitung sowohl der Gatte, der „sein übergroßes Vertrauen“ zu ihr mit dem Tode bezahlt habe251, als auch die „kerndeutschgesinnte Bevölkerung von Mürzzuschlag“252, deren Hass sich auf die Frau entlädt. Das antisemitische Klischee von den allzu vertrauensseligen Christen, die durch raffinierte Juden und Jüdinnen hinters Licht geführt werden, ist ebenfalls vor allem in den Kreisen radikaler Antisemiten beliebt und impliziert stets den Appell, den Juden gegenüber noch misstrauischer zu werden, am besten gar nicht mit ihnen sich einzulassen. Dass die Angeklagte, wie Kraus konstatiert, „in der zweitägigen Verhandlung die einzige deutsch redende Person war“, kann ihr auch keine Sympathien bei dem Leitartikler des Deutschen Volksblatts eintragen, dessen „Mund des Deutschtums voll“ ist, dessen Herz aber in einem Deutsch übergeht, das so ‚monströs‘ ist wie die auf das Objekt projizierten Vorwürfe.253 Das Gesamtbild der Stereotypie wäre unvollständig, wenn der antisemitische Journalist nicht auch noch das Klischee der ‚jüdischen Solidarität‘ bemühen würde, die die „Judenpresse“ dazu bringe, „für das skrupellose Weib“254 Partei zu ergreifen und gegen ihre Inhaftierung zu protestieren. Kraus bezeichnet diese Behauptung als Kretinismus255 und bekräftigt, dass die Solidarität mit der Angeklagten angesichts eines so eklatanten Justizskandals der inkriminierten Motivation gar nicht bedurfte. 249 Der Hexenprozess von Leoben, l.c., S. 117f. 250 L.c., S. 118, Der Fall Hervay, S. 100 251 Der Hexenprozess von Leoben, l.c., S. 119 252 L.c., S. 118 253 L.c., S. 118 254 Ibid. 255 L.c., S. 119

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In den darauf folgenden Monaten findet sich in der Fackel eine Reihe von Glossen mit Attacken auf die antisemitische Presse. Zitiert seien an dieser Stelle drei auf die Sprachkritik fokussierte, die den antiaufklärerischen und somit intellektuell regressiven Charakter der antisemitischen Presse hervorheben. In der ersten256 weist Kraus den Versuch eines Feuilletonisten der Deutschen Zeitung zurück, sich als Sprachkritiker zu betätigen. Der liberale „Schmock“, so Kraus, betreibe zwar „zunehmende Sprachverhunzung“, spiele sich aber nicht auch noch als Sprachrichter auf. „Sein antisemitischer Kollege ist weniger bescheiden. Wiewohl er seine Grammatikfehler, die jener wenigstens mit einer gewissen Virtuosität beherrscht, kaum zu lallen imstande ist, erfrecht er sich noch, Anderen Sprachlektionen zu erteilen. Man hat sich daran gewöhnt, daß Leute, die täglich zweimal das ‚Deutschtum‘ statt eines guten Zahnputzmittels in den Mund nehmen, von den Sprachgesetzen ihres Volkstums keine Ahnung haben, daß ein Blatt, welches etwa Jüdische Zeitung hieße, in besserem Deutsch geschrieben ist, als das Blatt, das sich dreist und allen guten Sprachgeistern zum Trotz, ‚Deutsche Zeitung‘ nennt. Aber verblüffend wirkt es, wenn die Eselsbank zu lehren beginnt.“257 Ein ähnlicher Kontrast lässt sich gut zwei Wochen später zwischen der Neuen Freien Presse und dem Deutschen Volksblatt erkennen. Nachdem Kraus in einer sprachsatirischen Glosse dem liberalen Blatt den Rat erteilt hat, seine Journalisten in die Welt zu schicken, um die Leser vor Unbildung (hier  : vor Übersetzungsfehlern) zu bewahren, schließt sich eine längere Passage über das Deutsche Volksblatt an, in dem man diese (die Unbildung) „nur ungern missen“ würde.258 Es sei eben ein Blatt „[f]ür Analphabeten und solche, die es werden wollen“  ; seine Unbildung „ein mühsam errungener kostbarer Besitz, mit dem die ‚Schriftleitung‘ zu protzen ein Recht hat.“259 Wer aber „an Gemeinplatzfurcht leidet, dem ist ein Blick in das ‚Deutsche Volksblatt‘ dringend zu widerraten. Seine Leidenschaft ist die Grobheit des Wiener Hausmeisters, seine Sachlichkeit ein Friseurgespräch, sein Humor … nein, für den gibt es kein Vorbild. Eine solche Armseligkeit satirischen Hohns, die sich in Interpunktionen auslebt und Rufzeichen, Fragezeichen und Gedankenstriche als Peitschen, Schlingen und Speere verwendet, hat das Leben außerhalb des antisemiti256 F 174, S. 12f., o.T. 257 L.c., alles S. 12. Indem Kraus die Journalisten der Deutschen Zeitung auf der Eselsbank verortet, spricht er ihnen nicht nur Volksschulniveau zu, sondern die unterste Stufe dieses Niveaus. 258 F 175, S. 15 259 Ibid.

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schen Schrifttums bis heute nicht offenbart.“260 Mit der letzteren Bemerkung verweist Kraus noch einmal auf die Gepflogenheiten der antisemitischen Interpunktion, indem er hier neben der intellektuellen Dürftigkeit vermittels der Metaphorik vor allem ihren aggressiven Charakter betont. Ende März erscheint schließlich eine weitere satirische Glosse, in der der Herausgeber der Fackel sich fragt, welche der antisemitischen Zeitungen er nun definitiv „für das dümmste Blatt von Wien halten“ solle.261 Über die Deutsche Zeitung, die im doppelten Sinne als ein Organ der christlichsozialen Partei bezeichnet wird, eine „tote Niere, ohne die der Patient besser leben kann als mit ihr“ 262, heißt es da  : „Wer vermöchte an dieser für Analphabetschwestern beiderlei Geschlechts geschriebenen Presse ernstlich mehr auszusetzen als daß sie als Klosettpapier unhygienisch ist  ? Der Wille zur Schlechtigkeit wird hier fortwährend durch einen so erfreulichen Mangel an Talent paralysiert, daß der kritische Betrachter dem Problem mit mehr Humor als Besorgnis gegenübertreten kann. Nichts auf Erden ist beruhigender als der Anblick der Unfähigkeit, die ein schädliches Machtmittel durch schlechte Hantierung unwirksam macht.“263 Dass im Lauf der folgenden Jahrzehnte gerade der schlechte Stil, verbunden mit dem Willen zur Schlechtigkeit, vermehrten Zuspruch finden sollte, ahnte Kraus noch nicht. Der in dieser Glosse namentlich genannte Feuilletonist F. F. Masaidek revanchierte sich, indem er in der Deutschen Zeitung Sprachkritik am „kleinen Kraus“ zu betreiben versuchte  ; ein hoffnungsloses Unterfangen, das in der Fackel entsprechend zurückgewiesen wurde.264 Wenn nun die Deutsche Zeitung jener Glosse zufolge den Titel des dümmsten Blatts von Wien verdient, so wird dafür das Deutsche Volksblatt ein Jahr später, im März 1906, mit zwei ebenso wenig schmeichelhaften Superlativen bedacht  : Es sei wohl „das Viehischeste und Ordinärste“ in ganz Europa, heißt es da anlässlich einer antimodern und antiliberal orientierten Rezension, die eine Komödie des französischen Dichters Alfred de Musset samt ihrem Verfasser verunglimpft, sowie eines antisemitisch und patriotisch orientierten Feuilletons von Vergani aus Monte Carlo.265 Das Wort viehisch in seiner gesteigerten Adjektivform verweist wieder auf die „Bestialität“, die zur

260 L.c., S. 16 261 F 178, S. 14 262 Ibid. 263 L.c., S. 15 264 F 180, S. 54f., AdH/Spaßvogel 265 F 198, S. 19, aus  : AdH/Wiener in Monte Carlo

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Artikulation ihres Hasses auf die innere Natur der Menschen nur die Rohheit aus der Tierwelt übernimmt und kultiviertere, skeptisch-ironische Formen des Umgangs mit ihr aus der Perspektive des „sexuellen Tirolertum“ moralistisch denunziert. Der Vorwurf des Ordinären dürfte sich auf die Verbindung von gemeinen Beleidigungen mit klischeehafter Banalität beziehen. Insgesamt ist festzustellen, dass immer dort, wo Kraus sich den Antisemiten und der Funktionsweise ihrer Psychologie und Propaganda widmet, seine Einsichten sehr präzise sind  ; die vom Fremdbild übernommene Identifikation der Juden mit dem Finanzkapital und die daraus resultierende Erklärung des Antisemitismus aus dem Verhalten der Juden weisen jedoch beunruhigende Übereinstimmungen mit antisemitischen Klischees auf. Soweit er sich noch dem Judentum zugehörig fühlt,266 zeugt seine Mahnung, die Juden sollten dem Antisemitismus durch ihr Verhalten die Basis entziehen, anstatt über ihn zu klagen, allerdings auch von der alten jüdischen Angst, die feindselige Reaktion durch auffälliges bzw. abweichendes Verhalten selbst zu provozieren – und von einer typischen Einstellung der Nicht-Autoritären, die Eigengruppe besonders kritisch zu betrachten. Soweit indessen die Übernahme antisemitischer Klischees dominiert, verlässt er den kritisch-aufklärerischen Konsens. 2. Rassismus Anders als beim Antisemitismus zeigt Kraus am Gegenstand des Rassismus gegen Schwarze vorbehaltlos, dass die Wurzel des Problems bei den Aggressoren – und nicht bei den Opfern – zu suchen ist. Die Figuren seiner Rassismus-Satire bekunden nicht bloß Unaufgeklärtheit, sondern autoritäre Aggression, die zur Gänze aus eigenen Defekten entsteht. Die eigene Natur muss unterdrückt werden, und weil das unzureichend gelingt, zudem nicht die erhoffte Belohnung in Form eines glückerfüllten Lebens einbringt, hassen die mangelhaft Zivilisierten insgeheim sowohl Natur als auch Zivilisation. Da solche Abstrakta sich aber schwerlich hassen lassen, muss der Hass zwanghaft auf Personengruppen und deren einzelne Vertreter und Vertreterinnen projiziert werden. Daraus resultiert auch die Schärfe des satirischen Urteils  : wäre die Diffamierung der Schwarzen bloß als Unkenntnis und unzulässige Verallgemeinerung, kurz als harmloses Vorurteil zu verstehen, so würde daraus informative Aufklärung über die Diffamierten als logische Reaktion folgen. Doch der Fackel ist es darum zu tun, die Defizite der „weißen“ Zivilisation auf266 Siehe insbesondere  : Er is doch e Jud, in  : Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 327–334.

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zuzeigen, weil aus ihnen das Problem entspringt. Er distanziert sich deswegen von einer naiv verharmlosenden Kritik an Vorurteilen, weil sie die eigene Kultur im Grunde affirmiert und nur der Aggression gegen fremde Kulturen begegnen will. Provokativ setzt Kraus dieser vorgeblichen Menschenfreundlichkeit seine vorgebliche Misanthropie entgegen, denn das Problem besteht für ihn primär in der Affirmation  : „Nichts ist engherziger als Chauvinismus oder Rassenhaß. Mir sind alle Menschen gleich, überall gibt’s Schafsköpfe und für alle habe ich die gleiche Verachtung. Nur keine kleinlichen Vorurteile  ! // Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch.“267 In der literarischen Praxis sind ihm indessen doch nicht alle Menschen gleich  : Vielmehr zielt die Satire fast ausschließlich auf die Eigengruppe ab und berücksichtigt Fremdgruppen allenfalls zur Bestätigung des Umstands, dass die bei der Eigengruppe diagnostizierten Defizite bedauerlicherweise auch anderswo auftreten können. In einem offenen Brief an Maximilian Harden insistiert Karl Kraus auf der „natürlichen Bereitwilligkeit, nach schonungsloser Überwindung des heimischen Klüngels die Elemente, die in der Fremde das geistige Leben zusammensetzen, a priori als die besseren und gesünderen zu respectieren.“268 „Natürlich“ im Sinn von „selbstverständlich“ ist diese Bereitwilligkeit nur für den Kritiker, der, in Selbstreflexion und Selbstkritik geschult, die Standards der Eigengruppe hinreichend infrage stellt. Gerade diese Fähigkeit ist den Rassisten eben nicht zur zweiten Natur geworden  ; ganz im Gegenteil halten sie stets die Eigengruppe und ihre Standards für das Natürliche. Das ist der sozialpsychologische Hintergrund für das in der Kraus-Rezeption vielbeachtete Phänomen, dass fremde Nationen, Kulturen und Ethnien in der Fackel weitgehend auf ihre Funktion als Gegenbild zur eigenen reduziert sind. Und da die Schwarzen für Kraus eindeutig eine Fremdgruppe darstellen, kann er am gegen sie gerichteten Rassismus Mechanismen darstellen, die auch für die Analyse des rassistischen Antisemitismus wertvoll sind, wohingegen diese selbst durch das eigene schwierige Verhältnis zum Judentum vor allem bis 1920 (gelegentlich aber auch noch danach) immer wieder durch die Behauptung, dieser Rassismus sei auch vom Objekt motiviert, konterkariert wird. Begünstigt wird die Verallgemeinerbarkeit seiner Erkenntnisse nicht zuletzt durch einen Mangel  : Kraus betont am Rassismus vor allem die Zivilisationsschäden der Weißen, mit Freud gesprochen  : die fehlerhaft erfolgte Triebsublimierung  ; hingegen 267 Aphorismen, S. 59 268 F 2, S. 7

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ignoriert der Kulturkritiker den Aspekt der Verachtung für die unterprivilegierten Arbeitskräfte, welche den Wert ihrer Arbeitskraft nicht angemessen realisieren können, und gerade darin besteht ein zentraler Unterschied zum Antisemitismus. Rassenwahn, Sexualneid und Projektivität sind aber beiden Formen der Feindseligkeit gemeinsam, und wie Rassismus ein Problem der Rassisten ist, so ist Antisemitismus ein Problem der Antisemiten. Als signifikantester Text zum Thema wird im Folgenden die Satire Der Neger behandelt.269 Geschrieben 1913, steht sie in Untergang der Welt durch schwarze Magie zwischen Die europäische Kultur hält ihren Einzug und Eine Prostituierte ist ermordet worden. Während der vorausgehende Text einen Kulturchauvinismus zum satirischen Gegenstand hat, der sich nicht scheut, die depraviertesten Produkte des kommerzialisierten Kulturbetriebs als Exportgut zu preisen, richtet sich der nachfolgende gegen eine Naturverachtung, die sich in der Presse als Verachtung der Prostituierten artikuliert. Der Neger bildet somit einen kulturkritischen Link zwischen diesen beiden Texten. Eine zentrale Erkenntnis aus Eine Prostituierte ist ermordet worden bringt Kraus’ Kritik der europäischen Sexualmoral treffend auf den Punkt  : „Die Statuten des Vereins Menschheit, wonach das am meisten verachtet werden muß, was man am meisten begehrt, hat die Natur nicht genehmigt.“270 Den Zusammenhang dieser Sitte der Herabwürdigung körperlicher Liebe (als Teil einer von Selbstverleugnung und Mangel an Selbstreflexion geprägten Kultur) mit rassistischer Vorurteilsbildung verdeutlicht Der Neger. Im ersten Teil des Textes zitiert und kommentiert Kraus einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Pfui  !“ aus den Hamburger Nachrichten, der den Brief einer jungen Berlinerin an den Vater ihres ostafrikanischen Freundes als Beispiel für die Schamlosigkeit deutscher Frauen, die sich mit Schwarzen einlassen, abdruckt. Im zweiten Teil berichtet er von den zwei Schwarzen, die er bisher kennengelernt habe. Eingeleitet wird der zitierte Artikel mit einer den Hamburgischen Dialekt imitierenden Sprachparodie, durch die sich Kraus mimetisch seinem Objekt annähert, um 269 Der Neger, in  : Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 304–307 270 Untergang der Welt durch schwarze Magie, S.317. Diesen zentralen Gedanken formulierte Kraus bereits 1905 in zwei Essays, wobei die Verben (in der zitierten Fassung begehren/verachten) leicht variieren  : In Montignoso wird mit der Variante lieben/verachten die Heuchelei betont  ; in Eros und Themis mit der Variante ersehnen/besudeln mehr die deformierende kulturelle Praxis (Sittlichkeit und Kriminalität, S. 146  ; S.  151). – Wie in allen Krausschen Texten zum Thema Prostitution, so mischen sich auch in diesem Kontext präzise ideologiekritische Einsichten in die Sexualfeindschaft seiner Zeit und die Funktionsweise des Geschäftspresse mit einer verklärten Sicht der Prostitution, die auf einem ihrerseits stereotypen Frauenbild basiert.

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aber in der satirischen Präsentation dieses vom Mimesistabu geprägten Objekts zugleich ironisch Distanz zu wahren. Indem die Satire nicht etwa ­einen Artikel über das Verhältnis deutscher Frauen zu Afrikanern ankündigt, sondern die Präsentation eines möglicherweise durch unverarbeitete Erfahrungen psychisch und mental gestörten Einwohners der Stadt Hamburg, der sich durch seine „Aufschreie“ in der Zeitung selbst zur Schau stellt, wird von vorneherein deutlich, auf welcher Seite Pathologisches zu vermuten sei und wie man ihm begegnen solle  : mit der Analyse der geistigen Physiognomie nämlich, die sich in der aggressiven Sprache eines mit Kulturchauvinismus verschränkten Rassismus ausdrückt. Nach dem idiosynkratischen Titel „Pfui  !“ zeigt der Verfasser gleich im ersten Gliedsatz, dass er nicht nur im Hinblick auf Ausländer vorurteilsbeladen ist, indem er die Briefschreiberin mit dem Zusatz „(natürlich Berlinerin)“ versieht271 und so der lokalpatriotisch geprägten Feindschaft zwischen Hamburg und Berlin Rechnung trägt (wiewohl er später konzediert, es gebe solche Frauen auch in Hamburg).272 Das Gleiche gilt für den Mangel an Selbstreflexion, der sich darin bekundet, einen persönlichen Brief nachzudrucken, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, dass dieser Akt der Indiskretion schamloser ist als alles, was in einem derartigen Brief stehen mag. Etwaige Hoffnungen auf einen aufreizenden Inhalt werden nun enttäuscht, denn der einzige Aspekt, der den Redakteur zum Schäumen bringt, ist die Versicherung der Schreiberin, eine große Liebe verbinde sie mit Josef Mambo, dem Sohn des Adressaten. Von Sexualität ist nicht die Rede, der Stil ist so kohärent wie eloquent und der Zweck des Briefs wird von den üblichen Höflichkeits- und Bescheidenheitsfloskeln eingerahmt (was den rassistischen Leser möglicherweise noch zusätzlich in Rage bringt). Gegen die Konvention verstößt indessen die Tatsache, dass es sich um eine uneheliche Liebe zu e­ inem Menschen anderer Hautfarbe handelt. Im Kommentar des Redakteurs, vor diesem „brünstige[n] Geschwätz“273 ekle es ihn, zeigt sich offenkundig die Projektivität eines durch kulturell produzierten Hass hervorgerufenen Ekelempfindens. Kraus verweist denn auch darauf, dass es „die ange271 Der Neger, S. 304 272 Aus Berliner Sicht wird die Rivalität insbesondere in Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel dargestellt. Darüber hinaus wurde solche Feindschaft in Deutschland traditionell auch gerne zwischen unmittelbar benachbarten Städten (wie Frankfurt und Offenbach, Mannheim und Ludwigshafen, Gelsenkirchen und Schalke) gepflegt, und sie hat vor allem die Funktion, ein stereotypes Denken ostentativ hervorkehren zu können, ohne dass die Sprecher ausweisen müssten, wie ernst es ihnen damit ist. 273 Der Neger, S. 305, dort gesperrt

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sammelte Tobsucht“ sei, die „zu jenem Pfui  ! erstarrt“, und lässt das Attribut brünstig auf den Urheber zurückfallen.274 Auf diese Weise dechiffriert er die Irrationalität und das Destruktionspotenzial einer mit der menschlichen Natur unversöhnten Kultur. Deren Bereitschaft, in mittelalterliche Praktiken zurückzufallen, nimmt wieder einmal die Gestalt der Forderung nach dem Pranger an, der als probates Instrument gegen die „schamlosen“ Frauen empfohlen wird. Wenngleich hier nur das Anprangern in Form der Bekanntmachung des Namens in der Presse intendiert ist, weist ein Vergleich mit entsprechenden Pressezitaten, die auf den Monat genau zwanzig Jahre später in der Fackel erscheinen sollten, so frappierende Übereinstimmungen im sprachlichen Gestus auf, dass die Kontinuität evident ist.275 In dieser Perspektive gewinnt die folgenden Sätze eine Wahrheit, von der Kraus damals allenfalls etwas erahnen konnte  : „Ich brauche nicht erst zu sagen, aus welchem Zusammenleben mir eine bessere Menschenhoffnung zu erblühen scheint, aus dem der Berlinerin mit ihrem Mambo oder aus der Einheirat, die die deutschen ‚Schriftleiter‘ rekommandieren“276, und er zweifle nicht, „bei welcher Rasse mehr Verstand, Menschlichkeit und Güte“ sei.277 Ohne also die spätere Umsetzung der rassistischen Phrase in die Tat schon erfahren zu haben, antizipiert die Fackel die Wahn und Gewalt fördernde Dynamik in der Entwicklung einer verfehlten Kultur und die Beschädigungen, die sie bei den in ihr Aufwachsenden hinterlässt. Ihr Vertreter, der „Schriftleiter“ – diese Eindeutschung verabscheute Kraus seit jeher – vertritt hingegen einen Kulturchauvinismus, dem die Liebe einer Europäerin zu e­ inem „Neger“ als ein verächtliches sich-Wegwerfen erscheint. Die in dieser Satire etwas unglücklich personalisierende Vermutung, dahinter stehe psychologisch Sexualneid, und zwar der doppelte Sexualneid auf Frauen, deren kulturelle Normen durchbrechende Sinnlichkeit als bedrohlich empfunden wird, und auf männliche Angehörige fremder Kulturen, die als sexuell aktiver eingeschätzt, folglich als überlegene Konkurrenten empfunden werden, hat Kraus an anderer Stelle präziser geäußert.278 In der Glosse Vom Lynchen und vom Boxen scheint das Destruktionspotenzial der christlichen Kul-

274 Ibid. 275 Karl Kraus  : Dritte Walpurgisnacht (= Schr. 12), Frankfurt 1989, S. 222–227. 276 Der Neger, S. 305  ; vgl. zu diesem Kontrast  : Die weiße Kultur oder Warum in die Ferne schweifen  ?, in  : Die chinesische Mauer, S. 211–214. 277 Der Neger, S. 306 278 Vgl. Weiße Frau und schwarzer Mann, in  : Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 323–326, sowie die im folgenden zitierten Texte.

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tur in der Hervorhebung einer nicht spontan und chaotisch, sondern angeblich „in vollster Ordnung“ und „von den angesehensten Leuten“ vollzogenen Lynchung in Mississippi auf.279 In der Chinesischen Mauer werden die Angehörigen dieser Kultur als „[w]ilde Völkerschaften, elektrisch beleuchtete Barbaren“ bezeichnet und ihre sexuellen Deformationen thematisiert.280 Kultur und Barbarei sind demzufolge in ihrem Herrschaftsanspruch über die Natur miteinander verschränkt  ; die mit Barbarei durchsetzte Kultur bedroht alles, was emphatisch Kultur heißen kann, ebenso wie spontane individuelle Lust. Deshalb verwendet Kraus den Begriff der Sittlichkeit anlässlich eines weiteren Falls von rassistischer Lynchjustiz ironisch als Gegenbegriff zur Zivilsation.281 Für wahre Kultur und für das Eingedenken der Natur stehen dagegen die beiden Schwarzen, von denen nun erzählt wird. Nach einem für die Fackel typischen Muster verwendet Karl Kraus hier empirische Erfahrungen und formt aus ihnen kulturkritische Allegorien. Vom ersten „Neger“, einem Chauffeur, der den Autor durch Wien fährt, heißt es, er sei „der Kulturlosigkeit einer ganzen Stadt ausgeliefert“ gewesen und habe „den Eindruck einer unter die Kaffern geratenen weißen Seele“ gemacht.282 Die abfällige Verwendung des Wortes Kaffer im Sinn von Dummkopf erscheint selbst nicht ganz unbedenklich  ; alle gängigen Nachschlagewerke verzeichnen indessen zwei etymologisch unabhängige Bedeutungen  : Während die ethnische Bezeichnung aus dem spanischen und portugiesischen cafre abgeleitet ist, entstand das Schimpfwort aus kafer (Dörfler, Tölpel) zu hebräisch kafar (Dorf, modernhebräisch kefar). Da das Wort Kaffer von Kraus’ Zeitgenossen häufig ohne jeden Bezug zu Afrika als Schimpfwort gebraucht wurde, lässt sich vermuten, dass diese letztere Etymologie damals noch präsent war  ; in jedem Fall ist von vorneherein klar-

279 Vom Lynchen und vom Boxen, in  : F 305, S. 40–42, Zitat S. 40 280 Titelaufsatz in  : Die chinesische Mauer (= Schr. 2), S. 280–293, Zitat S. 291. Vgl. dazu Irina Djassemy  : Productivgehalt, S. 183–185. – Auch in Der Meldezettel wird die österreichische Gesellschaft als wilde Völkerschaft bezeichnet (F 218, S. 6  ; später in „wilde Körperschaft“ geändert  : Sittlichkeit und Kriminalität, S. 280). Der Bezug zur Beherrschung innerer Natur ist in diesem Text vermittelter  : Der „überlegene Humor“ (ibid.), mit dem ein Hochstapler aus Schwarzafrika die „wilde Körperschaft“ der Wiener hinters Licht und ihre Justiz ad absurdum führen konnte, enthüllt deren Unfähigkeit, die einzelne Person einfach als Menschen zu respektieren, anstatt sie nach Macht und Titeln zu taxieren, ebenso wie die sachfremde Ausforschung der persönlichen Verhältnisse durch die Justiz. In dieser Perspektive erscheinen die Bräuche der mitteleuropäischen Zivilisation so befremdlich, dass der Blick auf ihre Irrationalität erst freigelegt wird. 281 Untergang der Welt durch schwarze Magie, S. 13. 282 Der Neger, S. 306

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gestellt, wer in dieser Geschichte der Zivilisierte sei. Dem Beruf des Chauffeurs kommt in der Kulturkritik der Fackel eine besondere Bedeutung zu, weil das neue Verkehrsmittel Automobil zum Sinnbild des technischen Fortschritts wird  : Es ermöglicht eine Fortbewegungsart, die dem Bedürfnis eines Denkers entgegenkommt, indem sie ihn vor den Schattenseiten der (Verkehrs-)Kultur, vor der Dummheit und Rückständigkeit, die ihm von Passanten, Kutschern, Mitreisenden in Bahn und Straßenbahn entgegenschlägt, am besten schützt  ; es steht aber auch für die destruktive Eigendynamik eines technischen Fortschritts, der nicht primär und ausschließlich dem Leben der Menschheit als höchstem Zweck dient.283 Im aktuellen Kontext kommt vor allem der erste Aspekt zur Geltung, denn dieser Chauffeur lässt sich weder von seinem Automobil noch von der „Kulturlosigkeit“ und „Gemeinheit“ der Passanten überrollen.284 Wie er ein souveräner Fahrer zu sein scheint, der die Maschine unter Kontrolle hat, so bewährt er sich auch als souveräner „Gentleman“, der angesichts der ärgsten „Pöbeleien“ nicht die Selbstkontrolle verliert. 285 Obwohl man nicht viel mehr über ihn erfährt, zeichnet Kraus mit wenigen Strichen ein Bild gelungener Individuation (Ichstärke, Bildungsfähigkeit, erfolgreiche Triebsublimierung). Die geifernden Passanten werden dagegen als Nichtindividuierte charakterisiert, sie stellen sich aus der gemeinsamen Perspektive des Wageninnern als „das stereotype Spalier offener Mäuler und gereckter Arme“ dar. Ebenso stereotyp sind ihre auf die Hautfarbe bezogenen Beleidigungen, deren kaum zu unterbietendes Niveau („Hörst Murl, wosch di o  !“, „Na woart du schwoaza Pülcher  !“) durch die bildungssprachliche Bezeichnung als „Sentenzen, Ratschläge, Verwünschungen“ ironisch markiert wird. In der Aneinanderreihung werden sie einem Operettenchor ähnlich stilisiert  : vom Auftakt „A Näägaa –   !“ bis zur bereits zitierten Klimax „Ah – jetzt waß i ollas  !“ und dem Nachsatz einer „Megäre“. Dazwischen gibt es strukturierende Elemente durch Wiederholungen („Geh hörst’rr“ – „Hörst“ – „Geh“ – Hörst“) und rhythmische Parallelen („Tepataa –  !“, „Stinkataa –  !“). Abgesehen von der grundlegenden Unfähigkeit, zumindest das Vorhandensein des Fremden zu akzeptieren, 283 „Es gibt nur eine Möglichkeit, sich vor der Maschine zu retten. Das ist, sie zu benützen. Nur mit dem Auto kommt man zu sich.“ (A 1039) Andererseits  : „Die Technik  : Automobil im wahren Sinne des Wortes. Ein Ding, das sich nicht bloß ohne Pferd, sondern auch ohne den Menschen fortbewegt. Nachdem der Chauffeur den Wagen angekurbelt hatte, wurde er von ihm überfahren. Nun geht es so weiter.“ (A 722) Vgl. dazu Irina Djassemy  : Productivgehalt, S. 107–119. 284 Der Neger, S. 306 285 Ibid.

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zielen sie vor allem darauf ab, den Chauffeur, der da „mit seinem Automobil vorüberflitzte“ und demnach eine moderne und seltene Fähigkeit besaß, vermittels der Hinweise auf seine physische Beschaffenheit dennoch ins Klischee des Unzivilisierten zu pressen und die eigene Überlegenheit als qua Geburt gesicherte, keine intellektuelle oder technische Leistung erfordernde zu imaginieren. Dabei kontrastieren unbeherrschte Aggressivität, Unbildung, Irrationalität, Regression und Sprachschändung der gelassenen Reaktion des Geschmähten, welcher auf die Frage des Autors, wie ihm das Leben gefalle, achselzuckend im reinsten Hochdeutsch antwortet  : „Ach, die Wiener haben eben keine Kultur“, und so jene Stereotypen durchkreuzt. 286 Die visuellen und akustischen Elemente der ästhetischen Darstellung sind der Sache mithin nichts weniger als äußerlich  : Sie evozieren Bild und Ton einer grotesken Operettenszene gerade so weit, dass der Eindruck von Massenregression entsteht, bis schließlich der Satz des bedrohten Einzelnen das entfesselte Chaos zumindest intellektuell wieder zu bändigen scheint. Der letzte Satz dieses Textabschnitts streicht explizit heraus, dass nicht die Fremdheit des einzelnen Minoritätsangehörigen das Problem darstellt, sondern die Deformationen der Majorität  ; erst durch sie wird das Nichtidentische zum Problem  : „Der Neger macht sich dadurch auffällig, daß der Weiße unruhig wird.“287 Während der Chauffeur literarisch als Gegenbild zur offensiven Unaufgeklärtheit der Einheimischen fungiert, artikuliert der andere Schwarze, von Beruf Diener in einem Geschäftshaus, die Spontanität authentischer Gefühle gegenüber der Verweigerung eines Eingedenkens der Natur im Menschen. Auch der Beruf des Dieners ist in der Fackel widersprüchlich konnotiert  : Einerseits findet sich die schärfste, kantianisch und kapitalismuskritisch fundierte Kritik an einem Dienen, durch das die Menschen sich und andere zu Mitteln machen, andererseits die emphatischste Apologie des Dienens, wenn damit der kreatürliche Ausdruck der Liebe zum Besonderen verbunden ist  : meistens die Anhänglichkeit eines Hündchens oder eines Mannes an eine geliebte Frau, gelegentlich aber auch – wie hier – die Treue zu einem seinerseits gütigen Vorgesetzten.288 Die in der Fackel verurteilte, auf Vorteil spekulierende Ser286 Alles ibid. 287 Ibid. 288 Beide Seiten weisen sowohl affirmative als auch kritische Einsichten auf. Die Kritik des Mittels reflektiert sehr präzise die Verkehrung der Mittel-Zweck-Relation und konnte später von Max Horkheimer philosophisch reformuliert werden (vor allem in der Kritik der instrumentellen Vernunft), aber sie tendiert dazu, das Problem als Folge geistiger Dispositionen statt als Folge einer Selbstverwertung des Werts zu missdeuten. Die Apologie des treuen Dienens stellt zunächst

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vilität von Fiakern und Kellnern ist es jedenfalls nicht, die den Diener dazu veranlasst, seine Trauer am Grab des „Herrn“ leidenschaftlicher zu bekunden, als es die kulturellen Codes erlauben. Es ist vielmehr der Protest gegen den Tod, und gerade gegen dessen Unabänderlichkeit, der ihn antreibt.289 Den Tod nicht zu akzeptieren, das ist für Kraus wie für die kritische Theorie entscheidend  ; es ist die Absage an das Destruktive inner- und außerhalb der Menschen, die Absage an Vernichtung, an das Nichts. Dagegen dienen alle Trauerrituale der europäischen Kultur dazu, den Tod ins Leben zu integrieren und so zu akzeptieren. Die Notwendigkeit dieser Akzeptanz bis zu einem gewissen Grad lässt sich zwar für die einzelnen Trauernden, welche ja mit ihrer Trauer leben müssen, nicht bestreiten  ; doch nur, wenn ein rebellischer Rest bewahrt wird, kann Humanität gesellschaftlich erst hergestellt werden. Deshalb liegen die Sympathien des Satirikers auch in diesem Fall ganz auf der Seite des Schwarzen. Selbst das sprachsatirische Verfahren, die damals gängigen Begriffe „Negerexzeß“ und „Untermensch“ in den eigenen Text als fremde Elemente aufzunehmen, zeugt noch davon  : denn mit dieser Art des Exzedierens  : mit der Mimesis des Schreckens, ist die verfeinerte Geistigkeit der Fackel solidarisch, während der zuvor dargestellte Österreicherexzess als Exzess pathischer Projektionen verurteilt wird  ; der angebliche „Untermensch“ ist in seinem Schmerz menschlicher als die selbst ernannten „Übermenschen“, die, „von Graun gepackt, mit einem Pfui und ihrer bleichen Trauer zurück ins Leben flohn, in das Geschäft, weg von der Stätte, wo Naturgewalten rauften und wo der Schwarze und der Tod sichs unter sich nun auszumachen hatten.“ Das Wort Pfui rekurriert implizit auf den ersten Teil des Textes und damit auf die kritisierte Praxis der Tabuierung innerer Natur  : im ersten Fall Tabuierung der Lust, im zweiten Fall des Schmerzes. Insgesamt weist der Text somit das Modell auf  : 1. deformierte Kultur, die die Natur deformiert, 2. a) wahre Zivilisation als Gegensatz zur falschen, die von Barbarei durchsetzt ist, b) Eingedenken vs. Verdrängung des naturhaften Leidens. Damit distanziert sich Kraus nicht nur von der rassistischen Verachtung der Schwarzen, die bei deutschen und österreichischen Intellektuellen vorherrschte,290 sondern er transzendiert

einen konservativen Topos dar, der geeignet ist, Herr-Knecht-Verhältnisse zu verklären  ; sie enthält aber auch ein die Tauschgesellschaft transzendierendes Element in der uneigennützigen Hingabe ans Besondere, die keine Gegenleistung fordert. 289 Der Neger, S. 307, alle folgenden Zitate aus diesem Text  : ibid. 290 In komprimierter Form vermittelt einen hilfreichen Forschungsüberblick  : Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 3/1997, Rassismus und Kulturalismus.

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auch die progressive Tradition, Menschen aus anderen Kontinenten in der Figur des „edlen Wilden“ auf ihre Funktion als Projektionsfläche europäischer Wunschbilder zu reduzieren.291 Seine kulturkritische Satire antizipiert eine zentrale Einsicht der Dialektik der Aufklärung  : das zivilisatorische Mimesistabu zeitigt die pathische Projektion, solange sie die Zivilisierten um ihr Lebensglück betrügt wie um die Erkenntnis ihrer Leiden. Umgekehrt gelingt es Kraus, in der satirischen Darstellung der pathischen Projektion die künstlerische Mimesis ans Objekt zu retten. Das Glücksversprechen, das die Sprachkunst der Fackel selbst noch in ihren finstersten Texten bewahrt, besteht darin, dass eine Gesellschaft, die ihr gliche, Mimesis, lustvolle und leidvolle, auf einer höheren Stufe wieder zulassen und so erheblichen Druck von den Menschen nehmen könnte.

291 Zu den verschiedenen Reaktionen auf Hagenbecks „Völkerschaustellungen“ siehe Angelika Jacobs  : ‚Wildnis als ‚Wunschraum‘ westlicher Zivilisation. Zur Kritik des Exotismus in Peter Altenbergs ‚Ashantee‘ und Robert Müllers ‚Tropen‘, Internet-Plattform Kakanien revisited (www.kakanien. ac.at/beitr/fallstudie/AJacobs1.pdf, 30.03.2002).

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Die verfolgende Unschuld (1914–1918) Die letzten Tage der Menschheit und der Erste Weltkrieg

Kraus’ Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit (1919/1922)1 ist ein ebenso gewichtiges wie reichhaltiges Dokument gegen den Autoritarismus. Der Krieg bewirkte eine Wandlung in seiner Kulturkritik, denn an der Kriegspropaganda konnte er ablesen, was die Stunde geschlagen hatte  : den Niedergang der Doppelmonarchie und ihrer Repräsentanten in Aristokratie und Militär, die explosive Gefahr der Konstellation von politischer Rückständigkeit, kapitalistischer Ökonomie und technischem Fortschritt, die dringliche Notwendigkeit einer Befreiung der Menschen aus Abhängigkeit und Unmündigkeit. All diese Erkenntnisse waren in der Fackel nicht völlig neu, sie waren aber in der Zeit unmittelbar vor Kriegsbeginn hinter der sowohl biografisch als auch von Enttäuschung durch die Linke motivierten Sympathie für Konservatismus, Adel und Militär zurückgetreten. Im Verlauf des Krieges knüpft Kraus zunehmend wieder an seine politisch progressiven Tendenzen in der Vergangenheit an, was nicht zuletzt aus Zensurgründen hauptsächlich negativ, durch die destruierende Satire der Herrschenden und der publizistischen Legitimation ihrer Politik geschehen musste. Die strenge Zensur, die andere Kritiker zum Verstummen oder ins Schweizer Exil trieb, bewirkte bei Kraus vermittels dieses erzwungenen Negativismus eine Verfeinerung der satirischen Darstellung, insbesondere des kommentarlosen Zitierens im Rahmen einer vielfältigen Montagetechnik und der immanent aufsprengenden Kritik, die vernichtender wirkte als jede positive Argumentation. Zu dieser modernen Zeitschriften-Ästhetik bildet die des Kriegsdramas ein kongeniales Seitenstück. Ihre Modernität ist genuin anti-autoritär  : Kraus weigert sich, der Geschichte nachträglich einen Sinn zu verleihen und mit ihm Gewalt und 1 Karl Kraus  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog (= Schr. 10), Frankfurt/Main 1986. Das Stück wurde zu einem großen Teil während des Krieges geschrieben  ; einzelne Szenen wurden auch damals bereits in der Fackel veröffentlicht. Vgl. zur Entstehungsgeschichte und zu den verschiedenen Fassungen den Anhang von Christian Wagenknecht.

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Elend zu rechtfertigen, wie es die Neigung der Autoritären zu Aberglaube, Stereotypie und Destruktivität bewirkt  ; er demontiert die von der offiziellen Propaganda verherrlichten „großen Männer“ und mit ihnen jene obsolete bürgerliche Dramatik, die auf der Fallhöhe ihrer Hauptfiguren basiert  ; sein kontrastives Verfahren macht die propagandistisch verdeckten gesellschaftlichen und ideologischen Widersprüche sinnfällig, gerade auch die zwischen der geforderten autoritären Unterwürfigkeit (in Form von Loyalität, Respekt, Ehrenbezeigungen, Schmeichelei) und der Unwürdigkeit, der menschlichen und intellektuellen Niedrigkeit, des Sadismus der Autoritätspersonen  ; die Zerstörung von Sensibilität, Empathievermögen, autonomer Urteilsfähigkeit und Fantasie wird durch die satirische Gestaltung  : Phrasen in Dramenfiguren zu transformieren, dem öffentlichen Abscheu preisgegeben. In der psychologischen Deutung gilt es zu berücksichtigen, dass die Figuren nicht individuiert sind  ; sie demonstrieren den Sprachgebrauch und bestimmte Handlungs- und Gefühlsimpulse, die bei Personen mit autoritären Neigungen häufig vorkommen, aber sie sind eben typologisch stilisierte Larven, weder „Widerspiegelung“ empirischer Personen noch fiktive Träger einer komplexen individuellen Psychologie. Bei den identifizierbaren Figuren besteht allerdings der Anspruch, für die Öffentlichkeit relevante Züge der Person adäquat darzustellen. Das gilt insbesondere für die sogenannten Spitzen der Gesellschaft, deren regierender Teil vom Nörgler in starken Worten geschmäht wird  : Die Spartaner „setzten ihre Kretins auf dem Taygetus aus, während wir sie an die Spitze des Staats und auf die verantwortlichen diplomatischen Posten stellen.“2 Jenseits solcher, in einer auf Thomas Bernhard vorausweisenden Manier weniger auf Argumentation, sondern eher auf das Durchbrechen zementierter Denkgewohnheiten – hier  : die sozial „höher“ Stehenden als Erhabenere zu bewundern – abzielenden Schmähungen kritisiert der Nörgler, wie zu zeigen sein wird, vor allem die Verantwortungslosigkeit der Herrschenden. Der vollständige Titel verweist auf die konventionelle Form des Historiendramas, und transzendiert sie doch schon implizit  : Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Die Menschheit zum dramatischen Subjekt zu machen, widerspricht sowohl der antiken Tragödie als auch dem bürgerlichen Trauerspiel. In seinem Vorwort demontiert der Autor denn auch den Tragödienbegriff. Inhalt des Stücks, heißt es hier, seien die Jahre, „da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten. Die Handlung, in hundert

2 Die letzten Tage der Menschheit, S. 413

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Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene.“3 Von der konventionellen Tragödie bleiben die folgenden Elemente  : die Einteilung in fünf Akte, die Zwangsläufigkeit des verhängnisvollen Geschehens, die Vielzahl der Todesopfer und der Zusammenbruch als Schluss. Rezipienten, die sich nicht damit abfinden mochten, dass die Handlung so „zerklüftet“ und „heldenlos“ sei, wie es in der Dramatik selten vorkommt, haben versucht, in Gestalt des Nörglers oder der Menschheit doch noch einen Tragödienhelden zu finden – dabei besteht gerade in jenen Konventionsbrüchen die verblüffende Modernität des Stücks. Obwohl beide Thesen auf Äußerungen in der Fackel sich stützen können, sind sie wissenschaftlich nicht haltbar. Denn Karl Kraus legt seinen Bemerkungen einen alltagssprachlichen Begriff des Tragischen zugrunde, während im präzisen dramentheoretischen Sinn weder der Nörgler noch die Menschheit als Tragödienhelden infrage kommen  : der Nörgler nicht, weil er nur als Kommentator, aber nicht als Handelnder eine Rolle spielt, und die Menschheit nicht, weil sie sich in der bisherigen Geschichte noch gar nicht zum Subjekt konstituiert hat, sondern so „zerklüftet“, so antagonistisch ist wie ihre Handlungen.4 Von dieser Zerfallenheit der Gattung Mensch sind auch die einzelnen Menschen in ihrer Subjektivität beschädigt. Bereits Philip Thompson weist darauf hin, dass dieser Dramaturgie die Funktion zukommt, „eine verlorene und wahnsinnig gewordene Zivilisation als Chaos darzustellen“,5 dieses Chaos indessen vermittels der Sprach- und Gesellschaftskritik auch zu analysieren, zu deuten und zu entlarven.6 Das Stück führt eine Gesellschaft vor, die sich selbst nicht begreift, in der selbst die Herrschenden das, was sie anrichten, nicht „gewollt“ haben, aber auch den Beherrschten ihr eigenes Reden und Handeln fremd, disparat, undurchschaubar ist und die Mechanismen, nach denen sich das Geschehen vollzieht, im Dunkeln bleiben. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass das Drama einen sehr markanten, im Brechtischen Sinne „realistischen“ Schluss besitzt  : Die Szene V,55 verweist auf das Kriegsende, klagt noch einmal die 3 L.c., S. 9 4 Bereits Kurt Krolop vertritt die Auffassung, der Untertitel sei „nicht als Klassifizierung einer dramatischen Spezies“, sondern als Metapher für den Untergang der Menschheit zu verstehen. (K. Krolop  : Genesis und Geltung eines Warnstücks, in  : ders.: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Berlin 1987, S. 65–154, Zitat S. 65). 5 Philip Thompson  : Weltkrieg als tragische Satire  : Karl Kraus und ‚Die letzten Tage der Menschheit‘, in  : Bernd Hüppauf (Hg.)  : Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein/Ts. 1984, S. 205–220, Zitat S. 210 6 L.c., S. 213

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Täter an und mahnt zum bleibenden Eingedenken der Leiden und der Opfer. Erst im Epilog, der Letzten Nacht, wird ein metaphysischer Schluss imaginiert  : Der Mars zerstört die Erde, um die kosmische Harmonie wiederherzustellen. Weil auszuschließen ist, dass Kraus damit eine polytheistische Religion wiederbeleben wollte, kann dieses Ende nur als Allegorie für die drohende Selbstzerstörung der Menschheit gedeutet werden. Hingegen ertönt nach der Zerstörung der Menschheit, am Ende des Epilogs (und nur dort) die Stimme Gottes mit den Worten „Ich habe es nicht gewollt“.7 Dieser Gott, der Gott der Bibel, bedauert mithin die Katastrophe, in die seine Geschöpfe sich manövriert haben. Indem Kraus hier einen Ausspruch Kaiser Wilhelms II. zitiert, der den von ihm maßgeblich initiierten Weltkrieg „nicht gewollt“ habe, wird die Emphase der Trauer um die verlorene Schöpfung, wie so oft bei Kraus, satirisch gebrochen, und zugleich werden die zitierten Worte durch die neue Verwendung „rehabilitiert“. Anstatt als Ausrede der Verantwortungslosigkeit herzuhalten, erinnern sie im neuen Kontext an die Verpflichtung der Menschheit, Krieg, Hass, Elend, Naturzerstörung und Sprachschändung zu beenden, um ein im Krausschen Sinne „gottgefälliges“, nämlich menschenwürdiges Leben zu führen. Es gelingt auf diese Weise literarisch, was Adorno am Schluss der Minima Moralia für die Philosophie postuliert  : Perspektiven herzustellen, in denen die entstellte Welt „sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart“, damit „die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt.“8 Die Kraussche Sprachkunst reagiert mit Pathos und satirischem Witz auf eine Verschränkung des Katastrophischen mit dem Unernsten, das sie in den Repräsentanten der Gesellschaft vorfindet. So stellt der Nörgler die rhetorische Frage  : „Und spürtet [ihr] nicht, wie die Tragödie eine Posse wurde, durch die Gleichzeitigkeit neuen Unwesens und alten Formenwahns eine Operette, eine jener ekelhaften Operetten, deren Text eine Insulte ist und deren Musik eine Tortur  ?“9 Die Tragödie der Menschheit, von der Kraus im Vorwort spricht, ist die Katastrophe derer, die sich, soweit sie in Deutschland oder Ös7 L.c., S. 770, im Original gesperrt 8 Theodor W. Adorno  : Minima Moralia, Frankfurt/Main 1951, S. 334. Zwar ist dieses Postulat bei Adorno messianisch konnotiert, während die Kraussche Perspektive apokalyptisch ist  ; eine jeweils radikal negative und dialektische Konzeption verbindet sie aber und legt überdies eine säkularisierte Lesart nahe, für die jener Gegensatz irrelevant wird. Auch Christopher Thornhill hebt diese Gemeinsamkeiten (hervor (C.T.: Walter Benjamin und Karl Kraus  : Problems of a ‚Wahlverwandtschaft‘. Stuttgart 1996, Kapitel 3 und 4, insbesondere S. 143–145 u. S. 146–149). 9 Die letzten Tage der Menschheit, S. 675

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terreich beheimatet sind, von Lemuren, Renngigerln, Feschaks, Barbaren und Kretins10 in die Katastrophe führen lassen. Paradigmatisch für jene ekelhaften Operetten, in denen die Gesellschaft sich wiederfindet, ist für Kraus die Lustige Witwe, die die Menschheit zu Grabe trägt. Dagegen sind in seine eigene Dramaturgie Elemente der satirischen Operetten Jacques Offenbachs und der Possen Johann Nestroys eingegangen  : Couplets, in denen sich die Figuren selbst entlarven, operettenhaft variierte Dialoge und andere sprachliche Variationen, die die omnipräsenten Phrasen ad absurdum führen, wobei auch klangliche und rhythmische Faktoren relevant sind. Eine andere Charakteristik jener Verschränkung von Ernst und Unernst findet sich in Kraus’ Wort von den „Masken des tragischen Karnevals“.11 Dazu mag ihn die Beobachtung inspiriert haben, dass die strategische Verwendung von Massenvernichtungsmitteln wie Giftgas und Bomben sprachlich als Ritterturnier verkleidet erschien, in dem beständig das Schwert gezogen und das Schild vorgehalten wurde. Darüber hinaus lässt sich indessen ein Zusammenhang mit dem oben zitierten Wort von den Operettenfiguren, die die Tragödie spielen, konstatieren  : Im Karneval verkleidet man sich nicht nur, sondern man spielt auch fremde Rollen, darf dabei im Übermut die sonst üblichen Verhaltensregeln durchaus brechen, was man umso lieber tut, als man sich häufig im Rausch befindet. Deshalb ist der Karneval eine Metapher für den Krieg, die Zeit nach dem Krieg bezeichnet Kraus im Vorwort folgerichtig als Aschermittwoch. Adorno hat das zu der Erkenntnis verallgemeinert, dass Geschichte überhaupt eher gespielt als gemacht wird, auch und gerade von den Regierenden.12 Solidarisch ist das Stück mit den Opfern des Krieges und mit allen, die sich der aggressionsgeladenen Kriegshysterie verweigern  : Das sind die in diesem Krieg massenhaft eingesetzten Tiere, unter Misshandlung und Unterernährung leidende Kinder, verzweifelte Frauen, ausgebeutete Arbeiter sowie zwangsrekrutierte und misshandelte Soldaten. Aktive Kriegsgegner, z. B. streikende Arbeiter, linke Publizisten oder protestierende Intellektuelle, haben in dem strikt negativen Stück keinen Platz  ; sie werden nur indirekt durch ihre Ausscheidung aus der Satire und durch die implizite sprachliche Desavouierung ihrer Diffamierung in den Dialogen geehrt. Stattdessen enthalten Die letzten Tage der Menschheit eindringliche Bilder dessen, was der Mensch nicht 10 Vgl. exemplarisch  : Die letzten Tage der Menschheit, S. 409, S. 413, S. 505f., S. 639. 11 L.c., S. 9 12 Theodor W. Adorno  : Offener Brief an Rolf Hochhuth, in  : Noten zur Literatur, S. 591–598, hier S. 594.

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sein soll  : ein hasserfülltes, ein demütigendes oder gedemütigtes, ein entmündigtes Wesen, ohne Bewusstsein seiner selbst und seiner Handlungen. Bevor das in diesem Kapitel ausführlich am Stück belegt wird, sei hier ein kleines Beispiel aus dem Nachruf auf die k.k. Monarchie angeführt  : Dort hält Kraus der ideologischen Behauptung des Erzherzogs Friedrich, der Traum jedes einfachen Soldaten sei doch der Marschallstab, die Frage entgegen, „ob er [der Traum] in einem dieser Erdäpfeltornister Platz hätte, an die angebunden solch ein armes, verschmutztes, verquältes Stück Mensch die große Zeit durchkeucht.“13 Solche Bilder können die politische Analyse nicht ersetzen, aber in wirksamer Weise ergänzen und unterstützen, indem sie Bewusstseinsschichten erreichen, in denen Autonomie, Menschenwürde und Vernunft nicht als Ideale oder gar Schlagworte, sondern als impulsive Bedürfnisse erfahren werden. Deshalb verwundert es auch nicht, dass in diesem Punkt eine Übereinstimmung mit dem „kategorischen Imperativ“ von Karl Marx festzustellen ist, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.14 Einig ist Kraus mit Marx auch darin, neben der Monarchie den Kapitalismus als maßgeblichen Teilbereich der „umzuwerfenden“ Verhältnisse zu bestimmen  ; allerdings erscheint er bei Kraus als Folge (und nicht als Ursache) einer verfehlten „Geistesformation“. In seiner Neigung, den Kapitalismus häufiger in jüdischen Figuren zu personifizieren und dabei auf die antisemitischen Klischees der christlichen Umwelt zurückzugreifen, geht Kraus allerdings noch weit über Marx hinaus. Wie gezeigt wurde, bestand diese Tendenz schon seit Beginn der Fackel, sie eskaliert aber im Krieg wie nie zuvor und nie danach, was mit der verschärften Kapitalismuskritik und mit der verschärften Feindschaft zu Moriz Benedikt, dem patriotischen Herausgeber der Neuen Freien Presse, zu erklären, aber nicht zu entschuldigen ist. Die Stellen, an denen Kraus die Profitgier als spezifisch jüdische Eigenschaft darstellt – ganz im Gegensatz zu früheren Äußerungen – sind de facto antisemitisch und durch nichts zu legitimieren. Dass Kraus neben vielen christlichen überhaupt auch jüdische Repräsentanten des Bürgertums in seine Darstellung einbezieht, ist dagegen nicht von vorneherein als antisemitisch zu werten, vor allem in Anbetracht des Umstands, dass die abstoßendsten Scheusale des Figurenpersonals ausnahmslos Nichtjuden sind. Zu einem großen Teil fungieren die jüdischen Figuren als Repräsentanten des liberalen Wiener Bürgertums, und die Kritik trifft dieses als Ganzes. Ins13 Karl Kraus  : Nachruf, in  : WG II, S. 184–291. 14 Karl Marx  : Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In  : MEW, Bd.1, S. 385

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besondere ist an der bestürzenden Kriegspropaganda der Journalistin Alice Schalek nichts spezifisch Jüdisches (übrigens auch nichts spezifisch Weibliches) erkennbar, vielmehr artikulieren sie die herrschende Ideologie der Kriegsverherrlichung. In der für das Thema der vorliegenden Studie relevantesten Schalek-Szene ist ihre Konfession auch für die Kraussche Darstellung ohne Belang. Um die aus den Artikeln extrahierte Dramenfigur von der empirischen Person zu unterscheiden, wird hier jene, dem Sprachgebrauch der Fackel entsprechend, als „die Schalek“ bezeichnet. – Immerhin zeigen einige Szenen, wie im Zuge der gesteigerten Aggressionen der Antisemitismus bedrohlich und oft ganz unvermittelt hervorbricht. Insgesamt setzt sich im Stück das seltsame Nebeneinander von instruktiven Darstellungen des Antisemitismus und antisemitischen Elementen bei Kraus selbst (sowie einigen neutralen oder mehrdeutigen Elementen15) aus der Fackel fort. Eine weitere Schwäche der Konzeption besteht in der Figur des Nörglers. Da er als einzige Figur den Negativismus des Stücks durchbricht und als Dramenfigur an dem Stück arbeitet, in dem er sich paradoxerweise schon bewegt und das er kommentiert, erhält er eine Rolle, die er nicht ausfüllen kann  : die des Wissenden, der die Zusammenhänge durchschaut und als Einziger souverän analysieren kann. Gerade dazu ist er in Ermangelung wissenschaftlicher und politischer Kenntnisse nicht in der Lage. Was in der Fackel akzeptabel erscheint  : die Begrenzung der Kritik auf ein klar umrissenes Feld, das Arrangement eines Materials, zu dessen Deutung über die Hilfestellung des Autors hinaus noch andere Publikationen herangezogen werden sollen, das funkti15 So kann der Anfangsdialog der ersten Szene („Gottlob kein Jud“ [nämlich der Attentäter] – „Komm nach Haus“, Vorspiel,1) als egoistische Fixierung aufs Partikularinteresse oder als ahnungsvolle Antizipation der Entfesselung blinden Hasses im antisemitischen Lager gedeutet werden. Eine dritte Deutung, wahrscheinlich die angemessenste, wäre eine Kombination aus beiden  : die Aggressivität der Diskriminierung durch die Majorität zwingt den Diskriminierten jene reflexhafte Reaktion auf, die noch heute beispielsweise nach Attentaten in den USA Minoritätenangehörige öffentlich aufatmen lässt, wenn sich herausstellt, dass der Täter keiner der Ihren war. – Auch ist in der Metapher der Jagd nicht ganz ersichtlich, ob Kraus noch an seiner Vorkriegsansicht festhält, die jüdischen „Hirsche“ seien (als Journalisten) zu Jägern geworden oder ob er sich bereits zu der Nachkriegsauffassung durchgerungen hat, in ihnen die prädestinierten Opfer derer zu sehen, denen die Menschenjagd zur zweiten Natur geworden ist. Vgl. dazu die Szenen II,14 und II,15 (die „Jagdgesellschaft“ und der „Hirsch“) mit Szene III,11 (Die Cherusker in Krems) sowie mit F 303, S. 12f. (der Hirsch als Jäger) und F 608, S. 15–17 (Bravo Wowes  !). In jedem Fall gilt es zu beachten, dass die journalistische „Jagd“ auf Prominente und Mächtige auf einem anderen zivilisatorischen Niveau angesiedelt ist als die gewalttätige Verfolgung der jüdischen oder ausländischen „Feinde“.

