Reflexionen der Fackel. Neue Studien über Karl Kraus 978-3700121497

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Reflexionen der Fackel. Neue Studien über Karl Kraus
 978-3700121497

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KURT KROLOP REFLEXIONEN DER FACKEL

ÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE SITZUNGSBERICHTE, 613. BAND

KURT KROLOP

Reflexionen der Fackel Neue Studien über Karl Kraus

VERLAG DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN WIEN 1994

Thomas J. Bata Library

TRENT UNiVERSITY PfTRBOROUGH, ONTA^

RaM

Klfe

Vorgelegt von Präsident Werner Welzig in der Sitzung am 13. April 1994

Gedruckt mit Unterstützung durch den Verein der Freunde der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Umschlagbild: Oskar Kokoschka: Porträtzeichnung Karl Kraus (aus: „Der Sturm“) © VBK

Alle Rechte Vorbehalten ISBN 3-7001-2149-0 Copyright © 1994 by Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien Gesamtherstellung: Styria, Graz

In memoriam Werner Kraft (1896-1991) Otto Muneles (1894-1967) Pavel Trost (1907-1987) „Swes leben ich lobe, des tot den wil ich iemer klagen.“

Inhalt

„Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein Zu Titel und Texten dieser Sammlung.

9

Karl Kraus heute oder: Von der Kenntlichkeit dessen, was bleibt .

13

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire Traditionswahl und Zeiterfahrung im Frühwerk von Karl Kraus (1892-1899) .

27

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik .

53

„La trahison des clercs“ Kriterien der Kritik an den „ Worthelfem der Gewalt“.

73

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten“ Konfigurationswandel des „Bodenständigen“ in der Satire der „Fackel“.

91

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit Jean Paul bei Karl Kraus.

105

Prager Autoren im Lichte der „Fackel“ .

119

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner .

141

„Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“ Satirische Parodie einer hymnischen Kontrafaktur.

159

Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus Aspekte einer „Dauer im Wechsel“ . Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

167 179

Der Jawohlsager und der Neinsager Komplementäre Weltkriegssatire bei Jaroslav Hasek und Karl Kraus

199

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister“.

217

Anmerkungen.

223

Personenregister.

289

'

Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein Zu Titel und Texten dieser Sammlung

„PROMETHEUS (eine Fackel in der Hand). Der Fackel Flamme, morgendlich dem Stern voran In Vaterhänden aufgeschwungen, kündest du Tag vor dem Tage!“ Goethe: Pandora, V. 155-1571 „Ironie [...] ist [...] die Folge, der Karakter der Besonnenheit, der wahrhaften Gegenwart des Geistes.“ „Licht ist Symbol der ächten Besonnenheit.“ „Was ist also die

Sonne? Ein nur durch sich erregbarer -

mithin immer selbstthätiger, ewigleuchtender Körper - und ein Planet? ein relativ erregbarer, für fremde Anregung gestimmter Körper. “ „Licht ist Vehikel der Gemeinschaft - des Weltalls - ist di[e]s ächte Besonnenheit in der geistigen Sfare nicht ebenfalls?“ „Der vollendete Mensch muß gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben - ihm müssen beständig ein weiter Kreis und mannichfache Begebenheiten gegenwärtig seyn. Hier bildet sich dann die wahre, die großartige Gegenwart des Geistes - die den Menschen zum eigenüichen Weltbürger macht und ihn in jedem Augenblicke seines Lebens durch [...] Associationen reizt, stärkt und in die helle Stimmung einer beson¬ nenen Thäügkeit versezt.“ Novalis2 „Die Dreiheit: Schweigen, Wissen, Geistesgegenwart konstituiert die Figur des Polemikers Kraus. Sein Schweigen ist ein Stauwerk, vor dem das spiegelnde Bassin seines Wissens sich ständig vertieft. Seine Geistesgegenwart läßt sich keine Frage stellen, sie ist nie¬ mals willens, Grundsätzen, die einer ihr entgegenhält, zu entspre¬ chen. Ihr erstes ist vielmehr, die Situation zu demontieren, die wahre Fragestellung, welche sie enthält, zu entdecken und sie statt aller Antwort dem Gegner zu präsenderen.“ Walter Benjamin (1931)3 „In die gegenwärtige Begeisterung über Karl Kraus tritt als Kom¬ ponente die Zufriedenheit ein, daß ein so unbequemer Mann nicht mehr lebt.“ Erwin Chargaff (1962)4

10

,Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein

„Reflexionen der Fackel“: der Obertitel, unter dem hier „Neue Studien über Karl Kraus“ gesammelt erscheinen, sucht die in ihm angelegte Vieldeutigkeit auszumünzen, um den thematischen Einzugsbereich dieses Textensembles wenigstens andeutungshaft abzustecken. Als genitivus subiectivus gefaßt, steht er zunächst für die „selbsttätige“, die „selbstgesetzmäßige“ Reflexion der „Fackel“ und ihres Herausgebers selber,5 für ein aktives Reflektieren in dem immer ausschließlicher als „Material“ verstandenen

Medium der Sprache,6 für ein

„Sprach-

denken“ (S 12, 130 = S 18, 284), dem die „Kunstform der Sprachsatire“ (S 18, 262) als im schaffenden „Spiegel der Sprache“ (ebd., 221, 238) erzeugter, „in Protagonie gegen die Zeit“ (ebd., 205), eine zur „Wider¬ wart“7 gemachte Gegenwart, gerichteter und ihr heimleuchtender „Widerschein der Fackel“8 ausstrahlend entspringt; als Konstruktion mit einem genitivus obiectivus gelesen, kann und soll dieser Titel indes¬ sen auch im buchstäblichen Wortverstand das Zurückgeworfenwerden im Reflex von Mit- und Nachwelt mitbedeuten, sei es als bestätigender und beglaubigender ,Abglanz“ in Gestalt produktiv weiterwirkender Nachfolge, sei es als reaktiver „Widerschein“ im Zeichen dezidiert widerstreitender Abstoßung. So gut wie alle der hier versammelten Texte sind Vorträgen entwachsen und verleugnen diesen Duktus auch in der vorliegenden Form nicht. Einige dieser Vorträge wurden aus unmittelbarem Anlaß oder doch im zeitlichen Umfeld des Karl-Kraus-Gedenkjahres 1986 gehalten, so vor allem „Karl Kraus heute“9 und „Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire“10. Sie wie auch .Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik“11, ein Beitrag zum Posener internationalen Kraus-Symposium vom November 1987, dem ersten und zugleich letzten dieser Art im damals noch nicht aufgelassenen „sozialistischen Lager“, sind über ihren reinen Sachgehalt hinaus von dem „wiederherstellenden“ Bestre¬ ben mitgeprägt gewesen, durch die Aufdeckung verdrängter und die Entwirrung konfundierter Filiationen die bereits 1987 im Vorwort zur ersten Auflage meines Buches „Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus“ kritisch vermerkte „Rezeptionshemmschwelle“12 abtragen zu helfen, die sich aus den dort beschriebenen Gründen aufgebaut hatte oder vielmehr durch fragwürdige Selektionsprinzipien bei der Sich¬ tung des sogenannten „Erbes“ aufgebaut worden war.13 Auf ähnliche Weise, wie die Klopstock-, Goethe- und Schiller-Gedenk¬ jahre 1974, 1982 und 1984 Veranlassungen gewesen waren, in Analogie und Nachfolge von Werner Krafts einschlägigem Buch „Das Ja des Neinsagers“ (1974)14 Beiträge „zur Genesis und Funktion der Tradi¬ tionswahl bei Karl Kraus“15 zu leisten, bot auch ein Weimarer Jean-Paul-

11

,Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein

Colloquium im Gedenkjahr 1988 den äußeren Anlaß für die Erweite¬ rung dieses Untersuchungsfeldes durch die Studie „Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit. Jean Paul bei Karl Kraus“16. Ursprünglich für die Folge 13 (1990) des mittlerweile ein¬ gestellten,

weil

„abgewickelten“

Weimarer Jahrbuchs

„Impulse“

bestimmt, kann sie hier zum ersten Mal im Druck erscheinen. Die gesamtwerkdiachronisch angelegte Arbeit „Vom ,Kasmader‘ zum ,Troglodyten‘. Konfiguraüonswandlungen des bodenständigen' in der Satire der ,Fackel'“17 darf als der meines Wissens erste Versuch gelten, die „sprachlichen“ Gestaltungsmetamorphosen eines „wörtlich“ kon¬ stanten, wandlungsresistenten satirischen Leitobjekts der „Fackel“ genetisch und hermeneutisch zu interpretieren.18 Aspekte eines sol¬ chen Konfigurationswandels werden auch an den kontextuellen Meta¬ morphosen des satirischen Leitbegriffs „Schmock“ sichtbar gemacht, freilich nicht mit angestrebter Vollständigkeit, sondern lediglich funk¬ tional bezogen auf das Thema „Prager Autoren im Lichte der Fackel“19, das zu einem Untersuchungsbereich gehört, der in diesem Band mit den zahlreichsten Texten vertreten ist: den Wechselbeziehungen der „Fackel“ und ihres Herausgebers mit Land und Leuten, Kultur- und Zeitgeschichte, Literatur und Publizistik auf dem Territorium der heu¬ tigen Tschechischen Republik in dessen tschechischer wie einstmals deutscher „Sprachregion“20. Mitbedingt ist dieses Übergewicht nicht nur durch die „böhmischen“ Affinitäten des untersuchten wie des untersuchenden Autors, sondern vor allem auch durch noch auszuma¬ chende Forschungslücken, die nur erst reduziert, nicht schon geschlos¬ sen zu haben die vorgelegten Studien beanspruchen können.21 Abgesehen von diesem ihrem primären Nutzwert für die Karl-KrausForschung

als

Beiträge

zur

Werk-

und

Wirkungsgeschichte

der

„Fackel“, sollen und wollen sie darüber hinaus ein Bild von dem Kom¬ plex „Prager deutsche Literatur“ modifizieren und rektifizieren helfen, das weithin noch immer von Max Brods geometrischer Metapher eines monozentrisch

konstruierten

„Prager

Kreises“

geprägt

ist.22

Was

Edward Timms in seiner Karl-Kraus-Monographie von 1986 für das Wien der Jahrhundertwende um 1900 dargelegt und graphisch veran¬ schaulicht hat, daß man nämlich hier mit einem Polyzentrismus des Neben- und Ineinander von einander teils ausschließenden, teils über¬ schneidenden Kreisen zu rechnen habe,23 das gilt in wo nicht gleichem, so doch ähnlichem Maße auch für das deutsche und erst recht für das tschechische Prag jener Zeit.24 In solchem Sinne sind die zu diesem Themenbereich hier beigesteuerten Texte nicht zuletzt auch als bele¬ gende Nachweise zu vorläufigen Hinweisen zu verstehen, mit denen ich

12

,Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein

bereits während der sechziger Jahre in Arbeiten zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur unseres Jahrhunderts auf die formende und formierende Kraft der „Fackel“ und gerade auch der 1910 einsetzenden Prager „Vorlesungen Karl Kraus“ für die deut¬ schen, aber auch für die tschechischen Literaturkreise Prags wiederholt nachdrücklich aufmerksam gemacht habe.25 Auch die Untersuchung spezifisch tschechischer Wechselwirkungsaspekte ist gegenüber dem ersten Studienband, wo sie nur in einem einzigen Beitrag ausdrücklich thematisiert worden war,26 hier erheblich erweitert. Sie vermag zu dokumentieren,

daß

der

tschechischen

Karl-Kraus-Rezeption

ein

ehrenvoller Vor-Rang unter den Zeugnissen einer über den deutschen Sprachraum hinausweisenden Wirkungsgeschichte auch in der chro¬ nologischen Priorität zukommt.27 Die Wahl des auf den ersten Blick gänzlich konventionell sich ausneh¬ menden Untertitels „Neue Studien über Karl Kraus“ trachtet gleich¬ wohl in Erinnerung zu rufen, daß vor nunmehr 80 Jahren erstmals „Studien über Karl Kraus“ unter diesem Titel gesammelt erschienen sind, und zwar ebenfalls in Österreich oder vielmehr, staatsrechtlich unanfechtbarer formuliert, in der Hauptstadt eines der damals „im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, nämlich im Inns¬ brucker Brenner-Verlag, dem gerade die Prager Karl-Kraus-Gemeinde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sich eng verbunden fühlte.28 Uber die unverjährbare und unverminderte, so vielen Gläubigern ver¬ pflichtete Dankesschuld hinaus, der ich schon in den Vorworten zur ersten wie zur zweiten Auflage meines ersten Studienbandes Ausdruck verliehen habe,29 gilt diesmal mein vornehmlichster Dank der Öster¬ reichischen Akademie der Wissenschaften, zumal deren Präsidenten Prof. Dr. Werner Welzig, zu dessen engagiert betriebenen Karl-KrausForschungsvorhaben den einen oder anderen hilfreichen Zubringer¬ dienst geleistet zu haben das nicht geringste Verdienst dieser von ihm mit Rat und Tat geförderten Sammlung ausmachen könnte. Dankbar verbunden bleibe ich nicht zuletzt Fanny Esterhazy, ohne deren eben¬ so sorgfältige wie um- und einsichtige redaktionelle Betreuung dieser Band nicht zustande gekommen wäre. Gewidmet ist diese Sammlung dem Andenken dreier jüdischer Freunde und Lehrmeister, die mir - auf je ganz unterschiedliche Weise - über weite Zeitstrecken einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Karl Kraus und seinem Werk kundige Wegweiser und verständnisvolle Begleiter gewesen sind. Prag, den 21. September 1993

Kurt Krolop

Karl Kraus heute oder: Von der Kenntlichkeit dessen, was bleibt

„zurück als Führer bleibt mein ganzes Irren!“ Karl Kraus: Nach zwanzigJahren (F 508, 7) „da zu bleiben, wenn ich abgeschieden, fortzuleben sei mein letzter Wille.“ Karl Kraus: Todesfurcht (F 577, 68) „Wie leer ist es hier an meiner Stelle. Vertan alles Streben. Nichts bleibt von mir als die Quelle, die sie nicht angegeben.“ Karl Kraus: Grabschrift (F 834, 73)

Im Herbst des ersten Weltkriegsjahres 1914, inmitten eines homo¬ phonen Kriegsjubelchores offizieller und offiziöser Stimmen, in den einzufallen auch geistige Kapazitäten und Autoritäten wie Gerhart Hauptmann oder Thomas Mann oder Robert Musil oder Max Planck sich nicht zu schade waren, inmitten nationaler Selbstberauschung an der Phrase vom Anbruch einer „großen Zeit“ und deren „seelischem Aufschwung“, waren in einer der beiden Hauptstädte der miteinander verbündeten mitteleuropäischen Kaiserreiche öffentlich Worte zu hören und wenig später auch im Druck zu lesen, welche in die unter der Losung eines Zweifrontenkrieges idealistischer deutscher Kultur gegen den seelenlosen westlichen Zivilisationsbetrieb einerseits und die gesittungslose östliche Barbarei andererseits phraseologisch gestif¬ tete Volksgemeinschaftsharmonie die schneidenden Dissonanzen har¬ moniefremder Töne hineintrugen: „Ich weiß genau, daß es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob [...] denn das ewige Geheimnis, aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger. Wer den Besitzstand erweitern will und wer ihn

14

Karl Kraus heute

nur verteidigt - beide leben im Besitzstand, stets unter und nie über dem Besitzstand. [...] Wird uns nicht bange [...], wenn Menschenopfer unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter der Sprache des seeli¬ schen Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik, zwischen irdischen und himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: ,Was jetzt zu geschehen hat, ist, daß [...] die Kundschaft unaufhörlich abgetastet wird!1 Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissen¬ schaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten!“ Drei Monate - später, im Februar 1915, findet dieser defaitistische Kriegsbegeisterungsverweigerer sich in dem bestätigt, was er „eines trü¬ ben Tages“ im „traurigen Monat November“ heller gesehen, was er damals „eines fahlen Morgens“ aus der Sprache des „seelischen Auf¬ schwungs“ herausgehört hatte: „Als dieses umfangreiche Ereignis über die Menschheit hereinbrach und es allgemein hieß, daß die Maschine von einer Seele bedient werde und letzten Endes auch der Seele dienen werde, da war mein Scherf¬ lein der Zweifel [...] Was tun sie nun mit den sterbenden Soldaten? Sinken, die nicht fallen, auf die Knie? [...] bleiben wir bei der Kultur¬ geschichte, und stellen wir uns [...] auch vor, daß sie die frischeste, aktuellste [...] Wirklichkeit bedeutet. [...] Werfen wir einen Blick auf unser Nachtleben, übersehen wir aber auch unser Tagleben nicht [...]; horchen wir auf die Gespräche der Zeitgenossen, blicken wir auf die Plakatwände und fragen wir uns dann, ob das nicht lebendigste Wirk¬ lichkeit ist und ob wir vom Weltkrieg nicht träumen. Leben nicht solche, deren Kriegsdiensüeistung der Wucher ist?“ Und abermals wenige Wochen später, im April 1915, wird uns eine grandiose Totalvision auf den Aschermittwochskatzenjammer eröffnet, zu dem sich die „eines fahlen Morgens“, „eines trüben Tages“ wahr¬ genommenen Symptome „in der nüchternen Atmosphäre des bleichen Tages“ verdichtet haben: „Die Szene hat gründlich gewechselt. Der Marsch in sechs Wochen nach Paris hat sich zu einem Weltdrama ausgewachsen; die Massen¬ schlächterei ist zum ermüdend eintönigen Tagesgeschäft geworden [...] Vorbei ist der Rausch. Vorbei der patriotische Lärm in den Straßen [...] Die Regie ist aus [...] In der nüchternen Atmosphäre des bleichen Tages tönt ein anderer Chorus: der heisere Schrei der Geier und Hyä¬ nen des Schlachtfeldes [...] Das im August, im September verladene und patriotisch angehochte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in

15

Karl Kraus heute

die Halme schießt [...] Das Geschäft gedeiht auf Trümmern, Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völker¬ recht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen [...], jede Regierung die andere als das Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend [...], Elend und Verzweiflung überall.

Geschändet,

entehrt,

im

Blute

watend, von Schmutz triefend - so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt - als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ Man wird mir hoffentlich die pia fraus dieser Textmontage verzeihen, deren erste Partien den ersten Kriegsheften der „Fackel“ entnommen sind (F 404, 4L; F 405, 14-19), die zuletzt zitierten Sätze dagegen der furiosen Eröffnung einer im April 1915 geschriebenen, Anfang 1916 in Zürich veröffentlichten polemischen Schrift, deren pseudonymen Ver¬ fasser Junius ich bei seinem rechten Namen wohl nicht erst nennen muß, aber doch will: Rosa Luxemburg, eine „Fackel“-Leserin der ersten Stunde.1 Zu produktivem Staunen darüber zu verleiten, daß dieses hier nur auszugsweise zitierte pathetisch-satirische Weltkriegspanorama „von Junius“ sich ausnimmt und anhört wie ein Syllabus der „Kriegs¬ fackel“ (F 499, 2), war der didaktische Zweck, der dieses nicht unbe¬ denkliche Mittel wo nicht zu heiligen, so doch vielleicht zu rechtferti¬ gen vermag. Der sachlich unbegründbare, aber auch heute noch sich aufdrängende Eindruck der Ausgefallenheit des Einfalls, solche Texte zusammenzutte/kw oder auch nur zusammenzudenken, macht die Zählebigkeit ungeprüft übernommener Zuordnungs- und Abgrenzungs¬ klischees deutlich, auf deren Problematik ich bereits an anderer Stelle hingewiesen habe.2 Hier sei nur noch einmal mit gebührendem Nach¬ druck betont, daß nicht erst die durch Diffamierungs- und Repres¬ sionsmaßnahmen nationalsozialistischer Kulturpolitik bewirkten Ver¬ heerungen im literarischen Traditions- und Kontinuitätsbewußtsein, sondern darüber hinaus auch schon ebenso respekt- wie instinktlose linkssektiererische Verwerfungs- und Verdammungsurteile

in

der

antinazistischen Exilpublizistik vor allem der Jahre 1933 und 1934 erheblich dazu beigetragen haben, eine gleichwohl stillschweigend wei¬ terpraktizierte Karl-Kraus-Rezeption gerade auch durch den marxi¬ stisch orientierten Flügel der antifaschistischen Exil- und Nachkriegs¬ literatur weithin ins Anonyme und Apokryphe abzudrängen, so daß wichtige Traditionslinien unerkannt, also auch ungenutzt blieben.

16

Karl Kraus heute

Als am 1. November 1933 Karl Kraus im ,Aufrufdem Prager Organ der „Liga für Menschenrechte“, aufgefordert wurde, sich zu Hitler mehr einfallen zu lassen als das Gedicht „Man frage nicht“, und zwar unter dem Hinweis, im „Rüstzeug“ der Kämpfer gegen den Nazismus befänden sich „viele Waffen (und zwar die besten) aus nichtrostendem Stahl, die aus der Werkstätte der letzten Tage der Menschheit oder der Fackel stammen“ (F 889, 2), da berührte der also Aufgerufene mit sei¬ nem polemisch replizierenden Wortspiel vom „nichtrostenden Dieb¬ stahl“ (F 890, 69) ein Problem, das für die Literaturwissenschaft unse¬ rer Tage unter dem Aspekt nicht sowohl des Eigentumsdelikts als vielmehr des Erkenntnisdefizits ein solches bleibt. Denn von der Mate¬ rialästhetik bis zum Verfremdungseffekt; von der Montagetechnik bis zur Kunst, Gesten zitierbar zu machen; vom Ursprungsbegriff der Benjaminschen Geschichtsphilosophie bis zu den Argumenten und Gegen¬ argumenten des im Karl-Kraus-Gedenkjahr

1986 ausgebrochenen

„Historikerstreits“ um das bereits 1933 in der „Dritten Walpurgisnacht“ nicht nur wörtlich behauptete, sondern auch sprachlich gestaltete „Inkommensurable“ (S 12, 21), das „Unvergleichliche“ (S 12, 69) eines jeder sinnsuchenden Beschreibung spottenden, vollständig erklärungs¬ resistenten „Irrationalsozialismus“ (S 12, 179); vom dokumentarischen Theater bis zur satirischen Fotomontage; von der vielerörterten Kunst zu erben bis zu praktischen Problemen der Theaterarbeit und Wort¬ regie; von der Medienkritik bis zur Positivismusdebatte, von der Pro¬ blematik der Sprachbeherrschung bis zu der der Natur- und Men¬ schenbeherrschung

gibt

es

kaum

einen

Lebens-,

Denk-

und

Kunstbereich, dessen Reflexionsspuren im Werk von Karl Kraus nach¬ zuspüren nicht Pietätspflicht und Erkenntnisgewinn zugleich wäre. In seiner Besprechung der zum Vergil-Doppel-Millenium von 1930 erschienenen Schrift „Vergil, Vater des Abendlandes“ (1931) von Theodor Haecker hat Walter Benjamin 1932, am Vorabend des Dritten Reiches, „die dilettantische Fragestellung [...], was uns Vergil sei“3, als verräterisches Kennzeichen einer Konvention falscher Unmittelbarkeit ausgemacht und gerügt, gegen deren Strich es „zur echten, mittel¬ baren Fragestellung“ vorzudringen gelte: „was die Geschichte der Vergilschen Dichtung und ihrer Erforschung in einem Zeitpunkt uns lehrt, da beide ihren unfreiwilligen Abschluß zu finden drohen“.4 Die hier aufgerichtete Warnungstafel hat, wie wir wissen, nicht verhindern können, daß seither immer wieder und mit oft noch zudringlicherer falscher Unmittelbarkeit nach diesem Modell gefragt wurde, also etwa danach, was Goethe oder Schiller, Bach oder Händel, Luther oder Bis¬ marck „uns sei“. Und unbeschadet der Schlüssigkeit, welche die Benja-

Karl Kraus heute

17

minsche Distinktion in ihrem zeitpolemischen und geschichtsdialek¬ tischen Kontext besitzt, werden sich weitere Repetitionen dieser als dilettantisch gekennzeichneten Fragestellung kaum vermeiden lassen; nur empfiehlt es sich, solche Fragen immer auch dem Kontrollexperiment einer Gegen- und Rückfrage zu unterwerfen, also nicht nur her¬ auszufinden zu trachten, was das Phänomen X „wmsei“, sondern auch, was wir dem Phänomen X wären oder sein könnten, das heißt, uns experimentell auch auf dessen Optik einzustellen. Dann kämen wir nämlich manchmal schon heute darauf, daß uns Probleme und Sach¬ verhalte betreffen, von denen wir sonst erst übermorgen einsehen ler¬ nen, daß sie gerade auch uns angehen müßten, während wir doch bei einigem Nachdenken schon gestern oder vorgestern hätten wissen kön¬ nen, daß sie nie aufgehört haben, uns anzugehen. Lassen Sie mich mit gebotener Eile in medias res gehen und einen der intensivsten und produktivsten Leser der „Fackel“ und Hörer der „Vor¬ lesungen Karl Kraus“, nämlich Elias Canetti, zum Zeugen aufrufen für ein von Karl Kraus ausgehendes, immer erneuerungs- und steigerungs¬ fähiges, an Bedeutung seines Wirkungspotentials noch immer uner¬ schöpfliches Hauptmotiv seiner Faszinationskraft, das der Betroffen¬ heit, von

dem

als

organisierendem

Zentrum vieles andere

sich

herleitet. „Hätte man sich auf eine einzige Qualität zu beschränken“, so schrieb Canetti 1965 in seinem Erinnerungsessay „Karl Kraus, Schule des Widerstands“, auf eine einzige Qualität, „die ihn von allen anderen öffentlichen Figuren der Zeit unterschied, so wäre es diese: Karl Kraus war der Meister des Entsetzens.“5 Diese mit kalkuliertem Überraschungseffekt getroffene Feststellung weiß Canetti zu begründen und zu belegen: „Es ist noch heute für jeden leicht, sich davon zu überzeugen, der die .Letzten Tage der Menschheit4 aufschlägt. Es springt in die Augen, wie er immer die nebeneinander sieht, die der Krieg entwürdigt und aufgeblasen hat: Kriegskrüppel neben Kriegsgewinnlern, den blinden Soldaten neben dem Offizier, der von ihm salutiert sein will, das edle Antlitz des Gehenkten unter der feisten Fratze seines Henkers - das sind bei ihm nicht die Dinge, an die uns der Film mit seinen billigen Kontrasten gewöhnt hat, sie sind noch von ihrem vollen und nie zu stillenden Ent¬ setzen geladen.“6 Das aufreizende Nebeneinander, von Canetti beob¬ achtet und beschrieben an dem „größten Drama der Moderne in nicht¬ aristotelischer Bauart“7, dessen soziale Kontrastamplitüde bis hinauf zu den beiden Kaisern der Mittelmächte und bis hinab zu den „einge¬ rückten Heereshuren“8 reicht, es macht in permanenter Konfrontation von Kommandierten und Kommandierern, Verwalteten und Verwal-

18

Karl Kraus heute

tern, Menschenmaterial und Menschenmaterialdisponenten vor allem deutlich, daß hier nicht ein unbeugsames Fatum waltet und auch nicht ein personifiziertes Mythologem namens Weltgeschichte, sondern daß auch und gerade in der „Banalität des Bösen“ Menschenwerk vorliegt und so einen Satz Adalbert Stifters erhärtet, der zu den Autoren ge¬ hörte, die Karl Kraus im Ersten Weltkrieg zu Zeugen gegen diesen auf¬ gerufen hat: „Kein Weltgeist, kein Dämon regiert die Welt: Was je Gutes oder Böses über die Menschen gekommen ist, haben die Menschen gemacht.“9 Dieses von Canetti herausgearbeitete Nebeneinander war es, was Brecht so wesentlich erschien, daß er es noch 1942 für seine Zwecke umzufunktionieren gedachte, als er in Hollywood notierte:

und wie¬

der möchte ich SCHWEYK machen, mit Szenen aus DIE LETZTEN TAGE DER MENSCHHEIT dazwischengeschnitten, so daß man oben die herrschenden mächte sehen kann und unten den Soldaten, der ihre großen pläne überlebt.“10 Die Realisierung der immer schon als akustische Gestus- und Tonfall¬ zitate konzipierten Texte durch den Sprecher Karl Kraus beschreibt Canetti auf phänomenal wie perspektivisch gleichermaßen eindrucks¬ volle und aufschlußreiche Weise: „Wenn er sie sprach, waren tausend Menschen vor ihm gelähmt, sein Entsetzen, das jedesmal, er mochte diese Stücke noch so oft lesen, die Kraft der ursprünglichen Vision regenerierte, erfüllte jeden. So ist es ihm gelungen, wenigstens eine einheitliche und unabänderliche Gesin¬ nung unter seinen Hörern zu schaffen, die eines absoluten Hasses gegen den Krieg. Es mußte ein Zweiter Weltkrieg kommen und nach der Zerstörung ganzer, atmender Städte noch dessen eigentlichstes Produkt, die Atombombe, damit diese Gesinnung zu einer allgemeinen und beinah selbstverständlichen wurde. Karl Kraus war in dieser Hin¬ sicht etwas wie ein Vorläufer der Atombombe, ihre Schrecken waren schon in seinem Wort. Aus seiner Gesinnung ist heute eine Erkenntnis geworden, der selbst Machthaber sich mehr und mehr eröffnen müs¬ sen: daß Kriege nämlich für Sieger wie für Besiegte widersinnig und darum unmöglich sind und daß ihre unwiderrufliche Verfemung nur noch eine Frage der Zeit ist.“11 An die zumal von den „Letzten Tagen der Menschheit“ ausgehende Warnbotschaft zu erinnern, besteht am Ende dieses Jahrhunderts, das es bereits in seiner ersten Hälfte auf zwei massenmörderische Welt¬ kriege gebracht hat, unvermindert dringlicher Anlaß. Denn wenn man dem, was Karl Kraus seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges gegen die¬ sen und seine Folgen geschrieben und gesprochen hat, eine einheit¬ liche Tendenz ablesen kann, dann die, im Namen des von Walter Ben-

Karl Kraus heute

19

jamin so oft beschworenen „Eingedenkens“ gegen das Vergessen anzukämpfen, das die Kommandeure und Profiteure eines solchen Krieges dessen überlebenden Opfern im Interesse der Ertüchtigung zu neuer Kriegsbereitschaft zu verordnen trachteten und trachten, wenn es auch die Sprachregelungstechniker von heute nicht mehr Kriegs-, sondern Risiko- oder noch beschönigender Restrisikobereitschaft nen¬ nen. Die von Canetti vor allem den „Letzten Tagen der Menschheit“ abge¬ lesene, abgehörte Meisterschaft des Entsetzens, welche der Beschwich¬ tigungsformel des Brechtschen Sagredo „du sollst dich beruhigen!“ immer wieder mit dem Galileischen Gegengebot „du sollst dich aufre¬ gen!“12 erwidert, war indessen nichts, was sich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gleichsam über Nacht eingestellt hätte, sondern im Gegenteil die Bewährung eines kritischen und satirischen Instrumen¬ tariums, das seine Tauglichkeit spätestens 1912 an den Analysen einer Balkankriegsberichterstattung erwiesen hatte, die dem bürgerlichen Morgenzeitungsleser mentalitätsgerecht ausmalte, wie „hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“. Es ist nun auf¬ schlußreich, daß in diesem Vorfeld des Ersten Weltkrieges, auf das die „Fackel“ ihren apokalyptischen Widerschein warf, daß hier simultan jene Gegenweh des Entsetzens Gestalt anzunehmen begann, die Karl Kraus immer wieder mit dem Begriff des „Ursprungs“ umschrieben hat und deren Konkretion konvergiert mit einem nach Kriegsausbruch sich intensivierenden Schaffensprozeß lyrischer Produktion, deren Gesamt¬ ertrag in den neun Bänden der zwischen 1916 und 1930 erschienenen „Worte in Versen“ vorliegt. Ich kann in diesem knappen Rahmen nicht wiederholen, was ich bereits an anderer Stelle zur Abwehr von Ver¬ suchen gesagt habe, den Ursprungsbegriff bei Karl Kraus, sei es mit rechten oder linken Wertungsintentionen, auf einen sogenannten kul¬ turkonservativen Inhalt festzulegen.13 Ergänzend sei hier nur so viel bemerkt, daß allein schon scheinparadoxe Formulierungen wie die Bestimmung „Ursprung ist das Ziel“ (F 381, 76), die Walter Benjamin wohl nicht zufällig zum Abschlußmotto seiner Thesen „Uber den Begriff der Geschichte“ gemacht hat,14 nachdrücklich davor warnen sollten, diesen Ursprung im Reich der unwiederbringlichen Gewesenheit eines „ewigen“ Geschichtsbildes zu suchen, wie der Historismus es aufgestellt hat. Abgesehen von den geschichtsphilosophischen Impli¬ kationen, die sich für Benjamin damit verbanden, bedeuten Postulate wie „Ursprung ist das Ziel“ oder Visionen wie „Ursprungs eilen herbei Geister, ledig der Zeit“ (F 423, 64) oder Fähigkeitsbehauptungen wie die, „stets am Ursprung angelangt“ zu sein (F 300, 32), kein perfektes

Karl Kraus heute

20

Faktum, sondern einen durativen Prozeß oder einen iterativen Vor¬ gang,

dessen

Wiederholbarkeit

die

potentielle

zeit- und

lebens¬

geschichtliche Immanenz des so verstandenen Ursprungs verbürgt. Er steht unter dem Imperativ des immer wieder regenerierungsbedürf¬ tigen, verfremdenden Blicks auf alle An- und Eingewöhnung im Ein¬ bahnverkehr undialektisch linearen Fortschrittsdenkens: einem Impe¬ rativ,

wie

ihn

das

Gedicht

„Suchen

und

Finden“

ausdrücklich

formuliert: „Sieh das Gewohnte stets zum ersten Mal. Dann hat sich alles Suchen dir gelohnt, das Vorgefundne fügt sich deiner Wahl.“ (F 474, 84) In dem mit Benjamin nicht als „Werden des ein für allemal Entsprun¬ genen“, sondern als dem „Werden und Vergehen Entspringendes“15 aufzufassenden Ursprung wurzelt die bewunderndes Erstaunen wie unverstelltes

Entsetzen

in

sich

begreifende

Doppelfähigkeit

des

„Schauderns“, die Faust bekanntlich als der Menschheit, das heißt des menschlichen Wesens, bestes Teil bezeichnet, indem er es mit dem „Erstarren“ konfrontiert.16 Wie immer man auch einzelne Gedichte der Krausschen Lyrik beur¬ teilen mag, für ihre Gesamtheit gilt, daß auch dort, wo die satirische Indignation nicht ausdrücklich thematisiert erscheint, nämlich in den sogenannten Naturgedichten, immer die Folie des Entsetzens und damit der Protest gegen das Entsetzliche implizit gegenwärtig, gele¬ gentlich sogar explizit einbezogen sind. Damit ist sie durch Verantwor¬ tung einer moralischen Entscheidungsalternative entrückt, wie sie Brecht in seiner vielzitierten und vieldiskuüerten Klage über die ,fin¬ steren Zeiten“ schmerzlich bewaißt gemacht hat, „wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“17 Denn bei Kraus sind auch und gerade die Bäume - übrigens ein Leitmotiv der Lyrik seines gefallenen jungen Freundes Franz Janowitz - in jene Solidargemeinschaft mit der „Sache der gepeinigten und gemarterten Kreatur“ (vgl. F 890, 283-285, 306, 310) einbezogen, als deren Anwalt gegen Menschen-, Natur- und Sprachbeherrscher und -verfüger sich der Satiriker stets empfunden hat, so daß ein Gespräch über Bäume bei ihm nicht das Verschweigen, sondern das Aufdecken so vieler Untaten einschließt, und zwar nicht zuletzt so vieler Untaten, begangen an Bäumen,18 deren neben den erschossenen oder geschlachteten Kriegshunden, Train- oder Kavalle¬ riepferden als der allerschuldlosesten Opfer eines Massenmordes gedacht wird, dem auch „Menschenopfer unerhört“ fallen mußten, hinter den Visionen, die als filmschnittartig strukturierte Sequenz das

Karl Kraus heute

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Finale des fünften Aktes der „Letzten Tage der Menschheit“ bilden, erscheint und verschwindet nach einer Reihe sprechender Bilder des Entsetzens, von denen Hanns Eisler den Totenchor der im Schützen¬ graben erfrorenen Soldaten schon 1928 vertont hat,19 auch „der tote Wald“, umgebracht von den verbündeten Kräften der Vernichtung und Verwertung; ein Text, an dem aus heutiger Sicht vielleicht am erstaun¬ lichsten ist, daß ihn meines Wissens die Grünen noch nicht für sich ent¬ deckt haben: „Ein toter Wald. Alles ist zerschossen, abgehauen und abgesägt. Hül¬ lenloses Erdreich, aus dem sich nur ab und zu ein paar kranke Bäume erheben. Zu Hunderten liegen noch die gefällten, entästeten, zersäg¬ ten Stämme mit halb schon verwitterter Rinde am Boden herum. Eine zerfallene Feldbahn führt quer hindurch. DER TOTE WALD: Durch eure Macht, durch euer Mühn bin ich ergraut. Einst war ich grün. Seht meine jetzige Gestalt. Ich war ein Wald! Ich war ein Wald! Der Seele war in meinem Dom, ihr Christen hört, ihr ewges Rom! In meinem Schweigen war das Wort. Und euer Tun bedeutet Mord! Fluch euch, die das mir angetan! Nie wieder steig ich himmelan! Wie war ich grün. Wie bin ich alt. Ich war ein Wald! Ich war ein Wald! (Die Erscheinung verschwindet.)“ (LTdM I, 598; V/55)20 Liegt hier ein extremes Beispiel dafür vor, wie ein Sprechen von Bäu¬ men in beiderlei Sinn, weit entfernt von aller fast verbrecherischen Untatsverdrängung, als höchste Klimax pathetisch-satirischer Anklage¬ erhebung wegen in Tateinheit begangenen Natur- und Menschen¬ mords wirken kann, so ist auch in den Gedichten, welche die Hinwen¬ dung zu einer noch intakten schönen Natur als reine Privatsache zu behandeln scheinen, die bedrohliche Präsenz der „finsteren Zeiten“ im Rücken solcher Protestwendung: ein Sachverhalt, den Karl Kraus bezeichnenderweise simultan mit dem Beginn der Arbeit an den „Letz¬ ten Tagen der Menschheit“ reflektiert hat: „Hätte ich nur zu sagen, daß die Blume schön sei, so könnte ich es in einer häßlichen Welt, die es nicht erlaubt, auch für mich behalten. Weil ich aber einer bin, der die

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Schönheit der Blume aus der Häßlichkeit der Welt beweist, was sie noch weniger erlaubt, so kann ich’s nicht bewahren. In solchem Leiden lebe ich“ (B I, 167). In dieser ihrer Protestfunktion müssen privateste Liebes- und Naturgedichte nicht minder subversiv und staatsgefähr¬ lich, also auch zensur- und konfiskationsgefährdet erscheinen als die schärfsten zeitgenössischen Kriegssatiren: „Wenn nur nicht die Wiese im Park wegen Aufreizung gegen den Staat - ist sie denn das nicht? konfisziert wird“, heißt es in einem Brief Ende

1915. „Und erst

Abschied und Wiederkehr. Das ist der reinste Hochverrath! Der reinste“ (BI, 248).21 Unter den Gedichten von Karl Kraus gibt es eines, das diese Dialektik gefährdeter und gefährdender Naturzuwendung vielleicht am sinn¬ fälligsten vorführt, indem es den Gestus der Ab- und Hinwendung ins Zentrum rückt, um ein immer wieder gewohntes und doch so zum ersten Mal gesehenes Naturphänomen als Chiffre einer nach tiefer Ver¬ zweiflung sich ankündigenden Hoffnung auf ein Besserwerden auch für „das menschliche Geschlecht“ aufscheinen zu lassen, wie sie Kraus schon durch das Kant-Motto seiner berühmten Verse „Zum ewigen Frieden“ bekundet hatte.22 Es handelt sich um das dreistrophige Gedicht „Flieder“, entstanden nach dem letzten Kriegswinter im Spät¬ frühling 1918, abgedruckt in der „Fackel“ im Frühjahr 1919,23 zuerst vorgetragen in Berlin im Spätfrühling 1920,24 gelegentlich auch später noch,25 aber - mit nur einer Ausnahme - immer um dieselbe Jahreszeit, so daß es gleichsam als das repräsentative Frühlingsgedicht dieses Autors gelten kann, das zugleich auf eine für ihn charakteristische Weise Natur- und Zeitgedicht in einem ist. „Flieder Nun weiß ich doch, ’s ist Frühling wieder. Ich sah es nicht vor so viel Nacht und lange hatt’ ich’s nicht gedacht. Nun merk’ ich erst, schon blüht der Flieder. Wie fand ich das Geheimnis wieder? Man hatte mich darum gebracht. Was hat die Welt aus uns gemacht! Ich dreh’ mich um, da blüht der Flieder. Und danke Gott, er schuf mich wieder, indem er wiederschuf die Pracht. Sie anzuschauen aufgewacht, so bleib’ ich stehn. Noch blüht der Flieder.“ (F 508, 21)

Karl Kraus heute

23

Die Bauart der Strophen ist alles andere als ungewöhnlich und seit dem 18. Jahrhundert immer wieder anzutreffen, so auch bei Goethe und Heine. Was auffällt, ist die Strenge der Reimtechnik: Der umarmende Reim aller drei Strophen ist wortidentisch auf „wieder/Flieder“ abge¬ stellt, die Binnenreime weisen alle den gleichen „acht“-Klang auf, der mit dem flankierenden, traditionsreichen Kontrastpaar Nacht/Pracht in der ersten und in der dritten Strophe auf die Mittelstellung der zwei¬ ten zielt, deren Zentrum wiederum die Menschenwelt in Erinnerung ruft, vor deren Kontrastfolie die Naturbegegnung mit dem blühenden Flieder im Frühling stattfindet, wobei die durchgehende Ichbezogen¬ heit aller übrigen Zeilen sich hier ein erstes und einziges Mal öffnet in dem Trauer- und Klageruf „Was hat die Welt aus uns gemacht!“, dessen „uns“ zumindest eine Zweisamkeit, wenn nicht eine größere Gemein¬ samkeit von Gesinnungs- und Leidensgenossen in Natur- und vor allem Zeiterfahrung voraussetzt. In der Schlußzeile der Mittelstrophe wird der Dreh- und Angelpunkt aller Krausschen Naturlyrik wörtlich und sprachlich, ja geradezu buch¬ stäblich auf die Formel eines gestischen Zitats gebracht: „Ich dreh’ mich um, da blüht der Flieder.“ Im Rücken des sich Umdrehenden bleibt das Bewußtsein dessen, was die Welt aus uns gemacht hat und was weder verdrängt werden kann noch soll; der Flieder blüht nicht immer, aber noch und vielleicht auch immer wieder, was freilich angesichts apoka¬ lyptischer Möglichkeiten nicht mehr ganz so ausgemacht erscheint, wie es das traditionsreiche ältere poetische Analogiemodell natur- und lebenszyklischer Vorgänge mit so tröstlicher Gewißheit voraussetzte: Diese Gewißheit ist einer Anfechtungen ausgesetzten Hoffnung ge¬ wichen.26 Ich

bin

auf das

Interpretations- und

Rezeptionspotential

dieses

Gedichts deshalb etwas näher eingegangen, weil von ihm eine in ihrer Tragweite verblüffende Fern Wirkungskraft ausgegangen ist: In dem auch im Sinne zeitgeschichtlicher Metaphorik als „Frühling“ empfun¬ denen Frühjahr des ereignisreichen Jahres 1956 hat ein großer Kom¬ ponist diese Verse unter der neuen Überschrift „Printemps allemande“ (sic!) vertont und das Werk mit folgender Widmung versehen: „Lieber verehrter Freund, Du hast immer verlangt, daß ich auch etwas von Karl Kraus komponiere, der ein großer Verehrer von Dir war. Also: Prin¬ temps allemande [!] oder anläßlich des XX. Parteitags (Karl Kraus) Besonders herzlich Dein alter H. E.“27 Daß die Initialen H. E. als „Hanns Eisler“ aufzulösen und zu lesen sind, bedarf wohl kaum noch der Erwähnung; nicht eindeutig geklärt ist dagegen die Frage nach dem Freund, dem diese Komposition gewidmet ist; Manfred Grabs, der

24

Karl Kraus heute

Autor des Werkverzeichnisses, bemerkt dazu mit gebotener Zurückhal¬ tung „Adressat unbekannt“.28 Wenn man jedoch die Frage stellt, von welchem unter seinen 1956 noch lebenden Freunden Hanns Eisler ohne alle Schmeichelei und ohne ironischen Mutwillen sagen konnte, daß Karl Kraus ein großer Verehrer von ihm gewesen sei, dann fällt einem - oder zumindest mir - nur ein einziger Name ein: Bertolt Brecht. Der Einwand gegen diese Hypothese, daß die beiden einander nicht per „Lieber verehrter Freund“ anzureden pflegten, sondern ein¬ fach „Lieber Brecht“ bzw. „Lieber Eisler“, wäre durch den Hinweis zu neutralisieren, daß die angehobene Stilebene der Anrede durch die dedikatorische Bestimmung des Textes erklärbar sein könnte. Wer immer aber auch der Adressat gewesen sein mag, Textauswahl, Kom¬ position und Widmung stellen in ihrem Wechselbezug einen Interpre¬ tationsakt dar, der den nichtidyllischen Charakter des Krausschen Gedichts nicht nur bestätigt, sondern durch die nachdrückliche Unter¬ streichung der Verszeile „ Was hat die Welt aus uns gemacht!“29 zusätzlich betont. Die keineswegs überschwengliche, dafür aber vergangenheits¬ bewußte und realitätsbedachte Botschaft der Hoffnung, die Eisler aus diesem Text herausgehört und zum Tönen gebracht hat, wird uns gerade als Zuversicht, die der Trauerarbeit nicht ausgewichen ist, noch lange etwas angehen. Mit diesem einen Beispiel habe ich nur das sichtbar machen können, was man idiomatisch die Spitze des Eisbergs zu nennen pflegt. Das Tertium comparationis für das, was sich darunter verbirgt, ist die Latenz. Warum die Kraus-Rezeption der kulturpolitischen „Linksfront“ - und zwar keineswegs nur an deren „lagerkonformen“ sozialistischen oder kommunistischen Abschnitten - lange Zeit eine latente gewesen und geblieben ist, das habe ich eingangs anzudeuten versucht, die mehr¬ heitlich auf die innenpolitische Option der „Fackel“ im Jahre 1934 zurückzuführenden Gründe dafür bereits 1961 ausführlich dargelegt.30 Wenn diese Gründe irgendwann einmal zureichend gewesen sein mögen für die Verhängung einer Rezeptions-Quarantäne (was ich zu bezweifeln wage), so sind sie es heute ganz gewiß längst nicht mehr. Die Nutzanwendung dieser Einsicht auf eine gerade auch der .Aufarbei¬ tung der Vergangenheit“ verpflichtete Kraus-Forschung wäre, jene latente Kraus-Rezeption im sozialistischen Kulturbereich zumal der DDR manifest zu machen, sie zur Kenntnis und Kenntlichkeit zu brin¬ gen: eine Rezeption, deren Umrisse bisher am deutlichsten bei Bertolt Brecht dokumentiert, wenn auch noch nicht umfassend genug inter¬ pretiert worden sind, die aber sehr viel weiter und tiefer reicht, als bis¬ lang vermutet. Von Hanns Eisler bis Paul Rilla, von Louis Fürnberg bis

Karl Kraus heute

25

Franz Fühmann, von Walter Felsenstein bis Wolfgang Heinz reicht die Skala der Namen, die unter diesem Gesichtspunkt eingehende Berück¬ sichtigung verdienten. Wie das zu leisten wäre, dafür hat Georg Knepler mit seinem Buch „Karl Kraus liest Offenbach“ (1984) ein nach¬ ahmenswertes, wenn auch unnachahmliches, weil aus der Sicht eines mitwirkenden Zeitgenossen verfaßtes Beispielwerk geliefert. Im Gespräch sagte mir einmal der inzwischen leider allzu früh verstor¬ bene

Mitherausgeber

der

historisch-kritischen

Nietzsche-Ausgabe

Mazzino Montinari in Hinblick auf seine jahrelange Arbeit an einer ita¬ lienischen Übersetzung der „Dritten Walpurgisnacht“ und die beson¬ dere Anspielungs- und Wechselbezugsdichte dieses Werkes: „Der Text ist ja total vermint! “ Diese etwas martialische Metapher steckt gleich¬ wohl ziemlich genau die Aufgabe des Übersetzers und im weiteren Sinne auch des Interpreten überhaupt ab: Er hat die im Text gelegten oder vergrabenen Minen zu suchen, zu orten und zum Zünden zu brin¬ gen. Das gilt auch für die in den Texten anderer verborgenen Kraus„Minen“, wie sie sich besonders häufig bei Eisler oder Rilla ausmachen lassen. Sie zum Zünden zu bringen könnte über manches Licht ver¬ breiten, nicht nur über literarische Filiation und kritische Tradition. Lassen Sie mich zuallerletzt noch einmal auf Elias Canetti zurückkom¬ men, damit ich ohne Autoritätsanmaßung ein von ihm ausgestelltes Leserezept für die „Letzten Tage der Menschheit“ mit meinem „probatum est“ als Rezeptionsempfehlung weitergeben kann, die ich gern auf das Gesamtwerk von Karl Kraus ausgedehnt wissen möchte: „Wer die Hoffnung hat - und ich wüßte nicht, wen es gibt, der sie nicht haben müßte

wer die Hoffnung hat, daß es uns noch gelingen könn¬

te, der schwarzen Hälfte dieser Zukunft, die Vernichtung droht, in die andere, die des guten Lebens, zu entkommen, die nicht weniger Mög¬ lichkeit und dazu alle Wünschbarkeit auf ihrer Seite hat, der weiß auch, daß es zuallererst auf die Kenntnis unserer Verfassung ankommt, die Kenntnis dessen, wozu Menschen, in keiner Hinsicht anders als wir selbst, imstande sind. Diese Kenntnis kann nicht vollkommen genug, sie kann nicht extrem genug sein. Es gibt zwei Arten, die ,Letzten Tage der Menschheit' zu lesen: einmal als die peinigende Einleitung zu den wirklich letzten Tagen, die uns bevor¬ stehen; dann aber auch als ein Gesamtbild dessen, was wir von uns abtun müssen, wenn es nicht zu diesen wirklich letzten Tagen kommen soll. Am besten wäre es, man fände die Kraft, dieses Werk zu verschie¬ denen Gelegenheiten verschieden, nämlich auf beide Weisen, zu erle¬ ben.“31

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire Traditionswahl und Zeiterfahrung im Frühwerk von Karl Kraus (1892-1899)

„Wie viel habe ich nicht zu verleugnen! Aber ich bekenne mich zu allem, was ich zu gestehen habe.“ (F 285, 52) Mit einer Bestimmtheit, die manchem erstaunlich, ja befremdlich erscheinen mochte und mag, hat Bertolt Brecht im Jahre 1934 den Herausgeber der „Fackel“ und Autor der „Letzten Tage der Mensch¬ heit“ den „ersten Schriftsteller unserer Zeit“1 genannt. Daß ein solches Prädikat nicht ein leichtfertig erteiltes und im Bedarfsfall widerrufbares Kompliment war, wird man bei einem jederzeit so bewußt reflektieren¬ den Schreiber wie Brecht zumal in diesem Fall ohne weiteres voraus¬ setzen und demnach auch annehmen dürfen, daß der amphibolische Doppelsinn der Formel ihm nicht unwillkürlich unterlaufen, sondern als wissent- und willentlich beabsichtigte Sinngebung zuzuschreiben ist. Dieser Doppelsinn läßt sich als Ausdruck einer Dialektik von Synchronie und Diachronie bestimmen und etwa so auseinanderfalten: Nicht nur hat Karl Kraus als Repräsentant des Typus „Schriftsteller“ in diesem unserem Zeitalter eine Priorität in der Rangfolge, ihm kommt auch bei der Herausbildung dieses Typus eine diachronische Priorität in der Zeitfolge zu, da er ihn entwicklungsgeschichtlich als erster exempla¬ risch verkörpert und reflektierend begründet hat. Bei dem Versuch, konkrete Qualitätskriterien für den hier anvisierten modernen Typus „Schriftsteller“ auszumachen, vermag der mit dem Brecht der dreißiger Jahre theoretisch so produktiv kommunizierende Walter Benjamin etwas weiterzuhelfen. Dessen letzte Rezension, die er vor Ausbruch des Dritten Reiches im November 1932 unter dem sarka¬ stischen Titel Jemand meint“ in der „Frankfurter Zeitung“ veröffent¬ lichte, galt einer Sammlung von kritischen Aufsätzen, die der zionisti¬ sche Publizist Emanuel Bin Gorion kurz zuvor, einem unkontrollierten Wortspieltrieb folgend, als sein „Ceterum recenseo“ vorgelegt hatte,2 gleichzeitig mit dem womöglich noch unbedachteren Pamphlet „Der Fackelreiter. Ein Wort über Karl Kraus“,3 das die Bretter, mit denen hier ein sogenannter Erwartungshorizont vernagelt ist, stolz vorweist in dem unbezahlbaren Urteil: „Was Kraus sagt, sind olle Kamellen, längst

28

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

ausgedroschenes Stroh. Die Fackel ist die langweiligste Zeitschrift, die es gibt, denn sie bringt nicht einmal Lügen oder Indiskretionen.“4 Eben diesen Bin Gorion, dem wenige Monate später die von der „Drit¬ ten Walpurgisnacht“ satirisch beleuchtete makabre Ehre widerfuhr, in der Ära der Bücherverbrennung von den braunen Literaturwarten gegen die Asphaltliteraten ausgespielt zu werden, und zwar in seiner Eigenschaft als konsequenter Zionist, der stets Kritik an den litera¬ rischen Assimilationsjuden geübt und ihnen gegenüber das jüdisch¬ völkische Prinzip vertreten habe (S 12, 154f.), diesen Bin Gorion nimmt Benjamin — zwei Jahre nach dem großen Essay über Karl Kraus und unter ausdrücklichem Bezug auf ihn - zum Anlaß, das Wesen des modernen Schriftstellers begrifflich und typologisch gegen einen zu repressiver Trivialität verkommenen Dichter- und Dichtungsbegriff polemisch profanierend abzugrenzen, indem er zunächst den kriti¬ schen und polemischen Anspruch, den der Autor von „Ceterum recenseo“ erhebt, mit dessen schriftstellerischer Leistung konfrontiert und diese schon deshalb als nichtig erweist, weil sie von der durch die „große Überlieferung“ verkörperten Grundhaltung schriftstellerischer Authentizität einen Begriff weder verrät noch vermittelt, nämlich von jener vollkommenen Identität des „Persönlichen und Sachlichen“, wie sie Karl Kraus mit seinem ethisch-ästhetischen Doppelimperativ der „Deckung“ (F 329, 26; F 572, 24) zugleich fordert und erfüllt: „Wenn Cato maior im Senat seiner Rede die Worte anschloß:,Ceterum censeo Carthaginem esse delendam1, so war es das erste Mal nur eine Mei¬ nung. Beim vierten oder fünften Mal war es ein Tick, beim zehnten Mal war es eine Losung und nach einigen Jahren der Anfang der Zer¬ störung Karthagos geworden. Auf Catos Wort spielt der Verfasser eines Bandes von Kritiken mit einer Wendung an, die im Mund eines Prager Gymnasiasten verzeihlich wäre. Ein Polemiker - und Bin Gorion hält sich für einen - hätte dieses Diktum besser verwerten können. Es läßt sich viel aus ihm lernen. Jeder Polemiker hat sein Karthago und anfangs gar nichts in der Hand als seine Meinung. Wie schmiedet er sie aber zur Waffe um? Zum Instrumente der Zerstörung, die er plant? Er leiht ihr seine Stimme, seine Gegenwart; er stattet sie mit allem Inkom¬ mensurablen, Zufälligen seines privaten Daseins aus. Für ihn, den wirk¬ lichen Polemiker, gibt es zwischen Persönlichem und Sachlichem gar keine Grenze. Nicht nur was die Erscheinung seines Gegners angeht, sondern vor allem, und noch mehr, die eigene. Ja - man erkennt ihn daran, daß er sein moralisches und intellektuelles, sein publizistisches und sein privates Leben der öffentlichen Meinung so deudich macht wie ein Akteur sein Dasein auf der Bühne. Ihm ist die Kunst vertraut,

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

29

die eigene Meinung so virtuos und bis in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen, daß der gesamte Vorgang umschlägt und die fast idiosynkratische Betonung der privaten Standpunkte, Vorurteile und Interessen zu einer schonungslosen Invektive gegen die herrschende Gesellschaft wird. Kritik von dieser Haltung strebt seit jeher - ihre Linie von Swift bis Karl Kraus beweist es schlagend - zum politischen Pamphlet. Um diese große Überlieferung fortzusetzen, fehlt dem Verfasser jegliche Befugnis.“5 Dieser Inkompetenz aus Unfähigkeit, die kommunikative Beliebigkeit eines MeinungsfoTdm von der technisch kontrollierten und kon¬ trollierbaren schriftstellerischen Konstruktionsarbeit eines Meinungsbildners zu unterscheiden, entspricht eine komplementäre Inkompe¬ tenz aus Unvermögen, in dem spezifisch schriftstellerischen „Moment des Technischen“ ein grundlegendes Kriterium für das Verständnis und die Wertung aller Wortkunst zu erkennen. Benjamin resümiert seine polemische Analyse der trivialen, mit womöglich noch trivialeren Vergleichen ornamentierten Bin Gorionschen Kontrast-Klischees von „echter Kunst“ und „Pseudo-Kunst“, „echten Dichtern“ und „PseudoDichtern“ mit den Worten: „Falls diesen gänzlich müßigen Bestim¬ mungen irgendein Sinn zukommt, ist es der, Schriftstellerei und Dich¬ tung zu entzweien:

der ersten

als dem unbeträchtlichen Bezirk

profaner Schreiber einen Tempelhain zu konfrontieren, in dem der ,echte Dichter4 seines Amtes waltet. In Wahrheit läßt sich keine große Dichtung - in ihrer Größe! - ohne das Moment des Technischen ver¬ stehen. Dieses aber ist ein schriftstellerisches.“6 Benjamins Rezension leistet Erhebliches zur inhaltlichen Konkretisie¬ rung einer Typologie, in deren Lichte der synchronische Aspekt der zeitlich benachbarten Brechtschen Formel vom „ersten Schriftsteller unserer Zeit“ substantielle Bedeutung gewinnt; dessen Rangpriorität wäre demnach wesentlich durch das erreichbare Maximum an Schlüs¬ sigkeit bestimmt, mit der die Deckungsgleichheit von „Persönlichem und Sachlichem“ sich auch und gerade am spezifisch schriftstelle¬ rischen „Moment des Technischen“ dartun läßt: „an vielen Beispielen erwiesen und durch kein einziges zweifelhaft.“7 Dieser synchronische Aspekt sei gleichsam als perspektivischer Flucht¬ punkt und normative Folie einer Untersuchung vorausgeschickt, deren Hauptaugenmerk diachronischen Aspekten gelten soll: den Voraus¬ setzungen, die entwicklungsgeschichtlich dazu führten, den Heraus¬ geber der „Fackel“ zum „ersten Schriftsteller unserer Zeit“ auch im Sinne der historischen Priorität des so verstandenen Typus „Schrift¬ steller“ werden zu lassen, und dabei ganz speziell der siebenjährigen

30

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

literarischen Produktion des jungen Karl Kraus bis zu jenem ersten Heft der „Fackel“, das 1899 mit der anzüglichen Datierung .Anfang April“ (F 1, 1) die liberale Bourgeoisie und deren Presse in eben diesen zu schicken schien. In einem der Beiträge, mit denen Kraus unmittelbar nach Gründung der „Fackel“ sein „geistiges Vorleben zu skizzieren“ (F 1, 4) unternahm, stoßen wir auf eine nachprüfenswerte Periodisierung dieser Anfangs¬ phase aus der Sicht des Fünfundzwanzigjährigen: „Nun also, - aber ich bitte nicht zu erschrecken: ich hatte im Alter von neunzehn bis drei¬ undzwanzig Jahren .Verbindungen“, das bedächtige Warmhalten neu¬ gewonnener .Beziehungen“ war mein Sturm und Drang und ein fein¬ sittsames Auskommen im liberalen Zeitungskreise der Inhalt meiner Flegeljahre“ (F 5, 6). Überträgt man diese Altersangaben auf das Koor¬ dinatensystem der Krausschen Lebensdaten, dann ergibt sich für die Jahre der literarischen Entwicklung des jungen Autors bis zur Grün¬ dung der „Fackel“ (1892-1899) eine Gliederung in zwei Abschnitte mit einem markanten Einschnitt bei 1897. Der erste dieser Abschnitte, der Anfang 1897 mit der Buchausgabe der ironischen Satire „Die demolirte Litteratur“ seinen Abschluß fand, ist in seinen Umrissen wiederholt beschrieben worden, oft freilich mit dem ungerechtfertigten Anspruch, damit über 1897 hinaus die Gesamt¬ entwicklung des Autors bis zur Gründung der „Fackel“ zu charakte¬ risieren. Der achtzehnjährige Gymnasiast debütierte im April 1892 mit einer Besprechung der Dialektfassung von Hauptmanns „Webern“, die er schon hier als die erfüllte Hoffnung auf das von diesem Dichter erwartete „wahrhaft Große“ (FS I, 9) gerühmt und im darauffolgenden Jahr gleichsam als Vorwegnahme des späteren „Theaters der Dichtung“ in Bad Ischl, München und Wien auch öffentlich vorgetragen hat.8 Die¬ ses Debüt ist ebenso symptomatisch wie programmatisch: Ausdruck einer von Anfang an polemischen Frontstellung gegen die im Namen des Jungen Österreich“ von Hermann Bahr bereits 1891 ausgegebene Parole einer „Überwindung des Naturalismus“,9 gegen die der junge Kraus mit zunehmender Schärfe das Argument vorbringt, man könne den Naturalismus nicht überwinden, ohne ihn gehabt zu haben; anstatt mit eingebildeten Überwindungsaufgaben habe sich die Jungwiener Literatur mit ihrem realen Nachholbedarf zu befassen (vgl. FS I, 16). Und im Mai 1893 heißt es in der für Michael Georg Conrads „Gesell¬ schaft“ geschriebenen ersten größeren Auseinandersetzung mit Her¬ mann Bahr, die ihre polemische Tendenz schon mit dem parodieren¬ den Titel „Zur Ueberwindung des Hermann Bahr“ (FS I, 103-114) ankündigt, summarisch und lapidar: „Unfreiwillig hat Bahr bewie-

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

31

sen, daß sich die dramatische Produktion Österreichs sozusagen - ,aus¬ stopfen lassen' kann, was man aber ganz getrost - auf die ganze ,Litteratur' Österreichs ausdehnen darf, das froh und glücklich sein muß, zum Litteraturstaate Deutschland zu gehören“ (FS I, 112). Zum Bewei¬ se dieser These von der führenden Rolle des reichsdeutschen Litera¬ turstaates, dem anzugehören Österreich sich glücklich schätzen müsse, werden nicht nur Namen ins Feld geführt, deren Wertschätzung Karl Kraus auch später aufrechterhalten oder zumindest nicht zurückge¬ nommen hat - Hauptmann und Liliencron, Panizza und Wedekind, Hartleben, Holz und Schlaf -, sondern auch Autoren, die über kurz oder lang selbst Objekte oder gar Leitfiguren der Krausschen Satire zu werden

bestimmt waren:

allen voran

Otto Julius Bierbaum,

ein

„Naturmensch, ein wahrer Prachtkerl, gesund durch und durch, im Hassen und Lieben“ (FS I, 62); sodann der mit Karl Kraus fast gleich¬ altrige „junge, kernfrische Naturpoet“ (FS I, 91) Karl Busse, der nach „Art und Fähigkeit Meister Liliencron zur Seite gestellt werden kann“ (FS I, 67), und schließlich auch Otto Ernst, der 1893, wiederum in Michael Georg Conrads „Gesellschaft“, als der „großartigste Satiren¬ schreiber des heutigen Deutschland“ gerühmt wird (FS I, 94). Im Programm seines ersten öffentlichen Vortrags, den der Achtzehn¬ jährige am 21. Oktober 1892 unter dem gegen die kulturkonservative Ablehnung wie gegen die Bahrsche „Überwindung des Naturalismus“ gerichteten Titel „,1m Reiche der Kothpoeten' oder ,Zwei Stunden modern1“10 ankündigte, vermitteln die Namen der dort gelesenen Autoren ein Bild jener „reichsdeutschen“ Moderne, als deren Wiener Sendbote der Anfänger sich empfand: Liliencron, Bierbaum, Michael Georg Conrad, Ompteda, Arno Holz und Karl Busse. Von den Wiener Altersgenossen erscheint neben Paul Wertheimer nur der noch ent¬ schiedener nach dem „Litteraturstaate Deutschland“ gravitierende Schulfreund Anton Lindner,11 mit dem gemeinsam der junge Karl Kraus sein erstes literarisches Projekt betrieb, eine um die Jahreswende 1892/93 in den Breslauer „Monatsblättern“ (FS I, 65), in der Münch¬ ner „Gesellschaft“ (FS I, 71f.) und in den Bremer „Neuen litterarischen Blättern“ (FS I, 72) angekündigte „Satirenanthologie“, zu der die Her¬ ausgeber ungedruckte oder bereits veröffentlichte Beiträge erbaten. Diese „Satirenanthologie“, die als handfester Beleg für die Tragfähig¬ keit bloßen Notizenruhms noch jahrzehntelang als 1892 tatsächlich erschienener Titel durch Handbücher und Literaturgeschichten gei¬ sterte, obwohl ihr Plan lediglich zu einer ausgedehnten Korrespondenz auf Briefpapier mit dem Aufdruck „Redaktion der Satirenanthologie“ geführt hatte, bot gleichwohl dem Mitherausgeber Karl Kraus die erste

32

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

Gelegenheit, sich zum Problem und zur zeitgenössischen Problematik einer Literaturspezies zu äußern, für die er sich von Anfang an als besonders zuständig betrachtet hat: „Wir sind nicht von der lyrischen Anthologitis pestifera erfaßt“, heißt es in der Ankündigung, „wir wollen eine Anthologie

von

Satiren veranstalten. Das kostbare

Gebiet der Satire ist eines, auf das sich die Klagen von einem allgemei¬ nen Niedergange besonders beziehen. Wir glauben, daß es eine ganze Reihe wirklicher Satiriker giebt, die nur leider nicht bekannt werden, weil sie den Fehler haben, jung zu sein und zu den berüchtigten Jüng¬ sten1 zu gehören, die der Philister nicht kennen will, weil sie zumeist ihre Begabung dazu benutzen, den Philister zu geißeln: Detlev von Liliencron, Otto Erich Hartleben, Hans Merian, Otto Ernst, Frank Wedekind und viele andere. Unsere Anthologie soll ein Gesamtbild dessen geben, was heute auf dem Gebiete der Satire, der sozialen Satire gelei¬ stet wird“ (FS I, 71). Daß aus dem Anthologie-Projekt nichts wurde, dürfte nicht zuletzt an den zusehends anspruchsvoller werdenden literarischen Wertungsmaßstäben des jungen Schriftstellers gelegen haben, die sehr bald dazu führten, daß die in Aussicht gestellte „ganze Reihe wirklicher Satiriker“ unter den Zeitgenossen sich merklich lich¬ tete, bis schließlich von ihr und den „vielen anderen“ neben dem sati¬ rischen Hauptmann des „Biberpelz“12 nur noch die Namen Liliencron und Wedekind als wertbeständige Restgrößen verblieben. Das Tempo dieses kritischen Auslese- und Abwertungsprozesses läßt sich am Bei¬ spiel Karl Henckells exemplifizieren, der, noch im Januar 1894 unter den „bedeutenderen Kampfsatirikern“ (FS I, 161) neben Wedekind genannt, schon im November desselben Jahres dem Verdikt verfällt: „Compacte Leitartikel-Satire in nothdürftige Reime, revolutionäres Pathos in stotternde Freirhythmen gestopft, daß es nur so knarrt von »meckerndem Philisterschnack1 und derartigem greulichen Schwulst. [...] Aus Mangel an Selbstkritik allein wird man noch kein Liliencron“ (FS I, 205). Zu den Gegenständen dieses kritischen Revisionsprozesses gehört auch der Freund und Mitherausgeber Anton Lindner, von des¬ sen „Mädchendefiliermarsch“, den Kraus noch im Oktober 1892 in sein Vortragsprogramm aufgenommen hatte, es reichlich ein Jahr spä¬ ter heißt, diese Verse seien „mit ihrer chargierten Gesundheit nichts weiter [...] als eine geschickte Verbierbaumung des Liliencron“ (FS I, 165), womit zugleich auch das Urteil über die Entwicklung des emeri¬ tierten „Prachtkerls“ Bierbaum zum trivialen „Bier-Baumbach“ (FS I, 162) bzw. „Bierbaumbach“ (FS I, 217) gesprochen ist. Parallel zu diesem Prozeß der Um- und zumeist Abwertung aller Werte zeitgenössischer Satire verläuft eine sich intensivierende Rückbe-

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

33

sinnung auf große autochthon österreichische, zumal Wiener Tradi¬ tionen in diesem Bereich, allen voran schon Mitte 1893 im Berliner „Magazin für Litteratur“ der Hinweis auf die „ganz eigenartige, mes¬ serscharfe, dürre, köstlich-gespreizte, spitze Komik“ des „genialen Sati¬ rikers“ Nestroy (FS I, 140) und bald auch auf das satirische Potential, das durch eine produktive Wiederaufnahme der vom kommerzialisier¬ ten Operettenbetrieb verdrängten reichen Wiener Offenbach-Rezeption freizusetzen wäre. Schon Anfang 1896 sah Karl Kraus die wahre, aber nicht wahrgenommene Aufgabe der Wiener Volks- und Vorstadt¬ theater in der Verwirklichung eines Projekts, das dann erst im „Theater der Dichtung“ der zwanziger Jahre Gestalt gewann: „Wie wäre es, wenn sich

unsere

Vorstadttheater

durch

sorgsame

Inscenierung

eines

Nestroy- und eines Offenbach-Cyklus zum Eingeständnis ihrer Deca¬ dence entschlössen?“ (FS I, 245f.) Die Unfähigkeit zu kreativer Pro¬ duktion von Neuem habe rückwirkende Kraft und manifestiere sich als komplementäre Unfähigkeit zu kreativer Reproduktion des Alten: „Hand in Hand mit der Unfähigkeit, zu produzieren, geht die Ge¬ pflogenheit, die alten Formen nicht mehr zu respektieren“ (FS I, 246). Während der Inkubationszeit der um die Jahreswende 1896/97 zuerst in der Halbmonatsschrift „Wiener Rundschau“ in vier Folgen publi¬ zierten Satire „Die demolirte Litteratur“ (FS I, 269-289), deren Motive zum Teil schon in parodistischen und satirischen Beiträgen des Jahres 1895 vorgeformt erscheinen,13 begann Karl Kraus auch über Wesen und Entwicklungsstand der Prosasatire zu reflektieren. Geläufig war ihm natürlich schon vorher die traditionsreiche Gepflogenheit, zwei Arten der Satire zu unterscheiden: „Die ätzende, spottende sowie die ernsthafte, strafende pathetische Satire“ (FS I, 138). Daß in dieser ersten Schaffensphase seine kritischen Sympathien wie produktiven Bemühungen fast ausschließlich der ersten, der ironischen, nicht¬ pathetischen Spielart galten, beweist schon eine frühe Randbemer¬ kung zu einer antinaturalistischen Polemik aus dem Lager der völkisch¬ bodenständigen österreichischen Literatur: „Allen diesen Leuten fehlt eine treffliche Waffe im Kampfe, die beste, der Humor; die können sich nur mit Pathos giften. Wir dagegen nehmen die Sache lange nicht so tragisch und diese aufgeregten Magisterchen gar nicht mal ernst, wir geifern nicht, wir lachen“ (FS I, 57f.). Der Begriff Pathos ist noch fast ausschließlich negativ besetzt, meist auch ausdrücklich mit mehr oder weniger klischierten Negativ-Attributen versehen: „tönendes Pathos“ (FS I, 28f.), „schülerhaftes Pathos“ (FS I, 123), „kindliches Pathos“ (FS I, 132), „schreiendes Pathos“ (FS I, 146). So rühmt Kraus Ende 1894 an der Sammlung „Schlimme Geschichten“ des seinerzeit viel-

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Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

gelesenen und -gefürchteten Wiener Satirikers Gustav Schwarzkopf die¬ sen als „bedächtigen Satyriker“ (FS I, 208), dessen „prächtige Ironie in ihrer ganzen ruhigen Rücksichtslosigkeit“ (FS I, 209) „kalt und klar“ (ebd.) in einem „zeitlichen Nacheinander menschlicher Lächerlich¬ keiten [...] ironisch Thatsache an Thatsache zu kühlen Biographien“ (FS I, 208) reiht. Die konsequent durchgehaltene ironische Distanz und Reserve erscheint als die Kardinaltugend des Satirikers, dessen Idealtypus uns in der abschließenden Charakteristik des Autors durch den jungen Kritiker so entgegentritt: „,Herz\ was man so öffentlich darunter versteht, ist ihm keineswegs versagt, aber er drückt sich, als ob er sich ihrer schämte, um die Sentiments und ihre Darstellung ,liegt* ihm nicht. Wo die Verkehrtheiten seiner Mitmenschen lächerlich blei¬ ben, vermag er noch mitzugehen, da borgt er ihnen seinen soliden Hohlspiegel und beleuchtet die Dinge, ohne sich aufzuregen, mit sei¬ ner entzückend sachlichen Satire, die wohlerzogen, nie im Ausdrucke über das Ziel schießt, nie höhnt, vielmehr nur was anderen Leuten blu¬ tiger Ernst ist, höflich und gemessen in Gänsefüßchen setzt“ (FS I, 210). Mit dem Stichwort „Gänsefüßchen“ ist ein Thema berührt, das Kraus wenig später zum Gegenstand einer gleichnamigen Glosse

(FS I,

239-242) gemacht hat: das Problem des satirischen Zitats, das dann im Gesamtwerk der „Fackel“ eine so zentrale Rolle zu spielen bestimmt war. Es wird hier ex negativo aufgerollt, als Analyse jener Praktiken bil¬ ligen Ironisierens, deren preußische Mutationsvarianten dem Heraus¬ geber der „Fackel“ fünfunddreißig Jahre später „die ganze Stellung Berlins zur Polemik“ vergegenwärtigten, wie er sie allein schon in der Musterkollektion seiner reichsdeutschen Lieblingsekelworte erschöp¬ fend charakterisiert fand: „Sie nennen es ,anpflaumen‘, .durch den Kakao ziehen1, in besonders sanglanten Fällen .verhohnepipeln1, und stellen sich gern vor, daß letzten Endes das dicke Ende nachkommt und die Beteiligten ,zum Kadi' gehen, der in Berliner Druckereien klischiert vorhanden ist“ (F 847, 75). Als individuelles Urbild für die Wiener Spielart des ironisch satirisierten Typus „Gänsefüßerich“ (FS I, 242, 251) hat ganz gewiß Felix Salten unfreiwillig Modell gesessen; doch anders als die ab 1893 zumeist immer auch als polemische Aktionen leitmotivisch weitergeführten satirischen Attacken und Ausfälle gegen Hermann Bahr,14 die - außer im semifiktiven Rahmen der „Demolirten Litteratur“ und ihrer Vor¬ formen15 - stets namentlich adressiert sind, bleibt der Komplex „Sal¬ ten“ bis zum ersten Erscheinen der „Fackel“ und noch einige Monate darüber hinaus als ,Anlaß“ derjenigen Kategorie „satirischer Beweis¬ führung“ (S 12, 38) Vorbehalten, deren Verfahren sich der Maxime

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

35

unterwirft: „Nicht immer darf ein Name genannt werden. Nicht, daß einer es getan hat, sondern daß es möglich war, soll gesagt sein“ (F 272, 44). Dem nichtpathetischen Aspekt des satirischen Imperativs ,Aus¬ sprechen, was möglich ist!“ (F 336, 42) zeigt sich auch die Glosse „Gänse¬ füßchen“ verpflichtet, indem sie zugunsten einer „theophrastischen“16 ironischen Charakteristik des Typus auf dessen personale Attribuierung verzichtet und so den rein publizistischen Imperativ Ausspre¬ chen, was ist“ (F 336, 42), ohne ihm auszuweichen, in freierem Spiel¬ raum transzendiert: „Es gibt Schriftsteller, die mit flinken Gänsefüßchen in die Literatur hineingesprungen sind. Man ist leicht geneigt, sie Satiriker zu nennen. Satire wäre sodann die Fähigkeit, unwichtigen Thatsachen gegenüber ein wenig den Mund zu verziehen. Ehemals war die Teufelsgrimasse nothwendig, heute braucht man sein Gesicht kaum zu strapaziren, um in den Ruf eines köstlichen Ironikers zu kommen. Es ist hier ähnlich wie mit dem tendenziösen Witz bestellt, der nicht mehr organisch sein muß, auch als seichter Wortwitz dankbare Lachfalten erzeugt. Das Publicum hat seine Ansprüche degradirt, und unsere Satiriker machen von dem ihnen eingeräumten Recht auf Flarmlosigkeit weitestgehenden Gebrauch. Sie sind liebenswürdig, von gewinnender Bescheidenheit und höchst galant den jeweiligen Uebeln gegenüber, welche sie nicht geißeln, sondern mit Gänsefüßchen kitzeln. So ein Satiriker hat etwas Rührendes an sich, zumal wenn man sich auch die ihm unterstehenden Uebel ansieht. Uebelständchen sind es, welchen er mit so viel putziger Grazie an den Leib rückt, dabei doch mit einem so niedlichen Un¬ gestüm, der zu pointiren scheint: ,Das muß einmal gesagt werden!1“ (FS I, 239f.). Das perspektivisch Frappierendste an dieser bereits im Januar 1896 ver¬ öffentlichten ersten satirischen Bilanz zeitgenössischer Wiener Satire ist indessen, daß die „Gänsefüßchen-Betrachtung“ (FS I, 250) sich über weite Strecken so liest wie die Beschreibung einer unzulänglichen, weil unverbindlichen Handhabung von sprachkritisch motivierten Verfah¬ ren, deren der reife Satiriker Karl Kraus sich selbst so meisterhaft bedient hat, zumal jener kunstvollen „Methode des kommentarlosen Zitierens“17, von der Brecht einst sagen wird, sie sei unter allen Metho¬ den dieses Schriftstellers die am wenigsten nachahmbare, weil sie den Aufbau eines Raumes voraussetze, „in dem alles zum Gerichtsvorgang wird“.18 Was Kraus hier satirisch ironisiert, sind, um es mit unvermeid¬ licher Paradoxie auszudrücken, läppische „Vorahmungen“ läppischer Nachahmungen der „Fackel“: „Heute erscheint die seichte Ironi¬ sierung der Thatsache antiquirter als die Thatsache selbst. [...] Die

36

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

Fähigkeit, das Cliche der Reporterphrase um zwei Anführungszeichen zu bereichern, wird heute vielfach für Satire genommen“ (FS I, 240). Kritisch analysiert wird jene „Ironie [...], die sich nicht so sehr auf den Vorgang selbst, als auf die obligate Beschreibung des Vorganges bezieht. Zunächst soll die eingewurzelte Phraseologie des Reporters und durch sie hindurch erst der Gegenstand getroffen werden. Es gilt, die Sprache von den veralteten Wendungen zu befreien. [...] Kurz, man

wendet

ohne

Unterbrechung

die

verpönten

.gestorbenen

Worte419 selbst an, und, unfähig neue zu schaffen, unterscheidet man sich doch von seinen geschmackvolleren Zeitgenossen, indem man sie ausdrücklich als gestorbene Worte betont, sein Mißfallen durch Gänse¬ füßchen bezeichnend“ (FS I, 241). Das Fazit dieser seiner ersten .Ana¬ tomie der Satire“, vorgenommen am Obduktionsobjekt einer zeittypi¬ schen Wiener Erscheinungsform der harm- und tendenziösen Saüren, zieht Kraus mit einem Resümee, das in einer Wortspielpointe gipfelt: „Die Lächerlichkeit hat den großen Zug eingebüßt. Der komische Gehalt unserer primitiven Thorheiten von heute ist leicht ergründet. Ihnen mag jene unproductive, wiederholende Satire gewachsen sein, die mit Interpunctionen ihr Auskommen findet. - Anführungszeichen der Zeit!“ (FS I, 242). Dieser Gedanke vom fehlenden „großen Zug“ in der zeitgenössischen Wiener Lächerlichkeit wird wenige Tage später zum Ausgangspunkt des nächsten „Wiener Briefs“ (FS I, 242-246) für Michael Georg Con¬ rads „Gesellschaft“, der insofern ein Novum darstellt, als Karl Kraus sich hier zum ersten Mal in der Rolle eines „Chroniqueurs“ (FS I, 257) versucht, der aus liberaler Sicht bestrebt ist, seinen deutschen Lesern vorzudemonstrieren, wie die Miserabilität der antisemitisch geprägten Wiener Kommunalpolitik - die dafür repräsentativen Namen Lueger, Schneider und Vergani fallen hier bezeichnenderweise ebenfalls zum ersten Mal - und die Miserabilität des Wiener Kulturlebens einander entsprechen. In beiden Bereichen wird ein chronischer Mangel an tauglichen Objekten der Satire festgestellt: „Uns fehlen heute die bedeutenden politischen Unfähigkeiten, uns fehlen auf litterarischem Gebiete die interessanten Talentlosigkeiten großen Stils“ (FS I, 242). Die nähere Beschreibung des Defizits auf dem literarischen Sektor ent¬ hält eine ironisch-wehmütige laudatio temporis acti, die aufhorchen läßt: „Die .vaterländischen Dichter4, die .Dichter für die innere Stadt4 waren es ehedem, die Mosenthal, Eduard Mautner, Frankl, Weilen und Max Waldstein, welche in einem schaffensreichen und schaffensfrohen Leben dem Satiriker willkommenen Stoff zutrugen - von der .alten Garde4 lebt nur mehr Max Waldstein, der, heute ein müder Mann, nur

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

37

mehr spärlich und nicht mehr mit der alten Rüstigkeit und Frische für die Erheiterung seiner Landsleute sorgt. Alexander Weilen hat wohl die Erbschaft seines Vaters angetreten, doch fehlten ihm sowohl Reife und Gediegenheit als auch die Produktivität seines Vorgängers“ (FS I, 243). Rekapituliert man diesen anspielungsreichen Passus, dann ergibt sich zunächst und vor allem die Frage nach der Identität des als gattungs¬ repräsentativ erwähnten, jedoch nicht namentlich genannten, weil offensichtlich als bekannt vorauszusetzenden Satirikers, dem jene angeführten „vaterländischen Dichter“ so willkommen Schaffensstoff boten. Literaturkundigen Lesern von 1896 fiel die Antwort auf diese Frage sicherlich nicht schwer, jedenfalls leichter als einem Literar¬ historiker von heute. Gemeint war hier der 1893 verstorbene, von 1865 bis 1892 durch seine Wochenendfeuilletons unter dem Reihentitel „Wiener Spaziergänge“ bekannt und berühmt gewordene Daniel Spit¬ zer.20 Die Sammelbezeichnung „vaterländische Dichter“21 war die leit¬ motivisch wiederholte ironische Titulatur, die Spitzer für die oben auf¬ gezählten Wiener Lieblingsopfer seiner Literatursatire reserviert hatte, von denen „den Dichtern der innern Stadt, den Herren Mosenthal und Weilen“22 Vorzugsplätze eingeräumt waren; ebenso hatten auch Lueger sowie „die Herren Schneider und Vergani“ (FS I, 242) schon zum Per¬ sonal der politischen Satire des „Wiener Spaziergängers“ gehört, und zwar in einer völlig analogen Rangabstufung, nämlich gleichfalls als Symptome eines „argen Niederganges“ (FS I, 242) in puncto satirischer Tauglichkeit, verglichen mit dem „komischen Gehalt“ der „bedeuten¬ den politischen Unfähigkeiten“ aus den Reihen der älteren Generation antiliberaler Juden- und Fortschrittsfeinde, unter denen es im Unter¬ schied zur einförmigen Grobheit der „nagelneuen Antisemiten“23 noch farbige Individualitäten gegeben habe wie etwa den Tiroler Pater Josef Greuter, dem Spitzer nachrief: „Er war wenigstens der amüsanteste der Reactionäre, der jovialste der Fanatiker, eine höchst sonderbare Mischung von Arbues und Nestroy.“24 Bei und trotz aller klaren Eindeutigkeit dieses ersten und einzigen kompakten Spitzer-Bezugs vor der „Fackel“, dessen Anspielungsskala eine extensiv und intensiv so genaue Kenntnis der „Wiener Spazier¬ gänge“ verrät, erscheint es doch bemerkenswert, freilich aber auch ebenso rätselhaft wie enträtselungswürdig, daß Karl Kraus den Satiriker erst im Mai 1899 zum ersten Mal öffentlich beim Namen genannt hat, nachdem allerdings schon im ersten Heft der „Fackel“ Auszüge aus einer Rezension der satirischen Streitschrift „Eine Krone für Zion“ abgedruckt worden waren, in denen es ausdrücklich heißt: „An S p i t -

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Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

z e r, dem ,Wiener Spaziergänger4, hat er sich zuerst herangebildet“ (Fl, 31). Eine Erklärungshypothese für das lange Schweigen über das dem jun¬ gen Wiener Satiriker doch so naheliegende und sicherlich auch oft nahegelegte Thema Spitzer kann der Anlaß bieten, aus dem er es aus¬ drücklich brach: der Rechenschaftsbericht „Ich und die ,Neue Freie Presse 4 44 (F 5, 3-11). Hier wird aus dem Brief eines der Herausgeber des Blattes das dem jungen Autor gemachte Angebot zitiert, „die seit dem Tode Daniel Spitzers verwaiste Rubrik“ zu übernehmen, da sie „keinem Besseren“ übertragen werden könne (F 5, 1 Of.): unter der Vorausset¬ zung natürlich, daß der so Belobigte als auf das sogenannte „Blattgefühl“ (F 357, 7lf.; F 363, 7)25 eingeschworenes Redaktionsmitglied „völlig dressiert in den Zwinger der ,Neuen Freien Presse 4 44 (F 5, 10) zu schlüpfen gehabt hätte. Kraus begründet seine Ablehnung des Antrags gleichsam als Verurteilung eines von der Exekutive publizistischer Gesinnungskontrolle begangenen Delikts der „Ehrfurchtsverletzung [...] vor der Majestät der Satire“ (F 226, 12), und zwar im Namen der als Vermächtnis empfundenen und zu bewahrenden Integrität eines „großen Satirikers“ (F 912, 4): „Der Antrag, gleißend und geeignet, die Sinne manches jungen Schriftstellers zu verführen - mich hat er nicht verlockt. Ich wollte ihn erst annehmen, wenn wir, ich und der Heraus¬ geber, genau in Erfahrung zu bringen vermöchten, ob Daniel Spitzer heute in die Redaction der ,Neuen Freien Presse4 einzutreten geson¬ nen wäre. Mit voller Sicherheit war das nicht zu eruieren, und als der Allgewaltige die redactionellen Streichungen aufzuzählen begann, ,die selbst Spitzer sich gefallen lassen musste4, glaubte ich das Freiheits¬ bedürfnis des Todten nicht besser respecderen zu können als durch eine stricte Absage ..." (F 5, 11). Mit der so öffentlich und eindeutig vorgenommenen Interpretation seiner .Absage“ im Sinne eines symbolischen Akts der Sühnung von Willensbeugungen, die der Satiriker als Redakteur sich hatte gefallen lassen müssen, enthüllte und erfüllte der junge Autor seinen langjähri¬ gen inneren Widerstand gegen die ihm selber drohende Gefahr, unter dem vereinigten Erwartungsdruck von Leser-, Kritiker- und Heraus¬ geberwünschen (wie ihn Harden schon 1897 auf die meinungsreprä¬ sentative Formel Aber der Nachfolger Spitzers müßten Sie doch wer¬ den“26 gebracht hatte) der Verlockung zur Selbstpreisgabe an den modellhaft vorgeprägten Doppelrollenzwang eines redaktionell beam¬ teten „satirischen Chronisten“27 zu erliegen, dessen ressortbedingte Serienproduktion unter dem Doppeldruck steht, im ermüdenden „Zwang der Regelmäßigkeit“ (F 912, 4) das jeweils vorgegebene aktu-

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

39

eile Stoffangebot der Woche möglichst feuilletongerecht „zu beplaudern“ (FS II, 113) und dabei im Zwang der Anpassung die jeweils vor¬ gegebenen Rücksichten auf die politischen Sensibilitäten des „Blatt¬ gefühls“

möglichst

taktvoll

zu

wahren.