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oniert aus den eben genannten Gründen in den Letzten Tage der Menschheit nicht. Dennoch äußert der Nörgler viele Gedanken, die für die Deutung der anderen Szenen von Nutzen sind und deshalb auch hier herangezogen werden. So thematisiert der Schlussmonolog des Nörglers in der vorletzten Szene (V,54) selbstreferenziell die Beendigung des Stücks  : „Ich habe die Tragödie, die in die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfällt, auf mich genommen, damit sie der Geist höre, der sich der Opfer erbarmt […]“.16 Mit diesen Worten weist er auf das Vorwort des Autors zurück, in dem die Handlung als zerklüftet bezeichnet wurde. Während die herrschende Ideologie gerade in dieser Zeit von Einheitsmythen durchdrungen ist, betont der Nörgler den Zerfall und legt ihn seiner Dramaturgie zugrunde. Selbstzerstörerisch ist demnach die Menschheit, weil sie sich selbst in Nationen, Klassen und imaginäre „Rassen“ zerschlägt und dies Auseinanderfallen durch stets ins Pathologische tendierende Einheitsmythen kompensiert, anstatt die einzig wünschenswerte Einheit, die der Gattung Mensch, zu verwirklichen. Ein großer Teil der Szenen basiert auf dem folgenden Quellenmaterial  : Zeitungsartikel aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, zufällig erlauschte Gespräche sowie solche, an denen Karl Kraus selbst beteiligt war, Mitteilungen von Freunden und Freundinnen, Briefe, Plakate, Memoiren. Da viele dieser Quellen von der bisherigen Forschung schon akribisch nachgewiesen wurden, muss es an dieser Stelle nicht noch einmal geschehen.17 Hervorzuheben ist indessen Kraus’ spezifische Form von Realismus18  : Er zeigt die Welt in ihrer vollendeten Negativität, wobei die kritisch-negatorische Welterkenntnis im Drama die Ver16 Die letzten Tage der Menschheit, S. 681 17 Die wichtigsten Quellennachweise sind in der folgenden Forschungsliteratur enthalten (eine vollständige Auflistung ist hier nicht intendiert)  : Eckart Früh  : Die „Arbeiter-Zeitung“ als Quelle der „Letzten Tage der Menschheit“, in  : Karl Kraus in neuer Sicht, S. 209–234  ; Kurt Krolop  : Genesis und Geltung eines Warnstücks  ; Kraus-Hefte, siehe Register in Kraus-Heft Nr.71/72, Oktober 1994, hier S. 37  ; Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte, hg. v. Klaus Amann u. Hubert Lengauer, Wien 1989. Der zuletzt genannte Sammelband dokumentiert und analysiert – abgesehen von einzelnen Quellennachweisen – umfassend das literarische Leben in Österreich während des ersten Weltkriegs sowie die „literarische und ideologische Aufrüstung“ davor und literarische Verarbeitungen der Kriegserfahrungen danach. Aufschlussreich im Hinblick auf die nationalistische und militaristische Ideologie der deutschen Intellektuellen sind als Quellenmaterial darüber hinaus die Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, hg. v. Klaus Böhme, Stuttgart 1975. 18 In seinem oben zitierten Aufsatz bezeichnet Thompson Kraus als einen „Realisten“ (Weltkrieg als tragische Satire, S. 211) und hebt hervor, dass dem von ihm entworfenen „Bild einer grotesken Welt“ (S. 210) ein aufklärerischer und kritischer Anspruch inhärent ist (S. 213).

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wendung fantastischer, surrealer, allegorischer Darstellungsformen keineswegs ausschließt. Tatsächlich sind die Formen satirischer Mimesis unerschöpflich. In seinem Vorwort charakterisiert Kraus die Verbindung von dokumentarischem Material und ästhetischer Stilisierung so  : „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen  ; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden  ; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur  ; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel  ; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt  ; Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines. Tonfälle rasen und rasseln durch die Zeit und schwellen zum Choral der unheiligen Handlung.“19 Damit ist die Intention verknüpft, der Gesellschaft, die bei Kraus als „bewusstlose Gesellschaft“ kenntlich ist, lange bevor Adorno diesen Begriff prägen wird,20 die Konsequenzen ihrer alltäglichen (Sprach-) Handlungen vor Augen zu führen. Während es den Akteuren am Bewusstsein ihrer selbst mangelt, erscheint das Geschehen als blutiger Albtraum des Autors bzw. des Nörglers. Im Vorwort vermutet Kraus, „Theatergänger dieser Welt“ vermöchten einer Aufführung nicht standzuhalten, denn „es ist Blut von ihrem Blute und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten“.21 Der erkenntnisfördernde Traum erscheint mithin „realistischer“ als die unbegriffene, der Erfahrung inkommensurable Realität selbst. Christian Wagenknecht weist darauf hin, dass das Stück zunächst den Untertitel Ein Angsttraum (statt Tragödie etc.) tragen sollte.22 Dieses Motiv ist in dem folgenden, wohl bewusst rätselhaften Dialog aufbewahrt  : Der optimist  : Sie sind ein Optimist. Sie glauben und hoffen, daß die Welt untergeht. Der Nörgler  : Nein, sie verläuft nur wie mein Angsttraum, und wenn ich sterbe, ist alles vorbei. Schlafen Sie wohl  !23

19 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 6071f. (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 9)] 20 Theodor W. Adorno  : Negative Dialektik, S. 341, S. 349 21 Die letzten Tage der Menschheit, S.9 22 L.c., Anhang, S. 776f. 23 Die letzten Tage der Menschheit, S. 225

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Im bereits zitierten Schlussmonolog erscheint dem Nörgler der durch sein Stück überlieferte „Grundton dieser Zeit“ als „Echo“ seines „blutigen Wahnsinns“.24 Die beiden korrespondierenden Textstellen lassen sich als subjektiven Idealismus oder Mystizismus des Nörglers deuten, und es wurde auch versucht, Karl Kraus aufgrund vergleichbarer Äußerungen in der Fackel eine solche Haltung zuzuweisen  ; doch den Status eines philosophischen Theorems haben sie dort nie angenommen (und die häufige Betonung der Diskrepanz zwischen der hässlichen gesellschaftlichen Realität und einer sie idealisierenden Ideologie steht einer solchen Deutung ebenso wie einer etwaigen konstruktivistischen entgegen). In den jeweiligen „Träumen“ manifestieren sich jedenfalls die verschiedenen Perspektiven, in denen die Epoche des Weltkriegs wahrgenommen wird  : Der ironische Gruß  : „Schlafen Sie wohl  !“, den der Nörgler an den Optimisten richtet, verweist auf dessen idealisierende Sicht der Dinge, und vom späteren Kaiser Karl I., dem Großneffen Franz Josephs, heißt es an anderer Stelle (in Anspielung auf seine Vorliebe für eine bekannte Operette), ihm vergehe die Zeit wie ein „Walzertraum“.25 Der Walzertraum ist nach dem Krieg zerplatzt, doch der idealisierende wirkt noch fort, und ihm setzt Kraus sein Stück wie auch seine anderen Schriften entgegen.

Im Rausch der „großen Zeit“ Die Erkenntnis des phrasenhaften Sprachgebrauchs als Emanation falschen Bewusstseins half Karl Kraus, vom Anbeginn des Krieges auf Distanz zu gehen, während politisch versiertere Zeitgenossen – vor allem in den ersten beiden Kriegsjahren – von den tönenden Parolen sich mitreißen ließen. Im kritisierten Sprachgebrauch erkennt der Satiriker die Begriffslosigkeit des Handelns und damit die Entfremdung der Menschheit von ihrer eigenen Geschichte. Indem er die Kriegsjahre als Albtraum beschreibt, trägt er einem Geschehen Rechnung, das sich durch seine Inkommensurabilität der individuellen Erfahrung entzieht. Die Suspension bewusster Urteilsbildung durch Phrasen, die vom nationalen Kollektiv unreflektiert übernommen werden, korrespondiert der Beeinträchtigung der Vorstellungskraft und der Unfähigkeit zu spontaner emotionaler Reaktion. Während unzählige Dialoge in den Letzten Tage der Menschheit diesen Vorgang szenisch demonstrieren, wird er 24 L.c., S. 681 25 L.c., S. 411, vgl. S. 637

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von der Figur des Nörglers explizit kommentiert. Der Satire kommt in beiden Fällen die Funktion zu, die Kontraste zu schärfen  : zwischen Vernunftanspruch und irrationaler Propaganda, zwischen dem Selbstbild als Kulturnation und der Eskalation von Hass und Gewalt, zwischen der idealisierenden Darstellung des Militärs und seiner realen Verfassung. Helmut Arntzen zeigt anhand von Szenen aus dem Vorspiel und dem ersten Akt, wie die von Kraus in seiner Rede In dieser großen Zeit 26 diagnostizierte Deformation der Wahrnehmung durch die Presse in der Dramaturgie der Dialoge sich manifestiert. Wenn er allerdings seine These dahingehend zuspitzt, der Dialog reduziere sich auf Reaktionen „auf ein Ereignis, das nur noch als sensationelle Zeitungsmeldung rezipiert wird“,27 so scheint in dieser Radikalisierung paradoxerweise eine Verharmlosung zu liegen  : Tatsächlich nehmen die Figuren die Ereignisse zwar durch den Filter der journalistisch kolportierten Phrasen wahr, aber die ebenfalls geschilderten Aggressionsausbrüche belegen, dass diese Phraseologie bereits vorhandenen psychischen Deformationen der Rezipienten korrespondiert, die nun aktualisiert und – weit über eine „augenblickhafte[n] Nervenerregung“28 hinaus – in autoritäre Handlungsbereitschaft transformiert werden. Instruktiv ist trotz Arntzens monokausaler Erklärung der Genese des Untergangs aus der Deformation der Sprache sein Nachweis, dass die Letzten Tage der Menschheit aus dem Grund nur mehr eine „Hohlform des dramatischen Dialogs“ präsentieren, weil dem Stück die Diagnose der Fatalität öffentlicher Rede auf der Schwundstufe „geschwätzige[r] Sprachlosigkeit“ zugrunde liegt.29 Mithin gilt es nun zu untersuchen, in welchem Verhältnis dieser Sprachverlust zu autoritären Haltungen steht. Da sind zuallererst die Parolen, die den Hass auf die Feinde und den eigenen Patriotismus bekräftigen. Indem sie die Menschheit in nationale Kollektive einteilt, deren Bündnisse sich als „Freund“ und „Feind“ gegenüberstehen, ersparen sie das Nachdenken über Interessengegensätze innerhalb der Nation und verdrängen die Reflexion der Fehler, die die verschiedenen Instanzen im eigenen Land begangen haben. Ästhetisch setzt Kraus diesen Kollektivwahnsinn dadurch in Szene, dass er immer wieder Gruppen von Passanten

26 Sie ist am 19.11.1914 gehalten und am 5.12.1914 als eigenes Fackelheft (F 404) publiziert worden. 27 Helmut Arntzen  : Einige Dialogstrukturen in Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“. In  : Sprachspiel und Bedeutung, hg. v. S. Beckmann, P. König und G. Wolf. Tübingen 2000, S. 427–437, Zitat S. 431 28 L.c., S. 432 29 L.c., S. 437

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die einschlägigen Parolen skandieren oder singen lässt, so z. B. in I,1  : „Die Russen und die Serben / die hauen wir zu Scherben  !“30 In derselben Szene wird auch die Einübung des nationalen Kollektivs in die Parolen der Zeit vorgeführt. Noch kennt nicht jeder die Codewörter, mit denen die Bevölkerung sich auf den Krieg einstimmt, doch schon bald werden alle wie auf Knopfdruck das passende ausspucken  : Serbien – muss sterbien, Jeder Russ’ – ein Schuss, Jeder Franzos’ – ein Stoß, Jeder Britt’ – an Tritt.31 Der Wiener, der hier die Menge lehrt, jeden „Feind“ mit einem bestimmten Gewaltakt zu bedenken, ist freilich selbst so alkoholisiert, dass ihm die Wiedergabe der eintrainierten Phrasen nicht immer gelingt. In seiner berühmten Ansprache von einer Bank wirft er nicht nur alles durcheinander, sondern die Katastrophe der Phrasen, wie Kraus diesen Vorgang nennt, verrät auch wider den Willen des Sprechers, was es mit ihnen auf sich hat. So wird aus dem „heiligen Verteidigungskrieg“ der Mittelmächte ein „heiliger Verteilungskrieg“, der den wirklichen Kriegsgründen schon sehr viel näher kommt. Wenn der Betrunkene für seine Forderung nationaler Solidarität und Opferbereitschaft das Bild findet, „ein jeder“ der Zuhörer solle „zusammenstehn wie ein Mann“, so plaudert er versehentlich den Widerspruch zwischen dem falschen Schein einer nationalen Interessengemeinschaft und der realen Verfassung einer Gesellschaft, die auf die egoistische Verfolgung der Partikularinteressen aufgebaut ist, aus (ein Pendant dazu findet sich in V,55, wo ein ebenfalls alkoholisierter und deshalb zur Artikulation des z-Lautes nur mehr bedingt fähiger General ausruft  : „Was uns nottut – ist Selbstsucht  !“32). Der Nörgler wird den Aspekt des falschen Gemeinschaftsbewusstseins, nach Adorno  : das Interesse des Ganzen gegen das Ganze wahrnehmend,33 in der vorletzten Szene dieses ersten Akts, im Kontext der Fantasieabtötung auf den Punkt bringen  : „Die sich selbst verschlingende Quantität läßt nur noch Gefühl für das, was einem selbst und etwa dem räumlich nächsten zustößt, was man unmittelbar sehen, begreifen, betasten kann. Ist es denn nicht spürbar, wie aus diesem ganzen Ensemble, in dem mangels eines Helden jeder einer ist, sich jeder mit seinem Einzelschick30 Die letzten Tage der Menschheit, S. 79 31 In einer späteren Szene (IV,7  : Ärzteversammlung in Berlin) unterbrechen die Zuhörer den Redner mit Zwischenrufen, um auf das Stichwort vom Verteidigungskrieg, den britischer Neid, französischer Revanchedurst und russische Raubgier Deutschland aufgezwungen habe, die ihnen bekannten Varianten und Ergänzungen zum Besten zu geben (l.c., S. 443). 32 L.c., S. 685 33 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, in  : GS 11, S. 372. Adornos Diktum bezieht sich nicht auf den Nörgler, sondern auf Karl Kraus selbst.

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sal davonschleicht  ? Nie war bei größerer Entfaltung weniger Gemeinschaft als jetzt.“34. Doch das nationale Delirium hindert die Menschheit daran, ihre eigenen (persönlichen und kollektiven) Interessen zu erkennen. Dieser Aspekt einer Benebelung der Gehirne wird dadurch hervorgehoben, dass nationalistische Phrasen immer wieder von Betrunkenen gelallt werden und bei diesen Sprechern, trotz mancher Verunglückung, viel passender wirken als bei nüchternen Zeitgenossen, in deren Dialogen das standardisierte Denken sich nur mehr grotesk ausnimmt. Musterbeispiel grenzdebiler Dialoge ist insbesondere der standardisierte Phrasenaustausch der vier Offiziere, die jeweils in der ersten Szene eines Aktes an der Sirk-Ecke zusammentreffen und dabei neben den gerade aktuellen patriotischen Parolen auf geringem Raum ein umfassendes Sittenbild bieten, das sich aus Sprachschändung, Frauenverachtung, Vorliebe für einen depravierten Kulturbetrieb, Selbstüberschätzung und Geringschätzung verarmter Kriegsinvaliden zusammensetzt.35 Aber auch die durchschnittlich gescheiten und zurechnungsfähigen Figuren verraten in ihrer Sprache den Wahn, von dem sie ergriffen sind  : Im unpassenden Gebrauch des Adverbs rasend gibt er sich noch auf harmlose Weise zu erkennen, im folgenden Dialog ahmen die Interjektionen schon die Gewaltakte nach, an denen die Sprecher sich berauschen  : Erster Vertreter der Reichspost  : Wenn jetzt die Offensive kommt, dann paß auf – rrtsch obidraht  ! Zweiter Vertreter der Reichspost  : Und nacher mit die Juden – ramatama  ! (Ab.)36

Wie wenig die militaristischen, antisemitischen und monarchistischen Phrasen der beiden Reichspostverehrer noch mit bewusstem Denken zu tun haben, in welchem Grade sie vielmehr als erstarrte Meinungsrudimente unreflektiert reproduziert werden, zeigt die Szene V,46  : Dort sprechen dieselben Figuren ihren Text nur mehr zusammenhanglos aus dem Schlaf. Den Letzten Tagen der Menschheit, aber auch der Fackel, ist das psychologisch-ideologische Syndrom zu entnehmen, das die Menschen zur unreflektierten Übernahme gerade dieser Ideologie disponiert  : der schlecht rationalisierte Atavismus, die Menschen 34 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 6428 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 209)] 35 Die letzten Tage der Menschheit, S. 45–47, S. 70f., S. 232f., S. 323f., S. 425f., S. 553f. 36 L.c., S. 428

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in Freund und Feind, Sieger und Besiegte einzuteilen und der Wunsch, zu den Siegern zu gehören.37 Eine zentrale Instanz für die Standardisierung des Sprachgebrauchs und die Zerstörung der Urteilskraft ist die Presse, genauer gesagt  : die bürgerliche Presse (denn die sozialistische bildet keinen Gegenstand des Dramas). Ihre aus Fertigteilen zusammengesetzte Sprache zerstört die Fantasie, die Fähigkeit, sich das Gesagte auch vorzustellen, und damit die Verantwortung für das Wort. Dadurch leistet sie der Entmündigung der Öffentlichkeit Vorschub und macht den Weg für autoritäre Einstellungen frei. Noch vor allem Inhalt hat sie auf diese Weise teil an der Entwicklung hin zum autoritären Staat. Dabei müssen die einzelnen Journalisten und ihre Bewunderer keineswegs selbst schon ein autoritäres Charaktersyndrom aufweisen  ; ihre subjektive Psychologie und ihre Intentionen spielen eine untergeordnete Rolle. Das zeigt sich gerade an der liberalen Presse, die Humanität und Vernunft propagiert und doch einer entgegengesetzten Politik zuarbeitet. In den Letzten Tagen der Menschheit bemühen sich treue Zeitungsleser (der Abonnent und der Patriot, der alte Biach und der kaiserliche Rat, ein alter Abonnent der Neuen Freien Presse und ihr ältester, schließlich auf konservativer Seite die beiden Reichspostverehrer) im Dialog miteinander immer wieder vergeblich, die von ihnen adaptierten Phrasen in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Die Pseudostimmigkeit, zu der sie stets gelangen, stellt ihre einzige Denkleistung dar, ohne dass sie noch ein Bewusstsein dessen besäßen, was sie da reproduzieren.38 Deshalb klagt der 37 Wie die Erobererpose im Alltag zur Geltung kommt, zeigt z. B. die Glosse Zuhause, in  : F 454, S. 16f., die nicht nur als Kritik der deutschösterreichischen Kultur, sondern auch als Kritik des autoritären Charakters zu deuten ist. 38 Befremdlich ist es deshalb, dass Emil Sander unter dem Zwischentitel „Autoritäre Charaktere“ ausgerechnet den Abonnenten und den Patrioten behandelt. Ein ausgeprägt autoritärer Charakter steht nicht vor dem Problem, logische Stimmigkeit herstellen zu müssen (und noch weniger liefe er Gefahr, wie die von Sander ebenfalls erwähnte Figur des alten Biach an Satzverschlingung zu sterben), weil er die Artikulation seiner affektiv besetzten Meinungen gerade dann genießt, wenn er sich durch die aggressive Abwehr aller auf Logik rekurrierenden Gegenargumente einer Machtposition (oder zumindest der Identifikation mit der Machtposition der Meinungsführer) versichern kann. Unzählige Dialoge aus der militärischen wie aus der zivilen Sphäre machen das deutlich und hätten sich deshalb in psychologischer Hinsicht eher angeboten. Zuzustimmen ist Sander nur insofern, als Anpassungsdruck, Unmündigkeit, der Verlust der Urteilskraft und die Projektivität der Kriegspropaganda zur allgemeinen Problematik des autoritären Charakters gehören (vgl. Emil Sander  : Gesellschaftliche Struktur und literarischer Ausdruck. Über „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. Königstein/Ts. 1979, S. 160–164).

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Nörgler  : „Hätte man statt der Zeitung Phantasie, so wäre Technik nicht das Mittel zur Erschwerung des Lebens und Wissenschaft ginge nicht auf dessen Vernichtung aus. Ach, der Heldentod schwebt in einer Gaswolke und unser Erlebnis ist im Bericht abgebunden  ! 40.000 russische Leichen, die am Drahtverhau verzuckt sind, waren nur eine Extraausgabe.“39 Er zeigt sich überzeugt davon, dass die Menschheit sich weigern würde, in den Krieg zu ziehen, wenn sie eine Vorstellung von seinen Gräueln hätte, anstatt der Suggestivkraft ihrer Presse zu erliegen.40 In diesem Kontext sind Metaphern wie die folgende zu sehen  : „Papier brennt und hat die Welt entzündet. Zeitungsblätter haben zum Unterzünden des Weltbrands gedient.“41 Der Nörgler überhöht den rationalen Kern dieser weitsichtigen Pressekritik allerdings durch religiöse Motive und bereitet so die Dämonisierung Moriz Benedikts im Epilog, der Letzten Nacht, vor. Diese merkwürdige Verschränkung von Ratio und Religion findet sich insbesondere in einer Passage, in der er vermittels der „Einschöpfung“ von Zitaten aus der Apokalypse die Presse als die große Hure von Babylon mythologisiert, wozu die differenzierte Benennung ihrer Mitverantwortung für den Krieg in einem evidenten Spannungsverhältnis steht  : „Nicht daß die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte – aber daß sie unser Herz ausgehöhlt hat, uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das wäre  : das ist ihre Kriegsschuld  !“42 Speziell im Hinblick auf die Idealisierung des Krieges fällt dem Nörgler eine Diskrepanz zwischen der neuen Kriegstechnik (Chlorgas, U-Boote etc.) und den weiterverwendeten alten Begriffen (Heldentum, Glorie, das Schwert ziehen) auf  : Der Optimist  : Die Entwicklung der Waffe bis zu Gas, Tank, Unterseeboot und 120 Kilometer-Kanone hat es so weit gebracht – Der Nörgler  : – daß die Armee wegen Feigheit vor dem Feind aus dem Armeeverband zu entlassen wäre. Aus dem militärischen Ehrbegriff heraus müßte die Welt für alle Zeit zum Frieden gelangen. Denn was die Eingebung eines Chemikers, die doch schon die Wissenschaft entehrt, mit der Tapferkeit zu tun haben soll und wie 39 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 6427f. (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 209)] . In der darauf folgenden Schluss-Szene des Akts (I,30) wird die Reduktion der 40.000 Toten auf eine Extraausgabe vermittels der Montage mit einem Operettenlied („Sterngucker – Sterngucker – nimm dich in Acht –“, S. 225) indirekt zur Motivation der Rache aus dem Weltall, die am Schluss des Epilogs erfolgt. 40 Die letzten Tage der Menschheit, S. 208 41 L.c., S. 257 42 L.c., S. 677

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der Schlachtenruhm sich einer chlorreichen Offensive verdanken kann, ohne im eigenen Gas der Schande zu ersticken, das ist das einzige, was noch unerfindlich ist. 43

Am modernen Massenmord ist nichts Ruhmvolles, doch die alten Symbole – Worte, Kleidung, Ehrenbezeigung – täuschen darüber hinweg. „Da aber die Menschen“, so der Nörgler weiter, „selbst dann der romantischen Vorwände für ihre Schlechtigkeit nicht werden entraten können“, wenn einmal der Bakteriologe den Chemiker ersetzt, „so wird der Befehlshaber, dessen Pläne der Bakteriologe ins Werk setzt wie heute der Chemiker, noch immer eine Uniform tragen.“44 Dieser für die Entwicklung des autoritären Charakters (sowie der Kulturindustrie) zentrale Widerspruch wird in der Fackel und in den Letzten Tagen der Menschheit ausführlich thematisiert, allerdings ohne dass Kraus oder der Nörgler ihn gesellschaftstheoretisch zu analysieren vermöchten. Die Schlechtigkeit der Menschen und ihre romantischen Bedürfnisse sind eben keine anthropologischen Konstanten, wie es an dieser Stelle scheinen kann (obwohl Kraus diese These nicht vertritt, weil er überhaupt keine Thesen vertritt, sondern seine Kulturdiagnostik zur Darstellung bringt), sondern Folge einer Gesellschaft, die ihre aufklärerischen Tendenzen beständig durchkreuzt und ihre Mitglieder zur Flucht in obsolete Ideologien treibt. Da die Mehrheit sich, nicht zuletzt wegen ihrer Autoritätsbindung, zum einzig wahren Mut  : sich nicht „einrückend machen“ zu lassen, sich zu verweigern und organisierten Widerstand zu leisten, und zum einzig menschlichen Reglement  : vernünftiger Planung statt Chaos und Gewalt, nicht entschließen kann, wird die Teilnahme am kriegerischen Wahnsinn als Mut glorifiziert und das militärische Reglement als Ordnung. Der regierungstreuen Presse kommt die Funktion zu, diesem Bedürfnis die passenden Bilder zu liefern. Besonders stechen hier die Artikel der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek hervor, die größtenteils wörtlich in die Letzten Tage der Menschheit aufgenommen wurden. Ob sie das Soldatenleben als „frei gewordenes Menschentum“ glorifiziert oder den „einfachen Mann an der Front“ nach seinen Empfindungen befragt, das Trommelfeuer als Konzert goutiert oder interessiert die Verwundetentransporte betrachtet45 – stets erscheint in ihrer Darstellung der Krieg als ein großes Spektakel, das ohne jede Empathie mit den Leiden der Opfer geschildert 43 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 6657 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 351)] 44 Die letzten Tage der Menschheit, S. 352 45 L.c., S. 189f., S. 325f., S. 446f.

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wird. Welche Bedürfnisse sie mit ihrer feuilletonistischen Schreibweise zu bedienen sucht, verrät der folgende, die Schalek wörtlich zitierende Dialog, der sich an eine von ihr genossene „Vorstellung“ an der Front anschließt  : Der Offizier  : Sind Sie zufrieden  ? Die Schalek  : Wieso zufrieden  ? zufrieden ist gar kein Wort  ! Nennt es Vaterlandsliebe, ihr Idealisten  ; Feindeshaß, ihr Nationalen  ; nennt es Sport, ihr Modernen  ; Abenteuer, ihr Romantiker  ; nennt es Wonne der Kraft, ihr Seelenkenner – ich nenne es frei gewordenes Menschentum. Der Offizier  : Wie nennen Sie es  ? Die Schalek  : Frei gewordenes Menschentum. Der Offizier  : Ja wissen Sie, wenn man nur wenigstens alle heiligen Zeiten einmal einen Urlaub bekäme  ! Die Schalek  : Aber dafür sind Sie doch durch die stündliche Todesgefahr entschädigt, da erlebt man doch was  ! Wissen Sie, was mich am meisten intressiert  ? Was denken Sie sich, was für Empfindungen haben Sie  ?46

In Wirklichkeit stehen der Journalistin alle von ihr aufgezählten Deutungsmuster zur Verfügung, und sie zieht je nach Bedarf das passende Register. In seiner Dramatisierung des zugrunde liegenden Artikels hebt Kraus den Aspekt der bis zur Wahrnehmungsstörung gesteigerten Entfremdung hervor  : obwohl die Schalek sich näher als viele andere an die Kampfhandlungen begibt, kann sie sich nicht vorstellen – im Sinn von begreifen – was da vor sich geht, und obwohl der – fiktive – Offizier seine Gedanken und Empfindungen gerade artikuliert hat, nimmt sie sie nicht auf, weil sie nicht in ihr Schema passen. Wie zweifelhaft der von ihr verwendete Freiheitsbegriff ist, wird in Szene IV,10 deutlich, die an der Isonzofront spielt. Der Isonzo wurde für Kraus, aber auch für anfängliche Kriegsbefürworter, die sich erst angesichts der hohen Verluste zu Kriegsgegnern wandelten, zum Symbol für den sinnlosen Massenmord, weil an diesem italienischen Fluss zwei Jahre lang horrende Gefallenenzahlen auf beiden Seiten geringen Geländegewinnen gegenüberstanden. Für die Schalek hingegen ist ihr Besuch an diesem Ort eine Gelegenheit zur Ästhetisierung des Krieges und zur Verherrlichung des militärischen Befehls. Umgeben von Offizieren, mit denen sie gerade Kaviar speisen und Champagner trinken durfte, bekräftigt sie ihre Identifikation mit dem Militär, indem 46 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 6396 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 189)]

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sie erzählt, wie sie mit einem jungen Leutnant in Stellung gegangen ist und neben dem erwähnten Trommelfeuer-Konzert auch die „ungeheure Triebkraft eines Befehls“ erlebt hat. „Zum erstenmal kann ich ganz mit der Mannschaft fühlen. Was für eine Erleichterung ist ein Befehl  ! Wunderbar leicht kommt man durchs Feuer, wenn der Befehl es heischt.“ Im nächsten Satz geht die Begeisterung für den militärischen Befehl gar in die Apologie eines autoritären Staats, der nach dem Modell der militärischen Hierarchie aufgebaut wäre, über  : „Wohl jenem Volk, das im Befehl leben dürfte, vertrauend, gläubig, daß der Befehl auch der richtige sei, von den Besten der Besten ersonnen  ; so wie es hier der vorwärtsdrängende und jeden Rückfall abschneidende, das Eigentum schützende Befehl vom Isonzo ist  !“47 Die autoritäre Unterwürfigkeit, der hier das Wort geredet wird, enthüllt sich selbst als „Erleichterung“, nämlich von der Verantwortung für das eigene Denken, Urteilen und Handeln. Darüber hinaus wird die Befehlsgewalt als Hilfe gegen die eigenen widerständigen Impulse (hier  : der Todesangst) gefeiert. Schließlich ist der Bericht in der aktuellen Situation angekommen, bei dem deliziösen Mahl, das die Kriegsberichterstatterin gerade mit den höheren Offizieren vom Stab genossen hat, ohne aber das Spannungsverhältnis zwischen ihrer Idealisierung der Hierarchie einerseits und den empörenden Gegensätzen in der Schilderung der im Schützengraben liegenden, verwundeten oder toten Soldaten und der im Luxus schwelgenden Offiziere andererseits zu bemerken. Für sie steigert dieser Gegensatz nur den Genuss am Krieg, doch ihre Darstellung ist wider Willen so verräterisch, dass Kraus sie nur etwas satirisch zuzuspitzen braucht, um sie kritisch zu wenden. Am Ende der Szene greift er ihre Bemerkung  : „[S]olche Kontraste gibt’s nur an der Front  !“48 auf und verwendet sie als Schlussvers seines Chors der Offiziere49. Die „Besten der Besten“, welche ihren Luxus ganz selbstverständlich finden, lässt er nach einer Walzermelodie singen  : „Wir gehn nicht in den Schützengraben, / weil’s dorten keinen Schampus haben. // Statt Kaviar auf Butterbrot / gibt’s nix als einen Heldentod.“50 Die folgenden Strophen entfernen sich vom Referenztext, zumindest von seinem Wortlaut  : „Wir fressen, die dort müssen zahl’n. / Fürs Vaterland is’s schön zu fall’n. //

47 Die letzten Tage der Menschheit, S. 447. Kraus zitiert wörtlich aus jenem Artikel von Alice Schalek, der in F 431, S. 69–71, abgedruckt ist. 48 L.c., S. 448 49 Unter diesem Titel wurde das Lied in die Worte in Versen aufgenommen, vgl. Gedichte (= Schr. 9), S. 325. 50 Die letzten Tage der Menschheit, S. 449

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Und das weiß heut doch jedes Kind  : / Wir fall’n nur, wenn wir b’soffen sind.“ Dann bewegt sich das Lied wieder zur Schalek zurück, wobei vermittels der vorhergehenden Strophen das Wort „Kontraste“ umgedeutet wird  ; statt mit dem Genuss am kontrastreichen Spektakel ist es nun mit der Verurteilung sozialer Kontraste konnotiert  : „Cadorna, der hat uns schon wieder verschont. / [  : Sehn S’, solche Kontraste gibt’s nur an der Front  !  :]“.51 Ein anderes Verfahren der Demontage lässt sich in den darauf folgenden, thematisch an den Gegensatz von Unten und Oben beim Militär anknüpfenden Szenen (IV,11 bis IV,14) feststellen. Diese Szenen waren in der Aktausgabe noch nicht vorhanden  ; gemeinsam mit den Szenen IV,15 und IV,16 verstärken sie das Gewicht einer nicht auf Ideologiekritik reduzierten Militärkritik. Exemplarisch führen sie an einem Divisionskommandanten namens Ludwig von Fabini, genannt „Der Kaiserjägertod“52, vor, wie kaltblütig und gleichgültig ganze Regimenter mit tausenden von Soldaten einer militärischen Taktik geopfert werden, die nach eigenem Bekunden kein Zurück kennt.53 Die Sprache changiert zwischen dem bürokratischen Jargon des Manipulativen  : „Die Truppen sind befehlsgemäß zu opfern“ und der ungehemmten Aggression des Destruktiven  : „Was sagen Sie  ? Ihre armen, braven Tiroler liegen erschossen draußen und schwimmen im Wasser  ? (Brüllend.) Zum Erschießen sind sie da  ! Schluß  !“.54 Sadistische Lust an der eigenen Position (IV,12), Trunkenheitsgelage neben Schwerverwundeten (IV,13) und Pedanterie (IV,14) runden das Bild ab. Im Anschluss präzisiert der Nörgler seine Kritik am Militär als Institution (IV,15), eine Kritik, die vor dem Hintergrund der journalistischen Apologie der Befehlsgewalt zugleich über diese Institution hinausweist. Vor dieser Passage sei jedoch eine kurze Szene aus dem fünften Akt zitiert, die in äußerster Verdichtung – nur zwei Wörter werden gesprochen – die Kontraste der militärischen Hierarchie zur Darstellung bringt  : „Baracke in Sibirien. Ergraute Männer, ganz unterernährt, barfüßig, in zerfetzten Uniformen, kauern auf der Erde, starren aus hohlen Augen ins Weite. Einige schlafen, einige schreiben. Ein österreichischer Hauptmann (tritt ein und ruft)  : Ihr Schweine  !

51 L.c., S. 450 52 Vgl. l.c., Personenverzeichnis 53 Die letzten Tage der Menschheit, S. 451 54 L.c., S. 450, S. 451

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Sie erheben sich und leisten die Ehrenbezeigung. Während ein Teil Habtacht steht, exerzieren die andern mit Schaufeln und machen Gewehrgriffe.

(Verwandlung.)“ 55 Die Verhältnisse, in denen der Mensch „ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ (Marx) ist, sprechen hier für sich und fordern stumm ihre Umwälzung. Aber sie waren zu vertraut, als dass die Botschaft der immanenten Darstellung Gehör finden konnte, wenn nicht zumindest an anderer Stelle ihre Kritik explizit formuliert wurde. Dies unternimmt nun der Nörgler in IV,15  : „Nahetreten möchte ich keinem einzigen, nur der ganzen Institution, indem ich weniger zu ihren Gunsten gelten lasse, daß sie einen Ehrenmann nicht verdirbt, als zu ihren Ungunsten, daß sie einen Schwächling in einen Schurken verwandelt. Glauben Sie ja nicht, daß ich diese feigen Philister, die jetzt die Machtgelegenheit benützen, um sich für ihr Minus an Mannheit an der Mannschaft zu rächen, für bewußte Tyrannen halte. Sie vergießen nur Blut, weil sie keines sehen können und es nie gesehen haben, sie handeln im Rausch des Erlebnisses, plötzlich ihre eigenen Vorgesetzten zu sein und einmal Dinge tun zu dürfen, für die sie nicht in ihrer Persönlichkeit, nur in der Gelegenheit die unentbehrliche ‚Deckung‘ finden. Und die meisten dieser Schubbjacks werden dereinst nicht einmal zu fassen sein, weil sie bei ihrem Handeln von jenem Kodex gedeckt waren, der ihnen alles das erlaubt und gebietet, was ihnen bis dahin das Strafgesetzbuch verboten hat  : vom Reglement. Groß war die Zeit, in der einer für Rauben, Morden und Schänden mit dem Verdienstkreuz davonkam, und für die Bestellung dieser Taten mit dem Mariatheresienorden  !“56

Unmissverständlich negiert der Nörgler die Verbindung des Weltkriegs mit obsoleten Idealen von Virilität und Heroismus. Der Krieg erlaubt, wie jeder Ausnahmezustand, die Übertretung von Gesetzen, die sonst dem Schutz vor Gewalttaten dienen, und setzt deshalb gerade bei Personen, die nur aus Angst vor Strafe solche Taten vermeiden, ein aufgestautes Aggressionspotenzial frei. Folgt man den Studien zur Authoritarian Personality, so speist sich dieses Potenzial maßgeblich aus der Anstrengung, den Hass auf die Vorgesetzten in die 55 L.c., S. 666 56 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 6830f. (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 453)]

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Identifikation mit der Macht umzuwandeln. Deshalb mag es insbesondere auf der mittleren Befehlsebene stimmen, dass sadistisches Verhalten bei denen, die zuvor eine eher subalterne Position innehatten, etwas häufiger vorkam als bei Berufsoffizieren. Hinzu tritt die Eigendynamik der Macht  : Die plötzlich erlangte Verfügungsgewalt über andere muss durch entsprechende Taten realisiert werden, bevor sie wieder verloren geht. Durch den expliziten Kommentar des Nörglers wird der Missdeutung entgegengewirkt, die vielen im Stück geschilderten Kriegsverbrechen seien bloß kontingente Taten einzelner sadistischer „Schubbjacks“ (Lumpen/Schufte). Indem der Nörgler am Schluss der Szene zur darauf folgenden Darstellung von Soldatenmisshandlungen (IV,16) überleitet, wird die Verrohung durch den Krieg als systematisches Problem erkannt und eine analoge Deutung der vielen anderen Szenen, die diese Verrohung thematisieren, nahegelegt. Begleitet von der Formel  : „Krieg ist Krieg“, greift der beschriebene Mechanismus auch aufs zivile Leben über, wie die Letzten Tage der Menschheit demonstrieren und die Fackel im Klartext zeigt  : „Ist nicht, was uns rings umgibt, die aufgewärmte Rache von Vorgesetzten, die Untergebene waren  ? Von Kellnern, die dem Pikkolo heimzahlen, was sie auszustehen hatten  ? Von einst selbst geschundenen Abrichtern  ? Deren Lust an dem Maß der Wehrlosigkeit wächst und in der Tierschinderei als im reinsten Ausgleich verhaltener Gefühle die eigentliche Erlösung findet  ? Dem letzten Knecht ist noch ein Untertan das Pferd.“57 Die von Kraus schon in Friedenszeiten kritisierte kulturwidrige Wirkung einer autoritären Hierarchie auf die ihr Subsumierten verschärft sich im Krieg durch Mangel und Abhängigkeit. Doch keiner anderen Institution ist sie so zu eigen wie dem Militär, dessen „Wesen die unwiderrufliche Macht ist“ 58 und das seine Mitglieder zwingt, „Hammer oder Amboß, Knecht oder Kanaille zu sein“.59 Nach Kraus beginnt der Angriff auf die Menschenwürde schon bei der Musterung, „in diesem Fiebertraum von Brutalität, Schmutz und Zufall“, und „die viehische Möglichkeit einer Fleischbeschau an Menschen, die Musik im Sinn haben, für einen ihnen fremden und verhaßten Zweck“ reichte für seine Polemik schon allein „zur kosmischen Ächtung dieser Sklavenerde“ hin.60 Er – jener Angriff – setzt sich

57 [Die Fackel  : Nr. 457–461, 10.05.1917, 19. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 21628 (vgl. Fackel Nr. 457–461, S. 96)] 58 Nachruf, in  : Weltgericht II (= Schr.6), S. 211 59 L.c., S. 211f. 60 L.c., S. 198, vgl. in den Letzten Tage der Menschheit, S. 678  : „Nackt waret ihr, wie nur vor Gott und der Geliebten, vor einer Kommission von Schindern und Schweinen  !“

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fort in der „Bestimmung des Menschen, ‚abgerichtet‘ zu werden für irgendeinen dunklen, seinem Einfluß völlig entrückten Plan, wenn nämlich Staatskretins, die er doch bezahlt, Krieg beschließen sollten, und nicht nur sterben zu müssen für solchen Unfug, nein mehr, habt acht stehn, rechts schaun zu müssen, so und so schreiten zu müssen, salutieren zu müssen, wenn ein durch und durch grußunwürdiger Bube vorbeigeht – nein, wer nicht plötzlich wie ich gewahr wird, daß diese ganze irrsinnsgejagte Gesellschaft die Hand an die Stirn führt, um einander auf den Zustand aufmerksam zu machen, der hat nie wie ich gespürt, was für eine Zeit das war, und er spürt nicht, was ihr Ende bedeutet  !“61 Implizit rückt Kraus mit dieser Charakteristik seinen libertären Freunden aus der Zeit vor 1914 wieder näher, explizit grenzt er sich im darauf folgenden Absatz von dem Konservatismus ab, dem er sich, in Abgrenzung von Jenen, kurzzeitig verschrieben hatte, bevor ihn der Krieg eines Besseren belehrte. Beibehalten wird nur die idealistische Terminologie, welche indessen die Ablehnung des politischen Konservatismus gerade motiviert  : „Zur Rettung des innern Gutes, das sein Wächter [der Konservatismus] nie gehütet und nun so schmählich verraten hat, bleibt nichts übrig, als die völlige Vernichtung der autoritären Hülle.“62 Das „innere Gut“ widerstrebt in der Perspektive von Karl Kraus jeder Entwürdigung durch Machtwahn, Verhöhnung und Gewalt, und darin besteht der Link zwischen dem idealistischen und dem materialistischen Gehalt seines Gesamtwerks. Die Absurditäten, zu denen die erzwungene autoritäre Unterwürfigkeit vor Uniformen und Ämtern führt, werden in den Letzten Tagen der Menschheit anhand zahlreicher Alltagsszenen geschildert, von denen Kraus annimmt, dass viele Menschen sie in ähnlicher Weise wie er „psychisch erfahren haben“63, ohne sie aber zu erkennen und auf den Begriff bringen zu können. Diese (nicht zuletzt auf die Lektüre der sozialdemokratischen Presse gestützte64) Annahme erlaubt es ihm, in der ersten Person Plural zu sprechen, wenn er apodiktisch postuliert  : „Wir wollen diese von einer imbezillen Geistesverfassung und einer niedrigen Erotik genährte Autorität mit allen Wurzeln ausgerottet haben.“65 Indem die hierarchische Befehlsstruktur Verdummung und sadomasochistische Impulse „nährt“, behindert sie den Prozess der Mündigkeit im Sinne der bürgerlichen Aufklärung. 61 Nachruf, S. 198 62 L.c., S. 199 63 L.c., S. 209 64 L.c., S. 205 65 L.c., S. 209

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Über deren Persönlichkeitsideal weist die Kraussche Kritik aber noch hinaus, indem sie den Dualismus von staatstreuem Gehorsam und innerer Freiheit transzendiert und den Staat auf Verwaltungsfunktionen reduzieren, mithin den Bedürfnissen der Citoyens unterordnen will. Karl Kraus lässt keinen Zweifel daran, dass er den Krieg als staatliches Verbrechen ansieht. Sowohl diese Bezeichnung wird wiederholt verwendet, als auch andere Verweise auf die juristische Sphäre, insbesondere der Begriff des Mordes in Kontexten, in denen gewöhnlich Euphemismen verwendet werden. Im Duktus des Nörglers verbinden sich Nüchternheit und passionierte Anklage gegen den Gewaltrausch und die ihn begleitende Kälte  : So antwortet der Nörgler auf die von Anti-Intrazeption geprägte Phrase seines Widerparts, er, der Optimist, könne den Lusitania-Fall „nicht sentimental nehmen“, lapidar  : „Ich auch nicht, nur kriminell.“66 In seinem Schlussmonolog bezeichnet der Nörgler die militärischen Befehlshaber als „Rädelsführer des Weltverbrechens“67 und führt in einer imaginären Anklagerede an sie den Rezipienten noch einmal das Elend, das sie angerichtet haben, und die Verstöße gegen die Menschenwürde, die sie begangen haben, vor Augen. Darauf folgt eine Ansprache an die gefallenen Soldaten, die „Gemordeten“, die gegen die Ordnung der Generale, ihrer „wahren Feinde“, hätten aufstehen sollen.68 Allerdings wird auch die Doppelrolle der Soldaten als Täter und Opfer thematisiert  : „Und ihr Geopferten standet nicht auf gegen diesen Plan [den Kriegsplan]  ? Wehrtet euch nicht gegen den Zwang, zu sterben, und gegen die letzte Freiheit  : Mordbrenner zu sein  ? Gegen die Teufelei, die die Aufopferung für den Wollmarkt gar unter den Fahnen des sittlichen Pathos vollziehen hieß  !“69 Befürwortet wird in dieser Rede nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern geradezu eine Widerstandspflicht, deren Nichterfüllen der Nörgler beklagt. Aufgrund seiner eindringlichen Bilder ist dieser Monolog, auch als selbständiger Text, zur Verbreitung zu empfehlen, um Militarismus und Autoritarismus entgegenzuwirken. Allerdings mangelt es dem Nörgler auch hier an politischen und soziologischen Kategorien, die für die Organisation von Widerstand unabdingbar sind. Der pathetische Appell verpufft ins Leere, wenn er nicht in den Kontext einer fundierten Analyse gestellt wird. Indem der Nörgler schließlich die Toten anruft, zurückzukehren und ihm gegen die 66 Die letzten Tage der Menschheit, S. 261 67 Die letzten Tage der Menschheit, S. 675 68 L.c., S. 676–680, Zitate S. 676, S. 678 69 L.c., S. 677

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Lebenden beizustehen, den Henkern im Schlaf zu erscheinen und sie an ihre Taten zu mahnen, gibt der Text selbst zu erkennen, dass er keine politische Mobilisierung anstrebt, sondern zunächst nur auf das Bewusstsein der Rezipienten einwirken will, um künftiger „Begeisterung des Schlachtviehs für seine Metzger“70 vorzubeugen. Ähnlich verhält es sich mit den beiden Gedichten aus der Letzten Nacht  : Ein sterbender Soldat und Ein Verwundeter, in denen Sterbende den Fluch gegen die Obrigkeit artikulieren und in eindringlicher Weise eine Verweigerungshaltung, die freilich zu spät kommt, vorführen.71 Dass das sogenannte Feld der Ehre in Wirklichkeit das „Feld der Verbrechernaturen“ sei, belegt Kraus im Nachruf mit Befehlen, die ein General vor der Piave-Offensive gegeben habe  : „Wenn eine Patrone fehlt, kannibalisch strafen  !“ etc.72 Diese Befehle werden auch in den Letzten Tagen der Menschheit zitiert, und zwar in der Schluss-Szene des fünften Akts (V,55), die auf 44 Seiten die satirische Anklage gegen das Militär und den Krieg radikal zuspitzt. Die Szene gliedert sich in zwei große Abschnitte  : erstens das Gelage bei einem Korpskommando und zweitens, nach dem Durchbruch der Alliierten, die Erscheinungen an der Wand desselben Saales. Diese Wand ist laut Regieanweisung von dem Kolossalgemälde des Malers Ludwig Koch Die große Zeit ausgefüllt73, sodass Kraus hier selbstreferenziell auf seine Rede zu Kriegsbeginn  : In dieser großen Zeit und auf seine satirischen Kommentare zu diesem Portrait Kaiser Franz Josephs im Kreise seiner Generale und Verbündeten, das tatsächlich ein Militärkasino zierte, verweist.74 Der erste Abschnitt führt die Repräsentanten des Militärs (Österreicher, Ungarn, Polen und Deutsche) im Endstadium des Zerfalls vor  : Das Gelage neigt sich (wie der Krieg) dem Ende zu  ; man berauscht sich an Alkohol und Phrasen, blickt stolz auf die eigenen Kriegsverbrechen und auf die der Vorgesetzten zurück und vermischt Patriotismus, Nibelungentreue, Sautanz, Kriegs- und Operettenlieder zu einem trostlosen kabarettistischen Ragout. Die gemütlichen Mörder charakterisieren sich selbst in dem (historischen) Kriegslied des preußischen Obersten  : „Gesprengt, versenkt wird feste – doch immer mit Jemüt  !“75 Dass jede Form von

70 Diese Wendung ist dem zehn Jahre nach Kriegsbeginn publizierten Essay In dieser kleinen Zeit entnommen (F 657, S. 2). 71 Die letzten Tage der Menschheit, S. 731  ; S.  741 72 Nachruf, S. 205 73 Die letzten Tage der Menschheit, S. 682 74 Eine s/w-Reproduktion findet sich in  : „Was wir umbringen“. Die Fackel von Karl Kraus, S. 115. 75 Die letzten Tage der Menschheit, S. 688

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trügerisch-sinnhafter Ganzheit vermieden wird, indem dialogische Szenen fast nie mit dem Beginn der Dialoge einsetzen, sondern diesen virtuell voraussetzen und dadurch die Präsentation von Bruchstücken der Wirklichkeit permanent bewusst machen, gehört zur Ästhetik des Stücks. Dem Untergang lässt sich kein geschichtsphilosophischer Sinn abpressen  ; die Protagonisten sind so unbelehrt wie seit jeher, nur noch verrohter. Schmählicher dürften noch in keinem Kriegsdrama die von Ehre und Endsieg faselnden Feldherren ihre Niederlage erlebt haben, in Kraus’ Sinne  : noch nicht einmal erlebt haben, denn der preußische Oberst will die Niederlage nicht wahrhaben und der öster­reichische (De-)General lallt, nachdem er sich über die „Frontschweine“ und die „Elemente“ beklagt hat, bloß noch  : „Spielts – weiter –.“76 Der Nazismus wirft seine Schatten voraus  : In der Selbsttäuschung über die Niederlage und in der Anklage gegen die „subversiven Elemente“ im Hinterland kündigt sich die für die Nazi-Propaganda vor allem in den ersten Nachkriegsjahren zentrale Dolchstoßlegende an, und in der Rede des Generals vom „uns aufgezwungenen Verteidigungskriege der germanischen gegen die slawische Rasse“ wird ein im nächsten Angriffskrieg radikalisiertes Deutungsmuster vorweggenommen77. Auch die Auswahl standgerichtlich abzuurteilender Personen aus einer unter Generalverdacht stehenden Gruppe durch Abzählung oder Auslosung, ein Verfahren, das allen rechtsstaatlichen Prinzipien zuwiderläuft, weist als Staatsterror in diese Richtung.78 An der bemalten Wand des Saals erscheinen dann im zweiten Abschnitt der Szene die Opfer des Krieges, Zivilisten (darunter einige Kinder) und einfache Soldaten. Auf diese Weise scheint sich der Traum des Nörglers, die Toten sollten zurückkommen und die Lebenden mahnen, zu realisieren. Angefangen von einem verhungernden Kind (aus der Glosse Zwei Züge) bis zu dem ungeborenen Sohn, der stellvertretend für seine Generation bittet, angesichts solcher „Heldenväter“ lieber gar nicht erst geboren zu werden, führen diese Erscheinungen den Rezipienten vor Augen, was die von ihrer Machtposition berauschten, gegen jedes Mitgefühl abgedichteten Vertreter der Militärführung aus dem Bewusstsein verdrängen  : das qualvolle Sterben der Kreatur und was ihm an Leid, Ungerechtigkeit und Elend vorausgeht. Die erste Gruppe dieser Erscheinungen79 führt eben die Kriegsverbrechen vor, von denen vorher die Rede war  ; die Verantwortlichen winken 76 L.c., S. 710  ; zum Wortspiel von den Degeneralen vgl. Weltgericht II, S. 239 77 Die letzten Tage der Menschheit, S. 684 78 L.c., S. 712 (Abzählung)  ; vgl. l.c., S. 675 (Auslosung) 79 L.c., S.711–715

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ihren Ebenbildern im Saal, die keinerlei Verantwortung übernehmen wollen, sogar zu. Diese Konstruktion erinnert an Shakespeares Dramen, in denen das Erscheinen von Geistern Ermordeter den Untergang der Mörder ankündigt. Während aber Shakespeares Erscheinungen Traumgebilde, nur für die einzelnen Mörder sichtbar sind und dem Frühstadium individueller Gewissensbildung angehören, handelt es sich in den Letzten Tagen der Menschheit um kollektiv sichtbare Bilder systematisch begangener Verbrechen, deren Täter sich in einem Zustand des Verfalls von Individuation und individuellem Gewissen befinden. Da es keine Regieanweisung gibt, die irgendeine Reaktion der Protagonisten vorsieht, müssen diese wohl als erstarrt imaginiert werden  : körperlich am Ende so erstarrt, wie sie es emotional, gedanklich und sprachlich schon lange sind. Die zweite Gruppe der Erscheinungen thematisiert in einer Reihe sehr kurzer wortloser Szenen, die wohl als Stummfilmszenen gedacht sind, das Leiden und vor allem den Tod der Kreatur im Ersten Weltkrieg.80 Bei der dritten Gruppe handelt es sich mit wenigen Ausnahmen um Symbolfiguren, die in gereimter Lyrik Klage erheben (wobei das Versmaß jeweils den einzelnen Figuren angepasst ist). Damit wird eine Ästhetik des Eingedenkens konstituiert, die das Stück der Gleichgültigkeit der Kriegsbefürworter entgegensetzt  : Das Leid der vielen Einzelnen, aber auch die Verbrechen sollen nie vergessen werden. Hier wird das Traummotiv explizit thematisiert  : Zwölfhundert ertrunkene Pferde wollen dem Grafen Dohna im Traum erscheinen und ihn töten81, und die Mutter eines durch Kopfschuss exekutierten Kindes verflucht die Täter  : Die Splitter dieser edlen Kinderstirn, sie bohren sich in euer Herz und Hirn  ! Lebt lang und ewiger Begleiter sei durch eure Nächte dieser Mutterschrei  !82

Kraus’ Verse lassen einen intertextuellen Bezug auf Shakespeares Richard III. erkennen  : dort verflucht Königin Margaret Königin Elisabeth (I,3 / Z.204)  : „Lang’ lebe, deine Kinder zu bejammern“ (woran sich noch einige andere 80 L.c., S.715–719 (die beiden letzten Szenen auf S. 715 bilden den Übergang) 81 Die letzten Tage der Menschheit, S. 720f., vgl. zu geschundenen Pferden als Traumbild S. 619. 82 Die letzten Tage der Menschheit, S. 723. Die Quelle zu dieser Szene wurde von Eckart Früh eruiert und ausführlich zitiert (E.F.: Die „Arbeiter-Zeitung“ als Quelle der „Letzten Tage der Menschheit“, S. 220f.).