Mit

der

polemischen

Pointierung seiner ,Absage“ hatte Karl Kraus sich das Recht und die Freiheit verschafft, seinen Vorläufer als „großen Satiriker“ gebührend zu würdigen und zu rühmen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, als Erbschleicher auf den sozusagen vorgewärmten Posten einer auto¬ ritätsgeschützten und -gestützten sicheren „feuilletonistischen Stel¬ lung“28 zu spekulieren. Angesichts der von Anfang an vorhandenen, 1899 erstmals ausdrück¬ lich bekundeten, bis ans Ende der „Fackel“ unvermindert andauern¬ den hohen Wertschätzung des Satirikers der liberalen Ara gewinnt der Zufall, daß im selben Monat April des Jahres 1892 der letzte „Wiener Spaziergang“

des

siebenundfünfzigjährigen

Daniel

Spitzer

(Aus

Meran II. 3. April 1892“29) und der erste Text des achtzehnjährigen Karl Kraus (FS I, 9-12) im Druck erschienen sind, über seine Zufällig¬ keit hinaus unwillkürlich die symbolische Bedeutung einer Art legi¬ timer Thronfolge und organischer Traditionsfortsetzung im Reich und Bereich der Prosasatire. Unverkennbar hat der Wiener Spaziergänger Daniel Spitzer in dem, was Kraus später als literarische Strategie „satirischer Einkreisung des Feindes und seiner Sphäre“ (F 890, 100) charakterisiert hat, schon bei der 1896 geschriebenen Literatursatire „Die demolirte Litteratur“ Pate gestanden; noch wichtiger wurde diese Vorbildfunktion jedoch für die 1897 einsetzende zweite Entwicklungsphase des Frühwerks vor Erschei¬ nen der „Fackel“, und zwar nicht nur mit satirischen Verfahrens-, son¬ dern auch mit politischen Gesinnungsmodellen. In die erste Jahreshälfte 1897 fiel eine ganze Serie von folgenreichen innen- und außenpolitischen Ereignissen, die für die Anhäufung des sozialen und nationalen Sprengstoffs sorgte, der Ende November die¬ ses Jahres in den berühmten und berüchtigten Badeni-Unruhen zur Explosion kam, wobei die Monarchie in ihren Grundfesten erschüttert und der Parlamentarismus als politisches Instrument bei den Massen endgültig diskreditiert wurde: im März 1897 die Reichsratswahlen nach einem erweiterten Wahlrecht, von dem die Sozialdemokraten sich einen Stimmenzuwachs versprochen hatten, der dann tatsächlich den Christlichsozialen zuteil wurde; am 8. April 1897 die vom Kaiser vorher zweimal verweigerte endliche Bestätigung Karl Luegers als Bürger¬ meister von Wien, womit die de facto bereits vollzogene Entmachtung der Liberalen in der Wiener Kommunalpolitik auch de jure zur voll-

40

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Saüre

endeten Tatsache wurde; am 5. und 22. April die von dem polnischen Ministerpräsidenten Graf Badeni erlassenen Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren, mit denen die Stimmen der Tschechen für die bevorstehenden Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn gewonnen werden sollten; der Ende April vom polnischen k. u. k. Außenminister Graf Goluchowski ausgehandelte österreichisch-russische Pakt, welcher der Monarchie zwar in der Balkanfrage außenpolitisch noch eine Gal¬ genfrist von etwa zehn Jahren verschaffte, aber ihr innenpolitisch die restlichen Sympathien derjenigen verscherzte, welche die einzige noch verbliebene „Mission“30 der k. u. k. Völkerkollektion darin erblickten, ein Bollwerk gegen den reaktionären Zarismus zu sein; und schließlich die verstärkte Publizität der jungen zionistischen Bewegung durch die Gründung des Zentralorgans „Die Welt“ am 3. Juni 1897 und den bald darauf nach Basel einberufenen ersten Zionistenkongreß. Aufschlußreich ist nun die Art des politischen Engagements, zu dem der soeben als Literatursatiriker bekannt gewordene Karl Kraus durch diese Überfülle von Krisenstoff sich gedrängt sah. Es ging ihm zwar auch darum, wie man damit Politik, noch mehr und vor allem aber darum, wie man daraus Satire machen könne. In einem Brief an Maxi¬ milian Harden, dessen „Zukunft“ Karl Kraus schon 1892 (FS I, 35) angekündigt und den er 1897 auch persönlich kennengelernt hatte, heißt es am 13. Juli 1897: „Sagen Sie mal, hochgeschätzter Herr Har¬ den, wie wirft man sich in die Politik, wenn man für sie Interesse hat ich meine: wie setzt man sich möglichst rasch in eine satirische Bezie¬ hung zu ihr und zu ihren Männern?“31 Worauf Harden ihm post¬ wendend antwortet: „Politik wünsche ich Ihnen nicht, es ist eine hunds¬ gemeine Sache. Aber Spitzers Nachfolger müßten Sie doch werden.“32 Was Harden hier meinte, war der Ratschlag an einen möglichen publi¬ zistischen Konkurrenten, die Finger von der Politik zu lassen und trotz¬ dem Nachfolger Spitzers in der Weiterführung der Rubrik „Wiener Spaziergänge“ in der „Neuen Freien Presse“ zu werden. Was Kraus gegen diesen Rat tat, war jedoch, sich gerade in der Nachfolge Spitzers in die Politik zu werfen, indem er sich in eine satirische Beziehung zu ihr setzte. Äußerer Anlaß dafür war die Anfang 1897 eingegangene Verpflich¬ tung, für die altangesehene liberale „Breslauer Zeitung“ neben Lokalund Theaterkorrespondenzen allmonatlich einen „Wiener Brief1 zu schreiben, das heißt eine satirische Chronik der laufenden Wiener Ereignisse im Duktus und in der Tradition von Daniel Spitzers „Wiener Spaziergängen“ bzw.

dessen

„Reisebriefen

eines Wiener

Spazier¬

gängers“. Das innere Prinzip, das der junge Karl Kraus zur Bewältigung

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

41

der selbstgestellten Aufgabe ausbildete, sich in eine authentisch sati¬ rische Beziehung zur Politik und ihren Männern zu setzen, ohne in die gleichzeitig

stigmatisierte

Unverbindlichkeit

einer

„Gesellschafts-

satyre“ ä la Hermann Bahr zu verfallen, „welche von den Zuständen lebt, gegen die sie sich richtet“ (FS II, 29), dieses innere Prinzip geht aus von einer Strategie des Eingeständnisses der Unzulänglichkeit, gleichsam von einer Definition satirischer Freiheit als Einsicht in die Unsäglichkeit. Was uns Zeitgenossen noch als phasenspezifische wirtschafts- und sozialpolitische Maxime im Gedächtnis ist, damit hat Karl Kraus schon lange zuvor die problematischen Gewinnchancen des Sati¬ rikers im „Wettlauf der Satire mit dem Stoff* (F 890, 162) auf eine For¬ mel gebracht: überholen, ohne einzuholen. Wenn er noch 1934 von einer Zeitgemäßheit sprach, die der Satiriker „nicht einholt und doch überholt“ (F 890, 45), so war damit die Kontinuität einer Perspektive betont, unter der bereits 1897 der dreiundzwanzigjährige Wiener Chroniqueur der „Breslauer Zeitung“ einer Realität satirisch Maß nahm, die im wortwörtlichsten Sinne jeder Beschreibung zu spotten schien. Signalisiert wird diese Nötigung, aus der Not der Uneinholbarkeit des Realitätsstoffes durch die Satire eine Tugend des Überholens ohne ein¬ zuholen zu machen, durch leitmotivische Variationen des Unsäglichkeits- und Unbeschreiblichkeitstopos, in denen die Praxis der von Brecht angeführten „Methode kommentarlosen Zitierens“33 bereits theoretisch vorweggenommen erscheint. So heißt es schon Anfang 1897 in Hinblick auf die christlichsozialen Wiener Kommunalpolitiker Strobach und Gregorig: „Satirisch lassen sich der Lehrmittelhändler als Bürgermeister und der Wäscheerzeuger, der im Landtag diktirt, nicht mehr fassen - es ist zu einleuchtend, daß Hammeln [!] oder Anspach kosmopolitischer regiert werden als dieses Gemeinwesen Wien“ (FS II, 25). Die Ankunft von Mark Twain in Wien bietet das Stichwort für eine erste Entfaltung dieses Leitmotivs: „Mark Twain hat sich in unserer Stadt nie¬ dergelassen, er hat Parlament und Gemeinderath besucht, dürfte aber ziemlich enttäuscht sein Skizzenbuch weggelegt haben. Er fand wohl seine grellsten Phantasien übertroffen. Wo die Wirklichkeit die gewaltthätigen Bizarrerien amerikanischen Humors erreicht, darf man an die Anwesenheit Mark Twains keine Hoffnungen knüpfen. Längst ist der Satiriker der normalen Ausdrucksformen im öffentlichen Leben des heutigen Oesterreichs zur deplacirten Figur geworden, der trockene stenographische Versammlungsbericht bestreitet heute alle Effekte burlesker Komik“ (FS II, 106f.). Anfang 1898 erscheint der Motivkomplex in angereicherter Variation: „Die großen und kleinen Ereignisse, die uns seit einiger Zeit geboten

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Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

werden, verrathen immer deutlicher die Tendenz, jedwede satyrische Nachhilfe überflüssig zu machen. Sie werden humoristisch gleich ge¬ boren, und es bedarf nicht mehr der gestaltenden Hand, die bislang ihre Spaßhaftigkeit für den täglichen Gebrauch zu formen gewohnt war. Die Wirklichkeit hat den Humor in eigene Regie übernommen, verschwenderisch streut sie jene Wirkungen aus, welche ihr der Be¬ obachter ehedem selbstthätig abgewinnen mußte, und dem Spott, der ihr auflauerte, liefert sie sich von selbst an den Hals. Es genügt heute in den meisten Fällen, die Thatsachen wörtlich und mit Quellenangabe zu citiren, und die Stenographen unserer Vertretungskörper haben sich zu beliebten Satyrikern entwickelt. Herr Gregorig, ein schlichter Gemeinderath ohne Bildung, hält eine Rede, und hundert Humoristen sind brotlos gemacht“ (FS II, 166f.). Wenige Monate später wird dieser Feitgedanke unter der Überschrift „Von der Ueberflüssigkeit der Satire“ (FS II, 213) bereits ausdrücklich thematisiert und pointiert zu einer mit gezielter Paradoxie dargebo¬ tenen Theorie vom satirischen Objekt „an sich“, das sein nicht mehr überbietbares Maximum der Kunst- und Kampfwirkung erst im puren Zitat entfalte: „Der Chronist, der in Ausübung seines Berufes auf der Lauer steht, muß oft mit Bedauern Zusehen, wie eine Dummheit nach der anderen ungenützt um die Ecke biegt. Nicht immer ist es das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit einer solchen Fülle von Erschei¬ nungen gegenüber, was ihn den Anschluß versäumen läßt. Oefter viel¬ leicht die allgemeine Erkenntnis von der Ohnmacht und Ueberflüssig¬ keit satirischer Bestrebungen und das überlegene Bewußtsein, daß die Thorheiten von heute gleich druckfertig geboren werden. Ach, es geschieht zu viel; man hat keinen Stoff zur Satire. Die jetztigen Origi¬ nale können doch wahrhaftig von keiner wie immer stilisirten humo¬ ristischen Betrachtung an Schlagkraft des Ausdruckes übertroffen wer¬ den. Das ist die Theorie vom .Bielohlawek an sich1. An

sich sind

unsere christlich-socialen Stadtväter glänzend geschrieben. Lest Cer¬ vantes und Rabelais, lest Sterne und die stenographischen Protokolle des Wiener Gemeinderaths. Ich verweise ferner auf den Grafen Fal¬ kenhayn, der schon ganz von selbst, ohne daß einer von außen nach¬ helfen müßte, wirkt und der ein Heer von strebsamen Saürikern zum Müßiggang verurtheilen könnte“ (FS II, 213f.). Die Paradoxie einer tröstlichen Perspektive, die als Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet wird, bewegt sich hier noch durchaus im Rahmen von Strategien iro¬ nischer Satire: „Es ist indeß gegründete Aussicht vorhanden, daß der Berufshumorist bald wieder seinen Wirkungskreis bekommen wird. Wenn Dummheit und Vermessenheit erst in Ueberlebensgröße unter

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

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uns spazieren werden, dann mag, um ihre Aeußerungen dem Ver¬ ständnis normaler Zeitungsleser anzupassen, der Satiriker seine Thätigkeit wieder aufnehmen; er wird da und dort mildern, abschwächen und besänftigen müssen. In diese allem Anscheine nach nicht mehr allzu¬ ferne Epoche ragt bereits Herr Gustav Davis hinein“ (FS II, 214), ein Zeitungsherausgeber, der die Stirn gehabt hatte, die ihm von der Regierung Badeni gewährten Bestechungspauschalien als legitime Ent¬ lohnungsforderung unter der nachfolgenden Regierung Gautsch auf dem Wege einer Gerichtsklage geltend zu machen (FS II, 214-216). In der „Fackel“ wird Karl Kraus die Funktion redigierender Eingriffe nicht mehr publikums-, sondern materialbezogen motivieren: Nicht um die Überlebensgroße von Dummheit und Vermessenheit der Fas¬ sungskraft „normaler Zeitungsleser“ anzupassen werden sie vorgenom¬ men, sondern um die Reinheit des Materialpräparats zu gewährleisten, werden manchmal stilistische Fehler einer journalistischen Äußerung heimlich beseitigt, „um ihre infame Gesinnung um so wirksamer blo߬ zustellen“ (F 187, 18). Diesen zukunftsweisenden theoretischen Prolegomena zu einer sati¬ risch funktionalen Methode kommentarlosen Zitierens entspricht indessen in der Produktion des Chroniqueurs Karl Kraus vor Erschei¬ nen der „Fackel“ noch keine entsprechende Praxis dieses Verfahrens; denn noch fehlt, was Brecht mit Recht als unerläßliche Voraussetzung dieser Methode namhaft gemacht hat: der ,Aufbau eines Raumes, in dem alles zum Gerichtsvorgang wird“.34 Nicht, als ob es einen solchen Raum, das heißt einen Raum satirischer Be- und Verurteilungsnormen, nicht gäbe, nur ist er eben nicht vom Satiriker selbsttätig aufgebaut, sondern gleichsam in allen politisch und weltanschaulich wesentlichen Stücken des Inventars, ja sogar mit fast allen überlebenden Figuren des satirischen Objektpersonals von dem Vorgänger Daniel Spitzer über¬ nommen, dem das Verdienst zukommt, diesen Raum in dem Viertel¬ jahrhundert der Ära von Aufstieg und Niedergang des liberalen öster¬ reichischen Großbürgertums zwischen 1866 und 1893 aufgebaut zu haben. Die Hauptausstattungsstücke dieses unter dem Gesamtmotto „Deutschtum und Fortschritt“35 ererbten ideologischen Inventars sind, polemisch kontrovers formuliert: josefinisch geprägter deutschlibera¬ ler Zentralismus contra föderalistische Autonomie zumal der slawi¬ schen Nationalitäten; religiöser Freisinn contra Klerikalismus; auf Tra¬ ditionsbestände deutscher Aufklärung und Klassik sich berufendes Weltbürgertum contra völkisch argumentierende Bodenständigkeit; Spurenelemente schwarz-rot-goldenen Achtundvierzigertums contra schwarz-gelbe Geburts- und Geldaristokratie; gesinnungs- und wirt-

44

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

schaftsliberale Opposition contra Militarismus und Staatsdirigismus, bei hinreichend deutlicher Abgrenzung von der Sozialdemokratie und den links vom Liberalismus sich ansiedelnden sozialpolitischen und demokratischen Bestrebungen. Daß Spitzer in diesem Rahmen ein hohes Maß an satirischer Integrität und Autonomie zu bewahren wußte, ohne zum bloßen Apologeten der jeweiligen politischen Inter¬ essen des liberalen Großbürgertums abzusinken, war zugleich ethisch und ästhetisch begründet, so daß er, wie Karl Kraus später in der „Fackel“ formulieren wird, „die liberale Sache bitter ernst und die libe¬ ralen Personen satirisch nahm“ (F 95, 23). Voraussetzung und Grenze solcher Freizügigkeit war die durch die Kommunikationsstrukturen und -konventionen der zeitgenössischen Tagespresse vorgezeichnete journalistische Arbeitsteilung zwischen schwerpathetischem Leitartikel und leichtironischem Feuilleton, eine Arbeitsteilung, unter deren Bedingungen Ressortüberschreitung in Richtung auf die Spielart der pathetischen, strafenden Satire immer als Unbesonnenheit gelten mußte, die politischer und literarischer Kunst¬ fehler des Feuilletonisten in einem war. Charakteristisch für diese Kon¬ stellation ist der Ordnungsruf des ironischen Satirikers Spitzer an sich selbst, sobald er in Gefahr zu geraten droht, pathetisch zu werden: „Wenn also Einer unvorsichtig ist, könnte er leicht pathetisch werden, sobald er an den Herrn Grafen Thun denkt.“36 Hintergründig und dop¬ pelbödig formuliert erscheint dieses Prinzip, wenn die satirische Spiel¬ regel der durchgehaltenen Ironie als politische Vorsichtsmaßregel interpretiert wird: „Ich habe immer unsere Regierungen zu den leicht zerbrechlichen Gegenständen gerechnet, die man mit der größten Vor¬ sicht - angreifen muß, und so ist es gekommen, daß alle die zahlreichen Ministerien, unter denen ich schrieb, confiscirt wurden, ohne daß mir wegen des Versuches, sie, wie die Spediteure sagen, zu stürzen, jemals die Pforten der Tabaktrafik verschlossen worden wären.“37 Die Verdüsterung der liberalen Perspektiven

durch das Herauf¬

kommen der von Lueger angeführten Christlichsozialen und der von Schönerer inspirierten Deutschradikalen im gemeinsamen Zeichen des Antisemitismus stellte indessen das Durchhaltevermögen konse¬ quent ironischer Distanz zu den satirischen Anlässen auf immer härtere Proben, so daß der Wiener Spaziergänger, zumal seit Mitte der acht¬ ziger Jahre, immer häufiger mit Anfällen pathetischer Zornrede aus sei¬ ner sich selbst auf den Leib geschriebenen ironischen Stammrolle fällt. Ein Beispiel dafür hat Karl Kraus 1902 in der „Fackel“ interpretiert, und zwar auf eine Weise, welche durch die legitime Unterstellung eines von Spitzer zweifellos nicht beabsichtigten Doppelsinnes blitzartig die

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

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Diskreditierung der „liberalen Sache“ beleuchtet, mit der es nicht nur dem Wiener Spaziergänger, sondern auch noch dem jungen Chroniqueur Karl Kraus 1897 bitter ernst gewesen war. Anlaß für diesen Spit¬ zerischen Ausbruch war ein innenpolitisch aufsehenerregender und folgenreicher Vorfall gewesen: Das liberale „Neue Wiener Tagblatt“ hatte Anfang März 1888 in einer Extraausgabe die Meldung vom Tode des hochbetagten Kaisers Wilhelm gebracht, die sie in einer zweiten Extraausgabe als verfrüht dementieren mußte; darauf war Georg von Schönerer mit einigen seiner alldeutschen Gesinnungsgenossen in die Nachtredaktion des Blattes eingedrungen und hatte die Redakteure verprügelt, was ihm zwar Entzug des Abgeordnetenmandats, Aberken¬ nung des Adelstitels und eine Gefängnisstrafe einbrachte, ihn aber zugleich in den Augen seiner Anhänger zum Märtyrer im Kampf gegen die korrupten Machenschaften der als „verjudet“38 denunzierten libe¬ ralen Presse stempelte. Daran knüpft Spitzer in dem Eröffnungsabsatz seines Wiener Spazierganges vom 25. März 1888 mit bitter ernst grun¬ diertem Sarkasmus an: „Die ,anti-liberale Liga“, diese hochherzige Ver¬ einigung, welche den Anhängern aller Parteien, wenn sie nur aufrich¬ tige Gegner der Freiheit, des Fortschrittes und der Aufklärung sind, ihre Arme öffnet, tritt immer drohender auf. Immer lauter wird der Lärm und immer erbitterter der Kampf gegen die Gerechtigkeit, die Gleichheit vor dem Gesetze und die Duldsamkeit, kurz gegen alle die Irrthümer und Vorurtheile, die wir schon mit der Muttermilch einge¬ sogen haben. Aber sie werden nicht den Sieg über die Wahrheit davon¬ tragen. Ihre Wuth begegnet unserer Ruhe, ihre unedle Gesinnung wird sich nicht lauter äußern als unsere Entrüstung, ihren Drohungen hal¬ ten wir als Schild unser Recht entgegen, und man wird ihren Versiche¬ rungen keinen Glauben mehr schenken, ihr Schreien wird kein Echo mehr finden, und wir werden endlich mit größerem Rechte als sie ausrufen dürfen: Hinter uns stehen Millionen!“39 Handelt es sich bei die¬ ser Schlußpointe um die pathetische Negation einer ironischen Nega¬ tion, die Spitzer zuvor leitmotivisch mit der Parole des spöttisch als .Abgeordneter von Zwettl“ Apostrophierten „Hinter uns stehen Millio¬ nen!“ vorgenommen hatte,40 etwa wenn er meinte, Schönerers Zuhörer müßten sich in ihren „unerschütterlichsten Zwerchfellen gekitzelt fühlen“, wenn sie diesen Abgeordneten „mit seinen eingebildeten Mil¬ lionen klimpern hören“,41 so hebt Karl Kraus diese Negation der Nega¬ tion abermals auf, indem er interpretiert: Ausnahmsweise hatte ihm [d.h. Spitzer, K.K.] beim Schreiben der Leitartikler über die eine Schul¬ ter geguckt, und erst ganz zum Schluss beugte sich der Schalk über die andere. Mein Missverständnis des Ausrufs ist gewiss im Sinne des

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Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

Wiener Spaziergängers, und seinem heitern Andenken bringe ich es dar. ,Hinter uns stehen Millionen!“ Dies ist ein liberales Wahrwort [...] “ (F 95, 23f.). Und es ist, wie zu ergänzen wäre, wieder zum Wahrwort geworden erst durch das produktiv gewollte Mißverständnis des Sati¬ rikers der „Fackel“ von 1902, das dessen eigenen weltanschaulichen Entwicklungsprozeß auf die knappste Formel der Einsicht bringt, daß hinter dem Liberalismus nur mehr Millionensummen, nicht mehr Millio¬ nenmassen stehen; daß die Worte, mit denen Spitzer 1884 Schönerer in der „Neuen Freien Presse“ ironisiert hatte, nun auf deren Liberalismus als politische Macht anwendbar geworden sind: „Und selbst wenn er mir früher gefährlich erschienen wäre, wie könnte ich ihn jetzt dafür halten, nachdem sich die Millionen, die nach seiner letzten Volkszäh¬ lung hinter ihm stehen, falls sie des Lesens kundig sind, gewiß schon, eine Null nach der andern, leise weggeschlichen haben.“42 Solchen Einsichten des achtundzwanzigjährigen Herausgebers der „Fackel“ von 1902 stand freilich der dreiundzwanzigjährige Chronist der „Wiener Briefe“ von 1897 noch recht fern, und das Pathos der Indignation, mit dem der junge Karl Kraus als Augen- und Ohrenzeuge der parlamentarischen und außerparlamentarischen Badeni-Stürme damals nach Breslau berichtete, war im wesentlichen noch immer aus den gleichen Quellen gespeist wie das liberale Engagement des Wiener Spaziergängers. Mitte 1909, nach dem ersten Jahrzehnt der Jäckel“, nahm Karl Kraus den Tod des von der Krone wie von den Parteien fal¬ lengelassenen Politikers Badeni zum Anlaß einer wertenden Rück¬ schau auf diese Phase seiner eigenen Entwicklung: „An dem Tage, da Graf Badeni stirbt, stoße ich [...] auf die Erinnerungen meiner poli¬ tischen Zeugenschaft des Jahres 1897. Wie viel habe ich nicht zu ver¬ leugnen! Aber ich bekenne mich zu allem, was ich zu gestehen habe. Ich glaube ja nicht, daß ich damals den Inhalt der Sprachenverord¬ nungen verstand, aber ich glaube, daß ich in diesem Punkt hinter den deutschen Abgeordneten nicht zurückstand. Ich machte die Geste der Empörung mit, und war vielleicht empörter als die Empörten. Wenn man damals das Wort .Vergewaltigung“ aussprach, glaubte man, sie sei einem angetan. Die Politik hatte einen reichen Gefühlsinhalt, und wer auch vom Schachspiel nichts verstand, mußte doch Partei nehmen, wenn die Spieler einander die Figuren an den Kopf warfen. [...] Das beste Wort hat damals ein Sicherheitswachmann gesprochen. Ich hatte mich nach dem Schluß der letzten Sitzung in den leeren Korridoren des [Abgeordneten-] Hauses verirrt und fand irgendwo eine vergessene Abteilung von Polizisten, die auf eine Order zu warten schienen. Auf die Frage nach dem Ausgang erwiderte einer der Leute: ,Pardon, das

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

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wissen wir nicht, wir sind hier nicht zu Hause!1 ... In späteren Jahren, da mir die österreichische Politik von allen Gefühlen nur mehr das des Ekels ließ, verfing sich mir die Erinnerung an jene Zeit in der Vorstel¬ lung, daß die Polizei entweiht wurde, weil sie den Boden des Parla¬ ments betreten hat“ (F 285, 51-54; vgl. schon F 78, 14: „Die Polizei ist entweiht, die den Boden dieses Hauses einmal betreten hat“). Was hier mit und trotz allem paradoxen Scheinwiderspruch des iro¬ nischen Geständnisses „Wie viel habe ich nicht zu verleugnen! Aber ich bekenne mich zu allem, was ich zu gestehen habe“ uneingeschränkt bejaht wird, sind nicht die der Widerlegung durch lebens- und zeitgeschichdiche Entwicklungen ausgesetzten einzelnen Inhalte pole¬ mischen Schriftstellerengagements, sondern dessen eingangs von Ben¬ jamin beschriebene Prinzipien, nach denen Öffentliches und Privates, Sachliches und Persönlichstes eine unzerstörbare Einheit bilden. Mit seinem politisch-polemischen Engagement hat der junge Karl Kraus als bereits ausgewiesener Meister ironischer Satire diese gleichwohl trans¬ zendiert, ohne sie preiszugeben: Sie erhält vielmehr die Tendenz und Funktion, als sich durchaus weiterbildendes Moment in einem Werk¬ produktionsprozeß aufgehoben zu werden, der in seiner Gesamtheit wie in seinen Teilprodukten die Verschmelzung von ironischer und pathetischer Satire zum Zielpunkt hat und sich je nach den inneren Proportionen beider Komponenten als polemische Satire oder sati¬ rische Polemik versteht. Die Weiterführung des rein ironischen Modus mit seinem bereits von Daniel Spitzer leitmotivisch satirisierten Kli¬ schee des Unter-Tränen-Lächelns43 mündete schließlich in jene von Benjamin 1931 obduzierte „Linke Melancholie“44, die, wie Kraus schon im Heine-Jahr 1906 formulierte, „noch immer unter Heines Tränen lächelt“ (F 199, 6). Parallel zu den bereits angeführten und untersuchten Unsäglichkeitsbzw. Unbeschreiblichkeitstopoi treten 1897 Äußerungen auf, die dar¬ aufhindeuten, daß dem Satiriker die Grenzen des mit dem Feuilleton¬ genre verknüpften Erwartungshorizonts zu eng geworden sind, daß ihm sozusagen der ironische Geduldsfaden zu reißen droht: „Die Ereignisse der vergangenen Woche sprengen den Feuilletonrahmen eines Wiener Briefes. Der Chronist, der die Aufgabe hat, sie zu beplaudern, kommt mit seiner berufsmäßigen Schalkhaftigkeit nicht aus. Wehe aber, wenn er es wagte, in die ihm zugewiesenen Feuilletonspalten etwas von jener Erbitterung hineinzutragen, ohne die man sich heute selbst den Theilnahmslosesten nicht denken kann. Ein ,Wiener Brief in der ,Breslauer Zeitung' vermöchte einen in den Verdacht irredentistischer Umtriebe zu bringen. Nur nicht sein Herz über die

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Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

Grenze schütten!“ (FS II, 113). Und im gleichen Sinne wird das vielbe¬ schworene Klischee des Unter-Tränen-Lächelns ins Sarkastisch-Aggres¬ sive gewendet: „Die Komik hatte diesmal einen wehmüthigen Bei¬ geschmack, und wir lächelten über Herrn Lueger unter den Thränen der Gemaßregelten“ (FS II, 98). Schließlich wird auch das in der Lite¬ ratursatire „Die demolirte Litteratur“ vorgeführte satirische Objekt¬ personal in den neuen politischen Kontext einbezogen, indem der literarische Snobismus nicht mehr nur immanent ironisiert, sondern darüber hinaus polemisch konfrontiert und kontrastiert wird mit einem Zeitgeschehen, vor dem selbst abgebrühte Journalisten die Fas¬ sung zu verlieren drohen: „In so sturmbewegten Tagen spielt der Chroniqueur eine traurige Rolle. Die Berichterstattung verliert alles Unper¬ sönliche, und die Zeitungen beginnen zu weinen. [...] Wie sollen wir die Schreckensbotschaft vernehmen, wenn der Ueberbringer außer Fassung geräth? Vollends deplacirt sind Plauderfeuilletonisten. An den Staatsaktionen können sie sich nicht mehr mit ganzen Sätzen, höch¬ stens hin und wieder noch mit einem Aufschrei betheiligen. Der Sati¬ riker wird erst wieder arbeitsfähig, wenn sich die ihm gewohnte alltäg¬ liche Lächerlichkeit mit dem Ungewöhnlichen, Großen vermengt; denn dann erscheint sie um so lächerlicher. So wird mir die Stellung¬ nahme unserer Jung-Wiener Litteraten zu den aufregenden Vorfällen der letzten Tage unvergeßlich bleiben. Die Herren fanden es ange¬ zeigt, just jetzt ihre lebensfremden, geckenhaften, allen sozialen Bezie¬ hungen abholden Kunstideale zu manifestiren. Während im ganzen Lande wilder Aufruhr tobte, [...] hielt sich [...] unser geistiges Wien in einem Concertsaal verschanzt, setzte der Führer unserer litterarischen Jugend seine Kunstanschauungen auseinander, las Wurstelprater¬ skizzen und kopirte die Ausrufe der Praterschreier. [...] Ein junger Wie¬ ner Dichter war, jedenfalls ohne sein Verschulden, bald darauf in einen Knäuel von Demonstranten gerathen; er wurde zur Polizei gebracht und mußte sich eine Taschenrevision gefallen lassen. Man hat eine Nagelfeile bei ihm gefunden“ (FS II, 131f.).45 Das Jahr 1898, mit dessen Beginn der junge Karl Kraus neben der Wei¬ terführung der „Wiener Briefe“ für die „Breslauer Zeitung“ auch noch die Rubrik „Wiener Chronik“ der neugegründeten, parteipolitisch unabhängigen, in ihrer Tendenz jedoch eindeutig liberaldemokra¬ tischen Wiener Wochenschrift „Die Wage“ übernahm, dieses Jahr, an dessen Ende die Schrift „Eine Krone für Zion“ als zweite selbständige Publikation des Satirikers stand, bezeichnet in dessen Entwicklung einen Prozeß zunehmender Distanzierung von liberalen Ausgangsprä¬ missen, den Positionen und der politischen Praxis eines Liberalismus,

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

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der an seinen eigenen Traditionen und Prinzipien gemessen und der opportunistischen Halbschlächtigkeit überführt wird. Der Hohn des Chroniqueurs

gilt

der Jämmerlichkeit jener

Liberalen,

die

im

Jubiläumsjahr 1898 in der Qual der Wahl zwischen der Feier des fünf¬ zigsten Jahrestags der Wiener März- und Oktoberrevolution und dem ebenfalls fünfzigsten Jahrestag der Thronbesteigung ihres Nieder¬ werfers den ordensträchtigeren schwarzgelben Anlaß dem schwarz-rotgoldenen vorziehen.46 Synchron mit diesem allmählichen Prozeß der Emanzipation von poli¬ tisch zunehmend kompromittierten liberalen Prämissen, der zu einer Bündnisentscheidung für die Sozialdemokratie führte, verlief die Aus¬ einandersetzung mit einem Ablösungs- bzw. Sezessionsprozeß, der wesentlich anderen Zielen zustrebte: mit der jungen zionistischen Bewegung. Die beiden miteinander kommunizierenden Klärungs- und Abgrenzungsvorgänge gipfeln in der bereits erwähnten Schrift „Eine Krone für Zion“, die in Ankündigungen den für die bereits erörterte erweiterte Satire-Konzeption des Autors bezeichnenden, die intendier¬ te Einheit von Polemik und Satire signalisierenden Untertitel trägt: „Satirische Streitschrift gegen den Zionismus und seine Propheten“ (F 1, 31). Die Bedeutung dieser Streitschrift im zeit- und problemgeschichüichen Kontext eingehender darzulegen, kann ich mir erspa¬ ren dank Günter Hartungs einschlägiger Studie „Eine frühe Kritik des Zionismus“,47 auf die hiermit verwiesen sei. Die dort vorgenommene historisch-ideologiekritische Analyse soll hier ergänzt werden durch genetische Aspekte, soweit sie für unser Thema der Entwicklung des Krausschen Frühwerks und seines Satire-Begriffs von Belang sind. Bereits im September 1897 hatte Kraus in einem seiner „Wiener Briefe“ in Hinblick auf den Antisemitismus der in Wien herrschenden Christ¬ lichsozialen geschrieben: „Auf die Dauer wird mit der Konstatirung, daß ein anderer Mensch israelitischer Abstammung ist, kein Geschäft zu machen sein, und der soziale Sturmwind aus dem Norden wird auch auf wienerischen [!] Boden eingebildete Rassengegensätze von hinnen fegen“ (FS II, 99). An dieser Überzeugung hat Kraus mit zunehmen¬ dem Nachdruck festgehalten, wobei freilich zwei Monate später die Wiener Demonstrationen während der Badeni-Krise und noch mehr die tschechischen Gegendemonstrationen in Prag mit ihren gebündelt auftretenden antisemitischen und antideutschen Affekten48 ihm noch ein weiteres Motiv der Zuversicht zu bieten schienen, nämlich die Hoff¬ nung, daß nicht nur „der soziale Sturmwind aus dem Norden“, sondern auch der in Österreich selbst ausgebrochene nationale Sturmwind den Nebeneffekt haben könnte, Rassengegensätze und deren demago-

50

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

gische Ausbeutung durch

den Antisemitismus

gegenstandslos

zu

machen. Erwogen wird das reichlich illusionäre Konzept einer Über¬ windung des Antisemitismus durch die Koalition der zu einer neuen „Vereinigten Linken“ sich zusammenschließenden Liberalen und Deutschnationalen gegen den nationalen Opportunismus der anti¬ semitischen Christlichsozialen, ein Bündnis im gemeinsamen Interesse des deutschösterreichischen Abwehrkampfes gegen eine „Slavisirung Oesterreichs“: „und darum“, so heißt es Ende November 1897, „ist heute der Anschluß der freisinnigen oder fortschrittlichen Abgeord¬ neten an die deutsch-nationalen nur zu billigen. Diese haben heute andere Sorgen als die Juden zu hassen; sie bekämpfen vielmehr den Antisemitismus, der ihnen in ihren Anfängen noch anhaftete, und steigen, wenn sie Hand in Hand mit den Liberalen den Ansturm der Slaven abgewiesen haben, in die Niederungen der Chrisüich-Sozialen herab, um sich jetzt gegen diese zu kehren. Selbst eine bloße ,Schon¬ zeit1, die das Zusammengehen der Freisinnigen mit den Deutsch-Natio¬ nalen angeblich bloß gewährleistet, erscheint immer noch acceptabler, als die Aussicht auf eine dauernde Slavisirung Oesterreichs“ (LS II, 115).49

Ein Jahr später, in der „Krone für Zion“, wird sich die hier noch mit Emphase eröffnete Perspektive einer Aufhebung der Judenfrage in einer Einheitsfrontsolidarität deutschösterreichischer Gemeinbürger¬ schaft mit dem gemeinsamen Kampfziel nationaler Selbstbehauptung gegen das umgehende Gespenst einer „Slavisirung Oesterreichs“ redu¬ ziert haben auf den als Sekundärmotiv in behutsamem Konditionalis ausgesprochenen Gedanken, „dass die Deutschnationalen, im Kampfe gegen Slaven und Clericale vollauf beschäftigt, die leidige Judenfrage ruhen lassen könnten“ (FS II, 306). Gegenüber dieser an vielerlei uner¬ füllte, ja unerfüllbare Bedingungen geknüpften Variante einer Eman¬ zipation auf dem rein staatsbürgerlichen Wege politischer, genauer: nationalpolitischer Bündnispolitik gewann die Perspektive einer im Sinne

der Marxschen Ausführungen

„Zur Judenfrage“ radikalen

menschlichen Emanzipation als Haupt- und Leitmotiv immer mehr an Gewicht und damit gleichzeitig auch die Sozialdemokratie als die poli¬ tische Bewegung, in deren Programm universaler sozialer Emanzipa¬ tion vom allgemein menschlichen Elend die Überwindung des spezi¬ fisch

jüdischen

am

besten

aufgehoben

erschien.

Subjektive

Voraussetzung war für den jungen Karl Kraus die vorbehaltlose Bereit¬ schaft des einzelnen zu einer wesentlich als Akkulturation verstande¬ nen Assimilation, das heißt nicht zu einer Anpassung an den jeweiligen Stand einer sogenannten nationalen Mentalität mit all deren mit-

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

51

geführtem Vorurteils- und Rückständigkeitsgepäck, sondern an den geistigen und zivilisatorischen Standard des Idealtypus „Kulturnation“ (FS II, 114) mit all den damit zu assoziierenden Traditionsbeständen an emanzipatorischen, humanitären, aufgeklärten und weltbürger¬ lichen Wertvorstellungen, die einst ebenjene „liberale Sache“ ausge¬ macht hatten, welche die liberalen Zeitgenossen nur mehr als Phrase im Munde führten. Die privatpersönliche Konsequenz des jungen Autors aus solchen welt¬ anschaulichen Prämissen war der im Oktober 1899 vollzogene Austritt aus der israelitischen Kultusgemeinde, die öffentlich-publizistische Konsequenz eben jene mit zunehmender Schärfe geführte satirische Polemik gegen den „Zionismus und seine Propheten“, die, zum Teil in Personalunion mit den bereits in der „Demolirten Litteratur“ ironi¬ sierten Repräsentanten der Jungwiener Literatur, ihm als Vertreter eines diametralen Gegenentwurfs zu seinem eigenen Emanzipations¬ programm erscheinen mußten. Lediglich hingewiesen sei noch in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Bedeutung des Moments ideologiekritischer Wechsel¬ ergänzung und -Verfremdung von Gesellschafts- und Literatursatire, deren Genese sich am sinnfälligsten verdeuüichen ließe durch eine Ableitung zentraler Motive der „Krone für Zion“ aus deren Keim¬ formen, den Besprechungen des im Januar 1898 am Wiener CarlTheater uraufgeführten Schauspiels „Das neue Ghetto“ von Theodor Herzl, in denen die zionistische Reaktion auf die antisemitische Parole „Hinaus mit euch Juden!“ (FS II, 152,157) mit der Formel Jawohl, hin¬ aus mit uns Juden!“ (ebd.) bereits der gleichen satirischen reductio ad absurdum unterworfen wird wie dann an einer zentralen Stelle der Streitschrift (FS II, 312), die auf jene „im Januar“ gefundenen „iro¬ nischen Worte der Abwehr gegen die Assimilationsfeinde und Judenstaatler“ (FS II, 300) ausdrücklich Bezug nimmt. Versuchte man den siebenjährigen Zeitraum von 1892 bis 1899, den der Herausgeber der „Fackel“ als sein „geistiges Vorleben“ (F 1, 4) ver¬ standen wissen wollte, unter dem Gesichtspunkt der Dialektik von Traditionswahl und Selbstfindung des Satirikers im Kontext zeitge¬ nössischer Literaturproduktion und -Überlieferung wertend zu resü¬ mieren, dann ließe sich etwa folgendes Fazit ziehen: Karl Kraus hat in diesem seinem „geistigen Vorleben“ den Problemkreis kontemporärer Möglichkeiten und Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire in den Bereichen kritischer Wertung, theoretischer Reflexion und schriftstel¬ lerischer Praxis mit der ihm damals erreichbaren Vollständigkeit aus¬ geschritten. Er hat nach anfänglicher Wahlunsicherheit und gelegent-

52 lieh

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire auch Wahllosigkeit im

Zeichen

eines diffus

,jüngstdeutsch“

geprägten Moderne-Begriffs früh gelernt, Satire nicht nach ihrem so¬ genannten „Kunstwollen“50, sondern nach ihrem Vollbringen zu beur¬ teilen, was wesentlich bedeutete, sie an den Maßstäben der bei Benja¬ min beschworenen „großen Überlieferung“31 zu messen und dank diesen Maßstäben ebenfalls schon sehr früh den weithin noch ver¬ kannten Nestroy und den noch viel länger als Inkarnation des „litera¬ risch veredelten Wiener Börsengeistes“ (F 912, 9)52 abgestempelten Daniel Spitzer als große Satiriker in diese Tradition einzureihen. Die von Brecht und Eisler stets hochgehaltene Tugend der Dankbarkeit des Schülers, auch und gerade dann, wenn er weiter und in andere Rich¬ tungen geht als der Meister, hat Karl Kraus gegenüber seinem frühen Lehrmeister Daniel Spitzer zeitlebens bewahrt,53 noch zuallerletzt, als er 1935 die opportunistische Feigheit der „Neuen Freien Presse“ brandmarkte, vom 100. Geburtstag ihres „bedeutendsten jüdischen Mitarbeiters“ (F 912, 5) keinerlei Notiz genommen zu haben, jenes „österreichischen Satirikers“, dem der auf diesem Gebiet gewiß kompe¬ tenteste Beurteiler am Ende seines Lebens, „nach Nestroy, im Gebiete der Sprachsatire und lyrischen Prosa keinen Größeren und Stärkeren anzureihen“ (F 912, 6) wußte. Seiner eigenen Ehrung „des großen Sati¬ rikers Daniel Spitzer“ (F 912, 4) stellte Karl Kraus, gleichsam als dessen Epitaph an der Spitze des Heftes, eine von zwei Hölderlin-Sätzen54 gerahmte „Komposition von Zitaten“ (F 283, 1) vor allem aus Seumes ,Apokryphen“55 unter dem lapidaren Titel „Der Satiriker“ (F 912, 1-3) voran. Damit ist bewußt oder unbewußt, jedenfalls auf eine Weise, die, man wird schon sagen müssen: ergreifend wirkt, über fast vierzig Jahre hinweg der Bogen zurückgeschlagen zu jener Stelle, an der, noch ohne Namensnennung, von Daniel Spitzer als „dem Satiriker“ (FS I, 243) die Rede gewesen war. Hatte Egon Erwin Kisch als Dokumentator des „klas¬ sischen Journalismus“ aus der Sicht von 1923 die Inaktualität Spitzers in dem Ausruf komprimiert: „Wie vielen seiner Witze hat die Zeit ihr Dementi entgegengesetzt!“56, so machte Karl Kraus mit seiner politisch, ethisch und ästhetisch motivierten Ehrung des Wiener Spaziergängers demonstrativ deutlich, daß für diesen über den jeweiligen Aktualitäts¬ wert hinaus jene satirische Dialektik von Unrechthaben und Rechtbe¬ halten Geltung besitze, die der Herausgeber der „Fackel“ im Zeichen der Einheit von „Persönlichem und Sächlichem“57, „eigenster Sache“ (F 608, 1) und Sache der Satire, einmal auf die aphoristische Formel gebracht hat: „Viele werden einst Recht haben. Es wird aber Recht von dem Unrecht sein, das ich heute habe“ (F 317, 32).

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

„Ein Kunstwerk [...] kann nur dann vollendet sein, wenn es mit dem Material geschaffen worden ist, welches den erschöpfenden Ausdruck seiner Grundidee möglich macht. [...] Diese [...] Sätze sind darin begründet, daß jedem Material durch seine Erscheinung und seine Bearbeitungsfähigkeit ein eigener Geist und eine eigene Poesie innewohnt, [...] die durch nichts zu ersetzen sind [...] Wo diesem Geiste des Materials bei Konzepüon und Ausführung nicht zugedacht und zugearbeitet wird [...], ist die künstlerische Einheit des Eindruckes [...] gebrochen.“ Max Klinger: Malerei und Zeichnung (1891)1 „In der Kunst liegt der ,Sinn‘ viel mehr an der Spitze unserer Werkzeuge und in deren Kontakt mit dem Material als in Gemüth, Verstand, Wissen oder Kombiniren.“ Max Klinger: Hans Merian (1902)2 „Klinger ist einer der ersten gewesen, der eine Materialästhetik aufgestellt hat [...]“ Paul Kühn: Max Klinger (1907)3 „Der Schriftsteller gestaltet ein Material, das jedem geläufig ist: das Wort. [...] die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. [...] Es handelt sich um Stil. Daß es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen [...] schät¬ zen nur den Materialwert. [...] Die Sprache ist das Material des literarischen Künstlers; aber sie gehört ihm nicht allein, während die Farbe doch ausschließlich dem Maler gehört. Darum müßte den Menschen das Sprechen verboten werden.“ Karl Kraus: Vorurteile; Tagebuch (1908/09)4 „Material ist nicht passiv, es hat seine eigenen Gesetze, sein eige¬ nes Leben, seine eigene Wahrheit, die der Künsder alle ent¬ decken muß, um sie meistern zu können. [...] Deshalb hat der Künstler, nach einem Ausspruch M. Klingers, ,im Material zu den¬ ken1. Das eben ist es, was Stil genannt zu werden verdient. Klinger macht die sehr wahre Bemerkung: Auf dem Standpunkte ste¬ hend, daß jedem Material nicht nur eine besondere technische Behandlung, sondern auch sein eigenes geistiges Recht zukom¬ men muß, wird man eigentümliche und fruchttragende Ein¬ drücke erhalten über das Wesen der einzelnen Kunstgebiete und

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik über unsere heutigen Kunstzustände, die so merkwürdig ver¬ quickt sind.“ All das gilt auch von der Literaturästhetik, von der Ästhedk des

Wortes. [...] “ Boris Michajlovic Ejchenbaum: Derzavin (1916)5

In einem vor sechzig Jahren geschriebenen Brief an Ludwig Strauß ging Franz Rosenzweig auf den damals neuesten Stand der Attribuierungskontroverse um das sogenannte „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ ein, das er 1917 unter diesem Titel selbst erstmals veröffentlicht und im wesenüichen Schelling zugeschrieben hatte, wogegen Wilhelm Böhm 1926 mit dem Gegenanspruch aufge¬ treten war, Hölderlin als Verfasser identifiziert zu haben. Dazu bemerkt Rosenzweig, der Gedanke einer anzustrebenden „innersystematischen Abschlußstellung des Ästhetischen gegenüber theoretischer und prak¬ tischer Vernunft“6 habe zwar um 1795 unabhängig von verschiedenen Attribuierungsmöglichkeiten seit der „Kritik der Urteilskraft“ in der Luft gelegen, freilich sei es keineswegs gleichgültig, wie und durch wen er aus dieser metaphorischen Luft gegriffen und an andere vermittelt wurde: „Denn auch wenn etwas in der Luft liegt, muß es von irgend¬ einem Menschen auf einen Menschen übertragen sein. Ich mache heut die Abneigung gegen das Fragen nach Einflüssen gar nicht mehr mit, nur darf man sich die Sache nicht so mechanisch vorstellen, daß der Beeinflußte nur passiv wäre. Sondern alles Denken geschieht - in wirklichen oder zwangsmäßig erträumten Dialogen; man sucht zu ver¬ stehen was der andere meint, und das tut man indem man es mit eige¬ nem Ja und eigenem Aber wiederholt.“7 Nach dieser methodologischen Selbstkorrektur im Zeichen der mit Martin Buber geteilten Einsicht in das „Dialogische alles Denkens“8 konkretisiert Rosenzweig das, was um 1795 in der Luft lag: „In der Luft lag der Gedanke einer Synthese des Logischen und Ethischen im Ästhe¬ tischen, nachdem Kant nach zwei Jahrtausenden philosophischen Intellektualismuses [!] - in der Ästhetik bezeichnet durch die Glei¬ chung Schönheit = Wahrheit oder Wahrheit = Schönheit: Platon, Plo¬ tin, Augustin, noch kurz vor Torschluß Schiller in den Künstlern durch den Primat der praktischen Vernunft den Ästhetikern das Kon¬ zept verdorben hatte. In der Kritik der Urteilskraft steht dann eigent¬ lich schon alles. Schiller und die folgenden haben es dann ausgebaut.“9 In dieser Perspektive des „Dialogischen alles Denkens“, das einen ande¬ ren Gedanken als den Gedanken eines andern aufnimmt und mit eige¬ nem Ja und eigenem Aber wiederholt, stand nach der Jahrhundert-

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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wende von 1900 nicht nur Otto Weiningers Bekenntnis zum „Stand¬ punkte jener Idee der Menschheit, die über der Philosophie von Immanuel

Kant schwebt“10, sondern wiederum auch das Ver¬

hältnis der vielen zugleich engagierten und produktiv weiterdenken¬ den Leser von „Geschlecht und Charakter“ zu ihrem Gegenstand. Die Liste solcher im

Rosenzweigschen Sinne

.beeinflußten*

Leser ist

erstaunlich lang; sie enthält Namen wie Adolf Loos, Arnold Schönberg, Ferdinand Ebner, Max Steiner, Alban Berg, Berthold Viertel, Oskar Kokoschka, Georg Lukäcs, Leo Popper, Hermann Broch, Georg Trakl, Ludwig Wittgenstein und natürlich, nicht zu vergessen, Karl Kraus, des¬ sen vielzitierte Dankesworte für „Geschlecht und Charakter“ geradezu das Musterbeispiel einer Ja/Aber-Reaktion im Zeichen des Dialo¬ gischen darstellen (F 229, 14). Für alle Genannten war das Buch nicht nur im Hinblick auf die unmittelbare Behandlung des Titelthemas wichtig, sondern nicht weniger und nicht selten noch mehr durch sei¬ nen Denkstil, seine intellektuelle Physiognomie, seine theoretische Konsequenz, durch seinen entschlossenen Rückgriff auf Gedanken, die um 1795 nach den drei Kantschen Kritiken laut Rosenzweig in der Luft lagen. Zwar ging es bei Weininger 1903 nicht mehr um eine anzustre¬ bende „innersystematische Abschlußstellung des Ästhetischen gegen¬ über theoretischer und praktischer Vernunft“, nicht mehr um eine „Synthese des Logischen und Ethischen im Ästhetischen“, jedoch sehr wohl um eine abermalige Thematisierung des Wechselverhältnisses dieser drei Bereiche, wobei Weininger durch den noch radikaler beton¬ ten Primat der Ethik den Wiener Ästheten der Jahrhundertwende das Konzept nicht minder wirksam verdarb, als das nach Rosenzweig Kant mit seinem Primat der praktischen Vernunft den vorkritischen Ästhe¬ tikern getan hatte. Bei Weininger war - zumal in der Typologie des Künstlers und des Philosophen im Unterschied zur instrumenteilen Heteronomie des Wissenschaftlers - ein Begriff ästhetischer Auto¬ nomie postuliert, der die Momente des Ethischen und Logischen in sich weiterwirkend enthielt und damit eine Kunstgesinnung ermög¬ lichte, die sich sowohl von der ethisch indifferenten Autarkie des Ästhe¬ tizismus als auch vom Dienstleistungsdruck instrumenteller Gesin¬ nungskunst aktivistischer Richtung wirksam abzuheben vermochte. Solche Kunstgesinnung konnte sich ethisch und logisch legitimieren, ohne sich in das Klischee der Gleichungsformel des Wahren, Guten und Schönen pressen lassen zu müssen. Als Illustration seien der gebo¬ tenen Verknappung halber nur einige aphoristische Komprimate ange¬ führt. Den ethischen Aspekt beleuchtet einer der „Sprüche und Wider¬ sprüche“, der in der Endfassung von 1923 lautet:

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

„Seit Heine wird nach dem Leisten: ,Ein Talent, doch kein Charakter' geschustert. Aber so fein unterscheide ich nicht! Ein Talent, weil kein Charakter“ (S 8, 95). In der Erstfassung von 1908 hatte es noch geheißen: „So fein unter¬ scheiden wir nicht“ (F 266, 21),11 und dieses „wir“ war natürlich nicht der von Kraus verabscheute publizistische pluralis majestatis oder modestiae, sondern er meinte eine Mehrzahl von Gleichgesinnten; allen voran eben Weininger mit der qualitativen Unterscheidung von Talent und Genie, zu dessen Definitionskriterien der Titelbegriff Cha¬ rakter an erster Stelle gehört. Zum Wechselverhältnis von Ästhetischem und Logischem seien zwei miteinander korrespondierende Stellen angeführt, die sich beide der für Kraus hier zuständigen Kardinalmetapher des Einmaleins12 bedie¬ nen: „Wenn zweimal zwei wirklich vier ist [...], so verdankt es dieses Resultat der Tatsache, daß Goethe das Gedicht,Meeresstille1 geschrie¬ ben hat“ (F 349, 2) - heißt es 1912 zu Beginn der Gedenkrede „Nestroy und die Nachwelt“, und ein Jahr später: „Logik ist die Feindin der Kunst. Aber Kunst darf nicht die Feindin der Logik sein. Logik muß der Kunst einmal geschmeckt haben und von ihr vollständig verdaut wor¬ den sein. Um zu behaupten, daß zweimal zwei fünf ist, hat man zu wis¬ sen, daß zweimal zwei vier ist. Wer aber nur dieses weiß, wird sagen, jenes sei falsch“ (F 381, 72).13 Begriffliche Instanz der Synthese ist nicht mehr das Ästhetische selbst in einer etwaigen Funktion systematischer Abschlußstellung gegenüber theoretischer und praktischer Vernunft, aber auch nicht der logisch und ethisch indifferente „Standpunkt einer absoluten Ästhedk“ (F 234, 6), den Karl Kraus exemplarisch in Oscar Wildes provozierendem Dik¬ tum verkörpert sah, daß einer ein Giftmörder sei, besage nichts gegen seine Prosa - ein Diktum übrigens, das der Herausgeber der „Fackel“ bei jeder der drei Gelegenheiten, die Anlaß zum Bezug auf dieses Zitat boten, zu polemischen Kontrastzwecken einsetzte,14 ohne sich mit ihm zu identifizieren. Vielmehr erscheint als vorläufiger Platzhalter dieser Synthese-Instanz im ersten Jahrzehnt der „Fackel“ der Begriff „Welt¬ anschauung“ (gelegentlich auch „Weltbild“), und zwar durchaus im Sinne Weiningers, dem es darum gegangen war, diesen schon um die Jahrhundertwende zur Leerformel ausgehöhlten Begriff15 seiner ter¬ minologischen Beliebigkeit und beliebigen Multiplizierbarkeit zu ent¬ reißen, indem er ihn mit polemischer Tendenz gegen Machs berühm¬ te These von der Unrettbarkeit des Ich,16 die dieses zu einem „Wartesaal für Empfindungen“ degradiere,17 defmitorisch rigoros an die Bedingung des „Ich-Ereignisses“13, des principium individuationis

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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knüpfte. Soweit ich sehen kann, macht spätestens die Aphorismenfolge „Persönliches“ vom November 1908 (F 266, 14-28) zum Fall Wittels, welche die Entwendbarkeit des „rein Meinungsmäßigen“ (F 640, 75), des Ideologischen einer Weltanschauung thematisiert, den hier leit¬ motivisch

reflektierten

Begriff der Weltanschauung selbst proble¬

matisch, so daß er von nun an in affirmativem Kontext metaphorisch besondernder, disautomatisierender Verfremdung bedarf, um über¬ haupt noch verwendbar zu bleiben; etwa 1911: „Die Sonne hat Welt¬ anschauung. Die Erde dreht sich. Widersprüche im Künstler sind Widersprüche im Betrachter, der nicht Tag und Nacht zugleich erlebt“ (F 338, 17); oder, ins Polemisch-Aggressive gewendet, 1914: „Sie [näm¬ lich die radikalen literarischen Freunde der „Fackel“] haben nicht gehört, daß mir ein verhängter Himmel, dem eine Weltanschauung erspart bleibt, immer noch besseren Trost bringt als eine freie Erde, die zum Himmel stinkt“ (F 400, 93). Als Theoreme, die den Namen einer Weltanschauung nicht verdienen, hatte Weininger ausdrücklich den in der „Fackel“ von Strindberg sar¬ kastisch als „Veterinärphilosophie“ (F 329, 34) apostrophierten Dar¬ winismus und die auf ihm fußenden monistischen Systeme bezeichnet. Die dafür gegebene und seit 1905 zumal von Max Steiner ausgeführte Begründung läßt sich am knappsten in dem Satz des Wittgensteinschen „Tractatus“ zusammenfassen: „Die Darwinsche Theorie hat mit der Phi¬ losophie nicht mehr zu schaffen als irgendeine andere Hypothese der Naturwissenschaft.“19 Wenn Gotthart Wunberg kürzlich die heuristisch durchaus fruchtbare These aufgestellt hat, den zeitgenössischen Monis¬ mus um 1900 einschließlich seiner zahlreichen Vulgärformen und synkretistischen Derivate als eine gerade für den österreichischen Bereich besonders akute Herausforderung zu verstehen,20 dann wäre das durch den Hinweis zu ergänzen, daß gerade der Herausgeber der „Fackel“ mit den meisten seiner Mitarbeiter (die wiederum auch WeiningerLeser waren) zur Avantgarde derer gehörte, die nicht nur, wie Wun¬ berg es ausdrückt, alle Anstrengung machten, „sich gegen einen sol¬ chermaßen alles umarmenden, gleichmachenden und nivellierenden Monismus abzusetzen“,21 sondern die ihn auch theoretisch, polemisch und satirisch offen attackierten, und zwar gerade in seinem Anspruch, mehr sein zu wollen als der hypothetische Reflex einer Hypothese der Naturwissenschaft, nämlich eine Weltanschauung, nicht zuletzt auch mit den damit verbundenen ästhetischen Ambitionen. Von Ferdinand Kürnberger, an dessen Wiederentdeckung und Wie¬ deraufwertung nach einem Zeugnis, das der kompetente Sachkenner Otto Erich Deutsch schon 1907 abgab,22 Karl Kraus entscheidenden

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

Anteil hatte, von Ferdinand Kürnberger stammt bekanntlich das Motto zur ersten Buchausgabe des „Tractatus logico-philosophicus“ von Lud¬ wig Wittgenstein, welches lautet: „und alles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.“23 Auf die so gut wie zweifelsfreie „Fackel “-Bezüglichkeit dieser Wahl ist - ähn¬ lich wie bei dem geläufigeren Nestroy-Motto der „Philosophischen Untersuchungen“24 - in der einschlägigen Literatur gelegentlich hin¬ gewiesen worden, freilich meines Wissens stets ohne eine Identifikation des ursprünglichen Kontextes, dem der Satz Kürnbergers entnommen ist. (Ähnlich verhält es sich übrigens mit dem Kürnberger-Motto des ersten Teils der „Minima moralia“ von Adorno, dem nicht minder fas¬ zinierenden Satz: „Das Leben lebt nicht.“25) Das Motto des „Tractatus“ also entstammt dem letzten und umfangreichsten Stück der von Kürn¬ berger 1876 selbst zusammengestellten Sammlung „Literarische Her¬ zenssachen“, einem in fünfjähriger Arbeit entstandenen, zuerst am Ende des Börsenkrachjahrs 1873 veröffentlichten polemischen Feuille¬ ton-Triptychon „Das Denkmalsetzen in der Opposition“26, einer Vor¬ wegnahme oder, mit Kraus gesprochen, „Vorahmung“ kulturhisto¬ risch-kulturkritischer

Argumentationsstrategien

von

Adolf

Loos,

gipfelnd in dem Nachweis der Überflüssigkeit, weil Funktionslosigkeit des „Denkmalsetzens der Neuern“27 im Unterschied zu dem der grie¬ chisch-römischen Antike, der es als „Organ der Publizität1*28 zur Pro¬ duktion des Andenkens unentbehrlich gewesen, während es im Zeit¬ alter der Druckmedien überflüssig geworden sei. Die Einleitung des ersten Artikels bietet eine wechselseitige Abwägung der Risiken poli¬ tischer, moralischer und ästhetischer Opposition im zeitgeschicht¬ lichen österreichischen Kontext der siebziger Jahre des 19. Jahrhun¬ derts, also unter konstitutionellen Bedingungen bei parteipolitischer Vorherrschaft des Liberalismus, und kommt zu dem Ergebnis, daß im Unterschied zur politischen wie zur moralischen Opposition, die in das herrschende System von Parlamentarismus und Publizität recht gut integriert seien, die ästhetische Opposition von der Liberalisierung des öffentlichen Lebens keinen Profit habe ziehen können: „Am miserabelsten aber geht es der ästhetischen Opposition. Wie ein Mondkalb wird sie angestarrt, wo sie sich zeigt, und die sanglantesten Revolutionäre, die kreditfähigsten Anarchisten, Menschen, auf deren Umsturzbestrebungen man bauen kann, sind oft reine Kinder und buchstabieren eine ästhetische Fibel, welche schon an den langen Regenabenden in der Arche Noä ein abgegriffenes Büchlein war. Nicht die ersten Anfänge und primitivsten Voraussetzungen findet sie vor, ein Störenfried ist die ästhetische Opposition in fast allen Parteikreisen,

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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ein ungebetener Gast, welcher überall auf konservative Gewohnheiten, ja auf reaktionäre Triebe stößt. In der Aesthetik herrscht noch Säbel und Krummstab, alles Hergebrachte und Abgelebte, der ganze Absolu¬ tismus der Phrase. Und die Leute wollen es so.“29 Man könnte diese temperamentvolle Charakteristik der „ästhetischen Opposition“ als Opposition gegen die mit dem ganzen Absolutismus der Phrase unumschränkt herrschende normative, präskriptive Ästhe¬ tik naht- und fugenlos fortsetzen mit einem der vielen Ein- und Aus¬ fälle, die Schönberg 1911 als ein in diesem Sinne geradezu enragierter Oppositioneller gegen eine dergestalt absolutistisch regierende Ästhe¬ tik vorzutragen nicht müde wurde, ohne daß man einen thematischen Bruch empfände. Abwiegelungsversuche im Tonfall „So schlimm wird’s schon nicht sein“ hat Schönberg ebensowenig gelten lassen wie Karl Kraus: „Man könnte behaupten, ich gehe zu weit; das wisse ohne¬ dies heute jeder, daß die Ästhetik nicht Schönheitsgesetze vorschreibe, sondern nur ihr Vorhandensein aus den Kunstwirkungen abzuleiten versuche. Ganz richtig: das weiß heute fast jeder. Aber kaum einer berücksichtigt es. Darauf käme es aber an.“30 Kulturkritisches Fazit: Die nuancierte Ästhetik herrscht nicht, und die herrschende ist nicht nuanciert; die Kunstrichter, die über den Wert des Neuen zu befinden haben, heißen nicht Theodor Lipps oder Johannes Volkelt, sondern, um Namen aus dem satirischen Personal¬ bestand der „Fackel“ zu wählen, Friedrich Schütz, Max Nordau, Paul Goldmann oder Ludwig Karpath, und wenn eine akademische Kapa¬ zität sich zu diesem Richteramt herabläßt, dann kann, wie in der „Fackel“ am Fall Josef Strzygowski contra Oskar Kokoschka dargetan,31 der Entartungsfluch noch rabiater ausfallen als bei Max Nordau. Daß der Monismus zumal Haeckelscher Prägung als weltanschauliches Äquivalent der politisch-ideologischen Synonyme Liberalismus und Freisinn in den Jahrgängen der Vorkriegs-„Fackel“ mit zunehmender Frequenz zum polemischen Bezugspunkt und Merkziel satirischer Betrachtung wurde, war nicht zuletzt auch und gerade Ausdruck einer gegen den Absolutismus der Phrase“ ankämpfenden „ästhetischen Opposition“. Als erster dürfte das Max Steiner klar herausgestellt haben, ein Altersgenosse Max Brods und dessen ehemaliger Prager Klassenkamerad, der, wie ich nachweisen konnte, bereits 1905 als Ein¬ undzwanzigjähriger mit zwei Zuschriften zu den Themen Weininger und Ellen Key in der „Fackel“ vertreten ist, wohl als jüngster Debütant in deren Beiträgergeschichte.32 Im selben Jahr erschien Steiners erstes Buch mit dem sprechenden Titel „Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums. Eine kritische Untersuchung“33, das nach seiner pole-

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

mischen Zielrichtung analog zu Engels’ „Anti-Dühring“ auch kurz ,Anti-Haeckel‘ genannt werden könnte. Mit dem Instrumentarium immanenter Kritik, deren theoretische Stringenz das einbekannte Vor¬ bild Kants, deren eristische Dialektik die Schule der „Fackel“ verrät, werden Haeckel, dem „Großmeister des Freidenkertums“34, die Inkon¬ sequenzen seines Monismus nachgewiesen, wobei Inkonsequenz mit Weiningerschem Rigorismus als „die philosophische Lüge“33 definiert wird. Als den Gipfelpunkt „lächerlicher Inkonsequenz“36 bezeichnet Steiner die betriebsamen Versuche Haeckels, seinem materialistischen Monis¬ mus die Funktion eines Bandes zwischen Religion und Wissenschaft aufzubürden, indem nach der emphatisch behaupteten Zertrümme¬ rung der drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Phi¬ losophie - des persönlichen Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des Willens - durch die „wissenschaftliche Weltanschau¬ ung“ mit einem nicht minder emphatischen .Absolutismus der Phrase“ eine neue Religion verkündet wird, nämlich die des Wahren, Guten und Schönen, wie um so zu beweisen, daß nicht nur, was man weiß, son¬ dern auch, was man nicht weiß, sich in drei Worten sagen läßt. In die¬ ser Trinität von logischem, ethischem und ästhetischem Dogmatismus, gegen deren inhaltsleere Hohlheit der natürlich von Steiner con amore zitierte Schopenhauer schon seinen ganzen Sarkasmus aufgeboten hatte,37 wirke der ästhetische mit seiner Feerformel vom „Schönen“ besonders verderblich: „Viel sicherer [als das „Wahre“ und „Gute“] fühlt sich das .Schöne1 in seiner angemaßten absolutistischen Würde. Die Vertreter des ästhe¬ tischen Dogmatismus und des künsüerischen Pfaffentums schalten und walten unbeschränkt. Die Theaterkritik wird von Leuten besorgt, wel¬ che sich ihres philosophisch unhaltbaren Standpunkts gar nicht bewußt sind. Merkwürdig genug. Man lächelt in diesen Kreisen mit Vorliebe über die Begriffe des Guten und Bösen. Aber zum Jenseits von Schön und Häßlich* sich emporzuringen, dazu fehlt es an Kraft und Konsequenz.“38 Das ist 1905 geschrieben. Die verräterische Konjunktion „und“ im Titel der 1906 von Max Dessoir begründeten „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft“ protokolliert nicht nur den fait accompli der Kunst- und Kunstwerkferne akademisch betriebener zeitgenös¬ sischer Ästhetik, sie impliziert und registriert auch schon die Existenz und das zunehmende Emanzipationsbedürfnis spezieller Kunstwissen¬ schaften. Vor diesem oft beschriebenen Hintergrund vollzieht sich die Entwicklung der „Fackel“ von ihrer zunächst mehr deklarierten als in

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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den meisten Mitarbeiterbeiträgen auch praktizierten „ästhetischen Wendung“ (zu der gewiß vereinfachenden Formel „mehr deklariert als praktiziert“ sei der erläuternde Hinweis eingeschaltet, daß gerade die in die Jahre 1905 bis 1908 fallenden Jahrgänge 7, 8 und 9 über weite Strecken weniger vom „sprachlichen“ Diskurs des Herausgebers als vom

„wörtlichen“

der wiederholt dioskurisch

auftretenden

Welt¬

anschauungsträger Karl Hauer und Fritz Wittels dominiert sind)39 - vor diesem Hintergrund also vollzieht sich die Entwicklung der „Fackel“ von ihrer 1905 in der verklausulierten Form des ironischen Zitats einer communis opinio proklamierten „bedenklich ästhetischen Wendung“ (F 185, 1) bis zu einer nach der Abrechnung mit dem Weltanschau¬ ungsmultiplikator Fritz Wittels etwa gegen Ende der ersten „Dekade“ der „Fackel“ verstärkt einsetzenden „ästhetischen Opposition“ gegen die normative Ästhetik, gegen die „Schmarotzer des Wahren, Guten und Schönen“ (F 291, 24), wie sie anläßlich des Schillerjahres 1909 in der „Fackel“ beziehungsvoll genannt werden: einer neuen Wendung, welche auch in einer Umschichtung des Mitarbeiterstabes ihren Aus¬ druck findet. Ohne diese Entwicklung in ihren einzelnen Etappen nachzeichnen zu wollen, möchte ich mich im wesentlichen auf einen einzigen Indikator beschränken, auf die Entfaltung des Materialbegriffs. In seiner 1987 erschienenen großen zweibändigen Bertolt-Brecht-Biographie schreibt Werner Mittenzwei unter der Kapitelüberschrift „Die Formierung der Materialästhetik“: „Was sich hier [nämlich um 1930 im sogenannten Brecht-Kreis] formierte, bezeichnete man später als Materialästhetik, als eine Richtung, die sich zu Beginn der dreißiger Jahre um Brecht herauszubilden begann und die in ihrer konzeptionellen Tragweite [...] erst aus dem Abstand von Jahrzehnten überblickt werden konn¬ te.“40 Mittenzwei vermeidet es, sich selbst als die hinter jenem unper¬ sönlichen „man“ stehende Autorität zu zitieren, obwohl er es doch war, der diesen Begriff in Umlauf gesetzt hat, und zwar zur Kennzeichnung gemeinsamer Züge in der Kunstauffassung und -praxis eines um 1930 sich formierenden Kreises marxistischer Künstler, zu denen mit und neben Brecht Hanns Eisler, Erwin Piscator, John Heartfield und George Grosz gezählt werden. „Die Materialästhetik“, so definierte Mittenzwei 1975, „ist eine Richtung, die durch die kollektive Verständigung inner¬ halb eines Kreises marxistischer Künstler um Brecht zu Beginn der dreißiger Jahre entstand. Diesem Kreis ging es darum, die Gewohnheit, Kunst entgegenzunehmen, radikal zu ändern. Um das zu erreichen, hielten es diese Künstler für nötig, die Eigenart des Künstlerischen, des Ästhetischen gründlich umzugestalten. Sie strebten eine neue Bezie-

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

hung zwischen künstlerischer Produktion und Konsumption an. Um die Frage, in welchem Maße und in welcher Weise diese beiden Fak¬ toren zusammengeführt werden müßten, entspannen sich verschiede¬ ne Vorstellungen, die jedoch ein Ziel hatten: die Aktivierung des Zuschauers, des Lesers, des Betrachters.“41 Das alles wird schon so gewe¬ sen sein, wie es hier umschrieben ist: nur fragt man sich, wie das Karin Hirdina schon 1981 getan hat,42 mit Recht, wodurch eine Ästhetik den Namen Materialästhetik verdient hat, in der Wort und Begriff Material nicht nur nicht Vorkommen, sondern nicht einmal von ferne assoziiert werden. Über Karin Hirdinas Bedenken hinaus ist indessen anzumer¬ ken, daß der Begriff „Materialästhetik“ 1975 bereits längst anderweitig und angemessener vergeben war, zumal durch Michail Bachtin, in des¬ sen Abhandlung „Inhalt, Material und Form im Wortkunstschaffen“ von 1924, wo er zur Bezeichnung der ästhetischen Konzeption der spe¬ ziellen Kunstwissenschaften und vor allem der sogenannten Formalen Schule in diesem spezifischen Sinne vom Autor ausdrücklich als eigene Prägung eingeführt wird.43 Die legitime Grundlage für eine solche Begriffsbildung und -bestimmung waren programmatische Texte wie der folgende: Jede Kunst drückt [...] die Welt in ihrem Materiale restlos aus. Das Material der Wortkunst sind die Worte. Die Worte sind nicht nur Bedeutung, sie sind auch Klang. Die Wortzusammenhänge nicht nur Aussagen, sie sind auch Rhythmus und Melodie. Die Bedeutungen der Worte sind nur ein Teil des Materials, aus dem sich die Bedeutung auf¬ baut. Was der Unkünstler den ,Sinn‘ eines Gedichtes nennt, ist nur ein Teil seines Sinnes. Der Klang ist nicht ein Akzidens, [...] er macht den Sinn erst ganz. Indem die Bedeutung sich zugleich und parallel in Bedeutungen und als Klang realisiert, wird sie erst vollständig inte¬ griert“ (F 321, 42). Sie werden mir zugestehen, daß Bachtin die theoretischen Ausgangs¬ positionen, die Materialästhetik der Formalen Schule, nicht prägnan¬ ter hätte charakterisieren können als mit diesem Zitat; und Sie werden mir hoffentlich auch verzeihen, daß ich in diesem Kreise von Sach- und Fachkennem es gewagt habe, so etwas Ähnliches wie einen Gruben¬ hund auf Sie loszulassen; denn die zitierten Sätze sind nicht 1916 in Petrograd geschrieben worden, sondern 1911 in Wien; sie stehen nicht in einer der Publikationen des Opojaz, sondern in der „Fackel“; und ihr Verfasser heißt nicht Ejchenbaum oder Sklovskij oder Tynjanov,44 sondern Richard Weiß, der künstlerische Berater des Herausgebers der „Fackel“ bei der Auswahl und Komposition der Aphorismen des Ban¬ des „Pro domo et mundo“,45 also in der gleichen Funktion, die für den

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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Band „Sprüche und Widersprüche“ Karl Hauer, Ludwig von Janikowski und Otto Stoessl zugefallen war:46 ein wohl nicht nur zufälliger Perso¬ nalwechsel. An einer bemerkenswerten Stelle seines Essays „Der Reim“ hat Karl Kraus noch 1927 in einem singulären affirmativen Rückbezug auf einen kritischen Beitrag der „Fackel“ dem Aufsatz von Richard Weiß über Else Lasker-Schüler, dem die zitierte Passage entnommen ist, ausdrücklich nachgerühmt, daß in ihm der damalige Stand des Nachdenkens über das „Sprachproblem“, zu dem 1911 „wenig außer der Schrift,Heine und die Folgen*“Vorgelegen habe, angemessen erfaßt sei (F 757, 35). Diese durch ihr spätes Datum besonders gewichtige nachträgliche Autorisierung und Sanktionierung erlaubt und ermög¬ licht es uns, in den Sätzen von Richard Weiß die „wörtliche“ Summe der Gedanken zum Materialaspekt zu sehen, die Karl Kraus seit etwa 1907 vor allem in den Aphorismenfolgen sprachlich umspielt und gegen den Instrumental- wie gegen den Medialaspekt ausgespielt hatte, in der besonders erwähnten Schrift „Heine und die Folgen“ vor allem durch den Einbau der bereits aphoristisch vorgeprägten Opposition „aus der Sprache“ versus „mit der Sprache“.47 Nicht zuletzt unter diesem Aspekt ist die auf den ersten Blick reichlich exzentrische Wahl des Vergleichs zu verstehen, mit dem 1911 der junge Walter Serner, ein Kraus-Bewunderer von hohen Graden, der Bedeutung von „Heine und die Folgen“ gerecht zu werden trachtete: „Das Titanenhaft-Befreiende, das von die¬ sem Büchelchen ausgeht, hat in seiner Wirkungsgewalt nur ein ÄJhnliches: so muß Lessings .Laokoon* in alle tätigen Köpfe gefahren sein“ (F 326, 35). „Die Fackel“ um 1910 erscheint so als Magnet, der gleichsam verstreu¬ te Eisenfeilspäne zu einer ,Lichtenbergschen Figur* gruppiert, die den Namen „Materialästhetik“ zuallererst verdient. Als Zeitraum, in dem eine dergestalt strukturierende Attraktionskraft sich entfaltete, erschei¬ nen im wesentlichen die drei Jahre 1909 bis 1911, etwa vom Ende des ersten Dezenniums, Anfang 1909, bis zum Aufkündigen fremder Mit¬ arbeit, Ende 1911; er fällt zusammen mit der Entstehungs- und ersten Wirkungsgeschichte der Schrift „Heine und die Folgen“, von deren aphoristischer Inkubationszeit bis zum kommentierten Wiederabdruck des Textes in der „Fackel“ in deren erstem Heft nach der Sommer¬ pause von 1911. Unter den rund drei Dutzend neuen Autoren, die in dieser Zeit zur „Fackel“ stießen, soll unsere Aufmerksamkeit nicht den¬ jenigen Namen gelten, die, wie schon oft bemerkt, die literarische Phy¬ siognomie des anbrechenden sogenannten „expressionistischen Jahr¬ zehnts“ mitgeprägt haben, also etwa Else Lasker-Schüler und Salomo Friedlaender-Mynona, Berthold Viertel und Albert Ehrenstein, Ludwig

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

Rubiner und Kurt Hiller, Jakob van Hoddis, Ernst Blaß und Franz Wer¬ fel, sondern vor allem zwei durch ihren frühen Tod Vergessenen, wel¬ che mit und neben Richard Weiß eine mit „Heine und die Folgen“ kon¬ vergierende kultur- und kunstkritische Tendenzwende

auch

und

gerade unter „materialästhetischem“ Aspekt am dezidiertesten reprä¬ sentierten: Leo Popper und Franz Grüner. Über Leo Popper, den ein Jahr jüngeren, bereits mit 25 Jahren an Tuberkulose gestorbenen engsten Jugendfreund von Georg Lukäcs, der ihm noch in seinem Spätwerk „Die Eigenart des Ästhetischen" nachzurühmen wußte, als erster das Prinzip der Dialektik von material¬ bedingter Homogenität eines Kunstmediums und Pluralismus der ästhetischen Sphäre formuliert zu haben,48 über diesen universell begabten Frühverstorbenen wissen wir etwas mehr, als der Todesan¬ zeige der „Fackel“ (F 334, 37) und dem dort abgedruckten Nachruf von Georg Lukäcs (F 339, 26f.) zu entnehmen war, erst seit einigen Jahren durch die ungarische Publikation des Briefwechsels 1902 bis 1917 aus den Beständen des legendären, von Georg Lukäcs 1917 deponierten und danach erfolgreich verdrängten sogenannten „Heidelberger Kof¬ fers“.49 Ich kann es mir nicht versagen, der einem dieser Briefe zu entneh¬ menden, dem Briefschreiber sicherlich noch unbewußten

ersten

Begegnung des dreiundzwanzigjährigen Popper mit einem satirischen Leitmotiv der „Fackel“ zu gedenken, zumal da die Herausgeber die tra¬ gikomisch-makabre Bezüglichkeit dieser Stelle vielleicht auch dann übersehen hätten, wenn ihnen nicht ein offensichtlicher Entziffe¬ rungsfehler unterlaufen wäre. In einem Pariser Brief Leo Poppers an Lukäcs vom 19. April 1909 heißt es nämlich gegen Ende: „Um mich steht es jetzt sehr merkwürdig. Es sieht nämlich so aus, daß ich gesund werde. Man behandelt mich mit dem Marmoret-Serum, die Besserung schreitet täglich wunderbar voran, was ich als introspektives Meer¬ schweinchen mit größter Freude beobachte. Wir wollen das Ende abwarten und weiter hoffen!“50 Dieses Serum hieß indessen nicht Mar¬ more t-, sondern nach seinem österreichischen Erfinder Alexander Marmorek Marmoret-Serum, und seine Heilwirkungschancen hatte die „Fackel“ auf Grund von publizierten Testbefunden schon 1906 auf die sarkastische Formel gebracht: „Der in Pariser Briefen ordinierende Arzt Nordau hat es den Lesern der ,Neuen Freien Presse* verschrieben, aber es wirkt nur auf Nicht-Tuberkulöse. Ein Kranker, der an das Mit¬ tel des Herrn Marmorek glaubt, wird selig. Im städtischen Krankenhaus in Triest sind es acht geworden“ (F 212, 15). 1911 war es auch Leo Pop¬ per geworden.