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schmerzliche Erfahrungen anschließen, die das lange Leben ausfüllen sollen). Während aber die beiden Königinnen in den gleichen, durch die Gesetzmäßigkeit der Feudalherrschaft bedingten, mythischen Zusammenhang von Schuld und Rache verstrickt sind, gehören Mutter und Kind in den Letzten Tagen der Menschheit zur Figurengruppe der kreatürlichen reinen Opfer. Die Figur der Mutter will nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern sie appelliert implizit an das Gewissen der Täter, das ihnen im Traum den Schmerzensschrei akustisch in Erinnerung halten soll – ebenso wie „durch alle Tage, die ihr schändet“, der Anblick des zum Zweck des Erschießens am Boden festgehaltenen Kindes visuell in ihrer Erinnerung aufbewahrt bleiben soll  ; so wollen es die ersten vier (hier nicht zitierten) Verse. Auf einer Metaebene ist dieser Appell aber auch als einer an das Publikum zu verstehen, deren Herzen und Hirne, metaphorisch angespornt von den Splittern jener Kinderstirn, den Phrasen nationalistischen und militaristischen Hasses sich verschließen sollen. Die im Anschluss auftretende allegorische Figur des österreichischen Antlitzes lässt allerdings Zweifel aufkommen, ob ein solcher Appell Resonanz findet, hebt sie doch, visuell begleitet von der Hinrichtung Battistis, mit den Versen an  : „Aus Tod wird Tanz, / aus Haß wird Gspaß, / aus Not wird Pflanz, / was ist denn das  ?“.83 Ans Ende seines Stücks setzt Karl Kraus deshalb kein wie immer vermitteltes zukunftsweisendes Nie wieder  !, sondern eine hoffnungslose Absage an diese Menschheit, eine Absage, die im Epilog bis zur Vision einer Vernichtung der Menschheit gesteigert wird. „Heil Krupp und Krieg  ! Ich bin ein Deutscher  !“

Besonders aufschlussreich für den Zusammenhang von Kapitalismus, deutscher Ideologie und Autoritarismus ist die Wahnschaffe-Szene. Aus dieser Szene blickt den Rezipienten die Physiognomie einer Gesellschaft entgegen, in der ein autoritärer Staat durch alle Instanzen der Gesellschaft hindurch die Psyche und das Denken seiner Bürger modelliert, um sie seiner skrupellosen, dem Expansionsinteresse des Großkapitals und der Aristokratie dienenden Politik zu adaptieren. Die deutsche Ideologie im ersten Weltkrieg manifestiert sich in komprimierter Form im Couplet des Wahnschaffe.84 Der alldeutsche Industrielle, Kommerzienrat Ottomar Wilhelm Wahnschaffe, hat mit diesem 83 Die letzten Tage der Menschheit, S. 723 84 In der Buchausgabe der Letzten Tage der Menschheit  : III,40  ; auch in der Aktausgabe ist diese Szene schon enthalten (dort IV,48).

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Lied seinen einzigen Auftritt im Stück  ; indessen ist er dem Krausschen Publikum schon aus der Fackel als Repräsentant der Herrschenden im Deutschen Reich bekannt, da im Oktober 1917 ein Epigramm über ihn und im November 1918 jenes Couplet unter dem Titel Lied des Alldeutschen / Barbarische Melodie publiziert worden waren.85 Überdies hatte Kraus das Couplet (vor dem Abdruck in der Fackel) noch während des Krieges zweimal in seine Vorlesungen aufgenommen  : am 16. 12. 1917 und am 27. 3. 1918.86 Obwohl Wahnschaffe ein authentischer Name ist, wird über die empirische Person nicht mehr bekanntgegeben, als dass es sich um einen früheren Staatssekretär87, mithin um einen Regierungsvertreter handle, in dem der „Treubund von Junker und Schieber“ personifiziert sei.88 In diesem Kontext wird deutlich, dass Kraus mit dieser Figur auf den Kern dessen abzielt, was die deutsche Ideologie und die deutsche Gesellschaft so bedrohlich macht  : den „wahnschaffnen Bastard des Neuen und Alten“,89 die monströse Verbindung von Residuen des Feudalismus mit der profitorientierten Rationalität des modernen Kapitalismus. Gegenüber der Monströsität der „Warenjunker“ erscheinen das Alte, für sich genommen („die wahren Junker“), und das Neue, für sich genommen („die nüchterne Wirtschaft“), immer noch erträglicher. Auf der Basis dieser gesellschaftskritischen Zuordnung in die Welt der Fackel eingeführt, lässt Kraus seinen Wahnschaffe im Lied des Alldeutschen auf eine Weise ideologischen Selbstverrat betreiben, die an Nestroy geschult ist und in den Songs der Brecht-Stücke fortwirkt. Die Relevanz des Liedes weist somit – trotz des Titels – weit über die Verurteilung alldeutscher Propaganda hinaus, was auch das in der Fackel publizierte Vorwort bestätigt  : „Das Kuplet erschöpft das Problem Deutschlands annähernd so sehr, wie Deutschland die Welt“.90 Es erkläre auch „den Krieg, den

85 F 462, S. 74 Wahnschaffe  ; F 499, S. 6–12 Lied des Alldeutschen [mit einem Vorwort]  ; beide Gedichte auch in  : Karl Kraus  : Gedichte, = Schr. 9. 86 So Kraus selbst in F 499, S. 6  ; entsprechende Vermerke finden sich in den Notizen  : F 474, S. 91. 87 F 462, S. 93 88 Wahnschaffe, in  : Gedichte, S. 191. Alle folgenden Zitate aus dem Text  : ibid. 89 Kraus weist darauf hin, dass das veraltete Adjektiv wahnschaffen so viel als missgestalt, unförmig bedeutet (F 462, S. 93). 90 F 499, S. 6. Dass Kraus später in seinem großen Prozess gegen Alfred Kerr versuchte, diese Relevanz einzuschränken, gehört zu den wenigen unrühmlichen Auftritten in seiner Realsatire. Um wie viel unrühmlicher aber der Auftritt des Kriegsdichters und späteren „Friedensfreundes“ Kerr sich im Vergleich ausnimmt, dessen schamlose Denunziation des Gegners als Deutschenhasser jene Verharmlosung provoziert hatte, lässt sich kaum noch ermessen. Vgl. zu all dem F 787, insbesondere S. 73f. und S. 172–177.

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Deutschland der Welt erklärt hat“.91 Nach dem Kapp-Putsch im Jahr 1920 wird Kraus konstatieren  : „Denn die deutschen Ereignisse zeigen, daß Wahnschaffe – ein Name, der diese heillose technoromantische Verbindung des deutschen Wesens bekundet […] – daß also Wahnschaffe noch immer nicht sein Lied des Alldeutschen ausgesungen hat, die unendliche Melodie der Weltbedrohung, die ich ihn singen lasse.“92 Schauplatz der Szene III,40 in den Letzten Tagen der Menschheit ist die Umgebung der Villa Wahnschaffe in Bad Groß-Salze. Den Kommentar zum Lied ersetzt hier die wahnschaffne Architektur der Villa  : „Zacken, Zinnen und Türmchen“ sowie Spitzbogenfenster mit Butzenscheiben verweisen auf das Altdeutsche, eine am Haus angebrachte schwarz-weiß-rote Fahne sowie eine Kaiser-Wilhelm-Büste auf den zeitgenössischen Nationalismus. (Den Zusammenhang zwischen Butzenscheiben, Militarismus und Geschäft stellt auch die Fackel her.93) Zwischen Gartenzwergen findet sich eine Ritterrüstung als Relikt obsoleter Kriegstechnik, während den Eingang Modelle von Mörsergeschossen mit Durchhalteparolen zieren.94 Gemäß der Regieanweisung tritt Wahnschaffe aus dem Haus und singt sein Couplet, dessen Titel und Untertitel zwar fehlen, dessen „barbarische Melodie“ (in der speziell bei Jägerliedern beliebten Tonart FDur) jedoch in Notenschrift vorangestellt wird. Obwohl jede einzelne der 21 Strophen einer näheren Betrachtung wert ist, muss sich die Deutung hier auf die Frage konzentrieren, worin jene „technoromantische Verbindung des deutschen Wesens“ sich bekunde, die dem autoritären Charakter so förderlich ist. Da ist zunächst die Verherrlichung von Kampf und Arbeit, mit der der Industrielle sein Couplet beginnt. Indem er das „Schuften“, sei es an der Front oder im Hinterland, als Selbstzweck anpreist, bekennt er sich ein als Tatmensch95, als Charaktermaske des Kapitals, dem es gleichgültig ist, ob es Mord- oder Lebensmittel produziert, solange der Wert sich angemessen verwertet („Nur feste druff  !“ – im Krieg wie in der Produktion). Seine Sprache unterläuft freilich solche Anpreisung durch die Konnotation von schuften 91 F 499, S. 6 92 F 544, S.13. Dies steht übrigens in dem Heft der Fackel, das auf Innsbruck und Anderes (F 531) folgt. In der Innsbruck-Affäre konnte Kraus das Aggressionspotential der Deutschnationalen persönlich erleben (siehe Kapitel 4). Zum Krausschen Begriff des ‚Technoromantischen‘  : K. K.: Das technoromantische Abenteuer, in  : Weltgericht II (= Schr. 6), S. 86–91. 93 Vgl. F 462, S. 62, und F 484, S. 185 94 Die letzten Tage der Menschheit, S. 391 95 Die Kulmination dieser Ideologie der Tat in der faschistischen „Faustnatur“ wird sehr treffend dargestellt bei Kurt Krolop  : Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus, Berlin 1987, S. 216–218.

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mit dem pejorativen Substantiv Schuft  : ein von menschlichen Zwecken losgelöstes Schuften wird zur Schufterei im Doppelsinn des Wortes (während er selbst das Wort Schuft freilich nur auf andere bezieht). Dass Wahnschaffe sich in der zweiten Strophe als Knecht und als Arbeitsvieh bezeichnet, ist mehr als eine ideologische Selbstdarstellung (der Missdeutung, hier wären Arbeiter gemeint, trat schon Kraus selbst entgegen96). Vielmehr trägt es dem Umstand Rechnung, dass nicht nur die Arbeiter Anhängsel der Maschinerie sind, sondern auch der Unternehmer bei Strafe des ökonomischen Untergangs als Durchgangspunkt der Verwertung des Werts fungieren muss. Überdies ist er tatsächlich, wie sich noch herausstellen wird, ein Unternehmer der tätigen Sorte, der rastlos konjunkturgemäße Konsumgüter erfindet und auf den Markt wirft. Nirgends sonst in der deutschen Literatur wird die Einheit von Krieg und Geschäft sprachlich so sinnfällig gemacht wie in diesen Versen, deren Reime und Kalauer niemals ornamental, sondern stets in der dargestellten Sache begründet sind  : Im Frieden schon war ich ein Knecht, drum bin ich es im Krieg erst recht. Hab stets geschuftet, stets geschafft, vom Krieg alleine krieg’ ich Kraft. Weil ich schon vor dem Krieg gefrohnt, hat sich die Front mir auch gelohnt. Leicht lebt es sich als Arbeitsvieh im Dienst der schweren Industrie. Heil Krupp und Krieg  ! Ich bin ein Deutscher  !97

Im Krieg erneuert sich das destruktiv gewordene deutsche Kapital, das im Frieden keine zufriedenstellende Investitionsmöglichkeit mehr fand  ; deshalb kommt Wahnschaffe zu sich selbst und lebt auf, während das an die Front beorderte ‚Menschenmaterial‘ für seine Interessen fällt. Dass sich hier zwangsläufig Assoziationen an den zweiten Weltkrieg einstellen, liegt an den Inspirationen, die der Nationalsozialismus aus der Weltkriegsideologie mit ihrer Verherrlichung von Gewalt und Allmacht bezog. „Heil“-Geschrei, Arbeitsfront und Weltherrschaftsfantasien kamen eben keineswegs aus dem Nichts  ; vielmehr knüpft der Nazismus in seinen Symbolen, Organisationen und Zielen an 96 F 787, S. 176 97 Die letzten Tage der Menschheit, S. 392, Hervorhebungen der Verfasserin

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alte Traditionen an, deren inhumane Anteile er radikalisiert. Für Wahnschaffe ist der Krieg ein gutes Geschäft  : Weil vor dem Krieg ich nicht geruht, drum gibt es Krieg und uns gehts gut. Wir schlagen uns mit Vehemenz und schlagen kühn die Konkurrenz.98

Das Homonym schlagen verweist auf die strukturell in der Ökonomie angelegte allgemeine Feindseligkeit, die im Krieg als unmittelbare Gewalt hervorbricht. Die wahnhaften Züge seiner Ideologie treten vor allem dann hervor, wenn Interessengegensätze verwischt und alle Deutschen zur Volksgemeinschaft amalgamiert werden, wie es in der zitierten dritten Strophe schon sich ankündigt und in der vierten sich zuspitzt. Denn sie täuscht darüber hinweg, dass nicht diejenigen, die im Schützengraben „wohnen“, bis sie den „Heldentod“ sterben, einen Platz an der Sonne brauchen, sondern nur diejenigen, die von solcher Expansion profitieren. Die Zweckrationalität kapitalistischer Partikularinteressen gibt ihre Wahnhaftigkeit zu erkennen, sobald sie gesamtgesellschaftlich betrachtet wird  : Der einzig vernünftige Zweck des Wirtschaftens, die Produktion von Gebrauchswerten, wird zum bloßen Mittel der Kapitalverwertung degradiert, und das affiziert die Gebrauchswerte selbst. Über diese in der gesellschaftlichen Grundstruktur angelegte Wahnhaftigkeit geht die deutsche Ideologie noch hinaus, indem ihr die Wertproduktion, eine Sphäre der Mittel, nicht bloß zum ökonomischen Zweck, sondern gar zum ideellen Zweck wird, der alle anderen Ideale absorbiert. Während in den liberalen Gesellschaften des Westens und in den liberalen Teilen des deutschen Bürgertums die relative Autonomie der Kunst über deren kompensatorische Funktion in der Reproduktionssphäre hinausweist (und diese zuweilen vergessen lässt), nimmt die neudeutsche Ideologie Kunst und Ideal, Psyche und Familie, Mythos und Religion, kurz  : die gesamte Kultur unmittelbar in den Dienst einer mörderischen Produktivität. Dies geschieht zum einen durch die Wirtschaft selbst („Walhalla ist ein Warenhaus“, fünfte Strophe), zum anderen durch den Staat, der seine Bürger auffordert, Gold für Eisen und Blut für Mark zu geben (siebte Strophe), schließlich aber auch durch die Bürger selbst, soweit sie die hegemoniale Ideologie verinnerlichen  : „Im U-Boot sitzend lachen wir / und sagen einfach  : Machen wir“  ; „Was nützt den Feinden 98 L.c., S. 393, Hervorhebungen der Verfasserin

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alle List, / die Mahlzeit machen wir aus Mist / Nicht unterkriegt der Krieg den Deutschen.“99 Wahnschaffes penetrante Bekräftigung, ein Deutscher zu sein (in fünf Schlussversen), und seine stereotypen Sentenzen über „den Deutschen“ (in den restlichen) gehören zwar zu einer verlogenen Propaganda, sie droht jedoch in dem Maße als Identität sich zu realisieren, in dem widerständiges Bewusstsein schwindet. Das Ideal, ein Deutscher zu sein, soll auch denen, die nicht davon profitieren, über Entbehrungen hinweghelfen  : „Denn Gottes Ebenbild ist nur der Deutsche  !“.100 Je nach persönlicher und milieubedingter Disposition kann die Begründung für das Deutschtum als Ideal kulturell, ökonomisch oder militärisch akzentuiert sein  ; in jedem Fall entsteht eine fatale Wechselbeziehung zwischen ökonomischem Mangel, aggressivem Expansionsdrang und trotzigen Überlegenheitsgefühlen  : Wir sagen stolz  : Viel Feind, viel Ehr’  ! Belegte Brötchen gibts nicht mehr. Und mangels derer unentwegt die Welt mit Bomben wird belegt.101

Von diesem Versuch einer Negierung der Interessengegensätze in der Identifikation des „Volks“ mit Kapital und Staat (dessen satirische Darstellung in dem Kalauer mit dem Homonym belegt Residuen subversiver Volkskunst unverkennbar bewahrt), rührt der inflationäre Gebrauch des Attributs deutsch in der monarchistischen und präfaschistischen Propaganda her, die hier von Kraus imitiert und durch das Gemisch aus Religion, Geschäft und nationalistischer Emphase soziokulturell präzise bestimmt wird  : „Deutsch ist das Herz, deutsch der Verstand, / mit Gott für Krupp und Vaterland  !“102 Die Demontage der nationalistischen Phrasen beraubt sie ihres falschen Pathos’ und vollzieht die Rache der Sprache an den Sprechern. Denn die Aggression gegen das Ausland fällt verbal mit der gegen die eigene Sprache zusammen  : „Noch lieber lasst uns als den Feind / die Phrase dreschen, die uns eint.“103 Die versteinerte und

  99 L.c., S. 394  ; die letzten drei Verse beziehen sich auf die vielgeschmähte Taktik des Aushungerns und auf die Surrogate, welche infolgedessen produziert wurden. 100 L.c., S. 395 101 Ibid. 102 Ibid., vgl. die Inschrift über dem Eingang zur Villa  : „Mit Herz und Hand für Gott, Kaiser und Vaterland  !“, l.c., S.  391 103 L.c., S. 396

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zu Trümmern zerschlagene Sprache wird von Kraus neu zusammengesetzt, sodass jedes der Presse entrissene Bruchstück gegen seine Apologeten zeugt. Die in der Öffentlichkeit enervierend wiederholten Phrasen täuschen darüber hinweg, dass das sogenannte Vaterland nur eine Chiffre für den Treubund der Hohenzollern mit der Schwerindustrie darstellt, und denen, die sich dafür opfern wollen, wird der nüchterne Bescheid erteilt  : „Für Fertigware und Valuten / muß heut’ die ganze Menschheit bluten.“104 Etwas gespenstisch Hellsichtiges nimmt dieses sprachphysiognomische Verfahren in der letzten Strophe an, die wegen ihrer Relevanz für die politische Psychologie des autoritären Charakters zur Gänze zitiert sei  : Und wenn die Welt voll Teufel wär’, und wenn sie endlich menschenleer, wenn’s endlich mal verrichtet ist, und jeder Feind vernichtet ist, und wenn die Zukunft ungetrübt, weil es dann nur noch Preußen gibt – nee, darauf fall’n wir nicht herein  ! Fest steht und treu die Wacht am Rhein  ! Und weiter kriegt und siegt der Deutsche  !105

Die Dynamik des autoritären Charakters lebt davon, dass sie ihr Ziel, die „Feinde“ zu zerstören, nicht erreicht, denn die zum Vernichtungsdrang gesteigerte Aggression bedarf eines Objekts, auf das der eigene Wahn projiziert werden kann. Gerade deshalb sind die blinde Wut und die zwanghafte Rastlosigkeit, mit denen das Ziel verfolgt wird, in der abschließenden Fiktion eines Weiterkriegens und -siegens, nachdem schon „jeder Feind vernichtet ist“, so evident. (Bei entsprechender Aussprache ist mit dem blinden Wüten auch ein Kriechen und Siechen verbunden, sodass in zwei Wörtern gleich vier Aspekte des autoritären Charakters zum Ausdruck kommen.) Politische Gewalt, aus ökonomischen Gründen begonnen und durch depravierte Ideale gerechtfertigt, wird psychologisch zum Selbstzweck, dem Raubgier und Propaganda nur mehr als pseudorationale Rechtfertigung dienen. „Fest steht“, bei aller Raserei, der Expansions- und Vernichtungsdrang. Aus diesem Grund antizipiert die 19. Strophe die Friedenszeit als Zwischenkriegszeit, in der der technische Fort104 L.c., S. 394 105 L.c., S. 397

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schritt dem Fortschritt der Waffentechnik dienen werde, und die 20. stellt als „Lernen aus der Geschichte“ die fortwährende Kriegsertüchtigung von Jung und Alt in Aussicht. All dies wurde 1917 geschrieben, denn die vorhandenen Fassungen sind textidentisch. In seiner ersten Erleichterung über das Ende des Krieges und die deutsche Niederlage hoffte Karl Kraus offenbar, gerade diese letzten Strophen würden sich nicht verwirklichen, mahnte er doch in seinem Vorwort vom 29.10.1918 „die zurückhörenden Zeitgenossen“, das Lied möge sie „in jeder Strophe, nur zum Glück der Nachwelt in den letzten nicht, an seine furchtbare Wahrheit erinnern.“106 Kraus’ künftiges Wirken lässt sich als Versuch bestimmen, der Verwirklichung dieser letzten drei Strophen entgegenzuwirken – wie, wird im nächsten Kapitel zu untersuchen sein. Wahnschaffes Couplet enthält sämtliche Elemente des autoritären Charakters, die in den Variablen der F-Skala benannt werden, außer sexuellen Projektionen107  : die Starrheit seiner Bindung an die konventionellen Werte des deutschen Bürgertums wie Fleiß (1–3), Schneid (1,10), Bravheit (10) und Bildung als Schmücke-dein-Heim (12) artikuliert sich auch in der Wahl milieukonformer Phrasen  ; autoritäre Unterwürfigkeit bekunden die Wilhelm II-Devotionalien an der Fassade seiner Villa (Regieanweisung) sowie die Verherrlichung Krupps (2,13) und der Militärführung (12,13), darüber hinaus wird sie als Bereitschaft zu Opfer und Gehorsam von den Massen eingefordert (4–9,19)  ; am stärksten ausgeprägt ist, der gesellschaftlichen Position entsprechend, die autoritäre Aggression in der nationalistischen Verherrlichung Deutschlands und seiner Expansion, die für das ganze Lied konstitutiv ist, wobei die Abstraktheit dieser Verherrlichung von der Abstraktheit der Aggression gegen die „Feinde“ noch weit übertroffen wird, von denen man kaum mehr erfährt, als dass sie bekämpft und bestraft werden müssen (10,14,15,21)  ; Anti-Intrazeption lässt sich in allen Strophen aus dem Verhältnis zur Sprache schließen, im Besonderen aber aus der zur Raserei gesteigerten Anpreisung ökonomischer und militärischer Leistungen, wobei Kampf und Arbeit als eigentlicher Lebenszweck betrachtet werden,108 und aus der mitleidlosen Derbheit der nationalistischen Aggressivität wie auch der Verachtung des Friedens  ; abergäubisch wird der Krieg als göttliche Mission beschworen (10,11,14), stereotyp verwen106 F 499, S. 6f. 107 In Klammern werden im Folgenden relevante Strophen zum Beleg angegeben, es sei denn, ein Aspekt manifestiere sich im ganzen Lied. 108 So heißt es in der 14. Strophe, dass Gott „den Menschen nur erschuf,/ zu dreschen immer feste druff.“ Vgl. die ersten beiden Verse der ersten und letzten drei Verse der elften Strophe.

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det Wahnschaffe alle zu Phrasen erstarrten Klischees des deutschen Nationalismus  ; Omnipotenzwünsche artikulieren sich in der Forderung nach Weltherrschaft (15,21) und der Imagination der eigenen Gottesähnlichkeit (14,17), ansonsten ergibt sich die Anbetung von Macht und Kampf, Zähigkeit und Schneid aus dem bereits Dargestellten  ; Destruktivität und Zynismus ebenfalls, überdies aus der geforderten Bereitschaft zu Entbehrungen (1–4,6–9) und aus dem verselbständigten Vernichtungsdrang (21)  ; der Aspekt der Projektivität tritt zugunsten des größenwahnsinnigen deutschen Selbstbildes zurück und ist deshalb nur indirekt in dieser (pubertär anmutenden) Selbstverherrlichung und in der Feindseligkeit nach außen zu finden.109 Die Identifikation aller Deutschen mit den politisch und ökonomisch Herrschenden, die Wahnschaffe so unermüdlich herzustellen versucht, unterläuft die Satire dadurch, dass sie die Versatzstücke dieser Ideologie durch Montage und kleine Veränderungen zur Kenntlichkeit entstellt. Sinnfällig wird dabei nicht zuletzt die für den autoritären Charakter typische Einheit des Lächerlichen mit dem Bedrohlichen, genauer  : des sprachlich und psychologisch Lächerlichen mit dem politisch und physisch Bedrohlichen. Das Lied provoziert durchaus zum Lachen, wie ja auch das Nachspiel am Ende jeder Strophe laut Regieanweisung das Gelächter des Auslands darstellt, doch insbesondere bei den im Inland Lebenden, die täglich mit dem Wahn konfrontiert sind, wird dieses Lachen mit Entsetzen gepaart sein. Leider ist das Lied heute in Deutschland völlig unbekannt, obwohl es, was die schulische Bildung betrifft, sowohl im Deutschunterricht als auch im Geschichtsunterricht viele Möglichkeiten bietet, die Schüler und Schülerinnen darüber nachdenken zu lassen, warum sich „das Volk der Denker“ auf „Schlachtenlenker“ reimt (12), wozu der Platz an der Sonne erobert werden sollte, für den man sich in den Schützengraben verkroch (4), und von welchen Schlagworten diese veralteten inzwischen abgelöst wurden. Eine solche Verwendung bietet sich auch für die Erwachsenenbildung an. Nach Wahnschaffes Abgang folgt der Auftritt seiner Frau und der beiden Kinder, die alle drei ähnlich stilisierte Kunstfiguren sind wie Wahnschaffe selbst. Zunächst hält „Frau Kommerzienrat Auguste Wahnschaffe“ einen fast vierseitigen Monolog, in dem sie sich als adäquates weibliches Gegenstück zu ihrem Mann erweist.110 Kraus verwendet für ihren Monolog mehrere Zeitungsartikel 109 Exemplarisch in Strophe 10  : „Weil alles bei uns schneidig ist,/ die ganze Welt uns neidig ist.“ 110 L.c., S. 397  ; vgl. zur Einbindung von Frauen und Kindern in die Kriegsideologie exemplarisch

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und -inserate, die er zu Kriegszeiten in der Fackel zitiert hat, und erstellt durch dieses Collageverfahren eine Charakteristik der wilhelminischen Bürgersfrau, wie sie in der damaligen Presse propagiert und inszeniert wurde. Frau Wahnschaffe vertritt somit den Frauentypus, der in der Fackel recht konventionell als „Megäre“ tituliert wird, allerdings eine Variante dieses Typus, die in keinerlei Spannungsverhältnis zur patriarchalen Gesellschaft steht. Innerhalb der gesellschaftskonformen Konzeptionen von Weiblichkeit bildet sie den Gegenpart zum veraltenden (und ohnehin mehr in England als in Deutschland beliebten) Ideal einer romantischen Gattin, die, als Frau „von Natur aus“ sensibel und unpolitisch, im Krieg um ihre Verwandten bangt und den Frieden ersehnt  : den Krieg bejaht Frau Wahnschaffe mit den gängigen, der Männerwelt entlehnten Phrasen und Schlagworten, der „faule Friede kommt früh genug“.111 Zu spontanen individuellen Gefühlen scheint sie ohnehin unfähig zu sein  ; was sie an Gefühlen äußert  : Bedauern, Freude, Hoffnung und Zuneigung, sind auf Krieg und Monarchie bezogene Gefühlssurrogate, deren Qualität etwa den von ihr gepriesenen Lebensmittelsurrogaten entspricht. So bedauert sie, dass ihr Sohn zu klein ist, um den „Heldentod“ zu sterben, und dass ihr zweites Kind ein Mädchen ist.112 Ersatz findet sie, wie für alles, so auch hierfür, in der „Vorstellung“ von einem solchen Opfertod. Tatsächlich erschienen sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg regelmäßig Inserate, in denen stolze Eltern ohne ein Wort des Bedauerns den „Heldentod“ ihrer Söhne verkündeten  : die emotionale Fixierung auf den Staat war also stärker als die – vermutlich ohnehin entfremdete – Beziehung zum eigenen Kind. Kraus zitierte solche Inserate in der Fackel voller Abscheu. Dass hingegen ihr Gatte, den Frau Wahnschaffe ja als Ernährer braucht, nicht an der Front ist, wird nur der Form halber bedauert  : er sei „leider“ nicht im Felde, weil „zum Glück“ unabkömmlich.113 Umso mehr freuen sie seine geschäftlichen Erfolge  : es stellt sich heraus, dass Wahnschaffe beispielsweise wahnhafte Kriegsneuheiten schafft wie die Gedenk-Utensilie „Heldengrab im Hause“,114 mit der stolze Heldeneltern ihren Gästen die fürs Vaterland Gefallenen präsentieren

die folgenden Beiträge in Österreich und der Große Krieg  : Anton Staudinger  : ‚Die christliche Familie‘ im Krieg (S. 113–121)  ; Konstanze Fliedl  : Etwas ganz Großes und auch etwas Schweres. Der Erste Weltkrieg im trivialen Frauenroman (S. 192–200). 111 Die letzten Tage der Menschheit, S. 399f. 112 L.c., S. 397f., S. 400, S. 401, Zitat S. 398 113 L.c., S. 400 114 Alles l.c., S. 401, vgl. zum Aspekt des Heldentums als Hausiererware auch S. 651f.

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können. Im vierten Akt (IV,22) wird Frau Wahnschaffes österreichische Gesinnungsgenossin Frau Pogatschnigg berichten, dass diese Erfindung auch in Österreich begeistert aufgenommen worden ist, und gleich über Wahnschaffes nächste Erfindung, ein „Heldenkissen“ für Kriegsheimkehrer,115 informiert werden, woraufhin – wiederum unter Verwendung authentischer Inserate der Spielzeugindustrie – ein Austausch über kriegsverherrlichende Kinderbücher und Kinderspiele stattfindet. Während die Kinder zwecks späterer Kriegstauglichkeit so früh wie möglich zur Feindschaft gegen die Alliierten erzogen werden sollen, artikulieren die Mütter in der Befassung mit diesen Spielen regressive Tendenzen  : „man schüttelt das Ei und denn müssen unsre Braven in die Festung, die Russen aber in den Sumpf – etsch  !“116 Wahnschaffes rastlose Tätigkeit führt allerdings dazu, dass sein Eheleben auf die halbe Stunde reduziert ist, die er sich zum Essen Zeit nimmt.117 Ersatz bietet seiner Frau die leidenschaftliche Beschäftigung mit Ernährungsfragen, die in einer Passage sehr durchsichtig sexuell konnotiert ist.118 Die in anderen Szenen bei Männern zu beobachtende Verlagerung der Impulsivität von der sexuellen auf die militärische Sphäre findet hier ihr Pendant im Eifern der Frau Wahnschaffe, die sich selbst wahlweise als „tüchtige“ oder als „deutsche“ Hausfrau bezeichnet und in einer rührigen Hausfrauenvereinigung organisiert ist.119 Während die allgemeine Ernährungslage sich permanent verschlechtert, dienen die zum Teil bereits knapp werdenden Surrogate der wohlhabenden Frau Wahnschaffe zur Bestätigung, dass auch sie zum Opfer für den Staat bereit sei  : „Da man aber sonst überhaupt nicht wüßte, daß es jetzt durchzuhalten gilt, so nehmen wir solch kleine Entbehrungen gerne in Kauf. Umso lieber, als man ja anderes jetzt gar nicht in Kauf nehmen kann, so daß wir das viele Geld, das Männe verdient, glatt zurücklegen können.“120 Die deutsche Hausfrau hat sparsam zu sein und nicht etwa die Friedenszeit herbeizusehnen, in der sie das Gesparte wieder „für Tand ausgibt“.121 Glücksfeindschaft und Unnatur terminieren in der Begeisterung für den Tod. So geizig das eigene Geld gehortet wird, so großzügig berauscht man sich am Opfer fremden Blutes, wie die beiden Zitate verdeutlichen, die Frau Wahnschaffe nun anführt  ; ob es sich nun um den Tod 115 L.c., S. 462 116 L.c., S. 464 117 L.c., S. 398 118 Von „Männe bekam sein Eichelwasser“ bis „zu versüßen“, l.c., S. 399. 119 L.c., S. 398 120 L.c., S. 399 121 L.c., S. 400

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des Ehemannes (einer Romanfigur) oder um die Nachricht von dreitausend gefallenen Engländern handelt, der Tod wird affektiv besetzt und sprachlich verklärt.122 Die Kinder dieses Ehepaars sind nichts anderes als kriegerische Phrasen auf zwei Beinen, so unnatürlich wie das von ihrer Mutter verwendete „Seifenersatzpräparat ‚Kriegskind‘“.123 Kraus legt ihnen repräsentative Zitate aus Meldungen von der Front und aus Leitartikeln in den Mund. Der parodistische Witz resultiert in diesem Abschnitt der Szene124 aus dem Kontrast zwischen der äußeren Form einer alltäglichen Familienszene, in der streitende Geschwister sich gegenseitig bei der Mutter verklagen, welche sie – unter Berufung auf die väterliche Autorität – ermahnt und beschwichtigt, mit dem unkindlich kriegerischen Inhalt der in der Phraseologie der Erwachsenen ausgetragenen Streitigkeiten. Das Einzige, was an diesen Frühvergreisten noch kindlich ist, nämlich die tiefe Überzeugung, der Gegner sei stets im Unrecht und der Sieg gebühre einem selbst, deckt sich mit der infantilen Regression der Erwachsenen im Krieg, die dadurch ins Bewusstsein gehoben wird. Auch die Mutter lässt Unparteilichkeit und Rechtsempfinden vermissen, indem sie den zum Soldaten bestimmten und deshalb mit Deutschland identifizierten Sohn bevorzugt. So realitätsfern die Szene auf den ersten Blick wirken mag, sie gestaltet in dramatischer Form die Schreckensvision einer Abschaffung der Kindheit als Warnung vor dem Totalverlust jeglicher Erfahrungsfähigkeit, jeglicher Autonomie und somit jeglicher Individuation. Anstatt verschiedene Phasen von Entwicklungsstufen zu durchlaufen, würde sich Sozialisation auf die widerspruchslose Integration in die bestehende Gesellschaft reduzieren. Ein „Warnstück“, wie Kurt Krolop es im Titel seines bereits zitierten Aufsatzes nennt, ist das Drama gerade auch im Hinblick auf diesen Erfahrungs- und Autonomieverlust. Das gesamte Familienleben der Wahnschaffes ist auf Staat, Krieg und Wirtschaft konzentriert. Durch Übertreibung und Stilisierung wird hervorgehoben, dass die historische Tendenz dahingeht, die bürgerliche Familie ihres subversiven Potenzials zu berauben und die Sozialisation direkt den Staatsinteressen zu adaptieren. Denn dieses Potenzial hatte seine Grundlage in der ökonomischen Autonomie des Familienvaters, in der liebenden Mutter als Gegenfigur zur väterlichen Autorität und im schönen Schein des humanistischen 122 L.c., S. 400 123 L.c., S. 404 124 L.c., S. 401–404

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Bildungsideals. Auch aus dieser Urform der bürgerlichen Familie können freilich autoritäre Charaktere hervorgehen, vor allem wenn die Kinder mit einem übermächtigen, strafenden Vater sich identifizieren und die schwache Mutter verachten. Aber erst die Form der Familie, die keinerlei Autonomie gegenüber dem Staat mehr besitzt, bringt den autoritären Charakter in seiner extremsten Form hervor. Karl Kraus tat Recht daran, dieser Entwicklung nicht etwa durch gesteigerte Psychologisierung oder Individuierung seiner Figuren zu begegnen, sondern im Gegenteil die spontane Identifikation mit ihnen durch Stilisierung und Übertreibung zu verhindern. Denn nur vermittels der ästhetischen Distanz wird der Weg zu psychologischen Erkenntnissen und damit zu kritischer (Selbst-)Reflexion freigelegt. Im letzten Teil der Szene lässt Kraus in der kabarettistischen Dramaturgie einer Folge von Sketchen, die allerdings mehr schaurig als witzig sind, weitere Kriegskinder Revue passieren. Im Unterschied zum Auftritt der WahnschaffeKinder handelt es sich hierbei um Dialoge mit empirischer Basis  : wenn man dem Autor und den übrigen Gewährsleuten Glauben schenken darf, wurden sie teils von Kraus selbst, teils von seinen Bekannten und teils von anderen, eher affirmativen Erwachsenen, die sie an eine Zeitung sendeten oder für den zitierten Sammelband zur Verfügung stellten, erlauscht.125 Dadurch, dass die Schreckensvision der Wahnschaffe-Kinder diesen realitätsnahen Szenen vorausgeht, erscheinen auch sie als erfundene, und gerade dies ist intendiert. Im Alltag erscheint es normal und wird eher humoristisch aufgenommen, wenn Kinder Aussprüche der Erwachsenen nachplappern  ; in der Zeitung und im Sammelband wird von kriegsbegeisterten Erwachsenen erfreut zur Kenntnis genommen, wie der Nachwuchs ihre Ideologie übernimmt. Selbst in der Kriegs-Fackel wirken diese Zitate weniger erschreckend als im Stück, denn erst vor dem Hintergrund der Wahnschaffe-Dialoge enthüllt sich ihr ganzer Horror, indem sie als Stationen auf dem Weg zu einer Welt ohne Kindheit erscheinen, einer Welt, in der spielerisches Erkunden der bestehenden Verhältnisse durch die staatliche Normierung des Denkens, Fühlens und Agierens schon der Kleinsten ersetzt sind.126 Die mimetischen Impulse der Kinder reduzieren 125 Das Kind und der Krieg. Kinderaussprüche, Aufsätze, Schilderungen und Zeichnungen, dieser Titel wird zitiert in l.c., S. 407. Den Zusammenhang zwischen der Regression der Erwachsenen und der Abschaffung der Kindheit thematisiert auch der Nörgler (l.c., S. 220, S. 495 Mitte, S. 673 Mitte). 126 So will die kleine Elsbeth nicht mehr spielen, weil sie gehört hat, die Engländer seien den Deutschen aufgrund ihrer Spielfreudigkeit unterlegen (l.c., S. 406). Als die zunächst befremdete Mutter diesen Grund erfährt, ist sie stolz auf ihr Kind und beschließt, den Fall zu publizieren.

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sich auf unmittelbare Nachahmung der Erwachsenen, und diese trichtern ihnen im Namen der gesellschaftlichen Autoritäten Unterwerfung und Verzicht auf kritisches Denken ein, wo immer auch nur ein Ansatz dazu erkennbar wird. Die Repräsentanten der Macht werden zum Ersatz für den „schwarzen Mann“ und strafende Märchengestalten, sodass dem widerspenstigen Kind nicht mehr ein geheimnisvolles symbolisches Unglück droht, sondern die negative Sanktionierung durch reale Autoritäten, und zwar unabhängig davon, ob es sich um wünschenswerte zivilisatorische Erziehungsziele wie die Abgewöhnung des Nasebohrens handelt127 oder um das aufklärungsfeindliche Verbot einer eigenständigen logischen Überprüfung des Gelesenen.128 Und doch lässt es Kraus dabei nicht bewenden. Dem letzten Dialog ist abzulesen, wovon er eine Neuorientierung erhofft, wenngleich sich diese Hoffnung in der für ihn typischen Zartheit zu erkennen gibt  : Es ist die Hoffnung auf die Widerstandsfähigkeit der jungen Generation, auf die nicht völlig zu unterdrückende Sprach- und Naturnähe der Kinder. Von ihnen wünscht er sich eine Erziehung der Eltern, nicht in dem banalen Sinn, der heute mit diesem zur Phrase erstarrten Gedanken verbunden ist, sondern im Sinn einer Rückbesinnung auf spontane Sprachreflexion, die dem vorgefertigten Denken widerstehen soll. Der Vater, der hier als Letzter auftritt, erweist sich nämlich im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der auf Einwände mit Redeverbot und Maulschellen reagiert, folgendermaßen als lernfähig  : Vater  : Jawoll mein Junge, immer feste – wie sagt doch Schiller, ans Vaterland ans teure schließ dir an  ! Sohn  : Vata – Vater  : Nanu  ? Sohn  : Vata, is denn det Vaterland jetzt auch teurer geworden  ? Vater  : Unerschwinglich, Junge, unerschwinglich  !129

Anhand einer Auswahl signifikanter Szenen gilt es nun, die Kraussche Kapitalismuskritik zu präzisieren. Eines ihrer zentralen Elemente ist die Kritik an der Fixierung auf das Reich der Notwendigkeit. Wird dieses zum Lebenszweck, dann absorbiert es das Reich der Freiheit und mit ihm die besten menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Denn um sich einer auf Macht und Reichtum 127 „Fritze, schämst du dich nicht  ? Na wart, das sag ich Hindenburch  !“, l.c., S. 404 128 Vgl. l.c., S. 407 129 L.c., S. 408

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ausgerichteten Gesellschaft anzupassen, müssen ihre Mitglieder ihr Denken und Fühlen, ihre Sprache und ihre persönlichen Beziehungen verstümmeln, und wenn die Reproduktionssphäre kein Gegengewicht mehr bildet, weil auch sie dem Reich der Notwendigkeit unterworfen wird, dann potenziert sich diese Verstümmlung. Kraus’ verstreute Äußerungen über eine wünschenswerte Gestaltung der materiellen Sphäre lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass sie so reibungslos wie möglich funktionieren sollte, ohne Ausbeutung und Gewalt, um das Ziel einer materiell auf moderatem Level gesicherten, möglichst wenig Zeit und Nerven beanspruchenden Bedürfnisbefriedigung für alle zu erreichen. Eine solche Basis sollte es den Einzelnen ermöglichen, individuelle Entfaltung im Reich der Freiheit zu finden, in welcher Weise auch immer. Demgegenüber leidet die europäische Kultur daran, dass, ungeachtet aller pathetischen oder sentimentalen Phrasen, „Verdienen und Fressen“ in Wirklichkeit „die höchsten Güter der Nation“ darstellen.130 Das Primat der Ökonomie über die Menschen ist schon so selbstverständlich geworden, dass sein Kontrast zu jenen ideologischen Phrasen ebenso wenig wahrgenommen wird, wie die Charaktermasken innerhalb dieser Gesellschaft reflektiert werden  ; vielmehr entsteht der Schein, sie seien naturgegeben. Dagegen lässt Kraus seinen Nörgler unermüdlich die Idee verteidigen, „daß Gott den Menschen nicht als Konsumenten oder Produzenten erschaffen hat, sondern als Menschen. Daß das Lebensmittel nicht Lebenszweck sei. Daß der Magen dem Kopf nicht über den Kopf wachse.“ 131 In zahlreichen Szenen führen die Letzten Tage der Menschheit vor, wie sehr die Bürger in ihrem Habitus zur Charaktermaske ihrer ökonomischen Position erstarrt sind. Der Umstand, dass die größten Produzenten und Konsumenten, nach jenem drastischen Wort also die eifrigsten „Verdiener“ und „Fresser“, ihre Privilegien als selbstverständlich ansehen und dafür noch höchste Wertschätzung genießen, wird vermittels der Darstellungsformen zum Indiz einer verkehrten Welt. Eine Reihe von Szenen dokumentiert, wie der Kontrast zwischen Überfluss und Mangel sich im Verlauf des Krieges verschärft. Dieses Problem fördert in doppelter Weise autoritäre Charakterzüge  : zum einen löst es bei den Verarmten, also vor allem bei Arbeitern und Soldaten, Aggressionen aus, die, falls sie sie nicht gesellschaftskritisch zu reflektieren vermögen, von der herrschenden Ideologie vereinnahmt werden  ; zum andern befinden sich kleinbürgerliche Lebensmittelhändler angesichts der Not eines zunehmenden Teils ihrer 130 L.c., S. 211 131 L.c., S. 197

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Kundschaft im Machtrausch. Den ersten Aspekt thematisieren insbesondere die Szenen II,11 und IV,18  : in Szene II,11 mischt sich unter den berechtigten Zorn hungernder Arbeiterinnen über den Brotmangel auch die stereotype Erklärung  : „Die Juden san schuld  !“132  ; in der (bekannteren) Szene IV,18 werden die Kinder der verelendeten Familie Durchhalter von der Mutter mit Schlägen bedroht und vom Vater mit dem zweifelhaften Trost abgespeist  : „Kinder, Rußland verhungert  !“133 Auf diese Weise dramatisiert Kraus zunächst nur die Praxis der Presse, inländischen Missständen dadurch zu begegnen, dass sie in übertriebener Form dem Ausland zugeschrieben werden, sekundär ergibt sich aber ein Ausblick auf die Psychologie derer, die solche Propaganda verinnerlichen und das eigene Elend zu ertragen bereit sind, sofern ihnen die Schadenfreude über das (wirklich oder vermeintlich) größere Elend der „Feinde“ Entschädigung bietet. Bei Vater Durchhalter kommt die autoritäre Aggression – konträr zu seinen materiellen Interessen – durch die Identifikation mit den politisch und ökonomisch Mächtigen zustande. Anders verhält es sich bei Viktualienhändler Vizenz Chramosta (III,6). Da sein aggressiv ausgelebter Machtrausch auf der tatsächlich zunehmenden Lebensmittelknappheit beruht, kann er es sich in jeder Hinsicht leisten, seine Kunden zu beleidigen („kaufn S’ Ihna an Dreck“), ihnen den Konsum zu verweigern („Sö kriagn heut überhaupt nix“) und, falls der erwünschte Einschüchterungseffekt sich nicht einstellt, das Geschäft sogar vorübergehend zu schließen („Wos hör i do  ? Aufbegehren  ? Wann i no an Muckser hör, loß i olle wias do san einspirrn  ! War net schlecht  ! Für heut könnts gehn olla mitananda. Gfreut mi nimmer. So aner notigen Bagasch verkauf i überhaupt nix  !“).134 Szenen wie diese entfalten ihre aufklärerische Wirkung im Kontrast zur offiziellen Propaganda, derzufolge der Krieg ein „Erwecker edelster menschlicher Tugenden“ sei, Tugenden, „die wir schon im Sumpfe des Materialismus und Egoismus unseres Zeitalters erstickt glaubten“.135 So prägnant auf diese Weise auch sinnfällig gemacht wird, welche psychischen Deformationen die ungleiche Verteilung des Reichtums hervorruft  : das physiognomische Verfahren sollte nicht mit der gesellschaftstheoretischen Analyse der Ursachen verwechselt werden, über die es durch das weitgehende Verharren in 132 L.c., S. 263, vgl. zu jenen Kontrasten auch die folgende Szene 133 L.c., S. 456 134 alles l.c., S. 334 135 So einer der beiden Reichspostverehrer in der ersten Szene dieses Akts, wie immer die Phrasen seines Leibblattes wiederkäuend, l.c., S. 324.

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der Konsumtionssphäre kaum Aufschluss geben kann. Selbst diejenigen Szenen, in denen die Produktionssphäre thematisiert wird, halten die von Kraus gezogenen Grenzen ein. Auch sie stellen präzise die Enthumanisierung der Gesellschaft in der kriegsbedingten Verschärfung autoritärer Verhältnisse dar, ohne den Anspruch einer soziologischen Erklärung zu erheben. Besonders signifikant ist in diesem Kontext die Fabrikszene II,32.136 Dramaturgisch bestätigt diese Szene, was der Nörgler zuvor (in II,29) dem affirmativen Optimisten entgegengehalten hat  : dass es keine Ehre ist, „einrückend gemacht“ und zwecks „Heldentod“ an die Front geschickt zu werden, sondern eine Strafe. Im Dialog der Fabrikszene gesellt sich zum einschlägigen militärischen Vokabular die Begrifflichkeit der ökonomisch Mächtigen („Gewerkschaftshunde“, „Hetzereien“137). Sowohl der militärische Leiter als auch der Fabrikant genießen ihre Möglichkeiten, durch direkte Gewalt und durch Drohung mit der Zwangsrekrutierung der Interessenvertretung der Arbeiterschaft entgegentreten zu können, und beklagen allenfalls, dass sie in der Verfügung über ihre Opfer nicht noch weiter gehen dürfen  : „Anbinden, Stockhiebe, Arrest, no und halt Einrückendmachen – mehr ham wir nicht, was andres gibts nicht. Kann man halt nix machen.“ – „Hochverräter seids ihr, hab ich ihnen gesagt, und damit euch die Lust vergeht, euch noch amal zu beschweren, habts ihr dreißig Tage Kasernarrest, punktum, Streusand drüber.“ – „Solang es geht, versuch ichs in Güte. (Er zeigt auf die Hundspeitsche.)“ – „Einen, der sich auch einmal über zu geringen Lohn beschwert hat, hab ich gepeitscht und Ihr Vorgänger hat ihm dafür drei Wochen Arrest gegeben.“138 Die aufbegehrenden Arbeiter selbst haben keinen Platz in der Weltuntergangssatire  ; sie werden indirekt dadurch gewürdigt, dass die von ihren Peinigern zitierten sachlichen Worte proletarischer Selbstbehauptung einen wohltuenden Kontrast zum autoritärpaternalistischen, strafsüchtigen und gewaltverherrlichenden Duktus der Dia­ logpartner bildet. Neben all den Szenen, die den psychologischen Ausdruck der destruktivsten Seiten der Kapitalherrschaft darstellen, gibt es aber auch solche, die geeignet sind, einer etwaigen Überbewertung psychologischer Faktoren entgegenzuwirken. Dazu gehört beispielsweise die in einem Ringstraßencafé spielende, dabei in zwei Abschnitte untergliederte Szene V,25. Problematisch ist an dieser 136 Siehe dazu Eckart Früh  : Die „Arbeiter-Zeitung“ als Quelle der „Letzten Tage der Menschheit“, in  : Karl Kraus in neuer Sicht, S. 209–234, hier S. 224–227. 137 L.c., S. 307 138 L.c., S. 307, S. 308, S. 307, S. 309

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Szene die klischeehafte Personifikation profitabler Handelsgeschäfte im Krieg in jüdischen Figuren  : im ersten Abschnitt der Szene ertönen ihre aufs Geschäft fixierten Satzfetzen durcheinander als Kakophonie des jüdischen „Jargons“. Mit dem zweiten Abschnitt situiert sich der Text freilich in der besten Tradition jüdischer Witzkultur  ; die Miniaturszene vom „alten Schieber“, dem ein großes persönliches Unglück zu drohen scheint, könnte der Form nach ihren Platz in einem jüdischen Kabarett haben. Teilnahmsvolle Menschen bemühen sich um den gebrochenen Alten, seine Frau beruhigt ihn, seine Tochter verteidigt ihn gegen schadenfrohe Kontrahenten, ein Freund möchte ihm helfen, die Sache sportlich zu nehmen – und erst ganz am Schluss erfahren die gespannten Rezipienten, worin das drohende Unglück denn besteht  : im Frieden, der die Skoda-Aktien des Geschäftsmanns entwerten würde. An den Beteiligten sind keine unsympathischen oder gar autoritären Züge festzustellen, und doch wünschen sie sich die Fortsetzung des Krieges, in der Konsequenz die Fortsetzung von Massensterben und Elend, um den Ruin des Alten abzuwenden. Damit wird deutlich, dass die ökonomischen Zwänge, die die Menschen als Charaktermasken des Kapitals zur Inhumanität veranlassen, der individuellen Psychologie ganz äußerlich sein können. Der kritischen Theorie zufolge ist es durchaus plausibel, dass der Doppelcharakter des gutherzigen Citoyen und des herzlosen Bourgeois im jüdischen Bürgertum tendenziell eher fortlebt als beim Typus Wahnschaffe. Dafür spricht jedenfalls, dass in der jüdischen Kulturproduktion (unterhalb der Hochkultur) die Notwendigkeit, sich in einer vom Reichtum bestimmten Gesellschaft zu behaupten, ein offen thematisiertes, meist ironisch behandeltes Motiv darstellt, während in der christlichen Kultur ein sentimentaler moralischer Abscheu vor dem Geld zelebriert wird, der gesellschaftliche Determinanten einfach ausklammert. Die destruktive Dynamik der Gesellschaft wird insbesondere dann entfesselt, wenn Interessenkonflikte nicht rational ausgetragen, sondern ideologisch verbrämt werden. Besonders ausgeprägt ist diese Tendenz, Kraus zufolge, bei den Mittelmächten. Einige Reflexionen hierzu, die in der Rezeption der anderen thematisch relevanten Szenen mitzudenken sind, finden sich in der über 30 Seiten langen Szene I,29  : Der Optimist und der Nörgler im Gespräch. Der Optimist  : Aber es gibt doch wenigstens wieder ein Ideal. Ist es da mit dem Übel nicht vorbei  ? Der Nörgler  : Das Übel gedeiht hinter dem Ideal am besten.139 139 L.c., S. 193

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Während der Optimist die Ansicht vertritt, schon der Umstand, dass überhaupt für eine Idee gekämpft und gestorben werde, hebe das sittliche Niveau, hält der Nörgler ihm entgegen, an der Idee, für die gestorben werde, könne niemand gesunden, denn es sei dieselbe, für die auch schon im Frieden gelebt und gestorben werde  : die „Idee der kapitalistischen, also der jüdisch-christlichen Weltzerstörung.“140 Isoliert betrachtet, ließe sich eine solche Formulierung auch faschistischen Strömungen subsumieren. Der Kontext schließt diese Deutung jedoch aus  : zum einen verweist der Nörgler in dem Absatz, aus dem das Zitat stammt, auf die Klassengegensätze und verwendet dabei einen Begriff des Volks, der nicht rassistisch, sondern sozialistisch bestimmt ist. Zum andern gibt er kurz darauf seine Hoffnung kund, die vom Optimisten als Feinde bezeichneten Entente-Länder würden diese Idee erfolgreich bekämpfen. Dabei zitiert er eine Formel, die im Stück in der nationalistischen Rede der Kriegsbegeisterten aller Altersstufen und Promillegrade mit kleinen Variationen repetiert wird, um sie gegen Deutschland und Österreich zu wenden  : „Man sollte sich allmählich gewöhnen, das, was man britischen Neid, französische Revanchesucht und russische Raubgier nennt, als eine Aversion gegen den ehernen Tritt deutscher Schweißfüße aufzufassen.“ 141 Kurz  : den deutschen „Bodenständigen“ bekommt Expansion nicht, und die Entente erkennt das. In einer längeren Passage des Dialogs 142, die gleichsam als eine Paraphrase des Wahnschaffe-Couplets gelesen werden kann, präzisiert der Nörgler seinen provokativen Gedanken  : „Im deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, geht alles Heterogene sofort eine heillose Verbindung ein. Jene [die Engländer] haben Kultur, weil sie das bißchen Innerlichkeit von den Problemen des Konsums streng zu separieren wissen.“143 Bei den Deutschen werde alles Seelische, Geistige und Künstlerische der Arbeit subsumiert und „gleich als Ornament, als Warenmarke, als Aufmachung verwendet.“144 In dieser Vermischung liegt das Übel begründet, denn sie erlaubt es weder das Geschäft rational zu betreiben, noch Individualität, Reflexion und Kunst sich entfalten zu lassen. Psychologisch folgt daraus eine Verkümmerung der Intrazeption, insbesondere der Sensibilität und der Reflexionsfähigkeit, die an den Figuren, in denen diese Gedanken Gestalt annehmen, sichtbar werden 140 L.c., S. 194 141 L.c., S. 195 142 L.c., S. 202–204 143 L.c., S. 203 144 L.c., S. 204

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(eng verknüpft mit der Wahnschaffe-Szene beispielsweise in Szene III,38), ideologisch ein verzerrtes Eigenbild ebenso wie ein verzerrtes Fremdbild. In Anspielung auf das Schlagwort von Händlern und Helden, das unter anderem titelgebend für ein Buch des Nationalökonomen Werner Sombart war, konstatiert der Nörgler  : „Wir sind Händler und Helden in einer Firma.“145 Wegen der Vermischung von Geschäft, Geist und Tod überrascht ihn auch nicht der im fünften Akt feststehende Bankrott der Mittelmächte, denn „wir haben den Mord mit der Bibel und den Raub mit der Fibel in der Hand betrieben.“146 Sein Ideal, den Staat nüchtern und ehrlich als „Konsumverein“ zu betrachten,147 können indessen auch die westlichen Demokratien nicht erfüllen. Während der Nörgler die Unterschiede zwischen der deutschen Kultur und der der Entente-Länder herausstreicht, wird der Autor der Fackel deshalb in den Nachkriegsjahren beklagen, dass ihr Sieg kulturell nicht so eindeutig sei wie militärisch  ; mehr noch  : dass womöglich die deutsche Kultur in ihrer destruktivsten Gestalt – eben jener Missgestalt der fatalen Vermischungen – als siegreiche sich über die Welt verbreite. Diese Wahrnehmung wirft ein Licht auf die Verkürzungen, die jeder Aussage über nationale Kulturen zwangsläufig zu eigen sind, selbst noch der weitsichtigsten Kritik an den Deformationen der Inlandsgesellschaft. Nie aber hat Kraus den Umstand, dass das Übel auch im Ausland vorhanden ist, zur Verharmlosung der innerdeutschen Fehlentwicklungen missbraucht, wie es heute fast schon zum allgemeinen Usus geworden ist  ; im Gegenteil bestätigt ihm dieser Umstand nur die Dringlichkeit der Kritik.