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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Ich kann hier nicht auf die interessanten Aufschlüsse eingehen, die die¬ ser Briefwechsel über einzelne Motive der temporären Affinitäten gewährt, wie sie um 1910 zwischen dem Neoklassizismus des Paul-ErnstKreises und der „Fackel“ im Zeichen gemeinsamen Nachdenkens über das Formproblem auszumachen sind; hingewiesen sei nur darauf, daß die kürzlich von Edward Timms wieder besonders betonte Bedeutung von Otto Stoessl51 sich auch in dieser Hinsicht bemerkbar macht; die wechselseitigen Kontakte, die unter anderem auch zur Mitarbeit Samu¬ el Fublinskis führten, dürften alle „via Stoessl“52 zustande gekommen sein, wie Eukäcs 1911 kurz und treffend formuliert. Wenn Karl Kraus sich 1909 in seiner Hochschätzung Otto Stoessls auf „die besten kriti¬ schen Köpfe Deutschlands“ beruft, dann nennt er an vorderster Stelle die Namen Samuel Fublinski und Paul Ernst (F 275, 18): ein erläu¬ ternder Hinweis, der 1929 in der Neufassung dieses Passus für „Litera¬ tur und Lüge“, in bezeichnendem Unterschied zu dem oben erwähn¬ ten Rekurs auf Richard Weiß, der Streichung zum Opfer gefallen ist (S 3, 41). Als Leo Poppers erster Beitrag für die „Fackel“ erschien in deren Heft vom 31. Dezember 1910 der Essay „Der Kitsch“ (F 313, 36-43), wohl einer der ersten Versuche einer theoretischen Bewältigung des Titel¬ themas überhaupt. Die subtil dialektischen Distinktionen, die abgelei¬ tet werden aus der übergreifenden Definition „Kitsch ist die Reduktion des Kunstwerks auf ein wesensfremdes Minimum“ (F 313, 37), sind ohne Zweifel in Hermann Brochs umfassende Kitsch-Theorie als deren kunstkritisches Fundament eingegangen, und auch die weitere Ver¬ wendung des Kitsch-Begriffs durch die „Fackel“ bis hin zu seiner Ver¬ arbeitung zu einem der dominierenden Leitmotive der „Dritten Walpurgisnacht“ (S 12, 56ff., 63, 67, 132, 183) dürfte nicht ohne Rück¬ blick auf diesen geist- und gehaltvollen Beitrag erfolgt sein, dessen Weg in die „Fackel“ dieser selbst als eine der gelungensten Experimental¬ satiren gelten konnte. Popper hatte nämlich den im Herbst 1910 während eines Sanatoriumsaufenthalts in Davos entstandenen Essay ursprünglich an die von Oscar Bie geleitete

„Neue Rundschau“

geschickt und ihn mit einem wahrscheinlich ebenfalls von Oscar Bie verantworteten Ablehnungsbrief retourniert bekommen. Dazu Popper an Lukäcs: „Die Rundschau schickte nämlich den ,Kitsch1 zurück, tausendmal um Verzeihung bittend und um einen anderen Aufsatz bettelnd, jedoch mit der Bemerkung, dieser sei ,zu allgemein gehalten oder nicht scharf genug*. Was sagst Du dazu [...]. Ich hätte wissen müssen, daß der KitschAufsatz, der 1. die Rundschau zum Gegenstand hat und 2. dessen

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Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

Entendus ihre neuesten Neuheiten betreffen, dort keinen Erfolg ern¬ ten werde. Doch hätte ich nicht erwartet, daß er Langeweile erwecken wird. Wäre ich größenwahnsinnig, würde ich sagen: Der König (ich weiß nicht welcher), der bei dem Geschrei der Kassandra einschläft. Im Winter hattest Du einen guten Vergleich für eine ähnliche Erschei¬ nung: Leute, die die Drehung des Knüppels für ein pikantes Spiel erachten [...] Jetzt würdest Du sagen: Leute, die vom Hieb mit dem Knüppel einschlafen.“53 Nicht ausgeschlossen, daß Karl Kraus auch diese Vorgeschichte kannte, als er im selben Heft der Jäckel“, das den „Kitsch“ brachte, einen Beitrag von Albert Ehrenstein mit der Anmerkung des Herausgebers versah: „An der unartigen Kraft dieses Autors blamieren sich zur Zeit die mei¬ sten Redakteure deutscher Revuen. Nur der anmutige Oscar Bie, der das Leben bejaht und die ,Neue Rundschau' leitet, hat ihn durch ein unbegreifliches Mißverständnis noch nicht aufgegeben, sondern zu Beiträgen ermuntert, die ,so ganz plaudernd und die Wiener Luft atmend' sein sollen. Mag das Gefühl, daß die Bitterkeit des neuen Man¬ nes die Lebensfreude eines redigierenden Dionysos auf zehn Jahr¬ gänge hinaus vergiften könnte, zu der Bitte um ein ,nettes Thema' geführt haben. Die Zumutung ehrt den Kenner; das Verlangen bezeichnet den geistigen Habitus einer Zeitschrift, die, ein Prospekt ihres Verlegers, in dem feuchten Element zwischen Wassermann und Fischer noch immer den Katalog der Kultur spielen darf' (F 313, 34). Während Georg Lukäcs in einem gleichzeitigen Brief an Leo Poppers Verlobte das „Schicksal von Leos Artikel in der Rundschau“ als Beispiel für den ihm verhaßten geistigen Habitus der Berliner Intellektuellen anführte, die so feige und schwankend seien, daß sie nicht einmal den Mut zur eigenen Dummheit und Gemeinheit hätten,54 ließ er im Februarheft 1911 eben dieser Rundschau unter dem Titel „Über Sehn¬ sucht und Form“ einen Vorabdruck aus dem Charles-Louis-PhilippeEssay des Bandes „Die Seele und die Formen“ erscheinen,55 und die Herausgabe dieses Bandes vereinbarte er nicht nur mit dem Verlag Egon Fleischei & Co., der eben erst ein Schlüsselromanpamphlet gegen Karl Kraus von Fritz Wittels verlegt hatte,56 sondern er animierte darüber hinaus auch Paul Ernst, ausgerechnet Otto Stoessl für diesen Verlag von Georg Müller abzuwerben, und zwar mit der entwaffnenden Begründung: „wo doch, wie ich höre, nur der Roman von Wittels über Kraus ein Hindernis ist“57. Solche Symptome „objektiver (nicht subjektiver) Unechtheit“58, wie sie Ernst Bloch, ein gescheites Wort von Georg Lukäcs auf diesen selbst ummünzend, an seinem Freunde zu diagnostizieren Gelegenheit fand,

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

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deuten auf tiefere Differenzen der beiden ebenso engen wie un¬ gleichen Freunde Popper und Lukäcs auch in Kunstfragen, nicht zuletzt in Sachen Karl Kraus; Differenzen, die der letzte Passus des letz¬ ten erhaltenen Briefes von Lukäcs an den sterbenden Popper mit ge¬ radezu brutaler Deutlichkeit artikuliert: „Was sagst Du zum Ringen Kraus kontra Kerr? Bestätigt es nicht meine Meinung über die beiden? Daß sie beide - was das Wesen der Dinge anbelangt - oberflächliche Trottel, als Denker Kitscher, als moralische Inhalte Nullen sind (die nur stilistische Werte haben - und Humor). Bei Kraus macht es mich schon nervös, wie nervös er über die nichtigen Dinge des Lebens sein kann. Wem ein ungefegter Hof ein so mächtiges Pathos entlockt, der wird nie Ordnung im Allerheiligsten schaffen. Pathos ist nur berechtigt, wenn es hilft, ins ganz Tiefe und Innere ein¬ zudringen. Auch in Hegels Rechtsphilosophie kommen Polizeileute usw. vor, jedoch nur in verstreuten Bemerkungen - und außerdem hat er zuvor das Verhältnis Gottes zur Welt beschrieben. Ich sage das, weil ihr59 in jenem Herrn einen Denker erblickt und nicht einen häufig geistreichen, noch öfter unangenehmen Journalisten mit geschicktem (wenngleich maniriertem) Stil. Er mag klüger, weiter, amüsanter sein als Kerr - aber keineswegs wertvoller. Ady alsjournalist ist millionenmal soviel wert wie alle beide.“60 Also sprach der Autor des Bandes „Die Seele und die Formen“, in dem kein zeitgenössischer Kritiker häufiger zitiert wird als eben Alfred Kerr,61

dessen Subsumierung unter die gemeinsamen Kategorien

„Trottel“, „Kitscher“ und „moralische Null“ sich damit in ihrer objek¬ tiven Unechtheit nur als eristische Finte erweist, die dem Briefschreiber erlaubt, befreundeten Kraus-Bewunderern endlich einmal die Leviten zu lesen. Demgegenüber ist die Feststellung in dem kurzen Nachruf von Karl Kraus auf Leo Popper, daß „dessen bedeutender Anfang als Gestalter kunsttheoretischer Erkenntnisse der ,Fackel' gehört hat“ (F 334, 37), in jedem Sinne ganz wörtlich zu verstehen, nämlich nicht zuletzt so, daß er auch in die „Fackel“ gehört hat, in den Kontext ihrer Kunstgesinnung. Nirgends wird das vielleicht deutlicher als in dem Essay „Die Bildhauerei. Rodin und Maillol“ (F 321, 33-41), dessen pole¬ mische Tendenz Popper brieflich auf die Formel .Aufsatz gegen Rodin“62 gebracht hat. Nur durch einen lyrischen Vierzeiler getrennt, geht er dem bereits erwähnten Aufsatz von Richard Weiß über Else Lasker-Schüler unmittelbar voran, und wie dieser vom Materialbegriff in der Wortkunst ausgegangen war, so tut das der Essay Poppers für die Bildhauerkunst. Hier steht unter anderen ein Satz, der auf den Werk¬ titel

seines Freundes

anspielt,

indem

er dessen

neoklassizistisch

68

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

tingierten Formbegriff zugleich sprengt: „Denn: nur wo die Form den Stoff [hier synonym für Material] verstanden hat, versteht die Seele die Form, und will in ihr wohnen“ (F 321, 37). Als letzter „Fackel“-Beitrag von Otto Stoessl ist auch der Aufsatz „Der dichterische Raum“ (F 321, 25-31) in diesem Aprilheft von 1911 ent¬ halten, dem ersten des 13. Jahrgangs, das so auf einzigartige Weise fast monothematisch wirkt. Gemeinsam mit den anderen beiden ist er von dem laokoontischen Bestreben nach strenger Abgrenzung des spezi¬ fischen Darstellungsbereichs einer Kunst bestimmt, wobei innerhalb dieser Gemeinsamkeit die Differenzen zwischen der neoklassizistischen Formästhetik Stoessls einerseits und der neuen Materialästhetik an¬ dererseits mit wünschenswerter Deutlichkeit klar hervortreten: Für Stoessl ist der Raum einer Kunst durch deren jeweilige Ausdrucksmit¬ tel von außen abgegrenzt, für Popper und Weiß baut er sich aus dem Darstellungsmaterial von innen auf. Das Bedürfnis nach Grenzziehung ist das gleiche, deren Standpunkt jedoch entgegengesetzt, bei Popper und Weiß liegt er - wie später in anderem Sinne bei Wittgenstein - dies¬ seits, bei Stoessl jenseits der Grenze. Hingewiesen sei lediglich noch auf die beiden, ebenfalls noch in das Jahr 1911 fallenden Beiträge des 1917 gefallenen Franz Grüner: den Aufsatz „Oskar Kokoschka“ (F 317, 18-23), der für die Malerei die glei¬ chen materialästhetischen Prinzipien aufstellt wie wenig später Leo Popper für die Bildhauerkunst, und die Untersuchung über „Sachlich¬ keit und Kunstkritik“ (F 326, 49-59), die in der Darlegung dessen, wovon Kunstkritik sinnvoll sprechen kann und worüber sie besser schweigen sollte, Einschlägiges aus der Materialästhetik der Formalen Schule ebenso „vorzuahmen“ scheint wie die nachmalige Polemik Wal¬ ter Benjamins gegen den wiederholt stigmatisierten „geilen Drang aufs ,Große Ganze““, in dem alle „Sachgehalte“ verschwinden.63 „Ich habe keine Mitarbeiter mehr“, heißt es am 23. November 1911, einen Monat nach dem Tode Leo Poppers, in der „Fackel“ (F 336, 40), zwei Wochen später wird Arnold Schönbergs Harmonielehre ausgelie¬ fert, Ende Dezember 1911 auch in der „Fackel“ angezeigt (F 339, 2. Umschlagseite) und deren Herausgeber mit den inzwischen berühmt gewordenen Worten des Autors gewidmet: „Ich habe von Ihnen viel¬ leicht mehr gelernt, als man lernen darf, wenn man noch selbständig bleiben will ..,“64 Damit war auf imposante Weise die Lücke gefüllt, die der Materialästhetik-Diskurs der „Fackel“ und ihrer kunstkritischen Beiträger im Ensemble der Künste noch offengelassen hatte. Daß die Widmungsworte Schönbergs nicht ein leeres Kompliment, sondern die buchstäbliche Wahrheit waren, das macht die Harmonielehre von der

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

69

ersten bis zur letzten auf fast jeder ihrer 500 Seiten hinreichend klar. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen teils namentlich ausgewiese¬ nen, teils verdeckten „Fackel“-Zitate und Anspielungen, die bis zur Übernahme von Wortspielen wie „Vogelhirnperspektive“65 gehen, son¬ dern auch die Arbeit mit Begriffen und Kategorien wie „Material der Musik“ und „musikalisches Material“, Logik des Materials und musi¬ kalischer Gedanke, Klischee und Klischeewirkung, konstruktiv versus ornamental, alt und zukünftig versus modern und gegenwärtig, Wahr¬ haftigkeit versus normative Schönheit; die leitmotivischen Bezüge auf die Dialektik von Weg und Ziel, Suchen und Finden. Die Distinktion zwischen „Material der Musik“ und „musikalischem Material“ impli¬ ziert eine hier wie analog auch in der „Fackel“ bereits angelegte, später von Adorno und Eisler ausgeführte Historisierung des Materialbegriffs, welcher dergestalt nicht nur das akustische bzw. linguistische Roh¬ material bezeichnet, sondern darüber hinaus die Gesamtheit seiner historisch

vergegenständlichten

Prä-

und

Deformationen,

deren

Summe die überlieferbare und stets mitzubedenkende Tradition einer Kunst ausmacht, die Dialektik ihrer Evolution im Sinne Tynjanovs.66 Mit der Nennung des Namens Hanns Eisler sind wir nun doch wieder bei jener sogenannten „Materialästhetik“ um 1930 angelangt, von deren kritischer Befragung oder, wie es neudeutsch vorzugsweise heißt, Hinterfragung wir ausgegangen waren. Es wird vielleicht und hoffent¬ lich aus dem Gesagten hinreichend deutlich hervorgegangen sein, daß es sich im Interesse des „Dialogischen alles Denkens“ auch hier gelohnt hat, die Abneigung gegen das Fragen nach Einflüssen im Rosenzweigschen Sinne gar nicht mehr mitzumachen. Denn wenn es nach Karl Kraus „eine Zuständigkeit der Gedanken [gibt], die sich um ihren jeweiligen Aufenthalt wenig kümmert“ (F 338, 16), dann hat die Wie¬ ner „Fackel“ um 1910 nicht nur die Funktion eines Aufenthaltsorts, sondern auch die Heimatzuständigkeit für ein Kunstdenken, das immer auch eine Kunstgesinnung war, von Leo Popper gegenüber Georg Lukäcs auf die sympathisch zivile Formel gebracht: „denn ich glaube an die Form, wie Du weißt, nicht als Ästhet, sondern hoffentlich als anständiger Mensch.“67 Den Filiationen dieses Kunstdenkens und dieser Kunstgesinnung nachzugehen ist nicht nur ein Akt der Pietät, wie sie sich in Eislers Applikation des vielleicht von ihm improvisierten chinesischen Sprichworts „Wer seinen Lehrer nicht ehrt, ist schlechter als ein Hund“ auf das Verhältnis zu seinem eigenen Lehrer Arnold Schönberg bekundet,68 sondern auch ein Akt der Erkenntnis, die zu der in der Harmonielehre propagierten Besinnung auf die Einsicht zu führen vermag: „Wir sind nicht die ersten, die denken!“69

70

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

In seinem letzten Buch hat der allzufrüh verstorbene Berliner Ästhe¬ tiker Lothar Kühne an dem oben erwähnten Buch von Karin Hirdina über den Konstruktivismus und Funktionalismus der zwanziger Jahre alles zu rühmen gewußt mit einer einzigen Ausnahme, dem Titel „Pathos der Sachlichkeit“, den er unangemessen fand.70 Ungeprüft ein¬ geräumt, diese Rüge sei berechtigt gewesen und der Titel damit sozu¬ sagen freigeworden, dann ließe sich wohl kaum eine bessere Bezeich¬ nung für die hier charakterisierte Kunstgesinnung finden als eben diese. Dieses Pathos, dem auch die Ironie zu Gebote stand, war kritisch, polemisch und satirisch gegen den logischen, ethischen und ästhe¬ tischen Moderantismus eines auf den sogenannten Erwartungshori¬ zont eingestellten Wirkungskalküls gerichtet, für das gewitzte kultur¬ industrielle Formgestalter um 1960 die in dem Buchstabenwort MAYA komprimierte griffige Formel gefunden haben: „most advanced, yet acceptable“.71 Solchen Konzessionen und Kompromissen war schon ein halbes Jahrhundert zuvor von der „Fackel“ heimgeleuchtet worden;72 in der „Harmonielehre“ findet man diese Praktiken zugleich technisch beschrieben und moralisch verurteilt: „Vorbereitet, aber doch überraschend, erwartet und dennoch neu: so fordern es Auffassungsvermögen und Geschmack des Zuhörers, und kein Künstler kann sich dem ganz entziehen. Und doch steckt ein Stück Selbstbetrug darin: Man will, daß nur geschieht, was man erwartet, was man also erraten, Vorhersagen kann, wünscht aber dann dennoch über¬ rascht zu sein [...] Jedenfalls ist zu beachten, daß der Zuhörer die Erfül¬ lung dieser beiden Forderungen auch vom Neuen erwartet. Er wünscht neue Kunstwerke, aber nur solche, die er erwartet, und erwartet im Grund nur ein neues Arrangement alter Bestandteile. Doch kein ganz neues; und nicht allzu alt dürfen die Bestandteile sein. ,Modern, aber nicht hypermodern* - Künstler, die diesen Hokuspokus können, wer¬ den für kurze Zeit die Öffentlichkeit befriedigen, sie dem Dilemma ihrer zwiespältigen Wünsche entrücken; aber nach kurzer Zeit hat das Publikum sie satt, und beweist damit immerhin indirekt einigen Instinkt fürs Gute, wenn auch es diesen fast ausschließlich gegen das Gute anwendet.“73 Solchem Hokuspokus mit seinem unentwirrbaren Ineinander von Betrug und Selbstbetrug, „Leutekitsch“ und „Künstlerkitsch“ nach einer Distinktion Leo Poppers (F 313, 38f.), widersetzt sich die Jäckel“ bis an ihr Ende, indem sie auch und gerade an der depravierten Leerund Drohformel vom Wahren, Guten und Schönen jene Rehabilita¬ tionsarbeit leistet, die sich in den Dienst von etwas stellt, das im „Thea¬ ter der Dichtung“ programmatisch „zur Wiederherstellung“ heißt:

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

71

einer Wiederherstellung freilich, die sich dem von Benjamin abschreckend beschworenen „geilen Drang aufs ,Große Ganze1“ osten¬ tativ entzieht, um materialgerecht, „wortverbunden“ immer wieder auf die konkreten „Sachgehalte“ zu dringen. Dem sehr geehrten Herrn, der 1933 Karl Kraus herablassend geraten hatte, er möge langsam anfangen, Marx zu lesen, und vor allem die Sprache wiederfinden (F 889, 8), wußte 1934 der Verlag der „Fackel“ über deren Herausgeber mitzuteilen: „Er weiß, daß ihm hienieden nichts zu leisten bleibt als, frei von Marx, bloß mit den Mitteln und im Spiegel der Sprache und der Stimme For¬ men der Abirrung darzustellen, was ihm vielleicht gelingt, und Formen der Vollendung zu erstreben. Wie hoch oder niedrig man diese Bemühungen einschätzt, berührt ihn so wenig, wie es ihm bis zum letz¬ ten Atemzug wichtig sein wird, auf die unverzerrte Herausstellung von Sachverhalten oder Wertbeständen, auf die Anerkennung ihrer Eigen¬ art oder Sonderart zu dringen. Daß die Entschiedenheit solcher Bestre¬ bungen in Jahrzehnten, mitten durch eine Welt von Gleichgültigkeit und Folgewidrigkeit, nicht ohne anziehende Wirkung [...] bleiben konnte, dürfte nicht unverständlich sein“ (F 890, 44) .74 Quod erat demonstrandum.

.

„La trahison des clercs“ Kriterien der Kritik an den „Worthelfern der Gewalt“

„It occurs to me [...] that the day will come, and is indeed now here, when the men of to-day will be judged by their attitude towards the Great War. [...] The Great War has not merely been the test of a man’s nobility of character; it has been the test of his devotion to the cause of humanity, to the supreme good of the world. Little enough, as we know, the herd cares for that. But if we want to find out what our would-be spiritual and intellectual leaders are worth, let us search diligenüy to find out their records during the War. Have they in speech or action encouraged the War? Have they spoken evil of those who fought on the other side? Have they pharisaically asserted their own superior self-righteousness? Have they like imbeciles accepted the empty catchwords of their politicians? If not, it is well, and we may hold up our heads. But eise they are judged - and we who made them leaders are judged - for by their own mouths they are declared foul emanations of the passions of the crowd, Poison Gas made Flesh. It is meet they are branded on the brows with the Mark of the Beast to which they have sold what they call their souls. So all their fellows may know whom they had to thank for the blessings of the Great War. And if they show their gratitude by hardening the muscles of their arms, and gathering all the serpents they can find to make a scourge to lash the backs of these leaders until not one of them is left, perhaps, after all, there might not be less joy on earth.“ Havelock Ellis (10. Dezember 1920)'

Im Herbst 1959, als die Symbolfigur Hans Globke noch ihres Amtes wal¬ tete, suchte Theodor W. Adorno Antwort auf die Frage zu finden: „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“?2 Den Argumentations¬ und Verhaltenstypus deutscher Aufarbeitungsverweigerung brachte er damals auf eine sarkastische Formel, die nicht nur sprachlich unver¬ kennbar in der Tradition des von Karl Kraus wiederholt praktizierten Verfahrens steht, Sprichwörtern oder Redensarten dadurch neue Wahrheiten zu entlocken, daß man sie verfremdend von den hinken¬ den Füßen mit einem paradoxen Aushebelungsgriff auf den Kopf stellt, sondern die auch wörtlich mit den ungezählten Erfahrungsprotokollen übereinstimmt, welche zu diesem Thema schon während und nach

,La trahison des clercs

74

dem Ersten Weltkrieg in der „Fackel“ aufgenommen sind: „Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment.“3 Es ist dies auch heute noch die zwar schon nicht mehr ganz unange¬ fochtene, aber doch immer noch unerschütterte Maxime, mit deren Hilfe versierte Aufarbeiter glauben, Längst- wie Jüngstvergangenes bewältigen zu können, ohne sich von ineffizienten Gemütsregungen wie Scham und Bedauern oder gar Reue und Trauer überwältigen zu lassen. Man kann sicher sein, unter den phantasieabschnürenden Kli¬ schees, die dabei zum Einsatz kommen, das von der sogenannten tragi¬ schen Verstrickung an vorderster Stelle zu finden. Das Wirkungskalkül dieses Klischees besteht darin, das Problem unmerklich aus dem Bereich moralischer VerantworÜichkeit in den technischen Fehlver¬ haltens hinüberzuspielen, und ähnlich wie bei dem sprichwörtlich berüchtigten „menschlichen Versagen“, das intentionell beschönigend und doch zugleich faktisch entlarvend die technische Insuffizienz des Menschen

bei

der

Bedienung

seiner

Apparate

so

sprechend

umschreibt, kann die Floskel, daß jemand sich verstrickt hat, ebenfalls einen Sachverhalt technischen Fehlverhaltens bezeichnen, etwa daß jemand sich verstrickt hat, weil ihm der Fehler unterlaufen ist, eine Masche zu viel aufzunehmen. In der Terminologie der „Wortspiel¬ hölle“ (F 172, 6), in die wir uns damit schon so tief verstrickt haben, ließen sich die Rechtfertigungs- oder Totschweigetaktiken der beiden prominentesten „Handlanger ins Transzendente“ (S 12, 71) und „Wort¬ helfer der Gewalt“ (S 12, 72), die als Chorführer der avancierten Intel¬ ligenz in der „Dritten Walpurgisnacht“ vorgeführt werden, die Nach¬ kriegsstrategien

Gottfried

Benns

und

Martin

Heideggers

analog

beschreiben: Man hatte sich verstrickt, weil und insofern man bona fide eine Masche zu viel aufgenommen hatte; wäre es anders gekommen, hätte man nicht eine Masche zu viel aufgenommen und sich infolge¬ dessen verstrickt gehabt, sondern im Gegenteil mit Stolz darauf hinweisen können, an der Gottheit lebendigem Kleid von Anfang an mit¬ gewirkt

zu

haben.

Die

leerformelhafte

„Zurechtlegertums“ (S 12, 82)

Beliebigkeit

solchen

ist im Falle Benn 1956 in Walter

Muschgs Aufsatz „Der Ptolemäer“4 abermals obduziert worden, in neueren Kontroversen von anderen auch im Fall Heidegger.5 Nicht diesen noch heute virulenten Spätfolgen, sondern den ersten kri¬ tischen, polemischen und satirischen Darstellungsversuchen von Früh¬ formen einer solchen Ideologie der Aufarbeitungsverweigerung soll hier nachgegangen werden, als Beitrag zu unserem Generalthema „Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus“, welcher sich hier wie auch sonst des Verfahrens der sogenannten .Arisierung“

,La trahison des clercs

75

von Nichtarteigenem keineswegs nur im ökonomischen Bereich zu bedienen wußte. Zu den erhellendsten Sarkasmen der ironischen Register in der Krausschen „Dritten Walpurgisnacht“ von 1933 gehört der wortspieldichte Satz: „Der Nationalsozialismus hat überhaupt keine andere Waffe als den umgekehrten Spieß, mit dem der Bürger die Ordnung verteidigt“ (S 12, 173). Es gibt wohl kaum ein polemisches oder satirisches Motiv der „Fackel“, das nicht irgendwann einmal zu dieser konventionellen Lieblingswaffe des Spießbürgers aller Bekenntnisse umfunktioniert worden wäre, und selbst der Krausschen Prägung von den „Worthel¬ fern der Gewalt“ blieb eine solche f/wdrehung nicht erspart. Das letzte polemische Thema im letzten Beitrag des letzten Heftes der „Fackel“ vom Februar 1936 ist die Verwahrung gegen einen polemischen Topos des Großteils der linken Exilpublizistik seit 1934: die Einreihung des Herausgebers der „Fackel“ in die Rubrik „Verrat der Geistigen“ (F 917, 101), der so neben Gerhart Hauptmann, Knut Hamsun und G. B. Shaw zu stehen kam, welch letzterem damals ebenfalls Sympathien sowohl mit Mussolinis schwarzem als auch Hitlers braunem Faschismus nach¬ gesagt wurden. Das hier bereits zum Klischee gewordene und als solches zitierte Schlagwort vom „Verrat der Geistigen“ geht zurück auf den Titel eines Buches, das der renommierte französische Literator Julien Benda (1867-1956) in den Stabilisierungsjahren 1924 bis 1927 verfaßt und Ende 1927 veröffentlicht hatte: „La Trahison des Clercs“6. Die ver¬ schiedenen Übersetzungen, die dieser Titel erfahren hat, „Verrat der Geistigen“, „Verrat der Intellektuellen“, „Verrat der Gelehrten“, geben jeweils nur einen Teilaspekt des Beziehungsreichtums wieder, den der Autor mit der Wahl des Wortes „clerc“ beabsichtigt hat.7 Auch diesem Worte soll der Ursprung nachklingen, wo es sich her bedingt, nämlich der im christlichen Mittelalter ausgebildete Begriff des „clericus“, mit dem sich die Vorstellung eines in Personalunion fungierenden Trägers und Verkünders geistiger wie geistlicher Wertnormen verbindet. Unter den Bedingungen zunehmender Säkularisierung wäre er zu definieren als Bürger einer, anders als bei Klopstock, nicht national, sondern uni¬ versal verfaßten Gelehrtenrepublik, einer republique des lettres, der gegenüber den temporär wechselnden und gruppenspezifisch ver¬ schiedenen Partikularinteressen der profanen Laienwelt die diese transzendierenden obersten Leitideen der Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit zu vertreten und zu verfechten hat. Analog zum Selbstver¬ ständnis des geistlichen Amtes der katholischen Kirche in dieser Welt wäre das Verständnis des geistigen Amtes, der clericature, durch den

76

„La trahison des clercs

Bendaschen „clerc“ so zu bestimmen, daß es zwar für diese Welt bestimmt, aber nicht von dieser Welt ist. Wiederum in Analogie zur geistlichen, allerdings bereits von Karl Kraus säkularisierten Formel vom „Diener am Wort“ (S 8, 116) ist der „clerc“ Diener am Geist. Bendas Beschreibung der Doppelrolle des „clerc“ als „citoyen“, als Staats¬ bürger, als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft im klassischen Sinne einerseits wie als Mitglied einer Gemeinschaft der Geistigen, einer Gelehrtenrepublik im diachronisch vertikal zeitübergreifenden und synchronisch horizontal universalen Sinne andererseits, deckt sich in ihrer Funktionsaufteilung weithin mit der Kantschen Unterscheidung zwischen öffentlichem und Privatgebrauch der Vernunft in der „Beant¬ wortung der Frage: Was ist Aufklärung?“8 - wobei Benda über Kant hin¬ aus auch dem Privatgebrauch der Vernunft durch den clerc in seiner Eigenschaft als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft prinzipiell keiner¬ lei Einschränkungen auferlegt wissen will, soweit das politisch-staats¬ bürgerliche Engagement dieses clerc im Dienste des Gesetzes erfolgt, nach dem er angetreten, und nicht im Dienste partikularer Gruppen¬ interessen. Benda erläutert das an einem Beispiel, mit dem er sich dann wiederholt selbst zitiert hat: „Wenn Gerson die Kanzel von Notre-Dame bestieg, um die Mörder Ludwigs von Orleans zu brandmarken, wenn Spinoza es unternahm, unter Lebensgefahr an die Tür der Mörder der Brüder Witt zu schrei¬ ben: .Ultimi barbarorum“, wenn Voltaire für Calas stritt, wenn Zola und Duclaux hingingen, um in einem berühmten Prozeß Zeugnis abzu¬ legen, dann walteten diese clercs vollkommen und im höchsten Sinne ihres Amtes als clercs; sie waren Priester der reinen Gerechtigkeit und haben sich mit keinerlei parteiischer Leidenschaft für irdische Interes¬ sen bemakelt. Übrigens gibt es ein untrügliches Kriterium, um zu wis¬ sen, ob der öffentlich handelnde clerc das in Übereinstimmung mit sei¬ ner Mission getan hat: Er wird sofort von dem Laien geschmäht, dessen Interesse er beeinträchtigt (Sokrates, Jesus). Man kann von vornherein sagen, daß der clerc, der von Weltleuten gelobt wird, zum Verräter an seinem Amt geworden ist.“9 Ich muß und kann hier zur weiteren Charakteristik dieses Buches auf Walter Benjamin verweisen, der es unter nachdrücklicher Betonung der zeitgenössischen Aktualität des Themas im Mai 1928 besprochen und als „eine illusionslose Anschauung europäischer Dinge“ gewürdigt hat.10 Diese Rezension steht am Anfang eines zunehmend dominieren¬ den Leitmotivs der kritischen Reflexion Benjamins: der Befassung mit der geschichtlichen Rolle und einem dieser Rolle entsprechenden Selbstverständnis des Intellektuellen angesichts einer mit großer Inten-

,La trahison des clercs

77

sität als nicht nur imminent, sondern geradezu präsent empfundenen Katastrophe, da die „Klassenfronten“, nach Benjamins Situationsver¬ ständnis 1929, „sich fertigmachen, aufeinander zu prallen“11. Benja¬ mins Wertung stellt sich in den Dienst einer aus diesem geschichtlichen Situationsverständnis abgeleiteten Strategie, welche die jeweiligen Texte vor allem nach ihrem potentiellen politischen Funktionswert für die hier zuständige Brechtsche Kunst befragt, nicht nur so für sich hin, sondern in anderer Leute Köpfe zu denken.12 An solchen Kriterien ist auch schon 1928 Benjamins Urteil über „La trahison des clercs“ ausge¬ richtet. Nicht reflektiert, weil damit nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehend, bleiben dabei die düsteren Alternativmöglichkeiten, die Benda aus dem von ihm geschichtlich diagnostizierten Sachverhalt eines seit etwa einem halben Jahrhundert, also seit dem Ende des zwei¬ ten französischen und dem Beginn des zweiten deutschen Kaiserreichs chronisch gewordenen Massenverrats der clercs für die Zukunft pro¬ gnostiziert. Die eine dieser Alternativmöglichkeiten ist die Konse¬ quenz, daß die Radikalisierung partikulärer Differenzaffekte zu einer globalen und totalen Wechselausrottung der in National-, Rassen- oder Klassenantagonismen zerfallenen und weiter zerfallenden Menschheit führt. Die andere ins Auge gefaßte Möglichkeit scheint zu diesem Wechselausrottungsmodell die positive Gegenalternative zu bieten, als welche sie mancher Interpret auf ebenso verzeihliche wie gründliche Weise mißverstanden hat, so etwa, wenn es in einer Darstellung aus den sechziger Jahren heißt: „Die Denunziation des intellektuellen Verrats endet [...] nicht, wie man vermuten könnte, in einer pessimistischen Kulturphilosophie,

sondern

in

der

mit

Zuversicht

formulierten

Gewißheit, daß die .universelle Brüderlichkeit1 aller Menschen am Ende triumphieren werde.“13 Das ist etwa von der gleichen Schlüssig¬ keit, wie wenn der Optimismus des Maitre Pangloss als die sogenannte Botschaft des Voltaireschen „Candide“ präsentiert würde; denn die Anführungszeichen, mit denen Benda den Begriff „universelle Brüder¬ lichkeit“ („fraternite universelle“) versehen hat, bezeichnen keines¬ wegs ein affirmativ beglaubigendes Zitat, vielmehr steht ihr pathe¬ tischer Sarkasmus dem ironischen Sarkasmus, mit dem Voltaire den „Optimismus“ seines Untertitels bedacht hat, an Intensität in nichts nach. Benda denunziert damit schon jetzt die zukünftig mögliche Ver¬ fassung und Mentalität einer geeinten Menschheit, die sich im Zeichen rein instrumenteller Vernunft zu einem Interessenkartell zusammen¬ geschlossen haben wird, um ihrem Gattungsegoismus die höchste Organisationsform gegenüber dem Rest der Schöpfung und deren

,La trahison des clercs

78

Schöpfer zu geben; nämlich die eines Naturbeherrschungs- und Aus¬ beutungsmonopols von globalen, planetarischen Dimensionen. Der homo des

Homo-mensura-Prinzips, nach welchem der Mensch das

Maß aller Dinge ist, der seienden, daß sie sind, und der nichtseienden, daß sie nicht sind, wird nach dieser Vision der von allen störenden Zusatzattributen befreite reine homo faber sein, in dessen Endsieg sich auf scheinbar gegenläufigem Wege die gleiche negative Utopie erfüllt haben wird, welche die Schlußvision der „Letzten Tage der Mensch¬ heit“ mit den letzten Worten der „Stimme von oben“ konstatiert: „Zer¬ stört ist Gottes Ebenbild!“ (S 10, 770). Die Menschheit werde, so endet Bendas Buch, auf diesem Wege noch Großes erreichen, eine wahrhaft grandiose Emanzipation von allem Bedingenden, das sie umgibt, ein wahrhaft frohlockendes Selbstbewußtsein eigener Macht und eigener Größe. „Et l’histoire sourira de penser que Socrate et Jesus sont morts pour cette espece.“14 Was Benda hier als für ihn bedrückende Zukunftsvision an die Wand malt, sind nicht die letzten Tage einer empirischen Menschheit, die sich ja im Gegenteil als „fraternite universelle“ selbst gegen Gott sieg¬ reich zu behaupten wüßte, sondern die letzten Tage eines das ego¬ istisch-pragmatische Gattungsinteresse transzendierenden Menschen¬ tums und einer ihm entsprechenden Wertordnung, „Le Fin d’Eternel“, „Das Ende des Ewigen“, wie der paradoxe Titel des 1929 erschienenen Buches lautet, in dem Benda sich mit den Erwiderungen der clercs von rechts, der clercs von links und der über beide sich erhaben dünken¬ den Philosophen auseinandersetzt.15 Als Eideshelfer zitiert er dabei wiederholt ein Wort von Ernest Renan, einer der meistbeschworenen Mustergestalten in der Bendaschen Ahnengalerie vorbildlicher clercs von Sokrates bis - man staune! - Marcel Proust: „La loi du clerc, c’est de proclamer avec Renan: ,Le but de l’humanite n’est pas le bonheur; c’est la perfection intellectuelle et morale.4“16 Hier liegt in der Tat der Kern der Bendaschen Konzeption, und er erweist sich als ein rein spiritueller, das Ideal des clerc als ein rein aske¬ tisches in dem von Nietzsche analysierten Sinne und damit als das genaue Gegenteil des geschichtsphilosophischen Imperativs von Wal¬ ter Benjamin, nach dem die Ordnung des Profanen sich aufzurichten habe an der Idee des Glücks und daß auch schon im Bereich einer Immanenz die profane Ordnung des Profanen das Kommen des Messianischen zu befördern bestimmt sei.17 Daß die Idee des Glücks im Bereich der Kreatur, der geschaffenen Schöpfung, säkularer gespro¬ chen, im Bereich der Natur als natura naturata und des natürlichen Menschen fundiert ist, dafür steht die evidente Bürgschaft blitzhaft auf-

,La trahison des clercs

79

leuchtender Glückserfahrung, Glückserinnerung, Glücksahnung und Glücksverheißung, deren Inbegriff bei Karl Kraus etwa seit 1910 unter dem Namen des „Ursprungs“ geht.18 Ursprung als Gegenwelt der jeweils ökonomisch, sozial, politisch, ideologisch determinierten, me¬ dial reduplizierten Zeitwelt wird in zunehmendem Maße deren Be- und Verurteilungsnorm in letzter Instanz, vor der sich auch alles Geistige als solches in seiner Naturgemäßheit erst auszuweisen hat. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es auch, den Befund Brechts von 1940, den viele ihm vor- und nicht wenige ihm nachgesprochen haben, den Befund nämlich, daß Kraus „unsinnlich, weil rein spirituell“ sei, ent¬ scheidend zu korrigieren; denn der von Benda beschriebene „Verrat der Geistigen“ war für den Herausgeber der „Fackel“ und Autor der „Letzten Tage der Menschheit“ nicht ausschließlich, ja nicht einmal primär „Verrat am Spirituellen“, sondern vielmehr Symptom für einen umfassenderen Verrat, den als das große Thema dargestellt zu haben er gerade auf dem Höhepunkt seiner politischen Wirksamkeit als sein Hauptverdienst beanspruchte, „das größte aller Themen: den Natur¬ verrat dieser entleerten Zeit“ (F 781, 2). Wenn Karl Kraus 1912 in sei¬ ner Satire „Die Kinder der Zeit“ die Parole „Seid Christen aus Not¬ wehr!“ (F 354, 71) ausgab, dann meint das zuerst und vor allem: aus Notwehr gegen das Kapitalverbrechen jenes Naturverrats, der christ¬ lich als Schöpfungsverrat zu qualifizieren wäre, begangen an der Krea¬ tur, deren Gotteskindschaft sich von Gottvater ebenso legitim her¬ schreiben kann wie von der Mutter Natur, der die in derselben Satire zitierten Jean Paulschen Worte menschlichen Kindesdankes gelten: „Ich kann dir nicht sagen, wie der vom wilden Ganzen auf einen nied¬ lichen Teil gesenkte Blick unsern Herzen und der weiten Natur ein wärmeres Leben gab. Wir fasseten von der großen Mutter des Lebens, wie Kinder vermögen, nichts an als die Finger statt der Hand und kü߬ ten sie“ (F 354, 72). Dazu Kraus: „Und was soll eine Erde, wo die Mut¬ ter vergebens Finger und Hände nach dankbaren Kindern ausstreckt und wo nie wieder ein solcher Satz geschrieben werden wird? Man überlasse sie den Optimisten! ..." (ebd.) Den gleichen Optimisten, wie zu ergänzen wäre, die zwei Jahre später mit den Monistenführern Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald an der Spitze das Gros der Unterzeich¬ ner des berüchtigten Aufrufs der 93 deutschen Intellektuellen an die Kulturwelt bilden werden, welch letztere aufgefordert wird, die Einheit von deutschem Geist und deutschem Militarismus gefälligst zur Kennt¬ nis zu nehmen.20 Wenn Authentizität und Verbindlichkeit von Satire und Polemik der „Fackel“ nach einem bekannten Wort von Bertolt Brecht den ,Aufbau

80

„La trahison des clercs“

eines Raumes“ voraussetzen,

„in dem alles zum Gerichtsvorgang

wird“,21 dann ist dieser Aufbau bereits in den Jahren 1908 bis 1914 erfolgt, dem zeitlichen Einzugsbereich des 1915 konzipierten, 1922 veröffenüichten Sammelbandes „Untergang der Welt durch schwarze Magie“, der als das „scheußliche Vorspiel“ der „großen Zeit“ 22 auf diese zuführt; Dimensionen und Struktur dieses Raumes sind wesentlich geprägt von jener Schöpfungs- wie Naturbegriff in sich enthaltenden und aufhebenden Kategorie des Ursprungs. Der Kriegsausbruch mit dem ihm auf dem Fuße folgenden Massenverrat der Intellektuellen in dem von Benda beschriebenen Sinne traf demnach in dieser Hinsicht die „Fackel“ keineswegs unvorbereitet. Als ihr Herausgeber Mitte November 1914 mit der Anrede „In dieser großen Zeit“ (F 404, 1-20) diese in seine satirische Perspektive einbezog, tat er das mit einem bedeutsamen Kontrastbezug auf den verehrten Detlev von Liliencron, den er - ähnlich wie Benda die Berufsoffiziere Vauvenargues und De Vigny23 - als einen „Dichter des Krieges“ (F 404, 17) mit der „Vers¬ fußtruppe“ (F 418, 43) einer „kriegsbesoffenen deutschen Literatur“ (F 413, 24) konfrontierte. Das geschah nicht nur ausdrücklich mei¬ nungsmäßig, also „wördich“, mit einem einschlägigen Passus der Anre¬ de, sondern auch darstellerisch, also „sprachlich“, durch den Vortrag von zwölf Liliencronschen Gedichten (F 404, 20), deren auf den ersten Blick vielleicht kriegsfernstes Karl Kraus bei Beginn der Arbeit am Manuskript der Anrede am 2. November 1914 in einer eigenhändigen Abschrift kommentarlos an die Freundin nach Janowitz geschickt hat. Es heißt .Abschied“ und lautet:

Abschied. Ein Birkchen stand am Weizenfeld, Gab Schatten kaum erst sechzehn Jahr’. Das hat den Bauer sehr erbost, Daß die paar Fuß der Sonne bar. Ich ging vorbei, der Bauer schlug, Dem Stämmchen ward so wund und weh. Es quält die Axt, das Bäumchen ächzt Und ruft mir zu ade, ade. Die Krone schwankt, ein Vöglein kam, Das seinen Frieden hatte dort, Noch einmal sucht im Hin und Her Das Krallchen Halt im grünen Port.

„La trahison des clercs“

81

Das Bäumchen sinkt, der Vogel fliegt Mit wirrem Zwitscherlaut ins Land, Ich schämte mich vor Baum und Tier Und schloß die Augen mit der Hand.“ (B I, 79)24 Mit dem Gedicht des Hauptmanns a. D. Liliencron, Versen eines Dicht¬ ers, der zugleich „Krieger“ (F 404, 9) in einem nicht mehr realisier¬ baren Sinne gewesen war, artikuliert sich hier auf kleinstem Raume am scheinbar geringfügigsten Anlaß die Scham als jenes „restlose Schuld¬ bekenntnis,

dieser Menschheit anzugehören“

(S

10,

10f.),

einer

Menschheit, deren „Mittelwelt“25 die berüchtigte Platzbeschaffung an der Sonne mit den avanciertesten Mitteln betreibt, damit ihr figür¬ licher Weizen ungehemmter blühen kann. Der Krieg wird für den Nör¬ gler und Defaitisten Karl Kraus der große Anlaß, den „Lebensschreien der preisgegebenen Kreatur“ (F 657, 1) seine Stimme zu leihen, eine Stimme gegen die zahllosen „Worthelfer der Gewalt“ (S 12, 72), die als Multiplikatoren nichts tönen als die „Kommandorufe der losgelasse¬ nen Bestie“ (F 657, 1). Als „Überläufer in das Lager der Kreatur“26 ver¬ säumt Karl Kraus keine Gelegenheit, eben diese Kreatur, die im Munde des Menschen zum Schimpfwort geworden ist,27 nicht nur in Schutz zu nehmen, sondern zu einem wahrhaft „heiligen Verteidigungskrieg“28 aufzurufen, zum „Kriegsverrat der Natur“ (F 413, 79f.), wie ein bezeich¬ nender Kriegsglossentitel lautet, als Antwort auf jenen oben als das größte satirische Thema bezeichneten „Naturverrat einer entleerten Zeit“ (F 781, 2) und ihres großen Krieges. Ein Beispiel für viele: Eine feuilletonistische Plauderei über die Kriegs¬ dienstleistung von Lasteseln an der Isonzofront mit allerlei Stichpro¬ ben köstlichen Humors zum dankbaren Thema Esel quittiert der Sati¬ riker mit dem Aufruf: „Karstesel, Kreaturen Gottes, wenn ihr eure Pflicht getan habt, für andere ins Feuer zu gehen - kehrt euch und trampelt diese Brut zu Tode!“ (F 418, 82). Von diesen herablassend humorvoll begönnerten Karsteseln über die geschlachteten Hunde,29 die mit torpedierten Schiffen versenkten Pferde,30 die blutig geschun¬ denen Büffel in Rosa Luxemburgs von Kraus wiederholt vorgelesenem Brief an Sonja Liebknecht31 bis hin zum Zitat eines schauerlichen Lokalberichts über die Massenvergasung tollwutverdächtiger Katzen32 bildet diese Chronik der laufenden Ereignisse menschlichen Naturver¬ rats gleichsam den basso continuo in der satirischen Stimmführungs¬ technik der „Fackel“. Im Schöpfungs-, Natur- und Kreaturbegriff konvergiert die Satire des zeitweiligen Katholiken Karl Kraus mit dem satirischen Kriegswerk

82

,La trahison des clercs

eines dezidiert christlichen, nachmals christlich-katholischen Autors, von dem es im Juli 1914 in der „Fackel“ heißt: „Theodor Haecker, der einzige Mann im heutigen Deutschland, der polemischen Mut und polemischen Ausdruck findet, ohne daß er es wie die Horde der Literarhysteriker nötig hätte, mich als Quelle von Stil und Anschauung zu verschweigen“ (F 400, 57). Wenn Eduard Koester in einer ungemein materialreichen Unter¬ suchung über Literatur und Weltkriegsideologie bei der Darstellung kritischer Gegenströmungen gegen die sogenannten „Ideen von 1914“ Klaus gänzlich ausspart, und zwar mit der eigenartigen Begründung, der Herausgeber der „Fackel“ repräsentiere als ausgesprochener Ein¬ zelgänger keine literarisch relevante Strömung,33 dann hätte, abge¬ sehen von der Relevanz eines Potentials von rund 10.000 Lesern und Hunderten von Hörern, allein schon ein Blick auf die satirische und politische Kriegsproduktion von Theodor Haecker genügt, um die Fragwürdigkeit dieser Aussparung bewußt zu machen. Man kann gerade¬ zu davon sprechen, daß Haecker so etwas wie einen Stellvertreterkrieg im Geiste der „Fackel“ geführt hat, dessen Hauptaktionen - zufällig oder nicht - längere Pausen im Erscheinen der Kriegs-,Jäckel“ auszu¬ füllen bestimmt schienen. So fiel zum Beispiel Haeckers im Frühsom¬ mer 1915 erschienene große satirische Revue „Der Krieg und die Füh¬ rer des Geistes“34 fast genau in die Mitte der Pause zwischen Februar und Oktober 1915, das Ende 1917 vorgelegte umfangreiche pole¬ mische Nachwort zu Haeckers eigener Übersetzung der Kierkegaardschen Nachlaßschrift „Der Begriff des Auserwählten“ wiederum fast genau in die Mitte einer weiteren großen Erscheinungspause zwischen Oktober 1917 und Mai 1918.35 Ohne auf die verblüffend zahlreichen Übereinstimmungen in Thema¬ tik, Motivik, satirischen Anlässen, satirischem Personal und satirischer Perspektive hier näher eingehen zu können, sei lediglich darauf ver¬ wiesen, daß Haecker von streng christlichen Prämissen her zu der glei¬ chen Einsicht in die fundamentale Einschnitthaftigkeit des Ersten Weltkrieges und die daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Bewertung des Krieges überhaupt kommt wie die „Fackel“ mit ihrem offenen System bereits im Bereich der rein profanen „Ordnung des Profanen“36. Als Haecker im Oktober 1919 die Schlußpassage des Nach¬ worts zum „Begriff des Auserwählten“ im ersten Nachkriegsheft des „Brenner“ unter der Überschrift .Ausblick in die Zeit“ zum Wieder¬ abdruck brachte, übernahm er den wichtigen Zusatz, mit dem die Sepa¬ ratausgabe vom Herbst 1918 endet: „Und aus dem Wort Gottes leuch¬ tet zum erstenmal in der Fülle der Klarheit die Erkenntnis, deren

,La trahison des clercs

83

Bekennung von nun an bis in Ewigkeit ein Merkmal des wahren Chri¬ sten sein wird, die Erkenntnis: daß Krieg Sünde ist vor Gott; daß Gott die Scheußlichkeit des Menschenschlachtens nicht will; daß er nur eines will: die Liebe, und daß unsere steinernen Herzen fleischern wer¬ den.“37 In den Dienst der Einsicht in die qualitativ neuen Dimensionen phy¬ sischen und geistigen Vernichtungspotentials, das der Erste Weltkrieg freigesetzt hatte, stellte nach dessen Ende Karl Kraus auch das, was er nach vielfacher Vorankündigung noch während der Kampfhand¬ lungen - sein Verfahren der „Nachmusterung des Verhaltens im Krieg“ (F514, 8)38 genannt hat. Legitimation und Prämissen dieses Verfahrens seien stichpunktartig mit einigen einschlägigen Zitaten gekennzeich¬ net. 1. Zur Dialektik von lebensnotwendigem und lebensbedrohendem Ver¬ gessen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit heißt es in dem an der Jahreswende 1918/19 entstandenen „Nachruf“: „Der Gesinnung, die sich in dem vornehmen Bekenntnis des Chefs der englischen Militärmission in Wien ausgesprochen hat, ,daß wir jetzt alle wünschen, die Greuel des Krieges zu vergessen und nicht an sie erin¬ nert zu werden“, wäre auch zuzutrauen, daß sie dem humanen Zweck zuliebe noch die Wahrheit berichtigt. Und selbst dies ist wünschens¬ wert, da der Menschheit augenblicklich nicht anders zu helfen ist als daß die Völker so schnell als möglich vergessen, was sie einander ange¬ tan haben. Aber sie würde den Fortschritt, den sie durch die Gnade erzielt, reichlich wettmachen, wenn sie es an Reue fehlen ließe, indem die Völker so schnell als möglich vergessen, was sie dem andern, und ganz besonders, was sie sich selbst angetan haben. Wehe uns, wenn wir Gnade üben wollten an uns selbst! [...] Denn auf keiner Seite dürfte sich die Überschreitung der legitimen Ungebühr des Kriegslebens, die Verletzung völkerrechtlicher Normen, die selbst dem menschheits¬ widrigen Handeln gesetzt sind, leichter nachweisen lassen als auf der deutschen, weil hier ein ganzes Heer von journalistischen, literarischen und akademischen Tröpfen und Spitzbuben aufgeboten war, Söldner fremden Blutes, die mit derselben Feder, mit der sie den Vorwurf unmenschlicher Kriegführung auf die Feinde abzuwälzen hatten, ja auf demselben Papier, [...] die Ehrung und Verklärung von Menschen¬ jägern nicht nur beschrieben, sondern auch bejubelt haben. [...] Kei¬ neswegs hat die deutsche Intelligenz, welche wie die keines anderen Landes [...] in der feldgrauen Materie gesiehlt, im fremden Bluterleb¬ nis geschwelgt, ja vielfach von dieser Haltung ihre Existenz gefristet und [...] die eigene Unversehrtheit errungen hat, keineswegs hat die

84

„La trahison des clercs

Barbarei der Bildung auch nur den geringsten Anspruch auf Mitleid [...] Die Völker sollen untereinander vergessen: die Menschheit ver¬ gesse und verzeihe nichts, was sie sich angetan hat!“ (F 501, 65-116). 2. Zu einem solchen Urteil autorisiert allein der bewiesene „bessere Mut“, so wie Karl Liebknecht das gefordert hatte und wie es auch in der Kriegs-„Fackel“ zu lesen war, „im eigenen Lager den Feind zu sehen“ (F 499, 2f.). In einer Notiz zu zwei Briefen eines Berliner Lesers und Hörers, von denen der erste den im zweiten bereuten Vorwurf enthal¬ ten hatte, Karl Kraus sehe alles Schlechte auf deutscher und öster¬ reichischer, allen Glanz und alles Recht auf der anderen Seite, heißt es Anfang 1919: „Daß aller Glanz und alles Recht auf der anderen Seite ist, dürfte aus keinem meiner Kriegsaufsätze zu entnehmen sein, wohl aber das sittliche Gebot, die Schäbigkeit und das Unrecht auf der eigenen Seite zu erkennen und zu bekennen. Wenn dortige Geister ihrerseits die Pflicht erfüllen, wird der Menschheit geholfen; wir haben das Unsrige zu tun. Die Pflicht ist mit dem Frieden nicht erfüllt. Der Feind hat zu vergessen, was der Feind ihm, und darf nie vergessen, was er dem Feinde angetan hat. Beide leider sündigen gegen beiderlei Gebot“ (F 508, 45). Gleichsam Ausführungsbestimmungen zu solchen Grund¬ geboten enthält auf der Basis der Erfahrungen des ersten Nachkriegs¬ halbjahres bereits die Ende Juli 1919 erschienene große polemische Satire „Gespenster“ (F 514, 21-86), ein offener Antwortbrief auf ein Glückwunschschreiben vom 1. Mai 1919, mit dem der sozialdemokra¬ tische Präsident der ersten Deutschösterreichischen Nationalversamm¬ lung Karl Seitz dem Herausgeber der „Fackel“ zur Vollendung ihres 20. Jahres gratuliert hatte und in dem der für den Titel der Satire rele¬ vante Satz vorkommt: Jeder Republikaner wird dankbar anerkennen, was Sie mit Ihrem Wort zur Verjagung der alten Gespenster beige¬ tragen haben“ (F 514, 21). Uber den damit gewürdigten Anteil an der Verjagung der „alten Gespenster“ hinaus formuliert hier Kraus als zugleich kulturelle und politische Aufgabe, was Walter Benjamin Jahre später als den Inhalt des Klassenkampfes definiert hat, einen „Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt“39, wobei die letzteren nicht als eine Summe von ver¬ gegenständlichten Artefakten zu imaginieren sind, als eine Kollektion von vorhandenen Geistes- und Kulturgütern, die gleichsam darauf war¬ ten, erbeutet oder auch ererbt zu werden, sondern als ein Ensemble von produktiven Fähigkeiten, die in diesem Kampf bereits selbst gegen¬ wärtig zu sein und in die Ferne der Zeit hinzuwirken haben: „Uns ist Politik nur eine Methode, das Leben zu besorgen, damit wir zum Geist gelangen. Wir verabscheuen eine Politik, die, um jenes zu

,La trahison des clercs

85

verwahrlosen, diesen mißhandelt hat. Wir sind mit einer zufrieden, die ehrlichen Willens ist, jenes wiederherzustellen und alles weitere uns selbst zu überlassen. Wir wollen nicht mehr, daß Geist und Notwendig¬ keit verkettet seien, weils dann statt beider Krieg gibt. [...] Es wäre mit¬ hin zum inneren Aufbau der Welt unerläßlich, ihr das wahre Rückgrat des Lebens, die Phantasie, zu stärken. [...] Nur eine Politik, die als Zweck den Menschen und das Leben als Mittel anerkennt, ist brauch¬ bar. Die andere, die den Menschen zum Mittel macht, kann auch das Leben nicht bewirken und muß ihm entgegenwirken. [...] Denn der Geist steht zwar über dem Menschen, doch über dem, was der Geist erschaffen hat, steht der Mensch. [...] Ihm zu seinem Naturrecht, wenn nicht zur Verwendung seiner Naturgaben zu helfen, ist die sittliche Auf¬ gabe der Zeit, erhaben über aller Unbarmherzigkeit, die ihr Gewissen mit der planen Erkenntnis beruhigt, daß auch die Natur die Menschen nicht gleich erschaffen habe. Aber der Natur eben die reine Auswir¬ kung dieses von ihr gewollten Unterschieds zu erlauben, der von einer elenden sozialen Ordnung zumeist in das Verhältnis verdorrenden Wertes und gedeihender Nichtigkeit verkehrt wird; zu der von keinem Gewaltgriff beeinflußten Selbstbestimmung des Menschen zu gelan¬ gen: das ist die Idee eines Wirkens, dessen geistiges Ziel auch über einem nur den materiellsten Dingen zugewandten Bewußtsein vorhan¬ den wäre“ (F 514, 34—48). Auf der Grundlage des sowohl mit der Schöpfungstheologie und -anthropologie Haeckers als auch mit der Mobilisierung theologischer Spekulationsmassen durch Walter Benjamin vereinbaren Fundamen¬ talsatzes, daß nämlich „im Namen der Kunst und alles ewigen Lebens der erschaffene Mensch über dem erschaffenen Werk steht“ (F 519, 9), führt Karl Kraus im gleichen Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des und der Geistigen, wie es Romain Rolland in sei¬ ner am 26. Juni 1919 in der „Humanite“ veröffentlichten „Declaration de l’independance de l’Esprit“40 den europäischen Intellektuellen zur Solidarisierung angeboten hatte. Diese im Zeichen Wilsons auf eine berühmte Unabhängigkeitserklärung anspielende Deklaration war umgehend, am 19. Juli 1919 im „Figaro“, mit einer von 54 namhaften französischen Schriftstellern Unterzeichneten Gegenerklärung erwi¬ dert worden, einem „Manifeste du parti de Pintelligence“, das im Zei¬ chen einer Pax Gallica nichts Geringeres forderte als „La Federation intellectuelle de l’Europe et du monde sous l’egide de la France victorieuse, gardienne de la civilisation“41 und dessen sarkastische Analyse durch Julien Benda in der schon angedeuteten Rühmung Marcel Prousts gipfelt, der als wahrer „clerc“ nach Bendas Sinne dieses Doku-

,La trahison des clercs

86

ment als „une espece de Frankreich über alles1“ verurteilt hatte, das sich damit zum Gendarmen der Literatur aller Völker aufwerfe.42 Eine deutsche Version des Rollandschen Aufrufs wurde im September 1919 unter dem Titel „Für die Unabhängigkeit des Geistes!“ von dem Pots¬ damer Astronomen Prof. Wilhelm Foerster - einem der Signatare des berüchtigten Aufrufs der 93 vom Oktober 1914 - im Auftrag der „Liga zur Beförderung der Humanität“ mit der Bitte um Unterzeichnung und Weiterverbreitung versandt, unter anderem auch an Karl Kraus, der in Briefen an Prof. Wilhelm Foerster und den bekannten Pazifisten Prof. Georg Friedrich Nicolai vom Oktober und November 1919 seine Unterschriftsverweigerung ausführlich begründete.43 Ich muß es mir leider versagen, auf eine detaillierte Analyse dieser Aus¬ sagen näher einzugehen, auch kann ich die Tatsache lediglich vermer¬ ken, daß Alban Berg in gleichzeitigen, ebenfalls im Oktober und November 1919 geschriebenen Briefen an den Prager Komponisten Erwin Schulhoff sich bei seiner Unterschriftsverweigerung nicht nur im eigenen Namen, sondern auch stellvertretend für Gleichgesinnte wie Schönberg, Loos oder Kokoschka ausdrücklich auf die von Kraus in den „Gespenstern“ gegebene Begründung berief:44 ein weiterer Beleg für die Fragwürdigkeit der von Koester behaupteten „Strömungsirrele¬ vanz“ des ausgesprochenen Einzelgängers Karl Kraus. Auf diesen unmittelbar nach Kriegsende gelegten Fundamenten für Kriterien der Kritik an „Worthelfern der Gewalt“ beruhen satirisches Verfahren und polemische Kasuistik eines Hauptthemas der Fackel“ bis zur „Dritten Walpurgisnacht“, das sein repräsentativstes Objekt in Alfred Kerr gefunden hat: die unreflektierte, abermalige Rückver¬ wandlungen nicht prinzipiell ausschließende Verwandlung von enragierten Kriegsbarden in engagierte Friedensboten, die das Geist¬ geschäft der Völkerversöhnungsindustrie im Zuge des internationalen Verständigungstourismus

mit

der

gleichen

ungerührten

Rouüne

betreiben wie vormals das Kriegsgeschäft der Völkerverhöhnungsin¬ dustrie. Wenn im folgenden eine Exemplifizierung dieses Phänomens mit dem Namen Rudolf Leonhards verknüpft wird, dann soll dessen nachmalige politische Bekehrung und Wandlung in keiner Weise angezweifelt werden; aber es läßt sich wohl für den hier in Frage stehenden geistigen Versatilitätsmechanismus, der eine beliebig einsetzbare Tat¬ kraft in Bereitschaft hält, kaum eine bessere Formel finden als das Drei¬ zeilenmotto, das Rudolf Leonhard einer Sammlung seiner Kriegs¬ gedichte

vorangestellt

hat,

die

selbst

im

Kontext

allgemeiner

Kriegsbesoffenheit einen Gipfelrekord von Blutberauschung darstel¬ len. Es lautet:

,La trahison des clercs

87

„Im Taumel der ersten Wochen geschrieben, Der Rausch ist verdunstet, die Kraft ist geblieben Wir werden uns wieder besinnen und lieben“45 - bis zum Bedarfsfall des nächsten Rausches im nächsten Taumel, wie man zwar nicht biographie-, wohl aber tonfallgerecht ergänzen könnte. Das erste Thema eines aus dem Blutrausch wirklich Erwachten kann und darf nach Kraus gerade auch um der Glaubwürdigkeit der Sache willen nicht der unvermittelte Übergang zu einer dann und dadurch doppelt diskreditierten Friedensbotschaft sein, es muß vielmehr in einem rückhaltlosen Bekenntnis zur Schuldhaftigkeit des eigenen Hin¬ gerissenseins bestehen (nach einer satirischen Fiktion von Karl Kraus ist jeder Metteur versucht, statt hingerissen „hirngerissen“ zu setzen46), und es muß nicht zuletzt auch einen Motivenbericht des eigenen Aus¬ nüchterungsprozesses enthalten (wenn nicht der Rückzug aus der publizistischen Öffentlichkeit in ein verschwiegenes Privatleben präferiert wird). Das erste satirische Exempel wegen Mißachtung dieses Gebotes hat Karl Kraus an Anton Wildgans statuiert, einem der wilde¬ sten Kriegsbarden der ersten Stunde, dessen sprechender Gedichttitel „Vae victis!“47 alsbald in der „Fackel“ die Kontrafaktur „Vae victoribus!“ (F 413, 24) erfahren hatte und dem es - dennoch oder infolgedessen gelungen war, den Platz eines überparteilich anerkannten Poeta laureatus der Ersten Republik einzunehmen, wozu Robert Musil sar¬ kastisch bemerkte, das Hauptmotiv für seinen Weggang aus Wien sei gewesen, daß Rot und Schwarz sich darüber einig gewesen seien, in Anton Wildgans einen Dichter verloren zu haben.48 Ausgerechnet ihn, den Autor des rabiaten Drohgedichtes „Vae victis!“ hatte die inflationsverarmte Republik Österreich zusammen mit dem zahmeren Kriegsfeuilletonisten Auernheimer im Januar 1922 auf Staatskosten zum Moliere-Jubiläum nach Paris entsandt, um dort bei den Siegern um eine milde Gabe bitten zu lassen. Die Kraussche Satire mit dem sarkastischen Titel „Einzug in Paris“ (F 588, 96-102) ver¬ schränkt die Motive von „Brot und Füge“ und die des Weltverbrüde¬ rungsgeschäftes mit der Romain-Rolland-haft aufgetakelten „ambrassade universelle“49, wie Benda das nennt, zu einem furiosen Finale: „Was die materielle Notlage Österreichs anlangt - die geistige wird von niemandem bezweifelt -, so hätte [man] dem Herrn Wildgans den Rat erteilen müssen, in besseren Zeiten, wenn das Reisen nicht so kost¬ spielig ist, wiederzukommen, dann werde man schauen, was sich machen läßt. Und was speziell die Notlage des Burgtheaters betrifft, nun, so sei sie eben eine der zahllosen Folgen der Niederlage in einem mutwillig heraufbeschworenen Verteidigungskrieg, wie ihn Herr Wild-

,La trahison des clercs“

88

gans ehedem verherrlicht hat, damals, ,als Gott uns aufrief zum großen Morden4. Damals, als Herr Wildgans seinen französischen Gastgebern zurief: Kein Krämergötze führt das Bruderheer, Um Menschenwürde und um Menschenrechte Bekriegen freie Männer dumpfe Knechte Infrech

h e r au fb e s c hw o r n e r

Gegenwehr.

Damals, als er ihnen, Lyriker eines Siegfriedens, noch weit entfernt, sie für das notleidende Burgtheater anzuschnorren, die Folgen einer Nie¬ derlage zu bedenken gab: Weh dem Besiegten! Härtester der Sprüche, An

ihren

Mit

Nacken wird er kalt vollstreckt,

Schlächterruhe ohne Haß und Flüche

Zermalmt Der

die

Sieger

Und

über

wird

das

und

die

ist

wie

recht

was

sie

Großmut

schmählich

Hinstampfen Und

Brut

unterdrücken

hingekrümmte

auf häßliches so

ausgeheckt! Rücken

Insekt.

und ist wahre Güte!

Mitschuldig wird, wer Niedertracht vergibt. So hat Herr Wildgans gedichtet. Und so hat er gesprochen: Diese auch

Gleichzeitigkeit den

Mut,

sehen und auch des

Sie

Moliere-Feiern) zu

Ihrerseits

Gegenseitigkeit Gebiet

(der

bitten, das

gibt

keine

aber

darin ein Beispiel zu

Prinzip

anzue rke n n e n ,

Geistes

mir der

die

Grenzen

edlen

auf

dem

hat.

Und so ist Herr Wildgans als Sieger in Paris eingezogen. Auf Kosten der Besiegten. Die Völkerversöhnung scheint tatsächlich bereits vollzogen zu sein. Dieses Österreich, dieser so wenig verschämte Arme, konnte es wagen, einen seiner wildesten Kriegsbarden zum Betteln nach Paris zu schicken. Und die Franzosen, es verschmähend, das Prinzip der Gegen¬ seitigkeit auf dem Gebiet des Geistes anzuerkennen, haben großmütig darauf verzichtet, über schmählich hingekrümmte Rücken wie auf hä߬ liches Insekt hinzustampfen. Nur ich, der Wildgansens ,Vae victis!4, här¬ testen der Sprüche, angenommen hat, bleibe unversöhnlich, und das ist recht so und ist wahre Güte, denn mitschuldig wird, wer Nieder¬ tracht vergibt und wer eine vaterländische Gesinnung, die, gestern noch auf stolzen Rossen, heute nur mehr den Mut hat, zu bitten, appe-

,La trahison des clercs

89

titlich finden würde. Ach ich möchte, wenn nicht für unsereinen sich der Weg bis Paris weiter zöge als für die Kriegsliteraten, diesem öster¬ reichischen Staatsunwesen und dieser ganzen Wesenlosigkeit öster¬ reichischer Charaktere den Rücken kehren, und muß mich leider damit begnügen, es an Ort und Stelle zu tun. Und mit Schlächterruhe die Brut zu zermalmen und was sie ausgeheckt: heute einen Bettelbrief und gestern ein Ultimatum!“ (F 588, 100-102). Die Modellhaftigkeit dieser satirischen Exekution für die vernichtende Kritik, der Walter Benjamin vier Jahre später die Pariser Impressionen Fritz von Unruhs unterzogen hat,50 ist auch dann nicht zu verkennen, wenn man die in der Druckfassung der „Literarischen Welt“ getilgten direkten Bezüge auf Karl Kraus nicht berücksichtigt:51 Selbst der Titel „Friedensware“ ist ein Zitat aus der „Fackel“.52 Diese wiederum eröffnet mit der Satire „Kerr in Paris“ (F 717, 47-61) nicht nur eine neue Phase in der Polemik gegen Kerr, sondern präludierte damit bereits im März 1926 der im Mai 1926 erschienenen Benjaminschen Kritik mit Vorbzw. Rückverweisen auf die den Kerrschen „Gottlieb“-Gedichten ana¬ logen Produktionen Unruhs. „Ein gewissenhafter Forscher“, so heißt es da, „hat sich der Aufgabe unterzogen, in der Berliner Staatsbibliothek den Spuren der Kerr’sehen Kriegslyrik zu folgen, und teilt mir als Resultat seiner Untersuchungen die Erkenntnis mit, daß ,Tyrtäus einer der stärksten Defaitisten im Vergleich mit unserem Autor1 gewesen ist. Er gewahrte auch die mörderischen Kriegsekstasen jenes Herrn v. Unruh, der nach der großen Wendung der erste war, der den Anschluß an den Feind gefunden hat und dem freilich die aktive Teilnahme an dem Unaussprechlichen zugerechnet werden muß“ (F 717, 50). Nicht nur, aber gerade auch die von Günter Hartung in ihrem Zusam¬ menhang analysierten Benjaminschen Antikriegsschriften53 bilden in den zwanziger Jahren, wenn auch auf andere, so doch ganz analoge Weise ein Wechselergänzungskontinuum mit der Produktion der „Fackel“, wie das die Haeckerschen Antikriegssatiren bereits während des Ersten Weltkrieges getan hatten. Alle drei Autoren haben von verschiedenen Prämissen her Kriterien der Kritik an den von Kraus so genannten „Worthelfern der Gewalt“ ausgearbeitet, die auch bei dem nächsten großen Anlaß, dem von 1933, ihre Bewährungsprobe bestanden haben, als es zu einem abermaligen Massenverrat kam, bei dem, wie von Kraus am Fall Benn dargetan, „die Schwärmerei der Köpfe für die Kopfjäger [...] schon an inneres Erleb¬ nis“ (S 12, 87) grenzte. Sie haben damit den von Benda gezogenen ideologischen Bannkreis reiner Geistesimmanenz und Spiritualität in immer erneutem Rekurs auf den konkreten Menschen zu durch-

90

„La trahison des clercs

brechen vermocht, auch und gerade dann, wenn dieser sich nur noch in Gestalt der preisgegebenen, gepeinigten und gemarterten Kreatur darbot. In der „Dritten Walpurgisnacht“ ist diese Priorität auch gegen¬ über den Gepflogenheiten eines der nazistischen Gleichschaltung noch entrückten „Geistbetriebs“ mit Nachdruck betont: „Nicht gegen das, was dem schreibenden Menschen, sondern gegen das, was dem Menschen widerfuhr, war zu schreiben oder zu handeln [...] Der Geist hatte, jenseits der Gefährdung des Berufs, gegen ein Wal¬ ten zu stehen, das mit grausamem Dilettantismus in die Region des Menschseins langt. [...] Das geringste [Menschenleben], ja nur eine Menschenstunde, dem ärmsten Dasein entrissen, wiegt eine verbrann¬ te Bibliothek auf. Der bürgerliche Geistbetrieb macht sich noch im Zusammenbruch einen Schwindel vor, wenn er seinen spezifischen Einbußen mehr Zeitungsraum offen hält als dem Martyrium der Ano¬ nymen, als den Leiden einer Arbeiterschaft, deren Daseinswert sich unzerstörbar in Kampf und Hilfe beweist, neben einem Betrieb, der Solidarität durch Sensation ersetzt und der, so wahr die Greuelpropa¬ ganda eine der Wahrheit ist, noch mit dieser zu lügen vermag. Der Journalismus, welcher den Raum der Lebenserscheinungen falsch dimensioniert, ahnt nicht, daß die Privatexistenz als Gewaltopfer dem Geist näher steht als alles ruinierte Geistgeschäft“ (S 12, 112-114).

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten“ Konfigurationswandlungen des „Bodenständigen“ in der Satire der „Fackel“

Für Georg Knepler zum 21. Dezember 1986 „Die Öffentlichkeit dieses Landes ist in fortwährender Bewegung. Es ist das lebhafte und malerische Treiben, das sich auf einem alten Stück Gorgonzola abspielt.“ (F 291, 17) „Kujone hier und Troglodyten, sie machen mir die Luft zu dick.“ Aus einer „Zeitstrophe“ zum 5. Vortrag von „Pariser Leben“ in der 436. (293. Wiener) Vorlesung (15. März 1928)1 „Eine Verteidigung der Donau, wie wenig muß sie, nichtwahr, dem anstehen, der gerade gegen diesen Strom dauergeschwom¬ men ist - und doch tat er’s um der echten ,Schätze1 willen, die er besser sah als die, die prinzipienfest mit dem Strom schwimmen, ja selbst als die bodenständigen Uferbewohner, welche doch bestimmt keine Ahnung von Raimund und Nestroy haben, von Peter Altenberg und Adolf Loos. Es sind eben (,c’est comme ga’) die Widersprüche, und da kann man halt nix machen: als schwim¬ men, wie man will und nicht: wie die andern wollen, daß man schwimme. Einen .Zwiespalt der Natur' bedeuten jene nicht, bloß den der Welt, die sich längst mit sich selber nicht auskennt, umso¬ weniger mit dem Betrachter, und wir werden zur Erklärung kei¬ nen Oerindur brauchen. Mißfallen wie Gefallen an der Gegend wird auch Zeitstoffeln, die sich erfrechten, einem die geistige Richtung vorzuschreiben, einst ein Bild hinterlassen, dessen Viel¬ förmigkeit nicht Schuld der Darstellung gewesen.“ (F 917, 77)2

Zum volkhaft, volklich, volkheitlich bis völkisch weitergepflegten Erbe deutscher Lexikographie seit Campe und den Brüdern Grimm gehör¬ te bekanntlich die Ausgrenzung der 1819 von Jean Paul so getauften „Fremdwörter“3 im Zeichen des soeben erst wieder von Fred Zimmer¬ mann untersuchten Dogmas von der unbefleckten Unvermischtheit des Deutschen.4 Den theoretischen und vor allem auch praktischen Nachteilen dieses durch ideologischen Systemzwang motivierten Erb¬ übels abzuhelfen, diente die komplementäre deutsche Spezialität der Fremdwörterbücher, von denen das umfassendste und belegreichste, der bereits 1913 begonnene sogenannte Schulz-Basler, erst kürzlich abgeschlossen worden ist.5 Unter dem 1981 vorgelegten Stichwort

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Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

„Troglodyt“6 kann man da lesen, daß es als Synonym für einen geistig und emotional primitiven Menschen „gelegentlich pejorativ verwen¬ det“, in dieser Bedeutung jedoch „heute selten“ gebraucht werde,7 wobei als jüngster Beleg ein gekürzter Passus aus einem 1966 erschie¬ nenen Buch geboten wird, der hier in extenso angeführt sei. Er bezieht sich auf das von Karl Kraus bereits vor dem Ersten Weltkrieg diagnosti¬ zierte, während des Krieges hundertfach exemplifizierte und im März 1918 mit der polemischen Satire „Das technoromantische Abenteuer“ (F 474, 41-45) schließlich auch ausdrücklich thematisierte „Phänomen [...] der Gleichzeitigkeit1“ (F 474, 41) von technischer Progression und mentaler Regression: „Die Konzentration der ökonomischen,

militärischen,

politischen

Macht fördert das allgemeine Gefühl der Ohnmacht, Angst, Indolenz, Verantwortungslosigkeit. Das Beunruhigendste ist der Vorrang des Militärs. Das Denken in militärischen Kategorien ist nicht weniger antiquiert als der Aberglaube, man könne einen Menschen dadurch töten, daß man sein Bild verbrennt, oder eine Puppe, die ihn vorstellt, mit der Nadel durchbohrt. Doch in dieser Welt, in der Jahrtausende eingestürzt sind und, was geschichtlich nacheinander kam, zum Nebeneinander von Ruinen und Rohbau, Steinzeit und Kybernetik, Fetischismus und Relativitätstheorie, Drudenfuß und Pentagon gewor¬ den ist, sitzen Troglodyten dort, wo man über den Einsatz der von spe¬ zialisierten Konstrukteuren gelieferten Mittel der totalen Destruktion entscheidet. Sie orientieren sich auf den maschinell errechneten Augenblick, da sie imstande sind, den Gegner fünfzehnmal zu vernich¬ ten, dieser hingegen die Vernichtung nur zwölfmal rückerstatten kann.“8 Das Buch, dem dieses Zitat entstammt, heißt „Kunst und Koexistenz“, sein Verfasser Emst Fischer, den die „Fackel“ bereits im März 1931 sati¬ risch verewigt hat als den „Perlen-Fischer“ (F 847, 92)9, der, wie ihr Her¬ ausgeber sarkastisch bemerkt, „mich andauernd verehrt, wenn schon nicht mehr mit dem Wort, so doch durch die Tat“ (ebd.)10, indem er die gefischten Perlen operativ unter die Feute zu bringen weiß, ohne seine Fanggründe zu verraten. Die Perle, mit der hier geglänzt wird, ist ebenjener „Troglodyt“, und sie wird vom Lexikographen erst 1966 bei ihrem Fischer entdeckt, während in der von diesem befischten „Fackel“ der Jahre 1924 bis 1934 wie auch in der „Dritten Walpurgisnacht“ für „Troglodyt“ und

dessen Ableitungen wie

„troglodytisch“,

„Trog-

lodytentum“ nicht weniger als ein ganzes Schock von Belegen zu finden gewesen wäre.11 Wie die Wissenschaft überhaupt, so sieht also auch die Lexikographie sich in dem altmodischen Nimbus der Voraussetzungs-

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

93

losigkeit erschüttert und dem ausgesetzt, was mittlerweile links- wie rechtsneudeutsch Ideologieverdacht heißt: Sage mir, was du exzerpierenswürdig findest, und ich sage dir, wie du’s mit der Literatur hältst. Dies vorausgeschickt, sei gleichzeitig vorweggenommen, daß die Wort¬ familie „Troglodyt“ die zeit- und werkgeschichtlich letzte satirische Konfiguration eines Bedeutungskomplexes darstellt, dessen vielfälti¬ gen Variationen das ostinate Thema des „Bodenständigen“ als Leit¬ begriff zugrunde liegt. Von den synonym verwendeten Begriffen „bodenständig“ und „boden¬ wüchsig“, die beide noch in der „Dritten Walpurgisnacht“ vertreten sind,12 findet sich der seltener vorkommende zweite bereits im ersten Heft der „Fackel“ vom April 1899. Das „Bodenwüchsige“ erscheint hier noch als positiver, aber auch unwiederbringlich vergangener Kontrast¬ wert zu einer Literatur- und Theatermarktsituation, die beherrscht wird von bereits kulturindustriell hergestellten Serienprodukten, mit denen die „Industrieritter des Geistes“ (F 1, 13) „die literarische Nah¬ rung der Massen“ (ebd.) verfälschen, und zwar nach Surrogatrezepten, die das Geheimnis des Kartells einiger weniger kapitalistisch rationell nach den Grundsätzen des „literarischen Manchesterthums“ (F 1, 15) wirtschaftender Unternehmer sind: „Seitdem die bodenwüchsige Vor¬ stadtposse verblichen ist, müssen wir das Wiener Theater einem regel¬ rechten Speculantenthum preisgegeben sehen. Journalistische Schma¬ rotzer, [...] Operettenwucherer und Coulissiers, [...] tummeln sich auf der Scene, die einst Nestroy und einem herrlich verwienerten Offen¬ bach gehört hat“ (F 1, 15). Daß diese als Wert bejahte authentische Art von „Bodenwüchsigkeif ‘ weder rassen- noch stammesspezifisch bedingt und erklärbar sei, daß sie nicht in ihrer sogenannten Scholle, sondern in ihrer Sprachregion bodenständig zu sein habe, blieb das Credo der „Fackel“ und ihres Herausgebers von Anfang bis Ende. Damit war auch der Blick freigegeben für Einzelgänger einer so verstandenen „Bodenwüchsigkeit“ in einer Zeit, der die Massenbasis für dieses Phänomen entzogen war: Als in der Sprache bodenständige Darsteller konnte Karl Kraus nach diesen Kriterien Alexander Girardi ebenso würdigen wie den jüdischen Jargonschauspieler Heinrich Eisenbach oder in den zwanziger Jahren den Münchner Karl Valentin, den er auf ebenso bemerkens- wie denkwürdige Weise gegen Alfred Kerr verteidigte, der in Anlehnung an das gängige Klischee von Raimund als dem wahren Volksdichter und Nestroy als dem bloßen Possenreißer mit der Anti¬ klimax aufgewartet hatte: „Der Humorist Pallenberg wird (nötigen¬ falls) zu einem Raimund. Der Komiker Valentin ist ein Nestroy“ (F 668, 103). Dazu Karl Kraus: „Der Komiker Valentin

ist

ein Nestroy,

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

94

während Herr Pallenberg nur nötigenfalls zu einem Raimund wird. Zum Glück wird es nicht benötigt“ (ebd.). Diese frühe begriffliche Klarstellung, in deren Licht etwa das Anfang 1900 ausgesprochene Postulat

auch bei uns müsste die sociale Kunst

zugleich national, oder richtiger gesagt, bodenständig sein“ (F 29, 19), zu sehen und zu verstehen ist, diese Klarstellung bildet indessen ledig¬ lich den Ausgangspunkt einer langfristigen satirischen Strategie und minutiösen

polemischen

Taktik,

die

den

Begriff „bodenständig“

immer ausschließlicher als vernichtendes Zitat der chrisüichsozial oder deutschvölkisch motivierten Klischeevorstellungen davon verwendet, nach welchen „bodenständig“ immer eindeutiger zum bloßen Hehl¬ wort für arisch oder antisemitisch wurde. Die Tatsache, daß die Mehr¬ zahl der publizistischen Aktionen und satirischen Beweisführungen auf dem Hauptkriegsschauplatz des polemischen Kampfes der „Fackel“ gegen den „Börsenliberalismus“ (F 56, 9) und dessen Presseorgane als die sprachregelungstechnisch avanciertesten Massenmedien durch¬ geführt wurden, darf nicht übersehen lassen, daß auch auf dem Neben¬ kriegsschauplatz des Kampfes gegen die „Bodenständlinge“ (F 668, 58) alles zur Sprache kam, was die Möglichkeit ihres Sieges als so trosüos erscheinen lassen mußte, wie sie nach dessen Verwirklichung 1933 bezeichnet wird, nämlich als arischer Journaille-Ersatz, „der jeder Beschreibung spottet, die die Satire davon machen könnte“ (S 12, 42). Schon 1900 hatte es in Hinblick auf die Sprache der „Ostdeutschen Rundschau“ des deutschvölkischen Politikers Karl Hermann Wolf sar¬ kastisch geheißen: „Den Osten hör’ ich wohl; allein mir fehlt das Deut¬ sche!“ (F 35, 21). Zwanzig Jahre später wird ein bald zum satirischen Leitmotiv ausgestaltetes Zitat eingeführt, um die Talenüosigkeit des christlichsozial-antisemitischen Journalismus zu kennzeichnen, „des¬ sen Können noch immer nicht seiner Perfidie gewachsen ist und des¬ sen satirische Ambition mich jedesmal an eine Annonce ,Steirer macht letzten Versuch1 erinnert“ (F 568, 61).13 Daß Karl Kraus nach Ende des Ersten Weltkrieges gleichwohl einen Nachholbedarf empfand, dem er unter anderem im Prozeß der Erwei¬ terung der sogenannten ,Akt-Ausgabe“ der „Letzten Tage der Mensch¬ heit“ von 1919 zur Buchausgabe von 1922 durch eine wesenüiche Ver¬ stärkung

des

„bodenständigen“

Anteils

am

Gesamtbereich

der

satirischen Objekte gerecht zu werden trachtete, habe ich schon an anderer Stelle dargelegt.14 Bereits in der „Akt-Ausgabe“ jedoch wird in der so gut wie vollständig aus authentischen Zitaten montierten Szene „Vereinssitzung der Cherusker in Krems“ (LTdM, AA IV/13 = LTdM III/11) eine Gestalt eingeführt, deren Name, als Appellativum, als Gat-