Die „verfolgende Unschuld“ und die „reinen Lamperln“ Die letzten Tage der Menschheit sind zugleich die letzten Tage der beiden obsolet gewordenen Monarchien, die den Krieg, daran lässt das Stück keinen Zweifel, begonnen haben  : der Hohenzollern- und der Habsburger-Monarchie. Der Zusammenhang wird aber nicht etwa dadurch konstituiert, dass Humanität an die monarchische Gesellschaft gebunden gewesen wäre  ; vielmehr entfesseln diese beiden Staaten im Inferno des Weltkriegs ein Destruktionspo145 L.c., S. 204. Sombarts Fall zeigt, dass man auch Sozialdemokrat und Nationalist „in einer Firma“ sein konnte, und dass diese Vermischung ebenso dem Nationalsozialismus zutrieb. 146 L.c., S. 658 147 L.c., S. 212

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tential, das die Menschheit in den Untergang ihrer Monarchien mitzureißen droht und nach deren Sturz noch fortwirken wird.148 Während die militärische Gewalt aufgrund der neuen Waffentechnik erstmals in der Geschichte undarstellbar geworden ist und deshalb nur auf der Dialogebene erwähnt werden kann, artikuliert sich das Destruktionspotential drastisch in der dramaturgisch gestalteten und vom Nörgler kommentierten Pathologie der Propaganda, der Kommunikation und der Interaktionen. In der Kriegspropaganda wurde das gemeinsame Vorgehen mit den Schlagworten „Schulter an Schulter“ und „Nibelungentreue“ emotional aufgeladen.149 Beschwören die alldeutsche und die deutschnationale Ideologie eine Deutschland und Österreich verbindende deutsche Kultur, so manifestiert sich in den Missverständnissen und Unstimmigkeiten, zu denen es in einigen über die fünf Akte verteilten Szenen kommt, eine kulturelle Unvereinbarkeit, die zu mühsam unterdrückter Feindseligkeit führt. Der krampfhafte Versuch, ein gemeinsames Deutschtum zu beweisen, lässt die schlechten Eigenschaften der Wiener und der Berliner, die hier in der Regel aufeinandertreffen, umso deutlicher hervortreten. Stets erscheinen die Österreicher aus preußischer Perspektive allzu zögerlich, begriffsstutzig, chaotisch, „schlapp“, wie es mehrfach heißt, während sie sich umgekehrt vom Aktionismus und von der Dreistigkeit der Preußen überfordert fühlen (kaum weniger fragwürdig ist die gegenseitige Bewunderung  : für preußische Ordnung und für österreichischen Kulturkitsch). Sogar Frau Wahnschaffe und Frau Pogatschnigg geraten wegen der in Wahnschaffes Kriegsspielkreisel verewigten Vormachtstellung Deutschlands in Streit, bevor das Nachgeben der Österreicherin einen Abgang „Schulter an Schulter“ wieder ermöglicht.150 Aus dem Schlaf sprechend, klagt schließlich Kaiser Franz Joseph, kurz vor seinem Tod, über sein Bündnis mit Kaiser Wilhelm II.: „Die Schulter statt zu stützen, / sie drückt mich noch zu Tod“. Und  : „Es ist ein Bund des Pferdes / mit einem Reiter toll / und für den Schutz des Herdes / verlangt er hohen Zoll.“151 Die Lokalnachricht, aus der Kraus dieses Bild bezieht, liest im fünften Akt der Nörgler dem Optimisten vor.152 148 Die dritte große Monarchie, die im Verlauf des Weltkriegs hinweggefegt wurde, das russische Zarenreich, ist kein Gegenstand des Stücks. 149 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier die für die Kritik dieser Bündnisideologie relevantesten Stellen aufgeführt  : l.c., S. 71, S. 180–187, S. 234–236, dazu der Nörgler S. 236f., S. 401, S. 404, die Szenen III,45 und IV,4  ; S.  464, S. 522f., S. 555 sowie die Szenen V,8  ; V,9 und V,55. 150 L.c., S. 464 151 alles l.c., S. 522 152 L.c., S. 564f.

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Es handelt sich um die bereits in der Fackel zitierte und in die Vorlesungen aufgenommene Meldung Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul.153 Da der Optimist, anders als die Leser der Fackel, zunächst keinen Hinweis auf die allegorische Deutung des Bildes bekommt, versteht er nicht, dass der Nörgler in dem „Hurra  !“ schreienden „Irrsinnigen“ Wilhelm II. und in dem „Gaul“, mit dem er wild drauflosgaloppiert, Franz Joseph sieht. Ebenso verständnislos steht er der Hoffnung des Nörglers auf einen „Policeman“ gegenüber, der den Wahn stoppen soll. Indem Karl Kraus diese Meldung bis Oktober 1918 immer wieder öffentlich vortrug, wollte er das Bild dem österreichischen Publikum einprägen.154 Danach schied es aus den Vorlesungen aus, wurde aber durch die Aufnahme in die Letzten Tage der Menschheit dem kulturellen Gedächtnis erhalten, sodass Kraus 1932 anlässlich bedrohlicher Anschlussbestrebungen darauf rekurrieren konnte.155 Der autoritären Unterwürfigkeit, mit der Ross und Reiter samt Anhang damals verehrt wurden, setzt die Satire Darstellungen entgegen, die ihr Charakterbild gründlich demontieren. Bei Franz Joseph ist vor allem das Missverhältnis zwischen Amt und Person satirisch relevant  : Unter der Maske des konzilianten Landesvaters war er – den Letzten Tagen der Menschheit zufolge – ein vertrottelter, phrasendreschender, wehleidiger, dabei kalter und pedantischer Mensch,156 der kaum ermessen konnte, was er tat. Der Nörgler zeigt sich an seinen persönlichen Eigenschaften eher desinteressiert, er beklagt aber, dass eine solche „Unpersönlichkeit ihren Stempel allen Dingen und Formen aufgedrückt“ hat.157 „Es ist halt ein echt österreichisches Pech, daß das Ungeheuer, das diese Katastrophe heraufführen sollte, die Züge eines guten alten Herrn trägt. Er hat alles reiflich erwogen, aber er kann nichts dafür  : und das eben ist die letzte, die grausigste Tragödie, die ihm nicht erspart geblieben ist.“158 Der Nörgler tastet sich in dieser Passage zu der dialektischen Erkenntnis vor, dass die Geschichte sich zwar durch das Handeln von Menschen vollzieht, welche dafür auch politisch verantwortlich zu machen sind, dass sie sich 153 F 418, S. 15f. 154 So bezeichnete er sie einmal als ein „Repertoirestück“, „das nun mit jeder Vorlesung verständlicher wird. Und ich werde es erst absetzen, wenn einmal der sonderbare Reiter absitzt.“ (F 484, S. 135). 155 F 876, S. 20 156 Vgl. Die letzten Tage der Menschheit, S. 497–503 und Szene IV,31 157 L.c., S. 497 158 L.c., S. 502. Der guate alte Herr in Schönbrunn heißt eines der damals populären Lieder, die in der Nachtlokal-Szene III,45 gespielt werden (l.c., S. 416).

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gleichwohl aber unabhängig von der Persönlichkeit selbst der Herrschenden vollzieht, sodass in diesem Fall Franz Joseph in seiner Gleichgültigkeit und Unverständigkeit im ethischen Sinn gar nicht in Lage ist, die Verantwortung zu übernehmen. So erklärt der Nörgler bezüglich des oben zitierten Couplets Franz Josephs, „das so lang ist wie sein Leben“159  : „In der Weltgeschichte macht kein Zeitpunkt die Verantwortlichkeit erlöschen“ (auch nicht der Tod), aber  : „Ich lasse nicht Franz Joseph, sondern den leibhaftigen habsburgischen Dämon auftreten.“160 Das mit einem Fluch belastete Herrscherhaus der Habsburger ist für den Nörgler der wirkliche „Feind“, auf dessen Niederlage er wartet.161 Bei Kaiser Wilhelm II. hingegen korrespondieren die persönlichen Eigenschaften – Grausamkeit, Freude an der Demütigung anderer, Vulgarität – weit eher seiner destruktiven Politik. Der Nörgler nennt ihn ein „Scheusal von einem Barbarenkaiser“ und den „Imperator der geistigen Knödelzeit, der keine Quantität von Fleisch und Blut unberührt lassen konnte und dazu seinen eigenen Schenkel klatschend schlug und sein gröhlendes Wolfslachen ertönen ließ  : so lachte der Fenriswolf, als die Welt in Flammen aufschlug. […] Sich weidend an der Verlegenheit, wenn er auf der Jagd oder bei offiziellstem Anlaß, durch einen Hieb auf den Hintern, durch einen Tritt aufs Bein, durch eine Frage nach seinem Sexualgeschmack den Partner überraschte.“162 Möglicherweise spielt Kraus mit der in mehreren Szenen verwendeten Chiffre S.M. (vordergründig nur ein Kürzel für Seine Majestät) auf Wilhelms sadomasochistische Neigungen, die in solchen Rohheitsakten sich bekunden, an. Dramaturgisch wird all dies in den Szenen I,23 (Kaiser Wilhelm und Ganghofer) und IV,37 (Wilhelm und die Generale) gestaltet. Als Quellen seiner Darstellung nennt Kraus in einer Randbemerkung zu Wilhelm und die Generale die „gedruckten Aussagen des Kontreadmirals Persius“ sowie Schilderungen und Nachahmungen Wilhelms durch Kraus persönlich bekannte Augenzeugen.163 Überdies könnte Kraus ihn im Kino gesehen haben, da Wilhelm, einem in der Fackel zitierten Zeitungsbericht zufolge, damals „der meistverfilmte Herr-

159 Ibid. 160 L.c., S. 503, vgl. S. 499 und S. 501 161 Vgl. l.c., S. 503 und S. 499 162 L.c., S. 505 163 Vgl. F 521, S. 1f., Zitat S. 2, und F 531, S. 193–205. Die Schilderung des Kontreadmirals wurde später durch einen Hofmarschall bestätigt (vgl. F 640, S. 3). Der Titel spielt auf die Randbemerkungen betitelten Memoiren Wilhelms an.

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scher der Erde“ war.164 Später finden sich in der Fackel kritische Äußerungen Bismarcks über den jungen Kaiser165, und aus Publikationen zum zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns trägt Kraus weiteres Beweismaterial zusammen.166 Das Bild Kaiser Wilhelms, das Kraus als ein Mosaik aus den verschiedenen Elementen zusammensetzt, gibt nicht zuletzt Aufschluss über ein zentrales Problem der kritischen Theorie  : das Zergehen des Scheins, den Verfall der Ideologie, die gleichwohl nicht verschwindet. Wilhelms sprachliche Entgleisungen – auf Gott als Verbündeten könne er sich „bombenfest“ verlassen167  ; er „scheiße“ auf alle internationalen Beschlüsse168 – und die von ihm öffentlich verübte sexuelle Gewalt lassen eine antizivilisatorische Enthemmung erkennen, die ganz seiner maßlosen imperialistischen Gewaltpolitik entsprach. Insofern war er der passende Mann für die Funktion, die er für Kapital und Aristokratie zu erfüllen hatte. Dennoch kann auch er nicht der ideologischen Verbrämung seiner Politik entbehren. „Wir sollen kämpfen für Recht, Treue und Sittlichkeit“169, postuliert er im Namen Gottes – und praktiziert das Gegenteil. Auch beruft er sich auf Kants kategorischen Imperativ, was Kraus veranlasst, in dessen Namen eine Erklärung abzudrucken, er habe Parolen wie „Immer feste druff  !“ nicht als Beispiele für diese philosophische Idee vorgesehen.170 Während dieser Fall indiziert, dass die „großen Namen“ Kant, Goethe und Beethoven nicht mehr für den Gehalt ihrer geistigen Produktion, sondern für das Ideologem der kulturellen Überlegenheit Deutschlands stehen, mit dem im Weltkrieg nicht weniger als der Anspruch auf Weltherrschaft legitimiert werden sollte, schafft der Zynismus jener durchsichtigen Lügen auf seine Weise das politische Klima für eine neue, der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gemäße Form des autoritären Charakters. Dem deutschen Kaiser „im Martialischen wie im Erotischen wahlverwandt“ ist auf habsburgischer Seite Erzherzog Friedrich, der von 1914 bis 1917 das Armeeoberkommando innehatte, bevor Karl I. dieses Amt übernahm.171 In einem Gespräch über Fotographien der Regierenden und Armeeführer (III, 164 F 431, S. 103 165 Bismarck-Sätze, in  : F 632, dort insbesondere S. 45, S. 50 166 F 657, S. 27f. 167 Die letzten Tage der Menschheit, S. 533  ; die zitierte Rede ist auch schon in F 474 auf S. 155f., erschienen. 168 F 657, S. 27 169 Die letzten Tage der Menschheit, S. 533 170 F 474, S. 156 171 Die letzten Tage der Menschheit, S. 505

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41), seufzt der Nörgler  : „Ach, dieses Lächeln im Krieg war erschütternder als das Weinen  ! Der Photograph mußte sie nicht erst bitten, ein freundliches Gesicht zu machen, sie fanden ohnehin die Welt in Ordnung. Der Erzherzog Friedrich, harmlos, als ob er nicht bis drei Galgen zählen könnte  ; […]  !“172 Karl Kraus wirkt demnach nicht nur einer durch Gewohnheit abgestumpften Rezeption der Pressetexte entgegen, sondern er überträgt das Verfahren einer Kontextualisierung der Presseerzeugnisse auch auf Fotografien. Die niedrige Intelligenz des Erzherzogs war im In- und Ausland kein Geheimnis 173, seine Grausamkeit gegenüber Zivilisten und Soldaten, die als potentiell verräterisch angesehen wurden, belegt der Nörgler später mit Zahlenangaben in fünfstelliger Höhe für die auf Friedrichs Anordnung hin errichteten Galgen.174 Über den „Barbarenkaiser“ Wilhelm II. und den „Kretin“ Erzherzog Friedrich befindet der Nörgler  : „Das waren die Blutgebieter. Der eine im Format dem öden Sinn dieses Weltkriegs gewachsen, verantwortlich für die Tat  ; der andere mit ahnungslosem Behagen in der Wanne eines Blutmeers plätschernd.“ 175 Für beide gilt indessen, dass sie keine Individuen sind. Ihre Darstellung in der Öffentlichkeit mag sie zur „persönlichsten Persönlichkeit“ stilisieren, wie kaisertreue Nationalisten es im Untertan von Heinrich Mann unisono tun, viel eher trifft auf sie das Wort zu, das in Szene IV,4 einem Besucher aus Berlin vor einer Fotografie des habsburgischen Erzhauses entfährt  : „lauter Charakterköpfe, jeder ’ne Nummer.“176 Charakter, Nibelungentreue, Tränen, Heldentaten – alles erweist sich in dieser kurzen Szene als Surrogat und wird von den Betrachtern auch als solches rezipiert. Die Kraussche Darstellung ist heute instruktiver denn je zuvor. Während die Erinnerung an das Blutbad des Ersten Weltkriegs zumindest bis zum zwei-

172 L.c., S. 411 173 Vgl. dazu die berühmten Szenen II,28 und III,23 174 L.c., S. 505, vgl. dazu Hans Hautmann  : Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918, sowie  : Winfried R. Garscha  : Kriegs- und Humanitätsverbrechen im politischen und historiographischen Diskurs nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Referat auf der 23. Jahrestagung der amerikanischen „German Studies Association“ in Atlanta (7.–10. 10. 1999) 175 Die letzten Tage der Menschheit, S. 505f. 176 L.c., S. 433. Das mehrdeutige Wort ‚Nummer‘ (origineller Mensch, Kabarett-Auftritt, Zahl) impliziert eine serielle Form von Originalität  : das Besondere, Einzigartige ist infolge seiner Standardisierung nur mehr als Surrogat vorhanden. Deshalb ist es in Heinrich Manns Untertan plausibel, dass jeder beliebige Bürger, dem es wie der Hauptfigur an Ich-Stärke fehlt, zum Doppelgänger des Kaisers mutieren kann.

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ten allen in Erinnerung war, die sich erinnern wollten, tut in einer Zeit, in der Historiker und Massenmedien die Kriegsverbrechen des Ersten Weltkrieg ignorieren oder gar leugnen, Aufklärung über diejenigen not, in denen der imperialistische Wahnsinn sich personifizierte und die aus guten Gründen ganz oben auf der Kriegsverbrecherliste der Alliierten zu stehen kamen.177 Mit dem historischen Abstand wächst die Bereitschaft, den früheren Repräsentanten des Staates allein aufgrund ihres Amts Respekt zu zollen, ungeachtet dessen, was von ihnen überliefert ist. Die Letzten Tage der Menschheit bewahren das Gedächtnis an eine historische Wahrheit, die unter dem Vorwand von „Objektivität“ und „Ausgewogenheit“ verdrängt wird. In Wirklichkeit ist eine amalgamierende Darstellung, die von vorneherein beschließt, an ihrem Objekt ebenso viel Gutes wie Schlechtes zu finden, nicht objektiv, sondern im Gegenteil subjektiver Ausdruck von autoritärer Unterwürfigkeit und Anpassungsbereitschaft, wohingegen die scheinbar subjektiven Insulte, die Kraus dem Nörgler in den Mund legt, seiner Darstellung zum objektiven Ausdruck der damaligen Herrschaftsformen verhelfen. Die Physiognomie dieser Verhältnisse sucht Kraus indessen nicht nur bei den Regierenden, sondern in sehr verschiedenen Sphären des öffentlichen Lebens auf. Das „österreichische Antlitz“ begegnete ihm in der Maske eines Politikers, eines Publizisten, eines Hoteliers, eines Bahnbeamten, eines Generals, eines Henkers.178 Lange vor dem Krieg, 1911, war dieser Begriff in die Welt der Fackel eingeführt worden, damals noch ausdrücklich als Zitat eines Buchtitels von Felix Salten.179 Auch in diesem Kontext kommt der Verfremdung große Relevanz zu  : Während Salten affirmativ das betreibt, was Günther Anders später „Verbiederung“ nennen wird, vermag Kraus durch die kritische Wendung dieser Wortprägung das kulturgeschichtlich Abgründige allzu vertrauter Erscheinungen, insbesondere aus dem Bereich österreichischer Selbststilisierung, bewusst zu machen. Dem „österreichischen Antlitz“ sind Züge des autoritären Charakters eingeprägt, die mit den international als charmant anerkannten österreichischen Qualitäten der Konzilianz, der Gemütlichkeit und des Humors eine unheimliche Einheit des Widersprüchlichen eingehen. Eher harmlos erscheint zunächst die Charakteristik autoritärer Unterwürfigkeit, verbundenen mit manischer Betriebsamkeit  : „Das von Feuilletonisten 177 Vgl. Hautmann, l.c. 178 Einen Überblick gibt Kraus selbst in seinem Nachruf auf die k.k. Monarchie, in  : Weltgericht II (= Schr. 6), S. 184–291, hier  : S.  230–239. 179 F 319, S. 14

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viel berufene ‚österreichische Antlitz‘ ist die Visage eines schwitzenden Hoteliers, der überall selbst Hand anlegt, sich unaufhörlich vor leeren Tischen verbeugt und Leben in die Bude bringt, indem er die Kaisersemmeln untereinander auswechselt.“180 Das Gefahrenpotenzial solch irrationaler Betriebsamkeit erweist sich erst im Krieg, da autoritäre Aggression ungestraft hervortreten kann. Das „österreichische Antlitz“ grinst nun von Ansichtskarten, die Henker in Aktion zeigen. Eine solche Ansichtskarte, auf der der erhängte Trienter Publizist und Politiker Cesare Battisti, ein auf italienischer Seite kämpfender Sozialdemokrat, abgebildet ist, ist der Buchausgabe der Letzten Tage der Menschheit vorangestellt, und das Bild gehört zu den letzten „Erscheinungen“, mit denen der fünfte Akt endet.181 Sein Henker stellt sich dem Nörgler als „ein triumphierender Ölgötze der befriedigten Gemütlichkeit, der ‚Mir-san-mir‘ heißt“, dar.182 Der Henker bedeute „den letzten, einzigen und wahren Hort der Zentralgewalt“183  ; als „ihr lachendes Symbol, in voller Kaffeesiederwürde und Weltrichtergemütlichkeit steht jener da, weit entfernt von Hochmut und von Schwäche, denn mir wern kan Richter brauchen, wohl aber einen Scharfrichter.“184 Die Wendung der patriotischen und der konzilianten Phrase ins Grausige reflektiert in sprachlicher Mimesis den Umschlag der „Mir san mir“-Haltung vom Gemütlichen ins Mörderische. Battistis Henker wird auf diese Weise zum Prototyp der begriffslosen, tautologischen und durch keinerlei Gewissensskrupel beeinträchtigten Selbststilisierung der „Bodenständigen“. Man präpariert sich selbst als Objekt und behandelt auch die anderen als Objekte  ; einschmeichelnd, wenn es sich um zahlungskräftige Touristen handelt, hemmungslos bis zur Gewalttätigkeit, wenn es staatlich als Feindabwehr sanktioniert wird. Die mediale Darstellung der Hinrichtungen auf Postkarten (ähnliche werden im Dialogtext beschrieben) macht diese im Ausland zum „Denkmal des Galgenhumors unserer Henker, umgewertet zum Skalp der österreichischen Kultur.“185 Denn in den Fotografien manifestiert sich neben der Unfähigkeit, sich der Tragweite eines im Namen des Staats begangenen Tötungsakts bewusst zu werden, die „Ahnungslosigkeit“ derer, die nicht spürten, „daß kein Verbrechen uns so vor der Umwelt entblößen könnte wie unser tri-

180 F 372, S. 18 181 Die letzten Tage der Menschheit, S. 723 182 Die letzten Tage der Menschheit, S. 507 183 L.c., S. 510f. 184 L.c., S. 511 185 L.c., S. 507

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umphierendes Geständnis, wie der Stolz des Verbrechers, der sich dabei noch ‚aufnehmen‘ läßt und ein freundliches Gesicht macht, weil er ja eine Mordsfreud hat, sich selbst auf frischer Tat erwischen zu können.“186 Der lachende Henker ist freilich kein österreichisches Spezifikum, es gibt ihn auch in Gestalt rassistischer Lynchmörder, SA-Männer und Kolonisatoren  ; spezifisch österreichisch ist allenfalls die kulturelle Färbung dieser Gestalt und ihres Habitus’. Entscheidender für die politische Bewertung ist, ob der lachende Henker einer vom Staat geächteten Organisation angehört oder als staatliche Stütze fungiert. Auch psychologisch ist diese Unterscheidung relevant  : Im ersten Fall werden die konventionellen Autoritären eher Abstand davon nehmen, und der Kreis der Akteure rekrutiert sich vorwiegend aus den rebellischen und den psychopathischen Typen. Im zweiten Fall wird das antizivilisatorische Verhalten in einem bestimmten Bereich der Gesellschaft zur positiv sanktionierten Norm, sodass es gerade auch den Konventionellen Möglichkeiten zur Aggressionsabfuhr bietet. Der manipulative Typus findet vermutlich in beiden Fällen Verwendung, jedoch quantitativ häufiger bei staatlicher Legalisierung und Legitimierung. Der Fall des Ku-Klux-Klans in den USA zeigt die möglichen Übergänge, die entstehen, wenn im Lauf der Geschichte eine Organisation regional zeitweise an Einfluss und Akzeptanz gewinnt, dann aber als kriminell eingestuft und marginalisiert werden kann. Die eigentümliche Mischung des Humor- und Gemütvollen mit Gewalt wird nicht nur vom Nörgler analysiert, sondern auch in einer Reihe von Szenen auf der Handlungsebene dargestellt. So folgen auf die Reflexionen des Nörglers über die beiden Kaiser und über die Henker-Postkarten drei Szenen, die das Gesagte bestätigen. In der ersten, mit der Angabe Standgericht (IV,30), lässt sich ein (mit seinem empirischen Namen bezeichneter) Militärrichter von drei Offizieren zu seinem hundertsten Todesurteil, das elf Ruthenen trifft, gratulieren wie etwa ein Arzt zu seiner hundertsten Operation. Zwei der Offiziere delektieren sich daraufhin an Episoden über juristisch noch schlechter abgesicherte Tötungen im Amt, wohingegen der dritte, der sich zurückhält, Bedenken zu haben scheint. Dialektwendungen und andere Austriazismen wie „ujegerl“, „No ja“, „da muß man schon tulli sagen“ sowie umgangssprachliche Einschübe wie „und so“, „halt“, „also“ lassen den Schrecken der Hinrichtungen verschwinden und diese als ein alltägliches, eher vergnügliches Geschäft wie jedes andere erscheinen, mit kleinen Scherereien, aber größerem Gewinn. Die bereits zitierte Szene IV,31 präsentiert Kaiser Franz Joseph 186 L.c., S. 510

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als kindischen Greis, der sich nur durch sein Amt und die damit verbundene Tragweite seiner Handlungen von seinen Untertanen unterscheidet  : „Justament nicht – grad nicht – ich mach keinen Frieden mit die Katzelmacher – mei Ruh will i haben – man hat mich drangekriegt – […] – no ja, kann man halt nix machen.“187 Sein schier endloses Couplet „hat noch Katastrophen“ vorrätig  ; er will noch „bisserl Blut sehn.“188 Dass die nächste Szene wieder bei einem Militärgericht spielt und die illegalen Todesurteile gegen drei minderjährige Serben thematisiert, Franz Josephs einziger Auftritt somit von zwei Hinrichtungsszenen flankiert wird, unterstreicht die vom Nörgler hervorgehobene Relevanz des Galgens als Stütze von Franz Josephs Herrschaft. Die im zivilen Leben oft sympathisch lässige österreichische Manier, Probleme ohne starres Festhalten an Formalitäten zu lösen, unterstützt, wie die Szene IV,32 zeigt, unter den Bedingungen des Weltkriegs den skrupellosen Rechtsbruch, der in diesem Fall die Ermordung der drei Jugendlichen durch die Fälschung ihres Alters pseudojuristisch absichert. Eine andere Form der Verbindung von Humor und Gewalt ist die Kriegsdichtung, mit deren Diskussion das Gespräch zwischen dem Optimisten und dem Nörgler in IV,29 einsetzt. Der Nörgler kommentiert sie als gewaltsame Instrumentalisierung der lyrischen Sprache für den destruktiven Zweck  : „Die Gegenwartsbestie, wie sie gemütlich zur todbringenden Maschine greift, greift auch zum Vers, um sie zu glorifizieren.“189 Insbesondere im dritten Akt der Buchausgabe werden einige solcher Gedichte zitiert. Eine der relevantesten ist die Szene III,32  : Eine stille Poetenklause im steirischen Wald. Zwei junge Verehrer des „bodenständigen“ Dichters und katholischen Geistlichen Ottokar Kernstock190 belauschen ihn heimlich vor seinem Wohnsitz. Kraus legt den 187 L.c., S. 517 188 L.c., S. 524, S. 525 189 L.c., S. 494 Die größte Empörung des Nörglers erregen allerdings nicht die blutrünstigsten Gedichte, sondern die Parodien auf Wanderers Nachtlied  : „Daß nämlich dieses Zeitalter […] sich noch an den Heiligtümern seiner verblichenen Kultur vergriffen hat, um mit der Parodie ihrer Weihe den Triumph seiner Unmenschlichkeit zu begrinsen.“ (ibid.). Solche Parodien werden in III,4 und in II,13 zitiert. Kurt Krolop weist in diesem Kontext auf das nationalchauvinistische Klima hin, in dem Goethes Dichtung zum „Warenzeichen ‚Made in Germany‘“ degradiert wurde (K. Kolop  : Ebenbild und Gegenbild. Goethe und „Goethes Volk“ bei Karl Kraus, in  : Sprachsatire als Zeitsatire, S. 192–209, hier S. 198). 190 Zu aktuellen Debatten um die Würdigung Kernstocks und weiterer Personen, die sich später dem Nationalsozialismus zuwandten, siehe  : Leo Furtlehner  : Hartnäckige Spuren des Faschismus, in  : Context XXI, Internet, URL  : http  ://ns-ooe.contextxxi.at/item4.html, Stand  : 1.8.2007. Vgl. auch Eckart Früh  : Gott erhalte  ? Gott bewahre  ! Zur Geschichte der österreichischen Hymnen und

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beiden Zitate aus der Reichspost in den Mund, die er bereits in der Kriegsglosse Kernstock der Jugend  !191 verarbeitet hatte, während er Kernstock seine eigenen Verse vor sich hin sprechen lässt. Durch dieses Verfahren erreicht er eine doppelte Distanzierung  : Die Unwahrheit des Reichspost-Texts tritt durch die Dialogisierung und durch die Konfrontation mit den angepriesenen Versen hervor, und diese Verse, die wegen ihrer Rohheit keines kritischen Kommentars bedürfen, wirken durch die Montage mit der Anpreisung Kernstocks doppelt barbarisch. Desavouiert wird dabei auch das romantische Dichterbild der Reichspost  : „Alle seine Hörer werden, entflammt an seiner Flamme, das Empfangene dereinst als Lehrer tausendfältig weitergeben und in die Herzen einer neuen Jugend wird versenkt werden, was dieser eine Mann auf seiner waldumrauschten, einsamen Burg in jahrzehntelanger Arbeit ergründete.“192 In jener Glosse ließ Kraus die Stimme eines naiven Lesers zu Wort kommen, der mit Fragen wie „Ja aber was denn nur  ?“ auf die Leere dieses Phrasenkitschs verwies  ; in der Dramenszene alternieren Kernstock- und Reichspostzitate. Bei den Versen von Kernstock ist eine Klimax feststellbar  : von der Imagination eines hinterlistigen feindlichen Überfalls über die Gewissheit, von Gott als Rächer ausersehen zu sein bis zu jener blutrünstigen Strophe, die von Kernstock vermittels der Krausschen Darstellung bis heute der interessierten Öffentlichkeit hauptsächlich bekannt sind  : Steirische Holzer, holzt mir gut Mit Büchsenkolben die Serbenbrut  ! Steirische Jäger, trefft mir glatt Den russischen Zottelbären aufs Blatt  ! Steirische Winzer, preßt mir fein Aus Welschlandfrüchtchen blutroten Wein  !193

Von diesen Versen fühlen sich seine Verehrer, die gerade „neue Möglichkeiten ethischer, künstlerischer, kulturfördernder Betätigung“ für Kernstock in Wien des Nationalbewußtseins zwischen 1918 und 1938, in  : Österreich in Geschichte und Literatur, hg. v. Institut für Österreichkunde, 32. Jg. 1988, H.5, S. 280–315. Eine nicht sehr vornehme Zurückhaltung übt hingegen der Große Brockhaus (19. Aufl.) im Eintrag zu Kernstock  : Dessen NaziDichtung findet keine Erwähnung, und die blutrünstigen Kriegsgedichte lassen sich allenfalls in den en passant genannten „patriot. Lieder[n]“ erkennen. 191 F 437, S. 74f. 192 Die letzten Tage der Menschheit, S. 378 193 L.c., S. 379

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anvisiert haben, so sehr mitgerissen, dass sie beschließen, ihm ihre Stammbücher für eine bleibende Erinnerung hinzuhalten.194 Der Jugend, die da ganz nach dem Wunsch der Reichspost in den Bann des Dichters gerät, wird hier eine Variante der Vorstellung vom Krieg als Handwerk vermittelt, in der nicht mehr nur die Waffen, ihr Zubehör und etwa Aufmarschpläne das Material darstellen, sondern die menschlichen Gegner selbst. Auch hier wirft der Nazismus seine Schatten voraus  : Während die Darstellung der Russen als Tiere zwar nicht spezifisch nazistisch, aber doch bei den Nazis besonders beliebt war, kündigt sich in den metaphorischen Forderungen des „Abholzens“ von Serben und des „Auspressens“ von Franzosen eine Behandlung des menschlichen Körpers an, die diesen unmittelbar zum Ding, womöglich gar zum verwertbaren Ding, degradiert. Dieser Aspekt unterscheidet Kernstocks Gedicht von den meisten anderen Kriegsgedichten, die, bei aller Aggressivität und Verachtung, die Feinde doch noch als Menschen präsentieren. Exemplarisch für viele andere Gedichte dieser Kategorie ist dagegen wieder die Verbindung des Tötens mit Humor, die sich auch in Alfred Kerrs Rumänenlied, im Gedicht eines ungenannten Verfassers aus der Zeitschrift Die Jugend sowie in einem anonymen Reklame-Kriegsgedicht findet.195 Besondere Würdigung verdient noch die Szene III,3. Die beiden deutschnationalen Oberleutnants Fallota und Beinsteller, schon aus I,1 als Sprachschänder und Menschenschinder bekannt, goutieren die dem Deutschen Volksblatt entnommene Abweisung des Vorwurfs, Kunstwerke und religiöse Stätten zu zerstören, mit dem Argument, die Deutschen seien doch ein Kulturvolk. Gerade dies wird zwar von jedem einzelnen Dialogfetzen in Frage gestellt, doch die Sprecher merken nichts davon. Beinsteller klagt  : „Natürlich san mr a Kulturvolk, aber was nutzt das – wenn mas ihnen auch hundertmal sagt, deswegen plärren s’ doch, mir sein die Barbaren.“ Woraufhin Fallota ihn tröstet  : „Weißt, mir wern s’ ihnen schon einidippeln. Wenn mr nach Venedig einikommen mitn Spazierstöckl  !“196 Jeder singt dem anderen nun ein antiitalienisches Kriegslied der untersten Kategorie vor, wobei das erste, das „Offensivlied“, eben die Zerstörung von Kunstwerken projektiert, die gerade verleugnet wurde, und das zweite, der im Kinderliedstil verfasste „Katzelmacher-Marsch“, gleich die Künstler (und nicht nur sie) folgen lässt.197 „Den Annunzio und Sonnino / Den machma a no hino. / 194 Ibid. 195 L.c., S. 362f., S. 436, S. 389 196 L.c., S. 328 197 L.c., S. 328, S. 329

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Tschiff – […] Und im Land Tirol, / Kriagns a den Hintern voll. Tschiff – […] Da liegen sie die Schurken, / Mit eingedroschnen Gurken. / Tschiff, tscheff, tauch, der Wallisch liegt am Bauch.“198 Beinsteller behauptet (fast schon, wenn auch nicht ganz im Sinne des Nörglers)  : „Weißt, so ein Humor, das is nur auf deutsch möglich, das ham s’ nicht in ihnera dalkerten Sprach, das bringen s’ nicht heraus  !“199 Das satirische Verfahren der sprachlichen Selbstdesavouierung im Dialog, das manchen Rezipienten hier übertrieben erscheinen mag, betont indessen nur die reale Kommunikationsweise jener durch die beiden Oberleutnants repräsentierten Ausländerhasser, Antisemiten und Frauenverächter, deren Feindseligkeit zum weitgehenden Ausfall des logischen Denkens führt, sobald von den negativ besetzten Objekten die Rede ist. Zu diesem Syndrom passen die Witze, die von Fallota und Beinsteller bevorzugt werden. Sie gehören alle jenen Witz-Kategorien an, die den Satiriker wegen der Absenz von Esprit und Fantasie nach eigenem Bekunden bis zum Lebensüberdruss quälten  : 1. standardisierte Kalauer, die damals allgemein bekannt waren, sodass ihre automatische Wiederholung aufs Stichwort wohl hauptsächlich der Demonstration von Gruppenzugehörigkeit diente  : Mehlspeis / Spehlmeis, Tischlampen / der Schlampen / das Schlampen200  ; 2. humoristische Bezeichnungen für Frauen und ihre Geschlechtsteile  : „Aha, ein Mägdulein  !“, „Aha, ein Busam  !“201  ; 3. die spöttisch-verächtliche Verwendung jiddischer Worte  : „Ganef “202  ; 4. der analfixierte Latrinen- oder Läusewitz203  ; 5. der pointenlose, missratene Flachwitz204. Damit gelingt Kraus in den beiden Dialogen von Fallota und Beinsteller eine Zusammenstellung derjenigen Formen von Witz, die nicht befreiend wirken, sondern autoritären Neigungen entgegenkommen. Erst aus dieser Perspektive, aus dem Gesamtbild des ideologischen und psychologischen Syndroms, dem solche Witze adäquat sind, erklärt sich die Vehemenz der Ablehnung durch Karl Kraus als Autor. Seine bösartigste Fratze zeigt das österreichische Antlitz als Maske rechtsradikaler Deutschnationaler, die in den Letzten Tagen der Menschheit vor allem in der Szene III,11  : Vereinssitzung der Cherusker in Krems, zu Wort kommen.

198 L.c., S. 329 199 L.c., S. 330 200 L.c., S. 326, S. 154 201 L.c., S. 148, S. 149 202 L.c., S. 327 (in diesem Fall wieder als Kalauer  : Geneve/Ganef ) 203 L.c., S. 330 204 Hier  : „Kindermund“, l.c., S. 330f.

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Der Name könnte auf die deutschnationale Burschenschaft Franko Cherusker (gegründet 1883) anspielen  ; jedenfalls wurden die alten Cherusker wegen ihres Kampfs gegen die Römer traditionell von radikalen Deutschnationalen als germanische „Freiheitskämpfer“ verherrlicht. Die Redebeiträge von Herrn und Frau Pogatschnigg sowie Kasmaders Rede in dieser Szene basieren auf Zitaten, die sich in der Kriegs-Fackel nachweisen lassen  ; in seiner Bearbeitung ließ Kraus die geistige Physiognomie dieses Typus durch sprachparodistische Ergänzungen noch stärker hervortreten, außerdem sind die Textelemente in Pogatschniggs Rede neu gruppiert.205 Allerdings hat Kraus die Zuordnung der Texte zu den einzelnen Personen auf interessante Weise vorgenommen  : Paul Pogatschnigg war jener Obmann des Reichsbunds deutscher Postler Österreichs, der eine telegraphische Grußnote an den reichsdeutschen Abgeordneten und Postbeamten Hubrich sandte, als dieser im Reichstag Karl Liebknecht das Manuskript zu dessen Rede anlässlich seiner Ablehnung der Kriegskredite aus der Hand gerissen und auf den Boden geworfen hatte.206 Nachdem ein zunächst nur vorsichtig ablehnender Kommentar in der Fackel die Zensur passieren konnte, wurde der Satiriker am Ende der Glosse Jetzt ist Krieg im nächsten Heft deutlicher  : politische Kategorien zwecks Vermeidung einer Konfiskation umgehend, bezeichnete er Liebknecht als einen „Ehrenmann“ und empfahl, Pogatschnigg, die Deutschnationalen und überhaupt diejenigen, „die die Menschheit zur Schlachtbank geführt haben, zur Schlachtbank zu führen“ und zu Tierfutter verarbeiten zu lassen.207 An der Vereinssitzung der Cherusker in Krems (III,11) nehmen nun zwei Personen teil, die auf diesen empirischen Pogatschnigg zurückgehen  : erstens Pogatschnigg, genannt Teut, der Ehemann von Frau Wahnschaffes Freundin, und zweitens Kasmader208 als Vertreter der deutschen Postler. Ihre Gedanken kreisen um Lebensmittel und Haushaltsführung, wobei sie sich am eigenen Durchhaltevermögen berauschen  : „Denn fürwahr, ein jedermann nimmt mit der größten Opferwilligkeit hier im Hinterlande an dem Kampfe teil.“209 Allerdings drängt sich der Verdacht auf, dass 205 Die Reden von Herrn und Frau Pogatschnigg basieren auf den Pressezitaten in der Glosse Eine angenehme Menage (F 431, S. 83f.), Kasmaders Rede auf dem Leserbrief an eine ungenannte Zeitung, der in der Glosse Aus der Epoche der Anregungen zitiert wird (F 437, S. 38f.). 206 F 426, S. 80f. Glossen/ Der Vorstoß des Pogatschnigg 207 F 431, S. 45–47, Zitate S. 47. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass sich diese satirische Polemik aus dem Kontext des Leidens von Tieren im Krieg ergibt und dass in der Fackel reale Gewalt – selbst gegen Rechtsradikale – stets verurteilt wurde. 208 Zum Namen Kasmader vgl. das folgende Kapitel der vorliegenden Studie. 209 Die letzten Tage der Menschheit, S. 349

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die kriegsbedingten Beschränkungen Kasmaders Lebensweise in mancher Hinsicht entgegenkommen. Denn auf die zitierte, von Kraus eingefügte Bekräftigung der Opferwilligkeit folgt ein Gedicht, das mit dem Vers beginnt  : „Gut ist, wenig Seife brauchen“210, um im Anschluss daran z. B. eine in der Materialverwendung großzügige französische Mode zu verurteilen. Das gesparte Geld soll dem „Vaterland“ gespendet werden. Dieses – durch Helmut Qualtingers kongenialen Vortrag recht bekannte – Gedicht eines anonymen Wieners erscheint im Kontext der Szene als eine unfreiwillige Selbstparodie. Die ganze Feindseligkeit gegen Schönheit und Luxus ballt sich in den folgenden Versen zusammen  : „Hohe Lederschuh’ am Bein (Rufe  : Pfui  ! Welsche Sitten  !) / Das muß wahrlich auch nicht sein  ! (Rufe  : Sehr richtig  !).“211 Weit mehr macht den Cheruskern der Verzicht auf Schweineschnitzel und Semmelknödel zu schaffen. Der Knödel wird so mit der deutsch-österreichischen „Hirnverkleisterung“ im Allgemeinen und mit der „geistigen Knödelzeit“212 des Weltkriegs im Besonderen mehrfach konnotiert. Übelhörs (ebenfalls der Empirie entnommene, damals auf Ansichtskarten verbreitete) Knödel-Verse werden später nochmals zitiert und dort vom Nörgler mit den Worten kommentiert, das österreichische Antlitz spiegele sich geistig in diesem Knödel.213 Dass als Fernziele der Beschwörung Wotans und der Walküren, des Deutschtums und der Nibelungentreue am Anfang ein Schnitzel und am Ende ein Knödel sich erweisen, könnte dennoch fast versöhnlich wirken, wenn nicht die Hoffnung der Cherusker auf ihre Hausmannskost an aggressive Siegesparolen gebunden wäre  : „Pogatschnigg, genannt Teut  :– Wodan ist mein Schwurzeuge, nicht mehr fern sind die Tage, wo wieder Speise und Trank reichlich vorhanden sein werden, wo uns wieder vom feisten, knusprigen Schwein ein artig Lendenstücklein erfreuen wird […]. […] Der herrliche Angriff auf die Welschen, der diese Abruzzenschufte aus Tirols ewigen Bergen hoffentlich für immerdar hinausbefördert, ist uns gelungen  ! (Rufe  : Hedl  !) Zuversichtlich erwarten wir, daß auch der moskowitische Bär mit blutenden Pranken weidwund heimschleicht  ! Und ihm nach die Knoblauchduftenden, unsere Kohnnationalen  ! (Rufe  : Bravo  ! Hedl  ! Hoch Teut  ! Hoch Pogatschnigg  !) [Abs.] Eine Stimme  : Jidelach  ! (Heiterkeit.)“.214 Mit dem antisemitischen Schluss der Rede und dem 210 Ibid. 211 Ibid. 212 L.c., S. 505 213 L.c., S. 556 214 L.c., S. 347

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Zuruf werden die Vereinsmitglieder politisch auf der äußersten Rechten des deutschnationalen Spektrums, also bei den Alldeutschen, und psychologisch auf dem untersten Niveau blinder Hassgefühle situiert. Ihr Hochdeutsch weist sie dem Mittelstand zu, aus dem sich diese Fraktion damals noch überwiegend rekrutierte. Beides manifestiert sich in der entfremdeten, phrasenhaften Sprache  : Wendet Pogatschnigg seine poetischen Fähigkeiten an die Darstellung des Essens und seinen Witz an die Hassparolen, so entringt sich sein junger Genosse Hromatka, um stramme Gesinnung zu beweisen, krampfhaft Phrase um Phrase, während Kasmader sich durch sein Bürokratendeutsch – insbesondere durch den inflationären Gebrauch von Wortbildungen mit dem Bestandteil dies – als typischer Beamter erweist. Obwohl der Postler in vier aufeinanderfolgenden Satzgefügen siebenmal das Adjektiv deutsch unterbringt, ist er der deutschen Sprache so weit entfremdet, dass er die obszönen Nebenbedeutungen seiner „Anregung“ gar nicht bemerkt. Neben all den Exzessen der Gewaltverherrlichung nimmt sich das in der berühmten Szene IV,3  : Ein Bahnhof bei Wien, hinter einem Bahnhofsschalter erscheinende Antlitz zunächst eher harmlos aus. Der Szene liegt ein eher unspektakuläres Alltagserlebnis zugrunde  : Eine Menschenmenge wartet zwei Stunden auf einen Zug, der Bahnhofsportier vermag keine Prognose über die Dauer der Verspätung zu geben, und als der Zug wider Erwarten plötzlich eintrifft, gibt der Schalterbeamte keine Karten aus, sodass die Reisenden den Zug schließlich nur durch einen Nebeneingang erreichen. Erst die satirische Darstellung von Karl Kraus transformiert diese Fakten in die Allegorie einer von ihrer Irrationalität besessenen Gesellschaft und lässt auf diese Weise das Publikum an der Erfahrung des Autors teilhaben. An „Pallawatsch“ – Durcheinander, Schlamperei, bei Kraus eine Grundkategorie seiner Österreich-Deutung – gewöhnt, wartet laut Regieanweisung eine „fünfhundertköpfige Herde“215, offenbar mit einer Schafsgeduld, auf den Zug. Nach einer höflichen Anfrage beim Portier entspinnt sich ein Dialog zwischen ihm und dem Nörgler. Letzterer verwickelt den Portier in ein Gespräch über die Informationspolitik der Bahn. Doch die Stimme der Vernunft dringt nicht durch  ; sie ruft bei dem in die Enge getriebenen Vertreter der Institution nur Aggressivität und ostentativ herausgestellten Fatalismus hervor. Befragt, ob man sich immerhin auf die angeschriebene Verspätung verlassen könne, antwortet

215 L.c., S. 431

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Der Portier (gereizt)  : Ah wos, wos waß denn i, die wissen an Dreck, und wonn s’ wos wissen, wern s’ es net dem Publikum auf d’ Nosen binden  ! Der Nörgler  : Ja aber warum denn nicht  ? Der Portier  : Weil s’ selber an Dreck wissen  ! Der Nörgler  : Aber es ist doch angeschrieben. Der Portier  : Jo, ongschrieben, ongschrieben, aber kummen tut er deßtwegen halt do später  !216

Als der Zug dann doch früher als erwartet eintrifft, fragt Der Nörgler  : Ja, aber wie kommt denn das  ? Der Portier  : Mei liaber Herr, do nutzt ka Nürgeln, da müassn S’ wem ondern frogen. Dös san halt die Verspätungen  ! Wir herint kriagn kane Möldung nicht und dö draußen sogen nix – jetzt bei dem Verkehr kann ma halt nix machn, jetzt is Kriag  !217

Der Dialog konstituiert sich aus dem Gegensatz zwischen der sachlichen Sprache der Vernunft und der enragierten Phrasendrescherei, zwischen sprachlicher Sorgfalt und Schlamperei, zwischen Hochdeutsch und Dialekt. 218 Eine Äußerung wie die zuletzt zitierte wäre auf Hochdeutsch unmöglich, woraus aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden sollte, dass Hochdeutsch allein schon einen höheren Grad von Vernunft verbürgt  ; nur ist diese Variante vernunftwidrigen Sprechens an die lokalen Dialekte im deutschen Sprachgebiet gebunden. Das Einverständnis mit der zugleich fatalistisch beklagten Planlosigkeit der Gesellschaft konstituiert sich aus den sprachlichen Elementen Ah wos, eh, halt, kann ma halt nix machn, jetzt is Kriag, die im Stück bezeichnenderweise sehr häufig vorkommen. Zwar scheint der Portier, der ja für die Situation nicht verantwortlich ist, einige Neigung zu besitzen, sich selbst über die Bahn zu ärgern, aber mit Hilfe der herrschenden Phrasen gelingt es ihm immer wieder, seine Aggressionen umzuleiten und gegen diejenigen zu wenden, die das System in Frage stellen. – Nun erfolgt eine Zäsur im Text, als der Nörgler mit seinem Stock auf den noch immer herabgelassenen Kassenschalter schlägt. Wie ein Zauberkünstler, der nicht ahnt, was ihn erwartet, beschwört er damit den Dämon des Habsburgerstaats herauf  : 216 L.c., S. 432 217 Ibid. 218 Bei der Schreibweise Is statt Ist in der Frage des Nörglers „Is das die Regel  ?“ handelt es sich zweifellos um einen Druckfehler, denn in der Originalausgabe fehlt das t nicht.

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(Der Schalter geht in die Höhe. Das österreichische Antlitz erscheint. Es ist von außerordentlicher Unterernährtheit, jedoch von teuflischem Behagen gesättigt. Ein dürrer Zeigefinger scheint hin- und herfahrend alle Hoffnung zu nehmen.) Das österreichische Antlitz   : Wird kane Koaten ausgeben  ! Wird kane Koaten ausgeben  !

Die Qualität des Unheimlichen wächst dieser Sequenz jedoch nicht allein von der Assoziation mit Zauberei zu. Vielmehr komprimiert sich in der mageren Gestalt, die da in ihrem Zauberkasten erscheint, der höchst reale Schrecken eines vernunftwidrigen Staatswesens, das obendrein als ein unabänderliches Schicksal hingenommen werden will. Offenbar empfindet sie ein „teuflisches Behagen“ daran, Vertreter einer irrationalen Macht zu sein, die ihre Unanfechtbarkeit gerade durch diese Irrationalität erweist. Ein dürrer, hin und her pendelnder Finger zeigt, was die Stunde geschlagen hat  : der Widersinn ist scheinbar zum Unentrinnbaren geworden  ; von diesem Staat und seinen Vertretern ist keine durch vernünftiges Argumentieren erreichbare Verbesserung zu erhoffen. Obwohl der Beamte selbst außerordentlich unterernährt ist, genießt er jenes Minimum an sozialer Sicherheit, das ihn zur Identifikation mit seinem Arbeitgeber veranlasst, und die berufsbedingte Befugnis, den Kunden das für sie Notwendige zu verweigern, entschädigt ihn zumindest momentan für seinen niedrigen sozialen Status. All das drückt sich auch in den Worten „Wird kane Koaten ausgeben  !“ aus  : Ihre Struktur entspricht dem Sprachgebrauch des lokalen Dialekts, verletzt aber die Regeln nicht nur der deutschen, sondern aller indogermanischen Sprachen. Besonders signifikant ist das Fehlen einer Nominativergänzung  : Weder bezeichnet der Beamte die Bahn oder sich selbst als das Subjekt, das keine Karten ausgeben werde, was ja eine anfechtbare Entscheidung wäre, noch bildet er ein korrektes Passiv mit der von der Grammatik vorgeschriebenen Nominativergänzung es. Diese Grammatikstruktur korrespondiert dem apodiktischen Sprachgestus der Unabänderlichkeit  : Das Unvernünftige soll einfach hingenommen und nicht hinterfragt werden. Die alltäglichen Kalamitäten der Zugverspätung und des Widersinns im Ausstellen von Erlaubnisscheinen aller Art werden so zur Allegorie der staatlichen und gesellschaftlichen Irrationalität schlechthin. Anders als bei Kafka wird das Absurde jedoch nicht zur surrealen Fiktion verselbständigt, sondern bleibt auf Alltagserfahrungen bezogen und dient so als Modell für die Rezipienten, eigene Erfahrungen in ähnlicher Weise zu deuten. – Von zwielichtiger Tröstlichkeit ist der Schluss  : Wenn nichts mehr funktioniert, bleibt nur mehr

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das „Hintertürl“ für die Eingeweihten, um die Situation erfolgreich zu bewältigen. Diese Lösung ist so modellhaft wie der ganze Konflikt  : Zwar regt sich endlich kollektiver Protest, aber die kreative Regelwidrigkeit ist Teil des Systems, anstatt es zu transzendieren. Zum Bedeutungsfeld des „Hintertürls“ gehört das in vielen Szenen thematisierte „Hinaufgehen und es sich richten“ (die regelwidrige Enthebung vom Kriegsdienst durch Protektion) ebenso wie das zugekniffene Auge, das verspricht, im Bedarfsfall Konformität mit Ausnahmeregelungen zu belohnen.219 Dass Karl Kraus in seinem Nachruf unter dem Eindruck des Übergangs von der Monarchie zur Republik diesen Schluss satirisch als „Auftakt zur österreichischen Revolution“ deutet, ist signifikant für seine Befürchtung, das alte Unwesen könnte in der Republik fortdauern.220 Auch andere zentrale Elemente der Szene finden schon bei Kraus eine explizite Erweiterung ihres Geltungsbereichs. Der frühesten Fackel-Version zufolge (in Jetzt ist Krieg) spielt die Szene auf dem Südbahnhof, der als „Südwahnhof “ ein Aktionsfeld jener Bürokratie ist, die sich nur durch einen Druckfehler erfassen lässt  : Aus einer den „musischen Tugenden“ (wie sich vermuten lässt  :) wahlverwandten österreichischen Verwaltung, der ein Journalist huldigen wollte, wurde, wohl infolge eines Lesefehlers oder Druckerscherzes, eine „wahnverwaltende“, was den Satiriker zu der Erklärung inspiriert, „daß die ganze Verspätung unseres Daseins auf den musischen Zeitvertreib der Südwahn- und der Nordwahnverwaltung zurückzuführen sei, zu deren Laß und Lust wir ja eigens auf die Welt gekommen sind.“221 Der Nörgler sagt vom österreichischen Antlitz lapidar, es lauere „hinter dem Schalter der Lebensbahn“222, wobei im Kontext der Phrasensatire präzisiert wird, eben dort, „wo die Bahn des Lebens noch frei wäre, pflanzt sich die störrige Banalität auf und zwingt uns zur Umkehr durch die vorgehaltene Warnung  : Jetzt ist Krieg“.223 Und über die Sprache des Fatalismus heißt es rückblickend im Nachruf, es sei für Kraus immer „das unheimliche Wunder unserer Existenz“ gewesen, „daß dieses ganze Zubehör von Menschen und Maschinenbestandteilen nicht plötzlich mit einem ‚Ah woos‘ sich hinlegte und seine Selbstauflösung den mühevollen 219 Allgegenwärtig auf einer Fotographie von Franz Joseph (zusammen mit Wilhelm II.), siehe dazu Die letzten Tage der Menschheit, S. 507 (fast wortgleich mit der entsprechenden Passage in Weltgericht II, S. 232), und zum Beleg dafür, dass für diejenigen, die sich demütigen lassen, die Repression gelegentlich gelockert wird, exemplarisch  : I,18. 220 Weltgericht II, S. 233 221 F 431, S. 46 222 Die letzten Tage der Menschheit, S. 506 223 F 418, S. 14f.

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Gesten eines unmöglichen Betriebs einfach vorzog.“224 Vermittels der satirischen Darstellung wird auf diese Weise evident, wie sich in der Pathologie der Alltagssprache und des alltäglichen Konfliktverhaltens die strukturelle Irrationalität der Gesellschaft artikuliert. Der befreiende Witz dieser Darstellung entspringt der momentanen Auflösung des Banns, der über der ganzen Gesellschaft zu liegen scheint. Das „Justament der Schurkerei“ Franz Josephs und seiner Beamten s­ teigert sich in Deutschland zur ‚verfolgenden Unschuld‘. Der Begriff der „verfolgenden Unschuld“ spielt auf die Selbstdarstellung der Mittelmächte als „verfolgte Unschuld“ an, die einen Verteidigungskrieg gegen die sie umzingelnden Feinde führe. Der erste Text, in dem die satirische Begriffsprägung erfolgt, ein Aphorismus aus dem Jahr 1915, thematisiert anhand des Schlagworts vom „Willen zum Sieg“ die infantilen Anteile dieser Propaganda  : „Der kriegerische Zustand scheint den geistigen auf das Niveau der Kinderstube herabzudrücken. Nicht allein, daß jeder recht und der andere angefangen hat. Nicht nur, daß jeder sich eben das als Einsicht und Ehre einräumt, was des andern Unbill und Schande ist, dem andern die Untat vorwirft, die er selbst begeht, das Unglück vorhält, das er selbst erleidet, […]“225. „Nein, jeder ist auch der Meinung, daß der ‚Wille zum Sieg‘ diesen verbürge und daß nur er allein diesen Willen zum Sieg habe, während der andere, offenbar von dem nicht minder entschlossenen Willen zur Niederlage getrieben, mit knapper Not und mit Anspannung aller Kräfte diese erreichen kann, aber beileibe nicht den Sieg, […].“226 Nachdem dieses Schlagwort ad absurdum geführt wurde, heißt es dann  : „Dabei ahnt aber die verfolgende Unschuld nicht, daß tatsächlich der Wille zur Niederlage eine Triebkraft sein könnte, die einen wahren Feldherrn der Kultur zum Triumph der Demut über den expansiven Ungeist führt, […].“227 Später beschreibt Kraus die propagandistische „Taktik der verfolgenden Unschuld, die einen Überschuß an Wehrhaftigkeit und ein Defizit an Wahrhaftigkeit“228 aufweist, in Bezug auf eine Rede des Grafen Czernin 224 Weltgericht II, S. 235  ; vgl. „dieser aufgelöste Verein jovialer Scharfrichter“, l.c., S. 187. 225 [Die Fackel  : Nr. 406–412, 05.10.1915, 17. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 19841 (vgl. Fackel Nr. 406–412, S. 157–158)] , jetzt in  : Aphorismen, S. 416 226 [Die Fackel  : Nr. 406–412, 05.10.1915, 17. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 19842 (vgl. Fackel Nr. 406–412, S. 158)] 227 [Die Fackel  : Nr. 406–412, 05.10.1915, 17. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 19842 (vgl. Fackel Nr. 406–412, S. 158)] 228 F 484, S. 13f.