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

95

tungsbezeichnung eines Typus bald vergleichbaren Figuren wie dem alten Biach, dem reichsdeutschen Kommerzienrat Wahnschaffe oder dem Wiener jüdischen Hofratsehepaar Schwarz-Gelber den Rang abzulaufen begann: Kasmader.1' Genese und ursprüngliche Funktion dieser als Namensfindung ausgewiesenen Namensgebung hat Karl Kraus an einer höchst aufschlußreichen Stelle des um die Jahreswende 1918/19 geschriebenen „Nachrufs“ auf die Monarchie geschildert: „Für einen Marsbewohner wäre es jedenfalls unfaßbar, daß hier eine Republik etabliert wurde und die ganze Mischung von Ghetto und Bierstüberl, nicht nur als Naturfarbe, nein auch als der unmittelbare poli¬ tische Ausdruck unserer Neigungen uns erhalten blieb; daß jene unde¬ finierbare Spezies, die sich .deutschnational' nennt und die wohl unter allen lebendigen Formen die rätselhafteste ist, nicht nur nicht am ersten Tag weggeblasen war, sondern obenauf ist, nachdem sie bis zum letzten Generalstabsbericht den ganzen Bieratem ihrer Leidenschaft an einen Siegfrieden gewendet hat. Jene Sorte, neben der das feind¬ liche Ausland, wenn es sich noch einen Funken Gerechtigkeitsgefühl bewahrt hat, den Preußen als einen Kulturträger hinnehmen müßte und für die mir auf der Suche nach einem Personennamen in meinem tragischen Karneval16 der Zufall einer Lokalnotiz ein Zauberwort, das alles Wirrsal bändigt, in den Schoß geworfen hat: Kasmader! In wel¬ chem Namen könnte sich diese Partie von Deutsch-Österreich, und eigentlich das ganze, glücklicher darstellen? Man spürt sofort, daß alles Eau de Lubin,1' über das die Entente verfügt und das sie allein schon befähigt hat, dem alldeutschen Gedanken die Spitze zu bieten, nicht ausreichen würde, um Kasmader der Welt unbedenklich zu machen, und es wäre wahrlich nicht unbillig, wenn sie sich zur dauernden Ein¬ richtung eines Konzentrationslagers18 entschließen wollte, worin das Wesen, von Nahrungssorgen natürlich befreit, seine Tage hinzubrin¬ gen hätte, mit der Erlaubnis, über die Lage der Deutschen in Öster¬ reich19 weiterhin nachzudenken, auch seinen sonstigen Belangen20 hin¬ gegeben, aber des Anspruchs verlustig, die bare Unmöglichkeit, an die Welt Kultur abzugeben, und die Unfähigkeit, sie von ihr zu nehmen, in gefährlichen Experimenten auszuleben. Das Wunder der Befreiung von der alten Macht, dessen wir uns bei jedem neuen Erwachen ver¬ sichern müssen, berührt umso wunderbarer, als uns ihre Stützen voll¬ zählig erhalten geblieben sind, so daß wir eigentlich nur dem Divertis¬ sement21 von Verwandlungskünstlern beiwohnen, die uns noch dazu die Methode verraten, indem sie uns zuzwinkern, sie wären eigentlich die Alten. Die Komik der Shakespeareschen Gelegenheitskomödian¬ ten, die dem Herzog und seiner Familie eine .höchst klägliche Komö-

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

96

die1 vorführen, ist erst in der Zumutung, sich die Herren Wolf, Hum¬ mer und Teufel als Republikaner vorzustellen, übertrieben“ (F 501, 79-81). Dieser Passus ist ebenso interpretierungsbedürftig wie interpretierenswert. Zunächst erweist sich die von Kraus vollzogene Sinngebung des Namens als eine bewußt volksetymologische Lesart;22 wie immer auch das Wort namenskundlich zu deuten sein mag, seinem Finder verbin¬ det es sich mit dem vorrätigen Assoziationskomplex „Käsemade“, den er schon 1913 in einem aphoristisch ausgeführten Wortspiel auf Öster¬ reich bezogen hatte, anknüpfend an die legasthenisch zu buchstabie¬ rende Herkunftsformel „Made in Austria“ und kombinierend mit einer stereotypen Kellnerfloskel: „Made in Austria: aha, von altem Käse ist die Rede. Österreich ist gut durch. Aber bald werden die Kellner be¬ dauern, nicht mehr dienen zu können“ (F 381, 70).23 In Kasmader hat die hier imaginierte „Made in Austria“ ihre menschliche Inkarnation gefunden: Tertium comparationis ist ein Wesen, das zugleich Produkt und Agent des Fäulnisprozesses eines Gebildes ist, in und von dem es lebt. Hinsichtlich der politischen Attribuierung bleibt festzuhalten, daß hier der Typus Kasmader zunächst und primär sozusagen noch in großösterreichischen Dimensionen als Repräsentant nicht des christ¬ lichsozialen, sondern des eindeutig deutschnationalen, ja deutschradi¬ kalen Lagers innerhalb des Gesamtkomplexes der „Bodenständigen“ angelegt erscheint. Nicht nur die Gruppierung der Charakteristika um die ausdrücklich verbalisierte Bezeichnung „deutschnational“ spricht dafür, sondern noch mehr die Exemplifizierung des Typus durch die namentliche Nennung der „Herren Wolf, Hummer und Teufel“ (F 501, 80): Nicht nur der berühmt-berüchtigte Karl Hermann Wolf, sondern auch Gustav Hummer und Oskar Teufel waren deutschradi¬ kale Politiker, die böhmische bzw. mährische Wahlkreise im Abgeord¬ netenhaus des Reichsrats zu vertreten hatten.24 Für die spezifisch christ¬ lichsoziale Variante des „Bodenständigen“ hatte Karl Kraus schon 1907 einen satirischen Typisierungsvorschlag gemacht, auf den er dann allerdings nicht mehr zurückkam: „der Magistratsdiener Fasching¬ bauer - unter diesem Beruf und Namen subsumiere ich den Begriff des Deutsch-Österreichertums“ (F 219, 45).25 Je radikaler sich nun in den ersten Nachkriegsjahren die Polemik der „Fackel“ gegen Politik, Presse und Literatur oder vielmehr „Schrift¬ tum“ des christlichsozialen und des mit ihm verbündeten legitimistischen Lagers verschärfte - vor allem nach den Innsbrucker Vorlesun¬ gen

von

1920,

gipfelnd

in

dem

als

Protestakt

gegen

das

„Fibelchristentum“ (F 521, 154) am 24. September 1922 vollzogenen

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten Austritt aus der katholischen Kirche

97

desto mehr wächst der Typus

Kasmader in das wesentlich christlichsoziale Rollenfach hinein, das ursprünglich dem Magistratsdiener Faschingbauer zugedacht war, und als „Postler“ von Beruf, wie ihn schon die „Letzten Tage der Mensch¬ heit“ vorgestellt hatten, erhält er nun auch einen Beamtentitel: „Ober¬ offizial Kasmader“ (F 595, 91). Als loyaler Schober-Anhänger wird er dann eine weniger brutale und mehr konnivente Spielart repräsentie¬ ren können, den „Österreicher, wie er in der Fibel steht, Kasmader von der braveren Sorte, nicht gewalttätig, aber doch bodenständig und dahinterstehend“ (F 852, 42f.). Mit dieser allmählich sich vollziehenden Rollenverschiebung ist indes¬ sen die militantere, deutschnationale Charge ohne typologische Beset¬ zung geblieben, was in der satirischen Ökonomie der „Fackel“ sich um so empfindlicher bemerkbar machte, als, wie es hier schon Anfang 1921 heißt, in Deutschland „das Hakenkreuz über den Trümmern des Weltbrands ragt[e]“ (F 557, 59), das schon ein Jahr zuvor Dr. Walter Riehl, der Führer des österreichischen Zweiges der „Deutschen natio¬ nalsozialistischen Arbeiterpartei“ dem ursprünglich aus Hammer und Eichenlaub bestehenden Emblem des Parteiabzeichens hinzugefügt hatte.26 Diese qualitativ neue, individual- und massenpsychologisch hochexplosive

Mischung aus brutaler Aggressivität und radikaler

Regression fand in Österreich ihr publizistisches Zentralorgan in der „Deutschösterreichischen Tageszeitung“, kurz „Dötz“ genannt, jenem „Schutz- und Trutzgoi“ (F 781, 87), dem die „Fackel“ in regelmäßigen Abständen vorn auf die arischen Monstrositäten und hinten, in der Rubrik „Hausarzt-Briefkasten“, auf die dort unermüdlich behandelten Schweißfüße schaute: eine satirische Motivkoppelung, die ebenfalls bis in die „Dritte Walpurgisnacht“ hinein weitergeführt wird.27 Aber bis zum Ende des ersten Nachkriegsjahrfünfts fehlte es der „Fackel“ an einem typologisch faßbaren und leitmotivisch weiterverwendbaren sati¬ rischen Oberbegriff für diese qualitativ neue Stufe bodenständiger „Mentalität“28, die ihre realpolitische Entsprechung in der von dem bereits erwähnten Dr. Walter Riehl geleiteten „Zwischenstaatlichen nationalsozialistischen Kanzlei des deutschen Sprachgebiets“ hatte, der die Koordination vor allem der alpenländischen Hakenkreuzler öster¬ reichischer und bayrischer Provenienz mit ihren sudetenländischen Parteigenossen oblag.29 Das im Oktober 1923, wenige Wochen vor Hitlers Marsch auf die Feld¬ herrnhalle, erschienene „Phantastische Versspiel in drei Akten“ „Wöl¬ kenkuckucksheim“, eine politische Komödie nach den „Vögeln“ des Aristophanes, ein „republikanisches Weihefestspiel“ (F 827, 83), wie

98

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten“

Karl Kraus es später genannt hat, führt in den beiden antirepublikani¬ schen „Helfern“ zugleich die Vertreter der miteinander rivalisierenden Lager der Bodenständigen im Österreich der Nachkriegszeit vor: im ersten Helfer den gemäßigteren Kasmader-Typus, der tunlichst wieder ins legitimistische Schwarzgelb zurückstrebt, und der den Hakenkreuz¬ zug predigende radikale Schlagetot mit seiner Heilsbotschaft „Ich lehr euch, alles was nicht bodenständig hassen“ (WKK 104): „Ihr werdet sehn, es wirkt enorm, / das Kreuz gewinnt die Hakenform“ (WKK 105). Zehn Monate später, in dem großen Augustheft der „Fackel“ von 1924, das dem 10. Jahrestag des Weltkriegsausbruchs gewidmet ist, hat die vom zweiten Helfer vertretene Kategorie ihre satirische Sammel¬ bezeichnung erhalten: „Troglodyten“. Als literarischer Primärbezug dürfte die zweite Strophe des Schillerschen Gedichts „Das eleusische Fest“ gedient haben: „Scheu in des Gebirges Klüften / Barg der Troglodyte sich, / Der Nomade ließ die Triften / Wüste liegen, wo er strich, / Mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen / Schr itt der Jäger durch das Land, / Weh’ dem Fremdling, den die Wogen / Warfen an den Unglücksstrand!“30 Als Sekundärbezug kommen Verse aus den „Un¬ politischen Liedern“ Hoffmanns von Fallersleben in Frage: „O wär ich dann ein Troglodyte, / Der Berg und Wälder wilder Sohn!“31 Als Tertia comparationis ergäben sich die Hauptmerkmale Wildheit und Xeno¬ phobie, wie sie schon in der oben angeführten Maxime des zweiten Helfers geschwisterlich präsent waren: „Ich lehr’ euch, alles was nicht bodenständig hassen“ (WKK 104). Bezeichnenderweise erfolgt die Ein¬ führung dieser neuen Gattungsbezeichnung in der polemischen Satire „Die Sudeten“ (F 657, 74-85), wo sie dazu dient, die hakenkreuzlerischen Elemente der Alpen- und Sudetenländer auf einen gemein¬ samen Nenner zu bringen, der für die Einbeziehung weiterer Regio¬ nalbereiche gleichwohl offen bleibt: „Mit den Sudetendeutschen in Teplitz gings mir also nicht wesentlich anders als mit den Alpendeut¬ schen in Innsbruck; Erfahrungen mit den Markomannen, Hurmunduren [!], Brukterern und Tenkterern und anderen bei Tacitus vorkom¬ menden Stämmen stehen noch aus. Daß diese Troglodyten [...] mehr deutsch wollen als können, ist eine alte Erfahrung. [...] Daß aber auch ihre

Gesinnungstüchtigkeit

nur

bis

zum

nächsten

mannhaften

Beschluß vorhält, muß bei einem Volk immer wieder in Erstaunen set¬ zen, von dem doch Tacitus die bis auf den heutigen Tag gültige Wahr¬ nehmung gemacht hat: ,Den Starrsinn in verkehrter Sache nennen sie Treue1“ (F 657, 81).32 Den höchst aufschlußreichen Metamorphosen und Funktionswand¬ lungen des Troglodyten-Topos bis 1934 im einzelnen nachzugehen,

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

99

würde eine eigene Studie von nicht unbeträchtlichem Umfang erfor¬ dern. Hier also nur einige stichwortartige Thesen: 1. Der Begriff des „Troglodyten“ bzw. des „Troglodytentums“ wird gestisch und physiognomisch so ausgearbeitet, daß er im Bedarfsfall den gesamten Einzugsbereich des Bodenständigen abdecken kann, den fibelchrisüichen Kasmader wie den neuheidnischen Hakenkreuzler,

die

„Troglodyten

nationalen wie

christlichen

Bekenntnisses“

(F 778, 28), wie es einmal heißt. 2. Die Bedeutungsakkumulation des „Troglodyten“-Topos erhält rück¬ wirkende Interpretationskraft, die der nachträglichen Erhellung oder auch Neudeutung von Kriegs- und Vorkriegsphänomenen und -Sympto¬ men zugute kommt. Zwei Beispiele dafür: In der Generalabrechnung mit Alfred Kerr, „Der größte Schuft im ganzen Land ...“ (F 787, 1-208), werden dessen kriegshetzerische Gottlieb-Gedichte mit einem unsäglich brutalen anonymen Plakatgedicht konfrontiert, das Karl Kraus sowohl in der „Fackel“ abdruckte als auch von seinem Nörgler in den „Letzten Tagen der Menschheit“

zitieren und kommentieren ließ (F 445, 21;

LTdM II/10 = LTdM, AA III/2). Dazu heißt es: Ja, er [Kerr, K.K] war der Besten einer unter den vaterländisch konzessionierten Zubereitern des Ruhmfusels, des geistigen Methylalkohols, unter dessen Einwirkung Völker erblinden. Arger als jene ehrlichen Eingebomen einer Unter¬ welt, die sich zum Hakenkreuz bekennen und denen man es doch glaubt,

daß ihnen

Menschlichkeit als Schmach, Friedensliebe als

Gefahr, Zivilisation als Aussatz erscheint. ,Füllt mit Dynamit die Täler!“ ist der Urlaut des technisch avancierten Troglodytentums. ,Peitscht sie weg, peitscht sie weg!“ war eine Angelegenheit der Literatur“ (F 787, 149).33 Der zweite Bezugspunkt für eine solche Uminterpretation unter der neu gewonnenen Perspektive des Troglodytentums liegt noch wei¬ ter zurück. Um die Jahreswende 1910/11 war in dem etwa 40 Kilometer östlich von Hitlers Geburtsstadt Braunau im Innviertel gelegenen klei¬ nen Ort Riedau der Landarzt Dr. Richard Franz von den dort „boden¬ ständigen“ Bauern täüich bedroht und schließlich in den Tod getrieben worden, weil er ihnen

durch die Anzeige eines Typhusfalls die

Nebenverdienstquelle regelmäßiger Truppeneinquartierungen bis auf weiteres versperrt hatte. Die polemische Spitze der satirischen Gestal¬ tung dieses Sachverhalts in Glossen der „Fackel“ richtete sich 1911 keineswegs primär oder überhaupt gegen die „Zurückgebliebenen von Riedau“ (F 315, 2), sondern gegen die pharisäische Empörung der Berichterstattung einer kommerziell betriebenen Meinungspresse, die gegen Bezahlung jedes Epidemie-Dementi aufzunehmen bereit ist: „Hätten die Riedauer das Geld gehabt, um in die Neue Freie Presse die

100

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

Erklärung einrücken zu lassen, daß das Gerücht von einer Typhusepi¬ demie in Riedau aus der Luft gegriffen sei, der Doktor Franz wäre heute noch am Leben“ (F 315, 3). 1929, in dem großen Rechenschaftsgedicht „Nach dreißig Jahren“, läßt der sicherlich nur dem kontinuierlichen und geübten „Fackel“-Leser verständliche Rückgriff über einen Zeit¬ raum von fast 20 Jahren hinweg den Fall in einer ganz anderen Per¬ spektive erscheinen: Der Herausgeber der „Fackel“ vergleicht sein Wir¬ ken mit dem des umgebrachten Landarztes unter dem gemeinsamen Aspekt des Einzelkämpfers in „troglodvtischer Landschaft“ (F 838, 124), der sich mit „Bürgern“ (F 810, 12) aller Sparten konfrontiert sieht: „Doch tun sie unrecht, daß sie alle sich so unterschätzen, denn zusammen sind sie und bloß zusammen sehe ich sie alle und jeden immer als den ganzen Haufen gigantisch groß und bilden eine Zeit. Find diese schmerzt es, daß auch sie mich haßt und nicht vermag, dem Haß Gestalt zu geben gleich mir, und daß ihr Geist nicht reicht, den Rächer erstehn zu lassen, Den zu strafen, der den Geist an ihr gerächt. Und weit und breit bleibt ihr kein andrer Ausdruck als Gewalt. Hier lockt vielleicht das Beispiel des Rebellen, des Bauerndoktors, den sie rasend machten und dann erschlugen: weil er Armen half und Satte störte; weil er Müttern beistand, doch den erwachsnen Sohn errettet hatte vom Vaterland. Er starb den Heldentod: die Troglodyten haben ihn erschlagen. Auf diesem Weg - sonst hätten sie ihn längst zu mir gewagt - erscheint der Haß gehemmt; mich schützt die Sprache, die sie nicht verstehn, nicht populär genug für solches Ende“ (F 810, llf.). Das entspricht der fünf Jahre später ausgesprochenen Einsicht, daß gegenüber dem Troglodytentum die Sprache „kein Bollwerk mehr sei, sondern bloß ein Asyl“ (F 890, 27). Denn verstünde der Troglodyt, was in der „Fackel“ über und gegen ihn geschrieben steht, dann erschlüge er deren Herausgeber heute ebenso auf der Stelle wie einst den Bau¬ erndoktor, ohne sich erst mit einschlägigen Drohungen aufzuhalten, wie sie Karl Kraus vor allem seit Kriegsende immer wieder zugegangen waren und weiter zugingen.

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

101

3. Bemerkenswert ist schließlich das beziehungsreiche Wechselverhält¬ nis, in dem die leitmotivische Anreicherung des Troglodyten-Topos zur „Parallelaktion“ der Offenbach-Vorlesung des „Theaters der Dichtung“ steht. Nicht zufällig hat Walter Benjamin das Stichwort aufgegriffen, als er die satirischen Objekte der Krausschen „Zeitstrophen“ zu Offenbach als „Penaten der Troglodyten, Hausgötter der Dummheit aus vorge¬ schichtlichen Zeiten“34 charakterisierte. Es gehört per defmitionem ex negativo zu dem in der „Fackel“ so oft und so eindringlich beschriebe¬ nen Zauber der Offenbach-Welt, daß sie, was immer sie sonst sein mag, sich zunächst als das qualifiziert, was vom Troglodytentum - im Unter¬ schied etwa zur Mißbrauchbarkeit Nestroys - nicht einmal mißverstan¬ den, sondern nur als völlig unzugänglich summarisch abgelehnt werden kann, als eine „Weltanschauung, gegen die sich alles Troglodytische bäumt“ (F 811, 102). In zwei aufeinander bezogenen pole¬ mischen Satiren „Offenbach und der Troglodyt“ (F 806, 56-59) und „Offenbach für Troglodyten“ (F 811, 94-97) ist diese grundsätzliche Unvereinbarkeit beider Welten und Weltanschauungen ausdrücklich thematisiert. Die letzten, weiträumig gestaffelten Variationsreihen des TroglodytenLeitmotivs

(und der Äquivalente aus dessen Wortfeldbereich wie

„Höhlenbewohner“ und „Neandertal“)35 sind in der „Dritten Walpur¬ gisnacht“ und dem großen Rechenschaftsheft „Warum die Fackel nicht erscheint“ (F 890, 1-315) enthalten, gipfelnd in jenem 1934 als Zitat aus dem Manuskript der „Dritten Walpurgisnacht“ dargebotenen Pas¬ sus, der die auf den ersten Blick paradoxe These, daß die Presse den Nationalsozialismus erschaffen habe, „als logisches Resultat einer Auf¬ fassung begreifen läßt, welche die Gefährlichkeit der Zeitungen in ihren Auswirkungen auf Denk-, Vorstellungs- und Wahrnehmungsver¬ mögen ihrer Leser erblickt“36. Die entscheidende sprachsatirische Beglaubigungskraft kommt dabei der „wörtlich“ genommenen „Troglodyten“-Metapher zu, die „sprachlich“ zu demonstieren vermag, daß auch und gerade die von den Medien bewirkte .Aushöhlung“ (S 12, 110) der Phantasie der Hohlraumbeschaffung für den Einzug von „Höhlenbewohnern“ (S 12, 113; F 890, 97) gedient hat, deren „Denkart [...] die Metaphern auf ihre Wirklichkeit zurückführt“ (S 12, 257): „Denn der Nationalsozialismus hat die Presse nicht vernichtet, sondern die Presse hat den Nationalsozialismus erschaffen. Scheinbar nur als Reaktion, in Wahrheit als Erfüllung. Jenseits aller Frage, mit welchem Humbug sie die Masse nähren - sie sind Journalisten, Leitartikler, die mit Blut schreiben; Schwätzer der Tat. Zwar Troglodyten, haben sie doch die Höhle bezogen, als die das gedruckte Wort die Phantasie der

102

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten“

Menschheit hinterlassen hat; und daß sie des Zierats entbehren oder ihn nicht nachstümpern können, ist gewissermaßen ihr kultureller Vor¬ sprung. Die Tat hat sich einmal der Phrase entwunden und daß diese ihr weiter aufgestülpt bleibt, hat nichts mehr zu bedeuten; es ist nur noch grotesk“ (F 890, 141; vgl. S 12, 307 f.). War mit diesem Zitat im Brief des Verlags der „Fackel“ an einen fikti¬ ven, die Schar der Mahner vertretenden „Sehr geehrten Herrn“ (F 890, 1-169, geschrieben .Anfang Januar bis 12. Februar 1934“) der Höhe¬ punkt in der Entfaltung des „Troglodyten“-Motivs erreicht, so wurde in dem daran anschließenden Brief des Herausgebers „An den Verlag der Fackel“ (F890,170-313, geschrieben .April bis AaifangJuli 1934“) auch schon mit großem Nachdruck ein Schlußpunkt hinter diese Motiv¬ kette gesetzt. Anlaß dafür war die Stelle eines Rundbriefs von Johann Wolfgang Brügel, an der dieser die österreichischen Machthaber von 1934 unter den Oberbegriff „Troglodyten“ subsumierte, indem er schrieb, daß er an dem Gedanken schwer trage, daß der Herausgeber der „Fackel“ „das wahre Wesen der Österreich in ihren blutigen Hän¬ den haltenden Bande von Troglodyten

nicht durchschauen

sollte“ (F 890, 288), was Kraus mit der Zwischenbemerkung quittierte: „- dafür wird der Gebrauch dieses Ausdrucks den Intellektuellen hie¬ rmit entzogen! -“ (ebd.). Mit diesem satirisch als urheberrechüiche Reklamation stilisierten polemisch-pathetischen Zwischenruf hat der Satiriker den Ausdruck indessen nicht nur den Intellektuellen, son¬ dern auch sich selbst entzogen: Er wird von Stund an in der „Fackel“ nicht mehr verwendet; denn ihrem Herausgeber konnte in der poli¬ tischen Situation von 1934 nichts ungelegener sein, als daß jemand vielleicht gar noch unter Berufung auf „Fackel“-Texte aus der Zeit um 1930, in denen Heimwehrfunktionäre als „Troglodytenführer“ (F 838, 124) apostrophiert erscheinen - es unternahm, Dollfuß- und Hitler-Regime auf den gemeinsamen Nenner des „Troglodytentums“ zu bringen. Ich muß es mir ersparen, die ausgiebig erörterte politische Motivation dieser Haltung nochmals auf ihre zeitgeschichtliche Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Der letzte Beitrag der „Fackel“, die furiose polemische Satire „Wichtiges von Wichten“, bringt sie auf die vielleicht knappste Formel einer politischen Entscheidung des Herausgebers, die „dem wahrhaften Feind seines Denkens Konsequenz und Mut gegen die all¬ gemeine Gefahr zuspricht“ (F 917, 95). Das verdient durch den weni¬ ger beachteten Sachverhalt ergänzt zu werden, daß Karl Kraus sich im letztenjahrgang der „Fackel“ durchaus den geistigen Folgen stellte, die sich für ihn aus der Umkehrbarkeit dieses Satzes ergaben, daß nämlich

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

103

der Mann, dem er Konsequenz und Mut gegen die allgemeine Gefahr zuzusprechen bereit war, sich als der wahrhafte Feind seines Denkens darstellte. Nirgends wird das deutlicher als in der Weiterführung der Kritik an Manifestationen des „Bodenständigen“, die von der stände¬ staatlichen kulturpolitischen Konjunktur „betonter Heimatlichkeit“ (F 909, 43) durch einstweilige „Verbindung mit Wiener Blut und Boden“ (F 917, 47) zu profitieren trachteten, mit dem Fernziel, auf diese Weise leichter den Anschluß an die braune Variante zu finden. Uber einem Hauptthema dieser letzten „Fackel“-Hefte, dem Kontrast des perennierenden, vor allem an Reinhardt und Werfel exemplifizier¬ ten Prominentenrummels zur blutigen Realität des Dritten Reiches, sollte man dieses zweite Leitthema nicht übersehen, die Polemik gegen eine „Kulturwirtschaft [...] die, in der Tat zwangsläufig, den Jodler für den Gipfel der Gottesschöpfung hält“ (F 909, 38); die karrierebewußt eine „Penetranz ins Bodenständige“ (F 917, 51) anstrebt, nicht ohne nach dem „Bluboständigen“ (F 917, 86) hinüberzuschielen. Selbst Kas¬ mader wird satirisch reaktiviert, wenn es gilt, von Nestroy Versuche abzuwenden, den großen Satiriker „ins Kasmaderische zu übersetzen“ (F 917, 72). Mit einem emphatischen Ausrufungszeichen ist im letzten Heft der „Fackel“ ein Satz versehen, der am Credo eines Lebenswerks festhält: „Bodenständig ist Nestroy in der Sprache!“ (F 917, 72).



Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur Richter der Menschheit Jean Paul bei Karl Kraus

„Schiller: (,Über naive und sentimentalische Dichtung“) Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein kön¬ nen, und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkür¬ licher und künstlicher Formen erfahren da werden sie als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten.“ (F 443, 13)1 „Die Trostbedürftigen zu trösten und als befruchtender Himmel dürstende Seelen zu erquicken - dazu allein ward der Dichter nicht gesendet. Er soll auch der Richter der Menschheit sein, und Blitz und Sturm, die eine Erde voll Dunst und Moder reinigen. Jean Paul war ein Donnergott, wenn er zürnte, eine blutige Geißel, wenn er strafte; wenn er verhöhnte, hatte er einen guten Zahn. Wer seinen Spott zu fürchten hatte, mochte ihn fliehen; ihn zu verlachen, wenn er ihm begegnete, war keiner frech genug. Trat der Riese Hochmut ihm noch so keck entgegen, seine Schleuder traf ihn gewiß! Verkroch sich die Schlauheit in ihrer dunkelsten Höhle, er legte Feuer daran, und der betäubte Betrü¬ ger mußte sich selbst überliefern. Sein Geschoß war gut, sein Auge besser, seine Hand war sicher.“ Ludwig Börne: Denkrede auf Jean Paul (F 376, 26)

Wenn die letzte Dekade des zweiten Milleniums christlicher Zeitrech¬ nung nicht noch mit ähnlichen Überraschungen aufwartet wie die letz¬ te des 18. Säkulums, dann wird es wohl dabei bleiben müssen, daß wir 1936 mit Karl Kraus den bedeutendsten Satiriker unserer Sprache in diesem Jahrhundert bereits nach dessen erstem Drittel verloren haben. An ihn und sein Werk vor einer geschlossenen Gesellschaft von Literar¬ historikern erinnern heißt freilich nichts geringeres, als im Hause des Gehenkten vom Strick reden; denn unter den wahrlich nicht wenigen satirischen Objekten der „Fackel“ und ihres Herausgebers behauptete die Literaturgeschichtsschreibung eine Vorrangstellung: „diese nichts¬ würdigste aller Wissenschaften, dem Glücke darin gleich, daß sie ohne Wahl und ohne Billigkeit die Gaben des Nachruhms verteilt hat“

106 Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur — Richter der Menschheit (F 568, 37) .2 Wenn es dennoch geschieht, dann, streng themenbezo¬ gen, vor allem deshalb, weil ein Hauptmotiv für das, was der Satiriker 1911 als „Bevorstehende Razzia auf Professoren der Literaturgeschich¬ te“ (F 321, 16-18) angekündigt und wenig später mit der spektakulären Kastration des namhaften Germanisten Richard M. Meyer fortgeführt hat (F 339, 51-56: „Die neue Art des Schimpfens“), der nicht nur dekla¬ rierte, sondern auch praktizierte lebhafte Widerspruch gegen das gewe¬ sen ist, was prominente Vertreter der Zunft zum Thema unserer Bera¬ tung zu sagen hatten, nämlich „zum literaturgeschichtlichen Standort Jean Pauls“3; so etwa, wenn der Prager Ordinarius August Sauer, Dok¬ torvater und Habilitationsbetreuer meines für die Geschichte derjeanPaul-Forschung nicht unmaßgeblichen akademischen Lehrers Ferdi¬ nand Josef Schneider, sich dagegen verwahrte, daß Jean Paul zum siebenten Klassiker emporgeschraubt wird“ (F 341, 40), das heißt, die literarhistorische Aufenthaltsgenehmigung für den klassischen Gipfel des deutschen Parnasses erhält, der nach damals herrschender Lehr¬ meinung ausschließlich und endgültig für die Doppeltrias Klopstock/Lessing/Wieland, Herder/Goethe/Schiller reserviert zu bleiben hatte. Ein Urteil wie das hiervon Karl Kraus im vernichtenden Zitat stigmatisierte dokumentiert, wie folgenlos die zwölf Jahre zuvor von Stefan George und Karl Wolfskehl eingeleiteten Um- bzw. Wiederaufwer¬ tungsbemühungen mit ihrer Distinktion zwischen Jean Paul als „der größten dichterischen kraft der Deutschen“5 und Goethe als deren „größtem dichter“6 im akademischen Bereich nach wie vor geblieben waren und bis hin zu den Arbeiten des jungen Max Kommerell im wesentlichen auch noch geblieben sind: folgenlos in ihrer - hier nicht näher zu untersuchenden - Spezifik auch für den frühen Karl Kraus, der unabhängig davon zu einer nicht minder hohen, wenngleich anders motivierten Wertschätzung jean Pauls gekommen ist. Den genetischen Filiationsmöglichkeiten dieser Hochschätzung ist im Karl-Kraus-Gedenkjahr 1974 bereits Werner Kraft nachgegangen, als er in seinem Buch über den affirmativen Autorenkanon des Satirikers, „Das Ja des Neinsagers“, auch erstmals das Thema Karl Kraus und Jean Paul zusammenfassend erörterte und dabei vor allem auf die poten¬ tielle Vermittlungsfunktion Heines und Börnes verwies;7 zu ergänzen wäre das durch den Hinweis auf die intensive Jean-Paul-Rezeption einer Reihe von österreichischen Autoren, die für Kraus wichtige Bezugs¬ größen gewesen sind: Adalbert Stifter, gerühmt als ein Jean Paul ohne Aufenthalt“ (F 418, 58); Ferdinand Kürnberger und Daniel Spitzer, beide Jean-Paul-Kenner und -Schätzer von hohen Graden; unter den Zeitgenossen schließlich vor allem Otto Weininger,

dessen

1903

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit 107 erschienenes, ungemein einflußreiches, von Karl Kraus sofort begei¬ stert begrüßtes und gründlich gelesenes Buch „Geschlecht und Cha¬ rakter“ sich wiederholt auf die Autorität Jean Pauls beruft, namentlich auf die „Vorschule der Aesthetik“8, auf die „Selberlebensbeschreibung“ als Dokument für die psychologische Realität des sogenannten „IchEreignisses“ (polemisch ausgespielt gegen Ernst Machs These von der Unrettbarkeit des Ich)9 und schließlich auf „Das Kampaner Thal“ als Präzedenzfall einer Apologie der von Kant bestrittenen Zuständigkeit des Geniebegriffs auch für den kreativen Philosophen, nicht zuletzt für Kant selbst.10 Unabhängig davon, ob und wie die bildungsgeschichtlichen Prämissen der Jean-Paul-Rezeption bei Karl Kraus mit Hilfe neuer Quellen in ihren einzelnen Phasen noch weiter aufgeklärt werden können oder nicht: Ihre ersten öffentlichen Bekundungen sind von Anfang an Zeug¬ nisse eines akdven, ja operativen Rezeptionsmodus und damit als pro¬ fane „Einschöpfungen“11 in einen je eigenen satirischen oder polemi¬ schen

kulturkritischen

Kontext

der

exakte

Gegenentwurf

zum

pontifikal-esoterischen Gestus der durch Stefan George inaugurierten „Wiederbelebung“12 (ohne daß ein- oder wechselseitige Kenntnisnah¬ me beider Traditionswahlentscheidungen hier nachweisbar oder auch nur wahrscheinlich wäre). Symptomatisch für diese Eigenart des Krausschen Einschöpfüngsverfahrens ist bereits der Umstand, daß der Her¬ ausgeber der „Fackel“, als er nach deren dreimonatiger Sommerpause im Oktober 1908 mit,Apokalypse“, einem „Offenen Brief an das Publi¬ kum“, erstmals in der Rolle des apokalyptischen Satirikers auftrat, die er sich und der Realität immer angemessener zu gestalten wußte, daß er schon da gleichsam Arm in Arm mit Jean Paul sein Jahrhundert in die Schranken forderte, indem er gerade diesen Autor als Zeitzeugen von 1797 zum Belastungszeugen gegen die Jetztzeit“ von 1908 aufrief: „Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ,Fackel* ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt. Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, daß beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dumm¬ heit. [...] Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Daß Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu

108 Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Ma߬ begriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Dra¬ che,

den

sie

steigen

lassen,

wird

lebendig.

Man

wird

auf die

Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehl¬ bar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre ..." (F 261, 1£). Die „dichterische Verklärung“ des Montgolfierenaufstiegs im „Kampaner Thal“, „einem Vorhimmel zwischen Vorhöllen“13, wie es in Jean Pauls Vorbemerkung beziehungsreich heißt, verstanden als die vertika¬ le Fortsetzung einer „langsamen horizontalen Himmelfahrt“14 durch eine in paradiesischer Ursprungsherrlichkeit leuchtende Natur, sie bleibt die Kontrastfolie zu den durch die „Eröffnung der Luftschiff¬ fahrt“ vom „Volk der Richter und Henker“ (F 253, 1), der „elektrisch beleuchteten Barbaren“15 miteröffneten grausigen Möglichkeiten des Untergangs und der Vernichtung. Als Karl Kraus im Mai 1910 eine bis zu seinem Tode weitergeführte, ins¬ gesamt über 700 Vorlesungen umfassende,16 zu Beginn der neunziger Jahre mit Gerhart-Hauptmann-Lesungen begonnene Vortragstätigkeit nach langjähriger Pause wieder aufnahm, da war und blieb - abgese¬ hen von einem einzigen Vortragsabend mit Texten repräsentativer „Fackel“-Beiträger (F 323, 11)17 - Jean Paul noch vor Nestroy und neben diesem der einzige deutschsprachige Autor, den Karl Kraus in den noch verbliebenen Vorkriegsjahren zum Vortrag brachte.18 Schon 1911 hatte er die „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“19 - die einzige Übereinstimmung zwischen dem JeanPaul-Kanon Stefan Georges und dem der „Fackel“20 - „für den Vortrag bestimmt und eingerichtet“ (F 360, 55),21 ihn aber doch noch zurück¬ gestellt, um die 20. (7. Wiener) Vorlesung vom 5. Februar 1912 (F 343, 13f.) zum ersten Mal mit einem Text aus fremden Schriften zu eröff¬ nen, mit Jean Pauls säkularer Silvestertraumvision „Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“22; die bereits für diese Vorlesung als Alternative vorbehaltenen letzten Seiten aus dem „Kampaner Thal“23 folgten in der 24. (8. Wiener) Vorlesung vom 6. März 1912 (F 345, 21), sie wurden noch in demselben Monat wiederholt in der nächsten, der 25. (3. Prager) Vorlesung vom 22. März 1912 (F 345, 25), beide Male mit der literaturgeschichtskritischen Vorbemerkung: „Der Eingang meiner Vorlesung ist wieder Jean Paul gewidmet, an dem sich die Lite¬ raturgeschichte ihren Kopf noch immer nicht zerbrochen hat und gegen den sie sich nun schon ein Jahrhundert lang etwa so benimmt, als wäre es den Astronomen nicht verboten, auf einen Stern zu

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit

109

spucken. Als Gegensatz zu allem, was gegen Jean Paul verbrochen wurde, will ich Lichtenbergs Worte über ebenjene Stelle des ,Kampaner Tals' zitieren, die zum Vortrag gelangt“ (F 351, 48). „Lichtenbergs Worte“, die im Anschluß daran beide Male als Sühnezeichen vom Vor¬ tragenden zitiert wurden, entstammen einem Brief vom Juli 1798 an den Göttinger Studenten Johann Friedrich Benzenburg und lauten: „Ein Schriftsteller wie Jean Paul ist mir noch nicht vorgekommen, unter allem, was ich seit jeher gelesen habe. Eine solche Verbindung von Witz, Phantasie und Empfindung möchte auch wohl das in der Schriftstellerwelt sein, was die große Konjunktion dort oben am Plane¬ tenhimmel ist. Einen allmächtigem Gleichnisschöpfer kenne ich gar nicht. Es ist, als wenn in seinem Kopf sich jeder Gegenstand in dem Rei¬ che der Natur oder der Körperwelt sogleich mit der schönsten Seele aus dem Reich der Sitten, der Philosophie oder der Gnade vermählte und nun mit ihr in Liebe verbunden wieder hervorträte. Haben Sie wohl die Stelle in dem ,Campaner Tal* gelesen, wo Chiaur [sic! K K] in einem Luftball aufsteigt? / Ich kann mich nicht erinnern, daß seit langer Zeit irgend nur ein Bild einen so hinreißenden Eindruck auf mich gemacht hat.“24 Die wenig später in der ersten Aphorismenfolge „Nachts“ der „Fackel“ vom 7. November 1912 (F 360, 1-25) ebenfalls literaturgeschichtskritisch und -polemisch glossierte, unfreiwillig satiri¬ sche Pointe dieses hier nach einer neueren Ausgabe von 1963 zitierten Briefstellentextes bestand schon damals darin, daß selbst die zünftigen Editoren der Lichtenbergschen Briefe, Albert Leitzmann und Carl Schüddekopf,

1904 mit dem exotisch-morgenländisch klingenden

Namen „Chiaur“ einen gedankenlosen Entzifferungsfehler der Söhne Lichtenbergs unbesehen übernommen und damit bewiesen hatten, daß sie den Jean Paulschen Grundtext nicht nur nicht kannten, son¬ dern nicht einmal für nachschlagenswert hielten; denn dort hätten sie nicht einen „Chiaur“, sondern Baron Wilhelmis Braut Gione25 als das Wesen identifizieren können, das „in einem Luftball aufsteigt“.26 Es ist nicht auszuschließen, daß das auf diesen Sachverhalt sich beziehende polemische Aphorisma (F 360, 8f.; S 8, 336—338) wiederholt Bestandteil einer Folge von Texten gewesen ist, die in Vorlesungsprogrammen der Jahre 1912 und 1913 unter dem summarischen Titel „Aus der Aphoris¬ menreihe .Nachts1“ (F 366, 36; F 368, 26) bzw. .Aphorismen aus ,Nachts““ (F 372, 31) verzeichnet sind.27 Als Abschluß des ersten Teils der 31. (13. Wiener) Vorlesung vom 11. November 1912 (F 363, 29) las Karl Kraus dann, wie schon seit län¬ gerem vorgesehen, zum ersten Mal die „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“28 und leitete damit auch die vom

110 Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur — Richter der Menschheit „Brenner“ veranstaltete 38. (2. Innsbrucker) Vorlesung vom 16. Januar 1913 (F 368, 32) sowie die ebenfalls vom „Brenner“ organisierte 46. (2. Münchner) Vorlesung vom 29. März 1913 (F 374, 21f.) ein, letztere besucht unter anderen von Frank Wedekind, Theodor Haecker, Hein¬ rich Mann und dessen Bruder Thomas, der bekannte, des Vortragen¬ den „geistliche Art, Jean Paul zu lesen“, habe ihn „sogleich sehr inner¬ lich“ gefesselt.29 Dieses Zeugnis ist besonders wertvoll als eines der allzu wenigen, die uns von dieser spezifischen ,Art, Jean Paul zu lesen -, über¬ liefert sind. Immerhin stimmen sie alle in bewunderndem Erstaunen darin überein, daß dem beim Lesen eigener Texte einer so schneiden¬ den Schärfe fähigen Satiriker überraschenderweise „die träumerisch¬ weichen Stellen“ wie „zum Beispiel der Anruf des letzten Lesers und Menschen“ (F 343, 14) in der „Wunderbaren Gesellschaft in der Neu¬ jahrsnacht“30 oder die „mit erstaunlich reich abgestufter Tonskala der Empfindung“ gelesene „Mondnachtszene aus dem ,Kampaner Tal- des Jean Paul“ (F 345, 25)31 besonders gut gelangen: „Dieser Zerstörer und Verneiner las die Jean Paulsche Prosa mit einer Hingebung, mit einer melodischen Zartheit, mit einer tönenden Anmut, daß im Hörer Visio¬ nen von Farben und Klängen aufstiegen. Man hatte das Gefühl, daß dies die vollendete Wiedergabe lyrischer Prosa sei“ (F 345, 26).32 Solche Beglaubigungen der Fähigkeit zu „melodischer Zartheit“ und „tönender Anmut“ durch kritisch kompetente Augen- und Ohrenzeu¬ gen der Vorlesungen von Karl Kraus dürfen indessen nicht zu der Annahme verleiten, daß dieser etwa Jean Paul auf den empfindsamen Idylliker reduziert hätte, als der er aus Anlaß seines 150. Geburtstages am 21. März 1913 weithin präsentiert wurde. Gerade gegen solche Ver¬ niedlichungstendenzen ist die Glosse ,Jean Paul und die Nachwelt“ (F 374, 57)33 gerichtet, welche Kraus zu Beginn des zweiten Teils der 48. (8. Wiener) Vorlesung vom 20. Mai 1913 (F 376, 26f.) vorgetragen und mit einer Programmnotiz von ähnlicher Tendenz versehen hat, die wiederum mit einem kontrastiven Zitat aus Ludwig Börnes „Denkrede auf Jean Paul“34 - diesen gerade auch als Meister pathetischer wie iro¬ nischer Satire, strafender Zorn- wie verlachender Spottrede würdigt: Jean Paul war ein Donnergott, wenn er zürnte, eine blutige Geißel, wenn er strafte; wenn er verhöhnte, hatte er einen guten Zahn“ (F 376, 26) ,35 Bemerkenswert, aber bisher unbemerkt geblieben ist, daß ein zum Thema Jean Paul und die Nachwelt“ ebenfalls zitiertes berühmtes Wort Ludwig Börnes über den Dichter, nämlich der Satz: „Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme“ (F 374, 57)

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit

111

unmittelbar nach seinem Wiederabdruck in der „Fackel“ von Adolf Loos in der Rundfrage des „Brenner“ über Karl Kraus auf diesen selbst umgemünzt wurde: „Er steht an der Schwelle einer neuen Zeit und weist der Menschheit, die sich von Gott und der Natur weit, weit ent¬ fernt hat, den Weg.“36 Ein Jahr nach der Selbstidentifikation des Satiri¬ kers Karl Kraus mit dem in ihm weiterlebenden Geist des Satirikers Nestroy3' vollzog damit Adolf Loos die Identifikation des Freundes und Mitstreiters mit Jean Paul bzw. mit dem Jean-Paul-Bild Börnes im gemeinsamen Zeichen einer weg- und zukunftweisenden Missions¬ funktion, deren Geltungsbereich von der Partikulargröße „Volk“ zu der Universalgröße „Menschheit“ erweitert erscheint.38 Was

hier

als

deren

lebensgefährdendes

Entfremdungssymptom

beschrieben wird, die Entfernung „von Gott und Natur“, das hat Karl Kraus fünfzehn Jahre später als das dominierende „große Thema“ sei¬ nes dreißigjährigen satirischen Kampfes bezeichnet, „das größte aller Themen: den Naturverrat dieser entleerten Zeit“ (F 781, 2). Die schärf¬ ste Vorkriegssatire zu diesem größten aller Themen ist ohne Zweifel das Schlußstück des „Fackel“-Heftes vom August 1912, „Die Kinder der Zeit“ (F 354, 68-72; S 4, 352-357, mit einem „Nachwort“ von 1922, ebd., 357f.)39, dessen prophetische Aktualität man schon bei Werner Kraft40 und neuerdings wieder in der Karl-Kraus-Monographie von Edward Timms41 gewürdigt findet. Die zugleich humane und fromme Demuts¬ haltung eines von instrumen teilen Verfügungs- und Herrschaftsideolo¬ gemen noch nicht depravierten Naturvertrauens als Gegenentwurf zum „Naturverrat dieser entleerten Zeit“ ist hier verdichtet in zwei zitierten Jean-Paul-Sätzen, von denen es bei Werner Kraft heißt: „Ich kann leider nicht sagen, wo dieses herrliche Zitat bei Jean Paul steht.“42 Nun, es steht in der 504. Stazion des für Karl Kraus so überaus wich¬ tigen,43 erst in Rolf Vollmanns Jean-Paul-Buch wieder angemessen gewürdigten „Kampaner Thals“44 und lautet: „Ich kann dir nicht sagen, wie der vom wilden Ganzen auf einen niedlichen Theil gesenkte Blick unsern Herzen und der weiten Natur ein wärmeres Leben gab. Wir fasseten von der großen Mutter des Lebens, wie Kinder vermögen, nichts an als die Finger statt der Hand und küßten sie.“45 Dazu Karl Kraus: „Und was soll eine Erde, wo die Mutter vergebens Finger und Hände nach dankbaren Kindern ausstreckt und wo nie wieder ein solcher Satz geschrieben werden wird? Man überlasse sie den Optimisten! ..." (F 354, 72; S 4, 35646). In den drei Jahren vom 16. April 1913 bis zum 12. Mai 1916 gehörte die polemische Satire „Die Kinder der Zeit“, in dem das von Werner Kraft gerühmte „herrliche Zitat“ aus dem „Kam¬ paner Thal“ eine thematisch und motivisch so zentrale Stelle ein-

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Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur — Richter der Menschheit

nimmt, mit mindestens zwölf Lesungen zu den größeren Vorkriegs¬ satiren der „Fackel“ von außerordentlich hoher Vortragsfrequenz bei regional ausgedehntester Streuungsbreite.47 Im Zeichen der Integration von Jean-Paul-Sätzen aus der im „Kampaner Thal“ aufgeschlagenen „Bilderbibel der Natur“48 in den satirischen Kontext der „Fackel“ bildet jenes „herrliche Zitat“ auf der letzten Seite des Augustheftes von 1912 kompositorisch das spiegel¬ symmetrische Rahmen-Pendant zu einer weiteren „Einschöpfung“ aus demselben Bereich. In dem Text „Wir Sieger von Aspern“ (F 354, 4-7), welcher an der Spitze des gleichen Heftes eine erste Folge von „Glos¬ sen“ (ebd., 4-34) eröffnet, erhält sie die Funktion der affirmativen Kon¬ trastfolie im Rahmen einer Wiederaufnahme des in .Apokalypse“ ein¬ geführten satirischen Leitmotivs der „Eroberung der Luft“: „Will sich der Zeitgeist vor sich selbst entsetzen, so schaue er nur bewundernd von der Unvollkommenheit einer Montgolfiere auf zur Vollendung des Aeroplans und vergleiche das geistige Bild einer Welt, die mit Jean Pauls Augen der Erhebung Gionens und Nadinens nachblickt, und die¬ ser, die aus hundert Spalten den Aufstieg der Damen Czakay und Stein¬ schneider beglotzt. Die Welt, die nicht wie Jean Paul beschreiben konn¬ te, konnte doch schweigen wie er: ,0 wie richtete sich der innere Mensch unter den Sternen auf, und wie leicht wurde über der Erde das Herz ...‘ Aber diese hier ruft: Ah! Ah! Hier! Dort! 2400 [!]! nein, 500! 600! 700! Bravo! Bravo! Fabelhaft! Kolossal!1 und hört es, liest es, merkt es sich, gibt es weiter, überliefert es Kindern und Kindeskindern [...] das ist der schäbige Rest überirdischer Sensationen, den Wien kapiert“ (F 354, 4L).49 Der kulturkritisch beschreibbare „Rückschritt von Mongolfier bis Zep¬ pelin“ (F 378, 16) bezeichnet am bündigsten den satirischen Kontrast, in den alle weiteren Bezüge auf den Schluß des „Kampaner Thals“ hin¬ fort eingespannt blieben, so zum Beispiel in der Glosse Jean Paul Zifferer“ (F 378, 16f.), deren Titel das Pseudonym Jean Paul mit den Namen des Balkankriegsberichterstatters der Wiener „Neuen Freien Presse“ Paul Zifferer kontaminierend verschränkt.50 In der ersten Kriegsfolge der Aphorismenreihe „Nachts“ (F 406, 94—168) wird diese Konfrontation schließlich zu einem der wichtigsten Demonstrations¬ mittel ideologiekritischer Demontage der sogenannten „Mentalität“51 deutscher Kriegsgesinnung (F 406, 127f.; S 8, 402) und als solches auch in den umfassendsten Dialog zwischen dem „Optimisten“ und dem „Nörgler“ der großen Weltkriegstragödie bereits 1919 in deren .AktAusgabe“ mit nur geringen, kontextbedingten Textvarianten vollstän¬ dig integriert.52 Die beiden hier zuständigen Aphorismen dürften in

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Vorlesungen der Saison 1915/16 mehrmals zum Vortrag gekommen sein,53 sicherlich auch in der 87. (34. Wiener) Vorlesung vom 12. Mai 1916 (F 426, 50), die darüber hinaus neben der letzten Lesung von „Die Kinder der Zeit“ auch die letzte Darbietung des Schlusses aus dem „Kampaner Thal“ umfaßte,54 und zwar in einer ganz besonders operativen Konstellation: Unter dem gemeinsamen Obertitel „Der Aufstieg

der

Seele

durchs Jahrhundert“ wurde

Jean Paul’s Schluß aus dem ,Kampaner Thal*“ konfrontiert mit einem Musterbeispiel der Kunst „kommentarlosen Zitierens“55, der Kriegsglosse „Wie ein König, mit Bomben beladen, wie ein Gott!“ (F 418, 38f.), wozu es in einer Programmnotiz heißt: „Der Auf¬ schwung [sic! K.K.] der Seele durchsjahrhundert1 war mit den Worten eingeleitet: ,Nun wollen wir den Weg mitmachen, den die deutsche Seele durchs Jahrhundert genommen hat, von den Tagen, als Jean Paul die erhabe¬ nen Sätze über den Aufstieg einer Montgolfiere schrieb, bis zu dem, was heute zu lesen ist—(F 426, 50). Bewies hier Karl Kraus allein schon durch die „Einschöpfung“ von Textmaterial seines Jean-Paul-Repertoires der Vorkriegszeit in den neuen Kriegskontext die Legitimität seines Ruhms als „ein schöpferi¬ scher Arrangeur von Zitaten [...], deren Aktualität etwas geradezu Auf¬ reizendes hat“ (F 445, 106)56, so bewogen ihn Entfesselung und Verlauf dieses Krieges selbst zu zwei wichtigen Erweiterungen dieses Reper¬ toires: Bereits Anfang 1915 (F 405, 5f.) und dann noch einmal im Früh¬ jahr 1916 (F 418, 45) brachte er insgesamt etwa ein Drittel des Text¬ bestandes der ersten drei Abschnitte von Jean Pauls „Kriegs-Erklärung gegen den Krieg“57 aus den „Dämmerungen für Deutschland“ zum Abdruck und Zitate daraus auch zum Vortrag.58 An die Stelle dieses Komplexes traten dann jedoch in der zweiten Kriegshälfte als unbe¬ stritten wichtigste Bezüge Abdruck und wiederholte Lesungen von Jean Pauls ungeheurer Rede“ (B I, 392), wie Karl Kraus sie genannt hat, der „Friedenspredigt vor dem Kriege an den Fürsten“ aus „Levana oder Erzieh-Lehre“ (F 443, 21-23)59. Als in höchstem Grade sinngebender Zufall mußte es wirken, daß Kraus diese „ungeheure Rede“ zum ersten Mal als Eröffnungstext der 93. (40. Wiener) Vorlesung von Freitag, dem 17. November 1916 (F 445, 93) vorgetragen hat, also nur vier Tage vor dem Ableben des bereits mit dem Tode ringenden alten Kaisers am Abend des 21. November, so daß diese „Friedenspredigt“ nicht erst nachträglich als Vermächtnis und politischer Friedensauftrag an den Thronfolger verstanden werden konnte und wohl auch so verstanden wurde. In diesem Sinne schrieb

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Karl Kraus noch in den letzten Nachtstunden des Todestages an die Freundin: „Ein Diener von der Hofburg bringt die Nachricht. [...] Aber der Papagei war ein falscher Prophet.60 Man denke jetzt, daß ich die Jean Paul’sche Rede an den Nachfolger neulich gesprochen habe“ (B I, 395f.). Ähnlich wie schon die Schlußpartie des „Kampaner Thals“, so wurde jetzt auch die „Friedenspredigt“ aus der „Levana“ in der 95. (42. Wie¬ ner) Vorlesung vom 15. Dezember 1916 (F 445, 96), „zur Mahnung, in welcher Zeit wir leben“ (F 445, 97), in die satirische Perspektive eines Kontrastes gerückt, der an antithetischer Weite und Vielfalt den Präze¬ denzfall noch übertraf. Noch der letzte Vortrag von Jean Pauls unge¬ heurer Rede“ zu Beginn der 122. (63. Wiener) Vorlesung vom 7. Juni 1918 (F 484, 135) diente der Vorbereitung eines analogen satirischen Kontrastes: „Der Krieg, wie er im Schulbuch steht, und wie er nicht im Schulbuch steht (Heutiges und ,Kriegslied' von Matthias Claudius)“.61 Dazwischen lagen noch zwei weitere Lesungen, mit denen Karl Kraus zugleich nach längerer Zeit als Vortragender wieder in „reichsdeutschen“ Städten auftrat: mit der 100. (2. Frankfurter) Vorlesung vom 13. Februar 1917 (F 454, 30) und der 116. (8. Berliner) Vorlesung vom 5. Mai 1918 (F 484, 143); auch in diesen wie den anderen Fällen (mit Ausnahme von V 95) stand die „Friedenspredigt“ an der Spitze des jeweiligen Vortragsprogramms.62 Übergangen werden kann und muß hier die in das Jahr 1920 fallende, in ihren Grundzügen mehrmals bereits dargestellte Geschichte der Enthüllung wie der Verteidigung des Jean-Paul-Plagiats von Georg Kulka, dem in der „Fackel“ akribisch nachgewiesen wurde, daß sein Aufsatz „Der Gott des Lachens“ nichts anderes war als eine leicht modernisierte Komposition von Zitaten aus der „Vorschule der Aesthetik“,63 als deren genauer Kenner sich Karl Kraus hier nicht zum ersten und nicht zum letzten Male64 ausgewiesen hat. Lediglich hingewiesen werden kann auf Fälle von Reaktivierung des Jean-Paul-Rezeptionspotentials der Kriegs- und Vorkriegszeit für andere, aber doch auch wieder analoge Anlässe der Nachkriegsjahre: auf den Wiederabdruck (F 561, 78) und die rezitatorische Wiederaufnahme (V 188, Wien 111, 2. Januar 1921; V 190, Berlin 19, 23. Januar 1921) einer einschlägigen Stelle aus der „Kriegs-Erklärung gegen den Krieg“65 mit der Begrün¬ dung „Da die Monarchisten nicht alle werden“ (F 561, 77-79); auf die letzte Reprise der „Rede des todten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ zu Beginn der 242. (139. Wiener) Vorlesung vom 31. Mai 1922 (F 595, 75), diesmal im Kontext einer Reihe von Lyrik und lyrischer Prosa nach dem gemeinsamen Kriterium ebenbürtiger „Höhe

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der Sprachgestaltung“ (F 595, 76); und schließlich auf den Vortrag der 1913 nur auszugsweise zitierten Börneschen „Denkrede aufjean Paul“ im Gedenkjahr 1925, auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen den avancierten Revolverjournalisten Bekessy, zur Eröffnung der 360. (229. Wiener) Vorlesung vom 14. November 1925 (F 706, 94), dem 100. Todestag des Dichters.66 Näher eingegangen sei abschließend lediglich noch auf zwei Episoden dieser so anverwandlungsreichen Rezeptionsgeschichte, die in bisheri¬ gen Darstellungen übergangen oder doch etwas zu kurz gekommen sind. Die erste betrifft die 1920 vorgenommene Erweiterung des bishe¬ rigen Jean-Paul-Repertoires der „Vorlesungen Karl Kraus“ um ein wei¬ teres Stück, und zwar um ein auf den ersten Blick besonders abgelege¬ nes, wenn auch zu Lebzeiten des Dichters besonders beliebtes und berühmtes, dasjean Paul selber auch gern und erfolgreich vorgetragen hat, so etwa am 1. September 1819 vor einem dankbaren Damenpubli¬ kum in Löbichau.67 Es waren die im Juni 1815 für Cottas Damen¬ taschenbuch für 1816 geschriebenen „Erinnerungen aus den schön¬ sten Stunden für die letzten“68, mit denen Jean Paul dann 1819 das dritte Bändchen seiner „Herbst-Blumine“ eingeleitet hat. Wie „Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“ und im Unterschied zu allen übrigen Jean-Paul-Texten seiner Vorlesungen hat Karl Kraus die¬ sen nur ein einziges Mal gelesen, und zwar zur Eröffnung des ersten Teils der 174. (2. Dresdener) Vorlesung vom 4. Juni 1920 (F 546, 4), an dessen Ende der kurz zuvor in Berlin erstmals und danach wiederholt vorgetragene Gefängnisbrief Rosa Luxemburgs an Sonja Liebknecht stand.69 Vom Handlungssubstrat her geht es bei den „Erinnerungen aus den schönsten Stunden für die letzten“ um eine Heimkehrer¬ geschichte, um die Geschichte einer Heimkehr aus dem im Frühling 1814 bereits „mit dem großen Weltfrieden“70 beendigt geglaubten ,Abtreibungskrieg“71 gegen den Eroberer Napoleon: „Als endlich der schönste Mai, den jemal Deutschland mit Siegen erworben, in Siegund Freudenfesten mehr als eines Volks gefeiert wurde“72. Im Nach¬ kriegskontext der „Fackel“ gewann dieser Text mit seinem unbestochenen Blick auf „das große Sterben des Kriegs“73 - und zwar eines jeden, auch des sogenannten „gerechten“, „wenn die so kurz lebenden Menschen sich völkerweise in die offenen Gräber des Krieges stürzen“74 - die zusätzliche Funktion, als affirmatives Pendant zu einer „Symme¬ trie in den Maßen der Welttragödie“ (F 546, 2) dadurch beizutragen, daß er als Antithese zu dem zeitlich in unmittelbarer Nachbarschaft der Dresdener Lesung entstandenen, ebenso kurzen wie gewaltigen Prosa¬ gedicht von „Heimkehr und Vollendung“ (F 546, lf.)75 wirken mußte.

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Dessen Anlaß war die Zeitungsmeldung gewesen: „Tod aus Freude über die Heimkehr des Gatten aus der Gefangenschaft. Die Tischlers¬ gattin Anastasia Kolochy, Hernals, [...] erhielt vor einigen Tagen von ihrem Gatten, der seit fünf Jahren in russischer Gefangenschaft schmachtete und für tot gehalten wurde, aus Prag ein Telegramm, worin er ihr mitteilte, daß er sich auf der Heimreise befinde. Die über¬ große Freude über die bevorstehende Ankunft ihres Mannes brachte der Frau den plötzlichen Tod. Ein Herzschlag bereitete ihr ein jähes Ende. Als der Gatte nach Hause kam, fand er seine Frau auf der Bahre“ (F 546, 1). Dieser Vorgang, auf den das Pathos des Satirikers mit der Feststellung reagiert: „Von allen Vollendungen dieses Weltuntergangs könnte diese die vollkommenste sein“ (ebd.), ist die genaue Umkeh¬ rung der von Jean Paul liebevoll ausgemalten Situation, wo der aus dem „Sterben des Kriegs“ heimkehrende Sohn die von ihm für seinen eige¬ nen Tod gesammelten „Erinnerungen aus den schönsten Stunden für die letzten“ dem friedlich aus einem friedlichen Leben scheidenden Vater als tröstliche Sterbehilfe darbietet. Darüber hinaus dürfte noch ein Motiv persönlichster Natur Karl Kraus zur Auswahl und Lesung gerade dieser Geschichte einer aus der „kindlichen und väterlichen Liebe“76 hervorgegangenen Freundschaft von „Sohn und Vater“" bestimmt haben, das Andenken an den eigenen Vater, der zwanzig Jahre zuvor gestorben war: wie die Vaterfigur des Jean Paulschen Tex¬ tes und der leibliche Vater des Dichters an einem Frühlingstage.78 Unter den vielen, bis ins letzte Heft des letzten Jahrgangs der „Fackel“, dem Februarheft von 1936, reichenden Jean-Paul-Bezügen,79 deren Spuren hier nicht im einzelnen nachgegangen werden kann,80 sei schließlich noch eine Stelle herausgegriffen und zu besserem Ver¬ ständnis einer genaueren Betrachtung unterworfen, weil gerade sie durch ihr Gewicht zusammenfassender Bilanzierung charakteristisch ist für das Gefühl zeit- und kulturkritischer Wahlverwandtschaft, durch das der „Zeitkämpfer“81 Karl Kraus mit dem Zeitgeist-Analytiker Jean Paul sich zeitlebens legitim verbunden fühlen konnte. 1932 hatte Heinrich Fischer - ein engagierter Kraus-Anhänger aus den Reihen der Brecht-Generation, nach der Rückkehr aus dem englischen Exil Herausgeber der ersten Karl-Kraus-Werkausgabe - im Verlag der „Fackel“-Druckerei Jahoda & Siegel unter dem Titel „Ungeschminkt“ eine polemisch vor allem auf den Machtmißbrauch des Berliner Gro߬ kritikers Alfred Kerr zielende Broschüre zum Verhältnis von Schau¬ spielern und Kritikern erscheinen lassen.82 Sie enthält ein längeres Jean-Paul-Zitat, das die polemische Satire „Die Prostituierten“ (F 876, 56-58) nicht nur in extenso reproduziert, sondern auch mit dem

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zusätzlichen Nachdruck durchgehender Spationierung versieht, im Anschluß an Jean Pauls Feststellung, ,je eingeschränkter der Mensch, desto mehr glaubt er Rezensionen. [...] der Drucker-Herr ist sein Glau¬ bens Herr“: „Ein Rezensent fälle ein mündliches Urtheil, aber stark: jeder stellet ihm doch eignes entgegen. Aber einem gedruckten widerstrebt der Mensch schwer; so sehr und so zauberisch bannt uns Doktor Fausts schwarze Kunst auf seinen Mantel oder in seinen Magus-Kreis. Diese Allmacht des Drucks liegt aber nicht in der Abwesenheit des ausspre¬ chenden Geistes - denn sonst hätte sie der Brief und das Manuskript sondern theils in der dankbaren verehrenden Erinnerung, das Höch¬ ste und Schönste von jeher nur auf dem Druckpapier gefunden zu haben, theils in der närrischen Schlußkette, daß der Druck-Redner, der zu allen spricht, desto unparteiischer zu jedem Einzelnen spreche und daß ihm also etwas zu trauen sei; .vorzüglich1, fügt man bei, ,da der Mann ja nichts davon hat und davon weiß, wenn er jemand umarbeitet [...]*“83 Daran schließt sich ein die vollkommene „Übereinstimmung“ beglaubigender und die Problematik der „Allmacht des Drucks“ auf den entwicklungsgeschichtlich und technisch neuesten Stand bringen¬ der weiterführender Kommentar des Satirikers in eigener Sache: „Die Beschämung, diese Worte Jean Pauls nicht gekannt zu haben, weicht dem Stolz auf die Übereinstimmung in der Erkenntnis, wie die Welt durch schwarze Magie untergeht. Die Vervielfältigung der Einfalt, die Multiplikation der Frechheit, das ist es, was sie unwiderstehlich macht, das Unzulängliche zum Ereignis werden läßt, das Unbeschreibliche getan. Was, im Zimmer gesagt, den Hinauswurf sicherte, zwingt coram publico zur Unterwerfung. Und wenn auch jeder einzelne wüßte, daß er für Geld durch die nächste Druckerei den gleichen Zauber wirken kann. Ein einziges Exemplar der gedruckten Meinung, und wäre sie privatim als noch so schäbig und verächtlich erkannt, es genügt zum Respekt. Beim Anblick des eigenen Namens auf der Visitenkarte setzt dieser Hang ein. An ihm schmarotzt eine Zunft, die die Menschheit nicht mehr los wird. Und selbst ein publizistischer Fortschritt wie das Radio, geschaffen, den ,Druckerherrn“ zum Kinderspott zu machen, wird da nicht helfen, weil die Verwalter der Errungenschaft wie alle Menschheit die faszinierten und fasziierten84 Sklaven des gedruckten Wortes bleiben“ (F 876, 57f.). Die „Beschämung, diese Worte Jean Pauls nicht gekannt“ oder viel¬ mehr: sie nicht wiedererkannt zu haben, dürfte in der Tat Ausdruck einer tieferen Betroffenheit gewesen sein; denn sie stammen aus der „Vorschule der Aesthetik“, einem Werk also, von dessen gründlicher

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Kenntnis und wiederholter Lektüre Karl Kraus die vielfältigsten Bewei¬ se geliefert hat, bis hin zu Bezügen auf minuziöseste Sprachdetails wie die dort auftauchende ,Auslandschaft (eine Wortbildung von Jean Paul)“.85 Die Worte und Wendungen, mit denen Karl Kraus die Worte Jean Pauls kommentiert, expliziert und extrapoliert, sind eine verdich¬ tete Folge von Eigenprägungen, vorgebildet zumal in Texten, die er von Apokalypse“ bis hin zu der Titelsatire „Untergang der Welt durch schwarze Magie“ in den gleichnamigen, 1922 erschienenen Sammel¬ band aufgenommen hat, dessen Beiträge aus den Jahren 1908 bis 1914 sich mit besonderer Häufigkeit und Dichte auf die Zeugenschaft Jean Pauls berufen. Mit den hier getroffenen Beobachtungen und Bemerkungen zum wei¬ ten Feld des Themas Jean Paul bei Karl Kraus“ ist keineswegs der Anspruch erhoben, dieses erschöpft, sondern allenfalls, weitere Prolegomena zu einer noch ausstehenden, umfassenderen Untersuchung geliefert zu haben. Eine solche hätte die Aufgabe, das in sich reich gegliederte Gesamtbild einer in unserem Jahrhundert nicht nur eigen¬ ständigen, sondern geradezu einzigartigen Jean-Paul-Rezeption zu ent¬ werfen, die nicht nur in ihren diskursiven Werturteilen, sondern gera¬ de auch in der operativen Einbindung oder, mit Kraus gesprochen, „Einschöpfung“ Jean Paulschen Sprach- und Gedankengutes in einen je anderen, eigenen und neuen lebens-, zeit- und werkgeschichüichen Kontext ebenso viele Interpretationsakte oder -angebote darstellt, die sowohl für die Karl-Kraus- als auch für die Jean-Paul-Forschung frucht¬ bar zu machen wären, und zwar nicht nur zu deren „wechselseitiger Erhellung“, sondern auch, um den vom Thema dieser Beratung beschworenen „literaturgeschichtlichen Standort Jean Pauls“ seiner ihm inhärenten Statik zugunsten einer produktiven Mobilität wirksam zu entbinden. Damit jener „Standort“ nicht der paradoxen Zustands¬ beschreibung entspreche, die Karl Kraus vom „Standpunkt des Fort¬ schritts“ gegeben hat: „Wir bleiben vorwärts und schreiten auf demsel¬ ben Fleck“ (F 275, 34; S 2, 197).

Prager Autoren im Lichte der „Fackel“

„Literatur, das ist ein Katzensprung von der Fürstengruft zum Prager Graben.“ (F 472, 24)1

Seit es die ästhetisch sozialisierte Aggression als jene Koinzidenz von Kunst- und Kampfform gibt, die man Satire nennt,2 ist sie in einer per¬ manenten ethisch-ästhetischen Spannung darauf angewiesen, von Opfern zu leben, deren Verhältnis zum Satiriker als Opferer sich nicht besser umschreiben läßt als mit den bitter-sarkastischen Worten des Marquis Posa: „O schade, daß, in seinem Blut gewälzt, das Opfer wenig dazu taugt, dem Geist des Opferers ein Loblied anzustimmen.“ Nachdem ich andernorts für die Prager Opfer der Krausschen Satire schon so viel getan habe, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt, möchte ich nun auch etwas versuchen, was den Opfern nicht zuzumuten war: dem Geist des Opferers nicht nur, aber auch ein Loblied anzustimmen, was freilich das riskante, bereits von älterer Spruchweisheit widerratene Unterfangen impliziert, im Hause des Gehenkten vom Strick zu sprechen. Vor nunmehr etwa dreißig Jahren hat der inzwischen verstorbene Pra¬ ger Germanist Hugo Siebenschein für die Neufassung des Artikels „Böhmen“ in der zweiten Auflage des Goethe-Handbuchs genau nach¬ gerechnet, daß Goethe nicht weniger als insgesamt drei Jahre und elf Tage seines langen Lebens in diesem Lande verbracht habe.3 Wollte man analoge Berechnungen bei Karl Kraus anstellen, so käme man mühe- und zweifellos auf eine weit höhere Zeitsumme, selbst wenn man die ersten drei Kinderjahre in seiner Geburtsstadt Jicin nicht zur Gänze in Rechnung setzte, sondern vorrangig die letzten fünfundzwanzig Lebensjahre, etwa von 1911 bis 1936, berücksichtigte. Nicht nur hat Karl Kraus rund 95 seiner 700 Vorlesungen, also etwa 13 Prozent, von 1910 bis 1933 in Städten der böhmischen Länder gehalten, davon 57 allein in Prag, einen ähnlich hohen Prozentanteil haben Menschen, die durch ihre Herkunft oder ihr Wirken mit diesem Regionalbereich verbunden sind, an den rund 10.000 Namen von Personen, die Franz Öggs „Fackel“-Register verzeichnet. Von A wie Bruno, Karl und Victor Adler bis Z wie Paul Zifferer reicht diese lange Spezialliste von Freunden oder Feinden wie auch ehemali-

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gen Freunden und späteren Feinden, die in den 37 polemisch-sati¬ rischen Kriegsjahren des Herausgebers dessen Verbündete oder Opfer geworden sind, nicht selten beides nacheinander. Namen von Perso¬ nen aus dem engsten Freundeskreis von Karl Kraus finden wir da: die Schwestern Pollack aus Jägerndorf (Krnov), verehelicht unter den Namen Elisabeth Reitler und Helene Kann; Adolf Loos aus Brünn und seinen Vetter Victor; den Chefredakteur der ,Arbeiter-Zeitung“ Frie¬ drich Austerlitz aus Hochlieben bei Melnik; die Brüder Otto, Franz und Hans Janowitz aus Podebrady bis zu Heinrich Fischer aus Karlsbad, dem Verwalter des Nachlasses und Betreuer der ersten Werkedition; nicht zu vergessen natürlich die Freunde aus dem durch die Geschwi¬ ster Nädherny erschlossenen „aristokratischen Umgang“4 wie Mechtilde Lichnowsky, Mary Dobrzensky oder Max Lobkowicz, und ganz zu schweigen von der bedeutenden Gemeinde Prager Leser der „Fackel“ und Hörer der „Vorlesungen Karl Kraus“, der, wie die „Prager Presse“ 1925 feststellen konnte, „nun schon zur zweiten Generation spricht“5, oder dem nicht unbedeutenden Karlsbader Kreis, der Namen wie Wal¬ ter Serner, Bruno Adler, Ernst Sommer, Emil Schönauer aufzuweisen hat und noch auf den jungen Louis Fürnberg traditionsbildend gewirkt haben dürfte. Nicht zu übersehen ist schließlich der Löwenanteil der böhmischen Länder an dem, was Karl Kraus die „Romanfiguren mei¬ ner Glossenwelt“ (F 676, 51f.)6 aus dem Reich der Journaille“ genannt hat: Emanuel und Wilhelm Singer aus Bisenz (Bzenec); Paul Zifferer aus Bistritz (Bystrice pod Hostynem) und Julius Hirsch aus Troppau; Berthold und Otto Frischauer, Ernst und Hans Müller aus Brünn; Karl Iro und Karl Hermann Wolf aus Eger; Bernhard und Siegmund Münz aus Leipnik; Karl Tschuppik aus Melnik und Jakob Herzog aus Mißlitz (Miroslav); Richard Batka und Friedrich Schütz aus Prag und natürlich, last, not least, beide Herausgeber der „Neuen Freien Presse“, „der gelernte Deutschböhm’“7 Eduard Bacher aus Posteiberg und der „Schlachtbankier“8 Moriz Benedikt, dessen mährischer Geburtsort in seiner deutschen Namensform dem Herausgeber der „Fackel“ von geradezu providenzieller satirischer Symbolträchtigkeit zu sein schien. „Herr Benedikt“, heißt es dazu im Juni 1909, „von dem uns ein Bio¬ graph zu seinem sechzigsten Geburtstag verraten hat, daß er in Quatschitz geboren ist - wenns den Ort nicht gäbe, so müßte er erfunden werden -, der also etwa von Homer oder Harden der zinsfüßige Quatschitzer genannt worden wäre [...] schlug auf den fiskalischen Esel, meinte aber offenbar den eigenen Sack“ (F 281, 41). Was die böhmische Landeshauptstadt im besonderen und besonder¬ sten betrifft, so gibt es von den satirischen Prager Themen des ersten

Prager Autoren im Lichte der „Fackel

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Jahrgangs der „Fackel“ bis zu denen des letzten eine lückenlose Konti¬ nuität, die zwischen dem Prager Theaterdirektor Angelo Neumann (Jahrgang 1838) und dem Pressebeirat der Prager deutschen Botschaft Johannes Urzidil (Jahrgang 1897) eine ganze Kette von Namen aufzu¬ weisen hat, die mit dem satirischen Lebenswerk von Karl Kraus regi¬ sterhaft verbunden sind; genannt seien hier stellvertretend Friedrich Schütz, Heinrich Teweles, Hugo Salus, Max Brod, Ernst Pollak, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel, Willy Haas. Schon dieser summarische Rundblick dürfte deutlich gemacht haben, daß die Erwartung, die mancher vielleicht an den Titel „Prager Auto¬ ren im Lichte der ,Fackel“1 knüpft, auch nicht im entferntesten von einem Vortrag erfüllt werden kann, dem nicht viel mehr Minuten zuge¬ billigt sind, als die „Fackel“ Jahresbände hat. Auch wenn ich dem hohen Anspruch des Goetheschen „in der Beschränkung erst zeigt sich der Meister“ sicherlich nicht gerecht zu werden vermag, sehe ich mich zu einer Beschränkung doch aus Not gedrungen: einer Beschränkung, die ich mit einer Titelmodifikation andeuten möchte: „Prager Litera¬ tur im Lichte der Vorkriegs-Fackel“, das heißt bis zu dem ersten pole¬ misch-satirischen Kampfsignal, mit dem diese im April 1914 zu Beginn ihres 15. Jahrgangs den bis ans Ende durchgehaltenen, in der Sekun¬ därliteratur schon mehrfach dokumentierten und untersuchten Feld¬ zug gegen den traditionsstiftenden „Kindheitsvirtuosen Werfel“ (F 398, 19) eingeleitet hat. Ziel dieser solchermaßen sich beschränkenden Dar¬ stellung wird es sein, die Herausbildung des saürischen Instrumenta¬ riums zu beschreiben, dem dann die 1917 ironisch so genannten „Pra¬ ger Klassiker“9 zumal in der magischen Operette „Literatur“10 unterworfen wurden und das ebendort auch die analytische Aufmerk¬ samkeit Franz Kafkas auf sich gelenkt hat.11 Als ich 1964 die mittlerweile in die Werkausgabe übernommene Werfelsche „Glosse zu einer Wedekindfeier“ wiederentdeckte und mit einer kommentierenden Begleitstudie edierte, gab ich der Publikation die Überschrift „Ein Manifest der ,Prager Schule“1, nicht ohne den Begriff „Prager Schule“ in Anführungszeichen zu setzen und deren relativierende Funktion zu erläutern.12 Max Brod hat, als er zwei Jahre später die Einleitungsworte zu seinem Buch „Der Prager Kreis“ schrieb, die Relativierungsfunktion dieser Anführungszeichen übersehen oder nicht weiter beachtet: „Man spricht seit einiger Zeit“, heißt es da, „viel von einer ,Prager Schule“. Ich finde diesen Begriff nicht zutreffend. [...] Ich spreche lieber von einem ,Prager Kreis“.“13 Schon 80 Seiten wei¬ ter jedoch zitiert der Autor aus eigenen Aufzeichnungen zu einem am 28. Januar 1910 gehaltenen Vortrag den Satz: „Es gibt in Prag im Gehei-

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men wirklich so etwas wie eine Dichterschule, zu der auch ich mich bekenne“, und kommentiert das mit der gleichsam über sich selbst erstaunten Bemerkung: „Wie man sieht, machte ich damals noch kei¬ nen Unterschied zwischen .Prager Schule1 und .Prager Kreis*.“14 Der Begriff

„Prager

Schule“,

angewendet

zur

Kennzeichnung

einer

bestimmten Schreibart, findet sich indessen schon viel früher, und zwar bei einem Autor, den Karl Kraus erwiesenermaßen gründlich gekannt und mit zunehmendem Kunstverstand immer höher geschätzt hat, bei dem Wiener Spaziergänger Daniel Spitzer. In dessen vom 14. Dezem¬ ber 1873 datiertem satirischem Feuilleton „Der Abgeordnete des Schafwollbezirkes Brünn“ heißt es von dem in Triesch bei Iglau geborenen, an der Universität Prag ausgebildeten Publizisten und Nationalökono¬ menjoseph Neuwirth: „Der Abgeordnete Herr Neuwirth war vor seiner parlamentarischen Wirksamkeit [...] Journalist; er ist aus der Schule des Herrn Kuranda hervorgegangen, denn er lernte in der .Ostdeutschen Post* desselben singen und sagen, und nachdem er diese verlassen hatte, auch schrei¬ ben. [...] Damals gab es [...] unter den Wiener Tagesschriftstellern eine sogenannte Prager Schule, denn die Prager sollten sich, einer Sage nach, die unter den sparsamen Zeitungseigentümern ging, im Besitz eines merkwürdig .guten Deutsch* befinden. Diejournalistischen Send¬ boten von der Moldau wußten aber ihren großen Sprachschatz immer geheimzuhalten, ohne hierdurch das Vertrauen in ihre seltene Bega¬ bung zu erschüttern, welches vielmehr so eingewurzelt war, daß die immer wiederkehrenden Verstöße dieser Nibelungen gegen die deut¬ sche Sprache lange Zeit hindurch als sonderbare Druckfehler ange¬ staunt wurden. Herr Neuwirth nun gehörte wohl zu jener Schule, ohne jedoch in die eben erwähnte Maniriertheit derselben zu verfallen. Er schrieb ganz korrekt, und wenn man seinen Stil steckbrieflich hätte ver¬ folgen wollen, würde das Signalelement gelautet haben: Besondere Kennzeichen: Keine.“15 Die hier praktizierte Ironisierung der hohen Selbsteinschätzung des guten Prager Deutsch durch dessen Sprecher oder Schreiber hat Karl Kraus indessen nicht nur gekannt, sondern auch schon sehr früh als satirischen Topos übernommen, so z. B. in einer Theaterbesprechung für die „Berliner Neuesten Nachrichten“ vom 4. März 1894, wo es von der Darstellerin einer Frauenrolle in einem von Karlweis eingewiener¬ ten Berliner Volksstück heißt, sie spreche „Dialekt, nämlich das sehr wirksame .Prager Hochdeutsch*“ (FS I, 195). Wenn Kafka 1921 das von Karl Kraus in der magischen Operette „Lite¬ ratur“ sprachgestisch vorgeführte „Mauscheln an sich“ als „eine orga-

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nische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache“16 defi¬ niert hat, so ist 50 Jahre zuvor bei Spitzer fast ausschließlich der Anteil des

„Papierdeutsch“ an

dieser Verbindung betont,

eines Papier¬

deutsch, das bei Neuwirth in der ironischen Beschreibung des Sati¬ rikers zu steriler Korrektheit und korrekter Sterilität ausgetrocknet erscheint. Diese „Papierdeutsch“-Komponente hat Karl Kraus 1909 vor allem an der Rede- und Schreibweise des Historikers Heinrich Fried¬ jung herauspräpariert und genetisch als spezifisch Pragerisches Phäno¬ men erklärt. „Historie ist zumeist die Wissenschaft jener Leute, die nicht imstande sind, einen Leitartikel abzufassen. Herrn Friedjung eignet diese Fähig¬ keit in hohem Grade, und in der Art der vorigen Generation, die noch die Syntax beherrschte, aber dem Sprachgeist darum nicht näher war als die heutige, die mit Psychologie und Stimmung über ihr Unver¬ mögen täuscht. In Prag dürfte diese Richtung eines rednerischen Gei¬ stes entsprungen sein, der in der korrekten Phrase sich befriedigt, dem Deutschtum zuliebe kein Komma verschluckt, Sprichwörter wie eine Prise Schnupftabak sich gönnt, ,siehe da‘ sagt und selbst die Schlicht¬ heit als Ornament trägt. Diese Sorte, die genau so schreibt wie sie spricht, weil sie so spricht wie sie schreibt, fern vom Schuß des Gedan¬ kens und von der Gefahr der erlebten Worte, bezog justament ihre Blutleere aus der Sphäre kriegerischer oder ritterlicher Vorstellungen. Es waren lauter .Kämpen1, die hier - anonym oder ,mit offenem Visier“ - in die Federschlacht zogen“ (F 293, 8f.).17 Dies zur Charakteristik des als spezifisch pragerisch agnoszierten Duk¬ tus „in der Art der vorigen Generation“, also, lokal-journalistisch gespro¬ chen, der um 1850 geborenen Klaar-, Katz- und Teweles-Generation.18 Dem spezifisch Pragerischen der nachfolgenden, also um 1870 gebore¬ nen Generation, die um 1910 in Prag durch Willi Handl aus Wien und Paul Wiegier aus Berlin Zuzug erhalten hatte,19 war bereits zwei Monate zuvor, im Oktober 1909, ein besonderer Platz in einer satirischen Typo¬ logie der vorrätigen Spielarten des deutschsprachigen Journalismus zugewiesen worden. Vorgeführt werden gleichsam als Chargenrollen¬ träger der Plauderer, der Psychologe und schließlich der Ästhet, von dem es dann heißt: „Er kann aber auch mit dem Psychologen zu einer besonderen Art von feierlichem Reportertum verschmelzen, zu jenem zwischen Wien und Berlin, also in Prag beliebten Typus, der aus Zusammenhängen und Möglichkeiten zu neuen Sehnsüchten gelangt und der in schwelge¬ rischen Adjektiven einbringt, was ihm die Natur an Hauptwörtern ver-

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sagt hat. Bei dem jähen Übergang, den gerade dieser Typus von der kaufmännischen Karriere in die Literatur durchmacht, wäre ein Dialog wie der folgende nicht bloß kein Zufall, sondern geradezu die Formel für die Komplikationen eines fein differenzierten Seelenlebens: ,Hat Pollak aus Gaya bezahlt?1 ,Das nicht, aber er hat hieratische Gesten““ (F 289, 8).20 Ausgangspunkt dieser aufschlußreichen satirischen Inventur journa¬ listischer Schreibweisen ein Jahr vor der ersten Prager „Vorlesung Karl Kraus“ war die vom Notizenteil der Jacobsohnschen „Schaubühne“ gebotene Handhabe, „sich jeweils über den Stand des psychologischen Schmocktums in Deutschland zu informieren“ (F 289, 7), und mit dem Terminus „Schmocktum“ ist ein polemisch-satirischer Leitbegriff der „Fackel“ bezeichnet, welche bereits in ihrer zweiten Nummer von einer für die österreichische Publizistik charakteristischen „Hypertrophie des Schmockthums“ (F 2, 10) gesprochen hatte. Zwar gehörte der Gat¬ tungsname „Schmock“ auch zum polemischen Vokabular der Hardenschen „Zukunft“,21 allein in der „Fackel“ erhielt er gerade durch Dimensionen Prager Provenienz eine Bedeutungserweiterung, die über die Anspielung auf die bekannte gleichnamige, den käuflichen Journalisten repräsentierende Modellfigur in Gustav Freytags Journa¬ listen“ hinausreicht. Pavel Trost hat in seiner vielfache Vorarbeiten zusammenfassenden Studie „Die Mythen vom Prager Deutsch“ festge¬ stellt: „[...] während der liberalen Ara [...], als das Prager Deutsch als vor¬ bildlich galt, kam andererseits auch das Wort vom .Präger Schmock“ auf. Unter dem Prager Schmock versteht man nicht eigendich den käuflichen Journalisten, sondern jemanden, der wie ein damaliger Pra¬ gerjournalist redete, sich einer besonders gewählten, blumigen, teils abgegriffenen, teils ausgefallenen Phraseologie bediente.“22 Diese spezifische Bedeutung ist stets gemeint oder zumindest mitge¬ meint, wenn in der „Fackel“ von „Schmocken“ die Rede ist, so etwa in dem frühen selbstkritischen Rechenschaftsbericht „Ich und die .Neue Freie Presse““, wenn der Herausgeber der „Fackel“ berichtet, er habe noch vor wenigen Jahren „mit dem Eifer des werdenden Schmocks“ als Korrespondent des liberalen Blattes über Dinge depeschiert, „die nicht an sich, bloß durch die Art journalistischer Verwertung mich interes¬ sierten“ (F 5, 7), und ebenfalls schon im ersten Jahrgang wird mit der Einführung des Topos „Prager Schmock“ (F 25, 30) nicht nur dessen lokale Attribuierung vollzogen, sondern auch bereits die Priorität des Prager Originalartikels festgehalten: „Der Schmock“, so heißt es in einer der .Amtworten des Herausgebers“ vom Februar 1900, „Der

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Schmock capriciert sich mit einer Hartnäckigkeit auf den Prager Schauspieler, als ob er ein sogenannter Prager Schmock wäre. Und das sind, wie Sie wissen, die ärgsten“ (F 31, 28). Oder sechs Jahre später, ebenfalls als Schlußpointe einer .Antwort des Herausgebers“: „Man sieht also, daß die Prager Schmocke mit Recht so berühmt sind wie die Prager Schinken“ (F 196, 23). Ja, gelegentlich wird sogar das Abgelei¬ tete aller übrigen Spielarten von Schmocktum betont, so etwa Ende September 1900 in einer satirischen Glosse zur Prager Premiere eines Stückes von dem Redakteur der „Neuen Freien Presse“ Hugo Ganz: „Zahllose Correspondenzen [...] schildern mir, wie Clique und Claque aufgeboten war, um dem Nicht-Prager Schmock im Hause des Herrn Angelo Neumann alle gastfreundlichen Ehren zu erweisen“ (F 54, 22). Die letzte Stelle wurde nicht nur als aufschlußreicher „Schmock“-Beleg zitiert, sondern auch als eines von vielen Indizien dafür, daß die Rede von den „zahllosen Correspondenzen“ aus Prag keineswegs als eine konventionelle Hyperbel aufzufassen ist, sondern nebst anderen Hin¬ weisen Anlaß zu der begründeten Vermutung gibt, daß die „Fackel“, zumal im ersten Jahrzehnt ihres Erscheinens, vor dem Beginn der Vor¬ lesungstätigkeit ihres Herausgebers und einer weiteren Verbreitung dieser Zeitschrift im Deutschen Reich, in keiner Stadt außerhalb Wiens mehr Leser gehabt haben dürfte als gerade in Prag. Die antiliberale Revolution der Allianzen, die der junge Karl Kraus 1898 in seiner publi¬ zistischen Wirksamkeit vollzog und die schließlich 1899 zur Gründung der „Fackel“ führte,23 mußte in der aus den bekannten und oft darge¬ stellten Gründen noch so gut wie unbestritten liberal dominierten Pra¬ ger deutschen Enklave wesentlich explosiver und provozierender wir¬ ken als im Kontext des institutionell doch schon stark reduzierten Wiener Liberalismus. Angefangen beim Prager deutschen Theater mit seinem Direktor Angelo Neumann über die deutschliberalen Prager Blätter „Bohemia“ und „Prager Tagblatt“, die Prager deutsche Universität bis zur „Leseund Redehalle der deutschen Studenten in Prag“ und der Prager ,All¬ mutter Schlaraffia“ gab es kaum eine liberale Institution Deutschprags, die nicht schon sehr bald zum satirischen Objekt der „Fackel“ gewor¬ den wäre, meist im Rahmen der .Antworten des Herausgebers“ und unter aktiver Mitwirkung von Prager Lesern, bei denen sich gelegent¬ lich in Personalunion das bekannte Neben- und Ineinander von Auf¬ lehnungsbedürfnis und Skandalsucht diagnostizieren läßt. Sehr früh waren an den Zuschriften auch schon tschechische Leser beteiligt,24 und vollends für den deutschsprachigen Bereich dürfte das Selbst¬ zeugnis von Egon Erwin Kisch, daß er bereits als vierzehnjähriger Niko-

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landerrealschüler Zweitbenutzer der von seinem Vater gehaltenen „Fackel“ gewesen sei, keineswegs einen so singulären Ausnahmefall bezeichnen, wie es dem Memoirenschreiber aus jahrzehntelangem Abstand erscheinen mochte.25 Die ersten zweifelsfrei attribuierbaren Leserbeiträge von jungen bzw. angehenden Prager Autoren der Kafka-, Brod- und Kisch-Generation datieren vom Frühjahr 1905 und stammen, wie ich schon vor Jahren mit ziemlicher Sicherheit wahrscheinlich machen konnte26 und jetzt zu beweisen vermag, von einem Altersgenossen und ehemaligen Klassen¬ kameraden Max Brods, dem jungen Philosophen Max Steiner, der seit Oktober 1903 in Berlin ein Brotstudium der Chemie betrieb, 1905 sei¬ nen späteren Nachlaßherausgeber Kurt Hiller kennenlernte und im selben Jahr als Einundzwanzigjähriger sein erstes Buch vorlegte, das den sprechenden Titel führt: „Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums. Eine kritische Untersuchung“27. 1908 folgte sein umfang¬ reicheres Hauptwerk „Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen“26. Er konvertierte zum Katholizismus und nahm sich einige Monate danach im Juni 1910, kurz vor seinem Doktorexamen, das Leben. Seinen Nach¬ laß edierte Kurt Hiller Ende 1911 unter dem von Steiner noch selbst geprägten Titel „Die Welt der Aufklärung“29. Was Hiller an biogra¬ phischen Daten beizubringen weiß, weist bemerkenswerte Parallelen zu dem auf, was man über Kafkas frühe Entwicklung hören kann: die gleichen sozialistischen Sympathien um die Zeit der Badeni-Unruhen,30 die gleiche Faszination durch den Haeckelschen Anspruch, die Welträtsel monistisch zu lösen.31 Mit seinen beiden Zuschriften aus dem Jahre 1905 sekundierte Steiner gleichzeitigen polemischen Leit¬ themen der „Fackel“: einmal der Abwehr der nach dem Selbstmord Weiningers besonders problematischen psychiatrischen Versuche, das „Genie zu verpathologisieren“,32 zum anderen der Polemik gegen den publizistischen Rummel um Rilkes schwedische Seelenfreundin Ellen Key und ihr Jahrhundert des Kindes“.33 Ob Karl Kraus von den beiden Büchern Kenntnis nahm, die dieser sein erster Prager Mitarbeiter noch zu Lebzeiten veröffentlicht hat, vermag ich nicht zu sagen; auszu¬ schließen wäre es nicht. Eindeutig nachweisen läßt sich indessen, daß er den Nachlaßband „Die Welt der Aufklärung“ nicht nur gekannt, son¬ dern auch daraus geschöpft hat. Allein schon damit kann der zehn Jahre jüngere Steiner den Anspruch erheben, der einflußreichste Vor¬ denker dessen gewesen zu sein, was Karl Kraus provozierend die „rechtsradikale“ (F 400, 92) Tendenz seiner letzten Vorkriegsjahre genannt hat. So sind z. B. ausnahmslos alle Zitate, welche die „Fackel“ in den Jahren 1912 und 1913 in kontrastiv-antiliberaler Absicht zum

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Themenkreis „Schopenhauer und die Politik“ anführt, der gleich¬ namigen Nachlaßstudie Steiners entnommen.34 Noch 1930 wird das „Fackel“-Heft mit dem politisch extremsten dieser Zitate3’ zu den Desiderata einer brieflichen Anfrage von Willy Haas gehören, die in der Satire „Briefwechsel mit der ,Literarischen Welt1“ (F 838, 13-39) dokumentiert ist. Vergleichender Lektüre stellt sich Kurt Hillers erster und einziger Beitrag für die „Fackel“, welcher dort der Selbstanzeige der zweiten, von Kafka besuchten Prager Vorlesung vom 15. März 1911 vorangestellt ist und den Titel „Seine Stellung zur Metaphysik“ trägt (F 319, 61-64), als ein verschlüsseltes, aber für Ein¬ geweihte wie etwa Max Brod sicherlich dechiffrierbares Porträt der intellektuellen Physiognomie des freiwillig aus dem Leben geschiede¬ nen Freundes dar, das im übrigen genau dem Bild entsprach, das Hiller sich von Max Brods frühem Romanhelden Wälder Nornepygge machte: Sie seien beide „denkernst und konsequent“ geblieben, ver¬ zichteten beide „auf den Kompromiß und starben“, sie waren beide „besessen von Moral, bis zur Selbstzerstörung tapfer, der Bequemlich¬ keit abhold“.36 Festzuhalten bleibt, daß Max Steiner als der in der Zeit¬ priorität erste Prager Autor, dessen „Fackel“-Beiträge nach und neben den bereits erwähnten „zahllosen“ anonymen Zuschriften aus Prag zweifelsfrei attribuierbar sind, sich auch in der Rangpriorität als ein Meisterschüler jenes Moralphilologie-Kurses bewährt hat, den man nach einem Wort von Karel Capek in der „Schule der roten Hefte“ absolvieren konnte und kann.37 Die Aporien linearen Fortschrittden¬ kens, die seit der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno zu ideologiekritischen Gemeinplätzen geworden sind - in Stei¬ ners Texten findet man sie bereits mit jenem Instrumentarium im¬ manenter Kritik beschrieben, dessen intellektuelle Schärfe und sprach¬ licher Schliff sich nicht zuletzt der „Fackel“ verdankt.38 Der Rede vom Anti- oder Gegenaufklärer Karl Kraus, die vor nunmehr rund zwanzig Jahren in die Welt gesetzt wurde, wäre schon damals ent¬ gegenzuhalten gewesen, was Steiner in einer Selbstanzeige seines Erst¬ lingswerks von 1905 als die Absicht dieses Buches mit Worten charak¬ terisierte, die Karl Kraus ebenfalls im Nachlaßband finden konnte: Nicht dogmatische Gegenaufklärung biete diese Schrift, sondern - in unausgesprochener Analogie zu den Intentionen des jungen Friedrich Schlegel - „Aufklärung über die ,Aufklärung*“.39 Diese Forderung, daß als aufgeklärt sich verstehendes Denken auch und gerade im Namen wahrer Aufklärung sich bedingungslos und konsequent dem kritischen Imperativ intellektueller Redlichkeit zu unterwerfen habe, war schon 1901 in der polemischen Feststellung der „Fackel“ impliziert:

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„Geschichtskenntnis ohne Geschichtserkenntnis: es gibt keine tiefere Unbildung, als die sich hierin äußert. Aber solche Seichtigkeit des Den¬ kens beherrscht immerzu das öffentliche Leben einer Zeit, der die Ein¬ sicht abhanden gekommen ist, daß die Logik der Ethik, d.i. dem logisch Denkenwollen, entspringt“ (F 70, 7). Wird in der Gestalt Max Steiners 1905 der erste Prager Autor faßbar, der sich mit Gehalt und Tendenz der „Fackel“ rückhaltlos identifizier¬ te, so entwickelt sich nicht lange danach ein anderer zu einer sati¬ rischen Leitfigur der Vorkriegs-„Fackel“ und schließlich auch der Vor¬ tragstätigkeit ihres Herausgebers. Zu solchem Merkziel satirischer Betrachtung wird kein geringerer als Hugo Salus, dessen vielbezeugte „Concordia“-Reputation als Prager poeta laureatus hier nicht erst aus¬ gemalt zu werden braucht.40 Seine Assentierung als satirisches Objekt erfolgt in einem bemerkenswerten Zusammenhang und hat eine Fern¬ wirkung gezeitigt, die ein wichtiges Indiz für die frühe „Fackel“-Bele¬ senheit der späteren Herausgeber der „Herder-Blätter“ von 1911/12 darstellt. In einer längeren ,Anmerkung des Herausgebers“ vom Ja¬ nuar 1907 zitiert Karl Kraus Max Melis Gedicht „Der milde Herbst von Anno 45“ als „den stärksten Eindruck, den mir seit langer Zeit neue Lyrik gebracht hat“, um diesen seinen öffentlichen Dank mit dem Urteil abzuschließen: „Für diese acht Zeilen hat der junge Wiener [...] den Bauernfeldpreis redlicher verdient als die ganze lyrische Redseligkeit, die neulich in den Werken der Herren Stefan Zweig, Salus etc. preisgekrönt ward“ (F 216, 26). Wenn die „Herder-Blätter“ fünf Jahre später eben dieses Gedicht aber¬ mals abdruckten,41 dann war das als Nachvollzug eines Werturteils zugleich auch eine Botschaft an den Prager Dichterfürsten, die vom Adressaten so registriert worden sein dürfte, wie sie gemeint war. Ver¬ stärkte leitmotivische satirische Beachtung gewinnt Hugo Salus im Vor¬ feld der im Oktober 1907 mit aller Vehemenz einsetzenden Polemik gegen Maximilian Harden als „der lyrische Hausarzt der ,Zukunft1“ (F 227, 25), der diese neben Hardens Rechtsanwälten Theodor Suse und Heinrich Sello sowie dem dichtenden Wiener Journalisten Wil¬ helm Dworaczek alias Paul Wilhelm mit Poesie versorge. An zentraler Stelle der großen polemischen Satire „Maximilian Harden, Eine Er¬ ledigung“ wird Hardens Urteil, manche Gedichte Wedekinds seien einem Dilettanten zuzutrauen, mit dem ironischen Kommentar ver¬ sehen: „Manche, nicht alle. Wenn sich dieser Wedekind auch ganz gewiß nicht mit Herrn Salus vergleichen läßt, dem einzigen Lyriker, den Herr Har-

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den wirklich hochschätzt, wiewohl er als Arzt seine Verteidigung bisher nicht übernehmen konnte“ (F 234, 23). In unmittelbarer Nachbarschaft schließlich sowohl des an Friedjung demonstrierten, genetisch in Prag lokalisierten rednerischen Geistes der korrekten Phrase42 als auch der Beschreibung jenes „zwischen Wien und Berlin, also in Prag“ beliebten Typus von .Feierlichem Reportertum“ (F 289, 8) wird Salus in kontrastiver Parallele zu steirischen Spezialitäten wie Rudolf Hans Bartsch oder Rosegger junior in der satirischen Parodie eines schabionisierten Vortragsreferats sarkastisch als Prager „Heimatkünsüer“ (F 291, 21) vorgestellt, bei dessen Gedichtüberschriften wie „.Kornfeld' und Abendreigen'“ man freilich bedenken müsse, „daß diese Namen keine Prager Firmatafel bedeuten“ (F 291, 22). Aufgegrif¬ fen wird diese ironische Funktionalisierung des „Heimatkünsüer“-Motivs dann wenig später, Ende Mai des Jahres 1910, desselben Jahres also, an dessen Ende Karl Kraus seine erste Prager Vorlesung halten wird, und zwar in einer Glosse, unter deren symptomatischer Spitzmarke Jeden Früh“ das erste satirisch vernichtende Salus-Zitat angeführt wird und die darüber hinaus sozusagen gleich zwei Prager literarische Fliegen mit einer satirischen Klappe schlägt; denn der Mitherausgeber der hier aufs Korn genommenen neuen Revue „Der Merker“ war neben dem späteren ersten Werfel-Biographen Richard Specht der Prager Musikhistoriker und Kritiker Richard Batka, ehemaliger „Prager Tagblatt“- und „Bohemia“-Redakteur sowie seit 1897 nebenamtlich Musikreferent des vom jungen Franz Kafka gelesenen „Kunstwart“: Jeden Früh ,Der Merker', eine neue österreichische Zeitschrift für Musik und Theater, welche, von ein paar lobenden Worten über mich abgesehen, den Beweis ihrer Existenzberechtigung noch nicht erbracht hat, ver¬ öffentlicht ein Gedicht des deutschen Lyrikers Hugo Salus, dessen erste Strophen wie folgt lauten: Auf dem braunen Zweig des kahlen Baumes, Der mein Fenster streift, sitzt nun ein Vogel Jeden

Früh.

Er ist jung und übt mit großem Eifer Eine neue, aber gar nicht leichte Melodie. Nur zwei Töne; mit gesenktem Köpfchen Probt er immer wieder diese neue Melodie.

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Wie ein junger Priester bei der Messe Beugt er sich zum Zweiglein und ist fleißig Jeden

Früh.

Herr Salus ist Prager Heimatkünstler, und es ist immer wertvoll, wenn die Dichter die Sprache um Wendungen bereichern, die dem Idiom ihrer besonderen Umgebung entstammen. In Prag, wo es sich von selbst versteht, daß der besser situierte Einwohner jeden Früh, wenn er aufkommt und aufsteht, seinen Tee trinkt und seine Eier ißt1, berührt es durchaus sympathisch, daß auch der Priester jeden Früh seine Messe liest, wenn er es nicht vorzieht, seine Neue Presse zu lesen, ja man wun¬ dert sich nicht, daß selbst der Vogel in Prag jeden Früh sein Lied vor dem Fenster des Dichters singt, was diesen wieder derart in Stimmung bringt, daß er jeden Früh sein Gedicht schreibt. In Prag weiß man aber auch,

wozu

das

Unterrichtsministerium

seinen

,Merker*

subven¬

tioniert. Nur daß es nicht ,sein* Geld ist, das da hinausgeworfen wird, sondern unser Geld“ (F 303, 15f.). Sprach Kafka in seinem oben erwähnten Brief von 1921 vom „Mau¬ scheln an sich“, so war es für Karl Kraus 1910 natürlich eine satirische Trouvaille allerersten Ranges, bei Hugo Salus, dem prominenteren der beiden Prager „Concordia“-Dioskuren, in einem Gedicht an metrisch und prosodisch so akzentuierter Stelle auf die gleiche Wendung zu stoßen, die er bereits 1904 zitiert hatte als exemplarischen Topos der sprachgestischen Folie des „Mauscheins an sich“, der in der „Neuen Freien Presse“ jetzt hemmungslos schreiben dürfe, was deren Leser „viel¬ leicht doch nicht zu sprechen wagen“ würden (F 167, 19f.): ein Topos, der 1905 in unmittelbarer Nachbarschaft der beiden Zuschrif¬ ten Max Steiners abermals als Sprechstilsymptom vorgeführt worden war: Jeden Früh, wenn ich aufsteh und ausgeh, trink ich meinen Tee und ess ich meine Eier, dann bin ich derquickt“ (F 180, 54). Hugo Salus nimmt denn auch in dem etwa gleichzeitig entstandenen, ein Jahr spä¬ ter in Prag erstmals vorgetragenen und in dieser Darbietung von Kafka gehörten Essay „Heine und die Folgen“ als deren zeitgenössisches Paradebeispiel einen hervorragenden Platz ein: „Schließlich hätte man der verlangenden Jugend auch mit Herrn Hugo Salus dienen können“ (F 329, 17). Salus bleibt von nun an in der Vorkriegs-„Fackel“ und den Vorkriegsvorlesungen eine Leitfigur des Glossenrepertoires, und mit seinen „Österreichischen Offiziersballaden“ wird er 1913 noch lange vor Franz Werfel und Alfred Kerr als erster Autor Gegenstand von sar¬ kastischen Gedichtparodien, deren eine in der 5. Prager Vorlesung

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vom 4. März 1913 im Hotel Central, also fast vor der Haustür des Par¬ odierten, einem platzkundigen Publikum zu Gehör gebracht wurde.43 Franz Kafka hatte sich für diesen besonders sakrilegischen Karl-KrausAbend ein besonders hieb- und stichfestes Alibi verschafft; er war mit Max Brod und Felix Weltsch im Kinematographentheater.44 Von diesem Exkurs in die rund siebenjährige Geschichte satirischer Salus-Demontage, deren Echo in den Selbstzeugnissen Prager Autoren allerorten vernehmbar wird, sei wieder in dasjahr 1910 zurückgelenkt, um die Konstellation zu umreißen, die Karl Kraus vorfand, als er am 12. Dezember 1910 auf Einladung der „Lese- und Redehalle der deut¬ schen Studenten in Prag“ in deren Haus die erste seiner insgesamt 57 Prager Vorlesungen hielt. Als ein Niederreißer, der nicht nur den „lyri¬ schen Hausarzt der ,Zukunft'“, sondern vor allem auch deren Heraus¬ geber Maximilian Harden auf dem satirischen Gewissen hatte, stieß er auf eine publizistisch einflußreiche Gruppe von Harden-Anhängern und -Verteidigern, die zumal in der Redaktion der „Bohemia“ konzen¬ triert waren: der einflußreiche Paul Wiegier, der nach dem Verdikt von Karl Kraus „auf dem Umweg über Berlin ein Prager Schmock gewor¬ den“ war (F 313, 57), sodann Willi Handl, für das, was man neudeutsch die Prager Medienlandschaft nennen würde, vielleicht noch wichtiger, weil, nach einem gleichzeitigen Urteil Kafkas, bei „dem“ schon das Publikum anfange.45 Dieses Prager Publikum war bereits wochenlang durch sensationell aufgemachte Berichte präpariert worden, welche die „Bohemia“ sich von ihrem in der Redaktion der „Neuen Freien Presse“ stationierten Korrespondenten Alexander Thorsch nach Prag „blasen“ ließ, wie der in der „Fackel“ mehrfach satirisch reflektierte journalistische terminus technicus für telefonische Nachrichtenüber¬ mittlung lautete.46 Diese Berichte betrafen Verlauf und Vertagungen des Prozesses Karl Kraus contra Fritz Wittels, einen ehemaligen Mit¬ arbeiter der „Fackel“ und Verfasser des literarisch noch nicht einmal mediokren Schlüsselromans „Ezechiel der Zugereiste“47, in dem nicht nur Karl Kraus unter dem Namen Benjamin Eckelhaft (mit ck!)48 als Herausgeber einer Zeitschrift namens „Das Riesenmaul“ karikiert war, sondern auch sein damals bereits im Sterben liegender polnischer Freund Ludwig Ritter von Janikowski nach der Heineschen Krapülinski-und-Waschlappski-Schablone als Stanislaw Ritter von Sinepopowski.49 Ziel des von Karl Kraus angestrengten Prozesses war es vor allem, den Pamphletisten zur Streichung des durchsichtig verschlüssel¬ ten Zerrbildes eines „tief geistigen und tief gütigen Menschen“ (F 331, 64)50 zu zwingen, dem er wenig später einen von wahrer Ergriffenheit zeugenden Nachruf gehalten hat. Zur weiteren Einstimmung brachte

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die „Bohemia“ zehn Tage vor dem Vortragstermin einen W. H. gezeich¬ neten Beitrag von Willi Handl, von dem es in der „Fackel“ heißt: „Ein Feuilleton ,Die Atmosphäre des Hasses*51, geschrieben von der Unfähigkeit zum Haß, geschrieben von der Begabung, mit vollem Namen anonym zu bleiben, hatte ebenso feige wie dreckige Anspielun¬ gen auf ,den Prozeß* enthalten. Der Autor, der einst in Wien seine untätige Assistenz bei einer Aktion des Hasses gebüßt hat. wurde nicht in den Vortrag geschickt. Dafür ein Kollege, der wiederum auf dem Umweg über Berlin ein Prager Schmock geworden ist“ (F 313, 57). Dieser Kollege, der in der Rubrik ,Aus dem Vortragssaale“ unter der Chiffre w. über „Karl Kraus in der Lesehalle“ berichtete, war kein ande¬ rer als Paul Wiegier, dessen Referat außer weiteren Prozeßanspielun¬ gen auch noch das Reizwort „der Fackelkraus“ gezielt einsetzte, was des¬ sen sarkastische Reaktion provozierte: „Wenn man [...] bedenkt, daß die halbe Redaktion der ,Bohemia* infol¬ ge eines anderen Prozesses, jenes, der einst auf Wiener Boden gespielt hat, befangen ist,52 daß die ganze von der Neuen Freien Presse abhän¬ gig, der Kritiker ein Liebling des Herrn Harden ist, und schließlich die¬ sem auch in Prag einige Aphorismen und der Presse als ganzer sogar viele gewidmet waren, dann muß man die [...] Rezension sehr anstän¬ dig finden“ (F 313, 57f.). Zu diesen Aphorismen, welche der Presse als ganzer gewidmet waren, gehörte auch der folgende, der schon im Oktoberheft der „Fackel“ zu lesen war: „Ein frecher Kulturwitz hat die journalistische Hochschule* ausgeheckt. Sozialer Ernst müßte eine journalistische Gewerbeschule verlangen“ (F 309, 34). Mindestens ein Absolvent dieser von einem frechen Kulturwitz ausgeheckten journalistischen Hochschule saß unter den Zuhörern der ersten Prager Vorlesung Karl Kraus’: der fünf¬ undzwanzigjährige „Bohemia“-Redakteur Egon Erwin Kisch, der „Bohemia-Kisch“53, wie er bei Kafka im Unterschied zu dessen Klassenkame¬ raden Paul Kisch, dem „deutschen Kisch“54, genannt wird. Dank den verdienstvollen Text- und Briefeditionen Josef Poläceks55 liegt uns alles, was Egon Erwin Kisch über Karl Kraus damals und danach geschrieben hat, in der heute noch erreichbaren Vollständigkeit vor. Dieter Schlenstedt hat in der kürzlich erschienenen Neubearbeitung seiner KischMonographie einen ersten Versuch gemacht, dieses Material in den lebens- und werkgeschichtlichen Kontext seiner Darstellung ausge¬ wogen wertend einzuordnen.55 Bei größter Sympathie und höchster Wertschätzung für Persönlichkeit und Werk des Meisters der Reportage kann indessen ein Urteil nicht unwidersprochen bleiben, das als Fazit gerade der frühen Polemiken gegen Karl Kraus gezogen wird:

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„Der auf genaue Wiedergabe eingeschworene Reporter protestierte gegen journalistische Unredlichkeiten in den Arbeiten von Karl Kraus, gegen die Neigung, bei aller polemischer Leidenschaft moralische, weltanschauliche Prinzipien aus den Augen zu verlieren.“57 Dieser Satz steht im Nachwort einer Sammlung von Briefen, bei deren Lektüre man nicht selten versucht ist, ihrem Schreiber noch nachträg¬ lich dazu zu gratulieren, daß der jeweilige Text nicht falsch kuvertiert versehentlich an die Adresse des Verlags der „Fackel“ gelangte, so etwa, wenn Kisch, der eben erst Karl Kraus als den „verschmocktesten Schmock von Wien“58 in Prag begrüßt hatte, seinem Bruder, dem ewigen und zum Kummer der Mutter noch immer nicht doktorierten Germanistikstudenten Paul Kisch, den Rat oder, um im Vokabular der Briefe zu bleiben, die Eizes gibt, einen Lobeshymnus auf den Doktor¬ vater August Sauer in der Zeitschrift „Deutsche Hochschule“ anzustim¬ men, sie dem Gefeierten mit einem Begleitschreiben zu übersenden, welches die Bitte an den Gefeierten enthalten solle, den Panegyrikus nicht als „Kriecherei“ aufzufassen, sondern „als Ausfluß eines überströ¬ menden Gefühls freudiger Hochverehrung“ und diesen Ratschlag mit dem ergänzenden Kommentar versieht: „So wird’s nämlich gemacht. [...] Vielleicht kannst Du eine Arschkriecherei für Minor damit ver¬ knüpfen.“59 Mit diesem starken, aber wahren Wort ist auch der Funk¬ tionswert der Kraus-Kritiken von Kisch aus den Jahren 1910 bis 1913 ziemlich genau bezeichnet: Es sind Eruptionen des sogenannten „Blatt¬ gefühls“60, das sich in der eigenen Redaktion aus Schicklichkeitsgründen nicht vehement genug entladen kann und die andernorts plazier¬ ten Schmähungen des Satirikers mit .Arschkriechereien“ für dessen einflußreiche Objekte verknüpft: vor allem für Maximilian Harden und damit zugleich auch für seine Seniorkollegen Handl, Strobel61 und Wiegier, aber auch für Dr. Hugo Salus, dem das Kompliment gedrech¬ selt wird, daß er „naturgemäß überall in der Welt stärker verehrt“ werde „als in Prag“.62 Das Urteil, daß Karl Kraus „der verschmockteste Schmock von Wien“ sei, hat weder die Geschichte noch der späte Kisch selbst bestätigen können; seine Motivationszusammenhänge zeigen den jungen Kisch, den „Bohemia-Kisch“, vielmehr noch völlig in dem befangen, was der Herausgeber der „Fackel“ in seinem selbstkritischen Rückblick den „Eifer des werdenden Schmocks“ genannt hat, den die Dinge nicht an sich, sondern nur durch die Art journalistischer Ver¬ wertung interessieren. Von seinem Bruder Paul wurde er deswegen auch zurechtgewiesen, und zwar mit einem Argument, das sich mit der Feststellung des Rezensenten der Brünner Vorlesung deckt, die Karl Kraus zwei Tage später mit dem gleichen Programm wie in Prag gehal-

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ten hatte; einem Argument, das dieser gleich im Anschluß an Egon Erwins Verriß auch in der „Fackel“ abgedruckten Rezension vielleicht sogar entnommen

ist:

„Man

hat Karl Kraus jahrzehntelang

tot¬

geschwiegen und übersehen, daß Männer wie er zu den Notwendig¬ keiten einer Kultur gehören.“63 Der Dr. St. zeichnende Verfasser dieser Besprechung ist mit Sicherheit zu dechiffrieren als Karl Hans Strobl, der wenige Jahre später in ebenso paradoxer wie aufschlußreicher Koinzidenz Opfer der Satire von Karl Kraus und einer begeisterten Romanrezension von Egon Erwin Kisch werden wird.64 Schon

dieser

notgedrungen

flüchtige

Überblick

dürfte

deutlich

gemacht haben, wie sehr das erste Prager Auftreten des Vortragenden Karl Kraus im Dezember 1910 noch ganz im Zeichen der Harden-Polemik stand, deren letztes Gefecht sich somit gleichsam auf Prager Boden abspielte. Aber schon stand ein weiterer, damals bereits berühmterer Prager Autor bereit, um für den Gegenstand des nächsten, bereits im Januar 191165 sich abzeichnenden, im März mit voller Vehemenz ein¬ setzenden polemischen Feldzugs, also für Alfred Kerr, sich gleich einem zweiten Curtius in den satirischen Abgrund der „Fackel“ zu stür¬ zen: Max Brod. Diese Bereitschaft war - sicherlich auf andere Art, doch mit vergleichbarem Anteil - durch ähnlich persönliche Zusatzmotiva¬ tionen mitbedingt wie bei Egon Erwin Kisch. Brod war bis zur HardenPolemik sozusagen noch mitgegangen, obwohl der gleichwertig von ihm umworbene Dr. Hugo Salus recht empfindlich mitbetroffen war.66 In den Jahren 1906 und 1907 hatte er dem Herausgeber der „Fackel“ Publikationen und zur Publikation in der Zeitschrift angebotene Manuskripte zum Problemkreis der Sexualethik übersandt, für den er beim Adressaten Interesse voraussetzen durfte, und noch 1907 hatte er ihn zu dem ersten großen „Essay gegen Harden“6' beglückwünscht, ohne jedoch auf einen dieser Kontaktversuche eine Antwort zu erhal¬ ten. Bedenkt man, was Karl Kraus von Stefan Zweig hielt, nämlich nichts, so wirkt beider Zusammensperrung in Wälder Nornepygges großem Schlußmonolog bereits etwas renitent: „Und in [...] Wien thronen

Peter Altenberg,

der

Kaffeehaus-Jesus,

der

freundliche

Ephebe Stefan Zweig, Karl Kraus, der ganzen Welt immer überlegen.“68 Sehr bald nach der ersten Prager Vorlesung, an der Jahreswende 1910/11, setzte eine sich beschleunigende Folge von Ereignissen ein, die schließlich dazu führten, daß Anfang 1913 Prag Berlin als die Stadt mit der zweithäufigsten Vortragsfrequenz nach Wien bereits eingeholt und im März 1913 auch schon überholt hatte. Dieser bis Anfang 1917 unbestrittene Vorsprung war natürlich nicht nur ein rein statistisches Zufallsphanomen, sondern Ausdruck etappenweise sich vollziehender

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literarischer Wandlungen und literaturpolemischer Frontverschiebun¬ gen, deren annalistisches Nacheinander hier nicht in extenso entfaltet werden kann.09 Hervorgehoben zu werden in unserem Zusammenhang verdient, daß der eigentliche Casus belli, der zum Abbruch der Berliner Literaturkontakte der „Fackel“, zur Schließung ihres Berliner Büros, zu der langen Berliner Vorlesungspause von Januar 1910 bis Dezember 1912 führte, der Ende 1910 selbständig veröffentlichte Essay „Heine und che Folgen“ war, den Kraus insgesamt nur dreimal öffentlich vor¬ getragen hat: die ersten beiden Male ein halbes Jahr vor der Publika¬ tion in den ersten beiden Wiener Vorlesungen vom 3. Mai und 3. Juni 1910, das dritte und letzte Mal, ziemlich genau in der Mitte des Zeit¬ raums zwischen Separatveröffentlichung und nochmaligem Abdruck in der „Fackel“, nirgend anders als in Prag, und zwar in der 13. (der 2. Prager) Vorlesung vom 15. März 1911 im Saal des Prager PalaceHotels, deren Arrangement, wie man in der „Fackel“ ausdrücklich ver¬ merkt findet, „Herr Willy Haas zustandegebracht hatte“ (F 319, 64), zugleich der ersten und einzigen, deren Besuch durch Franz Kafka ein¬ wandfrei belegbar ist.70 „Heine und die Folgen“ fand im Unterschied zur relativen Echolosigkeit der Wiener Vorträge71 und der aggressiven Berliner Ablehnung der Schrift vor allem auf Pfemferts Initiative in der .Aktion“72 gerade in Prag eine durch Sachkunde ausgezeichnete, nicht nur verständnisvolle, sondern auch zustimmende Aufnahme, und zwar nicht nur im „Prager Tagblatt“ durch Ludwig Steiner (F 319, 64f.), der schon die erste Prager Vorlesung Karl Kraus’ gewürdigt hatte und der kritischer Begleiter auch der weiteren Prager Vortragstätigkeit blieb, sondern auch auf tschechischer Seite, die an diesem selben Abend durch ihre wohl bedeutendste kritische Kapazität vertreten war, durch F. X. Saida,73 Das gleiche „Fackel“-Heft vom 31. März 1911, in dem das Programm dieses Vorlesungsabends verzeichnet ist, beginnt mit der ersten großen Kerr-Polemik „Der kleine Pan ist tot“, die zu einer mit aggressiver Wen¬ dung gegen Karl Kraus verbundenen Parteinahme Max Brods für den Angegriffenen führte und in der Folge davon zu einer Aufspaltung des „Prager Kreises“ in

eine

„Fackel“- und

Karl-Rraus-Gemeinde

im

Umkreis der „Herder-Vereinigung“ und der „Herder-Blätter“ einer¬ seits und einer Gruppe von etwas älteren Autoren andererseits, die Max Brod in seinen Erinnerungen als die ihm treu Verbliebenen, ihn mit¬ gerechnet, zu so etwas wie einem Fähnlein der vier Aufrechten verei¬ nigt: Kafka, Baum und Felix Weltsch.74 Die weitere Entwicklung der für die Prager literarische Vorkriegskonstellation im wesentlichen kon¬ stant bleibenden Segmentierung des Prager Kreises zu beschreiben,

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muß ich mir und Ihnen ersparen, und ich kann es wohl auch, da diese Wegstrecke in puncto Karl Kraus und Prager Autoren doch schon bes¬ ser ausgeleuchtet ist als die bis hierher beschrittene. Ihr Ende zeich¬ nete sich spätestens mit der letzten Prager Vorkriegsvorlesung vom 4. April 1914 ab, zugleich der ersten Prager Vorlesung, an der Sidonie von Nädherny teilnahm. Der erste Vortragstext, die Schlußpartie des am 12. Dezember 1912 erstveröffentlichten „Untergangs der Welt durch schwarze Magie“ ist auf dem Programm mit dem sprechenden Titel „Gegen die Jugend“ angekündigt.75 Der Programmabdruck in der „Fackel“ vom 21. April 1914 schließlich macht diese Anspielung unmißverständlich durch die berühmte Notiz über Prag, „wo sie beson¬ ders begabt sind und wo jeder, der mit einem aufgewachsen ist, welcher dichtet, auch dichtet und der Kindheitsvirtuose Werfel alle befruchtet, so daß sich dort die Lyriker vermehren wie die Bisamratten“ (F 398, 19), unter welchen als jüngste jener Hans Gerke vorgeführt wird, dem Hartmut Binder eine erschöpfende monographische Studie gewidmet hat.76 Lassen Sie mich, zum Abschluß überleitend, zum potentiellen Umfang der Karl-Kraus-Kenntnis Franz Kafkas einige Thesen aufstellen, die über das bereits Bekannte und Dokumentierbare hinauszuweisen ver¬ suchen: L Wie aus meinen Ausführungen hoffentlich hervorgegangen ist, wie die Zeugnisse Max Steiners und Egon Erwin Kischs, die relativ frühen Kontaktversuche Max Brods, ferner auch einige — allerdings noch nicht gänzlich aufgeklärte - Indizien in kürzlich aufgefundenen Schreiben Kafkas an seinen Klassenkameraden Paul Kisch belegen, war es für einen jungen, literarisch interessierten deutschsprachigen Prager kaum möglich, von der Existenz der „Fackel“ nicht Kenntnis zu nehmen. 2. Kafka durfte den Essay „Heine und die Folgen“, noch bevor er ihn im März 1911 hören konnte, im Dezember 1910 auch schon in der ersten Separatausgabe gelesen haben,77 und gerade diese Lektüre könnte ihn zum Vortragsbesuch motiviert haben, zumal durch die Kombination „Loos und Kraus“78 im Zeichen einer gemeinsamen Kunstgesinnung, zu der Kraus sich in „Heine und die Folgen“ aus¬ drücklich bekennt. 3. Von den übrigen in der Vorlesung vom 15. März 1911 gehörten Tex¬ ten wäre vor allem „Der Traum ein Wiener Leben“ (F 307, 51-56), das meistgelesene Stuck des Krausschen Vorkriegsrepertoires überhaupt79 auf sein Anregungspotential für die Kafkasche Traumdarstellungstech¬ nik hm zu überprüfen; ferner das in einer Schallplattenaufnahme überleferte, in die „Chinesische Mauer“ aufgenommene „Ehrenkreuz“

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(F 272, 2-5), wohl das von Karl Kraus meistgesprochene seiner Prosa¬ stücke insgesamt,80 mit der gleichen Absicht in Hinblick auf die Kon¬ struktion pseudologischer Sequenzen und Kreislaufbewegungen. 4. In einem Brief an Max Brod, den dieser „Matliary, Juni 1921 “81 datiert hat, beginnt die bereits erwähnte Analyse Kafkas mit dem Satz: „Vor längerer Zeit habe ich .Literatur1 von Kraus gelesen.“82 Wenn die Angabe „vor längerer Zeit“ stimmt, dann ist die Datierung viel weiter zum Ende des Kuraufenthalts hin zu verschieben, also etwa in den August 1921; denn „Literatur“ war im Juni 1921 soeben erst erschienen. Das Schreiben wäre damit in größere Nähe zu der ersten Kraus-Erwähnung in den Briefen an Robert Klopstock gerückt, der fortan der Hauptansprechpartner für ein bis in das Todesjahr hinein anhaltendes „Fackel“-Lesebedürfnis blieb, das Kafka bei Max Brod nicht voraus¬ setzen konnte und das keineswegs generell nur ein „gelegentliches“ genannt zu werden verdient. Wenn etwa Kafka in dem genau datierten Brief aus Planä vom 30. Juni 1922 um Zusendung der neuen „Fackel“ bittet, und zwar unter Hinweis darauf, daß sie sehr lange schon ausge¬ blieben sei,83 dann ist die Rede vom sehr langen Ausbleiben nicht auf die Zusendungen des Adressaten, sondern auf eine längere Pause im Erscheinen der „Fackel“ selbst zu beziehen: Das letzte Heft war im März ausgeliefert worden, das nächste erschien erst wieder im Juli.84 Hier liegt doch wohl ein über „gelegentliche Lektüre“ hinausweisendes Kontinuitäts- und Fortsetzungsbedürfnis vor. Der des Ungarischen kundige „sehr literarische“85 Dr. Robert Klopstock war als Übersetzer des unga¬ rischen, an Swift anknüpfenden Satirikers Karinthy86 nicht nur ein KarlKraus-Kenner und -Liebhaber, sondern offensichtlich überhaupt in der satirischen Literaturtradition gut bewandert, so daß auch die Anregung zur gleichzeitigen Beschäftigung Kafkas mit Swift von diesem jungen Freund ausgegangen sein dürfte, vielleicht sogar der Anstoß zu dem Mut, seinem Freund Max Brod sehr eigenwillige, von diesem sicherlich nicht geteilte Ansichten über die magische Operette „Literatur“ zu offerieren. 5. und letztens schließlich zu diesen Ansichten selbst, die in Wahrheit tiefe Einsichten sind, Einsichten in die sprach- und sprechgestische Struktur und Technik dessen, was Karl Kraus „angewandte Sprache“ im Unterschied zur „Sprache des Autors“ genannt hat.87 Einsichten, die sich freilich nur dann ganz erschließen, wenn man das Kürzel „so mau¬ scheln wie Kraus kann niemand“88 sinngemäß auflöst, analog zur Auf¬ lösungsbedürftigkeit des Kürzels,

„,es rieselt im Gemäuer1, sagt

Kraus“89. Denn ebensowenig wie Kraus das selbst sagt, sondern seinem Moriz Benedikt als Tonfallzitat in den Mund legt, ebensowenig geht es

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Prager Autoren im Lichte der „Fackel

in „Literatur“ oder analogen Dialogpartien der „Fackel“ oder der „Letzten Tage der Menschheit“ um das Mauschelnkönnen des Autors, sondern um dessen Fähigkeit, das „Mauscheln an sich“ als „Verbin¬ dung von Papierdeutsch und Gebärdensprache“ durch die Deck¬ schicht selbst korrektester Papiersprache hindurch mit den Mitteln „angewandter Sprache“ sprach- und sprechgestisch vernehmbar zu machen: ein Verfahren, das, wie ein Blick auf die „Letzten Tage der Menschheit“ leicht darzutun vermag, keineswegs nur für die spezifisch deutsch-jüdische Sprachregion fruchtbar zu machen ist, in „Literatur“ freilich gegenstandsbedingt auf diese konzentriert bleibt. In der gleichen Fixierung auf den jüdischen Bereich, ebenfalls schon auf der spezifisch Prager Materialbasis von „Spiegelmensch“ und „Lite¬ ratur“ hat Anton Kuh in seiner Schrift Juden und Deutsche“ vom Herbst 1921 die Rolle von Karl Kraus darin gesehen, „das Ohr reizbar gemacht zu haben für alle Wirkungen der jüdischen Schuld [...] Er war der Meisterdetektiv des latenten Jüdelns im Weltraum. Wenn es auf dem Sirius mauschelte - die Luft trug es ihm zu.“90 Sieht man von der darin enthaltenen tiefenpsychologisch-metaphysischen Aufblähung ab, so ist damit das von Karl Kraus für sich in Anspruch genommene Ver¬ dienst des „akustischen Spiegels“ (F 572, 30) angemessen beschrieben; manche solcher Tonfallzitate waren ihm schon in früheren Jahrgängen der „Fackel“ aus Prag zugeschickt worden, einige sollen ihm einer von Egon Erwin Kisch tradierten Überlieferung gemäß von Ernst Deutsch als Tonfalletüden vorgespielt worden sein,91 und auch Kafka selbst hätte allerhand dazu beisteuern können, so etwa - ein Beispiel für viele - den Ausspruch eines Prager Juden über den Wechsel seines Sohnes von der deutschen auf eine tschechische Realschule: „Er wird jetzt nicht deutsch und nicht tschechisch können, wird er bellen.“92 Selbst die Feststellung, daß „das Mauscheln an sich“ sogar schön sein könnte, kann man vor allem zwischen Juni und Februar 1912, also in demselben Zeitraum, in den Kafkas Kontakte mit der ostjüdischen Theatertruppe und die Arbeiten zum Vortrag „Über Jargon“ fallen, wiederholt in der „Fackel vorgeprägt finden, und zwar unter ständigem Hinweis auf das Schauspielerensemble der „Budapester Orpheumgesellschaft“, das in Wien Stücke im jüdischen Jargon aufführte und nach dem polemisch¬ satirisch formulierten, aber künstlerisch durchaus ernstgemeinten Vor¬ schlag des Herausgebers der „Fackel“ als beste Theatertruppe am Ort das zur Nullität herabgesunkene Burgtheater in Pacht nehmen solle. Der erste dieser Hinweise gibt mit dem gestischen Zitat der Wendung „man wird doch da sehen“, des späteren Untertitels von „Literatur“, zugleich Aufschluß über dessen theatralische Herkunft:

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„Der Bartsch, der mit Vorliebe im Neuen Wiener Tagblatt laicht, hat schon deshalb seine Feinschmecker, weil man an die Karpfen, die dort Vorkommen, allzulange gewöhnt ist. Ich kann mir aber nicht helfen, mir erscheint Graz für dichterische Keime noch ungeeigneter als Linz, von Wien nicht zu reden und ganz abgesehen davon, daß ich neuerdings sogar gegen Innsbruck mißtrauisch bin. Um aber auf besagten Bartsch zurückzukommen, so glaube ich, daß er zu jenen österreichischen Auto¬ ren gehört, die ihren Ruhm der Notwendigkeit verdanken, daß Öster¬ reich wieder einen Dichter hat, und die entweder an ihrer Geburt ster¬ ben oder ihren Tod nicht überleben. Nun, man wird doch da sehen heißt es in den Stücken jener ,Budapester Orpheumgesellschaft1, die nicht nur in den Leistungen der Herren Eisenbach und Rott das einzi¬ ge reelle Theatervergnügen bietet, das Wien nach Girardi heute zu bie¬ ten hat, sondern die auch als das einzige künsderische Abbild einer Kul¬ turformation, welches heute auf einem Podium gezeigt wird, mit allem Unflat alles überbietet, was die Theater- oder Taschenspielerei der Ber¬ ger und Reinhardt imstande ist“ (F 324, 23). Und schließlich im Februar 1912: „Wenn im Burgtheater gemauschelt wird, so ist damit noch gar nichts bewiesen. Es kommt in der Kunst darauf an, wer mauschelt. [...] Und nicht gegen die Verunehrung des Burgtheaters - dieses hat nichts zu verlieren -, sondern gegen die Kompromittierung der Budapester Orpheumgesellschaft muß protestiert werden“ (F 343, 21).93 Es hat jederzeit zum Stammrollenrepertoire des großen Satirikers gehört, daß er im Dienste abwertender Zeitkomparatistik imstande sein müßte, pathetisch oder ironisch als laudator temporis acti aufzutreten, auch und gerade dann, wenn er die nun relativ erhobenen alten Zeiten einst ebenso verworfen hatte, wie die jetzt absolut verdammten neuen. Davon profitierte auch das Prager Schmocktum. 1934, in seinem großen Rechenschaftsbericht „Warum die Fackel nicht erscheint“, sah Karl Kraus in Schlagzeilen der Prager Exilzeitschrift „Der GegenAngriff“ wie „Lanze für Karl Kraus“ und „Lanze gegen Karl Kraus“ eine alte Wahrheit bestätigt, die er schon 1902 bei Kürnberger präformiert gefunden hatte: „Schmock ist nämlich, wie schon Kürnberger lachend festgestelit hat, immer Krieger; er bricht Lanzen, wirft den Fehdehandschuh hin, hält ein Banner hoch und kämpft mit offenem Visier“ (F 98, 13).94 Nun heißt es dazu: „Überhaupt,Lanzen1! Wenn Kommunisten einem mit so was kommen, versteht man, warum die Gasindustrie gedeiht. Nun, die Kompromittierung des Prager Schmocktums, das eine ehrwürdige Ein¬ richtung war, durch die Emigrantenjournalistik geht einen ja schlie߬ lich nichts an“ (F 890, 40).

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Keine Angst, ich werte diese ironisch-satirische Rehabilitierung der altehrwürdigen Einrichtung des Prager Schmocktums nicht weiter aus, „ich berichte nur“, wie es am Ende des berühmtesten aller Referate heißt, „auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.“

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

„Berlin und der Prager Kreis": daß der so benannte Gegenstand unse¬ res Kolloquiums nicht zur Kategorie der mehr oder weniger gewaltsam an den sprichwörtlichen Haaren herbeigezogenen „und“-Themen gehört, deren Verspottung ein altehrwürdiges Motiv neuerer Gelehr¬ samkeitssatire ist,1 daß vielmehr Affinitäten der hier mit „und“ kopu¬ lierten Phänomene schon früheren Beobachtern ein- und aufgefallen sind, mag hier mit einem Zeugnis aus dem Jahre 1920 belegt werden, das eines gerade in seiner Unfreiwilligkeit unverkennbar bodenständi¬ gen Humors nicht entbehrt. Es stammt von einem recht obskuren Skri¬ benten mit dem klangvoll südländischen Pseudonym Alfred Maderno, mit bürgerlichem Namen infolgedessen schlicht Schmidt geheißen, der damals unter dem Titel „Die deutschösterreichische Dichtung der Gegenwart“ ein „Handbuch für Literaturfreunde“ vorgelegt hatte,2 das es sich unter anderem zur Aufgabe machte, gleichsam den Austriazitätsgrad eines jeden der behandelten Schriftsteller zu bestimmen, bei welcher Musterung namhafte Autoren gerade auch des Prager Kreises sehr schlecht abschneiden. So heißt es z. B. über Gustav Meyrink, des¬ sen „Prophetentum“ sei „widerlicher Haß gegen das gesund Bürger¬ liche. Mit einem Teile seines Schaffens gehört Meyrink der deutsch¬ böhmischen Dichtung an. Als Deutschösterreicher lehne ich ihn ab.“3 Rilke und Werfel werden wie folgt gegeneinander abgewogen: „Rainer Maria Rilke [...] steht unter den deutschösterreichischen Lyrikern, also auch unter den Prager Dichtern, einsam da [...] Selbst mit Werfel, der ihm heute am nächsten kommen dürfte, hat Rilke zuwenig gemein, da er sowohl undeutsch, als auch trotz seiner früheren Hingabe an Prag unösterreichisch ist, während wir von Werfel doch nur das letztere behaupten dürfen.“4 Diese letztere Behauptung wird so präzisiert: „Franz Werfel [...] gehört einer Art philosophischen Richtung Prag-Berlin an, der ja auch Brod nahesteht. Deutschösterreich kann keines seiner Werke auf sich beziehen.“5 Schon diesen wenigen Zitat¬ proben ist unschwer zu entnehmen, ein wie blindes Huhn hier am Werke war, das indessen mit der in ihrer Hilflosigkeit fast schon wieder rührenden Formel von einer „Art philosophischen Richtung Prag-Ber-

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Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

lin“ gleichwohl jenes figürliche Korn zu finden vermochte, das im soge¬ nannten „expressionistischen Jahrzehnt“ sozusagen auf der Straße oder vielmehr auf dem Gemeinplatz lag. Berliner Endstation für vieles, was hier etwas eisenbahnfahrplanmäßig als eine „Art philosophische Richtung Prag-Berlin“ erscheint, war damals bekanntlich der 1885 geborene Kurt Hiller, in dessen Lebenserinnerungen 1967 der Bedeu¬ tung eines aus Prag stammenden Berliner Kommilitonen mit den gewichtigen Worten gedacht wird: „Oft bin ich geneigt, ihn für den bedeutendsten Generationsgenossen zu halten, dem ich im Leben überhaupt begegnete [...] Mich empört, wie vergessen er heute ist, er, einer der erleuchtetsten und erleuchtendsten unserer Autoren, während das philosophatschende Kroppzeug der sieben Jahrzehnte unseres Jahrhunderts Weihrauch um Weihrauch empfängt.“6 Im Inter¬ esse zweifelsfreier Unmißverständlichkeit versieht Hiller die ihr Berli¬ nisches Arom nicht verleugnende Kennzeichnung „das philosophat¬ schende Kroppzeug“ mit einer erläuternden Fußnote, deren im Original alphabetisch vorgenommene Aufzählung von 14 repräsentati¬ ven Namen ich der größeren Plastizität halber lediglich durch eine chronologische Reihung ersetzen möchte, ohne im übrigen den Wort¬ laut anzutasten. Es heißt da: „Sollte, im Elysium oder auf Erden, von den Herren Husserl, Lublinski, Klages, Kassner, Scheler, Spann, Pannwitz, Jaspers, Lukäcs, Wittgenstein, Heidegger, W. Benjamin, E. Jünger und Schelsky der eine oder andere sich hier getroffen fühlen, so hätte ers sich, nicht mir zuzuschreiben.“7 Selbst wenn man die habituelle Hyperbolik in Rechnung setzt, die den unverkennbar Hillerschen Indi¬ vidualstil im Rühmen wie im Verdammen auszeichnet, blieben diese Morte noch immer denk- und erstaunenswürdig genug. Sie gelten dem am 22. Juni 1910 in Berlin sechsundzwanzigjährig durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Max Steiner, für dessen Biographie wir nach wie vor im wesentlichen auf das angewiesen sind, was Hiller dazu im Vorwort des Ende 1911 veröffentlichten Max-Steiner-Nachlaßbandes beizubringen vermochte.8 Auf einige nicht unwesentliche Ergänzungen, Präzisierungen und Korrekturen, die an dieser Darstellung vorzuneh¬ men sind, wird an den betreffenden Stellen noch Bezug zu nehmen sein. Max Steiner wurde am 21. Mai 1884 als Sohn eines deutschjüdischen Kaufmanns in Prag geboren und besuchte von 1890 bis 1895 die bekannte Piaristenschule, zu seinen Mitschülern gehörten dort Brod, Felix Weltsch und der spätere deutschliberale Politiker und „Bohemia“-Redakteur Franz Bacher, der 1932 die Erinnerung an” diese gemeinsame Volksschulzeit in dem Gedenkartikel „Die Klasse Beda Wysoky“ festgehalten hat,9 während Max Brod erst 1966 in seinem Buch

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„Der Prager Kreis“ seinen ehemaligen Klassenkameraden mit den Wor¬ ten in Erinnerung ruft: „Auch Max Steiner [...] war unser Mitschüler in der Piaristenschule. Er war der beste Schüler der Klasse. Man sollte ihn nicht vergessen, wenn vom weiteren Prager Kreis die Rede ist.“10 Das Gymnasium, das Steiner danach bis 1903 besuchte, war weder das Altstädter Gymnasium Kafkas noch das Stefansgymnasium Brods, son¬ dern das k.k. Neustädter Deutsche Staats-Obergymnasium zu Prag, am Graben, das sogenannte Grabengymnasium, das vor ihm von 1888 bis 1896 Paul Adler11 und nach ihm von 1906 bis 1914 auch Johannes Urzidil frequentiert und absolviert hat12 und in das 1913 noch Hermann Grab eingetreten ist.13 Was Kurt Hiller über Steiners Prager Kindheits- und Jugendjahre nachträglich in Erfahrung bringen und 1911 mitteilen konnte, sei hier in extenso zitiert, weil es zur wechselseitigen Erhellung und Bestäti¬ gung von manchem dienen kann, was uns mittlerweile an Zeugnissen und Selbstzeugnissen zu den parallelen Jahren der Lebensläufe Franz Kafkas und Max Brods bekannt geworden ist:14 „Max Steiner [...] war Vorzugsschüler, empfand aber schon sehr jung einen Haß gegen Auszeichnungen; dieser Haß trieb ihn dazu, seine Vorzugsstellung absichtlich aufzugeben. [...] Im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren [also im Anschluß an die Badeni-Stürme vom Dezem¬ ber 1897, K.K.] soll er von sozialistischen Ideen erfüllt gewesen sein; den Verkehr mit einem Kameraden abgebrochen haben, als er hörte, dessen Vater sei Millionär; an einem Wiener oppositionellen Witzblatt anonym mitgearbeitet und das Honorar einer Streikkasse überwiesen haben. Kaum älter, erzwang er sich die Lektüre Schopenhauers - der ihn dann unter allen Philosophen bei weitem am stärksten beeinflußt hat: im Ethos, nicht in den Theorien. Viel später erst las er Kant, noch später Nietzsche. (Bildnisse dieser drei Großen fanden sich, als einziger Schmuck, in seinem Sterbezimmer.) Als er zum erstenmal von Berlin nach Prag heimkehrte [also wohl an der Jahreswende von 1903 auf 1904, K.K.], soll er den Sozialismus völ¬ lig verloren haben. Alle diesen Daten, auch daß er zwar Musik und das Tarockspiel liebte, aber gar nicht das Theater, den Tanz, die Gesellschaften; daß er sich den Mädchen gegenüber auffallend gleichgültig benahm und eine auf¬ fallende Furcht vor Krankheiten zeigte, - verdanke ich gütigen Mit¬ teilungen seiner Eltern.“15 Fügt man diesen Momenten eine von Hiller nicht ausdrücklich genannte, aber aus Steiners Berliner Schriften ex negativo nachträglich erschließbare ursprüngliche Faszination durch den zeittypischen mate-

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Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

rialistischen Monismus16 und den Massenerfolg der 1899 erschienenen Haeckelschen „Welträtsel“ hinzu, dann hat man an Erlebtem, Erlern¬ tem und Erlesenem wesentliche Charakteristika beisammen, die bei Prager Altersgenossen vergleichbarer Herkunft im Schnittpunkt von Sozial-, Lokal- und Generationsbedingtheit anzutreffen sind. Nach der Matura im Juli 1903 ging Steiner im Oktober desselben Jah¬ res nach Berlin, um dort Chemie zu studieren. Dazu Hiller: „Es waren wohl Nützlichkeitserwägungen, die ihn zu diesem Studium bestimm¬ ten; eine innere Beziehung zur Chemie - gesetzt, daß dergleichen vor¬ kommt - gewann er niemals.“17 Das ist noch viel zu milde gesagt. Stei¬ ner hatte nicht nur keine Beziehung, er hatte eine Weiningersche Verachtung18 gegenüber der intellektuellen Inferiorität des Routine¬ betriebs moderner Naturwissenschaft, die er wiederholt als „eine ex¬ perimentierende Bürokratie“19 definierte, und nicht der Frau am häus¬ lichen Herd, sondern dem Chemiker an der Retorte galt der von Hiller immer wieder mit Gusto zitierte Sarkasmus: „Kochen ist leichter als Denken.“20 In Berlin schloß sich Steiner - offenbar bald nach Studienbeginn - der führenden liberalen Studentenkorporation an, der „Freien Wissen¬ schaftlichen Vereinigung“, allgemeinüblich abgekürzt F.W.V., aus der 1909 durch die Sezession einer Gruppe von F.W.V.ern, wie sie sich nannten, unter der Führung von Kurt Hiller der für die Geschichte des Berliner Frühexpressionismus so wichtige „Neue Club“ hervorgegan¬ gen ist.21 Der ein Jahr jüngere Kurt Hiller, der sein Studium ebenfalls im Herbst 1903 aufgenommen hatte, aber erst im Dezember 1905 zur F.W.V. gestoßen war,22 fand dort Steiner bereits als den anerkannten Führer einer oppositionellen „intellektuellen Partei“23 vor, zu deren Motivationen die Kritikwürdigkeit der geistigen Armatur und der poli¬ tischen Praxis des zeitgenössischen Liberalismus zuallererst gehörte. Was Hiller in seinen Lebenserinnerungen als die gruppen- und gene¬ rationsspezifische Denkweise und Gesinnung seines Berliner Freun¬ deskreises um 1905 beschreibt, dürfte zu einem nicht geringen Grade auf der Rückprojektion von .Anschauungen beruhen, die erst unter dem Einfluß Steiners jene dezidierte Ausprägung erfahren haben dürf¬ ten, die der Rückblick des Vierundachtzigjährigen in den Worten fest¬ halt: „Ich stand damals in meinem ersten oder zweiten Semester, und zur Denkweise meines Freundeskreises gehörte eine zwar nicht zu funlerte, doch sehr ausgeprägte skeptische Ironie gerade gegenüber dem monistischen Materialismus und verwandten, wie uns schien, philo¬ sophisch unzulänglichen Spielarten der Freigeisterei. Wir sagten zu

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diesen Lehrern nicht von rechts her Nein, sondern sozusagen von links her. Nicht als Gläubige einer Konfession lehnten wir sie ab, sondern teils als Kantianer und Kritizisten, teils als eher gefühlsstark und -vag radikalisierende Skeptizisten und Nihilisten, jedenfalls als Jünglinge, die stolz darauf waren, alles, was Naturalismus, Empirismus, Positivis¬ mus, Materialismus, Monismus oder Atheismus hieß, als genau so dog¬ matisch, flach, schief, naiv erkannt zu haben wie die Behauptungen der Bibel und die Doktrinen der Theologen. Dieses Nein gehörte für mei¬ nen Kreis zum guten Ton, ja zu den Selbstverständlichkeiten, ohne daß wir Haeckels rein naturwissenschaftliche [...] Bedeutung und Ver¬ dienste etwa besüitten. Ein Monist unter uns war so unmöglich wie ein Mönch unter uns.“24 Alles das, was hier als Gegenstand skeptischer Ironie bezeichnet ist und sich politisch als nationalliberale Legierung unter der Parole „Deutsch¬ tum und Fortschritt“25 darbot, war Steiner von Prag her hinlänglich bekannt, und er konnte in der F.W.V. eine Berliner Variante davon vor¬ finden, welche der Solidarität mit dem deutschliberalen Prag und sei¬ ner Studentenschaft eine besondere Traditionspflege angedeihen ließ. Geradezu symbolisch dafür sind die Eckdaten der in dem Ende 1908 herausgegebenen F.W.V.er Taschenbuch enthaltenen Chronik „Aus der Geschichte der F.W.V.“26. Als erste Veranstaltung nach der Grün¬ dung der aus der liberalen Opposition gegen den Stöckerschen Anti¬ semitismus hervorgegangenen F.W.V. erscheint da eine Versammlung vom 18. Juli 1881, die im Jahre der legendären „Kuchelbader Schlacht“27 nicht nur die erste „Sympathiekundgebung für die deut¬ schen Kommilitonen Prags“ darstellte, sondern zugleich auch mit Stim¬ menmehrheit den Beschluß faßte, in corpore dem kurz zuvor gegrün¬ deten deutsch-österreichischen Schulverein beizutreten,28 und als letzte Veranstaltungen sind hier für Ende 1908 neben der Entsendung von Vertretern zum 60jährigen Jubiläum der Prager Lese- und Rede¬ halle wiederum Sympathietelegramme und -kundgebungen für die „von den Tschechen bedrängten deutschen Studenten in Prag“29 ver¬ zeichnet; natürlich findet dazwischen auch der Festkommers zum 80. Geburtstag des F.W.V.-Ehrenmitgliedes Theodor Mommsen nach¬ drückliche Erwähnung, der allein schon durch sein politisch brisantes Datum des 30. November 1897 reichlich Anlaß bot, markige Schutzund Trutzreden in Richtung Prag zu halten,30 zusätzlich instrumentiert durch vereinigungsinterne Vorträge wie den des ehemaligen F.W.V.Bundesbruders, damaligen Alten Herrn und späteren Mitbegründers der Deutschen Demokratischen Partei Richard Otto Frankfurter mit dem sprechenden Titel „Der Kampf um die Ostmark“.31

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Ich muß es bei diesen wenigen Hindeutungen auf eine schon lange vor der eingangs zitierten „Art philosophischen Richtung Prag-Berlin“ vor¬ handene deutschliberale Bündnispolitik gleicher Richtung und Gegen¬ richtung bewenden lassen, um vor diesem Hintergrund auf Kurt Hillers Schilderung seiner Begegnung mit Max Steiner zurückzukommen, der zu diesem Zeitpunkt bereits als ein Jahr Älterer eine zweijährige Berli¬ ner Vorgeschichte als F.W.V.-Bundesbruder hinter sich hatte. Dabei empfiehlt es sich, zuvor eine Lebenserfahrungseinsicht zu rekapitu¬ lieren, die ebenso sehr zu den Binsenwahrheiten gehört, wie sie mißachtet zu werden pflegt, und die Max Brod wohl nicht zufällig sei¬ ner oben zitierten Erwähnung Max Steiners vorgeschaltet hat: „Die Jahrgänge sind ja Welten für sich - und gar Jahrgänge, die um die damals jahrhundertelange Zeit von sechs Jahren voneinander entfernt liegen.“32 Die Entfernung zwischen den Jahrgangswelten Hillers und Steiners betrug zwar nur ein Jahr, aber selbst in solcher Zeitspanne hat¬ ten größere Distanzen Platz, als sie die Fernsicht ex post erkennen läßt, Distanzen, die durch das auch in der F.W.V. praktizierte Mentorenver¬ hältnis des „Leibburschen“ zum „Leibfuchs“ noch zusätzlich institutio¬ nalisiert sein konnten. So gehörte etwa Hillers Leibbursche, der dama¬ lige F.W.V.-Präses Curt Calmon, der ihn für die Vereinigung „gekeilt“ hatte,33 dem gleichen Jahrgang 1884 an wie Max Steiner. Mit diesen Relationen im Bück sei die folgende Schilderung Hillers von seiner Begegnung mit Steiner im Dezember 1905 untersucht: „[...] ich traf ihn in der Freien Wissenschafüichen Vereinigung. Selbst von den ele¬ ganten Biertrotteln dort wurde er, der vor mir eine ähnliche Abseiter¬ und Protestlerrolle in der Verbindung gespielt hatte, mit teils nörgeln¬ der, teils ängstlicher Zurückhaltung als geistig Größter des Kreises respektiert. Sein Ton war stets ironisch, bissig, sarkastisch. Von urhaft linker Weitsicht und urhaft linkem Polito-Gefühl kam er durch Denken zu recht rechten Ergebnissen; und das war neu. Ich folgte ihm nicht in allem, doch in vielem, und er faszinierte mich mächtig. Seine drei großen Lehrer waren Kant, Schopenhauer, Karl Kraus. Ich sah und las durch ihn, wohl 1906, zum erstenmal eine Nummer der ,Fackel1. Kraus war damals 32 Jahre alt, und kaum jemand bei uns kannte auch nur sei¬ nen Namen. Prag, das österreichische, mißte von Wien natürlich weit mehr als Berlin von Wien. Mein Eindruck von dieser Nummer einer mir bislang unbekannten Zeitschrift war, weißderteufel, kein geringer. Daß ich viel Jahre später im Berliner Cafe des Westens Kraus persön¬ lich kennenlernen und von ihm zur Mitarbeit eingeladen werden wurde, konnte Steiner nicht ahnen, noch ich. Hätte uns das wer prophezeit, wir würden ihn beide ausgelacht haben.“34

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Diese Mitteilung, so wichtig und aufschlußreich sie für die Frühphase der Berliner Wirkungsgeschichte der „Fackel“ in der „intellektuellen Partei“ der F.W.V. und dann vor allem bei den Mitgliedern des Neuen Clubs auch ist und so richtig sie zudem die Schlüsselfunktion des Pra¬ gers Max Steiner für diesen Vermittlungsprozeß auch betont, sie ist dennoch unvollständig, weil sie einen Sachverhalt nicht berücksich¬ tigen kann, den Hiller von seinem Freund offensichtlich nie erfahren hat: daß dieser nämlich, wie ich nachweisen konnte, bereits spätestens 1905 mit mindestens zwei von Karl Kraus in extenso abgedruckten Zuschriften in der „Fackel“ vertreten war.35 Ob diese von Steiner beobachtete strikte Verschwiegenheit als Symptom des von Hiller diagnostizierten „Hasses gegen Auszeichnungen“ zu wer¬ ten ist, mag dahingestellt bleiben; sicherlich aber als ein weiterer Beleg für jenes „Pathos der Distanz“, das die Haltung dieses „Einsiedlers“36, dieses „Eremiten“37 auch zu den Menschen seiner nächsten Umgebung beherrschte. Festgehalten zu werden verdient jedenfalls gerade in unse¬ rem Kontext, daß diese Zuschriften vom Februar und vom April 1905 die ersten zweifelsfrei attribuierbaren „Fackel“-Beiträge von jungen bzw. angehenden Prager Autoren der Kafka-, Brod- und Kisch-Generation darstellen und daß beide aus Berlin kamen, ein Umstand, der in der ein¬ leitenden Anmerkung des Herausgebers zur ersten, einer Verwahrung gegen psychiatrische Versuche, den Fall Weininger per Ferndiagnose nachträglich zu pathologisieren, ausdrücklich vermerkt ist: „[...] die fol¬ gende Zeitschrift, die mir ein Berliner Leser sendet und die die Empörung geschmackvoller Menschen gegen den immer erneuten Ver¬ such bekundet, dem Genie die Zwangsjacke anzulegen“ (F 176, 22). Sekundiert dergestalt diese erste Zuschrift einem seit dem Selbstmord Weiningers im Oktober 1903 virulenten „Fackel“-Leitthema polemi¬ scher Abwehr, so verstärkt die zweite, bereits mit den Initialen M.S. aus¬ gewiesene Zuschrift vom April 1905 ein Leitthema polemisch-satiri¬ scher Aggression, gerichtet gegen die Wiener Publizität Ellen Keys, der „schwedischen Masseuse europäischer Seelenverfettung“ (F 179, 13), wie sie von Karl Kraus mit unmißverständlich antifeministischem Sar¬ kasmus tituliert wird. Max Steiner, der mit seinem Brief erklärtermaßen die Absicht verfolgt, dem Herausgeber der „Fackel“ einige Einzelheiten anzuführen, die „als Beweis für die Richtigkeit Ihrer Ansicht dienen könnten, falls es eines solchen Beweises noch bedürfte“ (ebd.), grup¬ piert diese Einzelheiten um ein weiteres Leitthema der Fackel, die kul¬ turkritisch intendierte Antithese „Wien und Berlin“ (ebd.), zu welcher er im Kontext der Zeitschrift einen der frühesten prinzipiellen Beiträ¬ ge darstellt, wobei, verkürzt gesprochen, ein an Prager Autoren der

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Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

Vorkriegszeit auch sonst nicht selten zu beobachtender, relativ berlinophiler Anti-Wien-Affekt deutlich hervortritt, wie ihn z. B. auch Max Brod artikulierte, wenn er 1911 im Berliner „Pan“ von dem ihm so ver¬ haßten Wienerischen sprach.38 Aus dem Kontrast, daß die „Seelenvollheit“ (F 178, 1; F 179, 13)39 Ellen Keys von der extrem linken bis zur extrem rechten Presse Wiens prinzipienlos verherrlicht, in Berlin dage¬ gen auf gleicher Bandbreite mit intellektueller Konsequenz kritisiert wurde, zieht Steiner das polemisch-satirische Fazit: ,„Wien und Berlin1. Zwei scharfe Gegensätze. In Allem, auch in unserer Frage. [...] Es ist merkwürdig. So uneinig die Österreicher in nationaler Beziehung sein mögen, in ihrer Urteilslosigkeit sind sie rührend verschwägert. [...] Eher gibt es keine Unterschiede. Keine Rechte oder Linke; das Urteil fehlt. [...] Hier gibt es weder Sozialdemokraten von der Entschieden¬ heit eines Liebknecht noch Konservative von der Unduldsamkeit eines Manteuffel. In Österreich ist alles .liberal1. Man kennt keinen Stand¬ punkt, auf welchem man sich verschanzt, man kennt nur Gemeinplät¬ ze, auf denen geschachert wird. Da wird jede Ansicht zur Modekrank¬ heit und jede Narrheit zum geduldeten Prinzip ... ,Sie sind noch nicht einmal flach ...“‘ (F 179, 13-15). Der letzte Satz ist Zitat, Adaptation des 27. der „Sprüche und Pfeile“ aus Nietzsches „Götzen-Dämmerung“: „Man hält das Weib für tief - warum? Weil man nie bei ihm auf den Grund kommt! Das Weib ist noch nicht einmal flach.“40 Nachdem die¬ ses Aphorisma mit der Berufung Ellen Keys auf seinen Verfasser kon¬ trastiert worden ist, wird es nun als Abschlußpointe zur Kennzeichnung liberaler

Mentalität

auf

die

Wiener

und

ihre

Meinungsführer

umgemünzt. Die Weiningerschen Implikationen und die „Fackel“-Kon¬ formitäten eines solchen Analogisierens liegen zu klar auf der Hand, als daß sie vor diesem Kreis erst dargelegt werden müßten.41 Ich muß es mir gleichfalls versagen, darf es mir in diesem Rahmen aber auch ersparen, die beiden zu Lebzeiten des Verfassers veröffentlichten Bücher Max Steiners ausführlicher zu interpretieren, die im Sommer 1905 publizierte „kritische Untersuchung“ mit dem sprechenden Titel „Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums“42 und die im Sommer 1908 in zwei aufeinanderfolgenden Auflagen erschienene Schrift „Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge zu einem systematischen Ausbau des Naturalismus“43. Ich erlaube mir, diese not¬ gedrungene Auslassung durch den Hinweis darauf zu rechtferügen, daß Kurt Hiller in seinen drei MaX-Steiner-Essays von 1911 und 1912 Gehalt und Bedeutung dieser Werke zureichend und zutreffend cha¬ rakterisiert hat44 und daß die gedanklichen Zentralthemen dieser Bücher auch in den Parerga und Paralipomena des Ende 1911 erschie-

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

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nenen Nachlaßbandes „Die Welt der Aufklärung“45 zur Sprache kom¬ men, von dem noch die Rede sein soll. Lassen Sie mich vielmehr statt dessen noch einmal zurücklenken auf Max Steiners Wirken und Wirksamkeit in der F.W.V., der „einzigen Men¬ schengruppe, der er sich zugesellt hatte“,46 wie Hiller betont. Als Zeit der aktiven Mitgliedschaft Steiners dürften im wesendichen die vier Jahre von 1904 bis 1907 zu bezeichnen sein, also die Jahre der Entstehung der „Rückständigkeit des modernen Freidenkertum“ und der „Lehre Dar¬ wins in ihren letzten Folgen“, deren Vorwort vom August 1907 datiert ist, zu welchem Zeitpunkt auch Kurt Hiller seine im März 1908 veröffent¬ lichte Dissertation, die strafrechtsphilosophische Studie „Das Recht über sich selbst“, abgeschlossen hatte.47 De facto gehörte Steiner nach Hillers Zeugnis seit 1907 der F.W.V. nicht mehr an.48 Wenn man die im Nach¬ laßband aus dieser Zeit überlieferten Reden und Aufsätze sowie die The¬ men der in der Vortragsstatistik der F.W.V.-Chronik registrierten Refera¬ te des Bundesbruders Steiner im Kontext des geistigen Milieus der Vereinigung Revue passieren läßt, dann findet man kaum ein Problem, bei dem man nicht nachweisen kann oder voraussetzen darf, daß Steiner es auf ganz bewußt polemische Weise radikal kontrovers zum liberalen Milieu und Konsensus der Mehrheit der Bundesbrüder wie der Alten Herren traktiert hat. Wie Steiner, der offensichtlich als der ÖsterreichExperte der Vereinigung galt, 1904 zu dem Thema „Die österreichische Frage“ und 1906 über die „Wahlrechtsreform in Österreich-Ungarn“ gesprochen haben mag,49 läßt sich nicht nur mit ziemlicher Sicherheit aus der oben zitierten Probe zur Antithese Wien/Berlin, sondern dar¬ über hinaus mit absoluter Gewißheit auch aus dem im Nachlaßband abgedruckten Aufsatz „Das Ende des österreichischen Liberalismus“ erschließen, der zuerst in den „Wissenschaftlichen Beigaben“ zum Dezemberheft 1907 der „Monatsberichte der F.W.V.“ erschienen und an treffsicher sarkastischem antiliberalem Hohn kaum zu überbieten ist.50 Der Aufsatz „Der Student als Erzieher“ ist eine scharf antiliberale Kritik des gleichnamigen Vortrags, den der ältere Bundesbruder und stud. med. J. Rubin 1905 in der F.W.V. gehalten hatte;51 aus dieser Replik nur eine

kleine

Probe

davon, was

hier einem

Publikum von

„guten

F.W.V.em“, die nach Steiner die liberalen „Fundamentaldogmen [...] schon vom väterlichen Mittagstisch auf die Kneipe“52 mitgebracht hatten, an Fortschrittslästerlichem zugemutet wurde: „Baco von Verulam sagt einmal, ein wenig Philosophie führe von der Religion weg, mehr Philo¬ sophie zu der Religion zurück. Dieser Satz gilt mutatis mutandis fast von jeder Art der Aufklärung. Nicht zum geringsten von der politischen. Kon¬ servativ und klerikal sind die Ganz-Dummen und die Sehr-Klugen. Der

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Demokratie und dem Liberalismus gehören die Halbbildung und der gei¬ stige Mittelstand an. [...] Echte Aufklärung hat niemand mehr zu fürch¬ ten als die Freigeisterei ...“53 Beispiele für die konstant antiliberale Ten¬ denz solcher Kontroversbezüge ließen sich fast beliebig vermehren. Ich verzichte auch darauf, um auf die über Hillers eigene Gedächtnis¬ protokolle hinaus aus den Quellen ablesbaren Wechselbeziehungen zwischen ihm und Steiner während ihrer gemeinsamen F.W.V.-Zeit, also in den Jahren 1905 bis 1907 bzw. 1908, etwas genauer einzugehen. Sie fällt weithin zusammen mit der Entstehungszeit des Steinerschen Darwin-Buches und der Hillerschen Dissertation: zwei Werken, deren inter- und überdisziplinäre geistige Zusammengehörigkeit noch im Anzeigenteil des Nachlaßbandes von 1911 programmatisch demon¬ striert erscheint: Er verzeichnet auf vier Seiten ausschließlich Druck¬ erzeugnisse des Steiner-Verlegers Ernst Hofmann & Co., mit einer gewichtigen Ausnahme, eben der Hillerschen Dissertation „Das Recht über sich selbst“, die auf der gleichen, nämlich der ersten Anzeigen¬ seite mit dem Max-Steiner-Titel „Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen“ zusammengestellt dargeboten wird.54 Analoge Konvergenzen und Wechselergänzungen spiegeln sich auch in der Vortragschronik der Vereinigung: Steiner referiert über das rechtsphilosophische Thema „Haben wir ein Recht zu strafen?“,55 Hiller hält 1908 einen Vor¬ trag „Uber den Darwinismus in seinen letzten Folgen“,56 der die Grund¬ lagen seines späteren Steiner-Essays bereits enthalten haben dürfte. Darüber hinaus ist in Hillers strafrechtsphilosophischer Studie von 1908 „Das Recht über sich selbst“ Steiner mit seiner Untersuchung über die „Rückständigkeit des modernen Freidenkertums“ der einzige Generationsgenosse und jüngste Autor, der nicht nur im Literaturver¬ zeichnis angeführt, sondern auch im Text als Autorität zitiert wird, und zwar zur Kritik des Axioms der vermeintlichen Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft5' sowie - als Stütze der Widerlegung von Argumenten gegen die Straffreiheit von Homosexualverkehr - zur Kennzeichnung der These, „daß die Fortpflanzung der Menschheit etwas Gutes sei“, als unbewiesenes und unbeweisbares optimistisches Dogma.58 Bei beiden Problemkomplexen hätte sich ebensogut, ja vielfach noch besser oder aber auch zusätzlich mit „Fackel“-Zitaten argumentieren lassen, wie ja überhaupt die strafrechtsphilosophische Fragestellung der Hillerschen Studie mit der von Aufsätzen aus dem Einzugsbereich des Bandes „Sitt¬ lichkeit und Kriminalität“ so gut wie völlig identisch ist. Daß solche aus¬ drücklichen Bezüge fehlen, legt die Vermutung nahe, daß die Wirkung der oben erwähnten und auf 1906 datierten „Fackel “-Initiation Hillers durch Steiner noch nicht sehr nachhaltig gewesen sein dürfte.59

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Fast gleichzeitig mit diesen sozusagen Dioskurenwerken Hillers und Steiners, ebenfalls in der ersten Jahreshälfte 1908, ebenfalls in zwei kurz aufeinanderfolgenden Auflagen, hat Max Steiners ehemaliger Mitschüler Max Brod seinen ersten Roman vorgelegt, „Schloß Nornepygge“, mit dem doppeldeutigen Untertitel „Der Roman des Indiffe¬ renten“.60 Die Bedeutung dieses Buches für den Berliner Frühexpres¬ sionismus zumal im Umkreis des „Neuen Clubs“ haben Paul Raabe, Margarita Pazi und Richard Sheppard gebührend hervorgehoben.61 Hier sei lediglich die Aufmerksamkeit auf den kaum beachteten Umstand gelenkt, daß in Kurt Hillers Interpretationsmodell des Romans und seines Protagonisten Wälder Nornepygge dessen intellek¬ tuelle Physiognomie und die Max Steiners so ineinandergeblendet erscheinen, daß sie in zunehmendem Grade bis zur wechselseitigen Austauschbarkeit miteinander verschmelzen. Auf die polemischen Konsequenzen dieser Deutung wird noch zurückzukommen sein. In dem an der Jahreswende 1910/11 in Berlin mit Vehemenz ausbre¬ chenden polemischen bellum omnium contra omnes - als Streitgegen¬ stände seien nur stichwortartig ohne jeden Anspruch auf Vollständig¬ keit und Filiation die Konfrontation Kerr/Jagow, Kraus/Kerr sowie die Reaktionen auf die Ende 1910 erschienene Schrift „Heine und die Fol¬ gen“ genannt62 - begann der im Juli 1910 freiwillig aus dem Leben geschiedene Max Steiner - nicht zuletzt durch die publizistische und editorische Aktivität Kurt Hillers - postum seine stärkste Wirkung als Nachwirkung zu entfalten. Es begann damit, daß Max Steiner der unmittelbare Anlaß zur Grün¬ dung der .Aktion“ wurde, und zwar durch so etwas wie einen „Gru¬ benhund“.63 In der von dem in der Bewegung des von Steiner sar¬ kastisch demontierten modernen Freidenkertums stark engagierten Charlottenburger Frauenarzt Dr. Georg Zepler herausgegebenen, Anfang 1911 von Franz Pfemfert redigierten Wochenschrift „Der Demokrat“, in der Mitglieder des „Neuen Clubs“ zwar publizierten, sie zugleich jedoch intern wie Erwin Loewenson als „Mistblatt für Demo¬ kratie und Lächerlichkeit“64 verhöhnten, hatte Kurt Hiller am 1. Feb¬ ruar 1911 unter dem Titel „Max Steiner“ den ersten Gedenkartikel für seinen toten Freund veröffentlicht.65 Es muß für den mit populären Broschüren zur sexuellen Aufklärung der Jugend unter suggestiven Titeln wie „Los vom Storch!“ hervorgetretenen Herausgeber66 ein eigenartiges Erlebnis gewesen sein, in seinem eigenen Blatt es als eines der nicht geringen Verdienste des toten Max Steiner gerühmt zu fin¬ den, „die volkstümliche Freigeisterei [...] mit wirklich freiem Geiste abgetan zu haben“67. Er reinigte sich denn auch gleich im nächsten

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Heft mit einem Artikel „Gegen Max Steiner“68 von dem Verdacht, die Aufnahme „des ominösen Artikels des Herrn Dr. Hiller“69 gebilligt zu haben. Das bedeutete nichts geringeres als eine Desavouierung des Chefredakteurs Franz Pfemfert, der daraus die Konsequenz der Kündi¬ gung zog und noch im gleichen Monat das erste Heft seiner neuen Zeit¬ schrift „Die Aktion“ erscheinen ließ, die Hillers „Offenen Brief an Dr. Georg Zepler“70 enthält. Bald danach setzte bei Hiller ein Prozeß zunehmender Distanzierung von Max Brod ein, den er 1913 unter der Überschrift „Stadien einer Enttäuschung“ resümierte71 und von dem im Mai 1911 erschienenen Roman

Jüdinnen“ an datierte.72 Offene Artikulation fand diese

Distanz in der den Ende 1911 erschienenen Nachlaßband einleitenden Max-Steiner-Studie, wo mit bitterem Sarkasmus von solchen die Rede ist, denen die zureichende Vitalität gegeben

sei,

sich

„aus den

Schrecken der Skepsis“71 in die Psychose objektivierender Beschrei¬ bungsseligkeit zu retten: „Der Prager Dichter Max Brod (ich bringe absichtlich ein durch Deutlichkeit wie durch Gegenwärtigkeit ausge¬ zeichnetes Beispiel) hat diese Vitalität besessen; man vergleiche nur ,Schloß Nornepygge', diesen aufwühlenden Roman eines moralisch gesonnenen Skeptikers, mit den neuesten, auch essayistischen, Ver¬ öffentlichungen des sachlich, objektiv, deskriptiv gewordenen Dich¬ ters