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so  : „Von allen Formen der Blödmacherei, die seit August 1914 in Schwang sind, dürfte hier die wirkungsvollste erfaßt sein. Indem man eben das, was die schwerste Anklage rechtfertigt, mit ernsthafter Miene als Argument der Verteidigung vorbringt, kann man es erleben, daß jeder Angriff mühelos abjewiesen wird.“229 Komplementär gehört es zu dieser bis heute beliebten Taktik, Vorwürfe zu widerlegen, die niemand erhoben hat, anstatt auf die wirklichen und berechtigten einzugehen. Doch der Begriff der „verfolgenden Unschuld“ weist über propagandistische „Blödmacherei“ hinaus  ; er ist vor allem geeignet, die Selbststilisierung des Aggressors zum Opfer zu charakteristisieren. In einem vom deutschen Wolff-Büro verbreiteten Artikel, den Kraus in der Fackel zitiert, wird der Einsatz von Giftgas mit der „überlegene[n] Wirkung“ der deutschen Gase verteidigt, sodass nur die „Schwächeren“ im Krieg ein Interesse an der Ächtung dieses Kampfmittel haben könnten.230 Darauf folgt der Satz  : „Wir Deutschen begrüßen alle Versuche, dem Völkerrecht und der Menschlichkeit zum Siege zu verhelfen, mit Freude, wir lehnen es aber ab, uns übertölpeln zu lassen.“231 Gemeinsam mit der Berufung auf das eigene gute Gewissen (das von Millionen Kriegsopfern, Erblindeten und Verelendeten, von Vertragsbruch, Expansionspolitik und Kriegsverbrechen offenbar unbehelligt geblieben ist), kommt diesem Satz ein so hoher diagnostischer Wert zu, dass er gleich noch einmal als Überschrift der folgenden Glosse ­zitiert und von Kraus folgendermaßen kommentiert wird  : „Ich kann nur danken und bewahren. Nie wäre es mir gelungen, die welthistorische Physiognomie dieser verfolgenden Unschuld so herauszubringen.“232 Auch in die Letzten Tage der Menschheit hat Kraus diesen Satz wörtlich aufgenommen, nur „Wir Deutschen“ wurde in „Wir Deutsche“ und die Aussprache des Wortes „verhelfen“ in „vahelfen“ geändert.233 Die beiden Repräsentanten der „verfolgenden Unschuld“ in dieser Szene (V,50) sind nämlich Berliner  : zwei nationalistische Kriegsgewinnler in Gestalt zweier riesenhafter Fettkugeln, die in der Regieanweisung als „die Riesen Gog & Magog“ bezeichnet und so – in Anspielung 229 [Die Fackel  : Nr. 484–498, 15.10.1918, 20. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 22343 (vgl. Fackel Nr. 484–498, S. 13)] , vgl. zum publizistischen Verfahren auch die ff. Glossen (F 484, S. 14–22). 230 F 474, S. 35 231 [Die Fackel  : Nr. 474–483, 23.05.1918, 20. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 22105 (vgl. Fackel Nr. 474–483, S. 35)]. Im Original größtenteils gesperrt. 232 [Die Fackel  : Nr. 474–483, 23.05.1918, 20. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 22107 (vgl. Fackel Nr. 474–483, S. 36)] 233 Die letzten Tage der Menschheit, S. 662

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auf die biblische Apokalypse – als Barbaren aus dem Norden charakterisiert werden.234 Auch diese Szene ist geeignet, die Zeitgenossen das Gruseln voreinander zu lehren, und zwar vermittels einer ästhetischen Stilisierung, die mythische Gestalten als Träger von ebenso alltäglichen wie automatisierten Sprechakten und Reaktionsformen präsentiert. Umgangssprachliche Tropen verknüpfen sich mit Zeitungsphrasen zu einer Einheit des Unheimlichen. Da diese Szene ungeachtet ihrer Prägnanz zu den weniger bekannten gehört, wird im Folgenden ein längerer Passus aus dem Dialog zitiert, in den jener verräterische Satz integriert ist  : Gog (blickt in die Zeitung)  : Na wat sagen Se, WTB – ‚In 24 Stunden 60.000 Kilogramm Bomben  ! – Ganz Dünkirchen steht in Flammen  ! Unsre Bombengeschwader haben Außerordentliches geleistet. Auch über der Festung London wurde die Wirkung einwandfrei festgestellt.‘ Magog  : Die Sache im Westen wird jemacht. Gog  : ’s muß doch ’n Hochjefühl sein, so’n Kampfflieja  ! Vasteht man erst, wenn man das Ullsteinbuch von unserm Richthofen jelesen hat  ! Wie er den Rußkis die Bahnhöfe einjetöppert hat – da kann man ihm den Jenuß des Bombenfluges so recht nachfühlen. Ist doch köstlich, die Schilderung, wie er sich aus ’nem bessern Etappenschwein zum unbestrittenen Kampfflieja empor jearbeitet hat  ! ’s muß’n Hochjefühl sein, so alles unter sich haben und man kann kaputt machen – wie ’n König, mit Bomben beladen, wie ’n Gott  ! Magog  : U-Boot is ooch nich von Pappe. Gog  : Jewiß doch. (Blickt in die Zeitung.) Na wat sagen Se, WTB – ‚Die wenigsten Leute können sich vorstellen, welche prachtvolle U-Boot-Leistung die gestern und heute als versenkt gemeldeten sechzehn Dampfer wieder bilden. Auch der angeschossene, leider entkommene Dampfer dürfte wenigstens für mehrere Monate seiner Bestimmung entzogen sein.‘ Magog  : Unsre blauen Jungen schaffen es. Gog  : Na passen Se man uff, die jroße Kanone allein wird die Kerls mores lehren  ! Der Schuß in die Kirche neulich, so mitten rin ins Verjnüjen, Menschenskind da müssen se doch dran glauben lernen  ! Magog  : In spätestens zwei Monaten ist England auf die Knie gezwungen. Eeventuell in drei. Machen wa. Die Pleitestimmung ist da. Das sieht man doch an den Humanitätszicken, wat se jetzt wieda aufmachen. Gog  : Kokolores. Wat sagen Se zum Aufruf gegen den Gaskampf  ? 234 L.c., S. 660

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Magog  : Sollte das nicht ein Zeichen für die überlegene Wirkung unsrer Gase sein  ? Gog  : Nu eben. Wir Deutsche begrüßen alle Versuche, dem Völkerrecht und der Menschlichkeit zum Siege zu vahelfen, mit Freude, lehnen es aber ab, uns übertölpeln zu lassen. Magog  : Der Entwicklung der Angelegenheit sehn wa mit Ruhe und gutem Gewissen entgegen. Gog  : Da sehn Se mal – immer dieselbe Schose  ! Immer die olle Vaständijungskiste  ! Reuter wirft uns vor, daß wir einer klaren und ernsthaften Einigung mit den Prinzipien einer kommenden Rechtsordnung ausweichen. Haben Se schon so ‚nen Quatsch jehört  ? Magog  : Rechtsordnung  ? Wir haben Gas  ! Elschen (zum Fenster hinausdeutend)  : Ach Männe sieh dir bloß –  ! Gog  : Jewiß doch. Solange der Vanichtungswille unsrer Feinde unjebrochen ist – Magog  : Ach lassen Se mich man bloß mit den lausigen Lügen der Angtangte unjeschoren. Immer das Jequasel mit ihrem Vaständjungsfrieden  ! Gog  : Fisimatenten. Die Brüder kenn wa doch. Wa brauchen ‚nen deutschen Frieden, und ’n deutscher Friede is keen weicher Friede, vaschtehste lieber Lloyd George, Herzensjunge  ?235

Zunächst erscheint der Krieg als Gegenstand einer Geschäftsreklame, ­sodass explizit auf die Authentizität der Zeitungsmeldungen hingewiesen sei. 236 Doch gleich darauf erweist sich die Kriegsbegeisterung als nicht nur ökonomisch bedingt  : Schilderungen von der Front, insbesondere vom historisch neuen Flieger- und U-Boot-Krieg, laden zur Projektion eigener Macht- und Gewaltfantasien ein. Und diese Einladung wird von Gog und Magog umso bereitwilliger akzeptiert, als sie es ermöglicht, von der sicheren Position der Nichtkämpfer aus sowohl die destruktiven als auch die manipulativen Impulse, die in beiden Figuren stark ausgeprägt sind, auszukosten. Der in der Überlieferung bis heute idealisierte „Rote Baron“ Richthofen wurde bereits 1916 in der Fackel kommentarlos zitiert.237 Frei nach Brecht lässt sich sagen  : Er

235 [Kraus, Karl  : Die letzten Tage der Menschheit. Karl Kraus  : Schriften, S. 7175–78 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 10, S. 661f.)]. Einige Scanfehler wurden anhand der Printausgabe stillschweigend korrigiert. 236 Zitiert in  : F 484, S. 198  : Glossen/Aus dem Fenriswolff-Büro 237 F 418, S. 31  : Glossen/Wie ein König, mit Bomben beladen, wie ein Gott  !, ausführlicher und mit Quellenangabe  : F 462, S. 148–158  : Ein deutsches Buch  ; ein kurzer, ironischer Kommentar hierzu findet sich später in 484, S. 190f.

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hat sich um den Hals geredet, und man hat ihn nicht unterbrochen.238 Nur wurde vom Gros der Öffentlichkeit nicht bemerkt, wie die Satire ihn „ohne Urteil abführte“,239 denn außerhalb der Fackel erkannte man Richthofens Selbstzeugnisse nicht als Dokumente eines in seinem Größenwahn schon ans Pathologische grenzenden Menschenjäger- Selbstverständnisses, sondern tradierte das Klischee vom ritterlichen Fliegerhelden.240 Komplementär zur Identifikation mit solchen Figuren artikuliert sich ein unsublimierter Hass auf Appelle an die Menschlichkeit  : ihre Urheber werden als „Humanitätszicken“, „Humanitätsfatzke[s]“ und „Völkerbundsfritzen“ tituliert  ; auf ihre Appelle soll die Gewalt antworten.241 „Human“ wird auch ohne Komposita zum Schimpfwort  ; in der Schluss-Szene des fünften Aktes (V,55) ruft ein geistesverwandter österreichischer Major aus  : „Weißt, mit die Humanen – das hab ich scho gfressen. Wann ich einen Humanen nur von weitem siech, wer’ ich scho fuchtig.“242 Damit korrespondiert die Verachtung jeder noch so zaghaften Imagination einer Welt, in der das Gewaltprinzip durch Konsens ersetzt wäre („Rechtsordnung  ? Wir haben Gas  !“243). Folgerichtig soll schließlich der Frieden weder durch einsichtige Kapitulation noch durch diplomatische Verständigung herbeigeführt werden  ; die Rede vom „deutschen Frieden“ bietet vielmehr Gelegenheit, die Siegerpose einzunehmen, Aggressivität, Robustheit und Härte zur Schau zu stellen. Es gelingt Kraus in der Kontextualisierung seiner Zitate, das Syndrom der „verfolgenden Unschuld“ auch für diejenigen Rezipienten zur Kenntlichkeit zu entstellen, die es am einzelnen Satz („Wir Deutschen […]“) nicht wahrnehmen. Einmal erfasst, hilft es, auch in anderen, nicht explizit unter diesen Begriff subsumierten Äußerungen, die Physiognomie der „verfolgenden Unschuld“ zu erkennen. So nehmen in Szene III,34 der Letzten Tagen der Menschheit ein Austauschprofessor und ein nationalliberaler Abgeordneter (ebenfalls Berliner, aber ein bildungssprachliches Hochdeutsch redend) mit jedem Satz die groteske Pose des unschuldigen Opfers beleidigender Vorwürfe bei gleichzeitiger indirekter Bestätigung eben dieser Vorwürfe ein.244 „Ausgetauscht“ 238 Bertolt Brecht  : Über Karl Kraus, in  : Gesammelte Werke, Bd. 19, S. 430 239 Ibid. 240 Vgl. zur Begeisterung für die „Flieger-Asse“  : Th. W. Adorno  : Studien zum autoritären Charakter, S. 329 (im Kapitel Der Rebell und der Psychopath). 241 Die letzten Tage der Menschheit, S. 661, S. 663 242 L.c., S. 698 243 L.c., S. 662 244 L.c., S. 381, vor allem vom Beginn der Szene bis „gründlich einbläuen“

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werden in ihrer Legitimation der deutschen Kriegspolitik und der Geschäftspolitik der Rüstungsindustrie nicht nur die Rollen des Angreifers und des Verteidigers, sondern tendenziell alle Begriffe von Recht und Gerechtigkeit, sodass der Austauschprofessor in Verwirrung gerät und den Frieden herbeisehnt, indem er statt der Begriffe sich „selbst wieder vertauschen lassen“ könnte.245 Kraus mochte sich nicht eindeutig entscheiden, ob das Verdikt über die „verfolgende Unschuld“ speziell für Deutschland oder auch für Österreich gelten sollte. Vermutlich ließ sich das Phänomen in Deutschland unverfälschter erkennen, trat aber auch in Österreich gelegentlich hervor. Mit Bezug auf die Verantwortung deutscher und österreichischer Staatsmänner für den Weltkrieg erklärt der Nörgler  : „Die dort sind die verfolgende Unschuld und mir san eh die reinen Lamperln.“246 Dagegen spricht Kraus anlässlich der Innsbruck-Affäre von der „verfolgenden Unschuld“ der Mittelmächte.247 Die Suspension des Gewissens findet auf beiden Seiten statt, doch die Aggression geht noch stärker von Deutschland aus als von Österreich. Dieses Motiv wird von Kraus in signifikanter Weise variiert  : in den Worten in Versen folgt direkt auf Wahnschaffes Lied des Alldeutschen das im gleichen Stil verfasste Gedicht Mir san ja eh die reinen Lamperln, das mit Österreichs herrschender Ideologie kurz nach dem Krieg kaum weniger scharf abrechnet als jenes mit der deutschen.248 An anderer Stelle wird eine Verbindung mit dem WerwolfMotiv hergestellt  : „Wir sind die reinen Lamperln neben dem schimmernden Wehrwolf.“249 Aus dem Kontext ergibt sich, dass Kraus hier die österreichische Militärführung als Wolf im Schafspelz ansieht (während das ‚Wölfische‘ der deutschen unmittelbar zu erkennen war). Der „schimmernde Wehrwolf “ (mit h  !) weckt Assoziationen an die dem Essay Weltgericht vorangestellte Fotographie Wilhelms II. – dessen Wolfscharakter bei Kraus ja mehrfach zur Sprache kommt – in Ritterrüstung.250 Im Kommentar zu einer anderen Fotografie, auf der Wilhelm eine eher lächerliche Figur macht, charakterisiert Kraus ihn als „das gekrönte Monstrum, das sein eigener Hofnarr war  ; in seiner Stimme wiehert ein Schlachtroß, heult ein Werwolf “.251 Eine Nachahmung wölfischen

245 L.c., S. 383 246 L.c., S. 409 247 F 531, S. 78 248 Gedichte, S. 241f. 249 F 657, S. 34 250 Weltgericht II, S. 170 251 F 726, S. 58

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Knurrens findet sich schließlich im Wort von der „Wolff-Bürro-Visage“252, mithin der Physiognomie der offiziösen Nachrichtenagentur Wolff. Den „reinen Lamperln“ und der „verfolgenden Unschuld“ ist die Projektivität gemein, die sie stets im Gegner, und gerade im gegnerischen Opfer, den Aggressor sehen lässt. Die Voraussetzung für diese Haltung  : die Suspension des Gewissens und der Reflexion, kann entweder stillschweigend geleistet werden (indem sie sich „eh“ von selbst zu verstehen scheint) oder offensiv, wie von den Pastoren in den Szenen III,15 bis III,17. Beide Varianten dienten nach dem Krieg als Abwehrmittel gegen Schuldanerkennung und Ursachenbeseitigung, sowohl in der individuellen wie in der öffentlichen Haltung zum Weltkrieg. Das große Lesestück von Karl Kraus stellt seiner Form nach einen prägnanten Gegenentwurf zu den geschilderten Phänomenen dar. Es setzt stilistisch und dramaturgisch den Einheitsmythen die Erkenntnis vom Zerfall und von den gesellschaftlichen Antagonismen, der Fantasieabtötung die Imaginationskraft, der Reflexionslosigkeit die Verfremdung der allzu gewohnten Rede entgegen. Damit begegnet Kraus zum einen dem größenwahnsinnigen und paranoiden nationalen Selbstentwurf, indem er – auch schon im Krieg – statt der äußere „Feinde“ das eigene Land kritisiert. In der kritischen Darstellung der einheimischen Gesellschaft ist darüber hinaus eine präzise Charakteristik derjenigen Syndrome enthalten, die die Menschen international, nicht nur in Österreich und in Deutschland, für präfaschistische und faschistische Propaganda anfällig machen. Die hier vorgelegten Deutungsversuche im Kontext von Adornos Theorie des autoritären Charakters ließen sich zweifellos erweitern und durch Überlegungen zu anderen Szenen ergänzen. Damit soll nicht behauptet werden, dass es keine anderen schlüssigen Ansätze zur wissenschaftlichen Rezeption der Letzten Tagen der Menschheit gäbe, im Gegenteil  : Hinsichtlich der dramatischen Form etwa ist auch unter anderen Aspekten noch einiges an Forschungsarbeit zu leisten. Da indessen der sozialpsychologische Gehalt bisher keine Präzision im Sinne der kritischen Theorie erfahren hat, wurde dieser Aspekt hier ins Zentrum gestellt. Schließlich ist zu hoffen, dass die Erkenntnis über den dargestellten Verfall von Subjektivität und Autonomie der Analyse der Formstruktur des Stücks neue Impulse zu geben vermag.

252 F 418, S. 47

Kapitel 3

Kasmader und die Demokratie (1919–1932) Widersprüchliche Tendenzen in der Ersten Republik

Der Sieg der Alliierten und die Gründung der Ersten Republik wurden von Karl Kraus ohne Vorbehalt begrüßt. In den ersten Nachkriegsjahren positionierte sich der genuin unpolitische Satiriker sogar in der Nähe einer Partei, und zwar der sozialdemokratischen. Obwohl seine gesellschaftskritischen Diagnosen und seine sozialpolitischen Forderungen – nicht nur in dieser Zeit – mit den sozialistischen in vieler Hinsicht übereinstimmten, ist seiner Gedankenwelt eine entsprechende Etikettierung allerdings unangemessen  : Kraus war nie „ein Sozialist“, wie er auch nie „ein Konservativer“ war. Er verweigerte sich konsequent der Adaption einer kohärenten „Weltanschauung“ und beschränkte seine positiven politischen Erklärungen darauf, jedes einzelne Phänomen zu befürworten, das geeignet erschien, den Menschheitsübeln des Elends, der Unmündigkeit und der Gewalttätigkeit Einhalt zu gebieten. Aufgrund dieser negativen Zielsetzung blieb sein Wirken ein im besten Sinne „destruktives“ (Walter Benjamin)1  : Mit gesteigerter Regsamkeit engagierte er sich für die Beseitigung allen Kulturmülls, den die demokratische Gesellschaft weiterhin mit sich fortschleppte. Da er, gerade auch unter sozialpsychologischen Aspekten, das aus ihren Widersprüchen resultierende Bedrohungspotential erkannte, warnte er beharrlich vor den möglichen Folgen unzulänglicher Modernisierung. Karl Kraus als Autor wurde so zur Kontrollinstanz  : kontinuierlich beobachtete er, ob der veränderten Staatsform eine soziokulturelle Umwälzung folgte, ob die gewonnene Freiheit für konkrete Autonomieerweiterung genutzt wurde und ob das Gedenken an den Weltkrieg und seine Opfer wachgehalten wurde. Sein Material blieb überwiegend die Presse, die republikanische wie die antirepublikanische, anhand derer er Defizite des Modernisierungsprozesses nachwies.

1 Walter Benjamin  : Der destruktive Charakter, in  : ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/M. 1977, S. 289f.

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Monarchie und Republik Sein Nachruf auf die k.k. Monarchie enthält eine klare Distanzierung vom Konservatismus, in deren Zusammenhang er bündig erklärt  : „Die Gleichzeitigkeit von Thronen und Telephonen hat zu Gelbkreuzgranaten geführt, um die Throne zu erhalten. Sie müssen weg, um das technische Leben wieder dem Leben dienstbar zu machen.“2 Die autoritäre Hierarchie der monarchischen Gesellschaft, mit ihrem ornamentalen Formenwahn und ihrem Zwang zur Unmündigkeit, wird hier als anachronistisch verworfen  ; der technischen Entwicklung (mit anderen Worten  : dem Stand der Produktivkraftentwicklung) angemessen ist dagegen „die nüchterne, fibelfreie, demokratische Zivilisation“,3 welche von der konservativen Mehrheit der deutschen und österreichischen Intellektuellen in den Jahren des Weltkriegs besonders aggressiv diffamiert worden war. Denn, so Kraus, in „der Republik, die den Staat als den Konsumverein bejaht, wo sich das Essen von selbst versteht und nicht jene Gnade bedeutet, für die man mit Ehrfurcht dankt, also mit einem Gegenwert, den man nur Gott und dem Geist schuldet, in der Republik sind die Menschen so schlecht und so dumm, wie sie sind, aber von keiner Schranke gehindert, den Zustand zu heben. Die monarchische Macht muß, um zu bestehen, die Menschen dümmer und schlechter machen, als sie sind.“4 Die Republik wird mithin als notwendige, aber nicht als hinreichende Bedingung angesehen, um das Leben von den obsoleten Ornamenten, den deplazierten Gefühlen und dem inadäquaten Pathos zu reinigen, die seine Rationalisierung zu menschlichen Zwecken behindern. Um die Freiheit auch nutzen zu können, müssen die Menschen sich von ihrem verinnerlichten „Sklaventum“ emanzipieren, anstatt nach neuen Autoritäten, denen sie sich unterwerfen können, Ausschau zu halten. Implizit greift Kraus damit Denkmotive von Adalbert Stifter auf, die er jedoch politisch gegen den Urheber wendet. Im Mai 1916 waren in der Fackel Auszüge aus Briefen Adalbert Stifters erschienen, in denen dieser beschreibt, wie Menschen, die den Gehorsam um des Gehorsams willen verinnerlicht haben, einmal auf Machtpositionen gelangt, selbst in tyrannisches Befehlen verfallen, anstatt ins Organisieren.5 Dass diese (durchaus instruktiven) Überlegungen im Kontext der Fackel auf den Weltkrieg bezogen werden sollten, ist 2 3 4 5

Nachruf, S. 199 Weltgericht II, S. 179 [Kraus, Karl  : Weltgericht II. Karl Kraus  : Schriften, S. 3128 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 6, S. 200)] Briefe Adalbert Stifters, in  : F 423, S. 29–38, hier S. 29f.

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evident. Bei Stifter aber richten sie sich gegen die Protagonisten der Revolution von 1848, und sie sind mit der für das deutsche Bürgertum typischen Auffassung verbunden, sittliche Freiheit sei von der politischen unabhängig, sie sei ausschließlich durch Bildung zu erreichen.6 Dieser Verzicht auf politische Freiheit wird nun von Karl Kraus negiert. Im November 1918, als die bürgerliche Presse tagtäglich nach Ordnung schrie, erklärte der Autor der Fackel, er halte „den wildesten Aufzug befreiter Sklaven“ für ein gottgefälligeres Schauspiel „als den reglementierten Auftrieb von Menschenvieh zum Tod für die fremde Idiotie, für das fremde Verbrechen“, und zwar im vollen Bewusstsein dessen, „wie verächtlich sich die Wagentürlaufmacher von gestern als Barrikadenbauer ausnehmen.“7 Über das Argument derer, die die Bevölkerung in Unmündigkeit zu belassen trachten, sie sei noch nicht „reif “ für die Freiheit, hat Kraus – zumindest seit dem Weltkrieg – seinen Spott ergossen.8 Doch er erinnerte auch kontinuierlich daran, dass der Demokratisierung des Staates ein Prozess innerer Befreiung folgen muss9 und dass dieser Prozess nur dann Chancen hat, wenn er von einer Aufhebung der materiellen Ungleichheit begleitet wird.10 Als ihm der Sozialdemokrat Karl Seitz in seiner Eigenschaft als erster Präsident der Republik zum zwanzigjährigen Jubiläum der Fackel gratuliert, ergreift Kraus die Gelegenheit, aus kulturkritischer Sicht die Defizite der Emanzipation11 zu erörtern. Seitz hatte ihm für „das große Werk, das Sie in diesen zwei Jahrzehnten zur Reinigung, Versittlichung und Vergeistigung des öffentlichen Lebens geleistet haben“, gedankt, insbesondere den Kampf gegen den Krieg gewürdigt und hinzugefügt  : „Jeder Republikaner wird dankbar anerkennen, was Sie mit Ihrem Wort zur Verjagung der alten Gespenster beigetragen haben.“12 In seinem Essay Gespenster, den er in Form eines offenen   6 L.c., S. 33   7 Weltgericht II, S. 182   8 Besonders nachdrücklich in dem Gedicht Bessere Methode, in F 544, S. 9   9 Es genügt eben nicht, dass nun, wie es in Kraus’ Gedicht Umsturz heißt, Kaiserreiche „Präsidenten an der Spitze“ haben  ; die Menschen müssen auch vom „Gott erhalte, Gott beschütze“ sich emanzipieren (F 544, S. 8). 10 Exemplarisch zu Kraus’ Kritik ökonomischer Ungleichheit in der Nachkriegszeit  : F 519, S. 1–32  ; F 557, S. 1–4  ; F 583, S. 79f.; F 595, S. 124–128  ; F 613, S. 175–184  ; F 622, S. 205–207  ; F 632, S. 150–158. 11 Karl Kraus verwendet den Begriff der Emanzipation in diesem Kontext nicht. Gleichwohl legen seine Forderungen nach autonomer Urteilskraft und Sittlichkeit, nach Lebensbedingungen, die die Entwicklung dieser intellektuellen und sozialen Kompetenzen ermöglichen, sowie sein Einspruch gegen autoritär geprägte Verhältnisse die Verwendung des Begriffs nahe. 12 Zitiert nach  : Karl Kraus  : Gespenster, in  : F 514, S. 21–86, hier S. 21

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Brief an Karl Seitz publizierte, variierte er die zitierten Worte der Anerkennung, um anhand verschiedener Bereiche, vor allem aber an der Presse aller politischen Richtungen, zu zeigen, dass die ihm zugesprochenen Erfolge erst noch ihrer Verwirklichung harrten. Denn die Presse betrüge nach wie vor „den Leserverstand mit der schwindelhaft aufgemachten Fertigware von Tonfall und Phrase“.13 Im Hinblick auf das Verhältnis von Monarchie und Republik verstärkt die konservative Presse, der Krausschen Darstellung zufolge, die Tendenz des „hiesige[n] Menschenschlag[s]“, „durch Schaden dumm zu werden“, indem sie nostalgisch die Sehnsucht nach eben dem Regime weckt, das die Bevölkerung in Not und Tod geführt hat.14 Sein im Nachruf ohne falsche Bescheidenheit formuliertes Ziel, „einer widerstrebenden Gegenwart die Grundbegriffe verlorener Menschenwürde beizubringen und nebstbei die Grundregeln verlorenen logischen Denkens“,15 verfolgt Karl Kraus hier in der nüchternen Absage an eine Ideologie, die „den kürzesten Gedankengang nicht mehr zurückzulegen [vermag]“, nämlich den folgenden  : „Die Monarchie hat uns den Krieg gebracht, der Krieg den Ruin, der Ruin die Republik. Nein, sie gewahrt nur die Gleichzeitigkeit von Republik und Ruin [und folgert]  : die Republik hat uns den Ruin gebracht.“ Auch die Satire setzt sich über die Logik hinweg, aber sie tut es bewusst und erkenntnisfördernd  : „Bei jedem Bissen, den sie nicht zum Munde führt, gedenkt die Dummheit der Monarchie, aber nicht mit Verwünschungen, sondern in Sehnsucht, denn sie weiß sich doch noch zu erinnern, daß es in der Monarchie, ehe sie den Krieg begann, Kaisersemmeln gegeben hat. Da war’s doch schöner, sagt sie, und verhilft dem resoluten Dramatiker, der mit kundiger Hand an diese Wunde rührt und auf der Bühne des Deutschen Volkstheaters einfach ‚O du mein Österreich‘ aufspielen läßt, zum Erfolg der Saison.“16 Karl Kraus spielt also keineswegs nach dem Muster konservativer Kulturkritik Verstand gegen Gefühl aus oder Rati13 L.c., S. 22 14 L.c., S. 23 15 Nachruf, S. 204f. 16 Alle Zitate aus F 514, S. 23. Vgl. zur geistigen Physiognomie monarchistischer Patrioten das Gedicht Gespräch mit dem Monarchisten in F 551, S. 20, sowie Ja, Herr  ! Nur eetwas wieder von die vergangene Zeiten …  !, in F 632, S. 159–168. Dort wird die patriotische Schönfärberei nüchtern zurückgewiesen (besonders witzig  : S. 162) und erklärt, dass alles kulturell Verlorene, wonach man sich mit Recht sehnen könne, nur durch die konsequente Verteidigung der Republik gegen ihre monarchistischen Feinde wiederzuerlangen sei. – Auf das Motiv der Sehnsucht nach den (noch heute so genannten) „Kaisersemmeln“, ergänzt um das „Kaiserwetter“, rekurriert Kraus in seiner Klarstellung zur politischen Lage (F 554, S. 1–5).

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onalität gegen Fantasie. Die Koordinaten sind bei ihm anders verteilt  : auf der einen Seite Vernunft und Fantasie, im Bunde mit Menschlichkeit, Geist und Kunst, auf der anderen Seite Irrationalität, die Gefühlssurrogate einer verlogenen Sentimentalität und die Zerstörung von Fantasie und Urteilskraft. Wie Kraus in einer späteren Textpassage darlegt, ist es die sittliche Aufgabe der Republik, allen Menschen ein Leben zu gewährleisten, das ihre individuelle Entfaltung und ihre Selbstbestimmung ermöglicht. Die philosophischen Begriffe der Selbstbestimmung, des Naturrechts und der Relation von Mittel und Zweck werden in dieser herausragenden Passage17 mit dem politischen Primat des materiellen Lebens und mit der Verurteilung einer museologischen, snobistischen, ästhetizistischen Beziehung zur Kunst ins Verhältnis gesetzt. Dass der Mensch der Zweck und nicht das Mittel sein solle, wurde von Kant als praktischer Imperativ postuliert  ; Kraus reformuliert diese Maxime als politische.18 Eine Organisation der Gesellschaft, die ihre Mitglieder auf ihre Brauchbarkeit als Arbeitskräfte, Kunden und Staatsbürger abklopft, anstatt den Bedürfnissen dieser Menschen nach materieller Sicherheit, Selbstentfaltung und Selbstbestimmung zu dienen, ist gerade nicht „brauchbar“, weil sie die staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen als Zwecke setzt und die Menschen zum Mittel degradiert. Als Künstler stellt sich Kraus an die Seite derer, die von der Politik primär die Abschaffung des Elends fordern19, zuerst aus Empathie, dann aber auch im Interesse der Kunst, denn in „einer Kultur, die den Luxus mit Menschenopfern erkauft, fristet die Kunst ein dekoratives Dasein“, sie wird zum Ornament eines hässlichen Lebens.20 Im Namen eines Naturrechts auf Selbstentfaltung wird die „Unbarmherzigkeit“ jener Konservativen und Rechtsradikalen zurückgewiesen, „die ihr Gewissen bei der planen Erkenntnis beruhigt, daß auch die Natur die Menschen nicht gleich erschaffen habe.“21 Die von materieller Ungleichheit geprägte Gesellschaft lässt auch die Kunst verkümmern. „Ist das Naturrecht verkürzt, die Schönheit zu empfangen, so verkümmert auch die Fähigkeit, sie zu geben.“22 Denn das hässliche Leben verwandelt jede ungebrochen das Schöne anstrebende Kunst in Kitsch und verweist so die Kunst in die Schranken des Negativen  : die Satire des

17 Gespenster, von S. 46, 2. Absatz, bis S. 49, 1. Absatz. 18 L.c., S. 46 19 Vgl. dazu Brot und Lüge , F 519, S. 1–32, sowie Klarstellung, F 554, S. 1–5. 20 Gespenster, S. 47 21 L.c., S. 49 22 L.c., S. 48

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Hässlichen im Namen der vermissten Schönheit. Eine elitäre Kunstrezeption, die „nur das Genußrecht der Bevorzugten“ am Kunstwerk anerkennt und der Kunst selbst so fremd gegenübersteht wie der Lebensnot, lässt ein erhebliches künstlerisches Potenzial gar nicht erst zur Entfaltung gelangen.23 Wie soziale Ungleichheit zu überwinden sei, vermag Kraus indessen nicht zu benennen, und seine Abgrenzung von der Linken, die in diesem Text aufgrund der Adressierung an einen sozialdemokratischen Politiker den größten Raum einnimmt, zeugt von weitreichender Unkenntnis gesellschaftstheoretischer Konzepte wie auch aktueller Entwicklungen. Stattdessen bekräftigt er am Schluss seine alte Forderung nach „Männerstolz vor Herausgeberthronen“, um der Zerstörung der Vorstellungskraft und der von der Pressefreiheit gedeckten Lügenpropaganda Einhalt zu gebieten.24

Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Nachkriegszeit In der Affäre um eine Innsbrucker Vorlesung aus den Letzten Tagen der Menschheit (am 4.2.1920) musste Karl Kraus persönlich die Erfahrung machen, welche gefährlicheren „Gespenster“ es zu verjagen galt, indem nämlich die krudesten Formen von Deutschnationalismus und Antisemitismus ihren Zuwachs an Macht und Einfluss offenbarten. Dieser Fall wurde von ihm in einem eigenen Heft der Fackel mit dem Titel Innsbruck und Anderes dokumentiert und kommentiert.25 Weil die Relevanz der dort versammelten Texte für die Analyse des autoritären Charakters schon in Der Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit ausführlich dargelegt wurde,26 soll dieses Material hier nicht noch einmal ausgebreitet, sondern nur ergänzt werden. Öffentliche Empörung, die zur Verhinderung einer zweiten Vorlesung führte, war in der konservativen und in der rechtsradikalen Presse vor allem mit dem Hinweis auf die Szene Wilhelm und die Generale geschürt worden. Anstatt sich jedoch über die Widerwärtigkeiten Wilhelms II. zu erregen, wurde die Kraussche Darstellung als widerwärtig dif23 L.c., S. 47, vgl. S. 48 unten 24 L.c., S. 86 25 F 531 26 Irina Djassemy  : Der Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit, S. 417–426  ; zum historischen Hintergrund und zum Textaufbau siehe auch  : Sigurd P. Scheichl  : Zur Struktur Kraus’scher Polemiken – am Beispiel ‚Innsbruck und Anderes‘ (1920), in  : Literatur und Kritik, H.219/220, Nov./Dez. 1987, S. 131–140  ; zusätzliches Material findet sich in Kraus-Heft Nr. 21 (Schwerpunktheft zu Innsbruck und Anderes).

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famiert und ihm die Legitimation abgesprochen, über den deutschen Kaiser zu urteilen. So erschien – nicht etwa in einer Nischenpublikation des Tiroler Antisemitenbundes, sondern in den Innsbrucker Nachrichten – eine Abrechnung mit Karl Kraus in Form einer Vorlesungsrezension, deren folgender Passus signifikante Elemente eines pathologischen Syndroms aus Nationalismus und Antisemitismus enthält  : „Wir wissen, wieviel Gemeinheit der Krieg im Gefolge hatte. Über sie zu richten, sei uns ernstes Amt. Aber wir, wir Deutsche selbst wollen es tun. Ich bin kein Antisemit, aber ich wehre mich dagegen, daß ein solcher Jude über uns zu Gericht sitzt, der ja unsere Vaterlandsidee zu erfassen niemals im Stande ist und in dem seit jeher der Haß groß ist gegen alles, was aus deutscher Erde gewachsen ist. Ein Mann, dem es nur um die Wahrheit zu tun ist, der hätte Feld genug, für Künftiges zu streiten, er brauchte nicht Erledigtes anzugreifen. Wir glauben ihm dies Pathos nicht mehr. Dieser gestrige Abend hat uns ihn, Karl Kraus, in seiner wahren Gestalt gezeigt, durchleuchtete alles, was er bisher tat und wir sehen die Mache eines eitlen Menschen, der klug genug war, sich den Anschein eines Gottesstreiters zu geben und so die Besten zu täuschen.“27 Diese Sätze weisen in besonderer Dichte die projektiven Elemente jenes Syndroms auf  : Die für den „Aschermittwoch“ der Nachkriegszeit charakteristische Zerknirschung schlägt bei der erstbesten Gelegenheit in aggressive Kritikabwehr um  ; der deutsche Nationalismus wird – anders als der französische oder US-amerikanische – nicht nur gegen andere Nationen gewendet, sondern auch gegen wirklich oder angeblich nichtautochtone Landsleute  ; den eigenen Hass auf die Fremdgruppe schreibt der Verfasser wider besseres Wissen seinem Gegner zu  ; dabei geriert er sich noch als Beschützer des „Erledigten“, was insofern nicht verwundert, als er eine primär von Bedrohungsfantasien geprägte Variante des Antisemitismus vertritt, die sich nicht zuletzt in den persönlichen Vorwürfen der Täuschung sowie der (bei Karl Kraus von Ich-Stärke zeugenden) Eigenschaften „Eitelkeit“ und Klugheit artikuliert. Auch Karl Emerich Hirt, ein Schriftsteller und Bankier, betont, „dass wir angeklagt, gerichtet und gestraft nur von einem aus unseren Reihen sein wollen“  ;28 allerdings, ohne das Wort Jude ein einziges Mal zu gebrauchen, weil sich das Kriterium der Abgrenzung unter Deutschösterreichern offenbar von selbst versteht. Bemerkenswert sind bei ihm aber die disparaten Elemente einer Heilserwartung, die bei Kant beginnt und bei einer nationalreligiösen 27 [Die Fackel  : Nr. 531–543, 04.1920, 22. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 23637f. (vgl. Fackel Nr. 531–543, S. 85)], im Original teilweise gesperrt. 28 F 531, S. 61

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Führerfigur endet  : „Das deutsche Volk, das Immanuel Kant, den großen Vertreter des Weltgewissens gezeugt hat, wird auch den Genius aus seinem Blute erwecken, der uns aus diesem Kerker der Martern und Erniedrigung holen und zum strafenden, aber auch zum erlösenden Gerichtstag führen wird. Wir ersehnen diesen deutschen Heiland  ! […] Ihm wollen wir uns beugen, Ihm wollen wir unseren namenlosen Schmerz bekennen  ! Ihm allein, dem Deutschen Heiland  ! Aber sonst niemandem auf der Welt.“29 Die komplementären Impulse autoritärer Aggression und autoritärer Unterwürfigkeit bekommen in diesen Sätzen einen nationalistisch und religiös geprägten Inhalt, und zwar dergestalt, dass Kant als „großer“ deutscher Philosoph einem mit der Aufklärung nicht zu vereinbarenden Konzept bloß als Galionsfigur dient, seine Forderung nach eigenständiger Überwindung von Unmündigkeit indessen ignoriert (denn sie implizierte ja einen Verzicht auf die Leitung des Verstandes durch andere) und die Freiheit zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft nur dafür genutzt wird, das vernunftwidrige, autoritäre Ideal eines zugleich strafenden und erlösenden, deutsch-christlichen Führers zu propagieren. In seiner Rede Meine Eitelkeit und der deutsche Nationalstolz verzichtet Kraus denn auch spöttisch auf die Zugehörigkeit zu dieser Art des Deutschtums und charakterisiert die Nationalehre, auf die seine Gegner sich berufen, als eine antiaufklärerische Form von Ehre, „die nicht durch das Wesen, sondern durch den Heimatsschein erworben wird, nicht durch die persönliche Berechtigung zur Menschheit zu zählen, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer innerhalb von Grenzmarkierungen zwar nicht mehr weidenden, aber eben darum umso mehr brüllenden Herde, durch jene Verbandsfähigkeit, die jedem Mitglied das Recht gibt, den schrankenlosesten Gebrauch von den Eigenschaften zu machen, die ihn aus dem Verein der Menschheit ausschließen, und namentlich den Mitgliedern anderer solcher Verbindungen zu zeigen, daß seine Farben ihm mehr Recht auf Stupidität gewähren als dem andern.“30 Damit ist jedoch weder ein Pariabewusstsein noch ein blinder Hass auf Deutsche und Österreicher verbunden, sondern der Wunsch, als „Abgeordneter der Menschheit“31 und „Untertan der deutschen Sprache“32, wie Kraus sich begriff, seinen Beitrag zur Reinigung des

29 [Die Fackel  : Nr. 531–543, 04.1920, 22. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 23605 (vgl. Fackel Nr. 531–543, S. 61–62)] , im Original teilweise gesperrt. 30 [Die Fackel  : Nr. 531–543, 04.1920, 22. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 23547–8 (vgl. Fackel Nr. 531–543, S. 17–18)] 31 F 462, S. 141 32 Weltgericht II, S. 181

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eigenen Landes von nationalistischer Dummheit und Unmündigkeit zu leisten. Anlässlich einer Vorlesung an der Pariser Sorbonne erklärte Kraus 1928, mit Bezug auf die Phrase vom Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt  : „Um Schmutz handelt es sich allerdings. Aber weil der Vogel, der sein Nest schmutzig findet, der Vogel, den sein eigenes Nest beschmutzt, es reinigen möchte, weil er Lust und Mut hat zu dieser Arbeit, so sagen die anderen Vögel, die sich im Schmutze wohl fühlen, er ‚beschmutze‘ das Nest.“33 In der Abwehr seiner Kritik durch die aggressiven Verteidiger des Deutschtums erkennt Kraus jene „verfolgende Unschuld“, die sich gegen Fakten und Argumente abdichtet und vielmehr die „Selbstgerechtigkeit eines guten Gewissens“ pflegt, „das wahrlich besser täte, ein schlechtes zu sein“.34 Denn allein die selbstkritische Erkenntnis, dass man sich von einem „gekrönten Tollhäusler“35 und der kaisertreuen imperialistischen Propaganda in den Krieg führen ließ, und wie dies geschehen konnte, würde die Voraussetzung bilden, um eine Wiederholung zu vermeiden, während diejenigen, die vom Krieg nichts mehr hören wollen, bereitwillig darauf warten, den nächsten zu beginnen.36 Stattdessen konstruiert die politische Rechte äußere und innere Feinde, denen sie alle Schuld aufbürdet, auf die sie alle Aggressionen projiziert – in diesem Fall den Verfasser der Letzten Tage der Menschheit. Die Hetzkampagne gegen ihn setzte sich auch nach seiner Abreise aus Innsbruck noch fort  : „Kein Tag“, so Kraus, „der mir nicht einen Schall von jenem Rachechor zutrug, immer wieder eine Zusatzstrophe zu Wahnschaffes unendlicher Melodie, der mich für den heillosen Ausgang seines kriegerischen Abenteuers verantwortlich zu machen schien, als säße Wilhelm nicht in Amerongen, wenn ich nicht nach Innsbruck gekommen wäre.“37 Der enge Zusammenhang von Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus, den nach dem Zweiten Weltkrieg auch Adorno immer wieder hervorhebt, wird vermittelt durch eine depravierte Romantik, die das Massenmorden ästhetisiert. Die ornamentalen Bilder aus dem „technoromantischen Abenteuer“ wurden, wie die Fackel zeigt, von den Politikern und von der Presse der politischen Rechten tradiert, sodass sie noch im Nachhinein die Erinnerung an das – ohnehin inkommensurable – Kriegsgeschehen defor-

33 [Die Fackel  : Nr. 781–786, 06.1928, 30. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30652 (vgl. Fackel Nr. 781–786, S. 5)] 34 531, S. 78 35 Ibid. 36 Vgl. dazu die Glosse Beethoven und Goethe – Vorbilder und Lebensführer, in F 657, S. 214–221. 37 F 531, S. 141

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mierten. Indessen wächst die Bedrohung ins Unermessliche, weil die Zerstörungstechnik weiterentwickelt wird und die Gewaltpolitik immer hemmungslosere Formen annimmt. Durch Schaden dumm zu werden, wie die Fackel es den Zeitgenossen vorwirft, heißt in diesem Kontext nicht bloß, die alten Fehler zu wiederholen, sondern dem gesteigerten Destruktionspotential zur Verwirklichung zu verhelfen. Das wird exemplarisch in der folgenden Passage aus dem 1924 anlässlich des zehnten Jahrestags des Kriegsbeginns publizierten Essay In dieser kleinen Zeit deutlich (der Titel spielt auf jenen ersten Kriegsessay In dieser großen Zeit an), der überdies belegt, dass Kraus schon damals den Nazismus als das absolute Böse ansah  : „Längst wird im Ernstfall die Erde ein einziger Operationsraum für Todesstrahlen sein, aber dem Signal, das den Prinzen Eugen dazu hinüberrucken läßt, wird die Menschheit den Respekt nicht weigern. Denn ihre Verdummung durch Schaden, die in dem Riesenmaß der Entfernung technischer Errungenschaften von den Ornamenten zunimmt, ist eine so sinnfällige Tatsache, daß es geradezu rätselhaft scheint, wie diese Erfahrung noch kein Sprichwort absetzen mochte  ; und die gebrannten Kinder stürzen sich in das Feuer nicht anders, als vor dem Automobil die Hühner, in die Gefahr flüchtend, vom sichern Port noch rasch hinüberzukommen suchen. Wäre es anders, so wäre der Versuch des Teufels, ihnen das Hakenkreuz einzubrennen, am ersten Tage gescheitert. Wäre die Entwicklung der Todestechnik nicht von der Gloriole des Turniers unsichtbar gemacht, die Menschheit würde sich einer Berufsromantik entledigen, die über jene verfügen kann, ohne von den Tatsachen des Lebens auch nur die eine zu wissen, daß der Hunger der natürliche Verbündete des Schlachtruhms ist und daß auf dem Leichenfeld einer selbstmörderischen Zivilisation bloß die Aasgeier Wirtschaft führen.“38 Erinnerungsarbeit zum Zwecke der Verhinderung des von ihm schon antizipierten nächsten Weltkriegs leistet Kraus nicht nur in seinen Essays, sondern kontinuierlich auch in den Glossen, die das in der Presse chaotisch, isoliert und unreflektiert dargebotene Material in einen neuen Zusammenhang stellen. Bekannt ist beispielsweise das Codewort reiflich erwogen, das Kraus nach einem als Plakat veröffentlichten kaiserlichen Manifest zu Kriegsbeginn ungenau, nämlich verschönernd, zitiert hatte und nun als Motiv beibehielt. Solche Codes verhelfen der Teilöffentlichkeit um Karl Kraus zu einer kontinuierlichen Gedächtniskultur, indem sie immer wieder die jeweils früheren Texte, 38 [Die Fackel  : Nr. 657–667, 08.1924, 26. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 26919f. (vgl. Fackel Nr. 657–667, S. 3–4)]

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in diesem Fall die Rede In dieser großen Zeit von 1914, in Erinnerung rufen und auf diese Weise das jeweils neueste Phänomen kontextualisieren. Fünf Glossen aus den Zwanzigerjahren, die durchweg kleine Meldungen über Alltagsgräuel zitieren, tragen das Wort im Titel. Während die Meldung solcher Kriminalfälle und bizarren Begebenheiten in der Presse meist dazu angetan ist, bei ihren Rezipienten eine flüchtige Empörung hervorzurufen („Nein, was es alles gibt  !“), erinnert die Fackel daran, dass es eine schlechte, durch Krieg und Nachkriegsarmut geprägte Welt ist, die das schockierende Verhalten (Leichenraub, Mord unter Kindern) erst hervorbringt.39 Eine Hinwendung zum Leid der Einzelnen findet sich auch in den Invaliden- und Heimkehrerszenen, die Kraus aus der Arbeiter-Zeitung zitiert, um sie als Sinnbilder dem Gedächtnis der Öffentlichkeit einzuprägen.40 Scharf verurteilt wird hingegen eine reißerische Variante der Erinnerung, die sich am vergangenen Grauen weidet, anstatt seine Wiederholung zu verhindern  : Über seine kommentierte Parodie einer Zeitungsannonce für „Schlachtfelder-Rundfahrten“ bei Verdun (in der „der Heldentod zum Ausbeutungsobjekt der Fremdenindustrie erniedrigt wird“41) setzt Kraus den Titel Reklamefahrten zur Hölle.42 Noch weiter, nämlich Über alles in der Welt, geht allerdings ein Umgang mit Dokumenten aus dem ersten Weltkrieg (Witz, Erinnerungen, Filmmaterial), der direkt oder indirekt hilft, den zweiten vorzubereiten, und der darin gipfelt, die Bejahung des Todes einzutrainieren, indem – einer Annonce zufolge – auf einen Kriegsfilm mit Originalaufnahmen, der Kriegerwitwen und Müttern als Chance, den Tod ihrer Verwandten mit ansehen zu können, nachdrücklich empfohlen wird, als Dreingabe ein Fünfakter „zum Totlachen“ folgt.43 Die Empörung des FackelAutors ist psychologisch dadurch gerechtfertigt, dass diese Sparte des Kulturbetriebs auf die Lust an der Katastrophe, an Schmutz und Schmerz, und damit auf die destruktiven Impulse des autoritären Charakters berechnet ist  : Sie be39 Hatte er auch das reiflich erwogen  ?, in F 595, S. 23 (in Zusammenhang zu betrachten mit der folgenden Glosse)  ; Hatte er auch dieses reiflich erwogen  ?, in F 632, S. 33  ; und drei Glossen mit dem Titel Reiflich Erwogenes (F 679, S. 123  ; F 686, S. 79  ; F 697, S. 6f.). Aufschluss über die ungenaue Zitation geben die Kraus-Hefte Nr. 50 (S. 7), Nr. 65 (S. 13) und Nr. 69 (S. 12). 40 Exemplarisch  : F 657, S. 10–12. 41 F 781, S. 3 42 Reklamefahrten zur Hölle, F 577, S. 96–98. Zentrale Aspekte der Krausschen Pressekritik entfaltet anhand dieser Parodie  : Jens Malte Fischer  : „Reklamefahrten zur Hölle“. Karl Kraus und die ‚Mission‘ der Presse, in  : Sprache, Bewußtsein, Stil. Theoretische und historische Perspektiven. Tübingen  : Narr, 2005, S. 217–225 43 F 717, S. 69f., Zitat S. 70

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treibt eine erweiterte Reproduktion dieser Impulse, indem sie ihnen Anreize bietet, die falschen Bedürfnisse symbolisch befriedigt, durch ständige Wiederholung die Reizschwelle senkt und ihre Rezipienten auf diese Weise süchtig nach neuen, womöglich noch destruktiveren Reizen macht, wobei durch Originalaufnahmen im Kinoformat überdies die Grenze zur Realität verwischt wird. Ob Kraus insofern ein Missgriff unterlaufen ist, als es sich bei dem beworbenen Film Namenlose Helden möglicherweise um den von Willi Münzenberg produzierten gleichnamigen Antikriegsfilm aus dem Jahr 1924 handelt, der allerdings in der Annonce wie ein Kriegsfilm beworben wird, konnte noch nicht ermittelt werden.

Kasmader Für den Typus des antisemitischen, sich als „bodenständig“ positionierenden, rückschrittlichen Österreichers fand Karl Kraus am Ende des Weltkriegs einen Namen, den er zu Zeiten der Ersten Republik beibehielt  : Kasmader.44 Kurt Krolop hat darauf hingewiesen, dass die politische Attribuierung Kasmaders sich im Lauf der Jahre vom deutschnationalen zum christlich-sozialen Lager verschiebt  ;45 allerdings ist sie nie ganz eindeutig. Das liegt möglicherweise daran, dass es innerhalb des antisemitischen Lagers Übergänge gab zwischen den Gruppierungen, die die Geschichtsschreibung so gern scharf voneinander abgrenzt (Christlich-soziale, Deutschnationale und Alldeutsche [die bei Kraus zuweilen gleichgesetzt werden, z. B. in den Cheruskern von Krems und bei der Einführung des Namens Kasmader], später Legitimisten, Heimwehr und Nationalsozialisten).46 Ähnliche Probleme sind für den Begriff des „Troglodyten“ feststellbar, der nach Krolops Darstellung als Sammelbegriff für alle „Bodenständigen“, „Kasmader“ und „Hakenkreuzler“ fungierte, teilweise aber auch speziell die Letzteren bezeichnen sollte. Der Name Kasmader evoziert die Vorstellung eines in degoutanter Weise Veralteten, eines Fäulnisprozesses mit fatalen Emanationen. Kulturgeschichtlich wird er in der Fackel als Ana-

44 Weltgericht II, S. 256 45 Kurt Krolop  : Vom ‚Kasmader‘ zum ‚Troglodyten‘. Konfigurationswandlungen des ‚Bodenständigen‘ in der Satire der ‚Fackel‘, in  : Reflexionen der Fackel, Wien 1994, S. 91–103 46 So auch Timms, der im zweiten Band seiner Kraus-Biographie dessen Sensibilität gegenüber der faschistischen Gefahr ausführlich würdigt (Edward Timms  : Karl Kraus. Apocalyptic Satirist, vol. 2, p. 8).

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chronismus charakterisiert  : Kasmaders Sprache ist – dem Heft Innsbruck und Anderes zufolge – noch nicht einmal pressetauglich wie die liberale, gedruckt wirkt sie peinlich und bizarr, ohne dass die Problematik der Gleichzeitigkeit des Zeitungsgojs „mit Luftschiff, Telephon, Gelbkreuzgranaten und anderen Verkehrsmitteln“ ihm selbst bewusst werde.47 Sein Urlaut ist das triumphierende rrtsch – obidraht  !  : „Ekelwort von Schadenfreude und Siegerhohn, ein Geräusch, in dem ein Genickfang und ein Humor knacken, kurzum die Handschrift des lachenden Henkers, die phonetische Nachbildung der Ansichtskarte des Battisti, das zum Sprechen ähnliche österreichische Antlitz.“ 48 Kasmader überdauert den Krieg und die Monarchie  ; er dominiert auch die Republik, der er feindlich gegenübersteht. So vielfältigen Erscheinungen wie Amtsbescheiden, Zuschriften, Reichspostartikeln und antisemitischen Störaktionen entnimmt Kraus die Botschaft, „daß Kasmader nicht besiegt sei oder wenn schon, so mit Unrecht, und daß die Welt sich doch einmal diesem Kulturideal beugen werde“.49 Im Kontext der zuletzt zitierten Worte empfiehlt der Autor der Fackel dem (von ihm grundsätzlich begrüßten) Völkerbund50, der seiner Ansicht nach ökonomisch zu streng und politisch zu nachsichtig mit Österreich verfuhr, die Lektüre der größten christlich-sozialen Tageszeitung zum Beleg für das fortwährende politische und soziokulturelle Gefahrenpotential, das von diesem Land (noch mehr freilich von Deutschland) ausging  : „Wäre dem Völkerbund eine einzige Nummer der Reichspost vorgelegen, vorausgesetzt daß es überhaupt möglich ist, diesen Tief- und Rückstand einer Zivilisation in die Idiome der Welt zu übersetzen, so hätte sie die Wahrnehmung gemacht, daß sich hieramts, hierorts nicht nur nichts verändert, nichts gewandelt, nichts umgeschwungen hat, daß hier nicht nur jene ‚Stabilität‘ herrscht, auf die es dem Völkerbund am allerwenigsten ankommt, sondern daß hier bei vollkommener Untätigkeit der Drang am Werke ist, daß 47 F 531, S. 58 48 L.c., S. 59. Vgl. die folgende Deutung in einer späteren Fackel  : „[…] in allen Belangen christlichgermanischen Denkens, triumphiert der Urlaut ‚Rrtsch–obidraht  !‘, und es dürfte ganz gewiß kein anderes Land geben, wo Roheitsdelikte ein so ergiebiges Motiv der Volkspoesie sind. Doch auch kein anderes, wo der tägliche Umgang fast ausschließlich von der einen Redewendung bestritten scheint, mit der auf dem Gebiete der Nächstenliebe just das Unmögliche verlangt wird.“ [Die Fackel  : Nr. 640–648, 01.1924, 25. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 26608 (vgl. Fackel Nr. 640–648, S. 129–130)] 49 [Die Fackel  : Nr. 557–560, 01.1921, 22. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 24258 (vgl. Fackel Nr. 557–560, S. 64)] 50 Siehe dazu E. Timms, Apocalyptic Satirist, vol. 2, p.41–45

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sich nichts verändere  ; daß hier außer den Gesetzen der Schwerkraft und etwa noch der Trägheit kein einziges und gewiß nicht das der Kausalität respektiert wird  ; daß die Republik im Namen Seiner Majestät des Kaisers Justiz übt, den Hochverrat an ihr nicht als Straftat, sondern als Milderungsgrund betrachtet, sich selbst für die Folgen des kaiserlichen Verbrechens verantwortlich macht und dafür vom Kaiser gestraft sein möchte.“51 Dass Kasmader als Beamter, der „Wurstigkeit“ mit „Grobheit“ verbindet, Vorladungen verschickt, die im Jahr 1921 noch immer mit der „Vorführung durch die k.k. Sicherheitswache“ drohen,52 gehört noch zu seinen harmloseren Kundgebungen. Dennoch liest Kraus ihnen nicht nur die rückwärtsgewandte Sehnsucht nach der streng hierarchischen Ordnung der Monarchie, sondern auch die zukunftsschwangere Sehnsucht nach der Identität von Ordnung und Exzess ab  : Die Kasmader im Amt wünschen sich, „einmal im Leben beim ‚Reigen‘ zu demonstrieren, weil sie dadurch auch einer Aufführung beiwohnen könnten, und wenn sie schon nicht einen Pogrom als Amtshandlung auffassen mögen, so liegt es ihnen doch einigermaßen, eine Amtshandlung als Pogrom durchzuführen.“53 Die Konventionelleren unter ihnen belassen es, psychologisch gesprochen, bei der autoritären Aggression im Rahmen ihrer Befugnisse, die Destruktiveren und mehr Machtbesessenen erproben das Pogrom im Kleinen  : Einstweilen werfen sie im Theater ihre Stinkbomben gegen Schnitzler und Kraus, bis ihnen das Hantieren mit giftigen Gasen wieder im größeren Maßstab gestattet sein wird (wieder, wie im Ersten Weltkrieg, und zusätzlich – wie sich ergänzen lässt – in ganz neuer Weise).54 Mit Morddrohungen von monarchistischer und nazistischer Seite sollte Kraus überdies zu Unterlassungen gezwungen werden. Als es ihm gelang, einen Inkulpanten vor Gericht zu bringen, dessen zunächst mündliche Drohungen in einem der „monarchistischen Hanswurst- und Kasmaderblätter“ bekräftigt worden waren, feierte er es in der Fackel als Ein Ereignis, dass „im Namen der Republik ein Monarchist oder was sich so nennt nicht freigesprochen, sondern verurteilt wurde  ; zu zwei Monaten Kerkers, wegen einer nach jahrelanger Belästigung erfolgten gefährlichen Bedrohung meiner

51 [Die Fackel  : Nr. 557–560, 01.1921, 22. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 24266f. (vgl. Fackel Nr. 557–560, S. 70–71)] 52 F 583, S. 60. In diesem Kontext findet sich auch ein selbstreferenzieller Bezug auf das ‚österreichische Antlitz‘ in Szene IV,3 der Letzten Tage der Menschheit (F 583, S. 59). 53 [Die Fackel  : Nr. 583–587, 12.1921, 23. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 24873 (vgl. Fackel Nr. 583–587, S. 62)] 54 F 679, S. 35  ; vgl. zur Störung von Schnitzlers Reigen F 561, S. 72, und F 595, S. 21.