Max Steiner, sein Landsmann und Altersgenosse, besaß die Kraft

nicht.“74 Das steht am Beginn der Einleitung und wird an deren Ende bei der Erörterung möglicher Motive für Steiners Selbstmord noch einmal mit Nachdruck aufgenommen: „Mögen immer die zünftigen Seelenkenner von .motivlosem Selbstmord' reden: Steiner starb aus geistigem Grund. Er ist der unterwerfunggebietende und rührende Heros einer ungeschriebenen, sehr geistigen Dichtung. Auch Wälder Nornepygge, der Held der vielleicht tiefsten, bestimmt zerebralsten75 Erzählung

des Jahrhundertbeginns,

tötet

sich

aus

Ziellosigkeit,

,Stil‘losigkeit, philosophischem Entsetzen. Sein Dichter allerdings lebt fort und deskribiert Details. Max Steiner hat Ernst gemacht “76 Hillersche Prosastücke wie „Der Eth“, vorgetragen vom Verfasser zur Eröffnung des 4. Neopathetischen Cabarets am 9. Dezember 1910,77 zu dessen Zuhörern auch Karl Kraus gehörte,78 abgedruckt im gleichen Monat in Herwarth Waldens „Sturm“,79 ferner „Seine Stellung zur Metaphysik“ Hißer-s erster und einziger Beitrag für „Die Fackel“ vom 31 Marz 1911, Teleologen

und schließlich die unter dem Sondertitel „Onto- und

in den im Herbst 1913 erschienenen Sammelband „Die

eis eit der Langenweile“ übernommene und dort bewußt in un-

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

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mittelbarem Anschluß an den Abschnitt „Max Brod (Stadien einer Enttäuschung)“ plazierte Einleitung zum Max-Steiner-Nachlaßband81 sie alle bilden eine auf die Konzeption des „Aktivismus“ zuführende thematische Reihe, in deren Hintergrund Max Steiner als ungenannte Modell-Bezugsfigur erkennbar wird: Max Steiner ist das Urbild des „Ethen“, der als Oppositionstypus zum .Ästheten“ terminologisch kre¬ iert und begrifflich definiert wird;82 Max Steiners Abwertung kontem¬ plativer Welt-Anschauung zugunsten postulativer Welt-Wollung ist es, was in dem gleichnamigen „Fackel“-Beitrag als „Seine Stellung zur Metaphysik“ charakterisiert erscheint; und schließlich erweist sich Max Steiner als das Urbild jenes auf das Seinsollende gerichteten Teleologen-Typus, dem der auf die Beherrschung des Seienden gerichtete Ontologen-Typus entgegengestellt wird, der sich für Hiller in Georg Simmels Wendung zum Relativismus und Max Brods Wendung zum Deskriptivismus manifestiert. Gegenüber der hinter allen Vorbehalten doch erkennbaren Tendenz Richard Sheppards, die geistige Entwick¬ lung Kurt Hillers zwischen 1910 und 1914 nicht zuletzt auch als einen Prozeß zunehmender Emanzipation von der intellektuellen Autorität Max Steiners zu interpretieren, ist neben Berücksichtigung dieser eben angedeuteten thematischen Konstante der Hinweis angebracht, daß auf der letzten freien Seite nach dem Register zu der zweibändigen Sammlung „Die Weisheit der Langenweile“ nicht, wie zu erwarten, Titel des Kurt Wolff Verlags angezeigt sind, sondern auf typographisch markante Weise „Die Bücher von Max Steiner“, die damit nicht als kommerzielles Angebot, sondern als kanonische Elementarwerke zum Verständnis des vorangegangenen Textes erscheinen.83 Mit solchem Nachdruck an „Die Bücher von Max Steiner“, nämlich an alle drei als in sich stimmiges Gesamtwerk, zu erinnern, bestand 1913 begründeter Anlaß, da die ersten beiden, „Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums“ und die „Lehre Darwins in ihren letzten Folgen“, nach ihrem Erscheinen 1905 und 1908 zunächst fast nur im Cönakel der intellektuellen Partei der F.W.V. und dann des „Neuen Clubs“ Leser gefunden hatten, deren Interesse nicht primär den natur¬ wissenschaftlichen Anlässen der Darstellung, sondern vor allem dieser selbst und den in ihr aufgeworfenen erkenntnistheoretischen und ethi¬ schen Problemen galt. Darüber hinaus hatten sie eigentlich nur auf dezidiert katholischer Seite eine ebenso wohlwollende wie verständnis¬ lose Zustimmung gefunden,84 während die Vorbehalte der Fachgelehr¬ ten sich nicht zuletzt auch in dem Verdacht äußerten, sie seien zu gut geschrieben, um für seriöse naturwissenschaftliche Untersuchungen gehen zu können. So ergeben etwa bei dem Rezensenten des Braun-

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Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

Schweiger „Zentralblatts für Anthropologie“ antitheoretisches Ressen¬ timent und widerstrebender Respekt 1908 folgende aparte Legierung: „Vom hohen philosophischen Roß herab predigt er der Naturwissen¬ schaft ihre Inferiorität. [...] Im ganzen würde das in einem glänzenden Stil geschriebene Buch jedem talentvollen Jesuiten Ehre machen.“85 Erst nach Veröffentlichung des Nachlaßbandes wurde Steiners geisti¬ ges Vermächtnis im Laufe des Jahres 1912 nicht nur Gegenstand, son¬ dern auch Bestandteil eines universellen weltanschaulichen und litera¬ rischen Diskurses, nicht zuletzt in den jungen

Zeitschriften der

frühexpressionistischen Bewegung. Kurt Hiller stellte seinen verstorbe¬ nen Freund, den „Prager Max Steiner“, im Februar 1912 in der „Neuen Rundschau“ vor,86 im August 1912 unter dem Pseudonym Christian Vogel auch in der .Aktion“;87 die Prager „Herder-Blätter“ hatten „Die Welt der Aufklärung“ schon in ihrem zweiten Heft vom Februar 1912 angezeigt, im gleichen Heft, das Hillers reservierte Paraphrase zu Brods Jüdinnen“ enthält;88 in drei aufeinanderfolgenden Heften vom April und Mai 1912 bringt der „Sturm“ mit Salomo Friedlaenders umfang¬ reicher Studie über die „Welt der Aufklärung“ die wohl eindringlichste Analyse des Werkes und zugleich die exakteste geistige Standort¬ bestimmung des Autors;89 unmittelbar darauf, im März 1912, versieht Karl Kraus in der „Fackel“ extrem antiliberale und, wie er später beken¬ nen wird, „erzreaktionäre

Schopenhauer-Zitate mit der ausdrück¬

lichen Quellenangabe: „man findet dieses und andere Zitate, durch die sich der liberale Glaube nicht beirren läßt, in Max Steiners .Weit der Aufklärung“1 (F 343, 34);90 und im Oktober 1912 schließt sich dieser stattlichen Reihe affirmativer Berufungen und rühmender Würdigun¬ gen auch der Innsbrucker „Brenner“ mit einer Besprechung der „Welt der Aufklärung“ von Alfred Bach an, die nicht nur dem „Werk des schöpferischen Philosophen gilt, sondern auch der „originalen Zucht, Kraft, Energie (dabei Behendigkeit: Elastizität) dieser Sprache“, der „schneidenden Schärfe, Klarheit, Deutlichkeit dieser sprachverbundenen Polemik“:91 Qualitätsmerkmalen eines Begriffs von Kunstprosa und Prosakunst, die auch für die im Berliner Kreis um Kurt Hiller und den „Neuen Club“ erschlossene und gepflegte Tradition dessen, was man die „Kunst erörternder Prosa“92 nannte und mit Namen wie Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Kerr und Kraus verknüpfte - Stei¬ ner hatte hier Kerr gestrichen und Kant eingefügt -, einen außerordentlich hohen Rang einnahmen. Lassen Sie mich an dieser Stelle an den notgedrungen äußerst knappen Abriß der zeitgenössischen Wirkung oder vielmehr Nachwirkung eines „Tragikers der Erkenntnis“98, wie Salomo Friedlaender ihn genannt

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hat, einen Fall von verdeckter Spätwirkung anschließen, der so etwas wie das einer Tragödie korrespondierende Satyrspiel darstellt und mit dem Namen eines weiteren Berliners aus Prag verknüpft ist, von dem hier die Rede war. Im Februar des Jahres 1930, dem Erscheinungsjahr von Theodor Lessings vielzitiertem Buch „Der jüdische Selbsthaß“, in dem eine der sechs exemplifizierenden Lebensgeschichten neben denen von Paul Ree, Otto Weininger, Arthur Trebitsch, Walter Cale und Maximilian Harden auch die Max Steiners ist,94 richtete Willy Haas jenen Brief an den Verlag der „Fackel“, der dann die satirische Lawine des berühmten „Briefwechsels mit der ,Literarischen Welf“ ausgelöst hat (L 838, 13-39). Das zweite der beiden Desiderata dieses Briefes ist das folgende: „In der Fackel ist einmal ein Zitat aus den Briefen oder Tagebüchern

Schopenhauers

veröffentlicht worden,

in

welchem

Schopenhauer schildert, wie die Kroaten [- hier sei aus themenbe¬ züglichem

Lokalpatriotismus

korrigierend

eingeschaltet,

daß

bei

Schopenhauer nicht von Kroaten, sondern von „blauhosigen Stock¬ böhmen“ die Rede ist, KK95] in Frankfurt a. M. im Jahre 1849 auf der Straße gegen die Bevölkerung schießen und dabei auch in das Haus Schopenhauers eindringen, um vom Fenster hinab zu feuern. Scho¬ penhauer teilt in dieser Notiz mit, daß er den kroatischen Soldaten durch seine Magd einen Feldstecher leihen ließ. Es wird Ihnen an der Hand Ihrer Generalregister zweifellos möglich sein, diese Nummer der ,Fackel“ nachzuweisen und vielleicht auch nachzuliefern“ (F 838, 13). Als der Leiter der „Literarischen Welt“ diese Bitte aussprach und mit der Ansicht begründete, über die politischen Wandlungen des Heraus¬ gebers der „Fackel“ „sozusagen ,Inventur zu machen““ (F 838, 22), war ihm wohl offensichtlich etwas entfallen, und er konnte von Glück reden, daß es auch seinem Adressaten offenbar nicht als zusätzliches satirisches Motiv eingefallen ist, daß nämlich das gesuchte Schopen¬ hauer-Zitat einbekanntermaßen einem Buch entnommen war, das unmittelbar vor dieser Übernahme die von Willy Haas redaktionell mit¬ verantworteten „Herder-Blätter“ ihren Lesern, zu denen nachweislich auch Karl Kraus gehörte, nachdrücklich empfohlen hatten: der „Welt der Aufklärung“ von Max Steiner. Es hätte sich also empfohlen, der „Inventur“ eine Selbstinventur vorangehen zu lassen. Meine Damen und Herren, Sie werden nach diesem ersten Versuch einer Wiedereinfügung Max Steiners in den geistes- und literaturge¬ schichtlichen Kontext dessen, was eingangs mit dem unbezahlbaren Kürzel „eine Art philosophische Richtung Prag-Berlin“ beschworen worden ist, Sie werden danach nicht noch eine Gesamtwertung des

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Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

Steinerschen CEuvres von mir erwarten oder auch nur eine Analyse der materialen Gehalte seines Philosophierens. Ich begnüge mich mit Andeutungen dessen, was man zu Steiners Lebzeiten als „Denkstil“ zu bezeichnen begann. Wohl keine von den freilich nicht allzu zahlreichen Aussagen, die über Max Steiners Persönlichkeit und Werk jemals gemacht worden sind, wird man vollständig zur Kenntnis nehmen können, ohne irgendwann auf den Begriff Skepsis zu stoßen oder auf eine Variante aus der glei¬ chen Wortfamilie. Diese Skepsis ist bei Steiner nie dogmatisch, sondern stets funktional kritisch. Bereits in seinem ersten Buch findet man 1905 in eindringlichem Sperrdruck einen Satz aus der „Kritik der reinen Vernunft“ zitiert, der in der Tat für Steiners Denkweise konstitutiv und regulativ ist: „Das ist der große Nutzen, den die skeptische Art hat, die Fragen zu behandeln, welche reine Vernunft an reine Vernunft tut, und wodurch man eines großen dogmatischen Wustes mit wenig Auf¬ wand überhoben sein kann, um an dessen Statt eine nüchterne Kritik zu setzen, die als eine wahres Kathartikon den Wahn zusamt seinem Gefolge, der Vielwisserei, glücklich abführt.“96 Diese Kritik ist wesentlich immanente Kritik in dem prägnanten Sinne, den Adorno an Kraus herausgearbeitet97 und Kraus selbst an juristi¬ schem Material als ein Verfahren beschrieben hat, das „die bestehende Rechtsordnung nicht negiert, sondern interpretiert“98, das heißt, die logischen Konsequenzen aus ihren eigenen Prämissen zieht. Die For¬ mulierung des gleichen Prinzips lautet bei Steiner: „es gibt Theorien, die man nicht heftiger angreifen kann als dadurch, daß man sie voll¬ ständig entwickelt.“99 Nichts anderes tut, wie schon der Titel andeutet, „Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen“, indem sie, wie der Unter¬ titel präzisiert, „Beiträge zu einem systematischen Ausbau des Natura¬ lismus“ leistet. Zur Charakteristik der Energie dieser skeptischen Art immanenter Kri¬ tik stoßt man nicht nur vereinzelt auf eine ungewöhnliche Wortverbin¬ dung, die mich an meinen verehrten Lehrer Victor Klemperer denken ließ. In dessen unschätzbarem Werk „LTI. Notizbuch eines Philologen“ tragt das IX. Kapitel die Überschrift „Fanatisch“, und in der sprachkritischen Erörterung dieses LTI-Worts kann man den Satz lesen: „Nie¬ mals vor dem Dritten Reich wäre es jemandem eingefallen, fanatisch als positives Wertwort zu gebrauchen.“100 Nicht nur Kurt Hiller hätte dar¬ auf frei nach Lessing entgegnen können: „Ich bin dieser Niemand.“ Für Hiller war das Darwin-Buch „eines der skeptischsten und zugleich fanatischsten Bücher, die es überhaupt gibt“101, Envin Loewenson sprach 1909 in seinem .Aufruf des Neuen Clubs“, ebenfalls in Zusam-

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menhang mit Max Steiner, vom „fanatischen Skeptiker“102. Im Mai 1908 veröffentlichte Kraus in der „Fackel“ Otto Stoessls Essay „Der Skep¬ tiker“ (F 254, 25-32), einen Beitrag, den er besonders geschätzt hat,103 was ihn jedoch nicht davon abhielt, im Juni 1911 gleichsam als Pendant auch den Aufsatz „Der Fanatiker“ von Abraham Schwadron abzu¬ drucken (F 324, 40-44); bei beiden Arbeiten handelt es sich um posi¬ tive Typologien, beide Überschriften sind, um mit Klemperer zu spre¬ chen, als „positive Wertworte“ gebraucht. Ohne Ausführungsanspruch sei hier das scheinparadoxe Oxymoron vom „fanatischen Skeptiker“ als heuristische lnterpretationsformel angeboten, der in weiterem Text¬ material nachzugehen sich lohnen könnte. Ich breche ab, um im Zeichen der ominösen „philosophischen Rich¬ tung Prag-Berlin“ auf die eingangs zitierte Hillersche Ideologenschelte des „philosophatschenden Kroppzeugs“ zurückzukommen und zu prü¬ fen, ob und welch ein rationeller Kern in ihr enthalten sein könnte. Steiner hat mit dem, was von ihm überliefert ist, das Werk der vierzehn Gescholtenen gewiß nicht überflüssig gemacht, aber er darf doch in gewissen Punkten Prioritäten für sich beanspruchen. Die Aporien linearen Fortschrittsdenkens, die seit der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno zu ideologiekritischen Gemeinplätzen geworden sind, in Steiners Texten findet man sie bereits mit jenem Instrumentarium immanenter Kritik und dem Duktus „fanatischer Skepsis“ beschrieben, dessen intellektuelle Schärfe und polemischer Schliff sich nicht zuletzt der „Fackel“ verdanken. Dem allzu rasch erho¬ benen Vorwurf der Anti- oder Gegenaufklärung - nomina sunt odiosa - wäre schon damals entgegenzuhalten gewesen, was Steiner in einer „Selbstanzeige“ seines Erstlingswerks von 1905 als die Absicht dieses Buches mit Worten charakterisierte, die man ebenfalls im Nachla߬ band finden kann: Nicht dogmatische Gegenaufklärung biete diese Schrift, sondern - in unausgesprochener Analogie zu Intentionen des jungen Friedrich Schlegel -

„Aufklärung über die Aufklärung“.104 Diese

Forderung, daß als aufgeklärt sich verstehendes Denken auch und gerade im Namen wahrer Aufklärung sich bedingungslos und konse¬ quent dem kritischen Imperativ intellektueller Redlichkeit und Kon¬ sequenz zu unterwerfen habe, war schon 1901 in der polemischen Feststellung der „Fackel“ impliziert: „Geschichtskenntnis ohne Ge¬ schichtserkenntnis: es gibt keine tiefere Unbildung, als die sich hierin äußert. Aber solche Seichtigkeit des Denkens beherrscht immerzu das öffentliche Feben einer Zeit, der die Einsicht abhanden gekommen ist, dass die Fogik der Ethik, d.i. dem logisch Denkenwollen, entspringt“ (F 70, 7).

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Salomo Friedlaenders Steiner-Studie schließt mit dem Satz: „Max Stei¬ ner hat dadurch, daß er die schlechten Freigeister an den Pranger sei¬ ner Logik stellte, den Geist echter befreit.“105 Er hat mit logischem Radikalismus und ethischem Extremismus - Begriffen, die er keines¬ wegs als Schimpfworte empfunden hätte106 - den Weg freigemacht für Lösungsversuche wie Salomo Friedlaenders eigene „Schöpferische Indifferenz“ von 1918,107 ein Buch, das Walter Benjamin sehr geschätzt hat,108 - und nicht zuletzt für ein Werk, mit dem wir nicht nur geogra¬ phisch wieder von Berlin nach Prag zurückkehren, sondern auch bio¬ graphisch zu einem Kindheits- und Schulgefährten Max Steiners, zu Felix Weltsch und einer seiner Schriften, der er Ende 1936 mit höch¬ ster zeitgeschichtlicher Legitimation den Titel geben konnte: „Das Wagnis der Mitte“109.

„Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“ Satirische Parodie einer hymnischen Kontrafaktur

Für Pavel Trost

Pavel Trost hat 1965 in seinem Beitrag zur Konferenz über die Prager deutsche Literatur den Aufbau der dichterischen Sprache des frühen Werfel untersucht und dabei nachgewiesen, daß die verschiedenen Modi der „Verbindung von Pathetik und Trivialität“1 nicht im Dienste der Absicht stehen, „zu prostituieren oder zu parodieren, sondern das Triviale ins Pathetische hineinzuheben“.2 Das geschieht mit Hilfe der Hub- und Schubkraft von „stilistischen Operatoren“3, deren Vielfalt sich genetisch keineswegs allein auf „Schillerisches“ oder speziell Jungschillerisches“ zurückführen läßt, sondern über das Einzugs¬ gebiet einer erheblich ausgedehnteren „Sprachregion“ (F 864, 59) ver¬ fügt, deren Amplitude sowohl über Schiller hinaus- als auch hinter Schiller zurückreicht. So enthält z. B. gleich das erste Gedicht des Erst¬ lingsbandes „Der Weltfreund“ den typisch klopstockischen absoluten Komparativ „o dumpfer tönende Hufe!“4. Karl Kraus hat diese Weit¬ verzweigtheit assoziativer Angeregtheits- und Filiationsmöglichkeiten auf die satirische Formel gebracht: „Wenn mich eine weltfreundliche Fee eines Morgens mit der Mitteilung weckte, daß Werfels Verse von nun an nicht mehr von Goethe, Schiller, Klopstock, Laforgue und Rilke, sondern von mir seien, - bei Gott, ich nähm’s nicht an!“ (F 484, 105). Daß dennoch zunächst und zumeist auf die Bezugsgröße des „Schillerischen“ rekurriert wurde und Werfel bald noch eindeuti¬ ger als sein Dichtungs- und Lektoratskollege Hasenclever die Rolle eines „Neo-Schiller“5 zugewiesen bekam, ja die Mischung von „Schiller und Alltagsjargon“6 geradezu als Markenzeichen für den „neuprager Ton“7 gelten konnte, daran dürfte eine Mitte November 1916 in der „Fackel“ erschienene „Parodie“ (F 445, 136) nicht unerheblichen Anteil gehabt haben: „Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“ (F 443, 26f.). Ihr unmittelbares Objekt war unverkennbar und wurde vom Parodier¬ ten selbst auch sogleich namhaft gemacht als „das Gedicht,Vater und Sohn1“8, auf welchen der Prioritätsruhm seines Dichters beruhte, als erster im Ton des „neuen Pathos“ den „Krieg der Väter und der

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.Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“

Söhne“9 hymnisch besungen zu haben. Es ist zugleich dasjenige Gedicht Werfels, das sich am unverhohlensten als Schiller-Kontrafaktur zu erkennen gibt, und zwar nicht nur im allgemeinen als „stro¬ phische“10 Tonfall-Kontrafaktur der für die „Anthologie“-Gedichte des jungen Schiller charakteristischen trochäischen Sechszeiler (mit dem verschiedendich variierten Grundmuster: zwei dreigliedrige Perioden mit doppeltem pentapodischem Vordersatz, variabel verkürztem Nach¬ satz und der Reimstellung aab ccb)11, sondern auch im besonderen als Kontrafaktur eines ganz bestimmten Gedichtes in diesem Tonfall: „Ein Vater an seinen Sohn“12 (mit je zweisilbiger Erweiterung der drei Glie¬ der in der zweiten Periode jeder Strophe). Die Intention der Kontra¬ faktur ist eindeutig kontrastiv, ihre Tendenz eine thematische Umkeh¬ rung: Von „unsern“ irdischen „Herrlichkeiten“ spricht bei Schiller der Vater auch stellvertretend für den Sohn, „wir“ und „uns“ sagt bei Wer¬ fel der Sohn auch stellvertretend für den Vater. Überdeutlich wird der direkte Bezug auf dieses bestimmte Schiller-Gedicht durch die sprachgestische Analogie des jeweiligen Einsatzes der ersten und zweiten Stro¬ phen beider Texte: „Wie die Himmelslüfte mit den

„Wie wir einst in grenzen-

R°sen

losem Lieben

Aber sieh! der Hain, der kaum entzüket

Aber weh! Der Äther ging verloren [-]“

Bemerkenswert an der Krausschen Parodie von 1916 ist nun, daß sie ganz im Gegensatz zu der dramatischen Parodie „Literatur“ von 1920 die doch so offenkundige thematische Ebene dieser Schiller-Kontra¬ faktur, die Vater-Sohn-Konstellation, explizit völlig ungenutzt läßt, um sich gänzlich auf die Parodie des „Tonfalls“ zu konzentrieren. Als des¬ sen Hauptträger auf der Ebene der Wortstellung erscheint bei Werfel ein als Brutzelle epigonischen Dichtens in Verruf geratenes, schon vor¬ her von Kraus satirisiertes13 charakteristisches Merkmal Schillerscher Verssprache, der vorangestellte Genitiv: „der Seligen Lust“ (V. 3), „des Busens Bläue“ (V. 4), Jener Waffen [...] Höllische Gewalt“ (V. 15-16), ,Aat des Tisches hauserhabenem Frieden“ (V. 18). Hinzu kommen auf der Ebene des Wortschatzes spezifisch „schillerisch“ besetzte oder mit Schiller assoziierbare Vokabeln des mythologischen Apparats der Anti¬ ke wie „Uranos“ (V. 4), .Äther“ (V. 7), „Orkus“ (V. 15, mit einer aku¬ stischen Nebenassoziation zu Goethes „An Schwager Kronos“, V. 38-39). Selbst eine Metonymie wie „Eisen“ (V. 15) dürfte in ihrer

.Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“

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Assoziationsspur auf eine exponierte Schiller-Stelle zurückzuverfolgen sein, den Anfang von Amalias erstem Lied in den „Räubern“ (II, 2)14; ein „faustischer“ Anklang wie inVers 20 („Träne auf-und niedersteigt“, vgl. „Faust“, V. 449) bleibt demgegenüber isoliert. Die sechs Strophen des Werfelschen Gedichts sind spiegelsymmetrisch angeordnet, die ersten beiden Verse der Eckstrophen 1 und 6 text¬ identisch, die durch den gleichen „Und“-Einsatz miteinander verklam¬ merten Binnenstrophen 3 und 4 mit der Transponierung in die dritte Person zugleich zu einer archetypischen Situation überhöht, deren rei¬ nes Pathos durch keinerlei „Prosaismen“ (F 484, 94) gebrochen erscheint, welche den Rahmenstrophen 1-2 und 5-6 Vorbehalten blei¬ ben. In diesen wird eine Grundsituation von geradezu exemplarischer Trivialität vorgestellt: das Mit- und Gegeneinander von Vater und Sohn am bürgerlichen Familientisch, wobei auch hier das Bestreben sichtbar wird, „das Triviale ins Pathetische hineinzuheben“, am konzentrier¬ testen wohl in dem bereits angeführten Vers 18, in dessen Schiller-Ton der Neologismus „hauserhaben“ auch dadurch integriert ist, daß hier „hocherhaben“ mitzudenken sein dürfte als „altpathetische“ Folie, von deren Aura die neupathetische Expansion des Erhabenen zersetzend zehrt. Ein solches Verfahren sowohl „wörtlich“ als auch „sprachlich“15 als ille¬ gitime, nichtauthentische Prozedur zu erweisen, ist das Hauptziel der Krausschen Parodie, die auf maximale Entmischung ausgeht, indem sie die polaren Extreme von Schiller und Alltagsjargon parodistisch über¬ spannt, das „Schillern“ bis zum wortgetreu einmontierten Verszitat, den .Alltagsjargon“ bis zu dem von Kafka registrierten „Mauscheln“16, ohne dabei das schon „strophisch“ vorgegebene einigende Band des Schiller/Werfel-Tonfalls preiszugeben. Der Titel „Elysisches“ zitiert mit einem Schillerschen Leitbegriff zugleich auch dessen Verwertung durch den „andern Schiller“ (V. 5),17 wie er sich nicht nur im Namen des frühen Dramoletts „Der Besuch aus dem Elysium“18 kundgibt, sondern auch in neopathetischen Lyrismen wie „Elysisch aufgeregt“19, der Untertitel ist natürlich eine Adaption der Schillerschen Gedichtüberschrift „Melancholie an Laura“20. Die ersten drei Strophen thematisieren die von Werfel in Personalunion verkörperte „Zwieheit“21, das später in „Literatur“ leitmotivisch paro¬ dierte Zwei-Seelen-in-einer-Brust-Syndrom als die problematische, in der Vaterstadt des „sogenannten Prager Schmocks“ (F 31, 28) als besonders „heimisch“ hingestellte Fähigkeit, nicht nur so, sondern auch anders denken und dichten zu können; „wörtlich“ durch die Simultaneität von „Neukatholischem“ und „Pantheistischem“, „sprach-

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.Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“

lieh“ durch das Nebeneinander von primär Goetheschem und primär Schillerschem Sprachmaterial: „morgendlich“, Jugendbrust“, „das Grenzenlose“ einerseits, „Triller“, „Schiller“ und „Orkus“ andererseits. Vers 3 führt mit „hingeschwellt“ eine idealtypische Werfelsche Neubil¬ dung mit dem von diesem Dichter sichtlich bevorzugten Lieblingswort „schwellen“22 ein, wahrscheinlich nicht ohne Seitenblick auf einen Pas¬ sus aus dem „Weltfreund“-Gedicht „Des Menschen Bett“, der ebenfalls einen geradezu büchmannhaften Schiller-Bezug aufweist: „Auf Gottes schöner, zarter Spur / Hinschwillt mein kleiner Spiritus, / Denn aller Erdenkreatur / Geheimste Sehnsucht ist Erguß.“23 In Positionskorre¬ spondenz zu „hingeschwellt“ als erstem Musterbeispiel für neupathe¬ tische „Machtwörter“ steht „ausgerechnet“ als erste Vokabel des spezi¬ fisch auf Prag bezogenen „Alltagsjargons“. Die zweite Strophe entfaltet und steigert das Motiv lyrischer „Versatilität“.24 Die Eingangsperiode „Aus dem Orkus in das Grenzenlose / wird gewendet eine alte Hose, / was Ergetzung schafft“ vergegenwärtigt nicht nur die Fähigkeit, auf der Schiller- wie auf der Goethe-Klaviatur mit gleicher Fertigkeit zu spielen, sie ist zugleich auch parodistischer Nachvollzug eines „ergötzlichen“ Reims aus einem der wenigen sati¬ rischen Sonette des „Weltfreund“-Bandes, „Das Gespräch“25, wo in der Tat „beinah ins Grenzenlose“ (V. 4) mit der „Demut seiner Hose“ (V. 8) wie auch mit „ins gotisch Grandiose“ (V. 1) und „mit Dulder¬ pose“ (V. 5) burlesk korrespondiert. „Der dort schaukelt auf der Mor¬ genröte zitiert eines der zahlreichen gewagten Bilder aus der von Kraus bevorzugt ausgebeuteten „Elegie auf den Tod eines Jünglings“,26 kombiniert mit dem Werfelschen „aufschaukelnd“27 aus der ZirkusMetapher des Gedichts „Große Oper“ und dem vierten Vers des unmit¬ telbaren Parodie-Objekts „Vater und Sohn“: „Schaukelten wir da durch seine Brust.“ Daß das werfelhaft „schillernde“ Schaukeln „auf der Mor¬ genröte“ lokalisiert wird, hat die Bestimmung, den fließenden Über¬ gang zum „Ton des alten Goethe“ herzustellen, zumal zu der berühm¬ ten Aussparung des Reimworts auf „Morgenröte“ im „West-östlichen Divan“.28 Der Abschlußvers der zweiten Strophe, „denn Gewure heißt auf deutsch die Kraft“, ist offenbar amphibolisch als Hin- und/oder Her-Ubersetzung intendiert, je nachdem, ob man den Hauptakzent konventionell auf „Kraft“ oder aber „elysisch aufgeregt“ auf Gewure“ legt. Eme erste thematische Engführung der beiden parallel entwickelten „Zwieheits“-Motive (Schiller/Goethe, Schiller/Alltagsjargon) erfolgt in den Versen 13-14: ,Aber besser noch sind zwo Gewuren, / denn das zeucht dann hin wie Dioskuren“, wobei mit „zeucht“ erstmals eine

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Spielart des „neuen Pathos“ satirisch parodiert wird, die „sich an For¬ men wie ,geuß‘ ergetzt“ (F 484, 95)29 und sich deshalb in der 8. Strophe in besonders exponierter Reimstellung („ergeußt“/„fleußt“) dem Spot¬ te preisgegeben sieht. Die Strophen 4 und 8 markieren mit der Wiederkehr des „Wer“-Einsatzes (der auch von Strophe 5 aufgenommen wird) den Rahmen eines Mittelteils, der das Spektrum weltanschaulicher und literarischer Versatilität breiter entfaltet. Das Mit- und Nebeneinander von „neukatholschen Christen“ und „Pantheisten“ erscheint zugleich variiert und kondensiert in der ersten Periode der 4. Strophe (V. 19-21), wobei der Vers „gar an des Olympus heiligen Stufen“ demonstriert, wie hier der Schiller-Tonfall über die Unstimmigkeit hinwegzutragen vermag, daß die assoziativ römisch-katholisch besetzten „heiligen Stufen“ (Scala Santa) dem heidnischen „Olympus“ zugeordnet werden, der reine „Prosaismus“ „unberufen“ korrespondiert mit dem .jüdisch-schillern¬ den Doppelgesicht“ (F 445, 140) der Wendung „wie das Kind im Haus“.30 Spannweite und Beliebigkeit literarischer „Bescheidwissen¬ schaft“ (F 406, 117) sind mit dem Vers „etwa zwischen Hölty und Laforgen“ (V. 23) angedeutet. Die durch Max Brod gemeinsam mit Franz Blei eingeleitete lyrische Laforgue-Rezeption war schon im April 1914 in einer Notiz der „Fackel“ satirisch glossiert worden (F 398, 20); am Beispiel der letzten Strophe des „Weltfreund“-Gedichtes „Die Freund¬ lichen“ wußte Kraus 1918 ironisch zu rühmen: „an der Echtheit dieses Hirtentons, der einen Hölty beschämt, üben sich jetzt allerorten die Berliner Literaten in Nächstenliebe“ (F 484, 102). Die erste Periode der 5. Strophe bestätigt noch einmal die relativie¬ rende Anerkennung, die Werfel 1914 als „Kindheitsvirtuose“ (F 398, 19) erfahren hatte, gerade auch in ihrer ironischen Relativität, indem sie einerseits mit der Wendung „entzückt im Flügelkleide wandelt“ an die Kindheitsnostalgie des Hölty-Tons anknüpft („Oder wandle mit mir, holde Begleiterin [= Phantasie, K. K.], / In die Tage des Flügel¬ kleids“31, andererseits aber auch schon den .Aufschwung des Dichters aus dem Kinderpark in den Kosmos“ (F 445, 136) vorzubereiten und dem „Flügelkleide“ den „schillernden“ Glanz des Verklärungsvehikels aus dem Finale der Jungfrau von Orleans“ (V. 3542) zu verleihen scheint. Der möglichen Gottgefälligkeit eines sich auf sein angestammtes Thema beschränkenden „Kindheitsvirtuosen“ wird in abermaliger Stei¬ gerung das Motiv des expansiven religiös-weltanschaulichen Synkretis¬ mus entgegengestellt, gipfelnd in der publizistischen Profanierung eines eschatologischen Vorstellungskomplexes: „und erscheinen auch

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im Jüngsten Tag1“ (V. 30, Hervorhebung K. K.). Das in Vers 29 beschworene Nebeneinander von „Kirche“ und „Sonnenternpel“ ironi¬ siert nicht nur die unterstellte neokatholisch-freisinnige Zweigleisigkeit literarischer Themen und „Verbindungen“, sondern montiert mit dem „Sonnentempel“ auch noch eine weitere Vokabel aus der Schillerschen „Elegie auf den Tod eines Jünglings“32 ein, mit der Karl Kraus sich schon in der Frühzeit der „Fackel“ aus polemischer Ursache angele¬ gentlicher beschäftigt hatte (vgl. F 118, 25f. und F 158, ll). Strophe 6, welche die in Strophe 4 angedeutete Variationsbreite „zwischen Hölty und Faforgen“ durch die Möglichkeit des Tonfallwechsels von Rim¬ baud zu Kopisch potenziert, baut eingangs in den Schiller-Ton die Werfelsche Fieblingsvokabel „Überschwang“33 ein, um dann in den Pro¬ saismus des Rezensentenklischees „ein ausgesprochenes Formtalent“ auszumünden. Strophe 7 steigert ein auch sonst hier angewendetes parodistisches Mit¬ tel zu besonderer Dichte, zumal in der ersten Strophenperiode: die Nachbildung der oft sehr reich allitterierenden oder assonierenden Binneninstrumentation Werfelscher Verse: „Solchem Wesensaandel reehrt kein weto, / hin zu Goethen geht es aus dem Ghetto / in der Zei¬ len Fauf‘. „Wesenswandel“ enthält natürlich nach den Krausschen Kri¬ terien von „Echtheit“ und „Ursprung“ eine contradictio in adjecto im Sinne einer Entwicklung vom „Wesen“ zum „Scheine“ (vgl. F 588, 87), diese wird nicht nur „wörtlich“ als parvenühaftes Streben „hin zu Goethen“ satirisiert, sondern auch „sprachlich“ im „akustischen Spie¬ gel“ (F 572, 30) auf das als spezifisch „pragerisch“ geltende phone¬ tische Phänomen der Umlaut-Entrundung buchstäblich „zurückgewor¬ fen“: Die preziöse Form „Goethen“34 exponiert ein Extrem der Bemühung um Überkompensation der in Prag habituellen „Umge¬ hung jeglichen Umlauts“.35 Daß diese Laufbahn sich nicht der Geschichte, sondern dem Geschick verdankt, suggeriert der Vers „in der Zeilen Fauf, als „schillernde“ Dekomposition des Kompositums „Zeilenlauf, ein - graphisch durch das Druckbild unterstütztes Klangwortspiel mit dem in hochpathetischem Kontext stehenden „Zei¬ tenlauf ‘36 des Gedichts „Die Künstler“. Um die Angabe des Entwicklungswegs durch Vers 39 ist die Beschrei¬ bung der Entwicklungsnc/üimg in Vers 38 und 40 spiegelsymmetrisch gruppiert, so daß sich die Bedeutungsäquivalente „hin zu Goethen“ = „in das Cafe Arco / „aus dem Ghetto“ = „aus dem Orkus“ ergeben, wobei mit der letzten Wendung ein Rückbezug auf den Einsatz von Strophe 2 erfolgt („Aus dem Orkus in das Grenzenlose“). Die Vokalmstrumentation des gebrochenen Reims ,Arco“ / „stark o“ zitiert aus

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dem reichen Arsenal analoger Mittel „gereimter Satire“ Heinescher „Witzpoesie“ (F 757, 31) unüberhörbar den Groteskreim ,Apollo“ / „toll, oh!“3/ Der grell instrumentierte Reim ist Bestandteil eines ganzen Assoziationsbündels, durch das in der zweiten Periode dieser Strophe die sakrale Aura des Begriffs .jüngster Tag“ abermals, diesmal noch radikaler als in Strophe 5, parodistisch profaniert wird: „auflagenstark“, Aufliegen“ der neuesten Zeitschriftenexemplare am „jüngsten Tage“ nach ihrem „Erscheinen“, „Hegter dort am jüngsten Tage auf“ in blasphemisch verfremdender Opposition zu dem erwartungskonformen „steht er ... auf1, „liegt mir stark auf1 (F 423, 7) aus dem Jargon-Reper¬ toire des Hofratsehepaars Schwarz-Gelber.

Der „Wer“-(immer-)Einsatz von Strophe 8 stellt einen Rückbezug auf die analog anhebenden Strophen 4 und 5 her, um das dort angeschla¬ gene Motiv der Tonfallhörigkeit bis zur Montage zu steigern. Die Alter¬ native „in altem oder Neugetöne“ ist in dem aus dem modernen „Neutöner“ und dem altklassischen „Getöne“ kontaminierten Kompo¬ situm „Neugetöne“ selbst aufgehoben als Möglichkeit der Simultaneität, die sich darauf reimende „Schöne“ ist nicht nur ein „ausge¬ borgter11 Goethescher Reim aus dem 4. Aufzug des Singspiels „Lila“ („Euer Getöne / Wieget so schöne!“), sie exemplifiziert auch eine von Schiller beziehbare „Erlesenheit“ bei Werfel.38 Schließlich umrahmt der aus typisch Jungschillerschen (aber auch Höltyschen) Verbal¬ formen wie „ergeußt“ / .fleußt“ gebildete Reim das wörtliche Zitat von Vers 7 der „Elegie auf den Tod eines Jünglings“: „Pochend mit der Jugend Nervenmarke“39, wobei die unfreiwillig komisch wirkende Schillersche Reimkorrespondenz „Sarge“ ersetzt wird durch die bewußte Komik eines mit Dativ-e altmeisterlich aufgestutzten „Prosaismus“ am Ende eines Verses mit angereicherter Binneninstrumentation: „letzt sich noch mit seinem letzten Quarke“ (was übrigens Werfel nicht davon abgehalten hat, in diesem Reimwort eine emphatisch-satirische Tirade des Thamal in „Spiegelmensch“ gipfeln zu lassen40). An das Schlußwort .fleußt“ der 8. Strophe knüpft fließend die 9. an, deren auf „ö“ abgestimmte Euphonie des Einsatzes durch den „reichsdeutschen“ (wohl in Vorbereitung auf den berühmten Kontroversreim „reibt sich“ / „Leipzich“ bereits „sächsisch“ motivierten) Prosaismus „nun mal nicht“ gebrochen erscheint. Im „schönen Einfluß der Kamönen“ liegt kein Hindernis für der „Phantasei Erfindung“, da die „Phantasey“41 - ebenfalls ein Zitat aus der „Elegie auf den Tod eines Jüng¬ lings“ - als Erfindungssubjekt ihrerseits schon ein vorrätiges Klischee darstellt, das bereits vom jungen Schiller bald als altfränkisch empfun¬ den wurde,42 kein Hindernis auch für die „literarische Verbindung“ im

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Doppelsinne von Filiation und Konnexion, so daß es im Unterschied zum Schillerschen „Elegie“-Vers „Ueber ihm der Parzen Faden riß“43 nun heißen kann: „Diesen Faden keine Parze riß!“ Die letzte Strophe schließlich, deren Ausklang die „Melancholie“ des Untertitels als „Elegie“ - zwar nicht auf den Tod, wohl aber auf die sati¬ risch unterstellte Not eines gutwillig „auflegenden“ „edlen Jünglings“ ausweist, beginnt mit Versen, deren Endreime in ihrer Funktion als Anspielung auf einen Passus aus dem eisernen Vorrat elementarschuli¬ schen Memorierpensums erkannt sein wollen, nämlich auf die Verse 65-66 der „Bürgschaft“: „Und danket dem rettenden Gotte, / Da stür¬ zet die raubende Rotte“44, die Attribute der Reimwörter werden durch das Kontrastpaar „ewigen“ / „heutige“ ersetzt, sind aber als Kontrastfo¬ lie mitzudenken, zumal das entfallene Attribut „raubende“ als Syno¬ nym für „heutige“. Der emphatische Nachdruck der Klage, „daß der Literaten heutige Rotte / ihr Elysium / findet“ (und nicht nur sucht),45 wird verstärkt durch die in diesem Gedicht einmalige gestisch expo¬ nierte Stellung von ,findet“, die als Enjambement Zeilen- und Peri¬ odensprung in einem ist. In einer Ankündigung der von ihm mitbegründeten und mitbetreuten Sammlung „Der jüngste Tag“ hatte Werfel 1913 verkündet: „Der neue Dichter wird unbedingt sein, von vorn anfangen, für ihn gibt es keine Reminiszenz, denn er, wie kein anderer, wird fühlen, wie wesenlos die Retrospektive auf die Literatur ist, wie unnötig das Vergnügen am Ton¬ fall.“46 Gegen die wohl vorauszusetzende Implikation des Verfassers, diese Postulate in seinem eigenen Dichten und Trachten erfühlt und erfüllt zu haben, ist die Kraussche Parodie von 1916 konsequent ange¬ schrieben.

Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus Aspekte einer „Dauer im Wechsel“

„Wortverbunden bleib ich den Gestalten, gegen die ich mich des Geistes wehre.“ Karl Kraus: Todesfurcht (1921)1

Der Umstand, daß Franz Werfel dem als F. W. chiffrierten Ich-Erzähler seines letzten Romans „Stern der Ungeborenen“ zum Führer und Begleiter durch die astromentale Welt den als Willy bzw. Billy Haas zu dechiffrierenden Jugendfreund B. H. auserkoren hat, bietet die reich¬ lich genutzte Gelegenheit, Gestalten, Gedanken und Erinnerungen aus gemeinsam

erlebten

Prager Jugendjahren

heraufzubeschwören.

Neben den im leichten Wasser des Mnemodroms, des „Sees der Erin¬ nerung“2, sich verkörpernden Projektionen von nahen Menschen aus der fernen Vergangenheit „jenes Weekends der Weltgeschichte vor 1914“3, als deren Prager Urbilder der brentanistische Sprachphilosoph Anton Marty4, der monistische Mediziner und Kinderarzt Robert Wolf Raudnitz5, der „große Stadtpoet“ Hugo Salus6 und Franz Werfels frühe Jugendliebe Maria Glaser7 ausgemacht werden können, sind es vor allem die Gespräche peripatetischen „Symphilosophierens“ der Jugendfreunde F. W. und B. H., als deren Schauplätze immer wieder die Parkwege bzw. der Höhenweg des Belvederes evoziert erscheinen, eine Prager Lokalität, die auch für Kafka eine dominierende Rolle gespielt hat.8 „Waren es etwa die Anfänge der Menschheit, lieber B. H.“, so fragt F. W. gleich im 2. Kapitel, „als wir gemeinsam Shake¬ speare und Goethe lasen und über Dostojewski und Nietzsche, über Pascal und Kierkegaard diskutierten auf den Parkwegen des Belvede¬ res?“9 Unter diesen 1944 aus fünfunddreißigjährigem Abstand erinner¬ ten Belvedere-Gesprächen über Gott und die Welt widerfährt einem einzigen die Auszeichnung, von dem Erzähler F. W. in einem extensiv wie intensiv gleichermaßen bemerkenswerten Gedächtnisprotokoll exakt reproduziert und so mit einem Bedeutsamkeitsnachdruck verse¬ hen zu werden, der unwillkürlich an ein anderes Gedächtnisprotokoll aus weitem Zeitabstand erinnert: Kafkas Tagebucheintragung von 1920 über das vor vielen Jahren auf der Laurenziberglehne erfahrene inne¬ re Erlebnis des Abschiednehmens von der „Scheinwelt der Jugend“.10

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Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus

Unmittelbaren Anstoß für F. W., sich gerade dieses BelvedereGesprächs zu erinnern, bieten Informationen des Freundes B. H. über die nicht nur sozialpsychologischen, sondern auch physiologisch-bio¬ logischen Evolutionserrungenschaften im astromentalen Zeitalter: „Du kennst mich. Ich bin kein progressivistischer Esel. Auch ich weiß, daß hunderttausend Erdumläufe um die Sonne nur eine winzige Schattenrückung der Geschichte sind. Und doch, der Mensch hat trotz all sei¬ ner Grenzen sogar biologische Fortschritte gemacht.“11 So erfolge etwa, wie B. H. als Beispiel anzuführen weiß, beim Manne die Abscheidung des Urins nicht mehr durch das „Organ der Liebeskraft“, sondern durch den Darm; ein Evolutionsfortschritt, dessen Mitteilung der auf dem Entwicklungsstand von 1944 zurückgebliebene F. W. ehrfürchtig, wenn auch nicht ohne einen Einschlag von resignativer Ironie mit den Worten quittiert: ,„Ja, ja, [...] dieser Fortschritt ist mehr als ein Fortschritt, er ist eine Heihgung des Menschen. Leider werde ich persönlich nichts mehr davon haben.1 »Er ist eine Heiligung, F. W.‘, sagte der Wiedergeborene fast böse. ,Gott nämlich korrigiert sich selbst...‘ ’Gott korrigiert sich selbst1, wiederholte ich und stützte mich auf, so müde ich war, ,hast du das nicht schon einmal gesagt? Damals ... da¬ mals ...‘ Und ich sah uns beide, den neunzehnjährigen B. H. und den neun¬ zehnjährigen F. W., wie wir, in tiefen Gesprächen befangen, den Höhenweg des Belvederes entlangspazierten und hinabsahen auf das hunderttürmige und barockbrückige Prag, das sich im sonnendurchzückten Nebel bis hinter den Horizont der Königlichen Weinberge streckte. Und B. H., der Student, entwickelte mir, dem aufhorchenden F. W., seine metaphysische Philosophie, deren ich mich jetzt Wort für Wort erinnerte [...] Und da ich mich genau an diese Philosophie erin¬ nerte, rief ich sie ihrem Begründer ins Gedächtnis [...] 'Also hast du gelehrt, B. H.: Gott ist das vollkommene Sein. Die Schöp¬ fung ist nur Ausdruck dieses Seins. Der Ausdruck eines Seins kann nie¬ mals identisch sein mit diesem Sein, aus dem er hervortritt [...] Wenn Gott auch das ewige und vollkommene Sein bedeutet, so ist sein Aus¬ ruck, die Schöpfung, in hohem Grade unvollkommen, das heißt minerwertiger als er selbst, und zwar notwendigerweise. Die genaue Diferenz zwischen dem vollkommenen unendlichen Sein und dem von lesem ausgedrückten endlichen unvollkommenen Sein ist das was man dasUbeP ln der Welt oder auch das ,Böse‘ nennt... Erkennst du deine Philosophie wieder, alter Freund? Sie muß auf mich einen

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großen Eindruck gemacht haben, daß sie mir mehr als hunderttausend Jahre im Gedächtnis geblieben ist ,Wenn man sehr jung ist1, sagte B. H. verschämt und abwehrend, ,so neigt man oft zu hohen Gedanken und generösen Verallgemeine¬ rungen.1 ,Tu dir nicht selbst Unrecht1, eiferte ich. ,Das Übel in der Welt als Stromgefälle, als Potentialunterschied zwischen dem vollkommenen primären Sein und dem ausgedrückten sekundären Sein, das ist schon ein philosophischer Fund und eine patente Formel in der größten Streitfrage aller Zeiten, und dir gebührt mein Preisspruch, obwohl dich die Kirche für diese Lehre, die den Sündenfall teilweise Gott als notwendige Folge des Schöpfungsaktes zur Last legt, erbarmungslos zum Ketzer gestempelt hätte. Aber du bist noch weiter gegangen. Was du nämlich vor einigen Minuten gesagt hast, das hast du bereits damals gesagt, ja, damals: ,Gott korrigiert sich selbst.1 Ich hab noch deine Stimme im Ohr, wie du das improvisiertest: ,Ein Teil der göttlichen Lebenstätigkeit ist Korrigieren, am Ausdruck feilen* ...‘ ,Da siehst du, wie jugendlich anthropomorph derlei Ideen sind*, warf B. H. dazwischen. ,Gott, der seine Aufgaben korrigiert wie ein Schul¬ knabe oder ein ehrgeiziger Literat?* Aber diesen Satz hast du doch selbst vorhin ausgesprochen [...] Und dieser Satz, lieber B. H., umschließt implicite die Aussage, daß du Natur- und Menschheitsgeschichte als eine Geschichte des göttlichen Korrigierens definierst... Wenn wir keine Atheisten sein wollen, so müs¬ sen wir doch zugeben, daß ein höherer, logischer und zielstrebiger Wille unsern allzu langen Darm verkürzt und unser plump vermischtes Geschlechtsorgan verfeinert und veredelt hat...‘ [...] ,Es istja imposant, F. W.‘, seufzte er [B. H.], ,wie du dich jener alten Philosopheme erinnerst, die wir während der endlosen Nachmittage unse¬ rer Jugend ausgesponnen haben [...] Trotzdem aber glaube ich, daß ich mich mit dem Hersagen eines deiner Poeme revanchieren könnte. Willst du es hören?* ,Um Gottes willen, nein, B. H.‘, wehrte ich ab. ,Es ist sehr lieb von dir, aber irgendein Vers könnte mir auf die Nerven gehn und meine un¬ vergängliche Reue hervorrufen. Du weißt ja, daß die ästhetische Reue nicht viel weniger wehtut als die moralische. Dabei weiß ich genau, daß einige meiner Gedichte, der Ausdruck meines Seins, besser sind als die¬ ses Sein, das heißt ich selbst, gerade umgekehrt wie bei Gott.*“12 Daß dieses Philosophem vom notwendigen Unvollkommen- oder Mißlungenheitskoeffizienten des Lebens, der Natur, der Schöpfung, wie es an anderen Stellen heißt, und seiner ebenso notwendigen permanen-

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Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus

ten Korrektur durch den Schöpfer keine erst für diesen letzten Roman erfundene Ad-hoc-Fiktion war, sondern in der Tat von Anfang an für den empirischen Autor Franz Werfel zur spekulativen Fundierung sei¬ nes gesamten Dichtens und Denkens gehört hatte, vermag jeder lebens- und werkgeschichtliche Rückblick zu belegen. Schon eine Leip¬ ziger Notizbucheintragung aus dem Jahre 1913 über den Korrigenten und die Korrektur der Schöpfung13 zeugt von beharrlichem Weiter¬ denken an diesem Philosophem, das im politischen bzw. kulturpoli¬ tischen Kontext der „Glosse zu einer Wedekind-Feier“ von 191414 wie¬ der auftaucht als die lapidare Maxime: „von der Jugend fordert Gott ewig die Korrektur von ihm selbst“,15 und das dann schließlich 1916 im „Brief an einen Staatsmann“ als Analogiemodell auch zur Definition dichterischen Schöpfertums herangezogen wird: „Das ewige unerbitt¬ liche Bewußtsein vom Schöpfungsfehler, die lebendige Erkenntnis vom obersten Mißlungenheitskoefftzienten und seine Korrektur zu sein, das scheint mir die beste Definition der Dichtung.“16 Noch in den „Theologumena“ von 1944 wird dieses Philosophem der wichtigste Pfeiler sein, mit dem Franz Werfel seine „Engelsbrücke für Agnostiker“17 syllogistisch abstützt: „Die Gottheit ist [...] die Wahrheit und das Leben. Wenn sie aber die Wahrheit und das Leben ist, kann es außerhalb ihrer nur abgeschwächte Wahrheiten und abgeschwächtes Leben geben. Nicht einmal die Gott¬ heit vermag die Gleichnisse ihres Seins diesem Sein ebenbürtig und gleichwerüg zu machen. [...] Infolgedessen ist der Selbst-Mitteilung Gottes durch die Gleichnisse des Kosmos (die geschaffenen Dinge) die Abschwächung, die Abweichung, kurz, der Sündenfall miteingeschaf¬ fen. Das Versagen am Vollkommenen, die Erbsünde, ergibt sich daher logisch aus der Tatsache der Geschöpflichkeit.“18 Neu und bemerkenswert an dem im „Stern der Ungeborenen“ vorge¬ nommenen aber- und zugleich letztmaligen Rekurs auf diesen Gedan¬ ken ist zunächst der erstaunliche Nachdruck, mit dem die geistige Urheberschaft des Freundes B. H. zu Protokoll gegeben wird, sodann aber auch die genaue Fixierung des Zeitpunkts dieser Entdeckung, der, wenn man den ausdrücklichen Anspruch des Autors auf die Genauig¬ keit gerade dieser Erinnerung respektiert, in die kurze, zweimonatige Zeitspanne gemeinsamer Neunzehnjährigkeit zu verlegen wäre, also in den Hochsommer des Jahres 1910, so daß es sich durchaus um ein Abschiedsgespräch vor Werfels Weggang nach Hamburg gehandelt haben konnte. Nimmt man ferner dessen autobiographische Feststel¬ lung hinzu, er hätte es nach Kindertagen religiöser Beziehungslosigkeit mit vierzehn Jahren endlich zum Atheisten und Anarchisten

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gebracht,19 dann ergibt sich daraus die zweite Hälfte unseres ersten Jahrhundertjahrzehnts als derjenige Zeitraum, in dem sich bei dem Gymnasiasten und angehenden Dichter etwas vorbereitet haben muß, das er später den „Sieg des gottgebundenen über das gottentbundene Denken“20 nennen wird. Damit werden die Umrisse eines ungemein zeit- und generationstypischen Entwicklungsvorgangs sichtbar, dessen gemeinsamen Ausgangs- und Abstoßungsimpuls Werfels späterer Kon¬ trahent Kurt Hiller gerade für diese Zeitspanne und diesen Genera¬ tionsbereich eindringlich vor Augen geführt hat: „Ich stand damals in meinem ersten oder zweiten Semester, und zur Denkweise meines Freundeskreises gehörte eine zwar nicht zu fundier¬ te, doch sehr ausgeprägte skeptische Ironie gerade gegenüber dem monistischen Materialismus und verwandten, wie uns schien, philo¬ sophisch unzulänglichen Spielarten der Freigeisterei. Wir sagten zu diesen Lehren nicht von rechts her Nein, sondern sozusagen von links her. Nicht als Gläubige einer Konfession lehnten wir sie ab, sondern teils als Kantianer und Kritizisten, teils als eher gefühlsstark und -vag radikalisierende Skeptizisten und Nihilisten, jedenfalls als Jünglinge, die stolz darauf waren, alles, was Naturalismus, Empirismus, Positivis¬ mus, Materialismus, Monismus oder Atheismus hieß, als genau so dog¬ matisch, flach, schief, naiv erkannt zu haben wie die Behauptungen der Bibel und die Doktrinen der Theologen. Dieses Nein gehörte für mei¬ nen Kreis zum guten Ton, ja zu den Selbstverständlichkeiten [...] Ein Monist unter uns war so unmöglich wie ein Mönch unter uns.“21 In Berlin war der Vordenker dieses Kreises Max Brods Altersgenosse und ehemaliger Mitschüler bei den Prager Piaristen, der 1910 freiwillig aus dem Leben geschiedene Max Steiner gewesen, der indessen zu Hillers nicht geringer Irritation noch vor seinem Tode zum Katholizismus übergetreten war, also schließlich „die Behauptungen der Bibel und die Doktrinen der Theologen“ in letzter Instanz keineswegs „genau so flach, schief, naiv“ gefunden hatte wie „alles, was Naturalismus, Empi¬ rismus, Positivismus, Materialismus, Monismus oder Atheismus hieß“, sondern ganz im Gegenteil viel tiefer, geradliniger und reflektierter. Gerade im Kontext einer politisch als antiliberal bis antidemokratisch, weltanschaulich als antimonistisch, antimaterialistisch, antifreiden¬ kerisch zu qualifizierenden Fronde gegen das fortschrittsphiliströse Establishment dessen, was Werfel später „naturalistischen Nihilismus“22 nennen wird, sind auch die ab 1910 sich intensivierenden Beziehungen des um Willy Haas, Franz Werfel, Otto Pick, Franz und Hans Janowitz sich formierenden Autorenkreises der späteren „Herder-Blätter“ von 1911/12 vor allem zur Wiener „Fackel“ und ihrem Herausgeber und

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schließlich auch zum Innsbrucker „Brenner“ zu sehen.23 Nicht uner¬ wähnt sollte dabei bleiben, daß dieser Prozeß vor dem Hintergrund und zum Teil auch unter Reflexion einer gesamteuropäisch dimensio¬ nierten christlichen Erneuerungsbewegung sich vollzog, deren Vertre¬ ter auch dann, wenn sie nicht wie Claudel, Peguy oder Belloc gebürtige Katholiken waren, doch mehr oder weniger eindeutig zum Katholizis¬ mus gravitierten und schließlich wie Chesterton in England und Theo¬ dor Haecker in Deutschland auch zu ihm übertraten, ganz zu schwei¬ gen von literarisch längst nicht mehr praktizierenden Katholiken wie Hermann Bahr oder Franz Blei, die ihr Herz für den alten Glauben wie¬ derentdeckten und deshalb vielen lediglich als trendbewußte Mit- bzw. Rückläufer galten. Franz Werfel hat 1944 diese Abkehr von einem etablierten gottentbun¬ denen Denken politisch liberaler, weltanschaulich monistisch-materia¬ listischer Observanz und die Hin- bzw. Rückwendung zu einem wesent¬ lich im Schöpfungsbegriff fundierten gottgebundenen Denken als seinen eigenen Werdegang rückblickend so beschrieben: „Als Sohn des europäischen liberalen Bürgertums wuchs ich auf und wurde erzogen im Geiste der humanitären Autonomie und Fort¬ schrittsgewißheit, im naiven Ammenglauben an Weltverbesserung durch Wissenschaft, in tief skeptischer Abgekehrtheit von metaphy¬ sischem, religiösem oder gar mystischem Denken und Fühlen und in der verhängnisvollsten Verwechslung von Freiheit mit moralischer Anarchie. Wenn ich mich bereits in jugendlichem Alter losreißen durfte von diesem mentalen Dunstkreis, der mich umgab und nährte, so ver¬ danke ich es, nach Gott, vor allem meiner Fiebe und meinem Hange zur Dichtkunst, der sich von Anbeginn an gegen die leere Seichtigkeit der materialistisch-realistischen Weltdeutung empörte.“24 Die Beschreibung dieses Wandlungsprozesses und noch mehr die Danksagung dafür läßt eine Leerstelle offen und spart einen Namen aus, dessen beredtes Verschweigen es notwendig macht, das bereits mehrfach, am bündigsten und schlüssigsten wohl von Roger Bauer erörterte Thema „Franz Werfel und Karl Kraus“ noch einmal aufzu¬ nehmen,

und zwar nicht unter dem bisher begreiflicherweise vor¬

herrschenden auseinandersetzungsgeschichtlich finalen Aspekt Kraus contra Werfel bzw. Werfel contra Kraus, sondern unter möglichster Abstraktion davon und Beschränkung auf die immerhin dreijährige Phase, in der die Konstellation Kraus pro Werfel und vice versa als aus¬ gemachte Sache gelten konnte. Die ersten drei Gedichte aus dem späteren „Weltfreund“ erschienen bereits ein halbes Jahr vor dessen Auslieferung im April 1911 im ersten

Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus

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Heft des 13. Jahrgangs der „Fackel“,26 des letzten, der in den neun Hef¬ ten bis November 1911 noch fremde Beiträge abdruckte. Sieht man von zwei vereinzelten Gedichten der alles andere als namhaften Poeten Fritz Peter Kreuzig27 und Paul Mahlberg28 rechtens ab, so war in dieser Schlußphase fremder Mitarbeiterschaft Franz Werfel der einzige Lyri¬ ker, den die „Fackel“ ihrem Publikum neu vorstellte, und zwar mit überdurchschnittlich starkem Nachdruck. Bereits vierzehn Tage später nahm Karl Kraus zwei dieser Gedichte, „Kindersonntagsausflug“ und „Der schöne strahlende Mensch“, in das Programm seiner Wiener Vor¬ lesung vom 15. Mai 1911 auf, die als einzige fast ausschließlich „Dich¬ tungen seiner Mitarbeiter“ gewidmet war und Werfel neben Namen wie Else Lasker-Schüler, Liliencron, Strindberg, Altenberg, Wedekind, Scheerbart, Viertel und Ehrenstein präsentierte (F 323, 11). Im Zentrum des dreifachen Julihefts von 1911 steht dann das „Weltfreund“-Gedicht „Nächtliche Kahnfahrt“ (F 326, 37), und zwar in bewußt gesetztem polemischem Kontrast zum Finale der an die Satire „Der kleine Pan stinkt noch“ anschließenden „Selbstanzeige“ - auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Satiriker im Hinblick auf seine letzte Prager Vorlesung von sich zu sagen weiß: „... nie hätte ich den tadelns¬ werten Versuch unternommen, durch eine plötzliche Freikarte herein¬ bringen zu wollen, was ich mir durch eine jahrelange Nichtbeachtung des Brodschen Schaffens, die mir fast schon zur zweiten Natur gewor¬ den war, verscherzt hatte“ (F 326, 36). Im letzten Dezemberheft des Jahres 1911 schließlich, also bereits nach erfolgter Einstellung fremder Mitarbeiterschaft, hat Karl Kraus den soeben

erschienenen

„Weltfreund“ nicht nur im

unverkäuflichen

Annoncenraum der „Fackel“ angezeigt, was an sich schon eine vom Her¬ ausgeber verantwortete Empfehlung darstellte,29 sondern ihn auch zu einem der Gegenstände des gesonderten Beitrags „Drei Bücher emp¬ fohlen von Karl Kraus“ gemacht, der nach kurzen Charakteristiken von Büchern Karl Hauers und Albert Ehrensteins fünf weitere „Weltfreund“Gedichte abdruckt30 und mit dem vielzitierten Nachsatz versieht: „In wes¬ sen Liebe die Welt so liebenswert wird, der schafft dem Weltfeind eine frohe Stunde“ (F 339, 51). Diesem Satz liegt ganz offensichtlich und zwei¬ fellos der Kraussche Gedanke vom Satiriker als dem notwendigen Kom¬ plement des Lyrikers31 zugrunde, ein Gedanke, der hier die Gestalt der Opposition Weltfreund/Weltfeind32 erhält, aber schon im Juli desselben Jahres in unmittelbarem Anschluß an Werfels Gedicht „Nächtliche Kahnfahrt“ auf die aphoristische Formel gebracht worden war: „Der Lyriker erstaunt jedesmal von neuem über ein Rosenblatt, wie¬ wohl es dem andern gleicht, wie ein Rosenblatt dem andern. So muß

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Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus

der Satiriker jedesmal von neuem über eine Ungleichheit staunen, und möge sie der andern gleichen, wie eine Häßlichkeit der andern. Und er kann sogar aus einer und derselben hundert Gedichte machen“ (F 326, 42; S 8, 253). Daß der Katalysator für die sprachliche Gestaltung dieses Kontrastes die Eindrucksnähe der Werfelschen Gedichte gewesen ist, scheint mir evi¬ dent zu sein, denn in der breiten Skala der bis dahin in der „Fackel“ ver¬ öffentlichten Lyrik stellen sie als „Irredenta der Weltfreundschaft“33, wie es bei Werfel später heißt, in der Tat ein äußerstes Extrem verzück¬ ten Staunens und ekstatischen Rühmens dar. Wenn Eduard Goldstücker seinerzeit mit neuen Argumenten erhärtet hat, daß Rilkes Essay „Uber den jungen Dichter“ wesentlich durch den Eindruck Werfel¬ scher Lyrik veranlaßt wurde,34 so wäre das durch den Hinweis zu ergän¬ zen, daß auch die Genese einer kontrastiven Poetik von Lyrik und Sa¬ tire bei Karl Kraus diesem Eindruck nicht unbeträchtlich verpflichtet ist. Noch dreijahre später, wenn nach bereits erfolgtem Bruch Kraus in einem Brief an Sidi Nädherny mit der Formel vom „Lyriker“ Werfel die¬ sen Anspruch auf typologische Repräsentanz in ein ironisches Licht zu rücken beginnt (BI, 29), bleibt die ursprünglich affirmative Bedeutung dieser Formel noch immer herauszuhören. Und wenn Karl Kraus 1921 sein Werfel-Engagement von 1911 auf das nüchterne Faktum reduziert sehen wollte, er habe damals „Verse eines jungen Lyrikers namens Wer¬ fel von der Oberfläche einer sympathischen Gesinnung gewertet und meiner Leserschaft mitgeteilt“ (F 577, 56), dann war damit der tatsäch¬ liche Sachverhalt keineswegs zureichend beschrieben. Analoges gilt in noch viel stärkerem Maße auch in umgekehrter Richtung. Jeder Wer¬ fel-Leser, der zugleich „FackeU-Kenner ist, wird, wo nicht auf Schritt und Tritt, so doch überaus häufig Dejä-vu- bzw. Dejä-lu-Erlebnisse der Wiederbegegnung mit vertrauten Begriffen, Wendungen und Gedan¬ kengängen verzeichnen können, die keineswegs nur Marginales betref¬ fen, sondern häufig auch Zentrales, das Werfelsche Dichten und Den¬ ken wesentlich Strukturierendes: Sprachauffassung; Poetik des Gedichts und der Szene; Kritik der Phrase und des linearen Fort¬ schrittsbegriffs; Definitionen der sogenannten Jetztzeit als „Zeitalter der Quantität“35 und der „wohlorganisierten Flucht vor Gott“36 als „Welt, die sich so unendlich weit von ihrem Ursprung entfernt hat“37; dies nur einige, beliebig zu vermehrende Stichworte dazu.38 Und was könnte schließlich Weltbild, Kunstauffassung und Religiosität des christusgläubigen Juden39 Franz Werfel auf eine knappere Formel brin¬ gen als die Kontrafaktur, die der katholisch getaufte Judenchrist Karl Kraus 1913 mit einem bekannten Goetheschen Epigramm vorgenom-

Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus

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men hat, wiederum in der Aphorismenfolge, die an den Abdruck der „Nächtlichen Kahnfahrt“ anschließt: „Nach Goethe: Wer Kunst und Religion besitzt, der hat auch Wissenschaft. / Wer diese beiden nicht besitzt, der habe Wissenschaft“ (F 326, 46; S 8, 280). Wenn Karl Kraus in einer seiner furiosesten Vorkriegssatiren „Die Kin¬ der der Zeit“ (F 354, 68-72) - Werfel hatte sie nicht nur in der „Fackel“ gelesen, sondern auch vom Vortragspodium herab gehört40 - die Pa¬ role ausgab: „Seid Christen aus Notwehr!“ (F 354, 71), dann wollte er damit gesagt haben, daß nicht erst im Interesse des ewigen Lebens, son¬ dern schon im Interesse des zeitlichen Überlebens, ja der Existenzfristung dieses Planeten selbst ein konventionelles Minimum von Christsein der Autonomie des progressivistischen Leerlaufs vorzu¬ ziehen ist. Als Franz Werfel 1916 von der russischen Ostfront seinen berühmten offenen Brief „Die chrisdiche Sendung“ an Kurt Hiller richtete, da wußte er ihn nicht bündiger zu beschließen als mit dem nachdrück¬ lichen Hinweis auf einen kanonischen Text, der für den Briefschreiber Ausbund und Inbegriff seines eigenen Credos geworden war: „Ehe ich [...] zu Ende bin, möchte ich noch einmal meinen Gewährs¬ mann Fjodor Michailowitsch Dostojewski anrufen! Lesen Sie in den Politischen Schriften (wenn ich nicht irre) nochmals jenen berühmten Brief über den Allmenschen. In diesem Brief, der an ein jüdisches junges Mädchen gerichtet ist, wird - Sie erinnern sich vielleicht - von Leben und Sterben und vom Begräbnis eines alten Landarztes erzählt. Wenn Sie die wunderbare Geschichte von diesem wunderbaren Manne lesen werden, wenn Sie ihn sehen werden, wie er, ohne einer Partei anzugehören oder Reden zu halten, in den Häusern der Armut, nicht nur das tätig hingibt, was er hat, sondern zu allem noch sich selbst, dann werden Sie meine Worte und Beweise nicht mehr nötig haben, um bekehrt zu sein. Und wenn Sie vollends das durch hohes Beispiel entflammte Antlitz des Volkes, das seinem Sarge folgt, sehen, und die begeisterten, geisterfüll¬ ten Tränen dieses Volkes in Ihren eigenen Augen fühlen werden, dann werden Sie auch wissen, daß diese Tränen der Tau der wahrhaften Erlö¬ sung sind.“41 Sicherlich hat der einrückende Artillerist Franz Werfel nicht die 22bändige Dostojewski-Ausgabe des Piper-Verlags in seinem Feldtornister mit sich geführt, wohl aber nachweislich die Kriegsnummern der „Fackel“, in deren Dezemberheft von 1915 der von Werfel unter dem Aspekt voll¬ ständiger Identifikation so emphatisch beschworene berühmte Brief

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Noch einmal und anders: Franz Werfel und Karl Kraus

über den Allmenschen unter dem Titel „Die Judenfrage“ bereits in extenso abgedruckt worden war (F 413, 49-74).42 Der Schluß dieses für die Kriegs-„Fackel“ und die Haltung ihres Herausgebers so zentralen Dostojewski-Textes43 macht deutlich, was den beiden inzwischen mit¬ einander verfeindeten Kontrahenten Kraus und Werfel weit über ihre wechselseitige Entzweiung hinaus gemeinsam geblieben ist. Das Symp¬ tomatische und Exemplarische, das sich für Dostojewski mit dem geleb¬ ten Beispiel seines ,Allmenschen“, eines deutschrussischen Landarztes namens Hindenburg, verband, berührt sich nicht nur mit der alttesta¬ mentarischen Leitvorstellung der „Gerechten“, von deren Dasein Bestand und Heil der Welt abhängen, sie entspricht auch weithin der von Kraus wie von Werfel genährten scheinparadoxen Hoffnung auf die „Thatwirkung“ (B I, 392), die von der vorgelebten Existenz eines solchen Einzelnen ausgehen kann; einer Hoffnung, der Dostojewski am Ende seines Exemplums mit Worten Stimme verliehen hatte, die möglichen Einwänden einer quantitätsverhafteten Gesinnung vorweg¬ nehmend begegnen: „Das ist ein einzelner Fall, wird man sagen. Nun, dann ist es wieder meine Schuld, wenn ich in einem einzigen Fall, den Anfang der Lösung eines ganzen Problems sehe [...] Dieser Allmensch', wie ich den [...] Typ jenes alten Doktors nennen möchte, wenn er auch nur ein einzel¬ ner war, so hat er doch über seinem Grabe die Bevölkerung einer ganzen Stadt vereinigt. [...] All das ist furchtbar einfach, doch schwie¬ rig scheint nur eines zu sein: nämlich, sich zu überzeugen, daß jede große Gesamtzahl sich aus Einern zusammensetzt. Alles würde sonst auseinanderfallen, wenn diese Einzelnen nicht wären. Die Einzelnen geben den Gedanken, geben den Glauben, geben das lebendige Bei¬ spiel, somit also auch den Beweis. Es ist durchaus kein Grund vorhan¬ den, so lange zu warten, bis alle ebenso gut geworden sind, wie sie, oder wenigstens sehr viele: es sind nur wenige solcher erforderlich, um die Welt zu retten, dermaßen stark und mächtig sind sie. Ist dem aber so, — wie soll man dann nicht hoffen?“ (F 413, 72-74). „Allmensch , so hat Walter Benjamin, mit selbstverständlichem Bezug auf Dostojewski, doch ohne ihn ausdrücklich beim Namen zu nennen, den ersten Abschnitt seines großen dreiteiligen Essays über Karl Kraus betitelt,44 mit Hilfe dieses Begriffs am Komplex des „Ursprungs“ vor allem dessen natürlich-kreatürlichen Inhalt beschrieben und als „para¬ diesische Allmenschlichkeit“45 definiert. Was der Herausgeber der „Fackel mit dem Abdruck gerade dieses Textes von Dostojewski und auch in der Nachfolge Franz Werfel mit seiner Berufung darauf zitie¬ rend heraufbeschworen wollten, war jedoch primär das Bekenntnis

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einer geistig-sittlichen Autorität zur weltverändernden Kraft einer von einzelnen praktizierten, werktätigen Allmenschlichkeit, welche damit nicht als nostalgische Vision verlorener Paradiesesursprünglichkeit, sondern als ein Moment individueller wie sozialer Praxis dem Bereich derjenigen Dinge zugeordnet erscheint, die nach Kraus „sowohl geisti¬ ger wie sittlicher Natur sind“ (B I, 279). Bei allem schmerzlichen Bewußtsein von der schier unüberbrückbaren Distanz zwischen kontemporärer Zeitweltrealität und gottgewollter Allmenschlichkeit haben beide deren Verheißung nicht abgeschworen. Die Hoffnung darauf, daß in der Schöpfung, also auch auf Erden, der Wille des Schöpfers geschehe, hat Karl Kraus mit der von Theodor W. Adorno wiederholt zitierten Schlußstrophe des Gedichts „Vor dem Schlaf1 auf die knapp¬ ste Formel illusionsloser Zuversicht gebracht: „Noch wart ich auf das Wunder. Nichts ist wahr, und möglich, daß sich anderes ereignet. Nicht Gott, nur alles leugn’ ich, was ihn leugnet, und wenn er will, ist alles wunderbar.“ (F 691, 42) So paradox es auch angesichts einer zwanzigjährigen Geschichte öffentlich ausgetragener Kontroverse und wechselseitiger Polemik erscheinen mag, es bleibt in einem fundamentalen, nicht nur übertra¬ genen Sinne der letzte Satz gültig, mit dem Franz Werfel 1913 das Fazit seines huldigenden Beitrags zur Rundfrage des „Brenner“ über Karl Kraus gezogen hat: „Dann hier hinter allem [...], das ich über K K. schreiben könnte, stün¬ de gebieterisch und unverrückbar die Stunde, die meinen Planeten an den seinen bindet.“46

Die Tschechen bei Karl Kraus Karl Kraus bei den Tschechen

„[...] und ich konnte [...] nach Böhmen gehen, einer .wüsten Gegend am Meer' [...] Ich dachte mich doch aber auch .versetzt ins schöne Böhmen* [...], da ich mit dem betroffenen Land [...] durch Geburt und Sympathie [...] verbunden bin.“ (F 890, 172 und 259)1

Als Kraus mit seiner 154. (der 91. Wiener) Vorlesung vom 11. Januar 1920 Hauptmanns „Weber“ in sein Vortragsrepertoire aufnahm, erin¬ nerte er in seiner Programmnotiz daran, daß er bereits 1893 als junger Student in Bad Ischl, München und Wien mit Lesungen dieses Dramas aufgetreten war, und er zitierte aus diesem Anlaß unter anderem eine anerkennende Besprechung, die der angesehene Theaterkritiker und -historiker Alfred Mensi von Klarbach in der „Münchner Allgemeinen Zeitung“ vom 4. Oktober 1893 veröffentlicht hatte (F 521, 98-100).2 Auf der Rückseite des Zeitungsblattes, das diese Vortragskritik enthielt, entdeckte er dabei einen Bericht des Wiener Korrespondenten der „Münchner Allgemeinen“, der ihm in seiner zeitgeschichüichen Sym¬ ptomatik so repräsentativ erschien, daß er ihn unter der Überschrift „Österreich-Ungarn“ nochmals in der „Fackel“ abdruckte und kom¬ mentierte: „Wien, 3. Oct. Zur Kennzeichnung des Manifestes

der Jungtschechen

genügt die Tatsache, daß sich in Oesterreich keine Druckerei dafür gefunden hat, so daß das Aktenstück in Leipzig und in Budapest gedruckt wurde. Die hiesigen Blätter geben das Manifest aus preßgesetzlichen Gründen nur mit vielen Auslassungen wieder. Tschechischerseits wurde das Manifest verschlossen an die Parteimitglieder gesandt. (Inzwi¬ schen hat der Staatsanwalt, wie telegraphisch gemeldet, das Manifest mit Beschlag belegt. Die Red.) Eine Verbreitung desselben in großem Umfange ist ausgeschlossen. Die tsche¬ chische Bevölkerung wird dabei nicht viel verlieren; denn sie erfährt aus dem rabulistischen Schriftstücke nicht Neues. Es enthält eben nur die alten, zum soundsovielten Male wiederholten Phrasen vom böhmischen Staatsrecht, Recriminationen wegen des Aus¬ nahmszustandes und wegen des Verbotes der Rescript-Feier, sowie Erklärungen, daß die jungtschechischen Abgeordneten in ihrer bisherigen Haltung beharren werden, und endlich Aufforderungen an das Volk, fest zu ihnen zu stehen. Die Regierung hat nach wie vor die Aufgabe, auf dem nun betretenen Wege zu verharren und alles aufzubieten, damit die den inneren und äußeren Staatsinteressen zuwiderlaufende Opposition gebro¬ chen werde. - Die Neubesetzung des mährischen Statthalterpostens ist nun erfolgt. Der neuemannte Statthalter Baron Spens v. Boden-

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Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

Ein weltgeschichtlicher Kobold hält mir die Rückseite eines vergilbten Zeitungsblattes vor, der Münchner Allgemeinen Zeitung vom 4. Okto¬ ber 1893, in der ich nach so langer Zeit die Kritik von ja (Alfred von Mensi) über meine Münchner ,Weber‘-Vorlesung im Akademisch¬ dramatischen Verein gelesen habe. Seit damals sind die Tschechen in ihrer bisherigen Haltung und die Regierung auf dem nun betretenen Wege verharrt, aber wir haben inzwischen erfahren, wer’s länger aus¬ gehalten hat. Blinderes, Österreichischeres, Friedjunghafteres - der erfolgreiche Historiker war wohl der Korrespondent - als dieses Gar¬ netignorieren sämtlicher Sachverhalte, wie es in der herzigen Notiz so plastisch wird, ließe sich nachträglich von keiner satirischen Absicht erfinden. Zur Kennzeichnung des Manifestes der Jungtschechen, kei¬ neswegs zur Kennzeichnung Österreichs, hatte die Tatsache zu genü¬ gen, daß sich in Österreich keine Druckerei dafür gefunden hat. Die tschechische Bevölkerung hat dabei nicht viel verloren, aber später trotzdem manches gewonnen. Nachdem die Phrasen vom böhmischen Staatsrecht zum soundsovielten Male wiederholt worden waren, wur¬ den sie endlich - ei siehe da - lebendigste Wirklichkeit, wie es bis dahin nur die Gedanken des Friedjung gewesen waren. Rekriminationen wegen des Ausnahmszustandes - man denke; solches Zeug konnte doch die tschechische Bevölkerung nicht interessieren! Sie war ja mit dem Zentralstaat außerordentlich zufrieden und hat später den heili¬ gen Verteidigungskrieg der germanischen gegen die slawische Rasse mit Gusto mitgemacht. Und wenn damals die Klio dem Friedjung zuge¬ flüstert hätte, in fünfundzwanzig Jahren werde es kein ÖsterreichUngarn, wohl aber eine Tschecho-Slowakei geben, traun er hätte sol¬ chen Phantastereien baß kein Gehör geschenkt und stracks darauf gewettet, daß eine Verbreitung derselben in großem Umfange schon in Hinblick und mit Rücksicht darauf ausgeschlossen sei, daß Österreich tunlichst ewig stehen werde. Ach, wir, die sich nur erinnern können, vergessen zu leicht. Man muß irgend einen vergilbten Zeitungsaus¬ schnitt zur Hand nehmen, welchen immer, welcher Zeit und welchen Ortes er auch sei, um sich den ganzen tragischen Humor dessen zu ver¬ gegenwärtigen, was diese Deutschen in Österreich getan und unterlas¬ sen haben. Jedes neue Zeitungsblatt ist ein Verbrechen an der Mensch¬ heit. Aber jedes alte ist die Wohltat, durch die sie dessen inne wird“ (F 521, 63f.). Der tragische Humor dieses Zeitdokuments politischer Verblendung deutsch-liberaler Couleur spricht in der Tat für sich, und es ließe sich vermehren um Zeugnisse aus demselben Jahr 1893, die das Vorwalten dieser Perspektive auch auf kulturpolitischem Gebiet mit nicht min-

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derer Plastik dokumentieren. So wurde z. B. den Lesern des Berliner „Magazins für Litteratur“ von dessen Wiener Theaterkorrespondenten im Mai 1893 über die Spielplangestaltung des Josefstädter Theaters berichtet: Jetzt passirt dort eine böhmische Truppe und bringt Stücke mit unaus¬ sprechlichen Namen zur Aufführung. Und das ist natürlich hinderlich für die Germanisirung der ohnehin vom Slawentum stark angeseuchten Wienerstadt. Die deutschen Studenten haben gegen diese Auf¬ führungen protestirt. Das hat man ihnen gewaltig übel genommen. Gewiß, sie benahmen sich nicht sehr salonfähig, die deutschen Studenten. Aber wie benehmen sich die tschechischen Herren Studen¬ ten in Prag? Soll der deutsche Michel allein immer geduldig bleiben?“ (FS I, 126). Und im Juli 1893 vergißt der Korrespondent nicht zu registrieren: „Im Josefstädter Theater* belästigen die Czechen noch immer und geden¬ ken, sobald nicht aufzuhören“ (FS I, 142). Der Berichterstatter, der seine Berliner Leser nicht im Zweifel darüber läßt, daß tschechische Ensemblegastspiele in der „ohnehin vom Slawentum stark angeseuchten Wienerstadt“ so etwas wie eine Art zusätzlicher kultureller Umwelt¬ verseuchung darstellen, ist kein anderer als der neunzehnjährige Karl Klaus, derselbe Karl Kraus, der siebenundzwanzig Jahre später von ana¬ logen Meinungskundgebungen urteilen wird, daß „Blinderes, Öster¬ reichischeres, Friedjunghafteres“ sich nachträglich von keiner sati¬ rischen Absicht erfinden lasse. Mit den Jahreszahlen 1893 und 1920 sind somit die Eckdaten eines Lernprozesses bezeichnet, in dessen Ver¬ lauf das Verhältnis dieses Autors zu den Tschechen, zu ihren poli¬ tischen und kulturellen Ambitionen grundlegenden Veränderungen unterworfen war. Einzelnen Etappen dieses Wandlungsprozesses sei im folgenden etwas genauer nachgegangen. Da wäre freilich erst einmal festzustellen, daß vom Beginn eines sol¬ chen Wandlungsprozesses in dem Jahrfünft von 1893 bis 1898 keinerlei Anzeichen wahrzunehmen sind oder vielmehr nur solche Anzeichen, die nicht auf eine Veränderung, sondern höchstens auf eine Verfesti¬ gung des anfänglich signalisierten Standpunkts hindeuten, dessen ursprünglich kulturpolitische Motivation um parlamentarisch-poli¬ tische Dimensionen ergänzt wird. Als Wiener Korrespondent der „Bres¬ lauer Zeitung“ und dann auch noch als Chroniqueur der Wiener Wochenschrift „Die Wage“ berichtet der junge Karl Kraus über die Vor¬ gänge der innenpolitisch ereignisreichen und für das Prestige der Monarchie verhängnisvollen Jahre 1897/98 noch ganz im Geiste Daniel Spitzers, des großen Wiener Satirikers der liberalen Ara, und

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zwar nicht nur im Sinne einer Adaptation satirischer Verfahren des Wiener Spaziergängers, sondern auch rein meinungsmäßig mit dessen Engagement für die „liberale Sache“ (F 95, 23), die ihre nationalpoli¬ tische Legitimation im beharrlichen Kampf gegen die Gefahr einer „Slavisirung Oesterreichs“ (FS II, 115) suchte und dabei mit besonde¬ rer Schärfe gegen tschechische Autonomie- und Emanzipationsbestre¬ bungen Stellung nahm, gleichzeitig aber gegenüber der energisch betriebenen, von dem liberalen Schwesterorgan der „Neuen Freien Presse“, dem „Pester Lloyd“, publizistisch verteidigten Magyarisierung der transleithanischen, königlich ungarischen Reichshälfte stillschwei¬ gende bis wohlwollende Neutralität wahrte.3 Der Sarkasmus, mit dem der junge Chroniqueur in seiner Berichterstattung über die Kämpfe um die Badenischen Sprachenverordnungen die Aktionen der „fenstereinwerfenden Nation“ (FS II, 134, 144) und die Gestionen ihrer jungt¬ schechischen Politiker kommentiert, setzt Daniel Spitzers leitmotivi¬ sche Satirisierung der „czechischen Staatsrecht-Hausirer“4, die in ihren Tagträumen bereits den Krönungsschimmel vom Hradschin herunter¬ wiehern hören,5 ziemlich geradlinig fort. Die Loslösung von den Prämissen deutschliberaler Politik und ihrer publizistischen Vertretung zumal durch die „Neue Freie Presse“ bei gleichzeitiger Orientierung auf das soziale Emanzipationspotential der Sozialdemokratie, eine Neuorientierung, die sich Ende 1898 mit der satirischen Streitschrift „Eine Krone für Zion“ anbahnte und mit der Gründung der „Fackel im Frühjahr 1899 im wesentlichen vollzogen war, dieser Sezessionsprozeß manifestierte sich auch in einer grund¬ legenden Umwertung innenpolitischer Wertmaßstäbe, die so tiefgrei¬ fend war, daß man geradezu von einer Revolution der Allianzen spre¬ chen könnte, zuerst signalisiert in dem für „Die Wage“ geschriebenen Ischler Brief vom 21. September 1898, der die politische Atmosphäre der vergangenen Sommersaison nach dem Tode Bismarcks (30. Juli 1898) und der Ermordung der Kaiserin Elisabeth von Österreich (10. September 1898) resümiert. Er beginnt mit einer nach deutsch¬ liberalen Maßstäben unerhört vehementen Frontalattacke auf die Scheinliberale Außenfassade des unter der Hegemonie der magya¬ rischen Magnaten stehenden ungarischen Gesellschafts- und Herr¬ schaftssystems: „Es war eine große Zeit, in der wir Sommerfrischler lebten, und ein großes Geschlecht - zumeist Budapester - hielt die Bänke der Espla¬ nade durch mehrere Monate besetzt. Schon im Juli hatten mir diese Leute, die seit ihrer Niederlage auf dem Lechfelde immer wieder in unsere wesüichen Gegenden vorzudringen

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versuchen, mein Interesse an der Dreyfus-Affaire abgewöhnt. Die wach¬ senden Chancen der Revision wurden mit demselben Eifer verfolgt, mit dem meine überlauten Tischnachbarn die fortgesetzten Justizmorde im eigenen Lande vergaßen. Dann kam das Manifest des Czaren, und abermals hallte die ganze Gegend von einer compromittirenden Begei¬ sterung wieder. Alle Herzen [...] hatte der noch von wahrem Liberalis¬ mus erfüllte Herrscher aller Reußen erobert. [...] Bismarck starb, und glücklicherweise war sogleich ein ungarischer Officiosus zur Hand, der sich mit lauter Stimme über die Trauerkundgebungen der deutsch¬ österreichischen Presse entrüstete, als ob er den Franz Josefs-Orden nicht eben vorher erhalten hätte, sondern erst anstreben müßte. Ich gestehe gern ein, daß ich das Land Ungarn aus eigener Anschau¬ ung nicht kenne; aber wenn auch meine Abneigung gegen die Nation der elektrisch beleuchteten Barbaren ein Vorurtheil wäre, so glaube ich, daß es auch treffende Vorurtheile gibt, auf die man sich unter allen Umständen verlassen kann“ (FS II, 253f.). Bemerkenswert an diesem Passus bleibt, daß Karl Kraus 35 Jahre später, als er sich auf die Priorität der „oft (selten mit Quelle) zitierten Erkenntnis“ berief, daß in Deutschland „elektrisch beleuchtete Barba¬ ren hausen und daß es das Volk der Richter und Henker sei“ (S 12, 41),6 daß ihm da offenbar gar nicht mehr bewußt war, an der Urquelle die „elektrisch beleuchteten Barbaren“ in Budapest lokalisiert zu haben. Diese Fehlleistung, wenn es denn eine war, wirft nachträglich Licht auf eine sich verstärkende Grundüberzeugung der „Fackel“, daß die verhängnisvolle Bindung der sogenannten „Nibelungentreue“ vor allem durch die Achse Berlin-Budapest repräsentiert wurde. Was Karl Kraus 1898 provokativ hyperbolisch als sein magyarophobisches Vorurteil ausstellte, war gleichwohl politisch und sozial moti¬ viert; einen ziemlich vollständigen Motivenbericht dazu liefert der mit der Chiffre -B- gezeichnete Beitrag „Hungarica“, den Karl Kraus im April 1900 zu Beginn des zweiten Jahrgangs in der „Fackel“ veröffent¬ lichte und der sich ziemlich genau mit der Haltung des Herausgebers deckte, in dessen Augen die „ungarischen Machthaber“ (F 14, 5) „im Lande der zwangsweise photographierten Socialisten und der gefolter¬ ten Feldarbeiter“ (F 13, 27) ihre uneingeschränkte Klassenherrschaft und Justiz ausübten, während die „Neue Freie Presse“ „sich durch alle Ausgleichsschwierigkeiten ein offenes Herz für die .liberalen* Regie¬ rungen Ungarns bewahrt“ habe (ebd.). Solche nachdrückliche Betonung der besonderen Kritikwürdigkeit der herrschenden ungarischen Zustände erfolgte in der „Fackel“ bereits nicht mehr vom Standpunkt eines deutschliberal geprägten National-

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oder auch nur Kulturchauvinismus, vielmehr wurde dieser selbst zum Gegenstand der Kritik. Als Karl Kraus Ende 1910 Kürnbergers ver¬ schollenes Feuilleton „Lilis Park in Österreich“ wiederabdruckte, des¬ sen Autor 1871 die Wiener Volksmeinung über die als grundsätzlich verstockt geltenden „Böhmen“ und die als grundsätzlich dumm gel¬ tenden Ungarn referiert und in ihrer Symptomatik analysiert hatte, versah er diesen Abdruck mit einer Anmerkung des Herausgebers: „Es braucht in der ,Fackel' nicht erst zu diesem Anlaß gesagt zu werden, daß inzwischen der Deutsche in Österreich zwar nicht die Neigung, aber immerhin die Berechtigung verloren hat, auf den ,Böhm‘ und den ,Ungar' hinunterzusehen“ (F313, 16). Das brauchte in der Tat nicht erst zu diesem Anlaß gesagt zu werden, denn es war in den bisherigen zwölf Jahrgängen dieser Zeitschrift immer wieder gesagt worden, so schon Mai 1899 im zweiten Monat der „Fackel“ mit dem cisleithanischen Imperativ: „Die Deutschen und die Czechen und die Slowenen haben als culturell selbständige Natio¬ nalitäten und nicht als Staatspensionäre der österreichischen Bureaukratie, als Culturkämpfer für ihre eigene und nicht als solche gegen jede fremde Cultur aufzutreten“ (F 6, 16). Politische Träger eines solchen Kampfes für die eigene Kultur hätten die Sozialisten zu sein, indem sie sich gegen die jeweiligen nationalisti¬ schen Parteien verbünden, die sich als Bekämpfer jeder fremden Kul¬ tur profiliert haben. In diesem Sinne müssen sich auch und gerade die deutschösterreichischen Sozialdemokraten an ihrem eigenen Pro¬ gramm messen und sich davor warnen lassen, den bürgerlichen Partei¬ en politische Vorspanndienste zu leisten, so etwa im Juli 1900 in der satirischen Glossenfolge „Kleine Parteinachrichten der österreichi¬ schen Socialdemokratie“, wo es unter der Spitzmarke „Classenkampf" zu einem Artikel des von Karl Kraus sonst hochgeschätzten Friedrich Austerlitz heißt: „Gegenüber verschiedenen gegentheiligen Ausstreuungen, wonach sich die Socialdemokratie mit der Bourgeoisie in einem sogenannten Classenkampf befinde, weist Genosse Austerlitz in einem seiner letzten, einpointierten Artikel überzeugend nach, dass es die Hauptaufgabe des revolutionären Proletariates in Oesterreich sei, die deutsche und 7reantSo^ChlSChe Bour§eoisie endgiltig miteinander zu versöhnen“ (f 46, 21). Daß bei, der Erörterung der Themenkomplexe Innenpolitik, Lage der Deutschen m Österreich, Klassenkampf, Nationalitätenkonflikte Antisemmsmus und Chauvinismus tschechische bzw. böhmisch-mährische Anlasse eine bedeutende Rolle spielen würden, war der Jäckel“ schon

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durch das Datum ihres ersten Erscheinens gleichsam in die Wiege gelegt worden. Es war der 1. April 1899, ein Rarsamstag, derselbe Karsamstag, an dessen Vormittag in einem Walde bei Polnä an der böhmisch-mährischen Grenze die Leiche der ermordeten neunzehn¬ jährigen tschechischen Häuslerstochter Anezka Hrüzovä aufgefunden wurde: Ausgangspunkt für die berüchtigten Hilsner-Prozesse von Kutnä Hora und Pisek, in deren Vorbereitung, Verlauf und Nachwir¬ kungen fast zwei Jahre lang eine von fast allen politischen Parteien der Monarchie mit Ausnahme der Sozialdemokratie auf ihre Mühlen gelei¬ tete Flutwelle antisemitischer Massenhysterie und -Verhetzung einsetz¬ te, wie sie in Mitteleuropa noch nicht erlebt worden war. Den zahl¬ reichen Bezügen der „Fackel“ auf diesen Komplex im einzelnen nachzugehen würde eine eigene Studie erfordern; hier sei lediglich hervorgehoben, daß der „Kampf um Polna“, wie Bruno Adler diese Vorgänge 1934 in seinem gleichnamigen Tatsachenroman zusammen¬ fassend bezeichnet hat,7 daß dieser „Kampf um Polna“ Karl Kraus zum ersten Mal Gelegenheit bot, die Bedeutung Masaryks zu würdigen, die „echte Toleranz des vornehmen tschechischen Gelehrten, der seit anderthalb Decennien an der Erziehung einer Generation arbeitet, von der sein Idealismus die Verwirklichung der ,Idee des böhmischen Volkes1 erwartet“ (F 24, 5f.), und dessen Haltung Karl Kraus mit der des österreichischen Justiz- und Verwaltungsapparats kontrastiert, der dem politischen Druck der deutschen und tschechischen antisemitischen Parteien nachgebe: „Hier handelt es sich um die Ehre der österreichischen Recht¬ sprechung. Die Ehre der tschechischen Intelligenz hat schon der uner¬ müdliche Masaryk gerettet. Die Unterrichtsverwaltung freilich fühlt sich verpflichtet, dem tschechischen Gelehrten gegenüber das Recht der tschechischen Dummheit zu wahren. Herr v. Hartei hat nicht gewagt, Masaryks Zwangsurlaub abzukürzen [...]“ (F 36, 5). Der von der Erkenntnis sozialer Notwendigkeiten geprägte Standpunkt der „Fackel“ ermöglicht es deren Herausgeber auch, die zumal in Böh¬ men von den tschechischen und deutschen bürgerlichen Parteien mit besonderem Eifer betriebene wechselseitige Verrechnung und Vor¬ rechnung des sogenannten nationalen Besitzstandes von einer höhern Warte als von den Zinnen der deutschliberalen Parteien herab zu betrachten, wie es der junge Chroniqueur noch 1897/98 getan hatte. Das macht schon im zweiten Heft der „Fackel“ eine satirische Glosse deuüich, die Karl Kraus als eine der frühesten unter dem Titel „Ver¬ wirrung in Böhmen“ in seine lange projektierte, aber schließlich doch nicht mehr realisierte Sammlung „Kultur und Presse“ aufnehmen woll-

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te.8 Ihr anekdotischer Kern hätte sich durchaus dazu geeignet, von Josef Schwejk mit der stereotypen Überleitungsformel „Das kommt mir vor, wie“ (F 60, 27)9 als eines seiner ungezählten Beispiele erzählt zu werden, doch hat sie darüber hinaus eine medienkritische Pointe, die ihre Einordnung in dem Komplex „Kultur und Presse“ legitimiert. Bezugspunkt für die parodischen Titel- und Textanspielungen ist natürlich die Stelle aus Schillers Prolog zur Trilogie über den Prager Generalissimus Wallenstein: „Von der Parteien Gunst und Haß ver¬ wirrt, /Schwankt sein Charakterbild in die Geschichte“ (V. 102f.):10 „Der Prager Corpscommandant FZM. Graf G r ü n n e soll plötzlich in Geistesgestörtheit verfallen sein. Nichts wäre leichter begreiflich, als dass eine leitende Persönlichkeit in Prag von der Parteien Hass und Gunst wirklich eines Tages verwirrt werde. Der Statthalter, der Polizei¬ chef und der Consul des Deutschen Reiches, sie alle müssen seit Jahren auf dem engen Pfade zwischen den beiderseitigen nationalen Emp¬ findlichkeiten balancieren können. Wehe dem Hochgestellten, der auf dem Seil nicht zu tanzen vermag; es wird ihm zur Schlinge. Der deut¬ sche Consul hat in dieser Saison um ein czechisches Kränzchen mehr besucht, als der courtoise Anstand gebietet; flugs wies ihn eine gehar¬ nischte Interpellation im Berliner Reichstag in die Schranken. Herr Dörfl, der Polizeigewaltige, pflegt sich in blutige Straßenexcesse tactvollerweise nicht hineinzumischen, und auch Graf Coudenhove hielt geschickt die Mitte ein, als er anlässlich der Affaire Komarow11 den rus¬ sischen General zuerst aus Connivenz gegen die Slaven besuchte und dann zur Besänftigung des empörten deutschen Nationalgefühls abschieben ließ. Sie alle haben, indem sie gewissermaßen dem Problem des perpetuum mobile nahekamen, bis heute auf ihren vorgeschobe¬ nen Posten ausgeharrt. Nur ihn, den Einen, hat es den Verstand geko¬ stet. Der gerade Militär, der den nationalen Zwist bis in seine Kaserne eindringen fühlte, erwies sich den geistigen Anforderungen einer ungewohnten Taktik nicht gewachsen. Wahrhaft rührend ist in den Blättern zu lesen, wie es über ihn kam und wie er sich eines Tages — es war bei der großen Auferstehungsparade - nicht mehr zurecht fand. Die ,N.Fr.Pr.‘ berichtet, Graf Grünne habe plötzlich mehreren Officieren seine Anerkennung über die Haltung der Truppen ausgedrückt, was sofort zu verschiedenen Gerüchten über seinen Gesundheits¬ zustand Anlass gegeben habe. Diese Gerüchte seien zwar ,übertrieben', immerhin jedoch dürfe man sich nicht verhehlen, dass in der letzten Zeit eine .gewisse Überreizung' an dem General wahrgenommen wurde. Das .Extrablatt' schildert die Erkrankung des Grafen Grünne als sehr bedenklich; er habe sogar einzelnen nicht chargierten

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Soldaten die Hand gereicht. Aber glücklicherweise werden diese wirk¬ lich besorgniserregenden Symptome allsogleich vom ,Fremdenblatt1 officiös dementiert, welches zwar zugeben muss, dass der Graf die Officiere angesprochen und die Mannschaft belobt habe, aber alles aus einem ,hartnäckigen Magenleiden1 erklärt, an dem der General seit Jahren leide und das ihm oft große Schmerzen verursache ... Frag¬ lich bleibt jetzt nur, ob Schiller sich den Wallenstein, der ja auch zuwei¬ len leutselig war und die einzelnen Kürassiere nach ihrer Regiments¬ zugehörigkeit befragte, als mit Geistesgestörtheit oder bloß mit einem Magenleiden behaftet gedacht hat. Bald wird man wohl weniger myste¬ riös erfahren, wie es mit dem armen Grafen Grünne steht und ob er wirklich den Verstand verloren hat. Im Frieden pflegen ja selbst öster¬ reichische Generäle in den seltensten Fällen eine Schlacht zu verlie¬ ren“ (F 2, 23f.). Charakteristisch für die polemische und satirische Behandlung des hier angeschlagenen Themas der „beiderseitigen nationalen Empfind¬ lichkeiten“ ist bemerkenswerterweise schon in dieser frühen Phase die fast ausschließliche Konzentration auf die deutsche Seite dieser Beiderseitigkeit, zumal auf Manifestationen deutschliberaler wie deutsch¬ völkischer Kulturträgerarroganz aus Ignoranz, die ein Beitrag der „Fackel“ vom April 1901 am Beispiel der Neuberufungen von Künst¬ lern in das österreichische Herrenhaus demonstriert: „[...] während die tschechische Kunst einen Anton Dvorak [!] und einen Jaroslav Vrchlicky [!] stellte, mußte die deutsche sich begnügen, den achtbaren Schöpfer officieller Plastik ins Herrenhaus zu entsenden [...] Aber kein Kunstkenner zweifelt, daß auch an Zumbusch’ Stelle neben dem Musiker und dem Dichter ein dritter Tscheche, Myslbek, ins Herrenhaus berufen werden musste, wenn man nicht eben einen deutschen Bildhauer, sondern den repräsentativen Bildhauer Oester¬ reichs auserkoren hätte. Und die Deutschen Oesterreichs müssen, wenn sie die beschämende Ueberlegenheit gewahr werden, die die Pro¬ duction der Tschechen in Dichtung und Musik erlangt hat und die im vergangenen Winter auch auf dem Gebiete der bildenden Kunst durch die Vergleichung der Werke der Prager Künstlergesellschaft Manes [!] mit jenen der Wiener Secessionisten bewiesen wurde, die bange Frage nach den Ursachen stellen, die den deutschen Culturaufschwung in Oesterreich hemmen, und nach den Wirkungen, die daraus für die Stellung der Deutschen in diesem Staate in Zukunft entspringen müs¬ sen. Aber wer sollte ihnen diese Frage beantworten, ihnen die ganze Trostlosigkeit unseres Kunstlebens zum Bewusstsein bringen? Etwa die Blätter jener deutschnationalen Partei, der es noch stets wichtiger war,

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die Ueberlegenheit der deutschen Cultur zu betonen, als sie zu sichern, oder gar die Concordia-Presse, durch deren Schuld diese Ueberlegen¬ heit verlorengieng?“ (F 74, llf.). Obwohl der mit einem Kreuz gezeichnete kritische Beitrag, dem dieser Passus entnommen ist, nicht vom Herausgeber der „Fackel“ selbst stam¬ men dürfte, deckt er sich doch völlig mit dessen Auffassung, die im Sinne der oben zitierten Anmerkung immer konsequenter betont, daß der Deutsche in Österreich zwar nicht die Neigung, ganz gewiß aber die Berechtigung verloren habe, auf den „Böhm“ und den „Ungar“ hin¬ unterzusehen: deutschvölkische Boykott-Demonstrationen gegen Auf¬ tritte der tschechischen Violinvirtuosen Kociän, Kubelik und Ondricek (F 157, 20f.; F 158, 14; F 161, 14) entgehen der Polemik der „Fackel“ ebensowenig wie respektlose Nekrologe auf Dvorak (F 162, 29) oder Disproportionen einer Kulturberichterstattung, der es nicht um den künstlerischen Eigenwert, sondern um den nationalen Stellenwert des jeweiligen Produkts und seines Produzenten geht: „Bis zu welcher Stufe völkischer Vertrottelung sind wir denn gelangt, daß es uns nicht mehr auffällt, wenn die deutschliberale Presse, die über die Prager Premiere des Herrn Weinberger in spaltenlangen Arti¬ keln referierte, von dem gleichzeitigen Ereignis der ,Armida‘, einer Oper Dvorak’s mit Text von Vrchlicky, mit keinem Worte Notiz nahm? Glauben die Mauldeutschen denn wirklich, daß die Lyrik zwischen Linz und Innsbruck eine Erscheinung aufweist, die man mit Fug dem Czechen Machar [!] an die Seite stellen könnte?“ (F 161, 14f.). Machar wird dann auch der erste tschechische Dichter sein, den die „Fackel

Ende Juni 1909 mit dem Sonett „Cervenec v lese“ in einer

Übersetzung des österreichischen Lyrikers Felix Grafe ihren Lesern vorstellt (F 283, 48), gefolgt zwei Jahre später von Frantisek Langer mit dessen Erzählung „Der Rattenfänger und die Dirnen“ (F 319, 55-61) in der Erstübersetzung von Otto Pick. Begleitet war dieses Auftreten gegen deutschliberale und deutschvölkische Kulturträgerarroganz wie das Eintreten für die Anerkennung tschechischer Kulturwerte von Anfang an von einer permanenten pole¬ mischen und satirischen Beleuchtung zumal der „Zusammenhänge von Theater und Journalistik“ (F 1, 5)

im deutschen Prag, dem

zunächst wichtigsten Nebenkriegsschauplatz im Feldzug der „Fackel“ gegen

das

deutschliberale

Establishment.

Hier,

im

„bekannten

Schmockkästchen der Monarchie“ (F 176, 21), wie es in der „Fackel“ unter Verwendung eines offenbar schon vorher geflügelten Wortes heißt, dürfte, wenn die Rubrik ,Antworten des Herausgebers“ Rück¬ schlüsse auf die Verbreitung zuläßt, die zahlenmäßig stärkste Ge-

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meinde von geschulten „FackeP-Lesern außerhalb Wiens beheimatet gewesen sein. Der „Leser in Prag“ (F 25, 30f.; F 37, 30; F 58, 26) bzw. der „Prager Leser“ (F 95, 26; F 196, 23; F 221, 20) ist in dieser Brief¬ kastenrubrik - der Vorform des späteren Typus „Glosse“ - eine stehen¬ de Figur, und anläßlich des Belegs für eine der überdurchschnittlich bemerkenswerten „Orgien des dortigen Schmocktums“ (F 221, 20) wird vermerkt, daß der betreffende Zeitungsausschnitt der „Fackel“ zugleich „von mindestens zehn Prager Lesern zugesendet“ (F 176, 21) worden sei. Was ich über die Rolle der „Fackel“ für die jungen Prager Autoren der Kafka- und der Werfel-Generation an anderen Stellen gesagt habe, möchte ich hier nicht wiederholen,12 lediglich ergänzen durch den Hinweis auf mittlerweile dokumentierbare, aber vom Adres¬ saten nicht beachtete intensive Annäherungsversuche Max Brods an den Herausgeber der „Fackel“.13 Nicht unwesentlich dürfte zu diesem subversiven Einfluß beigetragen haben, daß im Gefolge der HardenPolemik schon

1907 Hugo Salus als „der lyrische Hausarzt der

.Zukunft4“ (F 227, 25) und „einzige Lyriker, den Herr Harden wirklich hochschätzt“ (F 234, 23), zur Leitfigur einer Literatursatire wurde, die 1913 in der Parodie der Salusschen Ballade „Windischgrätzdragoner“ (F 370, llf.) gipfelte. Daß die „Fackel“ mit ihrer hier skizzierten innen- und kulturpoli¬ tischen Haltung schon im ersten Jahrzehnt ihres Erscheinens - also noch vor Einführung des Prinzips der Wirkungsdokumentation in Form der „Selbstanzeige“ - literarische und publizistische Aufmerk¬ samkeit auch und gerade im tschechischen Sprachbereich auf sich gezogen hat, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, doch lie¬ gen darüber meines Wissens noch keine gesicherten Erkenntnisse vor.14 Nachprüfbar, aber dennoch so gut wie unbeachtet geblieben ist dagegen ein spezifischer Bereich der „Fackel“-Rezeption, in dem die Tschechen vor dem Ersten Weltkrieg eine führende Rolle gespielt haben: die Geschichte der gerichtlichen Konfiskationen der „Fackel“ auf Grund von Verfügungen des jeweiligen Preßstaatsanwalts. Anlässe waren in dieser Zeit stets solche Stellen der „Fackel“, die von der Zen¬ surinstanz als Majestätsbeleidigung bzw. Ehrfurchtsverletzung gegen¬ über Mitgliedern des kaiserlichen Hauses gedeutet wurden. Solche Konfiskationen ließen sich damals ziemlich einfach als unbegründet aufheben, indem man sie immunisieren ließ, das heißt, indem ein Reichsratsabgeordneter oder eine Gruppe von Parlamentariern dafür gewonnen wurde, die konfiszierte Stelle als Zitat zum Bestandteil einer Interpellation im Abgeordnetenhause und so der Publikation wieder zugänglich zu machen, wodurch sie natürlich stets noch auffälliger und

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sensationeller wirkte als in ihrem ursprünglichen Kontext. Einen sol¬ chen Immunisierungsdienst hatte der „Fackel“ in deren erstem Jahr¬ gang der 1901 verstorbene alte demokratische Wiener Sozialpolitiker Dr. Ferdinand Kronawetter geleistet,15 der Urheber des geflügelt gewordenen Ausspruchs, der Antisemitismus sei der Sozialismus des dummen Kerls von Wien. Ein Jahr später16 mußten neun Zeilen in einer Polemik gegen die journalistische Ausschrotung von Kaiserwor¬ ten für kommerzielle Zwecke ohne Immunisierung konfisziert bleiben, da das Parlament wieder einmal, wie in Cisleithanien des öfteren, auf¬ gelöst war. Die nächste Gelegenheit ergab sich erst wieder gegen Ende der 10. Legislaturperiode, der letzten vor der Wahlreform von 1907, als der Wiener Preßstaatsanwalt Dr. Viktor Pollak den Schluß der letzten der ,Antworten des Herausgebers“ in der „Fackel“ Nr. 207 vom 23. Juli 1906 konfiszieren ließ, wiederum mit der Begründung der Majestäts¬ beleidigung. Der letzte Satz vor der konfiszierten Stelle lautete: „Ein geflügeltes Wort haben wir dem Prozeß Zeller zu danken“ (F 207, 28). Das so angekündigte geflügelte Wort war indessen gestrichen worden und in der Kernstelle des inkriminierten Passus enthalten: „Der Polizeirat Stukart gab an, er habe dem Bräutigam der Friederike Zeller, da dieser sie von sich stieß, zugerufen: .Prohaska, Mensch

nur

sein!1 Endlich eine amtliche Devise, die das schon ein

wenig schadhafte Programm Justitia fundamentum regnorurn' zu ersetzen imstande sein wird! [...] Möge die Menschlichkeit, die sich so unvermutet im Bureauzimmer eines Polizeirates etablierte, bei der Be¬ gnadigungsfrage nicht übersehen werden! .Prohaska, nur Mensch sein!“1 (F 207, 29). Natürlich hatte der Preßstaatsanwalt bei seinem Konfiskationsbeschluß die Assoziation im Sinne gehabt, die sich damals zumal für Tschechen mit dem Namen Prochäzka verband und auch jedem deutschen HasekLeser von heute vertraut sein kann.17 Den Abdruck der Interpellation, die die inkriminierte Stelle enthielt, leitete Karl Kraus mit dem ironi¬ schen Hinweis ein, daß „sie, wie ich aus sicherster Quelle weiß, ursprünglich einer

von

den

Namen

sämtlicher

Mitglieder

Regierungspartei unterzeichnet war. Sie überlegten

sich s, als die Interpellation schon auf dem Präsidententisch lag, und zogen ihre Unterschriften

,aus

politischen

Gründen'

zurück. Nur zu begreiflich. Es waren nämlich Sozialdemokraten“ (F 207, 29). Von den siebzehn Unterzeichnern dieser parlamentarischen Anfrage, die als „Interpellation der Abgeordneten Choc und Genossen“ ins Protokoll aufgenommen wurde, waren neben sechs Agrariern der pol-

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191

nischen Volkspartei und den unabhängigen Abgeordneten Ernst Brei¬ ter und Adalbert Graf Sternberg nicht weniger als neun Tschechen, davon zwei linke Sozialdemokraten, Petr Cingr und Josef Hybes (wonach die ironische Vorbemerkung der „Fackel" auf die deutschen Sozialdemokraten des Reichsrats einzugrenzen wäre), und sieben Poli¬ tiker aus dem Lager der Jungtschechen bzw. tschechischen Nationalso¬ zialisten, von denen einige noch im politischen Leben der Ersten Repu¬ blik eine bedeutende Rolle spielen sollten: Dr. Karel Baxa, Josef Cerny, Väclav Fresl, Väclav Choc, Väclav Klofäc, Väclav Sehnal und Antonin Sobotka (F 207, 30). Noch bemerkenswerter ist die zweite parlamentarische Anfrage, die ein Jahr später, zu Beginn der 11. Legislaturperiode, der ersten nach der Wahlrechtsreform, als „Interpellation der Abgeordneten Dr. Masaryk und Genossen an den Herrn Justizminister“ (F 230, 2) eingebracht und natürlich ebenfalls in der „Fackel" abgedruckt wurde. Sie trägt wieder¬ um siebzehn Unterschriften, diesmal sind es jedoch ausschließlich Namen tschechischer Abgeordneter, und zwar mit Ausnahme des Initiators Masaryk und des abermals vertretenen Dr. Baxa die Namen von fünfzehn tschechischen Sozialdemokraten, von denen man den meisten in der Ersten Republik ebenfalls wieder begegnen wird: Ludvlk Aust, Frantisek Binovec, Väclav Cerny, Jan Filipinsky, Gustav Hab(e)rman(n), Josef Hybes, Viktor Johanis, Hynek Klicka, Antonin Nemec, Ludvik Pik, Vincenc Pospfsil, Antonin Remes, Antonin Sveceny, Frantisek Tomäsek und Leo Winter (F 230, 5). Bei der Immunisierung der Konfiskation von

1906 hatte es der

Herausgeber der „Fackel“ noch für nötig erachtet, auf den Verdacht einer parteipolitischen Bindung zumindest polemischen Bezug zu nehmen: „Zumeist waren es tschechisch-radikale Abgeordnete, die sich zur Immunisierung jener Stelle, bei deren Auslegung der Staatsanwalt eine Majestätsbeleidigung begangen hatte, bereitfanden. Die Sozialdemo¬ kraten hatten die Interpellation samt und sonders unterschrieben, im letzten Moment sich aber auf ihre Loyalität besonnen und ihre Unter¬ schriften zurückgezogen. Ein peinlicher Effekt für die sozialdemokra¬ tische Fraktion, für mich höchst erfreulich. Denn der leiseste Verdacht des Zusammenhangs der ,Fackel' mit irgendeiner politischen Partei war damit zerstört. Daß man aus den Namen, die endgiltig unter der Interpellation standen, auf eine Unterstützung des ultratschechischen Parteiprogramms durch die ,Fackel' schließen könnte, war ja nicht vorauszusehen, und wenn in Linzer Kaffeehäusern dennoch solche Schlüsse gezogen wurden, so darf ich dies als eine angenehme Bestäti-

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Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

gung meiner Diagnose jener fortschrittlichen Gehirnerweichung emp¬ finden, die die ,Lage der Deutschen in Österreich* so verzweifelt erscheinen läßt“ (F 208, 6f.). Nach der Beschlagnahme der Doppelnummer 223-224 vom 12. April 1907, „die wegen Ehrfurchtsverletzung des Staatsanwalts vor der Maje¬ stät der Satire konfisziert worden war“ (F 226, 12), wie die „Fackel“ sar¬ kastisch kommentiert, fehlt ein solcher distanzierender Kommentar sowohl zur nationalen Zugehörigkeit als auch zur parteipolitischen Couleur der Unterzeichner, was um so bemerkenswerter ist, als der Prozeß der Abgrenzung der „Fackel“ von der deutschösterreichischen Sozialdemokratie inzwischen weitere Fortschritte gemacht hatte. Noch 1921, in einer Satire auf den mißglückten Rückkehrversuch des Exkai¬ sers Karl, wird Karl Kraus sich dieser von Masaryk veranlaßten Hilfs¬ aktion dankbar erinnern und als Beleg dafür, „daß es Erzherzoge gab und daß man vor solchem Übelstand schweigen mußte“, das Beispiel von 1907 anführen: „eine Kritik der Spalierbildung, als bei einem Unfall die Neugierde das Werk eines ,hochgebornen Samariters* ver¬ zögerte und die Zeitung über diesem den Verunglückten vergaß, wurde konfisziert und vom Abgeordneten Masaryk gerettet“ (F 568, 27). Der Wortlaut der Interpellation, die ausdrücklich den Anspruch erhebt, eine authentische Interpretation der „Meinung des Verfassers“ (F 230, 4) zu bieten, dürfte übrigens weitgehend auf Karl Kraus selbst zurückgehen, wie das ja dann auch bei allen vom Verlag der „Fackel“ oder von den Rechtsvertretern Schriftsätzen die Regel war.

ihres Herausgebers gezeichneten

Zwei Jahre spater, zehn Jahre nach dem „Kampf um Polna“, stellte Karl Kraus sich abermals solidarisch an die Seite Masaryks, und zwar Ende 1909 m der polemischen Satire „Prozeß Friedjung“ (F 293, 1-20), von der er 1920 rückblickend urteilte, daß er „seit den Tagen des Friedjungprozesses gewußt habe, wie diese grandiose Eselei verlaufen werde“ (F 546, 24), und die er zum 10. Jahrestag des Kriegsausbruchs als Aus¬ gangspunkt der von ihm

„aufgezeigten

Untergangslinie aus

der

Falschersphare des Prozesses Friedjung konsequent bis zum Weltkrieg“ (F 657, 22) ansetzte. Diesem hohen prognostischen Stellenwert ent¬ sprach auch der Platz, den Kraus diesem Beitrag in der 1922 veröffent¬ lichten Sammlung „Untergang der Welt durch schwarze Magie“ zuwies: Er steht hier gleich an zweiter Stelle, unmittelbar nach der .Apokalyp¬ se , deren universale Perspektive er gleichsam österreichisch konkreti¬ siert, wobei der zweite Teil eines der Schlußsätze durch Sperrdruck als prophetische Warnung hervorgehoben wird: „Österreich ist das Land, in dem man keine Konsequenzen zieht;

es

achte

darauf,

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen daß sie den! “18

nicht

gegen

Österreich

gezogen

193 wer¬

Masaryk reagierte unmittelbar nach Erscheinen des betreffenden Hef¬ tes der „Fackel“ mit einem spontanen Zustimmungsbrief, den Kraus 1921 publizierte: „Nr. 293 der .Fackel' sagt vieles, was ich denke und gelegentlich noch öffentlich zu sagen gedenke - ich fühle mit Ihnen, daß das .kleine' Serbien und die Kroaten in der Sache um so viel höher gestanden sind, als das .große' Oesterreich, und ich beurteile dieses offizielle Oesterreich ganz so wie Sie“ (F 568, 33). Aus dieser solidarischen Haltung während der Vorkriegs- und erst recht während der Kriegszeit konnte Karl Kraus die Befugnis ableiten, sich kritisch zu Entwicklungssymptomen der ersten tschechoslowa¬ kischen Republik zumal in den ersten Nachkriegsjahren zu äußern, die ihm zuweilen das Bild einer Fortsetzung politischer Praktiken der alten Monarchie bzw. beider Monarchien mit anderen nationalen Vor¬ zeichen zu bieten schienen. Belege für diese Haltung finden sich in hinreichender Fülle sowohl in den Briefen an Sidonie

Nädherny19

als

auch in Vorbemerkungen und Programmnotizen zu den „Vorlesungen Karl Kraus“, deren erster Schauplatz außerhalb Wiens unmittelbar nach Kriegsende in der zweiten Novemberhälfte 1918 wiederum Prag war.20 Auf diese erste Prager Reihe von vier Vorlesungen folgte eine mehr als anderthalbjährige Pause, und als Kraus danach im Juni 1920 wieder im Mozarteum auftrat, leitete er seine erste Vorlesung mit einer „Mahnung an die Sieger“ (F 546, 25) ein und schickte der Lesung ein¬ zelner Szenen aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ Zwischenbe¬ merkungen voraus wie etwa die folgende zur Schlußszene des V. Aktes: „Ich lese nun die große Schlußszene des V. Aktes der .Letzten Tage der Menschheit', muß mich aber gerade für diese Gestaltung des großen Feldgrauens auf die gestrige Mahnung an die Sieger berufen. Sie haben ja leider Gottes schon genügend deutsch gelernt und so wenig Öster¬ reichisch vergessen, um in diesen Bildern vom jüngsten Tage nicht aus¬ schließlich den Besiegten getroffen zu fühlen“ (F 546, 25). Und zum Schluß des „Nachrufs“ (F 501, 1-120): „Nun die letzten Sei¬ ten des im Herbst 1918 geschriebenen Nachrufes auf das gefallene Österreich-Ungarn, der leider Gottes heute angesichts dieser nie den falschen Weg verfehlenden Menschheit in seinem Hoffen als Irrtum, in seinem Fluchen als Prophetie wirkt“ (F 546, 25). Freilich bleibt bei solcher Kritik stets eine Hierarchie der qualitativen Unterscheidung und der quantitativen Abstufung gewahrt, die Aus¬ druck nicht nur polemischer Taktik, sondern auch satirischen Taktes ist; denn, was immer über und gegen das Regime der Sieger zu sagen

194

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

sei, „die Phantasie holt sich einen eiskalten Schauer und keine faßbare Vorstellung von dem Erwägen der Möglichkeit, daß die Besiegten gesiegt hätten, und von der Ahnung der Greuel, die den Leibern und den Geistern, Gott und der Kreatur dann angetan worden wären“ (F 546, 22). Dieser satirische Takt der Abstufung macht sich nicht nur in den Vor¬ lesungen, sondern auch in der Komposition eines jeden „Fackel“-Heftes bemerkbar, in dem dieser Komplex berührt wird. So steht z. B. an der Spitze des Augustheftes von 1920 das Gedicht „Die Lage der Deut¬ schen in Österreich“ (F 551, lf.), dessen Gegenstand die Perpetuierung des Titelthemas in der neuen Tschechoslowakei ist, die es von der alten Monarchie übernommen habe, in der es zwanzig Jahre lang eine von der „Fackel“ leitmotivisch satirisierte Klischeeformel gewesen war; am Ende des Heftes steht als satirisches Gegengewicht das „Gespräch mit dem Monarchisten“ (F 551, 20), das dessen Dummheit und Unbelehrbarkeit als das eigentliche, ursprünglichere und größere Übel zur Anschauung bringt. In diesem Sinne bleibt Karl Kraus stets darauf bedacht, unmißverständlich klarzustellen, daß er mit seiner Kritik an nationalistischen oder militaristischen Symptomen der neuen tsche¬ choslowakischen Staatsordnung keineswegs gesonnen ist, der monar¬ chistischen Restauration oder den hakenkreuzlerischen Anschlu߬ bestrebungen handhabbare Argumente zu liefern. Als letztes Beispiel für solche Planhaftigkeit satirischer Abstufung sei auf den Aufbau des Oktoberheftes von 1923 verwiesen. Es bietet nach der Eingangssatire „Das österreichische Selbstgefühl“ (F 632, 1-26) und einer Glossen¬ folge zu Wiener Themen (F 632, 27-33) unter der Überschrift „Für ewige Zeiten“ (F 632, 34f.) einen Abdruck der Armeebefehle Franz Josephs I., des Erzherzogs Joseph Ferdinand und des Armeeoberkom¬ mandanten Feldmarschall Erzherzog Friedrich über die Streichung des tschechischen 28. Infanterieregiments aus der Liste der österreichi¬ schen Regimenter „für ewige Zeiten“: Dokumente, die übrigens auch zu Beginn des III. Teils von Haseks „Svejk“ in extenso zitiert werden21 und deren ersten öffentlichen Vortrag in der 275. (172. Wiener) Vorlesung vom 18. Oktober 1923 Karl Kraus mit den Worten eingeleitet hat: „Ich publiziere nun den Originaltext des gräßlichsten Dokumentes aus jener großen Zeit, deren Wiederkehr so viele sogenannte Menschen erstreben und viribus unitis, das heißt mit Hilfe der reichen Juden, her¬ beifuhren wollen. Dieses Dokument ist der stärkste Beleg dafür, daß das Standrecht regnorum fundamentum sein sollte, aber statt dessen die Gründung der tschechischen Republik bewirkt und jene blutige Saat bedeutet hat, aus der die tschechische Krone gedeihend hervorging. Es

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

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bietet nebst aller Entlarvung der Glorie und der imperialen Christlich¬ keit das furchtbare Geständnis, daß man eine Nation in einen Krieg gezwungen hat, von dem man wußte, daß er ein Krieg gegen die Nation sei. Wie alles gekommen ist, was die Menschen heute vergessen haben oder nicht mehr hören wollen, eben das schreit es zum Himmel“ (F 640, 102f.). Den Eckkontrast dazu bietet gegen das Ende des Heftes die Glosse .Absage“ (F 632, 149), ein Kommentar der Meldung, daß Präsident Masaryk den österreichischen Kriegs- und Inflationsgewinnler Camillo Castiglioni auf Schloß Lana (Läny) zum Lunch empfangen habe, den¬ selben Castiglioni, dem die anschließende polemische Satire des Hef¬ tes gewidmet ist, unter der Überschrift „Metaphysik der Haifische“ (F 632, 150-158). Diesen Eckkontrasten entspricht ein Binnenkontrast in der zweiten Glossenfolge des Heftes: Konfrontiert wird ein larmoyantes nationa¬ listisches Hetzgedicht von Karl Hans Strobl (F 632, 37-39) mit einem Zitat aus einem martialischen tschechischen Manöverbericht (F 632, 39). Ab Mitte der zwanziger Jahre im Gefolge der Auseinandersetzung um die verhinderte Aufführung der „Letzten Nacht“ in Prag und die geplante Ausweichvorstellung in Teplitz, treten solche kritische Vorbe¬ halte zurück im Zeichen des gemeinsamen Abwehrkampfes gegen alpen- und sudentenländische Hakenkreuzler, für die Kraus seit der Satire „Die Sudeten“ (F 657, 74—85) von August 1924 die rasch aufge¬ griffene Sammelbezeichnung „Troglodyten“ eingebürgert hat.22 Um dieselbe Zeit beginnt außer den bereits von Jaromir Louzil und Zdenek Solle dokumentierten tschechischen Stimmen23 auch ein ver¬ stärktes Engagement zunächst der kommunistischen, dann auch der sozialdemokratischen deutschsprachigen Presse in der Tschecho¬ slowakei für Persönlichkeit und Werk von Karl Kraus, ein Engagement, das im Unterschied zum deutschen und österreichischen Bereich bis in den Anfang der dreißigerjahre, zum Teil bis zum April 1934 reicht. Das linke und das rechte Extrem dieser Kraus-Rezeption bezeichnen die Namen Paul Reimann (F 649, 114)24 und Emil Franzei25: Es gehört das zu den wirkungsgeschichtlichen Aspekten des Themas „Karl Kraus und der Sozialismus“, von denen freilich in dem 1976 erschienenen gleich¬ namigen Buch von Alfred Pfabigan ebensowenig die Rede ist wie von dem oben erwähnten parlamentarischen Engagement tschechischer Sozialdemokraten vor dem Ersten Weltkrieg; themengerechter hätte der Verfasser sein Buch „Karl Kraus und die SDAPO“ betiteln müssen.26 Ich hatte mich in Hinblick auf die Nachkriegsentwicklung in unserem Themenbereich mit umrißhaften Andeutungen zu begnügen, und ich

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Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

konnte das auch nicht allzu schlechten Gewissens tun, da zu diesem Zeitraum in größerer Anzahl Detailuntersuchungen teils bereits vorlie¬ gen, teils noch zu erwarten sind.27 Aus ähnlichen Gründen habe ich vom Doppelaspekt des Themas „Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen“28 den letzten der beiden stark vernachläs¬ sigt, ich möchte davon lediglich einige Punkte berühren, auch diese nur in der Hoffnung, nichts vorwegzunehmen. Der erste betrifft eher ein Desiderat, den Wunsch nach einer kontrastiv vergleichenden Untersuchung der „Letzten Tage der Menschheit“ und der .Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ unter dem Aspekt von Konvergenzen und Divergenzen der satirischen Verfahren in der Gestaltung der Weltkriegsrealität: ein Thema, dem eine besondere Stu¬ die dieses Bandes gilt.29 Auf einen zweiten Punkt sei wenigstens summarisch hingewiesen: auf die seit Beginn der zwanziger Jahre - zumal durch Otto Picks Antho¬ logie „Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei“30 - eingeleiteten, um 1930 sich intensivierenden Bemühungen, deutschsprachige Auto¬ ren aus den böhmischen Ländern, wie etwa Rilke, ja sogar Musil, aus der lebensgeschichtlich bewirkten Entfernung von ihren regionalen Urspi üngen in den literarischen Gesamtkontext der de jure zwar als Nationalstaat der Tschechen und Slowaken firmierenden, de facto jedoch multinationalen I schechoslowakei gleichsam heimzuholen oder doch dokumentierend wiedereinzubürgern. Im Falle von Karl Kraus geschah das - mit dessen ausdrücklicher Zustimmung - sowohl durch die tschechische wie deutschböhmische Autoren erfassende An¬ thologie „Symfonie välky. Välka vzrcadle ceskoslovenskeho pisemnictvi“ („Symphonie des Krieges. Der Krieg im Spiegel des tschechoslowa¬ kischen Schrifttums )31 als auch durch die Aufnahme von acht Ge¬ dichten in die vorrangig für den Deutschunterricht an tschechischen Gymnasien bestimmte Sammlung „Deutsche Lyrik aus der Cechoslovakei V Ähnlichen Aspekten ist die eingehende Würdigung verpflichtet, die Pavel Eisner 1933, im Erscheinungsjahr der tschechischen Überset¬ zung der „Letzten Tage der Menschheit“,33 der Persönlichkeit und dem Werk von Karl Kraus im Rahmen seiner Darstellung der Geschichte der deutschen Literatur auf dem Territorium der Tschechoslowakei seit 1848 hat angedeihen lassen.34 Und schließlich wäre, drittens und letztens, verwischten Spuren einer Karl-Kraus-Rezeption gründlicher nachzugehen, die über die antizipatonschen, 1934 von dem bereits zu Lebzeiten literarisch und politisch totgesagten Satiriker noch selber dokumentierten „Nachrufe auf Karl Kraus“ (F 889) hinaus - freilich weithin anonym und latent - weiter-

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

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geführt haben. Ein besonders schlagendes Beispiel dafür ist der 1934 erschienene „Zurnalisticky slovnik“ (Journalistisches Wörterbuch“) von Karel Poläcek,35 der 1930 Karl Kraus’ Kampf gegen die Phrase öffentlich gerühmt hatte.36 In dem Büchlein von 1934, das nicht nur im satirischen Verfahren des Hauptteils, sondern auch in den Gedanken zur Phänomenologie und Typologie der Phrase, wie sie sowohl im Vor¬ wort von Karel Capek37 als auch in der Einleitung des Verfassers38 ent¬ wickelt werden, dem Werk der „Fackel“ so eindeutig und manchmal wortwörtlich verpflichtet ist, fällt der Name Karl Kraus nicht ein ein¬ ziges Mal. Hier manifestierte sich ein politischer Sachverhalt, den Jan Münzer, der tschechische Übersetzer der „Letzten Tage der Mensch¬ heit“, 1935 in seinem Karl-Kraus-Artikel für die führende tschechische Enzyklopädie ebenso zutreffend wie lapidar in dem Satz resümiert hat: „Während des Krieges hat er gegen die Dynastie gekämpft, nach dem Krieg, enttäuscht von der Entwicklung in der österreichischen Repu¬ blik, seine kritische Aktivität weitergeführt und ist heute ebenso isoliert wie in der Monarchie.“39 Das war die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, aber eine traurige; und sie hätte nicht ohne weiteres bedeuten müssen, den Herausgeber der „Fackel“ und Autor der „Letzten Tage der Menschheit“ mit seinem Gesamtwerk in die politische und literarische Quarantäne zu verbannen, wie das ja nicht nur in Österreich gesche¬ hen ist. Dreißig Jahre nach dem durch jene „Nachrufe auf Karl Kraus“ gekennzeichneten einschnitthaften Jahr 1934 hat es dauern müssen, bis Ende 1964 in einem Karl-Kraus-Heft der Zeitschrift „Divadlo“ („Theater“) wieder Texte dieses Autors in tschechischer Sprache erschienen sind, darunter eine Auswahl von Aphorismen in der Über¬ tragung des renommierten Swift-, Joyce- und Sterne-Übersetzers Aloys Skoumal (1904-1988),40 und abermals zwanzig Jahre, bis der KarlKraus-Auswahlband „Soudim zive i mrtve“ („Ich richte die Lebendigen und die Toten“)41 vorlag, wiederum mit Übersetzungen von Aloys Skou¬ mal, darunter einer Neuübertragung der sprach- und kulturkritischen Satire „Das technoromantische Abenteuer“ (F 474, 41-45), eines ge¬ rade auch für die tschechische Karl-Kraus-Rezeption wichtigen Schlüs¬ seltextes. Dem Abschluß der Arbeit an einer schon vor längerem durch Hanus Karlach in Angriff genommenen Neuübersetzung der „Letzten Tage der Menschheit“ ins Tschechische42 ist inzwischen 1987 die Publi¬ kation einer slowakischen Erstübersetzung der Tragödie zuvorgekom¬ men.43 1988 schließlich hat Michaela Jacobsenovä einen Auswahlband mit 44 lyrischen Gedichten und 38 Epigrammen von Karl Kraus in tschechischen Nachdichtungen vorgelegt.44

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Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

Zur Herstellung einer gesicherten, möglichst alle einschlägigen Zeug¬ nisse umfassenden Materialbasis für eine möglichst viele Aspekte berücksichtigende Arbeit zum Thema „Karl Kraus bei den Tschechen“ bleibt noch viel und vieles zu leisten.45 Unter den zahlreichen Motiven, die dazu als Ansporn dienen könnten, ist vielleicht angesichts der Kon¬ kurrenzkonjunktur nationaler Selbstgerechtigkeiten nicht an letzter Stelle ein Wert- und Wertungsurteil zu nennen, das Pavel Eisner 1933 aus Anlaß der ersten tschechischen Übersetzung der „Letzten Tage der Menschheit“ getroffen hat mit den Worten, dieses Werk sei beispielge¬ bend gerade auch als „die Kundgebung einer richtenden Gerechtig¬ keit, die vor der Tür des eigenen Volkes kehrt, was viele noch immer nicht gelernt haben“46.

Der Jawohlsager und der Neinsager Komplementäre Weltkriegssatire bei Jaroslav Hasek und Karl Kraus

Der

1976 verstorbene, Kennern marxistischer Literaturgeschichts¬

schreibung wohlbekannte Paul Reimann hat 1966 unter dem Titel „Ve dvacätych letech“ („In den zwanziger Jahren“) den ersten und leider auch einzigen Band seiner Lebenserinnerungen veröffentlicht, wel¬ cher bedauerlicherweise noch immer nicht in deutscher Sprache vor¬ liegt. Zu bedauern bleibt das zumal deshalb, weil es im deutschsprachi¬ gen

Bereich

insgesamt

mehr

Leser geben

dürfte,

die

an

dem

Informationsangebot dieser Memoiren interessiert wären, als im tsche¬ chischen, dem es zur Verfügung steht; und zwar gilt das nicht nur im allgemeinen, sondern auch ganz im besonderen für das Thema der rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Konvergenzen und Divergen¬ zen in der Aufnahme der Hauptwerke zweier Autoren, deren Ruf, die bedeutendsten Weltkriegssatiren der Weltliteratur geschrieben zu haben, heute ebenso unbestritten ist, wie er vor literarhistorisch gar nicht einmal so langer Zeit noch umstritten war, ja nachdrücklich bestritten wurde: Karl Kraus und Jaroslav Hasek. Paul Reimann, Jahrgang 1902, aufgewachsen im liberalen Vorkriegs¬ milieu einer deutschjüdischen bürgerlichen Familie aus der gegen die tschechische Peripherie sozial, national und kulturell ziemlich dicht abgeschotteten Brünner Innenstadt, schildert im Rückblick sehr ein¬ drucksvoll, wie tief den damals noch nicht Siebzehnjährigen der Anfang 1919 in der „Fackel“ erschienene „Nachruf1 auf die soeben zer¬ fallene Monarchie als der „stärkste Kriegsfluch, der in deutscher Spra¬ che geschrieben wurde“ (F 787, 69), und damit zugleich als die lange Zeit ebenso sehnlich wie vergeblich gesuchte „Sinngebung des Sinn¬ losen“1 kriegs- und nachkriegsgeschichtlicher Ereignisabläufe mit der Wucht eines Schlüsselerlebnisses traf und betroffen machte. „Damals geriet mir durch einen Zufall ein kleines rotes Heft mit der Auf¬ schrift ,Die Fackel' in die Hand. [...] Die Zeitschrift hatte meine Mutter nach Hause gebracht, eine Verehrerin der Werke von Karl Kraus, von dessen Ansichten ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. Inhalt des Hef¬ tes war der im Januar 1919 erschienene .Nachruf auf das alte Öster¬ reich-Ungarn. [...] Das alles ermöglichte mir, die mittlerweile schon

200

Der Jawohlsager und der Neinsager

nicht mehr existierende Wirklichkeit unter einer völlig neuen Perspek¬ tive zu sehen. Karl Kraus wurde einer meiner höchstgeschätzten Lieb¬ lingsautoren, zumal nach der Lektüre seines großen Dramenwerks ,Die letzten Tage der Menschheit1, denn er gab eine unmittelbare Antwort auf alles, was wir in Österreich während des Krieges erlebt hatten, und er als einziger hatte den Krieg schon zu einer Zeit verurteilt, als die Sozi¬ aldemokratie noch für ihn eingetreten war. Nur wenige Monate nach dem an der Monarchie via facü vollzogenen Todesurteil wirkten seine Schriften auf mich als eine vernichtende moralische Verurteilung. Er war der erste große Satiriker, der mit Österreich abgerechnet hatte. Hasek schrieb seinen Svejk erst einige Jahre später.“2 Uber die Vorrangstellung, die Hasek bei den Mitgliedern der 1922 gegründeten

kommunistischen

Studentenverbindung

(„Kommunistische Studentenfraktion“)3 in

„Kostrufa“

der literarischen Wer¬

tungshierarchie einnahm, heißt es dann: „Der Gipfel von allem war für uns natürlich der ,Svejk1. Die bürgerliche Kritik lehnte ihn als literaturunwürdig ab. Aber Ivan Olbracht hatte den ,Svejk1 im ,Rude prävo1 leidenschaftlich verteidigt. Wir hielten es mit Olbracht. Hasek, das war unser Autor, der Autor der Jungen, der Autor derjenigen, die den Krieg erlebt hatten und gegen die Welt revol¬ tierten, die ihn hervorgebracht hatte. Ich selbst stellte Hasek neben meinen anderen Lieblingsautor, neben Karl Kraus. Obwohl die Litera¬ turform eine andere war, war es [das Werk Haseks, K.K.] doch ebenfalls eine Satire großen Formats, die unbarmherzig alles enthüllte, was has¬ senswert war.“4 Hinblick auf Karl Kraus erfüllte indessen Haseks Roman keine Ersatz-, sondern eine Kumulations- und Komplementärfunktion; denn, so betont Reimann auch im Namen seiner Generations- und Gesinnungsgenossen, zu denen unter anderen F. C. Weiskopf gehörte: „Die Hauptgestalt in der neueren deutschen Literatur, auf die sich unser Interesse konzentrierte, war und blieb Karl Kraus. Wir sahen in ihm fast so etwas wie einen neuen Klassiker der Literatur. Dieses Inter¬ esse war natürlich und begreiflich. Eine sozialistische deutsche Litera¬ tur war erst im Entstehen begriffen [...] Unter den nichtsozialistischen Schriftstellern war Karl Kraus der konsequenteste Kritiker des Imperia¬ lismus und zugleich ein großer Dichter und Meister der Satire. [...] In Literaturfragen war er für uns eine Autorität. [...] Obwohl Karl Kraus kein Kommunist war, bedeutete uns der Kampf für ihn Kampf für den Fortschritt in der Literatur.“5 Dieses Beispiel so nachdrücklicher Wertschätzung im Zeichen einer Wertaquivalenz der Autoren Hasek und Kraus unter dem gemein-

Der Jawohlsager und der Neinsager

201

samen Kriterium der „Satire großen Formats“ war deshalb ausführ¬ licher zu dokumentieren, weil es bis über die Mitte der zwanziger Jahre hinaus keineswegs die Regel war, sondern im Gegenteil eine Ausnahme blieb; denn bis zum Erscheinen der „Svejk“-Übersetzung Grete Reiners von 1926/276 gab es nur sehr wenige potentielle Leser, die in der Lage gewesen wären, die Originaltexte von Jaroslav Hasek und Karl Kraus mit gleicher Sprachkompetenz auch nur zu verstehen, geschweige denn literarisch zu würdigen, und von diesen wenigen waren noch weniger fähig oder willens, dieses Potential auch zu aktualisieren. Zwar hatte der von Paul Reimann mit Recht rühmend erwähnte Ivan Olbracht in seiner Rezension des ersten „Svejk“-Bandes vom 15. November 1921 auf die Priorität der „zweitausend Seiten der Kriegs¬ fackel“ (F 499, 2) und vielleicht auch schon der 1918/19 erschienenen „Akt-Ausgabe“ der „Letzten Tage der Menschheit“ Bezug genommen: aber eben doch nur als Kontrastfolie, um den Vorrang Haseks zu beto¬ nen: „Hasek hat uns den Weltkrieg von einem völlig neuen Gesichtspunkt her erhellt. Ein ganz klein wenig Licht auf diese Seite des Krieges hat schon der Wiener Karl Kraus geworfen, aber doch ein ganz klein wenig nur, weil das ein trocken-satirischer Geist ist und sein Kriegshorizont nicht hinausreicht über die Wiener Gasse, das Wiener Kaffeehaus und die Wiener Ministerialkanzlei, während Hasek, ein aktiver Kriegsteil¬ nehmer, halb Europa und Asien gesehen hat.“7 Es bedarf keines großen Scharfblicks, um zu erkennen, daß hier gleich zwei Klischees bemüht werden, um die Verteilung von Licht und Schat¬ ten sehr einseitig zugunsten Haseks ausfallen zu lassen: das affirmative Erlebnisdichtungs-8 und das negative Kaffeehaus-, um nicht zu sagen: Asphaltliteratur-Klischee. Bereits eine Woche vor Olbracht hatte Max Brod im „Prager Tagblatt“ vom 7. November 1921 die Premiere einer „Svejk“-Dramatisierung von Emil Artur Longen (2. November 1921) zum Anlaß genommen, den „guten Soldaten Schwejk“ des „Prager tschechischen Volksschriftstellers J. Haschek“ einem deutschsprachi¬ gen Zeitungsleserpublikum als eine „Leistung [...] höchsten Ranges“9 vorzustellen: Freilich wäre angesichts der gerade damals besonders angespannten polemischen Kriegslage in Sachen Karl Kraus und „Pra¬ ger Kreis“ es ihm gar nicht eingefallen, den Namen Kraus auch nur zu erwähnen, selbst und besonders dann nicht, wenn er ihm eingefallen wäre. Sehr verwandten Hin- und Rücksichten auf aktuelle polemische Konstellationen dürfte es auch zuzuschreiben sein, daß Kurt Tuchol¬ sky, als er im Juni 1926 anläßlich des ersten Bandes der „Svejk“-Übersetzung Grete Reiners „Herrn Schwejk“ als die Schöpfung eines

202

Der Jawohlsager und der Neinsager

„großen Satirikers“ würdigte, den doch naheliegenden Analogiebezug mit geradezu spektakulär wirkender Sorgfalt aussparte. Als unfreiwil¬ lige Ironie der Literaturgeschichte muß es wirken, wenn Tucholsky auf Grund der Reinerschen Übersetzung, als spiegelsymmetrisches Pen¬ dant zum Olbrachtschen Vorwurf österreichisch-wienerischer Lokal¬ borniertheit bei Karl Kraus, nun seinerseits den analogen Einwand tschechisch-pragerischer Lokalborniertheit gegen Haseks „Svejk“ vor¬ zubringen hat: „Schwejk ist einen halben Millimeter von der Unsterb¬ lichkeit entfernt. Er ist nur zu lokal. [...] Er ist um den entscheidenden Hauch zu provinziell.“10 Ohne auf die Modifikationen einzugehen, welche die aus Deutschland einlaufenden Nachrichten von einer „Rehabilitation J. Haseks“11 im innertschechischen Bereich bewirkten, sei lediglich darauf hingewie¬ sen, daß der dadurch erzeugte Rechtfertigungsdruck an dem oben erwähnten Fazit Paul Reimanns, daß Hasek der bürgerlichen Kritik aus politischen, moralischen oder ästhetischen Gründen - als nicht lite¬ raturwürdig gegolten habe, kaum etwas änderte: In der 1928 veröffent¬ lichten, Hugo von Hofmannsthal gewidmeten repräsentativen Auswahl Paul Eisners „Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunder¬ ten“,12 die immerhin bis herab zum Jahrgang 1905 über ein Dutzend Autoren enthält, die jünger waren als der mit Kafka gleichaltrige Hasek, fehlt dessen Name ebenso wie noch in dem 1934 erschienenen offiziösen Schulhandbuch „Tschechoslovakische und deutsche Litera¬ turgeschichte der böhmischen Länder und der Slovakei mit ihren hauptsächlichsten Vertretern“ von Wilhelm Szegeda,13 und auch die bisher bekannt gewordenen tschechischen Würdigungen der „Letzten Tage der Menschheit“ fanden offenbar keinerlei Veranlassung, Paral¬ lel- oder Kontrastbezüge zu Haseks „Svejk“ herzustellen.14 Hingegen bot im deutschsprachigen Bereich der Umstand, daß das Erscheinungsjahr der ersten Bände der deutschen „Svejk“-Übersetzung (1926) zusammenfiel mit einer Neuauflage der „Letzten Tage der Menschheit“ sowie dem Vorschlag ihres Verfassers für den Nobelpreis 192616 mancherlei Anlaß oder Anstoß zu vergleichenden Betrachtun¬ gen beider Autoren und Werke. Bisher unbeachtet scheint meines Wis¬ sens geblieben zu sein, daß man sich dieser Gelegenheit zunächst vor¬ nehmlich von deutschnationaler Seite bedient hat, und zwar mit der Tendenz und zu dem Zweck, in dem dafür freilich ungeeigneten Objekt oder vielmehr Subjekt Hasek den Typus des Antikriegsliteraten post festum dingfest und verächtlich zu machen, der gleichsam den Tod des Löwen abgewartet habe, um ihm den sprichwörtlichen Esels¬ fußtritt zu versetzen. Fällt nach diesen Kriterien der Fall Hasek sozusa-

Der Jawohlsager und der Neinsager

203

gen unter den Heimtücke-Paragraphen des nationalen Ehrenkodex, so wird im Kontrast dazu dem Autor der „Letzten Tage der Menschheit“ die problematische Ehre zuteil, als offener, schon während des Krieges hervorgetretener Gegner nationaler Kampfgesinnung in seiner Hal¬ tung zwar nicht gebilligt, aber doch geachtet zu werden:16 Dies ist auch der Tenor des Artikels, den Franz Hader unter dem sprechenden Titel „Der Triumph des Thersites“ am 21. August 1927 in der Berliner „Täg¬ lichen Rundschau“ veröffentlicht hat. Zum Zwecke der polemisch-sati¬ rischen Beweisführung, daß im Unterschied zur Haltung deutschnatio¬ naler wie christlichsozialer Gesinnungsträger in Österreich eine Anerkennung der ethisch-ästhetischen Integrität des Herausgebers der „Fackel“ auch aus einem „unverfälscht deutschnationalen, also wesens¬ feindlichen“ (F 766, 80) Gesichtspunkt möglich sei, hat Karl Kraus diese Äußerung erstmals in den Kontext seiner großen polemischen Satire „Der Hort der Republik“ aufgenommen, mit der er im Oktober 1927 den Frontalangriff gegen Schober eröffnete (F 766, 80f.); er hat sie abermals zitiert in den am 9. Dezember 1927 gesprochenen, unter dem Titel „Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt“ in der „Fackel“ abgedruckten Einleitungsworten zu einer Vorlesung der „Letzten Nacht“ an der Pariser Sorbonne (F 781, 8);17 und schließlich ein letztes Mal in der Anfang September 1928 erschienenen Gene¬ ralabrechnung mit Alfred Kerr, „Der größte Schuft im ganzen Land ...“ (F 787, 85f.). Auf diese etwas umwegige Weise ist Hasek in seiner Eigen¬ schaft als „der Verfasser des bekannten Buches vom ,Braven Soldaten Sweijk“4 (F 787, 85) im polemischen Kontext der „Fackel“ an drei zen¬ tralen Stellen präsent, ohne daß der Name Hasek auch nur ein einziges Mal fiele.18 Das Prädikat „bekannt“ erhielt das „Buch vom ,Braven Soldaten Sweijk“4 übrigens erst an der letztgenannten Stelle vom August 1928, und an diesem gewachsenen Bekanntheitsgrad hatte ohne Zweifel die am 23. Januar 1928 im Berliner Theater am Nollendorfplatz uraufgeführte Piscatorsche Inszenierung der von Max Brod und Hans Reimann verfaßten, unter Mitwirkung von Bertolt Brecht, Felix Gasbarra, Erwin Piscator und George Grosz überarbeiteten Dramatisierung der .Abenteuer des

braven

Soldaten

Schwejk“ nicht unerheblichen

Anteil.19 Wollte man die beherrschende Intention dieser kollektiven Theaterarbeit auf eine Kurzformel bringen, so könnte man sagen: Es ist ein „Svejk“ mit „Hintergrund“ (so der bezeichnende Sammeltitel der Randzeichnungen von George Grosz)20, einem Hintergrund, dessen Tiefenschärfe wesentlich im Lichte der „Fackel“ gesehen ist. Nichts macht das deutlicher als das dieser Inszenierung gewidmete Heft der

204

Der Jawohlsager und der Neinsager

„Blätter der Piscatorbühne“. Allein schon der Titel „Schulter an Schul¬ ter“21 gibt sich zu erkennen als Zitat eines in der „Fackel“ und in den „Letzten Tagen der Menschheit“ leitmotivisch abgewandelten satiri¬ schen Zitats einer heroischen Phrase im Zeichen der „Nibelungen¬ treue“. Ein weiteres Zitat bietet die Überschrift von Leo Lanias „Nach¬ ruf auf K.U.K.“22, dessen erster Absatz nicht mehr und nicht weniger ist als ein Syllabus des in den Erinnerungen von Paul Reimann so ein¬ dringlich charakterisierten „Nachrufs“ vom Januar 1919, wobei freilich die Zitate der in der „Fackel“ ebenfalls leitmotivisch wiederkehrenden Zitate wienerischer Klischees auf dem märkischen Sand unwillkürlich etwas ins Rutschen gekommen oder aber dem Verständnis des Berliner Publikums bewußt angepaßt sind, so etwa der Satz: „Wir sind ja doch die reinen Lamperln!“23 In der Schlußsequenz seines Beitrags gibt Leo Lania der Überzeugung von der komplementären satirischen Wertäquivalenz der ,Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ und der „Letzten Tage der Menschheit“, die nach dem eingangs zitierten Zeugnis Paul Reimanns in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre noch das mehr oder weniger exklusive Credo eines kleinen Kreises des Tschechischen wie des Deutschen mächtiger kommunistischer oder linkssozialistischer Studenten gewe¬ sen war, meines Wissens zum ersten Mal in dieser nachdrücklichen Form öffentlichen Ausdruck: „Zwei Dichter haben die Fratze Habsburgs [...] schonungslos entlarvt, der »Großen Zeit1 Österreich-Ungarns ein bleibendes Denkmal errich¬ tet: Karl Kraus und Jaroslav Hasek [!]. Größere Gegen¬ sätze sind wohl kaum denkbar; aber die bittere Satire von Kraus und das Hohngelächter Haseks [!], die Tragödie der »Letzten Tage der Mensch¬ heit und der göttliche Humor der Abenteuer des braven Soldaten Schwejk — sie fließen aus derselben Quelle: der leidenschaftlichen Liebe zum Volk, dem tiefen Erlebnis seiner Leiden, einem unbeug¬ samen Trotz und einer echten Menschlichkeit. Kraus und Hasek [!], diesen beiden genialen Rebellen und Dichtern ist gemeinsam die Schärfe des Blicks, die Feinheit des Gehörs und die Größe des Herzens. Beider Werk, zu ihren Lebzeiten von den Skribenten des Bürgertums veispottet und geschmäht, wird die Gegenwart überleben, wie es den Bann einer nahen Vergangenheit gesprengt hat, deren Irrsinn erkannt und in seiner Gemeingefährlichkeit angeprangert zu haben das histo¬ rische Verdienst dieser zwei Dichter ist.“24 Wenn der tschechische Philosoph und Kulturkritiker Emanuel Radi in demselben Jahr 1928 feststellte, erst unter dem Einfluß der reichsdeutschen Kritik habe Haseks „Svejk“ auch in seinem Ursprungsland an

Der Jawohlsager und der Neinsager

205

Ansehen gewonnen,25 dann dürfte innerhalb dieser Initiativwirkung Leo Lania das Verdienst zuzuschreiben sein, die kontrastive Parallele Kraus/Hasek als erster im Zeichen satirischer Gleichrangigkeit thema¬ tisiert zu haben. Was die Frage der Möglichkeit einer wechselseitigen Kenntnisnahme der beiden Autoren voneinander betrifft, so ist sie für Kraus mit ziemlicher Sicherheit so zu beantworten, daß er vor 1926 von „Svejk“ und dessen Autor kaum etwas gewußt haben dürfte. Weniger eindeutig fällt ein Versuch der Beantwortung dieser Frage im Falle Haseks aus. Hier ist die Möglichkeit einer frühen, vielleicht schon vor dem Ersten Weltkrieg anzusetzenden Kenntnisnahme nicht von vorn¬ herein auszuschließen.26 Sie könnte dann ähnlich verlaufen sein, wie der Hasek nahestehende Josef Hora sie für sich in seinem Beitrag zum 60. Geburtstag von Karl Kraus geschildert hat, in dem auch der Satz steht: „Wenn man mich aus der Kriegsliteratur ein einziges Buch aus¬ wählen ließe, würde ich wohl nicht zögern, den ,Letzten Tagen der Menschheit* vor vielen effektvolleren und berühmteren Dichtern den Vorzug zu geben.“27 Es ist derselbe Hora, der acht Jahre zuvor auf die beliebte Rundfrage, welche fünf Bücher er mitnähme, wenn er lange Zeit an einem Ort fern von aller Buchkultur zuzubringen hätte, mit der lapidaren Antwort hervorgetreten war: „Den ,braven Soldaten Schwejk* nähme ich mit.“28 Unabhängig davon, ob bei der Spärlichkeit der überkommenen Selbst¬ zeugnisse und der fragwürdigen Authentizität eines Großteils der ein¬ schlägigen Memoirenliteratur die Frage nach der Kraus-Kenntnis Haseks noch einmal zweifelsfrei beantwortet werden kann, sind die Analogien der satirischen Perspektive in beider Autoren Sicht und Ver¬ arbeitung des Ersten Weltkriegs tatsächlich verblüffend. Wenn Lania „die Schärfe des Blicks, die Feinheit des Gehörs und die Größe des Her¬ zens“ als die ihnen beiden gemeinsamen Wesensmerkmale rühmt, so läßt sich das, in etwas technischere Termini übersetzt, auch so ausdrücken: die Schärfe des Blicks für die satirische Symptomatik von Real- und Personalphänomenen der weltkriegsspezifischen Objektwelt, die nach einer scheinparadoxen Formulierung des „Nörglers“ von die¬ sem Blick so getroffen ist, daß sie wird, wie der Satiriker sie sah;29 die Feinheit des Gehörs, das in der Lage ist, Tonfälle, Sprach- und Sprech¬ gesten in ihrer sozial- und mentalitätsspezifischen Schichtung mit der Präzision eines „akustischen Spiegels“ (F 572, 30), aber gerade dadurch grotesk verfremdet und satirisch vernichtend zu reproduzieren; und schließlich die Größe des Herzens, welche die Sache der „gepeinigten und gemarterten Kreatur“30 nicht nur als eine national und temporär abzugrenzende

und

zu

„bewältigende“

Weltkriegsangelegenheit

206

Der Jawohlsager und der Neinsager

betrachtet, sondern sowohl die Vergangenheitsperspektive der Voraus¬ setzungen als auch die Zukunftsperspektiven der Aus- und Nachwir¬ kungen in ihren menschheitlichen Aspekt einbezieht, so daß auch und vielleicht gerade die Überlebenden und Nachgeborenen der „Letzten Tage der Menschheit“ alle Ursache haben, sich mitgetroffen oder zumindest mitbetroffen zu fühlen und das „glorreiche Debakel“31 nicht nur als das einer ohnedies hinfälligen Monarchie zu empfinden. Um mit dem letzten Punkt zu beginnen: Die Sicht der Weltkriegs¬ realität als Bestandteil eines Weltzustandskontinuums, das nicht erst mit dem Kriegsausbruch angefangen und nach dem Kriegsende kei¬ neswegs aufgehört hat, ist in Haseks Erzählwerk ebenso hineinkompo¬ niert wie in das Drama von Karl Kraus, wo es am komprimiertesten in jenen Worten des „Nörglers“ erscheint, die er 1925 als „Prophetie 1915“ in seinen Vorlesungsprogrammen anzukündigen pflegte:32 daß nämlich dieser Krieg von heute „nichts als ein Ausbruch des Friedens“ sei, da „das Schlechte über ihn hinaus und durch ihn fortwirkend“ blei¬ be, so daß er eigentlich „nicht durch den Frieden zu beenden wäre“, sondern allenfalls aus apokalyptischer Sicht „durch den Krieg des Kos¬ mos gegen diesen hundstollen Planeten!“ (F 406, 168). Auch Hasek versäumt in Hinblick auf die Nachkriegsrealität der ersten tschechoslo¬ wakischen Republik keine Gelegenheit, um sarkastisch zu betonen, daß man hier nicht nur auf Nachwuchstalente des Polizeispitzelfachs vom Typus des seligen Bretschneider stoßen könne, sondern auch auf bewährte Leuteschinder, die ihre Beamten- oder Offizierslaufbahn ohne Karriereknick oder Pensionsberechtigungseinbuße republi¬ kanisch fortgesetzt haben.33 Sind solche Zukunftsausblicke über die erzählte Zeit hinaus der Rückschau-Perspektive des aus der Sicht von anno 1921/22 berichtenden Autors zu verdanken, so fällt die Aufgabe des Nachweises ex post, daß nämlich dieser Weltkrieg „nichts als ein Ausbruch des Friedens“ sei, einigen besonders drastischen der zahl¬ losen „Beispiele“3^ des Titelhelden zu, die mit ihrem pseudodokumen¬ tarischen Beglaubigungsgestus alle der Erhärtung einer Replik des Nestroyschen Titus Feuerfuchs zu dienen scheinen: „Wirklichkeit is immer das schönste Zeugnis für die Möglichkeit.“35 In diesem Sinne „tröstet“ Svejk einen Mithäftling im Arrestlokal des Divisionsgerichtes mit folgendem „Beispiel“ aus tiefster Friedenszeit: „Kurz und gut [...], es steht wacklig mit Ihnen, aber Sie dürfen die Hoff¬ nung nicht verlieren, wie der Zigeuner Janecek in Pilsen immer gesagt hat, daß alles sich noch zum Bessern wenden kann, wie sie ihm im Jahre 1879 wegen dem Doppelraubmord den Galgenstrick um den Hals gelegt haben. Und er hat auch recht behalten, weil sie ihn im letzten

Der Jawohlsager und der Neinsager

207

Moment weggeführt haben vom Galgen, weil sie ihn nämlich nicht haben aufhängen können wegen Kaisers Geburtstag, der grad an dem Tag gewesen ist, wo er hätt’ hängen sollen. Also haben sie ihn am andern Tag aufgehängt, wie der Geburtstag schon vorbei war, und der Kerl hat noch so ein Glück gehabt, daß er am dritten Tag drauf begna¬ digt worden ist, weil alles darauf hingewiesen hat, daß es eigen dich ein anderer gewesen ist. Also haben sie ihn wieder ausgraben müssen ausm Sträflingsfriedhof und aufn katholischen Friedhof rehabilitieren, und da erst sind sie draufgekommen, daß er eigentlich evangelisch war, und da haben sie ihn überführt auf den evangelischen Friedhof, und dann ..." „Dann kriegst du ein Paar Watschen“36, unterbricht ihn da der alte Sap¬ peur Vodicka. Hier ist nicht nur mit den spezifischen Erzählmitteln Svejkscher Groteskäquilibristik die Perspektive eröffnet, die in gerader Linie von der Klassenjustiz des Friedens zur Klassenjustiz des Krieges führt, oder, um mit Namen des satirischen Personals der „Fackel“ zu sprechen, von der Friedensjudikatur des verurteilungsfreudigen Wie¬ ner Richters Johann Feigl37 bis zum Kriegswalten des Standgerichts¬ experten Stanislaus von Zagorski, dessen Delinquenten meist ebenfalls das Glück haben, sich hinterher als unschuldig zu erweisen, und der größte Glückspilz derjenige ist, der sich bei einer Gruppenexekution als erster der Hinrichtung unterziehen darf;38 vielmehr liegt hier auch schon ein erstes Beispiel vor für die bei Hasek wie bei Kraus anzutref¬ fende, von jeder Übersetzung nur unvollkommen transformierbare Kunst der gestischen Strukturierung in der Reproduktion gesproche¬ ner Sprache; wobei hier ebenso wie bei Kraus der Wortwitz als satirische .Abbreviatur einer witzigen Anschauung“ die Funktion erhält, das Fazit eines Textes in einem „sozialkritischen Epigramm“ resümierend zu komprimieren;39 denn natürlich kann man im Tschechischen ebenso¬ wenig wie im Deutschen „rehabilitieren“ mit einem Richtungsakkusativ konstruieren, aber die nach äußerlichen Wahrscheinlichkeitskriterien als Fehlleistung im Handhaben von unverstandenen Fremdwörtern motivierbare Wendung bringt im „akustischen Spiegel“ gesprochener Sprache die satirische Intention des Autors in der Darstellung des Leit¬ motivs der sogenannten Justizirrtümer auf die kürzeste Formel. Die Tatsache, daß Grete Reiner in ihrer deutschen Version mit der still¬ schweigenden Korrektur dieser vom Autor funktional eingesetzten Fehlleistung dem Svejkschen Monolog die satirische Pointe abgebro¬ chen hat, macht die vielerörterte Problematik dieser gleichwohl noch immer nicht übertroffenen Übersetzung ein weiteres Mal deutlich.40 „Hintergrund“ hat George Grosz seine Mappe mit 17 Zeichnungen zur „Svejk“-Dramatisierung der Piscatorbühne genannt, und die Intensität

208

Der Jawohlsager und der Neinsager

der Tiefenschärfe, mit der dieser Hintergrund in seiner Hintergrün¬ digkeit gesehen ist, erweist sich als Maßstab für die von Leo Lania an beiden Satirikern gerühmte „Schärfe des Blicks“. Dieser „Hinter¬ grund“ ist nicht hinzuerfunden, sondern im Werk selbst präsent und aus ihm herauszulesen, komplementär zu dem „Vordergrund“ der komischen Situationen, den Josef Lada mit seinen berühmten Illustra¬ tionen ausgefüllt hat.41 Wenn Hasek in seiner kurzen „Einleitung“42 sich als Historiograph der Mikrogeschichte des braven Soldaten Svejk vorstellt und Partei ergreift für diesen seinen pikaresken Helden gegen die großen Geschichtsmacher Napoleon und Alexander wie auch gegen den fibel- und notizenruhmsüchtigen „Dummkopf Herostrat“,43 so gehorcht er einer ähnlichen Programmatik wie Karl Kraus in seinem „Nachruf1, wo die Ankündigung der vielen Szenen, die dann in den „Letzten Tagen der Menschheit“ ausgeführt erscheinen, eindeutig im Zeichen einer Entthronung der Haupt- und Staatsaktionsgeschichte durch etwas steht, das Karl Kraus noch Kulturgeschichte genannt hat, während es neuerdings vorzugsweise Alltagsgeschichte heißt: „Überhaupt wird der geschichtlichen Wissenschaft das Opfer nicht erspart bleiben, auf einen guten Teil ihrer positiven Ergebnisse für den verneinenden Gebrauch der Kulturgeschichte zu verzichten. [...] Die Kulturgeschichte wird, wenn sie allen strategischen Sinn als die Auf¬ gabe erfaßt, den Völkern unter dem Vorwand der Kriegführung das Vaterland zum Feind zu machen, den eigentlichen Kriegsplan nicht übersehen dürfen: eine gerechte Einteilung der Welt in Front und Hin¬ terland, die eben der Gelegenheit zum Mord auch eine Entschädigung durch Raub anschließt. Dabei wird die Kulturgeschichte des Anschau¬ ungsunterrichts in den wenigsten Fällen entbehren können, da die meisten des Versuchs, sie durch schriftliche Mitteilung glaubhaft zu machen, schon heute spotten. Wenn sie nicht versäumen wird, aus Weltspiegeln und Interessanten Blättern die Photographien zu über¬ nehmen, [...] so wird sie auch bestrebt sein, Genreszenen, die am Tat¬ ort nicht photographiert worden sind, nachzubilden [...] Die Kultur¬ geschichte versäume mir nichts. Die Völker sollen untereinander vergessen: die Menschheit vergesse und verzeihe nichts, was sie sich angetan hat. [...] Die Kulturgeschichte unterlasse nicht, [...] diese Umwertung des Weltgerichts in einen Praterscherz bis zum jüngsten Tag festzuhalten“ (F501, 114-117). Zitierungen des in Wort und Bild bereits Festgehaltenen durch „Plagiat an der tauglichen Tatsache“ (F 800, 2) wie „Nachbildung“ schriftlich oder photographisch nicht abgebildeter, auf mündlicher Überliefe¬ rung beruhender „Genreszenen“ im Geiste dokumentarischer Authen-

Der Jawohlsager und der Neinsager

209

tizität: beider Verfahren haben sich Kraus und Hasek in einem Ausmaß bedient, das bei letzterem abzustecken die Hasek-Philologie erst in den Anfängen steht.44 In beiden Fällen reicht die Spannweite der in exten¬ so dokumentierten oder auszugsweise zitierten Textträger von Kaiser¬ manifesten bis zu Zwieback- und Pillenverpackungen, von der „Welt der Plakate“41 bis zur Planken-, Zellen- und Klosettwandepigraphik. Angesichts der zahlreichen Zeugnisse über Haseks angeblich völlig improvisatorische Arbeitsweise wie der problematischen Textüberliefe¬ rungen ist man oft geneigt, in dem oben dargelegten Sinn „kultur¬ geschichtliche“ Sachverhalte der Svejk-Geschichte für mehr oder weni¬ ger freie Erfindungen zu halten, während sie in Wirklichkeit nicht einmal nur „Nachbildungen“, sondern geradezu dokumentierbare Zitate sind. Ein Beispiel für viele: Im vorletzten Kapitel des vierten Teils wird als eine der übelsten Offiziersfiguren der österreichische General Fink von Finkenstein vorgeführt, dessen Steckenpferd das Arrange¬ ment von Standgerichten ist, über deren Exekutionseffekte er in Brie¬ fen an seine Frau humorvoll nach Hause zu berichten weiß. Als Quelle dieses Humors, vor dem es „der Sau graust“, wie Karl Kraus zu sagen pflegte,46 bezeichnet Hasek die Lektüre dieses Generals, bestehend aus einer vom Verlag der „Lustigen Blätter“ herausgegebenen humoristi¬ schen Reihe, deren unsäglich schwach- und stumpfsinniger Charakter in einem Absatz beschrieben und mit Titelproben belegt ist.47 Wird nun das Wirkungspotential des von Kraus mit dem berühmten Diktum „die grellsten Erfindungen sind Zitate“ (F 508, 35)48 bezeichneten Sachver¬ halts schon bei Hasek dadurch etwas abgeschwächt, daß die mißver¬ ständlich angeordneten Titel zudem - mit einer Ausnahme - alle ins Tschechische übersetzt erscheinen, so erfolgt eine zusätzliche Effekt¬ minderung durch Grete Reiner, die - offenbar in der Annahme, es handle sich um mehr oder weniger reine Erfindungen - die von Hasek ins Tschechische übertragenen Titel einfach ins Deutsche zurücküber¬ setzte, während doch in der Tat gerade die Originalzitate die grellsten Erfindungen sind und als solche für sich sprechen: „Tornister-Humor für Aug und Ohr“; „Hindenburg-Anekdoten. Unser Hindenburg im Spiegel des Humors. Nebst vielen feldgrauen Schnurren aus dem Osten.

Ein

zweiter Tornister voll

Humor;

eingepackt von

Felix

Schloemp“; „Aus unserer Gulaschkanone. Saftige Brocken-Sammlung aus

dem

Schützengraben.