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Person.“55 Der Grundton heiterer Gelassenheit, in dem Kraus den Fall darstellt, sollte offenbar zweierlei bewirken  : auf der bewussten Ebene die Einsicht potenzieller Nachahmer, dass solche Einschüchterungsversuche ohne jeden Erfolg bleiben würden, auf der unbewussten Ebene die Verhinderung eines Lustgewinns durch Omnipotenzgefühle. Die Anklage einer Justiz, der man ein solches Urteil als außergewöhnliche Großtat verbuchen musste, wird in der Fackel jedenfalls, bei allem satirischen Witz, ernster und nachdrücklicher vorgebracht. Tatsächlich wurde der Justizminister in der Ersten Republik seit 1922 fast kontinuierlich von der Großdeutschen Volkspartei gestellt,56 die zum Spektrum rechts von den Christlich-sozialen gehörte und den Anschluss an Deutschland befürwortete, und gerade unter Richtern, Staatsanwälten und anderen Justizbeamten war das gesamte rechte Spektrum traditionell überproportional vertreten. Ebenso wie in Deutschland hatte die zu Beginn sozialdemokratische, dann konstant christlich-soziale Regierung es unterlassen, die Loyalität ihrer Beamten zur neugegründeten Republik sicherzustellen.57 Auf diese Weise kam es zu einer Rechtsprechung, die die Feinde der Republik, genauer  : der Demokratisierung, begünstigte. Die notorischen Freisprüche oder skandalös milden Urteile für rechte Delinquenten (berühmt ist z. B. der Fall Bettauer) und die offene Bekundung republikfeindlicher Überzeugungen durch die Justizbeamten selbst veranlassen Kraus, in einer Zeitstrophe zu seufzen  : „Mit der Justiz der Republik / is’s ein recht’s Hakenkreuz. 58 Kurz darauf wird er in Anspielung auf die Beschwörung des heimischen Rechtsempfindens durch das geflügelte Wort, es gebe noch Richter in Österreich, betiteln  : Von denen, die es in Österreich noch gibt, unter diesem Titel aber an einem Einzelfall zeigen, wie dreist eben diejenigen, die dazu berufen sind, Recht und Republik zu schützen, diese Aufgabe unterlaufen. Dabei wird auch die Stellung der bür55 [Die Fackel  : Nr. 668–675, 12.1924, 26. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 27400 (vgl. Fackel Nr. 668–675, S. 104)] 56 Es gab drei kurze Unterbrechungen  : Abgesehen von den zwei Tagen, in denen Ignaz Seipel dieses Amt kommissarisch wahrnahm, amtierte vom 30.9.1930 bis zum 4.12.1930 ein Heimwehr-Justizminister, und vom 30.5.1931 bis zum 20.6.1931 übernahm es Schober. – Kraus spricht deshalb in F 640, S. 36 von der „Ära eines hakenkreuzlerischen Justizministers“. 57 Dies Versäumnis wirft Kraus in einem Essay mit dem selbstreferenziellen Titel Sittlichkeit und Kriminalität (F 640, S. 34–38), der zentrale Defizite der Justiz im sozialen, sprachlichen und sexuellen Bereich benennt, rückblickend der sozialistischen Politik zu Beginn der Ersten Republik vor (S. 37f.). 58 F 640, S. 112, vgl. auch  : Karl Kraus  : Theater der Dichtung. Nestroy. Zeitstrophen. Frankfurt/Main 1992 (= Schriften, Bd.14), S. 248  : „Wunder gibt’s keine mehr […]“.

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gerlichen Öffentlichkeit zu diesem Problem angesprochen, die er mit den ­beiden Phrasen „Nur nicht generalisieren“ (nämlich den Fall eines staatsfeindlichen Richters) und „Gar nicht ignorieren“ (nämlich die von der Arbeiterbewegung erhobene Forderung nach Disziplinarverfahren) charakterisiert.59 Neben dieser Begünstigung der politischen Rechten beobachtet Kraus einen Autoritätsmissbrauch auch im richterlichen Umgangston und hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Urteile. In der Glosse Einer von denen, die es in Österreich noch gibt manifestiert sich mit der Hoffnung, die von der Demokratisierung ausging, zugleich die bittere Enttäuschung über Kontinuitäten bei Gericht  : „Wenn man jahraus jahrein die Verbrechen dieser Justiz an Angeklagten miterlebt […]  ; wenn man sich insbesondere diese fortgesetzten, durch keinen moralischen Protest abzustellenden Roheitsdelikte gegen wehrlose Zeugen und Zeuginnen vergegenwärtigt, diesen trivialen Hohn einer geistigen Dürftigkeit, die sich nun völlig gehen läßt, ehe sie im Namen der Republik ihr, mit Erlaubnis zu sagen, Urteil in den Kaiserbart brummt – dann fragt man sich, was eine Zeitgenossenschaft wert ist, die ihre tiefe Respektlosigkeit vor geistigen Gütern mit der unabänderlichen Hochachtung vor solcher Autorität verbindet, und was ein politischer Umsturz taugt, der dem gröbsten Unfug der alten Staatsmacht kein Ende gesetzt und dem Kaiserbart dieser Justiz kein Haar gekrümmt hat. Dazu mußten Millionen sterben, daß die Herrschaften wie eh und je das Theater aus dem Gerichtssaal machen, welches er, wenn das Auditorium zu lachen anfängt, auf einen Wink mit dem Rohrstaberl nicht mehr sein darf und das er ja in der Tat nicht ist, weil selbst das Theater im Wandel der Zeiten nicht so auf den Hund kam. Verändert hat sich da nichts, verschlechtert alles. Und die Hoffnung, daß diese Justitia, wenn mundus schon pereat, aus ihrer Binde Charpie zupfen werde, ist schmählich getäuscht worden.“60 Bei aller satirischen Übertreibung, die dem Kulturkritiker stets das zuletzt Erlebte als das Schlimmste erscheinen lässt, zeugt die Bitterkeit solcher Worte nicht zuletzt davon, dass in der Demokratie der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit größer ist als in einem Staat, der unzweifelhaft den Charakter eines Obrigkeitsstaats besitzt. Die Gesellschaft sieht sich aufgerufen zu überdenken, nach welchen Kriterien sie ihren Respekt verleiht  : ob dafür intellektuelle Qualitäten entscheidend sind oder Machtpositionen sowie deren Ausnutzung für autoritäres Verhalten und autoritären Sprachgebrauch. 59 F 657, S. 210, vgl. zum Problem der Nazi-Juristen F 613, S. 12f.; F 622, S. 39  ; F 640, S. 109 60 [Die Fackel  : Nr. 668–675, 12.1924, 26. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 27259f. (vgl. Fackel Nr. 668–675, S. 12)]

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Schober und der 15. Juli 1927 Als die sozialen, politischen und institutionellen Widersprüche 1927 eskalierten, war Kraus über das Vorgehen der Polizei am 15. Juli im Zentrum von Wien und über die Treueerklärungen der bürgerlichen Presse für die Verantwortlichen so erschüttert, dass er wie am Beginn des Weltkriegs zuerst in Schweigen verfiel, dann aber bis Juni 1928 alle Fackelhefte dem Kampf gegen den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober widmete. Seine literarische Darstellung dieser Angelegenheit erfährt an dieser Stelle eine detaillierte Betrachtung, weil sie zentrale Elemente des potentiell faschistischen Subjekts kenntlich macht. Am 14. Juli sprach ein Geschwornengericht am Wiener Landesgericht drei Mitglieder der paramilitärischen „Frontkämpfervereinigung“, die im Januar 1927 einen Kriegsinvaliden und ein Kind erschossen und mehrere sozialdemokratische Demonstranten verletzt hatten, vom Vorwurf der „öffentlichen Gewalttätigkeit“ frei, was in der Arbeiterschaft eine Empörung auslöste, die sich am Tag nach dem Freispruch in Streiks und Demonstrationen entlud. Nachdem die Polizei durch Reiterattacken und erste Schüsse die Wut der Demonstranten noch geschürt hatte, stürmten sie den Justizpalast und setzten ihn schließlich in Brand, außerdem wurden Redaktionsräume konservativer Zeitungen, darunter der Reichspost, die im Leitartikel desselben Tages den Freispruch in aggressiver Weise bejubelte, verwüstet. Daraufhin ließ Schober „mehrere hundert Wachleute mit Karabinern und mit einer für Schießübungen des Bundesheeres verwendeten Munition bewaffnen“, so Merkel, „die bei Treffern an Menschen die verheerenden Wirkungen von Dum-Dum-Geschossen hervorrief, und gab einen bedingungslosen Schießbefehl“.61 Die zu einem beträchtlichen Teil aus der Provinz stammenden (deshalb als „Mistelbacher“ verspotteten) Polizisten verfielen nun offenbar in einen Blutrausch, denn sie beschränkten sich nicht darauf, die Demonstration aufzulösen und staatliche Institutionen zu verteidigen, sondern misshandelten und erschossen wahllos fliehende Demonstranten, Passanten, Schaulustige, darunter sogar kleine Kinder, alte Menschen und Sanitäter. Angesichts von 89 Toten und weit über 1.000 Verletzten sind die häufigen Bezeichnungen „Blutbad“ und „Massaker“ für dieses Vorgehen wohl als gerechtfertigt anzusehen. Dem 90. Todesopfer, einem Jugendlichen, der am 26.12.1927 an den qualvollen Folgeschäden seiner Schussverletzungen starb,62 widmete Kraus in Das Ereignis 61 Merkel, Strafrecht und Satire, S. 516 62 F 778, S. 5

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des Schweigens63 besondere Aufmerksamkeit – nicht zuletzt deshalb, weil es in der bürgerlichen Presse verschwiegen wurde (auch in historischen Darstellungen wird dieser eigentlich symbolträchtige Fall fast immer übergangen). Verschwiegen mit einer Ausnahme  : die Reichspost widmete sich dem Fall in einer Weise, der als Musterbeispiel für den von Kraus so genannten „Tonfallschwindel“ in die Rezeption der Fackel einging64  : durch die pedantisch vorgenommene Korrektur irrelevanter Detailangaben setzte sich das konservative Blatt über alles hinweg, was an diesem Fall erschütternd und für die Eskalation polizeilicher Gewalt signifikant war. Diese Methode der Irreführung ist bis heute, insbesondere im öffentlichen Diskurs über die Verbrechen des Nazismus und in der revisionistischen Geschichtswissenschaft, beliebt. Das Heft Der Hort der Republik 65 erinnert – explizit und implizit – an die Kriegsfackel und an die Letzten Tage der Menschheit. Die strukturellen Übereinstimmungen sind durch ein bürgerkriegsartiges Geschehen motiviert, das trotz seiner temporären und lokalen Begrenztheit einige Aspekte mit dem Kriegsgeschehen gemein hat (Gewalteskalation, Zynismus, Fantasiearmut, Unverantwortlichkeit). In der Zitatmontage der ersten Hälfte des Hefts enthält sich Kraus jeden Kommentars und konfrontiert stattdessen Augenzeugenberichte, die die Schlächterei im Detail beschreiben, mit Dankadressen der Regierung an Schober und mit Auszügen aus Zeitungsartikeln, in denen die Polizeidirektion nicht nur nicht verurteilt, sondern geradezu enthusiastisch gefeiert wird. Die Leserinnen und Leser haben so erst einmal die Möglichkeit, sich anhand des durch den Autor erkenntnisfördernd eingerichteten Materials selbst ein Urteil über eine Regierung zu bilden, die den Verantwortlichen für das Gemetzel lobend als den „festeste[n] Hort der staatlichen Ordnung“66 bezeichnet, über eine (ex-)‚liberale‘ Presse, die sich die Frage, was das Vorgehen der Wachleute denn „mit der Bourgeoisie und ihrer Gesinnung zu tun“ habe, gleich selbst dahingehend beantwortet  : das Eigentum und seine Sicherung, das sei ihre Ordnung, und „gegen jeden Versuch, sie uns zu rauben, wollen wir uns wehren, bis aufs Äußerste, wenn’s sein muß, auch bis zur Bestialität“67  ; über eine konservative Presse, die sich für ihre Unter-

63 F 777, vgl. F 778, S. 3–7 64 Exemplarisch  : Georg Knepler  : Karl Kraus liest Offenbach. Berlin, 1984, S. 129. 65 F 766 66 F 766, S. 1 67 F 766, S. 8  ; die Frage stellt die Neue Freie Presse, beantwortet wird sie im Neuen Wiener Journal  ; die Montage stammt von Karl Kraus. Zum Wort Bestialität vgl. ibid., S. 6.

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stützung der Polizei und der Rechtsradikalen von letzteren feiern lässt,68 und schließlich über ein Bürgertum, das die publizistischen Einlassungen durch Geldspenden bekräftigt69 und sich ansonsten in seinem privilegierten Leben nicht stören lässt. Was damit dokumentiert wird, ist eine Faschisierung von Staat und Gesellschaft, fünf Jahre bevor der Abbau demokratischer Rechte durch das autoritäre Dollfuß-Regime begann und über zehn Jahre vor dem Anschluss an Nazi-Deutschland. Das Schweigen des Autors auf diesen 48 Seiten ist mithin ein beredtes Schweigen  : die durch den Sperrdruck unterstützte motivische Verknüpfung der Zitatmontage verweist auf Kontraste und Zusammenhänge, die zum Teil später explizit kommentiert werden, und die detaillierte Darstellung der Gewalttaten signalisiert Erschütterung und Parteinahme für die Opfer. Um, wie es seiner Intention entspricht, „für die geschändete Kreatur“ einzutreten,70 kann Kraus gar nicht anders, als seiner Sprachkunst hier wie in vielen anderen Texten einen sozialkritischen Gehalt einzuverleiben. Wer eine solche Polemik als unpolitisch und moralisierend einstuft, wie Alfred Pfabigan es tut, reduziert den Begriff der Politik auf Parteipolitik und den der Kulturkritik auf Moral.71 Schon die sprachsatirische Invektive, die jenen in der Zitatmontage indirekt angeklagten Instanzen „das povere Hirn der Vorschriftsmäßigkeit, die sanierte Dreckseele, das Fibelchristentum“72 zuschreibt, ist nicht bloß Ausdruck einer moralischen Empörung, sondern trifft die so Attribuierten recht präzise  : die mit Gefühlsund Gedankenarmut verbundene Legitimation staatlichen Unrechts durch „Vorschriften“, den Bundeskanzler und Prälaten Ignaz Seipel, der in einer moralischen Verurteilung des inzwischen ermordeten Hugo Bettauer das Schlagwort von der „Sanierung der Seelen“ geprägt hatte, und die Maske der pflichterfüllenden Bravheit, mit der Johann Schober stets an die Öffent68 F 766, S. 28 69 Exemplarisch  : F 766, S. 23. 70 F 766, S. 51 71 Alfred Pfabigan  : Karl Kraus und der Sozialismus, Wien 1976, S. 290, S. 292 72 F 766, S. 49. Eine starre philologische Trennung von Satire und Polemik, wie Stefan Straub sie vertritt, verstellt den Blick auf die satirischen Elemente (nicht nur) dieses Textes und damit auf seine weit über die Kritik an Schober hinausreichenden sozialpsychologischen und kulturkritischen Dimensionen (Stefan Straub  : Der Polemiker Karl Kraus. Drei Fallstudien. Marburg 2004). Dagegen ist mit Arntzen davon auszugehen, dass Polemik und Satire bei Kraus „nicht zu trennen“ sind (Helmut Arntzen  : Die Funktion der Polemik bei Karl Kraus, in  : Karl Kraus in neuer Sicht, S. 46–75, Zitat S. 48), weshalb sich in der Kraus-Forschung mit Recht die Begriffe der satirischen Polemik und polemischen Satire etabliert haben.

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lichkeit zu treten pflegte. Nicht als parteipolitisch, aber als politisch Partei ergreifend, ist auch der auf die Benennung der Ereignisse folgende Satz zu verstehen  : „Das ist geschehen, wir haben es erlebt, und wir fliehen nicht zu den Wölfen vor einer Mitbürgerschaft, der das Herz in der Tasche sitzt und die sich mit Diebsfingern die Ohren zuhält vor jedem Menschenton der Klage und Anklage, um tagtäglich die Litanei der Ordnung zu plärren  ; vor diesem schmählichen Blutbündnis berufsmäßiger Gottesdiener mit den Idealisten des Besitzes, denen das Leben des Nächsten nichts gilt, wenn es gilt, den Raub am Nächsten zu schützen.“73 Während die naturwüchsige menschliche Herrschaft in ihrer „Bestialität“74 der wölfischen angeglichen bleibt, lässt sich den Tieren wenigstens nicht nachsagen, sie würden ihr Verhalten moralisch und religiös überhöhen. Die Textstelle verweist auf die ökonomischen Konflikte, die den politischen Ereignissen zugrunde liegen, ohne dass Kraus sich dafür verantwortlich fühlen würde, jene gesellschaftlichen Antagonismen zu analysieren. Seine Darstellung trifft zuallererst die Verbindung des Archaischen mit der aktuellen Gestalt politischer Herrschaft, den Mangel an Scham über „das kannibalische Wohlsein einer staatlichen Autorität und ­e iner bürgerlichen Publizität, deren einzige Sorge damals die Beeinträchtigung des Fremdenverkehrs war“,75 und die Zweifelhaftigkeit einer Demokratie, die „nicht nur Stimme, sondern auch Sitz, und so breiten, dem Neandertalertum einräumte und Kräfte, die sonst nur für eine Kirchweih mobilisiert werden, zum Scheibenschießen auf Stadtleute entfesselt hat“.76 Obwohl die letzte Bemerkung im Kontext eines Vergleichs mit der k.k. Monarchie steht, der (durchaus in Übereinstimmung mit entsprechenden Überlegungen des sozialistischen Publizisten Friedrich Austerlitz) für diese günstiger ausfällt,77 wird daraus keineswegs der Schluss gezogen, eine Restitution der Monarchie sei der unzulänglichen Demokratie vorzuziehen. Vielmehr leide die Republik gerade daran, dass in ihr „jeder Trottel einen […] Monarchen stellt“ 78, 73 [Die Fackel  : Nr. 766–770, 10.1927, 29. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30314 (vgl. Fackel Nr. 766–770, S. 49–50)] 74 Kraus verwendet das zitierte Wort auf S. 53 75 F 766, S. 52. Kraus versäumt in diesem Zusammenhang nicht, zu erklären, dass das (von ihm schon immer verspottete) „Wiener Blut erst wieder präsentabel, fibelreif und operettenfähig sein wird, wenn der Einfall, es auf der Ringstraße fließen zulassen, gesühnt ist“ (F 766, S. 53  ; zum „Wiener Blut“ als Spezialität vgl. F 531, S. 21 und F 632, S. 166). 76 F 766, S. 65 77 F 766, S. 64f. 78 F 766, S. 66

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das „Gehorchen als die eigentlichste Pflicht des Republikaners empfohlen“ wird79 und die „Sehnsucht nach dem angestammten Herrscherhaus“ republikanische Freiheit nutzt, um „sich kulturell bemerkbar zu machen.“80 Der verinnerlichten autoritären Herrschaft entspricht eine intellektuelle Unfähigkeit zur Bewältigung der Konflikte in der modernen Gesellschaft  ; insgesamt ein Syndrom, dessen antizivilisatorisches Potential hier antizipiert wird  : „Die Tragikomödie dieser freiheitlichen Entwicklung ist der Aufstieg einer Menschenart, deren geistige Nahrung die Lesefrucht der zweiten Bürgerschulklasse bildet, deren Horizont von der Kaiserlithographie dieser Örtlichkeit begrenzt wird und deren Instinkte gegen eine komplizierte Umwelt Mühe haben, sich hinter der Fassade des Biedersinns zu verbergen, um eines Tags mit den tödlichen Mitteln der Zivilisation gegen sie selbst vorzugehen.“81 Solange Zivilisation an Herrschaft gekoppelt bleibt, muss, der Dialektik der Aufklärung zufolge, das Missverhältnis von avancierter Zerstörungstechnik und unterentwickelter psychologischer Verinnerlichung von Zivilisation und Aufklärung reproduziert werden  ; ein Missverhältnis, das in Krisenzeiten stets sich dergestalt verschärft, dass es die Sistierung zivilisatorischer Errungenschaften (demokratischer Grundrechte und einer entsprechenden Eingrenzung des staatlichen Gewaltmonopols) begünstigt. Politische Subjekte vom Typus Kasmader, die übereifrig jeden staatlichen Übergriff mit Fibelsprüchen und mit autoritären Phrasen gegen „subversive Elemente“ beschönigen, sympathisieren in der Regel mit den jeweils Mächtigsten und werden deshalb im Ernstfall umso weniger bereit sein, Demokratie und Zivilisation gegen eine faschistische Machtübernahme zu verteidigen. Der Umschlag eines – in der beständigen publizistischen Attribuierung als brav beglaubigten – Konventionalismus in den blutrünstigen Exzess wird im vierten Akt von Karl Kraus’ Theaterstück Die Unüberwindlichen (U 1929) sinnfällig gemacht.82 Wie in den Letzten Tagen der Menschheit gelingt es dem 79 F 766, S. 68  ; vgl. S.  15. 80 F 766, S. 65 81 [Die Fackel  : Nr. 766–770, 10.1927, 29. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30336 (vgl. Fackel Nr. 766–770, S. 65)] 82 Karl Kraus  : Die Unüberwindlichen, in  : Dramen (= Schriften, Bd.11), 221–346. Die Begeisterung Bertolt Brechts für dieses Stück thematisiert – nicht ohne einen Hinweis auf die Ähnlichkeit der Figurenkonstellation mit Brechts Dreigroschenoper – Friedrich Rothe (F.R.: Karl Kraus. München 2003, S. 34). Da hier auf allgemeine Angaben zum Stück verzichtet wird, sei auf den folgenden Aufsatz verwiesen, der vor allem die moderne Dramaturgie betont und überdies einen Überblick über die ältere Forschungsliteratur und über den Inhalt der vier Akte gibt  : Donald G.

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Satiriker auch in diesem Stück, die zitierten Wirklichkeitsfragmente als von ihm erfundene Übertreibungen erscheinen zu lassen. Das gilt schon für die Eingangssequenz des vierten Aktes (der Akt ist ebenso wenig wie die anderen Akte in Szenen unterteilt), der eine Weihnachtsfeier im Wiener Polizeipräsidium darstellt. Am Anfang dieser Sequenz steht die Generalprobe des Gesangsvereins der Sicherheitswachebeamten für den „Wacker-Marsch“. Mit dem Namen Wacker wird der Sprachgebrauch der politischen Rechten zitiert, in dem dieses Prädikat offenbar besonders beliebt war (darauf deuten in der Fackel zitierte Referenztexte hin, aber auch Die letzten Tage der Menschheit, dort insbesondere III,11). Während die Figur des Polizeipräsidenten Wacker in Schober ihr empirisches Vorbild hat, gibt Kraus an dieser Stelle den bereits in Der Hort der Republik zitierten, aus Kasmader-Kreisen „an die Redaktion der Zeitung Die Fackel“83 geschickten „Seipel-Marsch“ wörtlich wieder, indem er nur die Namen entsprechend ändert.84 Der inhaltsleere Text – mit dem an die alte Kaiserhymne gemahnenden Refrain „Gott erhalt’ ihn lang uns noch, / Unser Wacker [bzw. Seipel] lebe hoch  !“ – ließe sich freilich auf jeden in autoritärer Unterwürfigkeit verehrten Politiker oder Funktionär anwenden, da er nichts anderes ausdrückt als eben diese Unterwürfigkeit. Nach dem Abgang des Chors tritt Wacker auf und singt nach einem selbstzufriedenen Monolog, der in dem tautologischen Satz seinen Höhepunkt erreicht  : „Ich kann wahrlich von mir sagen, dass ich mein ganzes Leben lang nichts als meine Pflicht getan habe, weil dies und nichts anderes meine Pflicht ist“,85 das berühmte Schober-Lied, in dem jeder zweite Vers mit Schobers Lieblingswort Pflicht endet, auf das alle anderen sich reimen. Der bürokratische Eifer des – nach Adornos Typologie – manipulativen Typus, der Akte und Menschen gleichermaßen kaltblütig erledigt, findet in der Sprachsatire seinen präzisen Ausdruck. In der folgenden ersten Strophe führt Kraus die Phrasen von der Pflichterfüllung durch den Nachweis ad absurdum, wie die Sprache der Pflichterfüller eine vernünftige Reflexion der Zwecke der durchgeführten Maßnahmen verhindert, sodass „Pflichterfüllung“ kein Synonym, sondern ein Antonym zu wahrem Verantwortungsbewusstsein darstellt  :

Daviau  : Karl Kraus’s Die Unüberwindlichen  : Polemic or Literature  ?, in  : Maske und Kothurn, 47. Jg., 2002, H.1–2, S. 33–44. 83 Zitiert nach F 766, S. 59 84 Vgl. Die Unüberwindlichen, S. 305, und F 766, S. 59 85 Die Unüberwindlichen, S. 306

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Ja das ist meine Pflicht, bitte sehn S’ denn das nicht. Das wär’ so a G’schicht, tät’ ich nicht meine Pflicht. Auf die Ordnung erpicht, bin ich treu meiner Pflicht. Wenn ein Umsturz in Sicht, ich erfüll’ meine Pflicht. Die Elemente vernicht’ ich bezüglich der Pflicht. Doch wenn einer einbricht, hätt’ ich auch eine Pflicht. Nur erwisch’ ich ihn nicht, wie es wär’ meine Pflicht. Da genügt ein Bericht hinsichtlich der Pflicht. Der ist schon ein Gedicht, das nur handelt von Pflicht. Denn stets Wert und Gewicht leg’ ich nur auf die Pflicht.86

Aus heutiger Sicht kommt dem Motiv der Pflicht eine gesteigerte Brisanz zu, weil noch die grausamsten in den Lagern und in der Wehrmacht beschäftigten Nazi-Schergen nach dem Zweiten Weltkrieg sich stets darauf beriefen, „nur“ ihre Pflicht getan zu haben. Dass sie damit vor Gericht Erfolg hatten, indem die herrschende Rechtsprechung sie zwischen „Befehlsnotstand“ und „Verbotsirrtum“ durchschlüpfen ließ, belegt das staatlich institutionalisierte Zivilisations- und Aufklärungsdefizit, das dazu führt, die befehlsmäßige Weisung höher zu achten als Eigenverantwortung und allgemeines Rechtsempfinden. Eine Steigerung ins Extreme erfährt der Aspekt des Automatenhaften, der schon im Schoberlied anklingt, in den Figuren zweier Konzeptsbeamten, die nach dem bürokratischen Sprachgebrauch Hinsichtl und Rücksichtl benannt sind, immer gemeinsam auftreten und gewohnt sind, aufs Stichwort Vorgegebenes zu reproduzieren. Wie Roboter sind sie darauf programmiert, Huldigungssätze wie die folgenden auszugeben, wobei zur Bestimmung des intertextuellen Verfahrens hervorgehoben sei, dass diese Sätze nicht von Kraus 86 L.c., S. 306

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konstruiert, sondern der Presse entnommen und bereits in Der Hort der Republik zitiert wurden  : Hinsichtl  : Zur Herbeiführung wirklich geordneter Zustände hat die Polizei wacker und treu beigetragen. (Rufe  : Hoch Wacker  !) Rücksichtl  : Der Tag, der ein Urteilstag über die Polizei werden sollte, ist ein Ehrentag für sie geworden. (Rufe  : Bravo Wacker  !)87

Die Bearbeitung des Sprachmaterials – Nebensätze wurden in Hauptsätze umgeformt, um Rhythmus und Intonation monotoner zu gestalten – bewirkt zusammen mit dem veränderten Kontext eine Verfremdung, die die Automatisierung der affirmativen Rede verdeutlicht. Aber die satirische Dramaturgie erschöpft sich nicht in Dekontextualisierung und Pointierung, sie beinhaltet darüber hinaus das aus der Fackel bekannte Verfahren der Konfrontation. Die in der Zeitschrift drucktechnisch vermittelte Störung und Verstörung wird nun in die Figuren verlagert  : Kündigt sich schon vor Beginn der Weihnachtsfeier88 an, dass mit den beiden Konzeptsbeamten „etwas nicht zu klappen“ scheint,89 so werden ihre Programmstörungen für den weiteren Verlauf des Akts konstitutiv, indem die sprechenden Automaten nämlich statt der eingetrichterten Phrasen immer länger und heftiger unerwünschte Augenzeugenberichte vom 15. Juli zitieren. So folgen auf die Stichworte „Jagd“, „geschossen“, „Kinder“ und „Stille“ jeweils schockierende Darstellungen aus der Sicht der Opfer, die den Schein der weihnachtlichen Friedfertigkeit zergehen lassen. Da Hinsichtl und Rücksichtl nicht in bewusster Opposition die Feier sabotieren, sondern durch einen fehlerhaften Mechanismus außer Kontrolle geraten, sind sie auch nicht durch beschwichtigende Ermahnungen, sondern nur durch Suggestion wieder umzuprogrammieren, was ausschließlich ihrem Vorgesetzten Wacker gelingt  : Wacker (faßt sich. Mit raschem Entschluß winkt er Veilchen ab und wendet sich zu den Beiden. Er läßt einen langen, eindringlichen und schmerzlichen Blick auf ihnen ruhen. Er spricht)  : Treue um Treue. (Unter dieser Einwirkung augenblicklich verwandelt, nehmen sie wieder die vorschriftsmäßige Haltung an.)

87 L.c., S. 326, vgl. zu den Zitaten F 766, S. 31 und S. 35 88 Zu dieser Konzeption ließ sich Kraus offenbar durch zwei Meldungen im Neuen Wiener Journal inspirieren  : Die eine beschreibt eine Weihnachtsfeier bei der Polizeidirektion, die andere betrifft einen Erpresser (nicht Bekessy, sondern Alexander (Sandor) Weiß  ; F 781, S. 127f.). 89 Die Unüberwindlichen, S. 309

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Hinsichtl und Rücksichtl  : Voll und ganz. (Sie treten an ihre Plätze hinter Wacker. Veilchen überwacht sie.) Wacker  : Sie sind zu sich gekommen. Sie stehen wieder hinter mir.90

Die gespenstische Ausschaltung des Denkens und die Substitution diskursiver Argumente durch Suggestion nehmen im zitierten Dialog dramatische Gestalt an. Gespenstisch ist daran nicht zuletzt, wie im Habitus einer zur Zeit der Republik entstandenen Figur monarchistischer und (prä-)faschistischer Autoritarismus zusammenschießen  : Der lange und eindringliche Blick, unverzichtbares mimisches Instrument faschistischer Propagandisten,91 wird gemildert durch die väterliche Komponente des schmerzlich Enttäuschten. Die Wendung „Treue um Treue“ bestätigt diese Affinität, denn abgesehen davon, dass sie bei konservativen Nationalisten im allgemeinen ebenso beliebt war wie bei faschistischen, findet sie sich als Zitat im Heft Der Hort der Republik in eben jenem Beitrag einer Wehrbund-Gruppe, der die Haltung der ReichspostRedaktion am 15. Juli anpreist.92 Zu dieser radikalen Form von Entmündigung passt es, dass die beiden Beamten später, als Wacker sich seines Einflusses auf sie brüstet und sich in diesem Kontext als ein „Vater“ für sie bezeichnet, wie auf Knopfdruck zu weinen beginnen.93 Wacker selbst wiederum kommen die Tränen zwischen dem Treuegelöbnis, das von einem kleinen Mädchen vorgetragen wird, und dem Wacker-Marsch, dessen Refrain alle Ehrengäste und Beamten mitsingen.94 Dass die Menschen, wie dieser Auftritt zeigt, ihr Leben lang in autoritär-patriarchalischen Verhältnissen befangen bleiben, wäre schon schlimm genug. Doch der heranwachsenden Generation wird von Wacker ausgerechnet ein Polizist als Vorbild empfohlen, der, obwohl wie sie mehrfach als „brav“ tituliert, seine Destruktivität in wenig wünschenswerter Weise aus-

90 [Kraus, Karl  : Dramen. Karl Kraus  : Schriften, S. 7924 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 11, S. 320)] 91 In Elemente des Antisemitismus erläutern Adorno und Horkheimer prägnant, warum der paranoische Blick die beschädigten Subjekte in seinen Bann schlägt  : „Der sprichwörtliche Blick ins Auge bewahrt nicht wie der freie die Individualität. Er fixiert. Er verhält die anderen zur einseitigen Treue, indem er sie in die fensterlosen Monadenwälle ihrer eigenen Person weist. Er weckt nicht das Gewissen, sondern zieht vorweg zur Verantwortung. Der durchdringende und der vorbeisehende Blick, der hypnotische und der nichtachtende, sind vom gleichen Schlage, in beiden wird das Subjekt ausgelöscht. Weil solchen Blicken die Reflexion fehlt, werden die Reflexionslosen davon elektrisiert.“ (Dialektik der Aufklärung, S. 221) 92 F 766, S. 28 93 Die Unüberwindlichen, S. 325 94 L.c., S. 314

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plaudert, nachdem ein „Troglodyt“ und Wacker mit explizitem Bezug auf die Reichspost die von Hinsichtl und Rücksichtl aus der Fackel zitierten Anschuldigungen im Fall Hans Erwin Kieslers, des 90. Todesopfers, zurückgewiesen haben  : Ramatamer  : I – glaub allweil – hup – i war derjenige welcher – hup – i hab einen Verwundeten – hup – niedergschossen – so einen jungen Hebräer (Gelächter) – bei den Votivkirchen – weil er si no grührt hat – i glaub allweil – hup – i war derjenige welcher – überhaupt – wann aner jetzt mi was fragt – bitte – Nationale – Religion  ? – hup – Katholisch  ? Nein, mosaisch, sagt er (Gelächter) – So, a Jud bist aa  ? Bist gwiß aa aner vom 15. Juli  ! – hup – (Gelächter) Und wann er si rührt – in die Watschenmaschine  ! – rrtsch obidraht  ! – hup – No und die Freimadeln in der Kirntnerstraßen – diese Protestierten – beim Trottorseibern – wie s’ da hupfen – eine is einigrennt in a Auto – pumpstinazi – liegt scho da – (Er wird von den beiden Kriminalbeamten gebändigt.) Wacker (lächelnd)  : Ja ja, das ist unser braver Ramatamer, der sich nicht immer der Stimmung anzupassen weiß. Die Schale ist rauh, aber der Kern ist gut. Wir wollen mit ihm deshalb nicht allzu streng ins Gericht gehen, in Anbetracht der unleugbaren Verdienste, welche er sich erworben hat und um deretwillen ich ihn ja der heranwachsenden Generation vorführen wollte.95

In Ramatamers Dialogtext verwendet Kraus diverse Zitate, die bereits in der Fackel (Mein Abenteuer mit Schober 96) erschienen waren, und stellt sie zu einer konzisen Charakteristik zusammen, die kaum rationalisierte Gewalttätigkeit mit Antisemitismus und Sexualhass verbindet. In eine etwas weniger delirante Sprache fasst der Vertreter der „Dötz“, des in Wien erscheinenden Nazi-Blattes mit dem Titel Deutschösterreichische Tageszeitung, die gleiche Haltung, ohne dass Wacker daran Anstoß nehmen würde.97 Auf diese Weise macht der ganze vierte Akt die politische Bedrohung sinnfällig, die von einem Bündnis des Konservatismus mit den Rechtsradikalen ausgeht, besonders wenn sie, wie es nicht nur im Stück geschieht, finanzkräftige Unterstützung durch Großunternehmer finden. Am Ende des Stücks siegt aber vorerst noch die Macht des erpresserischen Journalisten Barkassy (eine Anspielung auf Imre Bekessy) über den antisemitischen Trennstrich, denn der – in diesem Fall un95 [Kraus, Karl  : Dramen. Karl Kraus  : Schriften, S. 7949 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 11, S. 335–336)] 96 F 771 97 L.c., S. 324f., vgl. zur Quelle F 668, S. 149–152

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garisch-jüdische – Erpresser gehört ebenso zu Wien wie die „Troglodyten“. Erst nach der „Machtergreifung“ 1933 wird Karl Kraus es erleben, dass die „Troglodyten“-Herrschaft (zunächst in Deutschland) Erpressung zum politischen Prinzip erhebt und damit alles vergleichsweise harmlos erscheinen lässt, was journalistische und andere nichtstaatliche Rackets je auf diesem Gebiet unternommen haben.98 Neben der Polizei rückt in dieser Angelegenheit auch die Justiz ins Blickfeld der Fackel. Der Freispruch der Schattendorfer Todesschützen durch ein Geschwornengericht bestätigte Kraus in seiner Ablehnung dieser – nach sozialdemokratischem Verständnis – „freiheitlichen“ Institution.99 Tatsächlich war es in diesem Fall der Staatsanwalt, der für eine Verurteilung plädierte, während die Geschwornen nicht einmal das Delikt der Notwehrüberschreitung als gegeben ansahen. Andererseits war bereits die Anklage auf „öffentliche Gewalttätigkeit“ statt auf Totschlag ein Zugeständnis der Berufsjuristen an die Angeklagten, denn nach allgemeinem Rechtsverständnis nehmen Menschen, selbst wenn sie nur ziellos in eine Menschenmenge hineinschießen, den Tod anderer doch wohl billigend in Kauf.100 Einwenden ließe sich darüber hinaus, dass in Österreich und in Deutschland rechtsradikale Täter häufig auch von Berufsrichtern begünstigt wurden, was Kraus in der Fackel ja durchaus verurteilte. Seine (vermutlich zutreffende) Einschätzung ging aber dahin, dass die Judikatur durch Berufsrichter als objektivierbare und durch klare Kriterien rationalisierbare einer Annäherung des Rechts an die Gerechtigkeit erheblich größere Chancen bot als die von partikularen Interessen und Meinungen geprägte „Stimmungsjustiz“ der Geschwornen.101 Nicht nur das Urteil, das die Revolte ausgelöst hatte, sondern auch die Rechtsprechung über den 15. Juli beschäftigten indessen die Fackel. Während die Arbeiterbewegung in Anbetracht zahlreicher Anklagen auf sehr wackliger Grundlage (durch Misshandlungen erpresster Geständnisse, fahrlässiger Verwechslungen, unzureichend begründeter Behauptungen) eine Amnestie für die Bevölkerung forderte, wurde die Polizei faktisch von vorneherein stillschweigend amnestiert  : Es kam trotz aller belastenden Zeugenaussagen (selbst von Politikern und Beamten) zu keiner einzigen Verurteilung eines Polizisten. Der rechtsstaatliche Schein wurde nur   98 Dritte Walpurgisnacht, S. 296  ; F 917, S. 112. Vgl. zum Verhältnis von Nazismus und Gangstertum  : Irina Djassemy, „Productivgehalt“, S. 379f.   99 F 766, S. 65  ; F 771 100 Ähnlich Merkel, Strafrecht und Satire, S. 513 101 F 766, S. 65

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durch ein Weißbuch gewahrt, das die angeblich exkulpierenden Ergebnisse der Überprüfung des polizeilichen Vorgehens präsentierte und sie von jeglicher Schuld reinwaschen sollte. Angesichts einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die dieses Weißbuch befriedigt als Entlastungsschrift akzeptierte und die Verantwortlichen – Bundeskanzler Seipel, Vizekanzler Hartleb und Polizeipräsident Schober – weiterhin ungebrochen anerkannte, beklagt Kraus, seine Landsleute seien „mit dem Begriff einer ‚Autorität‘ verbuhlt, die, zu schwach, um das Recht zu schützen, als die Autorität der Gewalt doch klaglos funktioniert  ; und gern steuert ihr diese Gesellschaft den Zehent von einem Besitz, den sie als den letzten Wertbestand aus einer Kriegswelt gerettet sieht und für dessen Erhaltung ihr kein Preis fremden Blutes zu hoch dünkt. Wo immer auf der bewohnten Erde die Menschenbestie sich um die Beute wehrt, mit naiverer Gemeinheit könnte sich diese Abart von Selbsterhaltungstrieb unmöglich gebärden. Kein Spießer lebt hier, der nicht die Prostituierung der gesetzlichen Normen, nicht den unverhüllten Mißbrauch der Amtsgewalt ersehnte zum Schutz materieller als der einzig berechtigten Interessen gegen gefährliche Ideale – der nicht kalten Blutes hundert Saccos und Vanzettis den elektrischen Martertod erleiden ließe, wenn’s dem nervus rerum zum Wohl gereicht.“102 Dieser Zustand eines unterentwickelten Rechtsempfindens ist historisch auf die verzögerte Modernisierung und auf die Schwäche des liberalen Bürgertums unter den Habsburgern wie unter den Hohenzollern zurückzuführen. Der gesellschaftliche Rationalisierungsprozess, der die Stufe abstrakter Rechtsgleichheit (entsprechend der ökonomischen des abstrakten Tauschwerts) erst einmal erreichen müsste, um über sie hinauszugelangen, vollzieht sich stattdessen in solcher „Ungleichzeitigkeit“ (Ernst Bloch), dass er von Residuen des Feudalismus ebenso kontaminiert ist wie von den Vorzeichen des Faschismus. Die Wörter „Menschenbestie“ und „Selbsterhaltungstrieb“ verweisen auch an dieser Stelle wieder auf das Verharren der Menschheit in der „Naturgeschichte“, welche wegen dieser Kontamination besonders aggressiv fortwirkt.103 Kraus’ Hinweis auf Sacco und Vanzetti, mit denen nicht nur die Arbeiterbewegung und er selbst, sondern auch die liberale Öffentlichkeit in

102 [Die Fackel  : Nr. 771–776, 12.1927, 29. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30403f. (vgl. Fackel Nr. 771–776, S. 18)] 103 Das Wort Menschenbestie kommt in der Fackel noch zweimal vor, dort im Plural, und zwar beide Male im Zusammenhang von sozialem Antagonismus, Eigentum und Herrschaft (F 554, S. 9  ; F 668, S. 158). Darüber hinaus findet sich ein häufigerer Gebrauch der Worte Bestie oder Bestialität in ähnlicher Bedeutung.

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Österreich sich solidarisiert hatte, sollte offensichtlich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das heimische Verhältnis zum Recht dem US-amerikanischen keineswegs überlegen war, vor allem, wenn eigene Macht- und Eigentumsinteressen zur Disposition standen (und zwar, wie Kraus im nächsten Satz hervorhebt, nicht nur bei Kasmader und den Troglodyten). Doch so wenig wie nach dem Weltkrieg mit seinen Verheerungen an Leib und Seele, an der Urteilskraft und an der Wahrheitsliebe, so wenig beginnt nach dem 15. Juli ein Prozess kritischer Selbstreflexion, und stattdessen treten die fatalen Mechanismen der Schuldabwehr in Kraft  : „[B]ei so viel Blut nicht errötend, ohne Ahnung der Groteske dieser Ähnlichkeit [mit den Kriegslügen der österreichischen Diplomatie], gibt die verfolgende Unschuld des heiligen Verteidigungskrieges ein ‚Weißbuch‘ heraus, wissend, daß alle Wohlgerüche Arabiens nicht süßduftend machen diese Hand, die uns geschirmt hat. ‚Weg, du verdammter Fleck  ! Weg, sag’ ich  ! Eins, zwei  ! … Hier riecht es nach dem Blut noch.‘ Indes  : ‚was haben wir zu fürchten, wer es weiß  ? Niemand zieht unsre Macht zur Rechenschaft‘, sagt eine Schlafwandlerin. Und das Schuldbewußtsein, sich immer tiefer verstrickend, trumpft noch auf  ; weil es sich das Gedenken der Greuel verklären muß, sie noch durch Scheußlichkeiten überbieten muß, um nicht darunter zusammenzubrechen, paradiert es pünktlich, ganz wie anno dazumal, als ‚Seelenaufschwung‘ – der immer der Vorbote der Pleite ist. Bis dahin hats lange Weile oder große Zeit  ; und die wird wacker und weidlich zu dem Schwindel benützt, die Öffentlichkeit dumm, die Wahrheit stumm zu machen und die Lüge als die ‚über jeden Zweifel erhabene Glaubwürdigkeit‘ auszugeben.“104 Während die anderen hier „eingeschöpften“ Zitate für sich sprechen, ist zum „Seelenaufschwung“ (einem Schlagwort aus dem Ersten Weltkrieg) anzumerken, dass Kraus in der Zitatsammlung, die in diesem Heft wieder am Anfang steht, den Bericht aus einer großdeutschen Gasthausversammlung u.a. mit dem Satz anführt  : „Seit den Ereignissen vom 15. Juli hat der Seelenaufschwung des Bürgertums begonnen.“ 105 Ein solcher Aufbruch ließ Schlimmes ahnen, vor allem, da er als blutige Machtausübung, als Offensive der „verfolgenden Unschuld“ in Erscheinung trat. Denn auch nach dem Ringstraßenkrieg gegen Wehrlose stellten sich die Schuldigen als zu Unrecht beschuldigte „reine Lamperln“ dar,106 und, was noch schwerer 104 [Die Fackel  : Nr. 771–776, 12.1927, 29. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30405 (vgl. Fackel Nr. 771–776, S. 19)] 105 F 771, S. 11, dort gesperrt 106 Vgl. zu Schobers allzu gutem Gewissen F 766, S. 58.

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wiegt, die Presse, die doch eine unabhängige Instanz der bürgerlichen Öffentlichkeit sein sollte, übernahm unkritisch dieses Selbstbild. Kraus’ Engagement gegen Schober beschränkte sich nicht auf seine Essayistik. Noch bevor Der Hort der Republik erschien, hatte er an den Litfaßsäulen von Wien als sittliches und politisches Zeichen seine Rücktrittsforderung plakatieren lassen107. Dass der Appell an das Gewissen seiner „Inselwelt“,108 den das Plakat enthielt (interpunktorisch, phonetisch und grafisch vermittelt durch ein Komma, auf das er zu Recht stolz war), von seinem Publikum verstanden wurde, belegen die Erinnerungen von Elias Canetti.109 Der Einzelne, der da ohne Titel, nur mit seinem schlichten bürgerlichen Namen und seiner öffentlichen Funktion als Herausgeber der Fackel, gegen den Polizeipräsidenten auftrat, konnte diesen zwar nicht aus dem Amt vertreiben (dazu hätte es einer standhaften Opposition bedurft), aber er konnte ein Zeichen setzen und so die Opfer und ihre Mitstreiter ermutigen. Die Funktion des Künstlers, als Einzelner, nach Adornos Wort, „das Interesse des Ganzen gegen das Ganze“ wahrzunehmen,110 manifestiert sich auch in dem Ausruf „Pfui  !“, über den Merkel schreibt  : „Dies ist das Wort, in dem der gesamte Text kulminiert  : ein mächtiger Verstärker jenes ‚Pfui‘, das zahlreiche Demonstranten am 15. Juli der schießenden Polizei zugerufen und anschließend mit dem Leben bezahlt hatten.“111 Eine weitere 107 Das oben stehende Plakat findet sich in  : Karl Kraus, Dramen, Anhang, S. 365, und wurde hier aus DB156  : Karl Kraus  : Schriften, Abb. zu S. 7999, übernommen. 108 F 766, S. 71 109 Elias Canetti  : Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931. Frankfurt/Main 1982, S. 232. Kraus artikuliert seinen Stolz auf jenes Komma in F 771, S. 15. 110 Theodor W. Adorno  : Sittlichkeit und Kriminalität, in  : Noten zur Literatur, S. 372 111 R. Merkel  : Strafrecht und Satire, S. 519. In der Zitatsammlung in Der Hort der Republik ist sieben Mal von Pfuirufen der Demonstranten gegen die Polizei die Rede  : F 766, S. 7, S. 31, S. 34, S. 37

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Form des Engagements war die aktiv gestaltete Realsatire  : Kraus versuchte mehrfach, Schober durch öffentlich in Wort und Schrift geäußerte Beleidigungen, die sich vor allem auf den Fall Bekessy bezogen, zu einer Klage zu veranlassen, um in einer Gerichtsverhandlung öffentlich seine Vorwürfe bekräftigen zu können. Dass Schober auf eine Beleidigungsklage verzichtete, sprach für sich und konnte auch wieder als satirisches Motiv verwendet werden, wie die folgende, auf Schobers Vorliebe für Rückert-Zitate anspielende Zeitstrophe zu Jacques Offenbachs Blaubart zeigt (hier zitiert nach Schober im Liede)  : „Graf Oskar Alles eher als ein Lober, Hab’ ich manches Wort gewagt. Wie Sie wissen, hat Herr Schober Mich bis heute nicht geklagt. Man zwingt ihn diesbezüglich nicht  ! Wenn der Schuh ihn [[  : noch so drückert  :]] Schiebt er lieber [[  : vor den Rückert  :]] Mich jedoch zitiert er nicht  : Nämlich vors Bezirksgericht. Chor Wenn der Schuh ihn [[  : noch so drückert  :]] Schiebt der Schober [[  : vor den Rückert  :]] Doch bekanntlich sagt auch Rückert  : Klagen wär’ die erste Pflicht, Wenn man sich nicht lieber drückert Vorm Bezirksgericht.“112 (zur Absicherung wurde die AAC-Fackel verwendet), s. auch in Kraus’ eigenem Text ibid., S. 54 und S. 67. 112 [Die Fackel  : Nr. 781–786, 06.1928, 30. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30788 (vgl. Fackel Nr. 781–786, S. 108)], auch in  : Karl Kraus  : Theater der Dichtung. Nestroy. Zeitstrophen. Frankfurt/Main 1992 (= Schriften, Bd.14), S. 280f. – Um doch noch eine Gerichtsverhandlung zu erzwingen, zeigte Karl Kraus bekanntlich Schober wegen Ehrenbeleidigung an (vgl. F 778  : Blut und Schmutz oder Schober entlarvt durch Bekessy). Dessen wenig glaubhafte Versicherung, er habe bei der inkriminierten Äußerung nicht an den Herausgeber der Fackel gedacht, folgte der für die satirische Darstellung prädestinierten Logik seines öffentlichen Auftretens in so musterhaf-

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Obwohl Karl Kraus ein Erfolg wie der gegenüber Bekessy versagt blieb, konnte er, bei allem Zorn, Lustgewinn aus dem Kampf selbst ziehen. Die übermütigen Wortwitze des Couplets zeugen in ihrer Schönheit und Exaktheit davon. Setzt Kraus den Ernst seiner Essays der unbekümmerten Wurstigkeit angesichts so vieler Opfer entgegen, so kontrastiert die satirische Phantasie solcher Verse Schobers in Pseudokorrektheit erstarrter Bürokratensprache.

Am Vorabend der Dritten Walpurgisnacht Anhand der Fackel lässt sich nachvollziehen, dass die kulturellen Elemente des Nazismus schon lange vorhanden waren, bevor er an die Macht gelangte, und zwar nicht nur in der faschistischen Propaganda. Die Dritte Walpurgisnacht von 1933 sandte ihre Phantome voraus. So erwähnte Kraus bereits 1906 in Karl der Große und Wilhelm Voigt einen „im höchsten Grade bodenständige[n] Dichter“113  : Richard von Kralik, der als Gründer der katholischen Schriftstellervereinigung Gralbund eine bedeutende Rolle im konservativen Geistesleben spielte und auch als Kulturhistoriker hervortrat. Kraus charakterisiert ihn in diesem frühen Text so  : „Die muffige Luft eines Bürgerschulzimmers, in dem ununterbrochen ‚Hinaus in die Ferne‘ gesungen wird, das etwa ist die Stimmung, in der die Gedichte des Herrn v. Kralik, und in weiterer Folge die Denkmäler Karls des Großen erschaffen werden.“114 Als 1922 Kraliks 70. Geburtstag gefeiert wird, widmet die Fackel der publizistischen Begeisterung eine längere Satire mit dem Titel Kralikstag.115 Im einleitenden Abschnitt spottet Karl Kraus über die christlich-soziale und deutschnationale Journalistik im Allgemeinen, die in ihrer grenzenlosen Banalität und in ihrem „Neid auf das jüdische Talent“ von diesem allenfalls „eine gewisse Könnerschaft in Tonfällen“ zu übernehmen imstande sei.116 Zentral für seine Satire auf die Geburtstagsartikel ist dann neben dem Verhältnis zur Monarchie Kraliks in der Reichspost zitiertes Postulat einer „Synthese von Antike, Christentum und Germanentum zu eiter Weise, dass zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht auch auf ihn das für Alfred Kerr geprägte Wort zutrifft, er sei fortan im Krausschen Spiritus konserviert und lebe nur mehr fort als Figur in seinem, Kraus’, Panoptikum (F 735, S. 71f.). 113 F 213, S. 2 114 F 213, S. 2 115 F 601, S. 108–132 116 F 601, S. 113, vgl. zu dieser Publizistik  : Die Kreuzelschreiber (F 568, S. 50–64) und Aus Redaktion und Irrenhaus (F 781, S. 84–104, hier v.a. S. 86–94).

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ner lebensvollen Kulturdreieinigkeit“.117 Diese Synthese erinnert an das von einem kurzzeitigen Burgtheaterdirektor zur Zeit des Weltkriegs propagierte „christlich-germanische Schönheitsideal“, das sofort der Fackel als satirisches Motiv einverleibt und als das Ideal Kasmaders und der Resitant identifiziert wurde.118 Dass Kraus der Erweiterung dieses Ideals um die antike Kultur nichts abgewinnen konnte, versteht sich von selbst, hatte er doch schon 1918 die vor dem österreichischen Parlament platzierte Skulptur der Pallas Athene als eine dem „christlich-germanischen Schönheitsideal“ entsprechende „fesche Hausmeisterin“ des Hohen Hauses in „antiker Gewandung“ bezeichnet und das auf sie verübte Attentat eines Geisteskranken satirisch legitimiert.119 Über die Herstellung jener Synthese, die von einem Kralik-Verehrer in einem sprachlich und logisch bis zum Delirium verunglückten Satz als „echt deutsches-faustisches“ Lebenswerk des Gehuldigten bezeichnet wird,120 bemerkt Kraus in Kralikstag  : „Ich habe es noch nicht ausgesprochen, aber ich möchte nun sagen, daß ich mir von dieser Synthese, falls sie überhaupt durchführbar wäre, nicht viel Erfreuliches verspreche, sondern im Gegenteil eine kulturelle Mißgeburt von gar nicht vorstellbaren Formen, sagen wir so eine Kreuzung aus Barbarossa, Phryne und Kasmader, und ich fürchte, daß die Phantome der deutschösterreichischen Walpurgisnacht, wie sie sich an Vereinsabenden und in den Spalten der Reichspost tummeln, noch mit etwas Hellenentum versetzt (aber ‚nur gstaubt‘), schon eine klassische ergeben könnten, die wohl an Gschnasabenden der Künstlergenossenschaft reüssieren würde.“121 Die unheilige Allianz des österreichischen Katholizismus mit germanischen und antiken Mythen in Literatur, Philosophie und bildender Kunst vermochte es, antimoderne Affekte zu bündeln, ohne dass dafür ein besonderes poetisches Talent notwendig gewesen wäre.122 Mehr Aufmerksamkeit als solch depravierte Philosophie und Dichtung erfahren in der Fackel Alltagsdokumente wie Heiratsannoncen,123 Flugblätter und Tagesmeldungen, an denen Kraus das Verhältnis zur Sprache und zum Körper im Vorfeld und im Umfeld des Nazismus kenntlich machte. 117 F 601, S. 118 118 In Kralikstag  : F 601, S. 118 119 F 474, S. 152 120 F 601, S. 128 121 [Die Fackel  : Nr. 601–607, 11.1922, 24. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 25441 (vgl. Fackel Nr. 601–607, S. 127–128)] 122 Vgl. das strafende Zitat (aus einem Kralik-Gedicht) in der Schlusspassage des Textes (F 601, S. 130f.). 123 Siehe F 668, S. 30  ; F 657, S. 213 und S. 214–221.

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Die Deformation des Trieblebens durch seine Unterdrückung im Rahmen einer repressiven Sexualmoral beschäftigte Kraus auch in den Zwanzigerjahren noch, als in Metropolen wie Wien und Berlin liberalisierte Subkulturen entstanden waren. Obwohl er sexuelle Befreiung als dringlich und notwendig erkennt, kritisiert er die gesellschaftliche Form, unter der sie sich vollzieht  : Anstatt als das Rätselhafte, der Vernunft nicht vollständig Subsumierbare akzeptiert zu werden, soll die Geschlechtlichkeit der Menschen nun vermittels ihrer Integration in die Freizeitindustrie ihres Konfliktpotenzials beraubt werden. Auf diese Art der Rationalisierung – Herbert Marcuse wird sie später „repressive Entsublimierung“ nennen – zielt die satirische und polemische Verurteilung des Halbweltgeschäfts und des Boulevardjournalismus durch die Fackel ab.124 In weiten Teilen der Gesellschaft dominiert aber noch immer die tradierte ungebrochene Sexualfeindschaft. Der Verbindung von Sexualhass und Antisemitismus bzw. „germanischer“ Ideologie schenkt Kraus nun größere Aufmerksamkeit, aber auch die alten Fragestellungen sind nicht obsolet geworden, wie die kontinuierlich fortgesetzte Reihe der Glossen zum Themenkomplex „Sittlichkeit und Kriminalität“ beweist. In der Perspektive der Dialektik der Aufklärung verwundert es nicht, dass die Gesellschaft „Menschen mit verdrückt sadistischen Zügen“ hervorbringt,125 weil „das verquere und pathogene Verhältnis zum Körper“126 sie zu Regression, Projektion und Verschiebung treibt. Worin diese Entwicklung – erst in Deutschland, dann auch in Österreich – kulminieren wird, beschreibt Schmid Noerr  : „Hinter der Lob124 Exemplarisch  : Die polemische Satire Die ‚Stunde‘ bietet die Darstellung der wirklichen Ereignisse des Lebens (F 679, S. 126–140), die im Kontext der Glosse Fragwürdiges (F 679, S. 119–121, vgl. zur Naturfeindschaft die folgenden beiden Glossen) und der satirischen Polemik Hinaus aus Wien mit dem Schuft  ! (F 697, S. 145–176) zu sehen ist. Im zuletzt genannten Text wird das pseudofreiheitliche Wirken des erpresserischen Journalisten Emmerich Bekessy ironisch gewürdigt  : Er habe „zwar einer Demokratie Vorschub geleistet, die etwa auf die Stellung der Preisaufgabe gestellt ist, welche Wienerin den schönsten Popo habe, und ich glaube, die Gasse, die Bekessy der Freiheit gebahnt hat, dürfte wesentlich die Annagasse sein […]“ (F 697, S. 151  ; die Wiener Annagasse war für ihre Bordelle bekannt). Die letzte Bemerkung stellt einen Link zwischen falsch rationalisierter Freizügigkeit und journalistischer „Prostitution“ her und gehört damit zu jenen Textstellen, an denen Kraus, ungeachtet seiner Verteidigung der sexuellen Prostitution, die Motive ihrer kritischen Analyse formuliert. Denn die Zurichtung des weiblichen Körpers zur Ware steht einer Versöhnung von Kultur und Natur nicht weniger entgegen als die die Zurichtung des Wortes, die er an der Presse beklagt und die im Kontext einer sehr allgemein gehaltenen Kapitalismuskritik steht (vgl. S. 174f.). 125 Theodor W. Adorno  : Erziehung nach Auschwitz, in  : Erziehung zur Unmündigkeit, S. 94 126 L.c., S. 95

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preisung der starken und schönen Körper im Dienst der lebensverachtenden Macht steht der Haß auf die erfüllte Geschlechtlichkeit, den Eros, um den der Körper sich insgeheim geprellt weiß. Dieser Haß bestimmt die faschistische Propaganda und Praxis. Die Herrschenden bedienen sich der Feindschaft der Beherrschten gegen das Leben, in der die unbewußte Sehnsucht nach dem nicht reduzierten Körper verborgen ist. Diese kann sich jedoch mit dem Objekt ihrer Begierde nur paranoisch und destruktiv in Beziehung setzen.“ 127 Dieser Befund kann auf der Basis der Fackel nur bestätigt werden, und zwar schon für die Zwanzigerjahre. Paranoide Projektionen finden sich beispielsweise in einem Nazi-Gedicht128 mit dem Titel § 144 (der umkämpfte Abtreibungsparagraph im österreichischen Strafrecht), das die „jüdische“ Forderung nach Abschaffung dieses Paragraphen als Angriff auf die „arische“ Mutter und auf die Moral des deutschen Volkes wertet. Sinnfern und nur durch die Mobilisierung alter Ressentiments motiviert ist in diesem Kontext auch die Verwendung des Wortes „Purimsnacht“, sie deutet auf geringe Kenntnis des Hassobjekts hin. Beide Aspekte werden im Kommentar von Karl Kraus nach einem bewährten Muster durch immanente Auslegung ad absurdum geführt. Weitere Zitate in derselben Glosse129 belegen, dass neben der sexuellen Paranoia ein nicht weniger paranoider Geschäftsneid charakteristisch für diese Form des Antisemitismus ist. Insgesamt hebt Kraus zwei Aspekte hervor  : den Stolz der Hakenkreuzler auf ihre eigene Dummheit und ihren Wunsch, die jüdische Konkurrenz zu verdrängen. Dabei wird die Funktion des imaginären Hassobjekts deutlich. Die Unfähigkeit zur Reflexion der eigenen Probleme mit der Transformation der Familie und der Ökonomie wird durch die Konstruktion eines Feindbildes kompensiert, dem die Funktion zukommt, Ängste, Aggressionen und Frustrationen auf sich zu ziehen, ohne dass auch nur ein Schein von logischer und faktischer Stimmigkeit zur politischen Legitimation notwendig wäre. Da die Funktionalität des Konstrukts für die Antisemiten derart dominiert, dass die Verifikation der Behauptungen am Objekt verzichtbar wird, verselbständigt sich die paranoide Fantasie gegenüber der Realität.130 Drei aufeinanderfolgende Glossen aus dem übernächsten Heft der Fackel mögen hier

127 Gunzelin Schmid Noerr  : Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Darmstadt 1990, S. 91 128 F 668, S. 150 129 Es handelt sich um die Glosse mit dem – ein antisemitisches „Neidmaul“ (S. 152) zitierenden – Titel Warum vadient der Jude schneller und mehr Jeld als der Christ (F 668, S. 149–152). 130 Vgl. zur Funktionalität des Antisemitismus Kapitel III der Studien zum autoritären Charakter sowie die Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung.

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das Bild ergänzen. In Troglodytisches131 zitiert Kraus zwei Dokumente, in denen ein rassistischer Antisemitismus ebenso aggressiv-paranoid wie in jenem Gedicht hervortritt. So schürt eine in großer Auflage verbreitete Flugschrift der österreichischen NSDAP die Angst vor „Bastardisierung“ der „germanischen Rasse“ und fordert sogar von jenen Mädchen, denen angeblich Schändung droht (durch Farbige, aber im Auftrag des internationalen Judentums), schon im Voraus einen Opfertod im Dienste des deutschen Volkes. Aus der Deutschösterreichischen Tageszeitung, dem NS-Parteiblatt, wird daraufhin eine Warnung an die Wiener Männer zitiert, angesichts des zionistischen Kongresses ihre Frauen zu „hüten“ (und zwar illustriert durch eine sehr banale, nur durch antisemitische Invektiven „gesalzene“ Episode), worüber sich Kraus folgendermaßen lustig macht (seine Zitate aus dem Nazitext werden hier durch Kursivschrift kenntlich gemacht, um Missverständnissen vorzubeugen)  : „Aber was nützt alle Vorsicht, entweder hat eine Ehrgefühl im Leib  : dann kann ihr ein ganzer Kongreß von Zionisten nichts anhaben, oder ein anderes Gefühl  : dann könnte die Obhut doch nur mechanisch verhindern, daß die Arierin, mit einer Gestalt, wie man sie jetzt wenig findet (folgt Gebärde in die Richtung des sogenannten Busams), den Wüstensohn als Oase empfindet und den Halbmenschen dem Vollgermanen vorzieht. Was tut Wodan, ist sie imstand, einen Zionistenkongreß interessanter zu finden als die Vereinssitzung der Cherusker in Krems, und Homolatsch, der Ehrenfeste, säße belämmert da, nachdem er sein Haussprüchlein vorgebracht  : Mein deitsches Weip – mein Heim – mein Kind – Mir das Liebste – auf Erden – sind.

Wodanseidank ist die Gefahr vorüber.“132 Der satirische Kommentar zielt darauf ab, den projektiven Sexualneid bewusst zu machen, welcher der Diffamierung jüdischer Männer als „geil“ zugrunde liegt, und zugleich der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass zumindest beim weiblichen Geschlecht natürliche Triebe sich gegen rassistisches Segregationsstreben durchsetzen. – Welche Formen der Kompensation dem Sexualneid zu Gebote stehen, selbst wo es sich nur um die Rivalität mit dem Nachbardorf (und nicht mit einer imaginierten 131 F 697, S. 9f. 132 [Die Fackel  : Nr. 697–705, 10.1925, 27. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 28157 (vgl. Fackel Nr. 697–705, S. 10)] . Zu den Cheruskern in Krems aus den Letzten Tagen der Menschheit vgl. Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit.

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feindlichen „Rasse“) handelt, zeigt die folgende Glosse, Neandertal, du bist mei Freud.133 Die selbst ernannten Hüter der Dorfehre entschädigten sich in diesem Fall durch die Misshandlung und Beschmutzung des weiblichen Opfers am Unterleib und im Gesicht, wofür sie zu einer geringfügigen Strafe verurteilt wurden. – Die dritte Glosse beklagt unter dem Titel A Hur war’s die Kontinuität des sittenwidrigen Waltens von Sittenpolizei und Sexualjustiz. Mit dem Titel spielt Kraus auf mehrere Vorkriegstexte an, in denen es um ungesühnte Verbrechen an Prostituierten ging. Das Urteil im aktuellen Fall bestätigt seine alte Forderung nach Abschaffung der Sittenpolizei und beklagt die von allen politischen Umwälzungen unangefochtene Kontinuität der Sexualjustiz  : „Denn zwischen den Leitmeritzer Geschwornen, die einst den Mörder einer Prostituierten wegen Übertretung des Waffenpatents verurteilt haben, und den Grazer Schöffen [die einen mutmaßlich des Missbrauchs Prostituierter schuldigen Sittenpolizisten freigesprochen haben], dehnt sich ein schönes Stück Kulturwelt, zwischen damals und heute hat sich nichts zugetragen als ein Weltkrieg und eine Revolution, und ein Ruf wie Donnerhall braust ungeschwächt durch veränderte Zeiten und Staaten  : A Hur war’s  !“134 Der Zusammenhang der drei Glossen besteht in der Problematik, wie unter dem Vorwand einer fragwürdigen Sexualmoral elementare Menschenrechte verletzt und Gewalttaten legitimiert werden. Die Zusammenstellung zeigt, dass der Sexualhass, der bei den Nazis mithilfe einer rassistischen und antisemitischen Propaganda kanalisiert wird (Troglodytisches), bereits in der bürgerlichen Gesellschaft (Neandertal)135 und in ihren staatlichen Institutionen (A Hur war’s) sich vorgeformt findet. Während aber unter den gewöhnlichen Bedingungen der bürgerlichen Rationalität die Aggression gegen abweichendes Sexualverhalten von Frauen im Vordergrund steht (ein Primat, das vor allem für die rigiden Konventionellen attraktiv ist), ermöglicht es die rassistische Propaganda, den Hass mindestens ebenso sehr auf Männer aus der diskriminierten Outgroup (hier  : Juden und Schwarze, ansonsten auch Slawen und Homosexuelle) zu projizieren, indem 133 F 697, S. 11. Der Titel zitiert die Persiflage des tiroler Volkslieds Zillertal, du bist mei Freud’. 134 [Die Fackel  : Nr. 697–705, 10.1925, 27. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 28160 (vgl. Fackel Nr. 697–705, S. 12–13)] 135 Zu den soziokulturellen Konnotationen des Wortes Neandertal im Sprachgebrauch der Fackel vgl. die beiden Glossen mit dem identischen Titel Aus dem Neandertal (in  : F 622, S. 159  ; F 632, S. 32). Beide Glossen illustrieren durch kommentarloses Zitieren von Gerichtssaalberichten die Verbindung von Frauenverachtung und selbstverschuldeter, freilich nicht ganz glaubhafter Ahnungslosigkeit in sexuellen Belangen, deren vorgebliche Naivität in blanken Zynismus umschlägt.

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sie – die Propaganda – Bedrohungsfantasien, Freund-Feind-Schemata, Konkurrenzgefühle und destruktive Impulse mobilisiert. Der antisemitische Sexualhass besaß damals die höchste Relevanz, weil er sich besonders gut mit anderen paranoiden Projektionen verbinden ließ und politisch am mächtigsten war. Wie schon vor dem Krieg, so entzündet sich die Kulturkritik der Fackel auch zur Zeit der Ersten Republik am Rassismus gegen Schwarze, und zwar ohne jede Einschränkung, aber weniger häufig als am Antisemitismus. Einzelne rassistische Vorfälle in Wien und in den USA fanden Eingang in die Fackel,136 insbesondere die Hetzkampagnen gegen die farbige US-amerikanische Tänzerin und Sängerin Josephine Baker (die sich durch einen Auftritt im Bananenröckchen dem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben hat) wurden von Karl Kraus in den Jahren 1928 bis 1935 zum Musterbeispiel für die Unsittlichkeit rassistischer Sittlichkeitskampagnen. Die erste Erwähnung Bakers in der Fackel findet sich im Kontext eines – angesichts immer zahlreicherer hungernder Mitbürger provozierend teuren – Festbanketts  : „Was sich da tat, führte aber keineswegs zu einer Intervention der Hungernden, sondern bloß zu diplomatischen Verwicklungen, indem die Gattinnen zweier Gesandter […] nur unter der Bedingung ihr Erscheinen zusagen konnten, daß der einzige saubere Mensch, der vermutlich an der Tafel gesessen wäre, ihr fernbleibe, nämlich die Josephine Baker.“137 Karl Kraus schätzte die Tänzerin aber nicht nur persönlich, sondern auch als Künstlerin, was angesichts seiner Abneigung gegen den Theaterbetrieb seiner Zeit – mit Ausnahme nur weniger, einzelner Bühnenkünstler – eine hohe Auszeichnung bedeutet.138 Der an dieser Stelle relevanteste Text ist eine in der Fackel abgedruckte Rede von Karl Kraus, die, wie im Titel Aus Redaktion und Irrenhaus angedeutet, pathologischen Presseerzeugnissen gelungene Gedichte von Psychiatrie-Insassen kontrastieren soll (allerdings war das von Kraus favorisierte Gedicht von dem Kranken nur bearbeitet worden). Einem in der Fackel häufig zu findenden Muster folgend, geht auch in diesem Text der Charakteristik der „völkischen“ Presse und der in ihr publizierten

136 Außer den erwähnten Texten  : F 668, S. 14f., F 697, S. 131f. 137 [Die Fackel  : Nr. 778–780, 05.1928, 30. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30582(vgl. Fackel Nr. 778–780, S. 12)]. Ob die Kritik der Fackel an luxuriösen Veranstaltungen berechtigt war, soll hier nicht entschieden werden. Das Problem einer extremen materiellen Ungleichheit, auf das diese Kritik abzielt, kann jedenfalls nicht durch Sparsamkeit oder Wohltätigkeit Einzelner gelöst werden. 138 Vgl. F 909, S. 37–39, und F 916, S. 2.

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Dichtung eine scharfe Distanzierung von der liberalen, bei Kraus als jüdisch attribuierten, Presse voraus  ; speziell wird hier das Verhältnis der Zeitung zu ihren Lesern verglichen. In der folgenden Textpassage, die aufgrund ihrer motivischen Dichte zusammenhängend zitiert wird, rekurriert Kraus auf seine seit langem ins Vorlesungsprogramm aufgenommene Satire Der Neger, die beim Publikum große Resonanz gefunden hatte,139 und bringt sie mit aktuellen Manifestationen eines politisch immer relevanter werdenden Rassismus in Verbindung  : „Wenn ich freilich die Druckwelt betrachte, in der sich schlichte Arier hoffnungslos abquälen“, bekennt da der polemische Satiriker, und die für den Journaldienst nichts mitbringen als das Analphabetentum, ohne die Fähigkeit es zu gebrauchen – dann freilich werde ich eher des Zusammenhanges gewahr zwischen dem Zeitungswesen und einer Volksart, die auf dem Weg der Rückbildung zum Neandertalertum rapide Fortschritte macht, während es mir immer ein Problem sein wird, wie Juden nicht finden sollen, daß ihnen die Neue Freie Presse zu blöd ist. Da haben wir also die Wiener Neuesten Nachrichten, eine Zeitung, der ich öfter schon nachgewiesen habe, daß sie in großdeutscher Sprache geschrieben ist. Sie und die Reichspost sind in diesen Tagen etwa der Ausdruck der Gedanken, die ich einmal in der Beschreibung des Wiener Straßenlebens, durch das ein Neger chauffiert, festzuhalten versucht habe  : „A Näägaa –  !“, „Geh hörst’rr schau drr den schwoazen Murl an  !“, „Hörst Murl, wosch di o  !“, „Geh ham, Schwoazer, verschandelst uns jo die gonze Stodt  !“, „Do fohr oba, zur Daunau und wosch dii –  !“ Während die vorkämpfende Deutschösterreichische Tageszeitung, als der eigentliche Schutz- und Trutzgoi auch „Dötz“ genannt, diesen Rat nebstbei noch bezüglich der bodenständigen Schweißfüße erteilt und im ärztlichen Briefkasten die schlichte, aber unwiderstehliche Auskunft gibt  : F u ß r e i n i g u n g . Laues Wasser mit Seife. Denn offenbar hatte einer der Mannen, die die schwarze Schande nicht mehr ertragen können, sich die Sache weit komplizierter vorgestellt, als sie im Grunde ist, und angefragt, wie man das eigentlich mache. Vielleicht einer von den Unentwegten, die viel auf dem Trottoir vor der Oper herumgehen müssen, wenn Jonny140 aufspielt.

139 Vgl. F 668, S. 14f. sowie Kapitel 1 der vorliegenden Studie. 140 Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf wurde 1928 in Österreich und in Deutschland mit großem Erfolg, aber auch unter großem Protest derselben Kreise, die sich gegen Baker ereiferten, aufgeführt.

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Also laues Wasser mit Seife – das Ei des Columbus ist nichts dagegen  ! Was aber die Josephine Baker betrifft, die vielleicht mehr Zusammenhang mit der Gottesschöpfung erkennen läßt als ein ganzes flaches Land, auf dem Bodenständige wohnen, so hat sie es sich schließlich selbst zuzuschreiben, daß sie Bekanntschaft mit dem dunkelsten Zentraleuropa gemacht hat. Daselbst erscheint nun die Reichspost, die ihrem Verdruß in dem schlichten, aber treffenden Titel Luft macht  : Die Schwarze … mit drei ganz idiotischen Punkten und nicht ohne der Mißdeutung wehren zu können, daß sie von sich selbst spreche. Man erfährt jedoch gleich, daß es sich um die Baker handelt, von der erzählt wird, daß sie „Nacht für Nacht“, man denke nur, in den Folies Bergères tanzt, „um schließlich zuletzt ganz privatim in ihrem eigenen Etablissement am Montmartre noch Sondervorstellungen zu besonderen Preisen zu geben“. Nach dieser Hundsordinärheit, die ihre Peitsche verdient hat und mit der der arme Preßgoi leuchtenden Auges seine Dankesschuld an die jüdische Sensationspresse abträgt, beginnt er diese, wie er sagt, zu „kennzeichnen“. Da kommt nun der tiefe Schmerz zur Geltung, daß Nackttänze von Kerzelweibern noch nicht begehrt sind.141

In gewohnter literarischer Brillanz gelingt Karl Kraus der satirische Nachweis eines zivilisatorischen Defizits aufseiten der Angreifer, welche im Unterschied zu früher, als sie allgemein als „Wiener“ auftraten, nun der christlich-­ sozialen (Reichspost), der großdeutschen (Wiener Neueste Nachrichten) und der natio­­­nalsozialistischen (Deutschösterreichische Tageszeitung) Ideologie ­poli­tisch zugeordnet werden. Die Diagnose eines „Fortschritts zum Neandertalertum“ kann sich auf die parteipolitisch organisierte Hemmungslosigkeit der Diffamierungen einer jungen Künstlerin aus dem Ausland und auf die aggres­siven Formen der Verteidigung heimischen Kulturlebens stützen. Sogar im Parlament gab es Interventionen wegen der „Negerschmach“ (die Wiener Nationalsozialisten hatten für Josephine Baker ein Auftrittsverbot gefordert, aber auch christlich-soziale und großdeutsche Abgeordnete protestierten gegen sie).142 In Anspielung darauf erklärt Kraus am Schluss seiner Rede, aus der „Schmach der Sprache, mit der wir umgeben sind“, gebe es keinen anderen 141 [Die Fackel  : Nr. 781–786, 06.1928, 30. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30761ff. (vgl. Fackel Nr. 781–786, S. 87–88)] 142 F 781, S. 85

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Lichtblick „als die Hoffnung auf die Negerschmach“ (ein typisches Beispiel für den ironischen Gebrauch des gegnerischen Vokabulars).143 „[G]eschäftstüchtige Troglodyten“,144 denen die „Fremden“ nur als zahlungskräftige Kunden für touristisch zugerichtete Kulturgüter willkommen sind, nicht aber als Repräsentanten des kulturell Anderen, Veränderungen Inspirierenden, waren dem Kulturkritiker schon immer ein Gräuel. Konservative Ideen wollte er gelten lassen als Korrektiv der Moderne, als Erinnerung an die Kosten des Fortschritts. Eine Verknüpfung der Missstände des Alten und des Neuen  : der Borniertheit und der instrumentellen Rationalität, erkannte er aber als Tiefpunkt der soziokulturellen Entwicklung. Dieser Aspekt des Essays Aus Redaktion und Irrenhaus findet sich im selben Heft der Fackel in einem stark differierenden Kontext wieder  : wie der Kampf gegen Schober, so fand auch der Kampf gegen die Troglodyten Eingang in die heitere Welt der Offenbach-Vorlesungen von Karl Kraus. Aus den Redewendungen jemanden bis aufs Hemd ausziehen und jemandem den Rücken kehren sind – im Kontext der Rassismuskritik – die folgenden Zeitstrophen gestaltet  : „Graf Oskar Manche dürfte mehr entzücken, Ob Sie’s glauben oder nicht, Josephine Bakers Rücken Als dem Hartleb sein Gesicht. Das Nackerte is nix für Wean. Denn wir pflegen [[  : selbst die Fremden  :]] Auszuziehn bis [[  : auf die Hemden  :]] A Nackerte, die bleib’ uns fern, Die kann uns den Rücken kehr’n  ! Chor Denn wir pflegen [[  : selbst die Fremden  :]] Auszuziehn bis [[  : auf die Hemden  :]] Tänzerinnen ohne Hemden 143 F 781, S. 100, vgl. im obigen Textausschnitt „die schwarze Schande“ (nämlich der „Bodenständigen“ und ihrer Schweißfüße). 144 F 781, S. 89

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Können uns den Rücken kehr’n. Die schon ausgezog’nen Fremden Ham’r in Wean nicht gern  !“145

Die in diesen Versen enthaltene Liebe zur Sprache und zu einer Welt der Grazie kontrastiert der Plumpheit und dem Degout des satirischen Objekts. Wer sich mit den psychologischen Qualitäten der impliziten Autorsubjektivität identifiziert, kann versuchen, auch ohne außergewöhnliche künstlerische Begabung durch die Entfaltung der eigenen Fantasie die Welt als Text neu zu lesen und wird daraus, bei aller Unerfreulichkeit des Objekts, Glück ziehen  : das allgemeine Glück der Erkenntnis und das besondere Glück einer momentanen Bändigung des von den rassistischen Anteilen der heimischen Kultur ausgelösten Schreckens im satirischen Witz. Obwohl der Faschismus seine Tauglichkeit zum satirischen Objekt durch den Mangel an einer konsistenten Ideologie unterläuft, gelingt es der Sprachsatire von Karl Kraus, zumindest die Physiognomie faschistischer Bewegungen treffend zu charakterisieren. Ins Visier genommen wird aber auch ein „hilfloser Antifaschismus“ (Wolfgang Fritz Haug), der sich der Illusion hingibt, allein durch die Insistenz auf demokratischen Regeln faschistische Putschgelüste (vonseiten der Heimwehr oder der Nazis) in die Schranken weisen zu können.146 Hilflos agiert und argumentiert der sozialdemokratische Antifaschismus indessen nicht nur aus Naivität, sondern weil er selbst vom Deutschnationalismus infiziert ist.147 Im Kontext der Debatten um die geplante deutsch-österreichische Zollunion als Vorstufe zu einem Anschluss Österreichs an Deutschland und alternativ um den Tardieu-Plan einer Donauföderation gewinnt neben den Vorwürfen der Verbürgerlichung sowie des Taktierens und Paktierens der in dem Wortspiel verdichtete Vorwurf, die Arbeiterpartei leiste „den großdeutschen Interessen nun geradezu als Hinternationale Gefolgschaft“, ein entscheidendes Gewicht.148 Kraus’ scharfe Kritik am Deutschnationalismus in den Jahren 1931 und 1932 lässt die Motive seiner bestürzenden Verteidigung des Dollfuß-Regimes in den darauffolgenden Jahren verständlicher erscheinen. Soweit sie die Sozialdemokratie betrifft, gip145 [Die Fackel  : Nr. 781–786, 06.1928, 30. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 30723 (vgl. Fackel Nr. 781–786, S. 57)] , vgl. eine weitere Zeitstrophe in F 781, S. 60. 146 F 820, S. 16 und (vgl. S. 132)  ; F 847, S. 67  ; F 876, S. 43f. 147 F 857, S. 2 148 F 857 (Ende Juli 1931), S. 3, vgl. zur Zollunion S. 5–7 und S. 13f.

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felt diese Kritik in der Polemik Hüben und Drüben, die er am 29.9.1932 – dem selben Tag, an dem in Wien der große nationalsozialistische „Gauparteitag“ begann, zu dem Joseph Goebbels und Ernst Röhm anreisten – öffentlich vorgetragen hatte mit dem Ziel, sein jugendliches Publikum davon abzubringen, an die sozialdemokratische Partei noch eine „seelische Hoffnung“ zu knüpfen.149 Dass eine Partei, die sich in ihrer von Kraus als halbschlächtig, borniert, biedermännisch, romantisch und großsprecherisch charakterisierten Rhetorik und Phraseologie dem Deutschnationalismus und damit dem Nazismus anbiederte, diesem nicht entschlossen genug entgegentreten würde, schien plausibel. Besondere Schärfe erhält diese Abrechnung nicht nur durch eine Art Sozialfaschismusthese,150 sondern auch durch den lexikalisch markierten Rekurs auf die Kritik der Fackel an der monarchistischen und an der Weltkriegsideologie sowie an Schober, die in Hüben und Drüben auf die sozialdemokratische Parteiführung übertragen wird  : der diagnostizierte „Tonfall des Zurechtlegertums für jede Halbschlächtigkeit und jede ganze Lumperei“151 wird nun mit Charakteristika belegt, die in der Innsbrucker Affäre noch für den gemeinsamen politischen Gegner reserviert waren  : „ganz das beruhigte Gewissen  : tue unrecht und scheue niemand  ; die Haltung der verfolgenden Unschuld […]“.152 Das bezieht sich auf die sozialdemokratische Unfähigkeit, Niederlagen einzugestehen, was ja die Voraussetzung dafür wäre, sie angemessen zu reflektieren, anstatt durch eine verlogene Propaganda über sie hinwegzutäuschen. Mit Bezug auf die Allegorie vom „Irrsinnigen auf dem Einspännergaul“ heißt es nun, der „ärmste aller Klepper“ suche „seinen Herrn, nachdem der imperialistische Wahnwitz dem weit tolleren“, dem Nazismus,

149 F 876 (Mitte Oktober 1932), S. 1–31, Zitat S. 2. Mit der Partei einen „Rest sozialer Errungenschaft“ zu verteidigen, hielt Kraus hingegen nicht für falsch (l.c., S. 1). – Der am Tag der Reichstagswahlen, dem 31.7.1932 in der Arbeiter-Zeitung erschienene Leitartikel, der den Anlass zu dieser Polemik bot, wurde in den Kraus-Heften nachgedruckt (H 18/April 1981, S. 1–3). Zugunsten des Verfassers kann zwar geltend gemacht werden, dass er betont  : „Ja, wir wollen dieses unser Oesterreich abriegeln gegen die braune Pest, die in Deutschland so verhängnisvoll die Köpfe verseucht.“ Doch schon der nächste Satz zeugt von einer erheblichen Desensibilisierung gegenüber dem nationalistischen Sprachgebrauch, dem er angeglichen ist  : „Ja, wir wollen alles daran setzen, was immer im Deutschen Reich geschehe, in diesem unseren kleinen Lande deutscher Geistesfreiheit und deutscher Demokratie eine Stätte, der deutschen Arbeiterbewegung ein Asyl der Freiheit zu erhalten.“ (beide Zitate S. 3). 150 F 876, S. 1, S. 11 151 F 876, S. 3 152 F 876, S. 2f.

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Platz gemacht habe.153 Mit ihrer Anschlussideologie hat die Sozialdemokratie teil an diesem Widersinn, indem sie „ganz und gar, nein voll und ganz der abgetakelten Welt zugehört“, der das sozialistische Ideal doch widerstrebt („voll und ganz“ steht als Chiffre für die Schoberwelt der „Dahinterstehenden“).154 Zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland bereits mehrere nationalsozialistische Ministerpräsidenten regierten und der Sozialdemokrat Otto Braun sich zugunsten Papens nahezu widerstandslos seines Amtes als preußischer Ministerpräsident hatte entheben lassen,155 erkannte Kraus das Gefahrenpotenzial jeglicher Anschlusspropaganda, auch wenn sie antifaschistisch orientiert war  : „Drüben, wo eine Menschenart haust, die die Freiheit nur als das Recht erfaßt hat, einander aufzufressen, und deren Wesen eher die Welt anstecken wird, bevor sich ihr Wahn, daß diese an ihm genesen werde, erfüllt – drüben ist die Hölle ausgespien  ; hüben, wo das Dasein auf das Problem herabgesetzt ist, wie es zu fristen sei, betrügt man das Volk mit der Erwartung des nationalen Paradieses.“156 Dass die Kritik der Sozialdemokratie und die Angst vor dem Nazismus keineswegs eine Aufwertung der Monarchien zur Folge hatte, sondern im Gegenteil von der Erinnerung an deren Untaten unterstützt wurde, geht unter anderem aus dem folgenden zentralen Satz hervor  : „Während hüben ein gutartiges Volk157 das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben – wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave  ! – nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll 153 F 876, S. 20 154 F 876, S. 2, vgl. zum 15. Juli S. 8 und zur seit 1927 frequenten Wendung „voll und ganz“ F 766, S. 48, S. 60, S. 81f., S. 89ff. (nur in wenigen Heften der Fackel zwischen F 766 und F 876 fehlt diese Chiffre). 155 Eine der instruktivsten Darstellungen der deutschen Entwicklung von 1930 bis 1933 findet sich noch immer in Franz Neumanns Einleitung zu seiner Studie Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Frankfurt/Main 1984, hier S. 36–59. 156 [Die Fackel  : Nr. 876–884, 10.1932, 34. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 33687 (vgl. Fackel Nr. 876–884, S. 26)]. Die Höllenmetapher wird am Schluss des Textes durch die Bezeichnung der Nazis als Teufel ergänzt (F 876, S. 31). 157 In der zweiten Schober-Polemik steht  : „Wir sind ein kleiner, aber dafür umso bösartigerer Staat“ (F 771, S. 17, um Missverständnissen vorzubeugen  : der Komparativ bezieht sich nicht auf einen Vergleich mit Deutschland). Wegen der Äquivokationen der Begriffe Staat und Volk ist die Beziehung zwischen den beiden Textstellen nicht eindeutig  : Man könnte, gestützt auf den jeweiligen Kontext, einerseits eine Korrektur, andererseits einen Gegensatz zwischen den Herrschenden und den Beherrschten herauslesen.

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der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat.“158 Obwohl Kraus fast alles, was er an dieser Stelle prägnant über autoritäre Bestrebungen in Deutschland sagt, in den Zwanzigerjahren auch für Österreich konstatiert hatte, erinnert er sein Publikum an eine bessere Tradition, vor allem an eine bessere sozialistische Tradition in Österreich, die für ihn vor allem von dem im Vorjahr verstorbenen Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, repräsentiert wurde und deren Hauptverdienst darin bestand, „nach dem Kopfsturz in die Raserei“ zu Beginn des Weltkriegs sehr viel schneller als die deutsche Sozialdemokratie (von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg abgesehen) „die sozialistische Besinnung gewonnen zu haben und den Mut zum Abscheu gegen die Helfer der Schlachtbank“.159 Insgesamt scheint er sich aber wenig Illusionen darüber gemacht zu haben, dass auch in Österreich der Drang, durch Schaden dümmer zu werden und lieber tot als nicht Sklave zu sein, stärker war als der entschlossene Widerstand dagegen.

158 [Die Fackel  : Nr. 876–884, 10.1932, 34. Jg. DB Sonderband  : Die Fackel 1899–1936, S. 33679f. (vgl. Fackel Nr. 876–884, S. 20–21)] 159 F 876, S. 28f.

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Dritte Walpurgisnacht (1933) Vom potenziellen zum manifesten Faschismus

Wer die Dritte Walpurgisnacht auf der Basis dessen rezipiert, was Karl Kraus in den vorausgehenden 33 Jahren zur Analyse von Faschismus und Antisemitismus beigetragen hatte, wird mit Verblüffung konstatieren, wie weitreichend und wie detailliert die Reaktion auf die Machtergreifung und ihre Folgen an das zuvor Erarbeitete anknüpfen konnte. Jene antizivilisatorischen Kräfte, die den Prozess der Zivilisation stets begleitet hatten, triumphierten nun und machten sich dabei die problematischen Anteile der durch Herrschaft geprägten Zivilisation zunutze. Eine analoge Dialektik ist für das Verhältnis von Nazismus und Moderne zu konstatieren  : Zwar zeitigen die Widersprüche der Moderne den Nazismus sowie ähnliche Formen autoritärer Herrschaft und beschädigten Bewusstseins, er selbst ist aber nur bedingt als „modern“ zu bezeichnen, da er zwar der gesellschaftlichen Konstellation der Moderne entspringt und insofern ein Produkt des deformierten, mit Regression verschränkten Fortschritts darstellt, seinem sozialen Gehalt nach jedoch genuin antimodern ist. Die Darstellung der radikalen Rechten in der Fackel der Zwanzigerjahre und vor allem in der Dritten Walpurgisnacht unterstützt die Perspektive der kritischen Theorie, die stets betont, dass der Prozess der modernen Zivilisation sein eigenes Widerspiel hervorbringt. Damals widersprach dieses Theorem der naiv liberalen Auffassung, welche mit dem Anteil der modernen Gesellschaft am Aufkommen ihrer Feinde zugleich die Kontinuitäten zwischen der nazistischen und der formaldemokratischen Gesellschaft verkannte  ; heute ist es zusätzlich geeignet, auch die entgegengesetzte Auffassung  : Faschismus, Antisemitismus und Rassismus seien einfach Bestandteile der Moderne, als eindimensional zu erkennen. Dieser letzteren Auffassung entgegenzutreten, ist umso dringlicher, als sie politisch zu einer Mischung aus Fatalismus und Zynismus führt (etwa in Gestalt des Postulats, eine gesunde Demokratie könne und müsse ein gewisses Quantum an Rechtsextremismus eben verkraften), während sie gesellschaftstheoretisch und kultursoziologisch mit den potenziell selbstzerstörerischen Widersprüchen der Moderne die Ursachen des weiterhin bestehenden Regressionspotentials aus dem Blickfeld verliert.

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Kapitel 4

Jener denkwürdigen Fackel, die mit der Polemik Hüben und Drüben begann, folgte vor der „Machtergreifung“ nur noch ein Dezember-Heft, dann verfiel Karl Kraus in ein langes, aber nicht untätiges Schweigen  : Pressezitate und Anspielungen auf aktuelle Ereignisse wie den Reichstagsbrand zeigen, dass er die Entwicklung in Deutschland von Anbeginn aufmerksam beobachtete. Der Einschätzung Christian Wagenknechts zufolge begann er spätestens im März, nach der Reichstagswahl, mit Notizen für seine Schrift über den Nazismus, die seinen eigenen Angaben zufolge von Mai bis September 1933 verfasst wurde und als Heft Nummer 888–907 der Fackel erscheinen sollte.1 Da Kraus jedoch befürchtete, dass die Publikation mehr schaden als nützen könnte,2 brach er die Arbeit an den Druckfahnen ab und publizierte im folgenden Jahr nur einige, für seine Verurteilung des Nazismus allerdings signifikante, Ausschnitte in Form von Selbstzitaten.3 Der Gesamttext wurde erst 1952 posthum veröffentlicht. Sein Titel spielt auf die Eigenbezeichnung des Nazismus als Drittes Reich an, das in dieser Perspektive nicht etwa als Ehrfurcht einflößendes Imperium den beiden vorangegangenen, nationalistisch verherrlichten deutschen Imperien, sondern als dritte Walpurgisnacht den beiden Walpurgisnächten in Goethes Faust sich anschließt, in welchen allerlei Abscheu erregende Mythengestalten ihr Unwesen treiben. Die Steigerung von der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg im Harz über die Klassische Walpurgisnacht bis zu jener dritten ist dann nicht eine der „Größe“, sondern eine des Grauens. Bis vor wenigen Jahren wurde die Dritte Walpurgisnacht von der Germanistik weitgehend ignoriert (relevante Ausnahmen sind Kurt Krolop und Jochen Stremmel4) und erfuhr in der Presse vor allem die Zitation ihres Anfangssat1 Wagenknecht beschreibt die Entstehungsgeschichte des Textes detailliert im Anhang zur Dritten Walpurgisnacht (Schr. 12), hier insbesondere S. 335f. und S. 385ff., vgl. auch die ältere Arbeit von Jochen Stremmel  : Dritte Walpurgisnacht. Über einen Text von Karl Kraus, Bonn 1982. 2 Vgl. Irina Djassemy  : „Productivgehalt“, S. 360f. und Kurt Krolop  : Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus, S. 270ff. 3 Die in F 890 zitierten Passagen werden im Apparat der Schriften-Ausgabe bei Suhrkamp zum überwiegenden Teil angeführt und im Anhang ergänzt. 4 Zur Rezeptionsgeschichte siehe Irina Djassemy  : „Productivgehalt“, Kapitel 5.1.1. und die dort zitierte Sekundärliteratur, insbesondere Jochen Stremmel  : Dritte Walpurgisnacht, Kapitel 4 und Anhang. Zu Goethes Faust als Referenztext siehe v.a. auch Kurt Krolop  : Präformation als Konfrontation. „Drittes Reich“ und ‚Dritte Walpurgisnacht‘, in  : ders.: Sprachsatire als Zeitsatire, S. 210– 230. Krolop weist nach, wie Kraus implizit eine in faschistisches Denken mündende Tradition der Faust-Rezeption zurückweist. So werde das „in seiner leeren Totalität beliebig ausfüllbare unbedingte Tatpostulat“ (l.c., S. 217) satirisch demontiert, was an dieser Stelle deshalb hervorzuheben ist, weil dieses Tatpostulat sich denjenigen Elementen des autoritären Charakters

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zes  : „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ Dass mit diesem Satz der längste Essay beginnt, den Kraus je geschrieben hat, wurde wohlweislich verschwiegen. Einerseits diente – und dient häufig auch heute noch – solche Ignoranz der Abwehr der bis heute instruktiven Erkenntnisse, die die Dritte Walpurgisnacht über den Nazismus und auch über seine intellektuellen Mitläufer bietet, andererseits beruht sie auf dem Missverständnis, Kraus habe sich durch seine Fixierung auf Kulturkritik und durch seine Unterstützung des Dollfuß-Regimes als Faschismuskritiker disqualifiziert. Dabei resultierte diese in der Tat fatale Entscheidung nicht nur aus einer eklatanten Fehleinschätzung dieses Regimes, dessen Funktion als Wegbereiter des Nazi-Faschismus nur soziologisch geschulten Kritikern transparent werden konnte, sondern gerade auch aus Einsichten, die Kraus den meisten linken Zeitgenossen voraus hatte  : nämlich aus den Einsichten in die neue historische Dimension des Nazismus und in die ebenso zentrale wie bedrohliche Rolle des Antisemitismus. Während also das Kraussche Eingeständnis des Versagens vor dem Gegenstand für die Rezeptionsverweigerung bloß einen Vorwand bildet, so artikuliert sich darin doch auch die Erkenntnis, dass an diesem Gegenstand Kulturkritik und satirische Darstellung der Fackel ihre Grenzen fanden. Aber gerade das Bewusstsein des Inkommensurablen wird in der Dritten Walpurgisnacht zum Ausgangspunkt zentraler Einsichten  : In der liberalen Gesellschaft konnte Kraus die Normen der Menschlichkeit und der Vernunft mit der gesellschaftlichen und vor allem mit der intellektuellen Praxis konfrontieren. Ein solches satirisches Verfahren weitgehend immanenter Kritik ist auf den Nazismus kaum noch anwendbar. Indem sich in der Dritten Walpurgisnacht die Erfahrung dieses Abprallens am monströsen Gegenstand manifestiert, bietet sie Aufschlüsse über die historische Bedeutung des Nazismus als Umschlag von Zivilisation in Barbarei, in seine politisch-propagandistische Funktionsweise und nicht zuletzt in die psychologischen Voraussetzungen des Antisemitismus. Dieser Form sprachlich vermittelter Erkenntnis kommt die spezifische Form des künstlerischen Essays entgegen, der sich seinem Gegenstand versuchsweise, von verschiedenen Seiten, durch motivische Variationen, bildhafte und

zuordnen lässt, die bei Adorno als Anti-Intrazeption und „Kraftmeierei“ beschrieben werden. – Zwei herausragende Essays von Michael Scharang durchbrachen und kritisierten ebenfalls das Schweigen über die Dritte Walpurgisnacht  : Michael Scharang  : Kritik und Praxis im Angesicht der Barbarei. Zur Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus, in  : Protokolle, Wien 1969, S. 237–248, S. 253–260  ; ders.: Zur Dritten Walpurgisnacht, in  : Literatur und Kritik, H.219/220, Nov./Dez. 1987, S. 152–156.

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lexikalische Assoziationen nähert, dabei subjektiven Schrecken und objektive Erkenntnis so verknüpft, dass die Verkürzungen wissenschaftlicher Systematik ebenso vermieden werden wie diejenigen traditioneller Erzählprosa. Gleichwohl bedarf der künstlerische Essay ebenso der philosophischen und soziologischen Deutung wie jedes andere Kunstwerk, er kann wissenschaftliche Untersuchungen nicht ersetzen, wohl aber anregen. Die Kraussche Analyse stößt immer dort an ihre Grenzen, wo wissenschaftlich exakte Begriffe und ihr theoretischer Kontext vonnöten sind, um die nazistische Gesellschaft angemessen darzustellen  ; sie „ahnt“ mehr, als sie auf den Begriff zu bringen vermag, legt damit aber ein für eine Deutung im Sinne Adornos äußerst fruchtbares literarisches Zeugnis ab.

Weltkrieg und Walpurgisnacht Anknüpfen konnte Karl Kraus zunächst einmal an die im Weltkrieg entwickelte Kritik. Indem er damals die Entfesselung gesellschaftlicher Destruktivität aufmerksam beobachtete, antizipierte er etwas von dem Schrecken, der sich nun potenzierte. Der Gesamteindruck, den er 1933 vom Geschehen in Deutschland empfängt, ist ein apokalyptischer, und damit begründet er die Schwierigkeiten, vor die er sich als Zeitkritiker gestellt sieht  : Daß der Tod, dem Schlagwort entbunden, die erste und letzte Wirklichkeit ist, die das politische Leben gewährt – wie würde dies Erlebnis schöpferisch  ? Das Staunen vor der Neuerung, die mit der Elementarkraft einer Gehirnpest Grundbegriffe vernichtet, als wären schon die Bakterienbomben des entwickelten Luftkriegs im Schwange – könnte es den Sprachlosen ermuntern, der da gewahrt, wie die Welt aussieht, die sich beim Wort genommen hat  ? Rings nichts als Stupor, Gebanntsein von dem betörenden Zauber der Idee, keine zu haben. Von der Stoßkraft, die den geraden Weg nahm von keinem Ausgang zu keinem Ziel. Von der Eingebung des Vierjahrtausendplans, daß das menschliche Paradies gleich hinter der Hölle des Nebenmenschen anfängt und alles Leid dunkler Ordnung, mit Begriffen wie Transfer und Rediskont, sein Ende hat in einem illuminierten Chaos  ; in dem chiliastischen Traum entfesselter Millennarier  : Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos, Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen, von allem, was es schon und nicht mehr gibt  !5

5 Dritte Walpurgisnacht, S. 33f.

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Den „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner), den eine auf die Formel der Vernichtung6 gebrachte Ordnung bedeutet, unterschätzte der Autor der Fackel also keineswegs. Wenn er sich gleichwohl wie durch ein Déjà-vu an den Ersten Weltkrieg erinnert fühlt, so setzt er die damalige historische Situation nicht der von 1933 gleich, wohl aber benennt er diejenigen Elemente der Gesellschaft, des politischen Handelns und der Propaganda, die auf eine Affinität des deutschen und deutschösterreichischen Weltkriegsimperialismus zum nazistischen hindeuten. Einige besonders signifikante Verbindungslinien, in denen die Radikalisierung der in der Kriegsfackel diagnostizierten Fehlentwicklungen durch die Nazis erkennbar ist, gilt es im Folgenden auf der Basis der Dritten Walpurgisnacht zu erörtern. Hatte der Nörgler in den Letzten Tagen der Menschheit zu bedenken gegeben, die Ausstattung des Militärs mit politischen Befugnissen bedeute, den Bock zum Gärtner zu machen,7 so stellt der von Kraus als Gangsterherrschaft8 charakterisierte Nazi-Staat samt seinen zur Legitimation des Terrors erlassenen Verordnungen und Gesetzen eine Potenzierung dieses Widersinns dar. Die Propaganda nimmt infolgedessen einen extrem zynischen Charakter an, und das erwähnte Déjà-vu ist zuallererst „das ‚Dejavu‘ jener verfolgenden Unschuld, der Einheit von Schuld und Lüge, wo die Tat zum Alibi wird und der Greuel zur Glorie – ‚das glaubst du von mir  ?‘ fragt der Täter und verfolgt den Zeugen wegen Propaganda“.9 Die konstatierte Ähnlichkeit der Kommuniqués ist in einem Ausnahmezustand begründet, der dem Staat eine weitreichende Kontrolle der Medien ermöglicht. Der Nationalsozialismus hat mit anderen faschistischen Gesellschaften gemein, dass in ihm faktisch der Ausnahmezustand in Permanenz10 verhängt wird, ohne dass ein Kriegs- oder Katastrophenfall vorliegen muss. Indem die Herrschenden auf diese Weise die Kontrollinstanzen der parlamentarischen Demokratie und die relativ autonomen Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit außer Kraft setzen, ermöglichen sie weitreichende Formen staatlicher Kriminalität, sistieren die Kriterien   6 L.c., S. 23   7 Die letzten Tage der Menschheit, S. 85   8 Vgl. dazu Irina Djassemy  : Productivgehalt, S. 379f.   9 Dritte Walpurgisnacht, S. 28f., vgl. zur „verfolgenden Unschuld“ in der Außenpolitik S. 194. In seinem letzten publizierten Text wird Kraus die nazistische Einheit von Tat und Lüge als „Heuchelmord“ bezeichnen (F 917, S. 102), weil zur Heimtücke des Meuchelmordes die vorweg außer Frage gestellte Unschuldslüge hinzutritt. 10 Vgl. zum permanenten Ausnahmezustand des NS-Staats in der Perspektive kritischer Theorie  : Gerhard Scheit  : Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004, S. 74–84 und S. 348–355 sowie die dort zitierte Literatur.

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ihrer Verurteilung und ersetzen verschleiernde Ideologie durch eine Kombination von offener Lüge und wahnhafter Gewaltlegitimation. Die Dritte Walpurgisnacht dokumentiert, obwohl sie in den ersten Monaten der Nazi-Herrschaft und somit lange vor der Einrichtung von Vernichtungslagern entstanden ist, wie im Handeln und in der öffentlichen Rede jede Form von Scham und Gewissen suspendiert wird, sodass der blinden Gewalt keine zivilisatorischen Grenzen mehr gesetzt sind. Sprache wird nur mehr missbraucht, um sich gegen Einwände und Vorwürfe lückenlos abzudichten, wobei – ähnlich wie in der Kriegspropaganda – Logik und Argumentation durch den Grundsatz ersetzt werden, die Regierung sei stets gegen ihre Gegner im Recht. Diese Regression der öffentlichen Rede wird von ihren Protagonisten kulturdeterministisch als deutsche „Mentalität“11 und rassistisch als „arische“ Weltanschauung der Diskussion entzogen. Auch die nationalistische „Sprachreinigung“ kehrt in Gestalt einer Jagd auf Fremdwörter wieder, mit ähnlich skurrilen Neologismen, aber auch mit solchen, die den veränderten politischen Strukturen Rechnung tragen, wie der Vorschlag, das Wort Reichskanzler durch Reichsführer zu ersetzen und den Reichspräsidenten gleich ganz abzuschaffen. Die schon im Weltkrieg diagnostizierte Magie, die von neuen Abkürzungen und synthetischen Namen ausgeht, entfaltet auch in den Bezeichnungen nazistischer Institutionen ihre einschüchternde Wirkung.12 Vollends begeben sich Propagandagedichte, wie sie im Weltkrieg ja auch von namhaften Schriftstellern produziert wurden, ihres ästhetischen und ihres kognitiven Anspruchs. In seiner parodistisch-literaturkritischen Rezeption von Nazi-Gedichten13 zeigt Kraus, dass traditionelle Ideologiekritik, Satire und Polemik ihren Gegenstand verloren haben, wo nur mehr „die pure Indignatio den Vers macht“.14 Doch nicht nur sprachliche, sondern auch visuelle und auditive Dokumente rufen die Schrecken des Weltkriegs in Erinnerung. Den gleichen Verbrecherstolz, der die Verbreitung jener Fotografie der Battisti-Exekution als Postkarte motivierte, erkennt Kraus in der Verbreitung von „parteioffiziellen Ansichtskarten“ mit gedemütigten Verfolgten und ihren Peinigern wieder, die in der Dritten Walpurgisnacht zu Allegorien des Nazismus werden. Nach dem „Judenboykott“ am 1.4.1933

11 Dritte Walpurgisnacht, S. 179 12 Exemplarisch  : l.c., S.  129, S. 188–198 13 L.c., S. 58–62 14 L.c., S. 60

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„fanden auch noch die parteioffiziellen Ansichtskarten Nachfrage, die etwa die Szene vorführten, wie der brave SA- Mann in Ausübung seiner harten Pflicht vor dem Laden stand, auf dessen Fenster geschrieben war  : Dir Judensau sollen die Hände abfaulen  ! Oder wie ein invalider Arbeiterführer, Herzensgüte, Scham, Angst und Ergebung im Gesicht, gefolgt von zivilem und bewaffnetem Janhagel, in einem Hundekarren geführt wird. Oder wie ein Münchner Anwalt, der bei der Polizei wegen der Verschleppung seines Klienten angefragt hatte, mit abgeschnittenen Hosen und einer Tafel an der Brust  : Ich bin Jude, aber ich will mich nicht über die Nazis beschweren von radfahrenden Spukgestalten eskortiert wird. (Ins Konzentrationslager, wo dann die Erschießung auf der Flucht erfolgte.) Seitdem insbesondere diesem Bildnis im Ausland – welches ihm den Titel gab  : Retour au moyen age – die Werbekraft des Gruppenbildes derer um den Battisti-Leichnam zuerkannt wurde, soll die Schaustellung nationaler Trophäen gehemmt worden sein, indem sich doch die Erkenntnis einer Mitschuld an der Greuelpropaganda durchrang. Es heißt, daß nicht nur mit dem Kitsch aufgeräumt wird, sondern auch mit den seriösen Erzeugnissen der photographischen Aufnahme von Einzelaktionen, die geeignet wären, der Außenwelt ein falsches Bild zu vermitteln.“15

Warum die öffentliche Verbreitung solcher Bilddokumente später einer strengeren Selektion unterlag, macht Kraus in dieser Passage ironisch klar  : Die Gräueltaten sind so barbarisch, dass sie sich angesichts ihrer Ablichtung kaum noch beschönigen lassen und stattdessen jenes richtige Bild der Barbarei bestätigen, das aus taktischen Gründen von den Herrschenden als das falsche denunziert wird. Innenpolitisch sind sie zwar für die Propaganda insofern von Nutzen, als sie den Tätern als Ansporn, den Passiven als Warnung, den potenziellen Opfern als Drohung und Verhöhnung jene Akte der Demütigung vor Augen führen, außenpolitisch stellt sich aber für den verbrecherischen Staatsapparat das Problem, dass sie sich im Vergleich zu Textdokumenten 15 [Kraus, Karl  : Dritte Walpurgisnacht. Karl Kraus  : Schriften, S. 8157 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 12, S. 63)] . Die Euphemismen „Greuelpropaganda“ und „Einzelaktionen“ sind sarkastisch verwendete Zitate aus der NS-Presse.

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schwerer dementieren lassen. Es ist somit kein Gefühl der Scham oder auch nur das Bewusstsein, gegen moderne Rechtsnormen zu verstoßen, das die Verbreitung von Fotographien mit den entsetzlichsten Verbrechen verhinderte, sondern das Bestreben, die Verleugnung der Gewalttaten bei Bedarf zu erleichtern. Ähnlich verräterisch wie diese bildlichen Selbstdarstellungen sind Tondokumente, in denen misshandelte „Schutzhäftlinge“ auch noch stereotyp zu bekräftigen gezwungen werden, sie hätten sich über nichts zu beklagen. Eine solche, nach Kraus unter dem Titel einer „zwanglosen Unterhaltung mit Schutzhäftlingen“16 nicht nur „zwischen den stündlichen Rationen von Phrasengebell und Tanzmusik“ gesendete, sondern auch auf Schallplatte reproduzierte Aufnahme, in der vor allem „eine furchtbare Geräuschpause“ von den Konsequenzen unerwünschter Antworten zeugt, wird in der Dritten Walpurgisnacht beschrieben und in ihrer Ambiguität (als beschönigende Propagandalüge und als Selbstentlarvung) diskutiert  : Kraus fragt sich, „ob die Stupidität mehr aktiv oder passiv beteiligt, ob solche Spekulation [auf den manipulativen Erfolg] bloß satanisch schamlos oder auch bodenlos dumm war.“17 Diese Art von Propagandasendungen kann aus heutiger Perspektive als Vorstufe zu späteren pseudodokumentarischen Nazi-Rundfunkproduktionen wie dem berüchtigten Theresienstadt-Film angesehen werden  ; darüber hinaus scheint sie gerade in Gestalt jener Ambiguität ein für faschistische Regimes im Allgemeinen typisches Element der politischen Psychologie zu enthalten. Gelogen wird nicht einfach, um rechtswidriges, menschenverachtendes staatliches Handeln zu vertuschen, sondern um es zwecks Selbstverherrlichung zu verleugnen und zugleich zynisch durchblicken zu lassen, mit welchen Konsequenzen diejenigen zu rechnen haben, die sich dieser Propaganda entgegenstellen. Anzumerken ist dabei im Hinblick auf die Dialektik von Kontinuität und Bruch, dass sich die Mischung aus Lüge und Zynismus auch in den regierungskonformen Medien der prä- und postfaschistischen Gesellschaft findet, dass aber jene im Faschismus so bedrohliche Einheit von systematisierter Gewalt und zynischer Lüge in der demokratischen Gesellschaft allenfalls einen Ausnahmefall bildet. Eine versteckte Selbstreferenz, die auf die Kritik an der deutschen und österreichischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg rekurriert, findet sich im Gebrauch der Wörter Knecht/knechtisch. Hatte der Nörgler in den Letzten

16 Dritte Walpurgisnacht, S. 228 17 L.c., S. 229  ; vgl. F 890, S. 273

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Tagen der Menschheit beklagt, dass dem Knecht Gewalt gegeben sei,18 und Kraus selbst im Nachruf die militärische Befehlshierarchie scharf verurteilt,19 so muss er nun erkennen, wie autoritäre Gewalt in Gestalt des freigegebenen Terrors und des „Führerprinzips“ als strukturelles auf die gesamte deutsche Gesellschaft ausgeweitet wird. Bereits in der Eingangspassage heißt es hierzu  : „knechtischer Befehl bricht in Leben, Freiheit und Besitz, denn ihm sind Gesinnung und Geburt verantwortlich.“20 Während ein Knecht Befehle gewöhnlich empfängt und nicht gibt, zeigt das Wort vom knechtischen Befehl an, dass in der faschistischen Gefolgschaft die Knechte sich als Herren fühlen können, weil ihnen Verfügungsgewalt über andere, hier  : über politisch und rassistisch Verfolgte, gegeben ist. Eine weitere Textpassage21 betont mehr die neue Hierarchie in der nazifizierten Ingroup. Im Kontext der Bücherverbrennung zitiert Kraus Verse von Platen und Hölderlin (sowie ein kritisch gewendetes Wort von Nietzsche), die, wie die Faust-Zitate, durch das Zeitgeschehen eine neue Bedeutung erhalten. Neben dem bekannten Passus Hyperions über die deutschen „Barbaren“, den Kraus schon im Weltkrieg aus einem Studentenflugblatt zitiert hatte,22 führt er u.a. jene Strophe aus Platens 62. Sonett an, die das Wort vom „Volk der Knechte“23 enthält. In Anknüpfung daran nennt Kraus die Bücherverbrennung ein „Fest des Volks der Knechte“,24 zu dem Letztere sich allerdings gegenseitig durch ein Kommando hinbeordern, wie der zitierte Brief an das Professorenkollegium der Frankfurter Universität belegt, in dem der Rektor eine recht nachdrückliche Einladung zur Bücherverbrennung durch das Studentenfreikorps an die Professoren weiterleitet und sich ihr anschließt. Deutlich wird hier, dass die traditionellen Autoritätsstrukturen teilweise außer Kraft gesetzt sind, aber nicht durch eine emanzipatorische Transformation der gesellschaftlichen Institutionen, sondern durch eine im Vergleich zur alten weitaus irrationalere und gefährlichere, die nazistischen Organisationen pri18 Die letzten Tagen der Menschheit, S. 85  ; vgl. zum ganzen Satzgefüge Stremmel, S. 121–123. 19 Vgl. Kapitel 2 der vorliegenden Studie. 20 Dritte Walpurgisnacht, S. 16 21 Literarisch reizvoll ist hier das Montageverfahren, in dem die verwendeten Zitate zwar zum überwiegenden Teil explizit benannt und grafisch abgesetzt werden, vermittels der Überleitungssätze von Kraus mit ihren eingeschöpften Zitaten und ihren lexikalischen Referenzen aber eine neue, dichtgefügte Textur entsteht, die die Montage der Collage anähnelt. 22 F 462, S. 81. Auf die literarischen Referenztexte verweist bereits Stremmel, S. 146f. 23 Dritte Walpurgisnacht, S. 150  ; August Graf von Platen  : Werke in zwei Bänden. Band 1  : Lyrik. München 1982, S. 400 24 Dritte Walpurgisnacht, S. 150

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vilegierende, neue Hierarchie. Die entfesselten Möglichkeiten, anderen Menschen Schaden zuzufügen, bieten autoritärer Aggression und Unterwürfigkeit, Machtstreben und „Kraftmeierei“ ein weites Betätigungsfeld. Während die früheren literarischen Darstellungen des autoritären Charakters in Heinrich Manns Untertan und Joseph Roths Spinnennetz die Sicherheit hervorheben, die eine hierarchische Befehlsstruktur dem beschädigten Subjekt bietet, lässt die Dritte Walpurgisnacht in Passagen wie dieser eher die Desintegration erahnen, von welcher der in rivalisierende Organisationen zerfallene NS-Staat trotz seiner totalitären Tendenzen geprägt ist. So bezieht sich Kraus im Gesamttext immer wieder auf rasch wechselnde Direktiven aus der Regierungsspitze und auf eine schwankende Einstellung höherer Stellen zu den antisemitischen „wilden Aktionen“ der SA  ; eine Praxis, die zur Folge hat, dass selbst die Täter – von den Opfern und den anderen Beherrschten ganz zu schweigen – oft nicht sicher sein können, ob ihr Tun von der politischen Führung (noch) gebilligt wird.25 Diese strukturelle Verunsicherung wird das allgemeine faschistische Klima von Angst und Aggressivität nicht unerheblich gesteigert haben. Durch die von Kraus entwickelten satirischen und polemischen Verfahren – Kontrastierung / Konfrontation  ; vorgebliche Naivität des satirischen, spontane Artikulation von Erschütterung und Zorn des polemischen Autorsubjekts  ; erkenntnisfördernde Wortspiele – gelingt es, diesen ins Extreme gesteigerten Zynismus des Gewaltregimes der Lektüre-Erfahrung zugänglich zu machen und mit ihm die radikale Suspension von Scham und Gewissen, diskursiver Logik und sprachlicher Verantwortung, insgesamt die organisierte Regression in Sprache und Handeln. Aufgrund des hohen Bevölkerungsanteils von Menschen, die eine mittlere Anfälligkeit für faschistische Proganda aufweisen, ist diese Form des Bewusstmachens trotz des tendenziellen Selbstverrats ihres Objekts keineswegs überflüssig. Denn die Dritte Walpurgisnacht schult, wie alle Krausschen Schriften, ihre Rezipienten darin, die Signale des Selbstverrats als solche adäquat zu deuten, etwa die Bedeutung jener Geräuschpause oder der ängstlichen Formulierungen in Todesanzeigen oder der Euphemismen wie „Schutzhaft“ und „auf der Flucht erschossen“ zu erfassen.26

25 Da dieser Aspekt des Terrorregimes in der Geschichtswissenschaft seit der Goldhagen-Debatte vor allem im Hinblick auf die Shoah große Beachtung gefunden hat, wird an dieser Stelle auf einzelne Literaturangaben zur Bestätigung und Ergänzung der Krausschen Beobachtungen verzichtet. 26 Vgl. die Zusammenstellung von Euphemismen für gewalttätige Übergriffe  : Dritte Walpurgisnacht, S. 170.

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Es sind Wahnschaffes Kinder, die vorerst in Deutschland ihre Scheiterhaufen errichten und bald schon für den nächsten Krieg exerzieren.27 Gleichsam aus der neugotischen Villa ihres Vaters in eine neusachliche übersiedelt, deren schwarzweißrotem Fahnenschmuck nun ein Hakenkreuz appliziert wurde, vollenden sie die Praxis der „verfolgenden Unschuld“ in allen Bereichen und ohne Limit. Ihr Tonfall ist der alte,28 ihr Vokabular wurde aktualisiert  : die depravierte Romantik zur „stählernen“ (Goebbels) verhärtet, expressionistische Anleihen zum vielseitigen Surrogat für die durch Anti-Intrazeption deformierte Gefühlswelt präpariert, sogar psychoanalytische Begriffe werden antizivilisatorisch missbraucht. Wenn Kraus spöttisch zitiert, Hitler habe den „Minderwertigkeitskomplex“ der Deutschen beklagt,29 dann fällt er auf die perfide Propaganda des Größen- und Verfolgungswahnsinnigen nicht herein, da seine eigene Analyse deutlich macht, dass es reale Defekte sind, die das faschistische Regime unterstützen („Defektrache“)30  : Kein bloßes Gefühl der Inferiorität, sondern wirkliche Beschädigungen bilden die psychologischideologischen Syndrome, die zu Antriebskräften der politischen Gewalt werden. Kraus erkennt die an die Dolchstoßlegende und an den Versailler Vertrag geknüpften Revanchegelüste als das, was sie sind  : zentrale Bestandteile der Nazi-Propaganda, die helfen, über die deutsche Kriegsschuld hinwegzutäuschen. Er selbst macht deshalb keineswegs einen durch den Versailler Vertrag zugefügten „blow to national pride“ für die Dynamik des Nazismus verantwortlich, wie Timms behauptet,31 sondern beklagt im Gegenteil, dass es „keine sichtbare Niederlage mit moralischer Wirkung“ gegeben habe, dass die Niederlage im Weltkrieg die Einsicht nicht förderte, weil sie „einer aufs Emblem gerichteten Denkart kein Sinnbild des Ausgangs hinterließ“.32 Gerade an die Niederlage und ihre Akzeptanz hatte der Autor der Fackel durch die Kriegsjahre hindurch seine einzige Hoffnung geknüpft. In der Nachkriegszeit verurteilte er das gespenstische Weiterwirken eben jenes „Zeitgeistes“, der den Krieg hervorgerufen hatte, in Mitteleuropa und auch bei den Siegermächten. Das Hauptproblem sieht Kraus darin, dass der deutsche Nationalismus sich als der „prinzipielle Sieger“ fühlen konnte, und erst auf dieser Basis war es

27 Dritte Walpurgisnacht, S. 311, zur Erweiterung der Textstelle siehe dort den Subtext aus F 890. 28 L.c., S. 55 29 L.c., S. 55 30 L.c., S. 311 (im Subtext aus F 890 zitiert) 31 Edward Timms  : Apocalyptic satirist, vol.2, S. 511 32 Dritte Walpurgisnacht, S. 88

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dann möglich, die Dolchstoßlegende und „das Luftgebilde von Reparationen, die niemals an den realen Schaden hinangereicht hätten“ propagandistisch auszunutzen. Kraus spricht in diesem Kontext von einem „Arsenal der Lüge“, weil nun alle ökonomischen Probleme auf die Reparationen abgewälzt wurden, für die die Repräsentanten der kriegstreibenden Kräfte wiederum den „inneren Feind“, die Sozialdemokratie, verantwortlich machten, und er verweist auf die (ungleich härteren) „Bedingungen, die ein deutscher Sieg der Welt, materiell und gar kulturell, auferlegt hätte.“33 Die Rede vom Minderwertigkeitskomplex im Hinblick auf den beschädigten deutschen Nationalstolz zurückzuweisen, ist deshalb so wichtig, weil dieses Ideologem, das vor der deutschen Wiedervereinigung ausschließlich von Rechtsextremen bemüht wurde, seither als Bestandteil eines erstarkenden Nationalismus an Verbreitung gewinnt. Problematisch war in Deutschland aber nie ein Defizit an Nationalstolz, sondern dieser selbst,34 und dessen geistige Physiognomie in Figuren wie Wahnschaffe kenntlich gemacht zu haben, ist nicht das geringste von Kraus’ Verdiensten. In der Dritten Walpurgisnacht zeigt er, wie die „verfolgende Unschuld“ – nun ohne jede Beschränkung durch Gesetz und Gewissen – im Namen der deutschen Nation die Verfolgung ihrer politisch oder rassistisch definierten „Feinde“ aufnimmt.

Die Rache der deformierten Natur Besondere Beachtung verdient im Kontext der vorliegenden Studie der Gedanke von Karl Kraus, dass im Nazismus die durch Unterdrückung deformierte Natur an der Zivilisation sich rächt, und zwar mit deren eigenen Mitteln. Weil dieses Denkmotiv in der Rezeption häufig missverstanden wurde, muss hervorgehoben werden, dass Kraus für diese Version einer Rebellion der Natur keinerlei Sympathie aufbringt  : Der „Instinkt der Vandalen“ ist „so gottverlassen wie naturnah“35  ; nicht die beseelte Natur, die nach Versöhnung mit der Zivilisation strebt, kommt hier zur Geltung, sondern die mit Herrschaft verbündete Bestialität. Die Bezeichnung des Nazismus als „Naturereignis“ bzw. als 33 Alle Zitate ibid. Zehn Seiten vorher wird Spenglers Beschwerde über zu harte Friedensbedingungen von Kraus mit dem Hinweis auf ein gewaltverherrlichendes Zitat aus Untergang des Abendlandes zurückgewiesen (l.c., S. 77f.). 34 Vgl. dazu bei Adorno exemplarisch  : Stichworte, S. 102  ; Eingriffe, S. 126ff, S. 136ff., S. 165ff. 35 L.c., S. 116

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„Elementarereignis“36 knüpft zunächst an dessen affirmative Darstellung in der Presse an, um sie kritisch gegen ein todbringendes Regime zu wenden  : denn es „[…] weckt das Naturereignis, sowohl durch seine Intensität wie insbesondere durch seine Organisation, nebst ehrfürchtigem Staunen jenes Bedenken, das der irdische Trieb der Selbsterhaltung allem Gottgewollten entgegenstellt […].“37 Das angeblich Gottgewollte (es handelt sich dabei um eine Anspielung auf das vorangehende Zitat) wird als lebensbedrohliches menschliches Handeln dechiffriert. Der Staat nimmt die aggressiven, dem Sprachgebrauch der Fackel zufolge bestialischen Anteile der menschlichen Natur in seinen Dienst. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint  : die Rede vom organisierten Naturereignis, ist in dieser Indienstnahme begründet. Dieser Gedanke bildet wenige Jahre später ein zentrales Element der Nazismus-Analyse von Horkheimer und Adorno, denen die Krausschen Überlegungen schon vor der Publikation der Dritten Walpurgisnacht aus der im Juli 1934 publizierten Fackel Nr. 890 bekannt waren, welche die hier zitierten, für das Naturproblem relevanten Textpassagen als Selbstzitate enthält.38 Im Kapitel seiner Kritik der instrumentellen Vernunft über die Revolte der Natur schreibt Max Horkheimer  : „Im modernen Faschismus hat die Rationalität eine Stufe erreicht, auf der sie sich nicht mehr begnügt, einfach die Natur zu unterdrücken  ; die Rationalität beutet jetzt die Natur aus, indem sie ihrem eigenen System die rebellischen Potentialitäten der Natur einverleibt.“39 Der gesellschaftliche Prozess der Rationalisierung nimmt, indem er Herrschaft überflüssig macht und trotzdem steigert, einen irrationalen Charakter an  : „Widerstand und Aufbegehren, wie sie aus der Unterdrückung der Natur erwachsen, haben die Zivilisation seit ihren Anfängen bestürmt […]. Typisch für unsere gegenwärtige Ära ist die Manipulation dieser Revolte durch die herrschenden Kräfte der Zivilisation selbst, die Benutzung der Revolte als Mittel zur Verewigung eben jener Bedingungen, durch welche sie hervorgerufen wird und gegen die sie sich richtet. Zivilisation als rationalisierte Irrationalität integriert die Revolte der Natur als ein weiteres Mittel oder Instrument.“40 Der durch Herrschaft erzeugte Druck reproduziert diese „rationalisierte Irrationalität“ in den einzelnen Menschen  : „Ihr ganzes Leben ist eine fortwährende Anstrengung, die Natur zu unterdrücken und zu 36 L.c., S. 20, S. 306 37 L.c., S. 20 38 F 890, S. 140, S. 156, S. 164 39 Max Horkheimer  : Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 19–186, Zitat S. 130 40 L.c., S. 107

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erniedrigen, nach innen oder nach außen, und sich mit ihren mächtigen Surrogaten zu identifizieren – mit der Rasse, dem Vaterland, dem Führer, mit Cliquen und der Tradition. Für sie bedeuten alle diese Worte dasselbe – die unwiderstehliche Realität, die geehrt und der gehorcht werden muß. Jedoch führen ihre eigenen natürlichen Impulse, die den verschiedenen Forderungen der Zivilisation gegenüber antagonistisch sind, in ihnen ein deformiertes, unterirdisches Leben.“41 Faschistische Gesellschaften im Allgemeinen und die nazistische im Besonderen bieten nun vielfältige Möglichkeiten, diese deformierten Impulse auf der irdischen Oberfläche auszutoben. Während die kritische Theorie diesen Umstand philosophisch und gesellschaftstheoretisch reflektiert, stellt ihn die Dritte Walpurgisnacht in ebenso frappierender wie erschütternder Detailgenauigkeit anhand unzähliger Einzelfälle dar. Dabei werden alle schon in den ersten Monaten des NS-Regimes verfolgten Opfergruppen berücksichtigt, was angesichts der partikularisierten Gedächtniskultur seit der Nachkriegszeit als Mahnung zur respektvolleren Würdigung der jeweils Anderen fungieren könnte und sollte. Die, so Kraus, „Blutberauschung einer erweckten Betriebswelt“42 ermöglicht der deformierten Natur „viehische Formen der Entschädigung“43. Im Anschluss an einen längeren Abschnitt, in dem Kraus Berichte von Quälereien und Demütigungen in Konzentrationslagern mit der beschönigenden Darstellung der Lager in der Nazi-Propaganda konfrontiert, kennzeichnet er die Gewalt als sadomasochistische (ohne diesen Ausdruck explizit zu verwenden)  : Die Welt traue Deutschland „diese erfinderische Phantasie, diesen Reichtum an immer neuen Formen der Quälerei und Erniedrigung, diese Romantik der Menschenschändung“ nicht zu und wage nicht den Blick in „ein Inferno, wo Erdulden jeglicher Art, Schmerz und Blut, die gräßliche Lust dieser Schinder erhitzt“, wo eine fanatisierte Jugend die „Verbindung von Qual und Wonne erlebt und behält“.44 Neben den triebhaften Dimensionen dieser „Orgie in Blut und Kot“45 erkennt Kraus die deformierte innere Natur auch in der Verfolgung von jüdisch-nichtjüdischen Liebespaaren46 sowie in der enterotisierten Zurichtung der deutschen Frau47 durch staatliche Organisatio-

41 L.c., S. 123 42 L.c., S. 68f. 43 L.c., S. 69 44 L.c., S. 216 45 Ibid. 46 L.c., S. 220–227 47 L.c., S. 217ff., S. 227f.

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nen und eine antisemitische, aber auch antiwestliche Propaganda. Mit Bezug auf jene Nazi-Frauenverbände fragt er  : „Hört da nicht überhaupt das Geschlecht auf  ? Was hin und wieder doch herausdringt, dringt empor und ist Inbrunst“.48 Es folgt ein exemplarisches Zitat, das durch Sperrdruck die deformierten Triebe in der hysterischen Anbetung des „Führers“ als „Retter und Befreier“ kenntlich macht.49 Diese Hysterie ist aber keineswegs auf Frauen beschränkt, vielmehr findet sich gerade die regressiv-infantile Verherrlichung des ‚Retters‘ auch bei männlichen Parteigängern50 (wobei dann möglicherweise unterdrückte homosexuelle Regungen mitwirken51). Im historischen Gedächtnis der Fackel spannt sich auf diese Weise ein Bogen von jenem Innsbrucker KrausVerächter, der den ‚deutschen Heiland‘ ersehnte,52 über die Verehrung Schobers als des „Retters“ des Wiener Bürgertums53 bis zu Hitler und seinen Anhängern auf beiden Seiten der deutsch-österreichischen Grenze. Die frappierende Ähnlichkeit im Duktus deutet auf ein ideologisch-psychologisches Syndrom hin, das unter formaldemokratischen Verhältnissen latent vorhanden und bereit ist, bei einem inszenierten Skandal (Innsbruck 1920), bei einer wirklichen oder vermeintlichen Bedrohung (Wien 1927ff.) oder im Fall der Errichtung einer Diktatur (Deutschland 1933) ungehemmt hervorzubrechen. Auf der Basis der Studien zur Authoritarian Personality ist evident, wie sich die

48 L.c., S. 227f. 49 L.c., S. 228 50 L.c., S. 18 51 Vgl. l.c., S. 218 u. S. 149. Der faschistische Hass auf die Frau als Hass auf Schönheit, Grazie, Natur und Schwäche, wie sie traditionell das bürgerliche Frauenbild kennzeichnen, wird im Anhang der Dialektik der Aufklärung in einen zivilisationsgeschichtlichen Kontext gestellt als Verharren des männlichen Subjekts bei sich und seinesgleichen. Daher auch die Idolatrie des „edel-schnittige[n] Männergesicht[s]“ und die unterwürfige Zuneigung zum faschistischen Führer (Mensch und Tier, in  : Dialektik der Aufklärung, S. 277–287, hier v.a. S. 284f., Zitat S. 284). Der Juliette-Exkurs enthält ebenfalls Erhellendes zu diesem Problem, er kündigt aber zugleich Horkheimers konservative Wende in Gender- und Familienfragen an. – Vgl. zur Funktion homoerotischer Tendenzen für die Rechtsradikalen  : Hans-Peter Rüsing  : Die nationalistischen Geheimbünde in der Literatur der Weimarer Republik. Frankfurt/M. 2003, S. 46–56 (im Kontext von Joseph Roths Spinnennetz), sowie den auch bei Rüsing zitierten Beitrag von Nicolaus Sombart  : Männerbund und politische Kultur in Deutschland, in  : Joachim H. Knoll/Julius H. Schoeps (Hg.)  : Typisch deutsch  : Die Jugendbewegung, Opladen 1988, S. 155–176. 52 F 531, S. 61f. 53 Exemplarisch  : F 811, S. 24, S. 28 (in  : Pflicht, S. 21–29  ; vorangestellt ist die Rede Vom Zörgiebel, die sich auf eine Berliner Parallele zum Wiener 15. Juli bezieht) und F 827, S. 1–3 (in  : Die Unüberwindlichen, S. 1–41)

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autoritäre Unterwürfigkeit gegenüber der Retterfigur mit diversen, sonst verstörenden Impulsen verbindet  : Angst, unbefriedigte Sexualtriebe und Aggressivität kanalisieren sich in der affektiven Besetzung dieser Figur und erleichtern zugleich die Identifikation mit dem nationalen Kollektiv. Daher rührt auch der inflationäre Gebrauch des Wortes Treue als einer politischen Kategorie, den Kraus mit der Schoberwelt in Beziehung setzt.54 Im Faschismus ergänzt mithin die masochistische Unterwerfung unter den „Führer“ die sadistische Verfolgung und Diffamierung der Ausgegrenzten  ; das eigene, mit Grund als unzulänglich empfundene Ich wird ebenso ausgelöscht wie das fremde, und die Fluchtpunkte des Selbstopfers auf der einen, der Vernichtung auf der anderen Seite erscheinen am Horizont. Die sadomasochistische Triebdynamik für den Faschismus verantwortlich zu machen, wäre indessen ebenso falsch, wie sie ahistorisch als anthropologische Konstante zu verallgemeinern und zu verharmlosen. Denn einerseits sind es nicht psychologische, sondern politische und ökonomische Kräfte, die faschistische Regimes wie das nazistische aus durchaus kalkulierten Gründen an die Macht bringen, und andererseits wird die psychologische Konstellation, die diesen Regimes eine massenhafte Unterstützung sichert, durch die soziokulturellen Institutionen erst hervorgebracht. Da es ein ganzes Ensemble von Versagungen ist, dessen Druck in einer durch Herrschaft geprägten Zivilisation die innere Natur zu dieser Art der „Rebellion“ treibt, genügt zur Befriedung weder sexuelle Befreiung, wie insbesondere im Anschluss an Wilhelm Reich postuliert wurde, noch demokratisierte Erziehung, wie von der revisionistischen Psychologie und von der Reformpädagogik erhofft. Beides kann zwar den Druck vermindern, aber nicht verhindern, dass die dem Subjekt und seiner bewussten Kontrolle entzogenen gesellschaftlichen Mechanismen, die strukturelle Feindseligkeit in Konkurrenzverhältnissen, die zunehmende Überflüssigkeit menschlicher Arbeitskraft, der in Familie, Schule und Kulturindustrie ausgeübte Anpassungsdruck – um nur wenige zentrale Faktoren zu benennen – weiterhin Angst und Aggressivität produzieren, sodass die Menschen zu unbelasteten Objektbeziehungen, wie sie psychologisch erwünscht wären, auch ohne unmittelbare Repression kaum fähig und entsprechend geneigt sind, jene Surrogate der Natur zu akzeptieren. Überdies sind die Formen sexueller und pädagogischer Liberalisierung infolge der sozialen Verhältnisse, unter denen sie sich vollziehen, so verzerrt, dass sie neue psychologische Bedrohungspotentiale hervorbringen (daher Herbert Marcuses Begriff

54 Dritte Walpurgisnacht, S. 174f.

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der repressiven Entsublimierung)55, während ein notwendiges Minimum gelungener Sublimierung bei gleichzeitiger Entfaltung des Eros durchaus kulturfördernd wäre. Erst sie könnte die Versöhnung von Zivilisation und Natur im Subjekt vermitteln, wohingegen die barbarische Rebellion der deformierten Natur zugleich gegen die unentstellte sich richtet. Karl Kraus fasst die antizivilisatorischen Kräfte denn auch dialektisch als natürliche und zugleich als widernatürliche56 auf  ; in ein und demselben Satzgefüge spricht er vom entfesselten und gereizten Element und vom Aufstand wider die Natur.57 Der Dritten Walpurgisnacht sind im wesentlich die folgenden Aspekte einer wider die Natur gerichteten faschistischen Praxis zu entnehmen  : antisemitischer Sexualhass, Grausamkeit gegen den fremden Körper bis hin zum Mord, Zurichtung des eigenen Körpers für faschistische Zwecke, Verstöße aller Art gegen das „Naturrecht“ als von Gott empfangenes Menschenrecht (das Recht der Kreatur auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit sowie intellektuelle und künstlerische Entfaltung). Auch wenn man den Begriff des Naturrechts philosophisch und politikwissenschaftlich als unhaltbar ansieht, muss konzediert werden, dass diese – bei Karl Kraus überdies sehr vage – Vorstellung in der Fackel immer wieder mit präzisen Einsichten verknüpft war  : mit der Verteidigung weiblicher Sexualität, mit dem Protest gegen die technischen und ökonomischen Destruktivkräfte im Krieg und gegen die in gesellschaftlicher Ungleichheit wurzelnde Verelendung nach dem Krieg. Obwohl der Begriff in der Dritten Walpurgisnacht nicht vorkommt, bildet die mit ihm verknüpfte Idee implizit eine zentralen Bezugspunkt der Verurteilung des Nazismus, etwa, wenn der nationalistisch und rassistisch beschränkte Freiheitsbegriff der Nazis von Karl Kraus im Namen eines der „Kreatur“ schlechthin innewohnenden Freiheitsstrebens zurückgewiesen wird.58 In der Negation der falschen gesellschaftlichen Praxis und ihrer sprachlichen Legitimation scheint das wahrhaft humane, utopische Potential der inneren Natur auf. So heißt es im Kontext einer Kritik der nazistischen Kommuniqué-Sprache über die (nicht nur sprachliche) Gleichschaltung  : „Sie bedeutet für alle Belange des Daseins einen imponierenden Eingriff in die Natur, die das Ungleiche

55 Herbert Marcuse  : Der eindimensionale Mensch. Darmstadt 1988, S. 76 56 Dritte Walpurgisnacht, S. 275 57 L.c., S. 20 58 Vgl. l.c., S. 62, die letzten drei Zeilen, die die antisemitische Wahnvorstellung einer Beeinträchtigung der Freiheit des deutschen Volkes durch die Juden (S. 61) sprachsatirisch wenden und zugleich auf den Terror verweisen, dem die Verbreitung dieser Wahnideen Vorschub leistet.

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sich gern gesellen läßt, eine schöpferische Vollmacht wie nur jene, die dem Weltkrieg das ‚Menschenmaterial‘ zugewiesen hat. Aber ihr Verfahren, das mit diesem noch weit kürzeren Prozeß macht, greift schon auf die Syntax über und auf jegliche Stilistik der Gedanken, aus deren Inhalt sich solches Gewaltwesen zusammensetzt.“59 Gleichschaltung und Vernichtung sind demzufolge aufeinander bezogen  : Das Tote ist das absolut Identische. Die zwanglose Versöhnung des Ungleichen, eine Idee, die Kraus vor allem am Modell der Beziehung von Geist und Geschlecht entwickelte, ist ein zentraler Bestandteil jener anderen Menschennatur, die gesellschaftlich noch an ihrer Verwirklichung gehindert wird. Indem Kraus das Sprichwort Gleich und Gleich gesellt sich gern abwandelt, negiert er dessen ideologische Implikationen, deren inhumaner Gehalt im Nazismus radikalisiert wird  : Identitätsstreben und Stereotypie, die politisch in der Gleichschaltung, im Zurechtstutzen der einzelnen Menschen schon vom Kindesalter an und im antisemitischen, antislawischen,60 antiafrikanischen, antiziganistischen Rassismus terminieren, auf der Bedeutungsebene wie auch durch das sprachliche Verfahren. Wie mit den Menschen, so wird im Kommuniqué mit den Worten verfahren  : sie werden entweder gleich- oder ausgeschaltet.61 Und zwar werden von solchem „Wortimperialismus“, das macht die ganze Passage deutlich,62 gerade diejenigen Anteile der Sprache ausgeschaltet, die an jenes andere Potenzial der inneren Natur und ihre Versöhnung mit Zivilisation erinnern. Die Sprache, zentrale Vermittlerin allen zivilisatorischen Handelns, wird so zu einer untergeordneten Legitimationsinstanz für die „Bestialität“ degradiert 59 L.c., S. 129 60 Da der Aspekt des antislawischen Rassismus in der westlichen Geschichtswissenschaft weitgehend ignoriert wird, sei an dieser Stelle auf die instruktive Darstellung eines Nicht-Historikers verwiesen, der aber seine Quellen im Gegensatz zu manchem etablierten Geschichtswissenschaftler präzise benennt  : Der Publizist und Schriftsteller Ralph Giordano wies vor knapp 20 Jahren unter dem Titel Der andere Holocaust nach, dass die Praktiken der Judenverfolgung – soweit es der Kriegsverlauf erlaubte – im Rahmen des Generalplan Ost auch auf die als „Untermenschen“ angesehenen Slawen angewendet wurden. Der entscheidende Unterschied zur Shoah besteht allerdings darin, dass die antisemitische Politik auf restlose Vernichtung ausgerichtet war, während die slawische Bevölkerung nach pseudowissenschaftlichen Kriterien in verschiedene Kategorien eingeteilt und auf der Basis dieser Selektion verschiedenen Zwangsmaßnahmen unterworfen wurde (Germanisierung, Versklavung oder Vernichtung). Siehe Ralph Giordano  : Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg. München 1991, S. 153–218. 61 Vgl. Dritte Walpurgisnacht, S. 130 62 L.c., S. 122–143, Zitat S. 130

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(untergeordnet, weil die diktatorische, durch Terror abgesicherte Herrschaft der sprachlichen Legitimation nicht im selben Maße bedarf wie die demokratische). Angesichts der Lügenhaftigkeit der Nazipropaganda empfiehlt Kraus – erst in etwas matter Ironie an den „guten Willen“ appellierend, der preußischen „Naturanlage“ gerecht zu werden, dann aber in einer für die Fackel typischen Steigerung der polemischen Schärfe –  : „Eine gewisse Erleichterung des Verkehrs wäre zunächst schon angebahnt, indem man einfach vorweg annimmt, daß das Gegenteil gemeint sei, wiewohl auch das nicht sicher ist. Wissen wir denn, wie ein Löwe die Dinge sieht  ? Wir können ihn nur nach seinen Taten beurteilen  ; finge er plötzlich an zu sprechen, wer weiß, was für ein Kommuniqué da herauskäme und wie dargetan wäre, sie seien für das Königreich getan worden und im Ethos ihm keins der andern Raubtiere vergleichbar.“63 Die Raubtiermetapher ist somit doppelt motiviert  : erstens durch diktatorische Gewalt und Raub, zweitens durch eine Irrationalität, die diplomatische Kommunikation und immanente Kulturkritik gleichermaßen unmöglich macht. Die regredierte zweite Natur gleicht sich in Bewusstsein und Handeln den finstersten Anteilen der ersten an, mit dem Unterschied, dass die gesellschaftlich Herrschenden ihr regressives Handeln immer noch mit modernen menschlichen Kommunikationsmitteln zu legitimieren versuchen.64 Indem Kraus etliche Detailschilderungen raubtierhafter Untaten zitiert, lässt er eine Ahnung von diesem kaum mehr darstellbaren Albtraumgeschehen entstehen. In seiner eigenen Darstellung reduziert er diese Destruktivität auf ihr Wesen und verdeutlicht so das Charakteristische daran  : die „Verwandlung nackter, auch weiblicher Körper in blutige Fleischklumpen“, 63 Dritte Walpurgisnacht, S. 199 64 Von den beiden Philosophen, die das Raubtier im Menschen verherrlichten, Nietzsche und Spengler, kann nach Kraus v.a. Letzterer insofern vom NS-Regime reklamiert werden, als er dem systematischen Terror „unmittelbar die gedankliche Basis schuf “ (l.c., S. 77). Die Differenz zwischen den beiden Naturphilosophen, denen in der Klassischen Walpurgisnacht in Goethes Faust Homunkulus „auf der Spur“ ist (vgl. das Faust-Zitat l.c., S. 72), Anaxagoras und Thales, und jenen beiden in der Dritten Walpurgisnacht, markiert zugleich die Entwicklung von der Aufklärung zur „Abklärung“ (l.c., S. 67). Dass allerdings die destruktiven Elemente schon in der Antike der Aufklärung innegewohnt haben, zeigt nicht nur der Streit zwischen Anaxagoras und Thales im Faust, sondern auch das Seneca-Zitat in der der Dritten Walpurgisnacht („vivere est militare“, l.c., S. 67), das am Anfang jener satirischen Suche nach einer Legitimation des Terrorregimes durch die Philosophie steht, die nach dem kriegsverherrlichenden Spengler-Zitat (l.c., S. 77) mit einem Verweis auf dessen Abgrenzung von einem biologisch begründeten Rassismus aufgegeben wird. Der nazistische Rassismus findet demnach kein philosophisches, sondern nur ein journalistisches, pseudowissenschaftliches Fundament.

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der „bestialische[n] Hohn der vorgehaltenen Waffe (‚Jud, fürchst dich  ?‘)“,65 sie sind keine kontingenten Verbrechen irgendwelcher Einzeltäter, sondern sie zeigen allegorisch, wie soziokulturell produzierte Deformationen in einer von Hass und Gewalt geprägten kollektiven Praxis zum Ausbruch kommen. Eine Passage in Adornos Negativer Dialektik zeigt, dass diese Konstellation von Vertiertheit, depravierter Kommunikation und blinder Verfolgung von Partikularinteressen für den ‚naturgeschichtlichen‘ Stand der Gesellschaft im allgemeinen gilt.66 Im Stadium der „Fetischisierung von Mitteln als Zwecken“ 67 wenden sich die Mittel gegen das Subjekt und produzieren ein falsches Bewusstsein. Von diesem heißt es nun  : „hätte der Löwe eines, so wäre seine Wut auf die Antilope, die er fressen will, Ideologie.“68 Letztere wird – als Rationalisierung und Projektion der Aggression69 – in der „bewußtlosen“, naturverfallenen Gesellschaft zum Kitt, der dazu beiträgt, Denken und Fühlen der vergesellschafteten Einzelnen in die bestehende Herrschaftsform einzupassen. Dabei kann die Naturwüchsigkeit gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse entweder verleugnet oder aber zynisch affirmiert werden.70 Um beiden Varianten der Reflexionslosigkeit zu begegnen, kommt es kritischer Theorie und avancierter Kunst zu, die gesellschaftlichen Naturverhältnisse, welche die Affinität zum Raubtier im modernen Menschen reproduzieren, kritisch darzustellen.

Zur Konstellation von Antisemitismus und ökonomischer Missgunst Im Kontext dieser Überlegungen zum Zusammenhang von Bestialität und Projektivität wird ersichtlich, warum in der politischen Psychologie des Nazismus der Antisemitismus im Vergleich zu jenen anderen Rassismen eine privilegierte Stellung einnahm. An einer zentralen Stelle nennt Karl Kraus neben 65 beide Zitate l.c., S. 68 66 Theodor W. Adorno  : Negative Dialektik. S. 340–343 67 L.c., S. 343 68 L.c., S. 342 69 L.c., S. 33 70 Letzteres geschieht, wie Adorno zeigt, bei Spengler (vgl. Adornos Essay Spengler nach dem Untergang, in  : Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt 1976, S. 43–67, hier S. 66f.), dessen mephistophelisch-reaktionärer „Geist, der sich verneint und auf die Seite der Gewalt stellt“ (l.c., S. 56), mehr von der Naturhaftigkeit der Geschichte ausplaudere, als einem sich als progressiv verstehenden Konformismus lieb sei.

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„Machtgier und Sklavenlust“ als zweites Begriffspaar die Antriebe „der Habgier und des Neides“, in denen der notdürftig verbrämte Raubzug wurzele.71 Diese Letzteren aber richten sich traditionell bevorzugt gegen die jüdische Bevölkerung. Um den Neid zu rechtfertigen, wird ihre wirkliche oder vermeintliche Überlegenheit als bedrohlich imaginiert  ; um den Raub zu rechtfertigen, wird ihr Eigentum im Gegensatz zu dem der Nichtjuden als unrechtmäßig denunziert. Die Verurteilung dieses Geschäftsneides war, wie gezeigt werden konnte, von Anbeginn ein Motiv der Fackel, auf das ihr Autor nun rekurriert, um die Erkenntnis des „pathologischen Zusammenhangs“72 zu fördern, in dem all diese Motivationen stehen. Selbstreferenziell auf den eigenen früheren Text wie auch fremdreferenziell auf den medialen Kontext und auf die historische Kontinuität verweisend, erinnert Kraus insbesondere an die im vorigen Kapitel erwähnte Glosse mit dem Zitat  : „Warum vadient der Jude schnellerundmehr Jeld als der Christ  ?“,73 und zwar zunächst in jenem einleitenden Abschnitt, in dem das Autorsubjekt voller Selbstzweifel die ersten tastenden Versuche unternimmt, seinen Schockzustand zu überwinden und Anhaltspunkte für seinen Einspruch gegen das monströse Geschehen zu finden. An drei weiteren Stellen kommt er wiederum auf dieses Zitat zurück  : im Kontext des antisemitischen Verfolgungswahns, im Kontext der Verdrängung jüdischer Intellektueller aus dem Geistesleben und im Kontext der Wirtschaftspolitik. Die erste Stelle findet sich in jener parodistischen Literaturkritik, die den Verfall des intellektuellen Anspruchs durch Kontrastierung bewusst macht.74 Indem Kraus die paranoide Phantasie einer Ubiquität der Juden, welche alle Posten besetzt hielten, durch den spöttischen Einwurf unterbricht, die Juden seien eben „schnellerundmehr“ gewesen, verdeutlich er die Wahnhaftigkeit dieser Propaganda. Das antisemitische Wortamalgam wird so als Signatur der pathischen Missgunst kenntlich, einer Missgunst, die ihr Opfer dämonisiert, um seine gewaltsame Verdrängung zu rechtfertigen. Haben sich an diese Form der pathischen Missgunst seit je Verdrängungsund Raubgelüste geknüpft, so können sie nun, als durch die Staatsgewalt positiv sanktionierte, immer ungehemmter ausgelebt werden. Das illustrieren die beiden anderen Referenzstellen. Kraus beobachtet im Pressewesen, dass mancher „Dilettant sich die Lorbeern, die ihn nicht schlafen ließen, mit Hilfe einer 71 Dritte Walpurgisnacht, S. 69 72 L.c., S. 68 73 L.c., .25f. 74 L.c., S. 59

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SA-Kolonne holt. Auch in der Literatur waren Fälle von Schmutzkonkurrenz mit blutigem Ausgang zu verzeichnen. Was da mit zwei tüchtigen Ellbogen, manchmal physisch, dem Übelstand, daß der Jude schnellerundmehr Jeld verdient, entgegenzuwirken trachtet, nennt sich nicht ohne Berechtigung ‚Kampfbund‘, und ganz walpurgisgerecht vollzieht sich diese Neuordnung“ (es folgt ein Faust-Zitat).75 Demnach bildet der pathische Neid das psychologische Korrelat zur Politik einer gewaltsamen Ausschaltung der jüdischen Konkurrenten. Die Konkurrenz als solche ist damit nicht abgeschafft, aber es gelten nicht mehr die über den Markt vermittelten Qualitätsstandards, sondern politische Konformität und Macht. Indem gerade die Errungenschaften der Moderne (Emanzipation der Juden, Vermittlung über den Markt) bekämpft, die bedrohlichen Aspekte der modernen Gesellschaft (Anpassungsdruck, staatliche Kontrolle) jedoch potenziert werden, zeigt sich hier modellhaft die Regressivität dieser Form von Demokratie- und Kapitalismuskritik. Während die Exklusion von jüdischen (aber auch nichtjüdischen oppositionellen) Intellektuellen in kurzer Zeit und ohne Rücksicht auf Rechtsnormen oder Proteste aus dem Ausland durchgesetzt wird, ist die Umstrukturierung des eigentlichen Wirtschaftslebens ein Prozess von Jahren. Kraus reflektiert in einigen Textpassagen die inneren Antagonismen einer Bewegung, die vom Großkapital („[m] it Ach und Krach, mit Krupp und Thyssen“)76 an die Macht gehievt wurde, jenen Drittel-Anteil an Wählerstimmen, der diesem Vorgehen einen legalen Anstrich verlieh, aber durch eine antikapitalistische77 Propaganda erzielt hatte. Es zeichnet sich indessen schon ab, welche Maßnahmen eine Rebellion der antikapitalistischen Anhängerschaft verhindern werden  : einerseits die Entmachtung der SA und andererseits ein antisemitisches Aktionsfeld, um die Enttäuschung zu kompensieren. Jüdische Geschäftsleute, die den mittleren bis unteren Schichten angehören, sind die ersten, an denen sich – damals noch ohne gesetzliche Basis – die Fußtruppen der Nazis, allen voran die SA-Leute, schadlos halten können. Der Antisemitismus fungiert neben dem zu dieser Zeit systematischer und nicht minder terroristisch in die Tat umgesetzten Antikommunismus als gemeinsamer Konsens der verfeindeten Fraktionen innerhalb der Bewegung. Während vor allem am Tag des „Judenboykotts“ Geschäfte jüdischer Inhaber diskriminierend beschmiert worden sind, wurden im Lauf der Zeit immer mehr Geschäfte von Nichtjuden durch ein Schild mit 75 L.c., S. 143, vgl. S. 144 76 L.c., S. 293 77 L.c., S. 289

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Hakenkreuz und Wirtschaftsadler als „deutsche“ markiert.78 Doch jene kleinbürgerlichen Nazis, die das „hundertprozentig in Ordnung“ fanden, weil sie sich dadurch gegen die Gefahr gewappnet fühlten, „daß der Jude schnellerundmehr Jeld verdiene“,79 mussten bald die Erfahrung machen, „daß der Wirtschaftsadler nicht vor dem Pleitegeier schützt“.80 Attraktiver war für den gewissenlosesten Teil der Bewegung deshalb der unmittelbare Raub, unter Umständen in Gestalt des Raubmordes an der jüdischen Konkurrenz. 81 Die geistige Physiognomie der troglodytischen „Mittelstandsmachiavells“ charakterisiert Kraus so  : „Bevor man der Lebensgefahr staatsmännisch gerüsteter Kriminalität bewußt wird, fühlt man sich schon ins Gehirn getreten von der Vorstellung, daß eine Gesellschaft von Postenfanatikern, mißvergnügten Philistern, die sich mit Scherznamen anrülpsen, von ‚Flatterern‘ und Gatterern, von ‚Schweinsköpfen‘, die einander vor dem Futtertrog auffressen, daß solche Sorte das Mittel hat, an dem die Welt genesen soll.“82 Das ideologische Postulat, am deutschen Wesen möge die Welt genesen, hatte den Autor der Fackel schon seit dem ersten Weltkrieg zum sprachsatirischen Spott gereizt, 83 nicht zuletzt wegen des bornierten, abergläubischen, religiös überhöhten Sendungsbewusstseins, das damit verbunden war. Ihm konfrontiert Kraus ein Zitat aus einem in der Reichspost publizierten Dokument österreichischer Nazis, in dem der eigenen Bewegung zu Manipulationszwecken ein „jüdischer Dreh“ empfohlen wird84 – ein Zitat, das seinem Duktus nach den berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ entnommen sein könnte, insofern sie ebenfalls eine antisemitische Wunschphantasie formulieren. 85 Kraus agnosziert darin 78 L.c., S. 288 79 Ibid. 80 L.c., S. 289 81 Exemplarisch  : l.c., S.  73 82 [Kraus, Karl  : Dritte Walpurgisnacht. Karl Kraus  : Schriften, S. 8362 (vgl. Kraus-Schriften, Bd. 12, S. 190)] 83 Da die Referenzstellen in den digitalen Editionen leicht zu ermitteln sind, sei hier nur auf die relevantesten in antinationalistischen Texten verwiesen  : Die letzten Tage der Menschheit (Schr. 10, S. 203)  ; Weltgericht (Schr. 6, S. 171)  ; Innsbruck und Anderes (F 531, S. 12, S. 20)  ; Hüben und Drüben (Schr. 18, S. 187). 84 Dritte Walpurgisnacht, S. 190f., Zitat S. 190 85 Zur Geschichte und zur Konstruktion der ‚Protokolle‘ siehe Jeffrey Sammons (Hg.)  : Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar, Göttingen  : Wallstein, 1998, S. 7–26, S. 115–118. In einer der unmittelbar antisemitischen Textpassagen der reichlich stümperhaften Fälschung heißt es z. B.: „Unsere Losung ist  : Macht und Hinterlist  !“ (S. 34).

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„die bekannte Kulturmischung von Schokolade mit Knoblauch, Gurgelabschneider mit Treublick, Gangster mit Heiligenschein“.86 Die als Abscheu erregend gekennzeichnete Vermischung ist, nach der Theorie des autoritären Charakters, die der konventionalistischen, pseudokonservativen Elemente des autoritären Charakters mit den destruktiven und zynischen. Sie werden durch das Machtdenken und Machtgier (die sie projektiv den Opfern zuschreiben) zusammengehalten.87 Eine Affinität zur kritischen Theorie weist die Dritte Walpurgisnacht indessen nicht nur im Hinblick auf die Theorie des autoritären Charakters auf, sondern auch im Hinblick auf die Elemente des Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung. Dort heißt es in These I  : „Im Bild des Juden, das die Völkischen vor der Welt aufrichten, drücken sie ihr eigenes Wesen aus. Ihr Gelüste ist ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis. Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.“88 In den folgenden Thesen wird die Motivation der Beherrschten (These II) von der der Herrschenden (These III) unterschieden. Bei den Beherrschten dient die eher geringfügige Beute, die den Raub zu motivieren scheint, als Rationalisierung eines Vernichtungswillens, der die psychologische Funktion hat, sich durch Raub und Gewalt für das berechtigte Gefühl, dass man am Ende der von den eigenen Anführern Betrogene, der im doppelten Sinne ‚Angeführte‘89 bleibt, zu entschädigen und zugleich – in diesem Punkt geht die kritische Theorie weit über die Kritik der Fackel hinaus – die eigene Sehnsucht nach einem Glück ohne Macht zu bekämpfen. Wenn die 86 L.c., S. 191  ; vgl. zu einer gegen die deutsche Ideologie gerichteten Verwendung des Motivs „Schokolade mit Knoblauch“ im Weltkrieg F 406, S. 6 und die – trotz der inakzeptablen Gleichsetzung der neudeutschen mit der jüdischen „Weltanschauung“ am Schluss – instruktive Glosse Diana-Kriegs-Schokolade (F 413, S. 85f.,) sowie F 445, S. 73. 87 Vgl. zu diesen Elementen der faschistischen Persönlichkeitsstruktur Th. W. Adorno  : Studien zum autoritären Charakter, S. 45, und M. Horkheimer  : Autorität und Familie in der Gegenwart, in  : ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 377–414, darin S. 392. 88 Dialektik der Aufklärung, S. 197f. 89 Jochen Stremmel prägte das Wort von den „Angeführten“ im Anschluss an Karl Kraus (J. Stremmel, S. 98  ; K. Kraus  : Dritte Walpurgisnacht, S. 161f.), der diese Rezeptionsleistung zwar nahelegt („Wesen und Aufgabe des Anführertums“  ; Rattenfänger von Hameln, S. 162), aber nicht, wie es bei Stremmel scheinen kann, vorwegnimmt. Die eigentümliche Konstellation von Ideologie und Interesse im antisemitischen Raub wird später in der Fackel als „Religion des Raubes“ (F 917, S. 102) und in Elemente des Antisemitismus nicht weniger sarkastisch als „eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmörder beseelt“ (Dialektik der Aufklärung, S. 201), charakterisiert.

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neuere Forschung90 hervorhebt, dass weite Teile der Bevölkerung, nicht bloß die SA- und Parteimitglieder, vom Raub an den jüdischen Opfern profitierten, gilt es, diesen gesellschaftlichen Zusammenhang im Auge zu behalten  : Die kleinen Profiteure, die etwa einen Konsumgegenstand oder staatliche Zuwendungen erbeuteten, wurden zwar auf diese Weise in den Schuldzusammenhang der Shoah verstrickt, aber selbst, wenn es auf diese Weise gelang, ihre Zustimmung zum Regime zu sichern, blieben sie die Geprellten, nicht erst, weil das große Kapital anderen zufiel, sondern vor allem, weil die Ausschaltung der Arbeiterbewegung, die die Finanzierung der Partei und ihrer Propaganda ursprünglich motiviert hat, den objektiven Interessen der Bevölkerungsmassen ebenso zuwiderlief wie der Zweite Weltkrieg. Die Wut, die die Ahnung dieses Betrugs hervorruft, wird indessen, sofern sie sich nicht gegen die faschistische Herrschaft wendet, auf die Opfer umgeleitet, freilich nicht ohne Zutun der Herrschenden und ihres Propaganda-Apparats. These III zufolge hat das weitverbreitete Sündenbock-Theorem insofern seine Berechtigung, als den jüdischen Kapitalisten „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird“.91 Verdrängt wird, dass die eigentliche Abschöpfung des Mehrwerts in der Produktionssphäre stattfindet, völlig unabhängig von der Person des Unternehmers und seinen moralischen Qualitäten. Stattdessen werden die über lange Epochen in die Zirkulationssphäre verwiesenen jüdischen Bürger stereotyp als ‚Raffende‘ gegenüber den Fabrikanten als „Schaffenden“ diffamiert. Soweit ist die These plausibel und historisch vielfach belegt. Wenn allerdings die „Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung“ als „gesellschaftlich notwendiger Schein“ bezeichnet wird,92 dann ist anzumerken, dass die Juden, auch wenn sie aus historischen Gründen in ihr relativ zum Bevölkerungsanteil überrepräsentiert waren, gleichwohl nur eine Minorität darstellten, sodass ihrer Identifikation mit Geld und Profit angesichts der Majorität christlicher Händler ein wahnhafter Zug eignete. Zweifelhaft ist überdies, ob die These vom Antisemitismus als „Selbsthaß“ der Bür-

90 Das Folgende gilt insbesondere im Hinblick auf Götz Aly  : Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M. 2005. Neben dem gänzlich verfehlten Wort „Rassenkrieg“ signalisiert die Rede vom „nationale[n] Sozialismus“ im Untertitel einen gefährlichen Mangel an Distanz zur Selbstdarstellung des NS-Regimes. Das Gleiche gilt für den von Aly entwickelten Begriff der „Gefälligkeitsdiktatur“, der nicht nur politologisch unscharf, sondern auch soziologisch irreführend ist. 91 L.c., S. 203 92 L.c., S. 204

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ger, als „das schlechte Gewissen der Parasiten“ 93 nicht eine übermäßige Psychologisierung der Propaganda vornimmt. Dass die Wut der Ausgebeuteten vermittels des Antisemitismus kanalisiert, auf die jüdischen Konkurrenten umgeleitet wird, ist evident, fraglich nur, ob dem ein schlechtes Gewissen, pathische Projektivität ohne Gewissensbeteiligung oder reine Macht- und Besitzinteressen zugrundeliegen.94 Jedenfalls gehen Horkheimer und Adorno (auch in allen späteren Schriften zum Thema) wie Kraus davon aus, dass unbewusste psychische Vorgänge und bewusste materielle Interessen in der antisemitischen Gewalt vereint sind.

Der Antifaschismus der literarischen Form Die Darstellungsform der Dritten Walpurgisnacht unterstützt ihren kritischen Gehalt auf allen Ebenen. So signalisiert die mimetische Reaktion des Autorsubjekts, das sich selbst als verstört darstellt, einen Bruch in der gesellschaftlichen Entwicklung, der sich seiner literarischen Verarbeitung tendenziell entzieht. Die durch die Gewalteskalation und durch die Einsicht in die Unzulänglichkeit der Literatur bei der Bekämpfung des Nazismus bedingte Verstörung gibt als Mimesis des objektiven Geschehens Auskunft über dieses selbst  : über eine Terrorpolitik, die schon in jedem einzelnen Fall erschütternd genug wäre, ihre spezifische Gestalt aber gerade durch Systematisierung und Entindividualisierung gewinnt, durch einen entschränkten Vernichtungswillen, der nur von außen gestoppt werden kann, wie der Schluss der Dritten Walpurgisnacht deutlich macht. Sprachlich manifestiert sich die künstlerische Mimesis in einer stilistischen Vielfalt, die sowohl mit den unterschiedlichen Referenztexten als auch mit der Verknüpfung von Satire und Polemik zusammenhängt. Überdies ist auch der Textaufbau zu beachten. Dass Kraus in seiner versuchsweisen Annäherung an den Gegenstand auf eine monokausale Erklärung ebenso verzichtet wie auf eine Hierarchie in der Darstellung des Nazismus, bildet einen signifikanten Gegensatz zu präfaschistischen und faschistischen Texten mit ihrer Vorliebe zur Simplifikation komplexer Vorgänge durch einen Leitgedanken, der als „Führer“ der untergeordneten Behauptungen auftritt. Indem die sprachliche Komposition sogar noch in der Darstellung 93 L.c., S. 205 94 Zur pathischen Projektion im nazistischen Vernichtungsstreben überhaupt vgl. These VI der Elemente.

Dritte Walpurgisnacht (1933)

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dieses Objekts durch subtile motivische Verknüpfungen strukturiert ist, tradiert sie eine Liebe zum Wort und eine Lust am Denken, am negatorischen Denken, am Widerspruch, die der Faschismus gerade zu zerstören droht. All dies steht der Anti-Intrazeption des autoritären Charakters entgegen, die schließlich dazu dient, sensible Regungen, gedankliche Komplexität, Fantasie und Selbstzweifel abzuwehren. Der Nachteil der Krausschen Darstellung besteht allerdings darin, dass sie keine präzise soziologische Erkenntnis des Nazismus ermöglicht, welche doch für seine Bekämpfung notwendig ist. Indem Kraus 1933 auf die Publikation des Textes verzichtete und stattdessen zunächst nur sein Schweigen in Worte fasste,95 zog er die Konsequenz aus dem ihm selbst bewussten Widerspruch zwischen der eigenen Schreibweise und der Einsicht in die Dringlichkeit praktischen Wirkens. Die Überlieferung der Dritten Walpurgisnacht bietet jedoch ein (noch längst nicht angemessen erschlossenes) aufklärerisches Potenzial, weil sie die intellektuelle Erfahrung jener nicht bloß subjektiven Erschütterung in einer Form reflektiert, die noch heute geeignet ist, potenziell faschistischem Bewusstsein entgegenzuarbeiten.

95 Nämlich in dem Gedicht Man frage nicht (F 888, S. 4). Siehe zur Deutung dieses Gedichts  : Kurt Krolop  : Sprachsatire als Zeitsatire, S. 273–S. 288.

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