Zusammengetragen

von

Alfred

Brie“;

„Unterm Doppeladler. Wiener Schnitzel aus der k. u. k. Feldküche, auf¬ gewärmt von Arthur Lokesch“; „Wir müssen siegen! Allerneueste, neu¬ este, neuere, neue, ältere, uralte und urälteste lustige Soldatenlieder mit Bildern und Noten. Gesammelt von Felix Schloemp“ (der übrigens

Der Jawohlsager und der Neinsager

210

in Haseks Text wie in der Übersetzung zu „Schlemper“ verballhornt ist).49 Es ist exakt die gleiche Art Humor, an der Karl Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ die Oberleutnants Fallota und Bein¬ steller sich ergötzen läßt,50 und in deren Kollektion fehlt natürlich auch nicht das Witzklischee vom Leutseligkeitskommando „Weitermachen!“ beim

Mannschaftsscheißen:

dasselbe

situadonskomische

Befehls¬

klischee, das Hasek dem austropolnischen „Latrinengeneral“ in den Mund gelegt hat.51 Bereits an anderer Stelle habe ich auf die Symptomatik des Umstandes verwiesen, daß das längste der im „Svejk“ zitierten authentischen Doku¬ mente ein Jahr nach seinem Abdruck im dritten Teil des Hasekschen Romanfragments52 auch schon in der „Fackel“ reproduziert wurde. Es handelt sich um Armeebefehle Franz Josephs I., des Generalobersten Erzherzog Joseph Ferdinand und des Armeeoberkommandanten Feld¬ marschall Erzherzog Friedrich vom Frühjahr 1915 über die Streichung des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 28 aus der Liste der österrei¬ chischen Regimenter „für ewige Zeiten“: dies auch der Titel, unter dem sie in der „Fackel“ kommentarlos abgedruckt sind (F 632, 34f.).53 Ihren öffentlichen Vortrag

in

der

275.

(172.

Wiener)

Vorlesung vom

18. Oktober 1923 hat Karl Kraus mit den Worten eingeleitet: „Ich publiziere nun den Originaltext des gräßlichsten Dokumentes aus jener großen Zeit, deren Wiederkehr so viele sogenannte Menschen erstreben und viribus unitis, das heißt mit Hilfe der reichen Juden, her¬ beiführen wollen. Dieses Dokument ist der stärkste Beleg dafür, daß das Standrecht regnorum fundamentum sein sollte, aber statt dessen die Gründung der tschechischen Republik bewirkt und jene blutige Saat bedeutet hat, aus der die tschechische Krone gedeihend hervorging. Es bietet nebst aller Entlarvung der Glorie und der imperialen Christlich¬ keit das furchtbare Geständnis, daß man eine Nation in einen Krieg gezwungen hat, von dem man wußte, daß er ein Krieg gegen die Nation sei. Wie alles gekommen ist, was die Menschen heute vergessen haben oder nicht mehr hören wollen, eben das schreit es zum Himmel“ (F 640, 102f.). Über das „kulturgeschichüich“ durch Wort- und Bildzitate Dokumen¬ tierbare oder durch nachgestellte „Genreszenen“ Reproduzierbare hinaus geht in beiden Werken die Vergegenwärtigung von Bildern des Kriegsgrauens toter Natur und toter Menschen, wie sie die „Letzten Tage der Menschheit , gesteigert zu einem „Realismus, der bis ans Phantastische reicht“ (F 413, 72)54, vor allem in den Versen „Der tote Wald“ (LTdM I, 589; V/55) und „Die Raben“ (LTdM I, 599f.; V/55) gestalten, von denen Karl Kraus am allerhäufigsten „Die Raben“ vorge-

Der Jawohlsager und der Neinsager

211

tragen hat, auch noch in der letzten, 700. (414. Wiener) Vorlesung vom 2. April 1936.55 Gerade mit einer sarkastischen Pointierung des RabenMotivs erfolgt im „Svejk“ die Einführung dieses Leitmotivstrangs,56 und auch

die

Überhöhung dieser leitmotivischen

Demonstration

der

Kriegsgestalt des irdischen Jammertals durch ebenso leitmotivisch wie¬ derkehrende Zitate von Blasphemie- und Profanationsakten einer „imperialen Christlichkeit“ ist in beiden Werken mit gleicher Intensität ausgeprägt. Hatte Kraus die erstmals im „Fackel“-Heft vom Mai 1916 publizierte, in die Akt- und Buchausgabe der „Letzten Tage der Menschheit“ übernommene Photographie eines „entkreuzigten“ Chri¬ stus zum 10. Jahrestag des Kriegsausbruchs im August 1924 durch die Kontrastphotographie eines „entchristeten“ Kreuzes dokumentierend und kommentierend ergänzt, so läßt Hasek Svejks Kompagnie auf dem Eisenbahntransport zur Front an einem „kopflosen“ Christus vorüber¬ fahren, wobei das Wort „kopflos“ und die Wendung „den Kopf verlie¬ ren“ im Tschechischen denselben zugleich eigentlichen und uneigent¬ lichen Doppelsinn annehmen können wie im Deutschen (was die Übersetzung nicht beachtet): „Hinter der Station Sczawna begannen wiederum in den Tälern Sol¬ datenfriedhöfe aufzutauchen. Unterhalb von Sczawna war vom Zug aus ein kopfloser Herr Christus zu sehen, der unter Streckenbeschuß den Kopf verloren hatte.“57 Glieder dieser Motivkette haben George Grosz zweifellos dazu bewo¬ gen, in seine „Hintergrund“-Mappe jenen „Christus mit der Gasmaske“ aufzunehmen,58 der 1928 zu dem berüchtigten Gotteslästerungsprozeß führte. Die Polemik der christlichsozialen „Reichspost“ gegen den Frei¬ spruch des Künstlers qualifizierte Karl Kraus als den mißglückten Ver¬ such, „Sachverhalte durch Tonfälle zu fälschen“ (F 806, 53); denn im Falle Haseks wie in dem seines satirischen Randzeichners ist das „Pro¬ blem der künstlerischen Karikatur“ (ebd.) nicht in deren Blasphemie zu suchen, sondern im blasphemischen Charakter der karikierten Sach¬ verhalte.59 Was schließlich das von Leo Lania mit bemerkenswerter eigener Hell¬ hörigkeit an beiden Satirikern gerühmte gemeinsame Moment der „Feinheit des Gehörs“ betrifft, so kann ich mich in diesem Punkte kür¬ zer fassen, als es hier sonst ohnedies geschehen muß, und zwar vor allem dank der wegweisenden Vorarbeiten, die kürzlich Sigurd Paul Scheichl zumindest für Karl Kraus und dessen österreichisches Umfeld geleistet hat. Wenn Scheichl die Frage, inwieweit eine „Tradition der Verarbeitung von Gehörtem“60 über den österreichischen Bereich hin¬ aus feststellbar sei, bewußt offen läßt, so ist sie für die tschechische Lite-

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Der Jawohlsager und der Neinsager

ratur unseres Jahrhunderts, spätestens seit dem Ende des Ersten Welt¬ kriegs, mit einem klaren Ja zu beantworten, und zu den einflußreich¬ sten Begründern dieser Tradition, als deren bedeutendster lebender Fortsetzer wohl Bohumil Hrabal gelten darf, gehört Hasek, vorab und vor allem mit seinem „Svejk“. Ohne hier all das rekapitulieren zu kön¬ nen, was während der letzten Jahrzehnte von bohemistischer Seite gerade in Hinblick auf Hasek zum Problem der „auditiven Stilisierung in der modernen tschechischen Prosa“ beigesteuert worden ist,61 möchte ich hier nur auf einige mit Karl Kraus konvergierende Fälle hinweisen, in denen diese „auditive Stilisierung“ eindeutig im Dienst spezieller satirischer Intentionen steht: nicht zuletzt deshalb, weil auch solche Stellen von der deutschen Übersetzung nicht selten übersehen oder übergangen worden sind. Als locus classicus einer solchen „audi¬ tiven Stilisierung“, die zudem noch mit mancherlei - teils als Fehl¬ leistung, teils als verballhornte bildungssprachliche Zitate motivierten - „Stilbrüchen“62 arbeitet, kann bei Karl Kraus der berühmte Passus „Ein Wiener (hält von einer Bank eine Ansprache)“ aus der ersten Szene des ersten Aktes der „Letzten Tage der Menschheit“ gelten (LTdM I, 53). Aus dieser „Katastrophe der Phrasen“ (F 374, 1) sei die Wendung herausgegriffen: „- wie ein Mann wollen wir uns mit flie/ienden Fahnen an das Vaterland anschließen in dera großen Zeit!“ Der komische Effekt dieser Stelle beruht nicht nur auf der sprachlich witzi¬ gen und psychologisch aufschlußreichen Fehlleistung der „flie/ienden Fahnen“, sondern darüber hinaus vor allem darin, daß auch das kor¬ rekte Substrat, daß die ,fliegenden Fahnen“ nach der Klischee-Auto¬ matik beim Vaterland nichts zu suchen haben, weil man nämlich mit „fliegenden Fahnen“ in der Regel sich nicht ans Vaterland anschließt, sondern im Gegenteil ins feindliche Lager überläuft. Genau in dieser phraseologischen Funktion erscheint die Floskel im kaiserlichen Mani¬ fest zum Kriegseintritt Italiens vom 23. Mai 1915, aus dem Kraus sie offensichtlich in den Sommer 1914 zurückverpflanzt hat: „Nach einem Bündnis von mehr als dreißigjähriger Dauer [...] hat uns Italien in der Stunde der Gefahr verlassen und ist mit fliegenden Fahnen in das Lager unserer Feinde übergegangen.“63 Solchen und ähnlichen, meist auch mehrfach als ironisch-satirische Brechungen motivierbaren „Stil¬ brüchen“ begegnet man zumal in der mündlichen Rede Svejks auf Schritt und Tritt. Vor dem Hintergrund der pathetisch-satirischen Be- und Verurtei¬ lungsnormen, die in Haseks Romanfragment durch den Erzählkom¬ mentar (oder in dessen Stellvertretung gelegentlich auch durch die Frontalinvektiven des Einjährigfreiwilligen Marek), in den „Letzten

213

Der Jawohlsager und der Neinsager

Tagen der Menschheit“ durch den Part des „Nörglers“ bereitgestellt werden, wird die Figurenrede in beiden Werken zum bevorzugten Medium ironisch-satirischer Intentionen der Autoren, wobei die Krausschen Dramenfiguren, soweit sie „Phrasen

[...]

auf zwei Beinen“

(LTdM I, 5; Vorwort) zu verkörpern haben, ausnahmslos als bewußt¬ lose Medien erscheinen, der komische Effekt ihrer Rede eine ihnen selbst verborgene unfreiwillige Komik ist, während es zum Undurch¬ dringlichkeitsgestus der Svejk-Figur gehört, daß es in der Regel unent¬ schieden und unentscheidbar bleiben muß, ob sie ironische Effekte bewußtlos produziert oder aber bewußt reproduziert, auch und gerade dann, wenn sie zitathafte Tonfallabstecher in höhere schrift- und bil¬ dungssprachliche Regionen unternimmt, vor allem im dialogischen Umgang mit höhergestellten zivilen oder militärischen Funktionären. So verwahrt sich z. B. Svejk vor einem Militärgerichtstribunal gegen den Vorwurf, er habe den Kaiser verraten, zunächst mit der Reproduktion derartig massiver Treuebekundungsklischees, daß der verhörende Major, dessen Tschechischkenntnisse ausdrücklich erwähnt werden, ihn unwillig unterbricht mit den Worten: „Lassen Sie die Dumm¬ heiten!“, worauf Svejk erwidert: „Melde gehorsamst, Herr Major, den Kaiser, unsern Herrn verraten ist keine Dummheit. Wir, das Kriegsvolk, wir haben dem Kaiser unserm Herrn die Treue geschworen, und diesen Schwur, wie sie im Theater gesungen haben, hab ich als Ehrenmann gehalten.“64 Nachdem hier das Objekt der Dummheitsbezichtigung - unentwirrbar, ob aus Naivität oder mit einem Kunstgriff „eristischer Dialektik“65 unversehens ausgetauscht worden ist, um die doppelsinnige Verwah¬ rung zu ermöglichen, den Kaiser verraten sei keine Dummheit, klingt die im Stil Hans Müllerscher Feuilletons66 archaisierende Replik aus in einem der gleichen Stillage angepaßten Zitat aus dem Libretto zu Smetanas Oper „Dalibor“:67 nicht ohne daß nach realistischen Wahrschein¬ lichkeitskriterien dieses Zitiervermögen als Theaterbesucherreminis¬ zenz motiviert erscheint. Das Aptum, die Angemessenheit dieses Bezugs erläutert ein tschechischer Kommentator mit der Bemerkung, Svejk erinnere sich angesichts seiner traurigen Lage durchaus legitim und situationsgerecht an „Dalibor“.68 Aber abgesehen davon, daß wir so gut wie in keinem gegebenen Moment wissen können, woran Svejk sich gerade erinnert, da er - mit wenigen und eher zufälligen Ausnahmen aus einer nicht minder konsequenten Außenperspektive gesehen ist als etwa Stifters „Witiko“, geht es nicht einmal darum, Svejks gar nicht rea¬ gierenden Verhörführer an etwas zu erinnern, sondern durch das Medium der Figurenrede hindurch den Leser oder Hörer, der als kom-

214

Der Jawohlsager und der Neinsager

petenter Kenner des Kontextes weiß, daß der Schwur, von dem Dalibor rezitativisch singt, kein Treue-, sondern ein Racheschwur gewesen ist, womit sich das Zitat als praktizierter „Tonfallschwindel“69 erweist und Hasek als dessen versierter Kenner und erfahrener Demonstrator. Analog thematisiert und „auditiv stilisiert“ ist bei Hasek ein weiteres sprachsatirisches Leitmotiv der „Fackel“ und der „Letzten Tage der Menschheit“, das des komischen Kontrastes trivialer bis lächerlicher Familiennamen nobilitierter Bürgerlicher mit der ausschweifenden Kitsch- oder Kasinoromantik ihrer Adelsprädikate vom Typus „Bambula von Feldsturm“ (LTdM I, 225-227; 11/17), „Husserl von Schlach¬ tentreu“ (LTdM I, 225; 11/17), „Maderer von Mullatschak“ (LTdM I, 543; V/47), „Nowotny von Eichensieg“70. Hasek ironisiert solche Kom¬ binationen

durch

sein

Redemedium

Svejk,

dem

er

bei

dessen

Bemühen, sich an den Namen eines Vorgesetzten seiner Vorkriegs¬ dienstzeit zu erinnern, das wiederum anscheinend unfreiwillige, leider unübersetzbare Klangwortspiel unterlaufen läßt: „nejakej obrst Fliedler von Bumerang nebo tak nejank“ (etwa: „irgendein Oberst Fliedler von Bumerang oder so irgendwank“)71 - womit übrigens Svejk zum ersten und einzigen Mal seinem schwergeprüften Oberleutnant ein unwill¬ kürliches Lächeln abringt. Zum Abschluß noch ein Beispiel, auf dessen besondere Karl-KrausBezüglichkeit schon vor zwanzig Jahren Joseph Peter Stern hingewie¬ sen hat. ■ Es handelt sich um das Schlußresümee des Rechtfertigungs¬ versuchs, mit dem Svejk die kriegsrichterlich anfechtbare Requirierung eines Suppenhuhns für seinen Oberleutnant verteidigt: „Ich habe, melde gehorsamst, Herr Oberleutnant, alles reiflich erwo¬ gen. Im Felde, da braucht’s etwas sehr Nahrhaftes, damit sich die Kriegsstrapazen besser ertragen lassen. Und da hab ich Ihnen eine horizontale Freude machen wollen. Ich hab Ihnen, Herr Oberleutnant, eine Hühnersuppe kochen wollen.“73 Nicht nur wird hier mit der Instrumentalisierung eines bei Karl Kraus immer wieder zitierten Kaiserworts aus dem Julimanifest von 191474 für den ordinären Zweck, die Entscheidungsgrundlage im Motivenbericht eines marodierenden „Hendelfängers“ zu verbalisieren, der Gipfel pro¬ fanierender Kontrasteffekte ereicht; auch die Funktion der Wendung „eine horizontale Freude machen“ geht über die Unzulänglichkeitsko¬ mik des falschen Gebrauchs mißverstandener Fremdwörter weit hin¬ aus, und auch hier greift ein Kommentar, für den sich der Witz in der komischen Verwechslung der artikulierten „horizontalen“ mit einer gemeinten „horrenden“ Freude erschöpft,75 erheblich zu kurz; denn gerade auch hier fungiert die Sprache selbst noch in der sprachlichen

Der Jawohlsager und der Neinsager

215

Fehlleistung als die „große Verräterin“ (F 406, 84), welche die „hori¬ zontale“ Freude über eine nahrhafte Hühnersuppe in sarkastischen Kontrast setzt zu der sadistischen Freude machtverfügender „Richter und Henker“ (F 253, 1), die Lustgewinn aus dem „vertikalen“ Gewerbe des Henkens ziehen. Bertolt Brecht, auf dessen „Schwejk im zweiten Weltkrieg“ hier nicht eingegangen werden konnte,76 hat in der Eintragung seines .Arbeits¬ journals“ vom 15. Juli 1942 den Vorsatz festgehalten: „und wieder möchte ich SCHWEYK machen, mit szenen aus DIE LETZ¬ TEN TAGE DER MENSCHHEIT dazwischengeschnitten, so daß man oben die herrschenden machte sehen kann und unten den Soldaten, der ihre großen plane überlebt.“77 Ich hoffe, mit meinen notgedrungen pointillistischen Andeutungen zumindest plausibel gemacht zu haben, daß eine solche komplemen¬ täre Methode des „Dazwischenschneidens“ sich in Hinblick auf eine Wechselergänzung nicht nur der Darstellungsbereiche, sondern auch der Darstellungs mittel auf wesentliche Affinitäten und Konvergenzen der satirischen Perspektive wie des satirischen Verfahrens stützen könn¬ te. In diesem Sinne wären Autoren allfälliger Neuübersetzungen sowohl der „Letzten Tage der Menschheit“ ins Tschechische als auch des „Svejk“ ins Deutsche gut beraten, wenn sie sich des präformierten sprach- und sprechgestischen Instrumentariums bedienten, welche das jeweils muttersprachliche Werk für die adäquate Übertragung des jeweils anderssprachigen in das Klima der eigenen „Sprachregion“78 bereithält.

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister“

Bereits vor über zwanzig Jahren, als mir meine Publikationen in Prager Fachorganen den mir seither immer wieder nachgesagten, ebenso schmeichelhaften wie unverdienbaren Rnf einbrachten, ein „tschechi¬ scher Germanist“ zu sein,1 hatte ich Gelegenheit, in den „Philologica Pragensia“ nicht nur auf die Texte hinzuweisen, mit denen Karel Capek in den zeit- und weltgeschichtlich so unheilvoll ereignisreichen Jahren 1933 und 1934 sein von hoher Wertschätzung bestimmtes produktives Verhältnis zum Werk und Wirken des Satirikers Karl Kraus ausdrück¬ lich bekundete, sondern auch auf dessen Anregungsanteil an der sprachlichen Ausprägung

eines

der

satirischen

Höhepunkte

des

Capekschen „Kriegs mit den Molchen“, der berühmten „Molchhymne“ mit den geflügelten Eingangsworten: „Solche Erfolche erreichen nur deutsche Molche“2. Ich darf es bei einem Rückverweis auf diese frühe Arbeit sowie auf die seither von Jaromir Louzil und Zdenek Solle dazu vorgelegten Textdokumentationen bewenden lassen,3 um etwas näher auf das Interpretationspotential einzugehen, daß die Capekschen Äußerungen über Karl Kraus nicht nur für dessen Würdigung und Wer¬ tung enthalten, sondern auch für das Selbstverständnis des Satirikers, Gesellschafts- und Sprachkritikers Karel Capek. Der chronologisch erste der unter diesem Gesichtspunkt zu unter¬ suchenden Texte ist der unter dem denkwürdigen Datum des 10. Mai 1933 in der „Pfitomnost“ erschienene, in „Panorama“ am 25. Mai wie¬ derabgedruckte Essay „Posledni dnove lidstva“, der bestimmt war, die tschechische Leserschaft auf die Ende Mai 1933 ausgelieferte Überset¬ zung der „Letzten Tage der Menschheit“ von Jan Münzer vorzuberei¬ ten.4 Ohne den bereits von Louzil und Solle wiedergegebenen Inhalt dieser Besprechung noch einmal reproduzieren und den am Tage der Bücherverbrennung 1933 besonders manifesten Aktualitätsbezug be¬ tonen zu müssen, möchte ich mich darauf beschränken, den theore¬ tischen Kern des Aufsatzes herauszuarbeiten, gleichsam dessen geistige Achse, um die herum das Gedankenmaterial des Textes angeordnet ist. Dieser innere Kern, diese strukturierende Achse ist in Capeks Versuch auszumachen, den Autor der „Letzten Tage der Menschheit“ begriff-

218

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister'

lieh dem Typus des „Kritikers“ zuzuordnen und dessen Typologie durch die Opposition „Moralist“/„Kritiker“ zu präzisieren. Im Dienste dieser Distinktion heißt es, nachdem die Angeklagten und die Anklagepunkte der satirischen Judikatur des Dramas aufgezählt worden sind, resümierend bei Capek: „Karl Kraus ist nicht Moralist; er ist Kritiker. Wo der Moralist bereits beginnen möchte, zu entschuldigen und zu ver¬ zeihen, da bebt der Kritiker noch vor Abscheu.“5 Der Begriff „Moralist“ ist hier nicht nach allgemein mitteleuropäischem Sprachgebrauch lediglich in der Bedeutung „Moralprediger“ zu verstehen, sondern wo nicht ausschließlich, so doch vor allem - in dem spezifischen Sinne, der sich zumal für das Französische mit dem Begriff „Moralist“ verbin¬ det: als Bezeichnung für einen Denker, der das Wesen des Menschen, Fragen der Menschenkunde und Lebensführung zum Problem gemacht hat.6 Nur dem so verstandenen „Moralist“ kann die allumfas¬ sende Toleranz des „Tout comprendre c’est tout pardonner“ zuge¬ schrieben und ihr die Intransigenz eines Kritiker-Typus antithetisch gegenübergestellt werden, der die analytische Leistung forensischer Denunziation mit der Energie des satirischen Pathos der Indignation zu verbinden vermag:7 „Er bebt vor Abscheu.“ Als wegweisend und vor¬ wegnehmend erweist Capek sich in der präzisen Beschreibung der Hal¬ tung des Satirikers Karl Kraus und seines Verfahrens als „Beispiel rei¬ ner Kritik“8: „Karl Kraus [...] ist kein Glaubensprediger; er begnügt sich damit, Kritiker zu sein. Er bekämpft Schlagworte nicht im Namen eines anderen und allenfalls besseren Schlagworts [...] Er verkündet nicht, er untersucht und richtet nur [...] Er mißt die Dinge nicht an seiner Über¬ zeugung, sondern an ihrer inneren Wahrhaftigkeit; er verwirft Geschwätz und Phrasen nicht deshalb, weil sie Redeweisen des anderen Lagers sind, sondern deshalb, weil sie eben nichts anderes sind als ödes Geschwätz und nachgebetete Phrasen.“9 Das sind für die Karl-KrausKritik bahnbrechende Einsichten, die mehr als dreißig Jahre darauf warten mußten, im deutschen Sprachbereich - ohne Kenntnis der Vor¬ gängerschaft Capeks — wiederentdeckt und von Adorno auf die Formel der „immanenten Kritik“ gebracht zu werden. „Kraus“, so Adorno 1965, „hütet sich gegen das herrschende Unwesen, Freiheit frisch-fröh¬ lich zu entwerfen. Der für Philosophie [...] schwerlich allzuviel Nei¬ gung hegte, hat auf eigene Faust das Prinzip der immanenten Kritik entdeckt, Hegel zufolge der allein fruchtbaren. Er akzeptiert es im Programm einer ,Analyse [...], die die bestehende Rechtsordnung nicht negiert, sondern interpretiert1.10 Immanente Kritik ist bei Kraus mehr als Methode. Sie bestimmt die Wahl des Gegenstandes seiner Fehde ...“n

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister

219

Dieser 1933 von Capek an den „Letzten Tagen der Menschheit“ abge¬ lesene kritische - und das heißt vor allem: sprach- oder vielmehr medienkritische - Aspekt, erfährt ein Jahr später eine extensive Erwei¬ terung zu einer Würdigung des schriftstellerischen Gesamtwerks von Karl Kraus und zugleich eine intensivierende Konzentration auf die produktionsbezogene Problematik des Lesens und Schreibens, vor allem aber auf die Mentorenrolle von Karl Kraus, dem das Verdienst zukomme, diese Problematik als erster bewußt gemacht zu haben. Es geschieht das in dem zum 60. Geburtstag von Kraus, zum 28. April 1934, geschriebenen kurzen Prosatext „Karl Kraus jako ucitel“ („Karl Kraus als Lehrmeister“), welcher lautet: „Er lehrte uns lesen; er ist der größte Lehrmeister des Lesens, den es jemals gegeben hat. Er lehrte uns bedrucktes Papier entziffern, als wären es Inschriften in einer unbekannten Sprache; er lehrte uns, Sinn und Unsinn gedruckter Worte, ihre Widersprüche, ihre erschreckende Automatik richtig einzuschätzen. Wer durch die Schule der roten Hefte hindurchgegangen ist, der hat sozusagen einen Moralphilologie-Kurs absolviert: er wurde dazu befähigt, auch die nicht in den Gedanken, sondern in den Worten enthaltene Lüge wahrzunehmen; die Korrup¬ tion des Geistes zu erkennen, die sich in der Korrumpierung der Spra¬ che durch die Phrase verrät; die Revolution der Worte zu begreifen, die sich zum Beherrscher des Menschen aufgeworfen haben, seine In¬ stinkte wie Grundsätze erscheinen lassen und an Stelle des Denkens ein mechanisches Hantieren mit Sprachwendungen ermöglichen. Karl Kraus hat es auch versucht, die Menschheit von der letzten und schlimmsten, weil anonymen, Gewaltherrschaft zu befreien: von der Herrschaft der Phrase im öffentlichen Leben. Aber dazu reicht ein ein¬ zelnes Menschenleben nicht aus, selbst nicht das eines Karl Kraus. Daneben lehrte er uns schreiben. Er lehrte uns, die Worte wie wilde Bestien zu beherrschen. Der Geist befiehlt, das Wort hat zu gehorchen. In einer Zeit, da in Literatur und Politik das zügellose Wort regiert, ist Karl Kraus unzeitgemäß, aber eben dadurch höchst aktuell: in einem die Stimme der Vergangenheit und der Zukunft.“ Capeks Worte über Karl Kraus als „größtem Lehrmeister des Lesens, den es jemals gegeben hat“, enthalten ungemein wichtige und bis dahin in solch kritischer Penetration noch nicht ausgesprochene Ein¬ sichten in die Verfahrensweise dieses Autors. Alle Strategien und Methoden der Krausschen Textpoetik stehen danach im Dienste ideo¬ logiekritisch und kulturpädagogisch motivierter Intentionen, alphabe¬ tisierten Kindern des sogenannten, vielzitierten wissenschaftlichen Zeitalters, die durch den täglichen Massenkonsum von Wegwerftexten

220

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister“

das Lesen verlernt haben, dieses wieder beizubringen, und zwar auf scheinparadoxe, aber durchaus sinn- und effektvolle Weise durch des¬ sen zunehmende Erschwerung. Diese Intentionen realisieren sich in einem Sprachdenken und einer Sprachkunst, die dem verpflichtet ist, was Thomas Mann im „Doktor Faustus“ als eine Kunstgesinnung beschrieben hat, die unter einem unerbittlichen „Imperativ der Dich¬ tigkeit [...] das Überflüssige verpönt, die Phrase negiert, das Ornament zerschlägt“.13 Lehrmeister des Lesens im Sinne Capeks wurde und war Karl Kraus nicht zuletzt kraft einer Methode satirischer Beweisführung und pole¬ mischer Kriegführung, deren stärkstes Argument stets das Zitat gewe¬ sen ist: nicht sowohl als sachlicher Beleg, sondern vor allem auch als notwendiges Requisit mimischer und gestischer Entlarvung durch den Zitierenden. Das auf solche Weise schöpferische Vernichtungsarbeit leistende Zitat, in dem die Spationierung den Sprachduktus und -gestus sichtbar macht, reduziert wolkigen Bombast auf den zugrunde¬ liegenden reinen Unsinn; vorgetäuschte Fülle auf die tatsächliche Leere, falsches Pathos auf das echte Blech, die hohle Phrase auf die dicke Lüge. Sehr der Einschränkung bedürfen die Sätze, mit denen Capek dem Lehrmeister des Schreibens zu danken beabsichtigte; denn als Domp¬ teur, von dem man lernen kann, „Worte zu bändigen, wie man wilde Bestien bändigt“, fühlte sich Karl Kraus nur im Bereich „angewandter Sprache“14, vor der „Sprache der anderen“, nicht vor der eigenen, der seinigen: „Ich beherrsche nur die Sprache der andern. Die meinige macht mit mir, was sie will“ (F 389, 42),15 wie ein einschlägiger Apho¬ rismus lautet. Gerade mit den berühmten Versen der „Molchhvmne“ hat Capek sich als Meisterschüler der Kunst sowohl des vernichtenden Zitats als auch der beherrschten „Sprache der andern“ erwiesen, noch dazu in einer andern Sprache. Wie tief die in unmittelbarer Nachbar¬ schaft von „Karl Kraus jako ucitel“ entstandene Prosaskizze „V zajeti slov“ („Im Bann der Worte“)16 und der damit eingeleitete „Zurnalisticky slovnik“ von Karel Poläcek17 „der Schule der roten Hefte“ und ihrem „Moralphilologie-Kurs“ verhaftet und verpflichtet sind, darauf habe ich schon im Kraus-Gedenkjahr 1986 hingewiesen.18 Darüber hin¬ aus wäre es nicht nur ratsam, sondern im Interesse der weiteren Erschließung einer ganzen Kategorie Capekscher Texte sogar drin¬ gend geboten, vor allem die Beiträge aus dem Einzugsbereich des Sam¬ melbandes „V zajeti slov“19 auch von bohemistischer Seite her unter dem Gesichtspunkt eines kontrastiven Vergleichs mit der „Moralphilo¬ logie“ der „Fackel“ zu untersuchen.

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister

221

Lassen Sie mich schließen mit einem bisher unbeachteten merkwür¬ digen Fall von Konvergenz in der soeben angedeuteten Richtung. Bertolt Brecht hat 1934 in einem Versuch, die Kunst des entlarvenden und vernichtenden Zitierens in der „Fackel“ zu beschreiben, als deren höchste Form die Methode des kommentarlosen Zitierens bestimmt, die freilich auch die am wenigsten nachahmbare sei, da sie den Aufbau eines Raumes voraussetzte, „in dem alles zum Gerichtsvorgang wird“.20 Einen solchen Raum hatte Karl Kraus mit dem 224 Seiten starken „Fackel“-Heft vom August 1924 aufgebaut, einem Gedenkheft zum 10. Jahrestag des Weltkriegsausbruchs. Es beginnt mit der polemischen Satire „In dieser kleinen Zeit“ (F 657, 1-45), dem Gegenstück zu der im Herbst 1914 gehaltenen berühmten Antikriegsrede „In dieser großen Zeit“ (F 404, 1-19). Den komplementären Schluß des Heftes bildet ein Musterbeispiel für die von Brecht charakterisierte hohe Kunst kom¬ mentarlosen Zitierens. Zwei Zeitungsmeldungen werden unter der gemeinsamen Sammelüberschrift „Die Welt nach dem Krieg“ abge¬ druckt (F 657, 222-224). Der zweite und damit der letzte, das ganze Heft abschließende Text handelt von der behördlich verfügten Ausrot¬ tung sämtlicher Katzen - etwa 5000 an der Zahl - in Budweis (Ceske Budejovice) wegen befürchteter Tollwutgefahr.21 In diesem Kontext, dem im prägnanten Brechtschen Sinne erfolgten .Aufbau eines Raumes, in dem alles zum Gerichtsvorgang wird“, liest sich dieser Bericht vom Einfangen, dem Sammeltransport und der schließlichen Massenvergasung der 5000 Katzen nicht nur wie ein Bericht über die „Welt nach dem Krieg“, also wie eine Bestätigung der Fortdauer des Gaskriegsgrauens nach dem Ersten Weltkrieg, sondern auch schon wie eine Vorwegnahme jener ebenfalls mit Gas betriebenen „Endlösung“ im Zweiten, die hier mit all den grauenhaften Details einer „Endlösung der Katzenfrage“ vorgebildet erscheint. Ein halbes Jahr nach Erscheinen dieses „Fackel “-Heftes veröffentlichte Capek Anfang 1925 im „Lumir“ den bekannten, erst kürzlich in Frantisek Buriäneks Capek-Monographie wieder erörterten Text „Chväla novin“ („Lob der Zeitung“)22. Der Ausgangspunkt, der, Heinesch gesprochen, als .Anknüpfungspfosten“23 oder vielmehr, auf Journalisten-Neudeutsch, als .Aufhänger“ für eine mit wohlwollender Ironie entwickelte Phänomenologie und Typologie der Zeitung dient, ist die Schlagzeile einer Meldung, auf die Capek im Sommer 1924 auf seiner Englandreise gestoßen ist: „V Ceskych Budejovicich utraceno pet tisic kocek“ („In Budweis fünftausend Katzen vertilgt“).24 Der .Aufbau des Raumes“, in den dieses Schlagzeilenzitat von Capek eingefügt wird, dient wesentlich anderen Zwecken als bei Karl Kraus,

222

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister

„wo alles zum Gerichtsvorgang wird“. Unverkennbar gemeinsam ist jedoch beiden der „moralphilologisch“ geschärfte und geschulte Blick, der in einem unübersehbaren Ozean von bedrucktem Papier mit nachtwandlerischer Sicherheit den Tropfen ins Auge faßt, der in seiner Symptomatik Rückschlüsse auf eine Sintflut erlaubt.25

Anmerkungen

Verzeichnis der Abkürzungen: F 1, lf.

Nachweise in dieser Form beziehen sich auf: Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus. Nr. 1-922. Wien 1899-1936. - Die Zahl vor dem Komma bezeichnet die Nummer - oder die erste von mehreren Nummern - eines durchpagi¬ nierten Heftes; Zahlen hinter dem Komma geben die Seiten an.

B I-II

Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nädherny von Borutin 1913-1936. Hrsg, von Heinrich Fischer und Michael Lazarus. Redaktion: Walter Methlagl und Friedrich Pflfflin. Bd. 1-2. München 1974.

DU

Die Unüberwindlichen. Nachkriegsdrama in vier Akten von Karl Kraus. Wien-Leipzig 1928.

FS I-II

Karl Kraus: Frühe Schriften 1892-1900. Hrsg, vonjoh. J. Braakenburg. Bd. I-II. München 1979.

KKB LTdM I-II

Otto Kerry: Karl Kraus Bibliographie. München 1970. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Hrsg, von Kurt Krolop in Zusammenarbeit mit einem Lektorenkollektiv unter Leitung von Dietrich Simon. Berlin 1978 (= Karl Kraus: Ausgewählte Werke. Bd. 5, 1-2). Zusätzlich zum Seitenverweis wer¬ den auch Akt und Szene angegben, also z. B. V/2 = V. Akt, 2. Szene.

LTdM, AA

Dass., Wien 1919 (= ,Akt-Ausgabe“ in Sonderheften der „Fackel“).

WKK

Wölkenkuckucksheim. Phantastisches Versspiel in drei Akten auf Grundlage der „Vögel“ von Aristophanes (mit Beibehaltung einiger Stellen der Chöre in der Schinck’schen Übersetzung) von Karl Kraus. Wien-Leipzig 1923.

ZStr

Zeitstrophen von Karl Kraus. Wien-Leipzig 1931.

S 1-20

Karl Kraus: Schriften. Hrsg, von Christian Wagenknecht. Frankfurt/Main 1986ff.

S

1

Sitdichkeit und Kriminalität

S

2

Die chinesische Mauer

S

3

Literatur und Lüge

S

4

Untergang der Welt durch schwarze Magie

S 5

Weltgericht I

S 6

Weltgericht II

S

7

Die Sprache

S

8

Aphorismen

S 9

Gedichte

S 10

Die letzten Tage der Menschheit

S 11

Dramen

S 12

Dritte Walpurgisnacht

S 18

Hüben und Drüben

Anmerkungen

224

„Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein (Seite 9-12)

1

Zur Rezeption der Goetheschen „Pandora“ durch Karl Kraus und dessen Identifi¬ kationen mit den beiden „Masken“ der „Doppelherme“ Prometheus/Epimetheus vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992 (in der Paginierung identisch mit der 1. Aufl. Berlin 1987), 172f., 202-207.

2 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg, von Paul Kluckhohn(f) und Richard Samuel. 2., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. Bd. 2. Stuttgart 1960, 425, 619; Bd. 3. Stuttgart 1960, 560. - Zu der auch durch das Grimmsche Wörterbuch belegten Synonymität von „Besonnen¬ heit“ und „Geistesgegenwart“ vgl. den der „Besonnenheit“ gewidmeten § 12 der Ersten Abteilung von Jean Pauls „Vorschule der Aesthetik“ (Jean Pauls Sämdiche Werke. Hist.-krit. Ausgabe. 1. Abt. 11. Bd. Hrsg, von Eduard Berend. Weimar 1935, 46—49). - Zur leitmotivischen Bedeutung des Sonnensymbols im Gesamtwerk der „Fackel“ vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 1), 281-285. 3 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. II/1. Hrsg, von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1977, 339 („zu demontieren“ anstatt „abzumontieren“ übernimmt die Variante der Benjaminschen Niederschrift „M“, vgl. Bd. II/3, 1117). 4 Erwin Chargaff: Bemerkungen. Stuttgart 1981, 95. 5 Zum Begriff der Reflexion vgl. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: W. B.: Gesammelte Schriften (s. Anm. 3). Bd. 1/1. Frank¬ furt/Main 1974, 18-61 („Erster Teil: Die Reflexion“); bei der Begriffsprägung „Refle¬ xionsmedium“ verweist Benjamin ausdrücklich auf den „Doppelsinn der Bezeich¬ nung“ (ebd., 36); analog dazu, wenn auch nicht identisch damit, die Adomosche Distinktion „Reflexion über Kunst“/„Reflexion in Kunst“, vgl. die Belegstellen dazu in: Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg, von Gretel Adorno und Rolf Tie¬ demann. Frankfurt/Main 1973, 562f. 6 Die von Adorno in seiner Erörterung des „Materialbegriffs“ (Ästhetische Theorie [s. Anm. 5], 221-223) aufgestellte Datierungshypothese (ebd., 222: „Der Material¬ begriffdürfte in den zwanzigerJahren bewußt geworden sein“) darf durch die in die¬ sen Band aufgenommene Studie .Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik“ (s. S. 53-71) auch für den deutschen Sprach- und Literaturbereich als widerlegt gelten; zur hier nachgewiesenen Priorität des Materialbegriffs der ,Backei“ um 1910 auch gegenüber dem des frühen russischen Formalismus vgl. Klaas-Hinrich Ehlers: Das dynamische System. Zur Entwicklung von Begriff und Metaphorik des Systems bei Jurij N. Tynjanov. Frankfurt/Main-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1992, 79-87 („Material und Verfahren [priem]“). 7 Die satirisch-wortspielhafte Korrelation „Gegenwart“ = „Widerwart“ zuerst in F 916, 3, wiederholt im letzten Heft, F 917, 98. Auch die Einführung der Metapher vom „Spiegel der Sprache erfolgt in einem wortspielhaften Kontext, der das Schmähwort „Spiegelfechterei)

in den Ruhmestitel eines kämpferischen Sprachkünstlers ver¬

wandelt („im Spiegel der Sprache zu fechten“; „im Spiegel der Sprache und der Stim¬ me Formen der Abirrung darzustellen [...], und Formen der Vollendung zu erstre¬ ben ). In der reichen Geschichte der Spiegel-Metapher setzt das eine Traditionslinie fort, die nicht das fertige Resultat eines „Spiegelbildes“ nach der „Treue“ seiner „Wiedergabe

beurteilt, sondern die Güte und Eigenkraft des Spiegels betont, ähn¬

lich wie schon Otto Ludwig: Gesammelte Schriften. 5. Bd. Hrsg, von Adolf Stern.

,Der Fackel Flamme“ und ihr Widerschein

225

Leipzig 1893, 53f.: „Shakespeare ist der Spiegel, nicht das Spiegelbild seiner Zeit. [...] in der ganzen neueren Litteratur ist der Dichter selten der Spiegel, meist das Spie¬ gelbild der Zeit.“ In die gleiche Richtung zielte Brecht mit seiner subversiven Kritik des dogmatisierten Begriffs der „Widerspiegelung“: „[...]

das dichten muß als

menschliche tätigkeit angesehen werden, als gesellschaftliche praxis mit aller Wider¬ sprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend, der unterschied liegt zwischen .widerspiegeln' und ,den Spiegel Vorhalten'“ (B. B.: Arbeitsjoumal 1938-1955. Berlin-Weimar 1977, 105). Aufgegriffen und instrumentali¬ siert wird damit Schlegels deutsche Version von Hamlets Appell an die Schauspieler, „der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten“ (III/2). Auch für die „Selbstbespiege¬ lung“ hatte Kraus schon früh geltend gemacht: „Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist“ (F 254, 33). 8 Diesen Titel hat Heinrich Fischer einer Auswahl von Glossen der „Fackel“ im vierten Band seiner Karl-Kraus-Ausgabe (München 1956) gegeben und ihn so begründet: „[■«] selbst ein Band von über vierhundert Seiten kann nur einen begrenzten .Wider¬ schein' dieser einzigartigen Zeitschrift erstrahlen lassen“ (ebd., 426). 9 Siehe S. 13-25 dieses Bandes. 10 Ebd., S. 27-52. 11

Ebd., S. 53-71.

12 Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 1), 8. 13 Vgl. Günter Oesterle: Zur Historisierung des Erbebegriffs. In: Gegenwart als kultu¬ relles Erbe. Hrsg, von Bernd Thum. München 1985, 411-451. 14 Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers. Karl Kraus und seine geistige Welt. München 1974. 15 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 1), 155. 16 Siehe S. 105-118. 17 Ebd., S. 91-103. 18 Zur Krausschen Unterscheidung „wörtlich“/„sprachlich“ und ihrem aphoristischen locus classicus (F 389, 37; S 8, 341) vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 1), 19, 51. 19 Siehe S. 119-140 dieses Bandes. 20 Im Unterschied zu der hier vorliegenden Verwendung im konventionellen Sinn („Sprachregion“ = „Sprachgebiet“, „Sprachraum“)

hat „Sprachregion“ bei Karl

Kraus stets eine aparte, innersprachlich differenzierende, zeit- und/oder individual¬ spezifisch gemeinte Bedeutung: so etwa, wenn er es als eine der Hauptaufgaben sei¬ ner „Wortregie“ bezeichnet, den Schauspielern „das Klima der Sprachregion zu eröffnen, in der die Charaktere wohnen“ (F 864, 59), oder den „eigentlichen Nestroy-Typus“ (F917, 71f.) so charakterisiert: „Die Nestroysche Sprachregion ist weder von den Realismen des Volkstons erfüllt noch etwa von jenem gestelzten Hoch¬ deutsch, das den Infinitiv verlängert, und ihr Unnachahmliches liegt in einem gewendeten Schillerpathos, das nur der Kopfsprung ins Triviale von der Redeweise der Moor und Mortimer unterscheidet“ (ebd., 71). 21

Eine dieser Lücken hofft der Verfasser demnächst durch neue Texte und Materialien zur Frühgeschichte der tschechischen Karl-Kraus-Rezeption um 1910 schließen zu können.

22 Vgl. Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, 35: „Als enge¬ ren Prager Kreis bezeichne ich die innige freundschaftliche Verbindung von vier Autoren, zu der dann später noch ein fünfter trat. Diese vier waren: Franz Kafka, Felix Weltsch, Oskar Baum und ich. Nach Kafkas Tod kam Ludwig Winder hinzu.“ Um diesen „engeren Kreis“ als Mittelpunkt ist das gesamte Material dieses Buches

226

Anmerkungen

angeordnet: das Vorangegangene diachronisch als .Ahnensaal“ (ebd., 9) und Vorge¬ schichte, das Gleichzeitige synchronisch als peripherer „weiterer Kreis“ (ebd., 146). 23 Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven-London 1986, 4-10 („Conflict and Creativity: The Vienna Circles“, mit einem Diagramm, 8). 24 In Hinblick auf den Prager Vorkriegskreis um den jungen Willy Haas und Franz Wer¬ fel betont das - unter Berufung auf den Verfasser - auch Jürgen Born: Der junge Willy Haas und sein Freundeskreis. Versuch einer Abgrenzung. In: Prager deutsch¬ sprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Wien 1989, 37-45 (= Schriftenreihe der Franz Kafka-Gesellschaft 3). 25 Vgl. vor allem Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, 47-96, sowie die dort angeführten weiteren einschlägigen Arbeiten des Verfassers. 26 Kurt Krolop: „Solche Erfolche erreichen nur deutsche Molche“ - Karel Capek, Karl Kraus und die „Molchhymne“. In: K.K.: Sprachsatire (s. Anm. 1), 304—307. 27 Siehe Anm. 21. 28 Vgl. Studien über Karl Kraus. Carl Dallago: Karl Kraus, der Mensch / Ludwig von Ficker: Notiz über eine Vorlesung von Karl Kraus / Karl Borromäus Heinrich: Karl Kraus als Erzieher. Zeichnung von Max Esterle. Innsbruck: Brenner-Verlag 1913. Die Affinitäten des an Karl Kraus orientierten Prager Autorenkreises zu den Bestre¬ bungen des „Brenner“ hat am deutlichsten Otto Pick in einem Brief an Ludwig von Ficker vom 9. Dezember 1911 formuliert, vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914. Hrsg, von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Salzburg 1986, 72: „Es wäre [...] nicht uninteressant, im .Brenner’ auf einige in Böhmen lebende deutsche Schriftsteller hinzuweisen, die, ohne eine Gruppe zu bil¬ den, einzeln wie in ihrer Gesamtheit zu der sogenannten Deutschböhmischen Hei¬ matkunst in ähnlichem Gegensatz stehn, wie etwa Ihre engem Mitarbeiter zu Schön¬ herr u.s.f. Es erscheint gerade jetzt ein Gedichtbuch von Franz Werfel [...], dessen Bedeutung man bereits nach dem Erscheinen von einigen Gedichten, in der ,Fackel’, allgemein erkannt.“ 29 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 1), 12 sowie IX der 2. Auflage.

Karl Kraus heute (Seite 13-25) Veröffendicht in: brücken. Germanistisches Jahrbuch DDR-CSSR 1987/88. Hrsg, von Ingrid Kelling. Prag 1988, 58-72. Der unmittelbare Aktualitätsbezug des Titels „Karl Kraus heute“ war das Karl-Kraus-Gedenkjahr 1986, zu dessen Beginn der Vortrag vor den Mitarbeitern des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaf¬ ten der DDR erstmals gehalten, Anfang 1988 im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Ger¬ manistische Klubabende“ der Deutschlektorate und DDR-Kultur- und Informationszen¬ tren in Krakow und Warschau vor polnischen Zuhörern wiederholt wurde. 1 Die Krise der Sozialdemokratie. Von Junius. In: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Hrsg, vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 4. Berlin *1983, 51-53. - Zur frühen, durch einen Brief an Arthur Stadthagen vom Dezember 1899 bezeugten „Fackel’-Lektüre Rosa Luxemburgs vgl. Martina Bilke: Zeitgenossen

Karl Kraus heute

227

der „Fackel“. Wien-München 1981, 106 und 278. - Ohne meinen Vortrag vom Februar 1986 zu kennen und ganz unabhängig von ihm hat der Cambridger KarlKraus-Monograph Edward Timms (Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. New Haven-London 1986) die „Fackel“-Affinität des gleichen Passus der Junius-Broschüre im Novem¬ ber 1987 ebenfalls betont, vgl. Edward Timms: „Rächer der Natur“. Zur Ästhetik der Satire bei Karl Kraus und Rosa Luxemburg. In: Karl Kraus - Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan. Hrsg, von Stefan H. Kaszynski und Sigurd Paul Scheichl. München 1989, 55-69. 2 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992, 7-11. S Walter Benjamin: Privilegiertes Denken. Zu Theodor Haeckers „Vergil“. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hrsg, von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/Main 1972, 320. 4 Ebd., 320f. 5 Elias Canetti: Karl Kraus, Schule des Widerstands. In: E. C.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt/Main 26.-35. Tausend April 1982, 47. 6 Ebd. 7 Günter Hartung: „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ als Satire. In: Erworbene Tradition. Studien zu Werken der sozialistischen deutschen Literatur. Hrsg, von G. Hartung, Th. Höhle und H.-G. Werner. Berlin-Weimar 1977, 86. 8 LTdM I, 600 (V/55). Zur Vortragsfrequenz der Verse der „weiblichen Hilfskräfte“ vgl. LTdM II, 348. 9 Adalbert Stifter: Sämtliche Werke (Prager Ausgabe). Bd. 16: Vermischte Schriften III. Hrsg, von Gustav Wilhelm. Reichenberg 1927, 179. 10 Bertolt Brecht: Arbeitsjoumal. Berlin-Weimar 1977, 288 (15. Juli 1942). 11

Elias Canetti: Karl Kraus (s. Anm. 5), 47f.

12 Bertolt Brecht: Leben des Galilei. 3.: „SAGREDO. Galilei, du sollst dich beruhigen! GALILEI. Sagredo, du sollst dich aufregen!“ In: B. B.: Gesammelte Werke, Bd. 3. Frankfurt/Main 1967, 1254. 13 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 2), 15, 2lf-, 90f. - Zum Ursprungsbegriff bei Karl Kraus vgl. Berthold Viertel: Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit. Dresden 1921, 62-69; dazu Walter Benjamin: Karl Kraus. In: W. B.: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Hrsg, von Gerhard Seidel. Leipzig 1970,155 („das Echt¬ heitssiegel an den Phänomenen“); jetzt auch: Edward Timms: Karl Kraus (s. Anm. 1), 232-236. Unbeachtet geblieben ist meines Wissens, daß Abraham Schwadron in sei¬ nem für die „Fackel“ geschriebenen Essay „Der Fanatiker“ (F 324, 40-44) bereits „den Fanatismus des Ursprungs mit dem des Zwecks“, „die Weihe des ,davon1“ mit der teleologischen Profanierung durch das „dahin“ konfrontiert und den Gegensatz von „Urpunkt und Ziel“ thematisiert hat. 14 Vgl. Walter Benjamin: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920-1940. Hrsg, von S. Kleinschmidt. Leipzig 1984, 164. 15 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Berlin 1928, 276. 16 Vgl. Goethe. Berliner Ausgabe. Bd. 8. Berlin 1965, 252: „Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil, / Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; / Wie auch die Welt ihm [= dem Menschen, K.K.] das Gefühl verteure, / Ergriffen fühlt er tief das Un¬ geheure“ (V. 6271-74). 17 Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen, V. 6-8. 18 Die Quantität^- und Temporekorde des Baumverbrauchs der holzverarbeitenden Industrie bei der Herstellung von Zeitungspapier gehörten für die Satire der

228

Anmerkungen

„Fackel“ zu den Hauptkennziffern des als „Wegschritt“ sich erweisenden Fortschritts, vgl. „Das Ende“ (F 381, 68, dazu Walter Benjamin: Karl Kraus [s. Anm. 13], 133); „Gott, Deine Wunder sind groß!“ (F 437, 53); „Die Riesentanne“ (F 552, 1-4); „Die Zeitung“ (F 595, 59): In diesem Mahn- und Warngedicht wird erst an zweiter Stelle der „Menschenopfer unerhört“ gedacht, an allererster der noch schuldloser hinge¬ opferten Bäume: „Weißt du, der du die Zeitung liest, / wie viele Bäume mußten blu¬ ten, / damit geblendet von Valuten / du dein Gesicht in diesem Spiegel siehst, / um wieder dich an dein Geschäft zu sputen?“ 19 Vgl. Manfred Grabs: Hanns Eisler. Kompositionen - Schriften - Literatur. Leipzig 1984, 58. Zur Textvorlage vgl. LTdM I, 595 (V/55); LTdM II, 347. - Der hier gestaltete Sach¬ verhalt bildet bereits das Kernstück einer „Ergänzung“ zum „Nachruf“ (F 501, 1-120), die im April 1919 unter dem Titel „Die Lemuren“ (F 508, 53-55) in der Jäckel“ er¬ schien: „Es war der galizische Winter, in dem die Kommanden häufig keine telephoni¬ sche Antwort aus den vordersten Linien bekamen, wo alles ruhig war und später die ste¬ henden Leichen erfrorener Soldaten, Mann neben Mann, das Gewehr im Anschlag, aufgefunden wurden. Den übrigen blieb noch die Wahl zwischen anderen Heldentoden übrig. Vor ihnen der Feind, hinter ihnen das Vaterland und über ihnen die ewi¬ gen Sterne. Wir schliefen in Betten. Wo mußten diese unglücklichsten aller Märtyrer, die je dem Antichrist geopfert wurden, wo mußten sie, wenn nicht schon Todesangst und Körperqual sie in die Gefangenschaft des Irrsinns trieb, den ,Feind“ erkennen: in ihm, der keineswegs darauf bestand, sie zum Halten ihrer Stellungen zu bewegen, oder hinterrücks in jenem Vaterland, das sie beim ersten Schritt als Mördergrube empfing? In diesem vielfachen Zwang der Heldentode, dem durch die Natur, dem durch die Munition, dem fürs Vaterland, dem durchs Vaterland, haben sie Selbstmord gewählt. Wir lasen den Bericht und gingen in unsere Betten. Aber die frosterstarrten Leichname in den galizischen Schützengräben, Mann neben Mann, das Gewehr im Anschlag, stan¬ den als Protagonisten Habsburgischen Totlebens. Welch eine Kapuzinergruft!“ (F 508, 54f.). Vorgetragen wurden „Die Lemuren“ bereits in der 136. (73. Wiener) Vorlesung vom 2. Februar 1919 (F 508, 30), „Die erfrorenen Soldaten“ in der 145. (82. Wiener) Vorlesung vom 5. Oktober 1919 (F 521, 93). 20 Vgl. LTdM II, 347. Nach den „Raben“ und den „weiblichen Hilfskräften“ gehörte „Der tote Wald“ zu den am häufigsten vorgetragenen Versen der „sprechenden Erscheinungen“ im Finale der den V. Akt abschließenden „Tafelszene“. - In einer der „Notizen“ des Aprilheftes von 1916 (F 418, 41f.) hatte Karl Kraus einen „Frauen¬ brief“ über die Verwüstung der „schönen alten Bäume“ eines Hochwaldes durch „eine entsetzliche Lawine“ zum Anlaß genommen, diesen „Bericht vom Schlachtfeld der Natur“ mit dem „Walten der Unnatur“ auf dem „Schlachtfeld der Menschheit“ zu kontrastieren und das „Mitleid an einem süß duftenden Leichenfeld“ der Natur¬ gewalt erlegener Bäume als „das wahre, größere“ zu werten: „Denn das andere [d. i. das an den Opfern des „Schlachtfelds der Menschheit“, K.K.] meint den einzelnen, der ihm nahe war und den es nun so verändert sieht. Mit allen aber leidet es nicht. Nur in einem geistigeren Sinne dann, wenn es erbarmungslos sagt: So und nicht anders hat die Menschheit gewollt. Denn der Wald hat die Lawine nicht erfunden, um von ihr zerrissen zu werden: wohl aber der Mensch die Technik. Der Wald war unschuldig, und der Mensch straft sich so hart“ (F 418, 41). 21 Gemeint sind die am Ende des Dezemberheftes von 1915 abgedruckten Gedichte .Abschied und Wiederkehr“ (F 413, 126f.) und „Wiese im Park“ (ebd., 128). 22 Zur Attribuierung des Kant-Mottos des Gedichts „Zum ewigen Frieden“ (F 474,159f.) vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 2), 91f., 324 (Anm. 15), 329 (Anm. 59).

Karl Kraus heute

229

23 F 508, 21. Es war jedoch schon enthalten in dem Ende Dezember 1918 erschienenen IV. Band der „Worte in Versen“ (Leipzig 1918, 60). Karl Kraus hat es auch in seine Auswahl von 62 Gedichten aus den Bänden I-IV der „Worte in Versen“ aufgenom¬ men: K.K.: Ausgewählte Gedichte. München Juli 1920, 20. 24 In der 173. (18. Berliner) Vorlesung vom 2. Juni 1920, vgl. F 546, 3f. 25

174. (2. Dresdner) Vorlesung vom 4. Juni 1920 (F 546, 4f.); 235. (34. Berliner) Vor¬ lesung vom 3. Mai 1922 (F 595, 69); 239. (22. Prager) Vorlesung vom 14. Mai 1922 (F 595, 71); 244. (141. Wiener) Vorlesung vom 9. Juni 1922 (F 595, 79); 273. (170. Wie¬ ner) Vorlesung vom 9. Oktober 1923 (F 632, 85).

26 Zur Problematisierung dieses Analogiemodells vgl. Kurt Krolop: Späte Gedichte Goe¬ thes. In: Goethe-Jahrbuch, Bd. 97 (1980), 58-63. 27 Manfred Grabs: Hanns Eisler (s. Anm. 19), 136. - Die Bestimmung „anläßlich des XX. Parteitags“ bezieht sich natürlich auf den vom 14. bis zum 25. Februar 1956 abgehaltenen 20. Parteitag der KPdSU, womit zugleich ein terminus post quem für die Entstehung der Gedichtkomposition gegeben wäre. 28 Ebd. 29 Ebd., 15. Mit nicht minderem Nachdruck verweist auf diese Verszeile Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/Main 1966, 290. 30 Vgl. jetzt auch Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 2), 268ff. - Ganz wichtig für eine Neubewertung der innenpolitischen Option der „Fackel“ von 1934 bis 1936 ist die aus den Quellen erarbeitete Studie von Eckart Früh: Karl Kraus und der Kommunis¬ mus (= Noch mehr. Wien Oktober 1986, 28 Seiten). 31

Elias Canetti: Der neue Karl Kraus. In: E. C.: Das Gewissen der Worte (s. Anm. 5), 259.

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire (Seite 27-52)

Veröffentlicht in: brücken. Germanistisches Jahrbuch DDR-CSSR 1985/86. Hrsg, von Ingrid Kelling. Prag 1986, 5-35. Der Gegenstand dieser aus einem im September 1985 vor Berliner Fachkollegen gehal¬ tenen Vortrag hervorgegangenen Studie deckt sich weithin mit der parallel dazu ent¬ standenen und publizierten von Gilbert G. Carr: Kraus’s Reception of Satire in his Early Career. In: Karl Kraus in neuer Sicht. Londoner Kraus-Symposium. Hrsg, von Sigurd Paul Scheichl und Edward Timms. München 1986, 109-127; dazu jetzt auch ders.: Satire from the German Naturalists? Karl Kraus’s planned Anthology. In: German Life and Letters XLVI No. 2 (April 1993), 120-133.

1

Bertolt Brecht: Über Karl Kraus. In: B. B.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 19. Frankfurt/Main 1967, 432.

2 Walter Benjamin: Jemand meint. Zu Emanuel Bin Gorion. „Ceterum Recenseo“. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hrsg, von Hella Tiedemann-Bartels. Frank¬ furt/Main 1972, 360ff. 3 Berlin 1932, vgl. dazu Martina Büke: Zeitgenossen der „Fackel“. Wien-München 1981, 148f. 4 Ebd., 149. 5 Walter Benjamin: Jemand meint (s. Anm. 2), 360f. 6 Ebd., 362f. 7 Bertolt Brecht: Über Karl Kraus (s. Anm. 1), 431.

230

Anmerkungen

8 Vgl. dazu die Programmnotiz zur 154. (91. Wiener) Vorlesung vom 11. Januar 1920 in F 521, 98-100. 9 Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus. Dresden 1891; zum Kontext vgl. Roger Bauer: Gänsefußchendecadence. Zur Kritik und Literatur der Jahr¬ hundertwende in Wien. In: Literatur und Kritik 191/192 (Februar/März 1985), 21-29. 10 Vgl. die Reproduktion des Programmzettels in: Paul Schick: Karl Kraus in Selbst¬ zeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1965, 26. 11

F 657, 63; ab 1894 setzt bei Karl Kraus eine zunehmende kritische Distanzierung von seinem „Schulkameraden“ ein (vgl. FS I, 165; FS II, 56f.), der seinerseits in Erinne¬ rungen an die kleine Wiener „Gemeinde“ Liliencrons am Anfang der neunziger Jahre Karl Kraus namentlich nicht erwähnt, vgl. Lindners Beitrag in: Deüev von Liliencron. Erinnerungen und Urteile. 2., vermehrte Aufl. von „Liliencron im Urteil zeitgenössischer Dichter“ von Dr. Fritz Böckel, Leipzig 1912, 72fF.

12 Vgl. FS II, 41f., wo der Schluß der Komödie als „ein an Gogolsche Karikaturen her¬ anreichendes Bild“ gerühmt wird; „Gogol’s unvergleichlichen .Revisor*“ (FS II, 265) betrachtete Kraus schon damals als ein Musterexemplar für „satirisches Lachen“ (FS I, 237). 13 Vgl. FS I, 21 lf. („Hermann Bahr“), FS I, 221-226 („Ischler Brief*). 14 Von der ersten großen Abrechnung „Zur Ueberwindung des Hermann Bahr“ (FS I, 103-114, 9. Mai 1893) bis zur namendich adressierten Stilparodie „Hermann Bahr“ (FS I, 21 lf., 4. März 1895). 15 Den „Linzer Franzosen“ (FS I, 13) der ersten Erwähnung greift in der Literatursatire die Bezeichnungsformel „ein Herr aus Linz“ (FS I, 271) wieder auf. 16 Vgl. dazu Helmut Amtzen: Karl Kraus und seine Gegner. Zur Funktion der Polemik in seinem Werk. In: Literatur und Kritik 193/194 (April/Mai 1985), 169. 17 Bertolt Brecht: Über Karl Kraus (s. Anm. 1), 430. 18 Ebd.,431. 19 Diese Kritik an der Zimperlichkeit im Umgang mit „gestorbenen Worten“ konver¬ giert noch mit Kriterien Heinescher Sprachkritik, vgl. Heinrich Heine: Zur Ge¬ schichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: H. H.: Werke und Briefe. Hrsg, von Hans Kaufmann. Bd. 5. Berlin-Weimar 21972, 243: „Lebt das Wort, so wird es von Zwergen getragen; ist das Wort tot, so können es keine Riesen aufrechterhal¬ ten.“ 20 Daniel Spitzer: Gesammelte Schriften. Hrsg, von Max Kalbeck und Otto Erich Deutsch. Bd. I—III: Wiener Spaziergänge I—III. München-Leipzig 1912-1914; Wiener Spaziergänge. Von D. Spitzer. 1 .-6. Sammlung. Wien-Leipzig 1880-1886; Letzte Wie¬ ner Spaziergänge. Von Daniel Spitzer. Mit einer Charakteristik seines Lebens und sei¬ ner Schriften von Max Kalbeck. Wien 1894. 21

Zur Kontinuität des Motivkomplexes der „vaterländischen Dichter“ (FS I, 156) schwarzgelber Couleur, die keiner Gelegenheit ausweichen, „den unvermeidlichen Vaterländler“ (ebd.) zu tanzen, vgl. z. B. Daniel Spitzer: Gesammelte Schriften I, 295; II, 40; Wiener Spaziergänge 5, 230, 295; Letzte Wiener Spaziergänge, 179. Daß Kraus nicht versäumt, auch Max Waldstein (1836-1919) zu erwähnen, obwohl seiner in den „Wiener Spaziergängen“ nur sehr selten gedacht wird (am ausführlichsten noch: Wiener Spaziergänge 5, 53f.), weist den jungen Satiriker als einen ungewöhnlich gründlichen Spitzer-Kenner aus.

22 Daniel Spitzer: Gesammelte Schriften I, 374f. 23 Wiener Spaziergänge 6, 302.

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

231

24 Letzte Wiener Spaziergänge, 193. 25 Zur Aufnahme dieses Stichworts durch Egon Erwin Kisch vgl. Dieter Schienstadt: Egon Erwin Kisch. Leben und Werk. Berlin 1985, 62. 26 Brief Maximilian Hardens an Karl Kraus, 15. Juli 1897, zitiert nach: Martina Bilke: Zeitgenossen (s. Anm. 3), 16, 261. 27 Letzte Wiener Spaziergänge, 69. 28 Wiener Spaziergänge 1, 190. 29 Letzte Wiener Spaziergänge, 299-306. 30 Die ironische Beleuchtung des Schlagworts von der „Mission“ bzw. „Kulturmission“ der Monarchie gehörte zum Leitmotivbestand der „Wiener Spaziergänge“, vgl. z. B.: Letzte Wiener Spaziergänge, 188: „... da nun schon Oesterreich in Folge seiner welt¬ geschichtlichen Mission immer irgendwo sein muß, so sollten wir uns wenigstens nicht binden und der Hoffnung Raum lassen, daß es nicht immer in dem Lager eines Feldherm sein werde.“ 31

Brief von Karl Kraus an Maximilian Harden, 13. Juli 1897, zitiert nach: Martina Bilke: Zeitgenossen (s. Anm. 3), 16, 261.

32 Siehe Anm. 26. 33 Bertolt Brecht: Über Karl Kraus (s. Anm. 1), 430. 34 Ebd.,431. 35 Zur historischen Funktion und Bedeutung dieser Devise im österreichischen Kontext vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, 48ff. 36 Wiener Spaziergänge 5, 43. 37 Ebd. 6, 75. 38 „Veijudung“ als ironisches Zitat eines klerikalen Agitationsschlagwortes ist bei Spit¬ zer schon 1870 zu belegen (Gesammelte Schriften I, 343). 39 Letzte Wiener Spaziergänge, 163. 40 Vgl. Wiener Spaziergänge 6, 100, 176, 180, 225. 41

Ebd. 6, 176.

42 Ebd. 6, 255. 43 Vgl. ebd. 3, 304; 6, 113; Letzte Wiener Spaziergänge, 123, 196, 280; Gesammelte Schriften III, 298. 44 Vgl. Walter Benjamin: Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch. In: W. B.: Gesammelte Schriften III (s. Anm. 2), 279ff. Wenn die Herausgeberin diese Rezension als „eines der frühesten Zeugnisse von Brechts Einfluß auf Benjamin“ (ebd., 644) registriert, dann wäre ein Hinweis auf den viel offensichtlicheren Einfluß von Karl Kraus ebenfalls angezeigt gewesen: ein Einfluß, der sich nicht nur im direk¬ ten Zitat der satirisch-phantasmagorischen Allegorie-Figuren „Freßsack, Gürtelpelz und Naschkatz“ (ebd., 282) manifestiert, sondern auch in der Zurückverfolgung jener „Ironie, die den gerührten Teig der Privatmeinung aufgehen läßt wie ein Backmittel“, auf den „Fall Heine“ (ebd., 280). 45 Die „Nagelfeile“ verweist auf Richard Beer-Hofmann als Urbild, dem in der Galerie der „theophrastischen Charaktere“ dieses Bereichs die Rolle des Dandy zugeschrie¬ ben worden war, vgl. FS I, 222-224, 278-280; FS II, 286f„ 305. 46 Vgl. FS II, 195f., 249: „So kam es, daß sich meine Feder unter dem Drucke der Censur sträubte. Sie begann bereits die Buchstaben zu verwechseln und schrieb z. B. die Behauptung nieder, daß wir in Oesterreich rüstig vorwärts schreiten; ich warf sie hin, da mir selbst den Sinn so wenig störende Druckfehler ein Greuel sind.“

Anmerkungen

232

47 Günter Hartung: Eine literarische Kritik des frühen Zionismus. In: Weimarer Bei¬ träge 7/1981, 7Sff. 48 Vgl. dazu Kurt Krolop: Hinweis auf eine verschollene Rundfrage: „Warum haben Sie Prag verlassen?“ In: Germanistica Pragensia IV (1966), 47ff. 49 Bereits im ersten Jahrgang der „Fackel“ wird der Komplex der „Slavisirung Oester¬ reichs“ nicht mehr primär als nationalpolitisches, sondern vor allem als soziales Pro¬ blem gesehen, vgl. z. B. F 31, 3f. 50 Zur Rolle der Dominanz eines Vulgärbegriffs von „Kunstwollen“ im Selbstverständnis der „jüngstdeutschen“ Moderne vgl. Kurt Krolop: Späte Gedichte Goethes. In: Goethe-Jahrbuch 97 (1980), 41f. 51

Siehe Anm. 5.

52 Vgl. schon das Spitzer-Kapitel in: Wiener Schriftsteller & Journalisten. Typen und Sil¬ houetten von Don Spavento [d. i. Martin Cohn]. Wien 1874, 16f. Der Autor por¬ trätierte Spitzer als „den bürgerlichen Cyniker“ unter den Wiener Journalisten, „wel¬ cher sich um alles Andere mehr bekümmert, als um die deutsche Literatur, dem die Schwankungen der Baubanken viel mehr Interesse einflößen als ein neues Drama und für den die Bilanzen der Nationalbank die ganze Literaturgeschichte ersetzen“ (ebd., 16). 53 Bemerkenswert als Hinweis auf eine der Quellen, aus denen das Verständnis des jun¬ gen Karl Kraus für Wesen und Geschichte der Satire sich ohne Zweifel gespeist hat, ist der Umstand, daß noch in der Jäckel“ Max Kalbecks in der Tat kundige Ein¬ führungsstudie zu den „Letzten Wiener Spaziergängen“ (VII-XLV, unter dem Titel „Daniel Spitzers Leben und Schriften“ leicht gekürzt auch in D. S.: Gesammelte Schrif¬ ten I, 3-54, wiederholt) von der sonstigen Geringschätzung dieses Kritikers ausdrück¬ lich ausgenommen wird: „Der Kritiker Max K a 1 b e c k hat (wiewohl er einst eine gute Einleitung zu Daniel Spitzer’s .Letzten Wiener Spaziergängen' schrieb) keinen Sinn für Ironie“ (F 124, 17). Diese Einleitung enthält nicht nur für Karl Kraus ungemein „per¬ spektivische“ Beobachtungen über das Verhältnis von Satire und Lyrik (XTVf.), son¬ dern auch schon das — freilich noch positiv gemeinte — L rteil: „... Heines .Reisebilder* und .Salon' waren und sind noch heute geistige Mächte, denen kein beginnender Feuilletonist sich so leicht entzieht, und sie werden mustergiltig bleiben, so oft immer es sich darum handelt, der von den Pedanten der Schule eingeschnürten Sprache das Mieder zu lösen

(XVIII). Was Karl Kraus in dem von Benjamin beschworenen

„Moment des Technischen“ (vgl. Anm. 6) von Spitzer gelernt hat, verdient eine beson¬ dere, hier nicht zu leistende Studie. Wenn noch 1934 in der Jäckel“ dem Wiener Spa¬ ziergänger nachgerühmt wird, er habe, „neben Leerläufen, hundertmal bessere Sprachwitze als Nietzsche“ (F 890, 100), so weist das auf Spuren von Jinschöpfung“, deren Quantität und Qualität in der Tat verblüffend sind, vor allem in dem von Chri¬ stian Johannes Wagenknecht untersuchten Bereich des Wortspiels (Das Wortspiel bei Karl Kraus, Göttingen 1965). Hier nur eine kleine Auslese von Beispielen, die Spitzers Priorität bezeugen: „toleranzig“ (Wiener Spaziergänge 5, 238; FS II, 261; F 6, 25, F 17, 19; F 90, 16 u. ö.); „Übertreibjagd“ (Wiener Spaziergänge 1, 61; F 890, 217); „Wort¬ spielhölle“ (Letzte Wiener Spaziergänge, 282; F 172, 6; F 173, 24). Auch bei leichteren Varianten bleibt das Vorbild unverkennbar: Wenn Kraus den deutschen Reichskanzler Hohenlohe wegen dessen Mommsen-Rüge den „großen Herunterkanzler des Deut¬ schen Reichs

(FS II, 114, 124) nennt, so hat das sein Modell in der ironischen Titulie¬

rung des Pater Greuter als .Abkanzler von Tirol“ (Wiener Spaziergänge 5, 237). 54 Sie sind beide bemerkenswert entlegener Stellen entnommen, der erste einem Ent¬ wurf zum Schlußchor des ersten Aktes der dritten Fassung des Trauerspiels „Der Tod

Wechseldauer der Schwierigkeiten beim Schreiben von Satire

233

des Empedokles“, der zweite einer längeren „Reflexion“, vgl. Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg, von Friedrich Beißner. 8.-15. Tausend Leipzig 1965, 881 und 962. 55 Die zehn .Apokryphen“ finden sich (in der Reihenfolge des Abdrucks in F 912, 1-3) in: Prosaische und poetische Werke von J. G. Seume. Siebenter Teil. Berlin o. J. [1870], 129, 135, 151, 170, 189, 212, 212, 145, 245, 182. Zwischen je fünf der .Apo¬ kryphen“ finden sich Worte über den Saüriker von Otto Rommel aus dessen Nach¬ bemerkung zum 8. Band der historisch-kritischen Gesamtausgabe (Wien 1926, 557f.): Sie bilden gleichsam das „wörtliche“ Aussagezentrum, um das herum die „sprachlich“ gestalteten Hölderlin-und Seume-Sätze spiegelsymmetrisch angeordnet sind. 56 Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung, gesammelt und heraus¬ gegeben von Egon Erwin Kisch. Berlin 1923, 502. 57 Siehe Anm. 5. - Auch in diesem Punkt konnte die Einleitung Max Kalbecks eine weg¬ weisende Interpretadonshilfe für den jungen Karl Kraus sein, indem sie zeigte, wie Spitzer vor allem an den Junius-Briefen und ihrer polemischen Satire „deren wirk¬ samstes, aber furchtbarstes Mittel“ zu studieren bestrebt war: „die Sache in der Per¬ son zu treffen“ (Letzte Wiener Spaziergänge, XIX).

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik (Seite 53-71)

Veröffentlicht in: Karl Kraus - Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan. Hrsg, von Stefan H. Kaszynski und Sigurd Paul Scheichl. München 1989 (Son¬ derband der Kraus-Hefte), 29-53.

1

Max Klingen Malerei und Zeichnung. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Hrsg, von Anneliese Hübscher. Leipzig 1985, 25. - Zur Traditions- und Wirkungsgeschich¬ te der Schrift vgl. das Vorwort der Herausgeberin, ebd., 8-11.

2 Max Klinger: Hans Merian. In: Die Zukunft. Hrsg, von Maximilian Harden. X. Jg. 1902. Bd. 40, 11. Zitiert in: Paul Kühn: Max Klinger. Leipzig 1907, 382. Zur Lektüre dieses Nachrufs, den Karl Kraus mit Sicherheit zur Kenntnis genommen hat, war der Herausgeber der „Fackel“ mehrfach modviert: als Abonnent und gründlicher Leser der „Zukunft“; als Freund und Schätzer des Verstorbenen, des Leipziger Kritikers und Satirikers Hans Merian (vgl. FS I, 39, 58f., 71, 86, 126f. und das Gruppenfoto Merian/Kraus/Liliencron in: Paul Schick: Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bild¬ dokumenten. Reinbek 1965, 27) und schließlich als Wiener Parteigänger des Nach¬ ruf-Autors Max Klinger, dessen „Beethoven“ 1903 in der „Fackel“ als das Werk „des größten Künstlers unserer Tage“ (F 147, 12) gegen den Klimt-Enthusiasmus Her¬ mann Bahrs polemisch ausgespielt wird. 3 Paul Kühn: Max Klinger (s. Anm. 2), 382. 4 F 241, 14; F 256, 29f.; F 270, 32. Für die „Dritte, veränderte Auflage“ der „Sprüche und Widersprüche“ von 1914 (KBBEA32a) wurden in den Aphorismen, denen diese Sätze entstammen, bemerkenswerte terminologische Korrekturen vorgenommen, so anstatt „literarische Kunst“ (F241, 14 und FA 32, 160): „Wortkunst“ (EA32a, 160; FA 32b, 172; S 8, 113); anstatt „Stil“ (F 256, 29): „Sprachkunst“ (so schon EA 32, 162; EA 32a, 162; EA 32b, 174; S 8, 114). 5 In: Boris M. Ejchenbaum: Skvoz’ literaturu. Sbornik statej. Leningrad 1924, 9-11. Das Klinger-Zitat in: Max Klinger: Malerei und Zeichnung (s. Anm. 1), 45f. Eine

Anmerkungen

234

Fehlattribuierung dieses Passus, die ihn der in dem gleichen Sammelband enthal¬ tenen, 1918 entstandenen klassischen Gogol-Studie Ejchenbaums zuschreibt („Kak sdelana ,Sinei* Gogolja“, ebd. 171-195), verdeckt dessen Initialfunktion bei der Thematisierung des „Materialaspekts“ im Diskurs der „Formalen Schule“; vgl. Lajos Nyirö: The Russian Formalist School. In: L. N. (Hrsg.): Literature and Interpretation. Budapest 1979, 41. Zum hohen Bekanntheitsgrad der Klingerschen Schrift gerade auch im russischen Bereich vgl. Grigori J. Stemin: Das Kunstleben Rußlands an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Dresden 1976, 282 und 296. 6 Franz Rosenzweig an Ludwig Strauß, 15. März 1927. In: Franz Rosenzweig: Briefe. Hrsg, von Edith Rosenzweig. Berlin 1935, 574. 7 Ebd., 575. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien 1903, 442; zum Inhalt des bei Weininger in der Nachfolge Kants grundsätzlich im qualitativen Sinne verwendeten Begriffs „Menschheit“ vgl. ebd., 222f. Diese ältere Bedeutungsschicht ist immer auch mitzubedenken, wenn von „Menschheit“ bei Karl Kraus die Rede ist, dessen Kenntnis, Auffassung und Hochschätzung Kants ganz wesenüich durch die intensive Lektüre von „Geschlecht und Charakter“ fundiert erscheint. 11

So auch noch in „Sprüche und Widersprüche“ bis 1914, vgl. KKB EA 32 und 32a, 132.

12 Als Chiffre für die Logizität „der erkannten österreichischen Notwendigkeit“ (F 890, 13) besonders häufig in den einschlägigen Parüen der „Dritten Walpurgisnacht“ (S 12, 240, 245, 272) und vor allem des Heftes „Warum die Fackel nicht erscheint“ (F 890, 13, 176, 261, 292, 313). 13 Analog auch noch 1934, F 890, 37: „[...] die Abfallsbereitschaft [...] hat natürlich auch keine Ahnung, daß solches Gedicht wie jedes andere und wie jeglicher Versuch, der Gestalt den Puls der Sprache zu fühlen, nicht in jenem ,Rausch* entsteht, der der Vorstellung des Dilettanten entspricht, sondern in der Verzückung der Logik.“ Solche Thematisierungen der Relation von Lyrik und Logik dürften nicht ohne Ein¬ fluß auf Brechtsche Texte wie „Lyrik und Logik“ oder „Logik der Lyrik“ gewesen sein. Vgl. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt/Main 1967. Bd. 19, 385-387 und 389-391. 14 Vgl. F 160, 23; F 234, 6; F 743, 102f. 15 Vgl. dazu die sprachkritischen Reflexionen von Victor Klemperer: LTI. Noüzbuch eines Philologen. Leipzig 81985, 106f., 151-157. 16 Vgl. dazu die Zusammenstellung in: Gotthard Wunberg (Hrsg.): Die Wiener Mo¬ derne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981, 133-148. 17 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter (s. Anm. 10), 199. 18 Vgl. ebd., 214-217. 19 Ludwig

Wittgenstein:

Tractatus

logico-philosophicus.

Logisch-philosophische

Abhandlung. Frankfurt/Main 51968, 42 (4.1122). 20 Gotthard Wunberg: Österreichische Literatur und allgemeiner zeitgenössischer Monismus um die Jahrhundertwende. In: Peter Berner, Emil Brix, Wolfgang Mantl (Hrsg.): Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne. Wien 1986, 104-111. 21

Ebd., 111.

22 Vgl. die Einleitung des Herausgebers zu: Ferdinand Kürnbergers Briefe an eine Freundin (1859-1879). Hrsg, von Otto Erich Deutsch. Wien 1907, V-XXV. Hier All.

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik 23

235

Zur Weglassung dieses Mottos beim Wiederabdruck in der Suhrkamp-Ausgabe der „Schriften“ (1960) vgl. Werner Kraft: Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus. In: W. K.: Rebellen des Geistes. Stuttgart 1968, 102-134. Hier 107.

24 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main 1967, 10: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirk¬ lich ist.“ Es handelt sich um den letzten Satz und das Fazit des Monologs, mit dem der von Nestroy gespielte Titelheld des „Lebensbilds“ „Der Schützling“ zu seinem großen Fortschritts-Couplet überleitet (IV. Akt, 10. Szene). Die Wittgensteinsche Textierung folgt der großen Nestroy-Gesamtausgabe von Brukner/Rommel (Bd. 7, Wien 1926, 216). Der Satz war schon im Mai 1912 als viertletzter einer „Zusammenstellung“ der 73 „Monologe, Sätze, Couplets“ (F 349, 42-56) zu lesen, die als beglaubigende Text¬ belege zu „Nestroy und die Nachwelt“ (ebd., 1-23) aufzufassen sind (mit der Varian¬ te „is“ anstatt „ist“: ebd., 56). Zur Abwehr liberaldemokratischer Nestroy-Interpretationen

wurde

im

nächsten

Heft

auch

der

Refrain

des

Fortschritts-Couplets

herangezogen: „Dieser Freund des Fortschritts hat die Zeilen geschrieben: ,Ich schau mir den Fortschritt ruhig an / Und find’, ’s is gar net so viel dran!1“ (F 351, 30). 25 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main 1964, 13; vgl. Ferdinand Kürnberger: Der Amerikamüde. Hrsg, von Hubert Lengauer. Berlin 1985, 420 (2. Buch, 5. Kapitel): „Das Leben lebt nicht!“ Durch die bloße Aussparung des Satzzeichens am Ende verwandelt Adorno den emphatischen Ruf der „Klage um die Poesie“ (ebd.) in die nüchterne Feststellung eines Sachverhalts. 26 Ferdinand Kürnberger: Gesammelte Werke. Hrsg, von Otto Erich Deutsch. 2. Bd.: Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. Neue, wesentlich vermehrte Ausgabe. München-Leipzig 1911, 310-342; der Satz, dem das Motto entstammt, ebd., 312: „So haben ganze Welten von Vorstellungen, wenn man sie wirklich beherrscht, in einer Nuß Platz, und alles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.“ 27 Ebd., 312. 28 Ebd. 29 Ebd., 311. 30 Arnold Schönberg: Harmonielehre. 3., vermehrte und verbesserte Auflage. Wien 1921,3. 31 Vgl. F 319, 31-39 (Der Fall Oskar Kokoschka und die Gesellschaft. Von L. E. Tesar). 32 F 176, 22-24; F 179, 13-15; zur Attribuierung vgl. Seite 147f. dieses Bandes. 33 Max Steiner: Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums. Eine kritische Untersuchung. Berlin 1905. 34 Ebd., 93. 35 Ebd., 98: „Die Inkonsequenz ist die philosophische Lüge.“ Vgl. auch Max Steiner: Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge zu einem systematischen Ausbau des Naturalismus. Berlin 21908, 235: „Ein geistvolles System über das Verhältnis der Logik zur Ethik hat Otto

Weininger

in .Geschlecht und Charakter1 ge¬

schrieben.“ Gemeint ist Otto Weininger (s. Anm. 10), 197-211 („VII. Kapitel: Logik. Ethik und das Ich“). Ganz in diesem Sinne bezeichnet es Karl Kraus schon 1901 als „Einsicht [...], daß die Logik der Ethik, d. i. dem logisch Denkenwollen, entspringt“ (F 70, 7). 36 Max Steiner: Die Rückständigkeit (s. Anm. 33), 100. 37 Vgl. ebd., 115f. 38 Ebd., 16.

236

Anmerkungen

39 Vgl. Ludwig Ullmann: Die Fackel. April 1899-März 1910. Elf jahrgänge. Register der Autoren und Beiträge von 300 Nummern. Wien: Verlag „Die Fackel“ 1910, lOf. (27 Beiträge von Karl Hauer zwischen November 1905 und September 1909), 20 (13 Beiträge von Fritz Wittels zwischen Februar 1907 und Mai 1908). 40 Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder: Der Umgang mit den Welt¬ rätseln. Berlin 1987, 382. 41 Werner Mittenzwei: Brecht und die Schicksale der Materialästhetik. In: Dialog 75. Posiüonen und Tendenzen. Berlin 1975, 9. 42 Karin Hirdina: Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren. Berlin 1981, 17-19; analoge Einwände schon bei Günter Mayer: Weltbild - Notenbild. Zur Dialektik des musikalischen Materials. Leipzig 1978, 7. 43 Vgl. Michail M. Bachtin: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hrsg, von Eduard Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen übersetzt von Michael Dewey. Berlin 1986,11; M. Bachün: Voprosy literatury i estetiki. Issledovanija raznych let. Moskva 1975, 12 („material’naja estetika“). Daß der Begriff „Mate¬ rialästhetik“ auch schon vor dieser theoretischen Abgrenzung geläufig war, belegt u. a. das in Anm. 3 nachgewiesene Zitat. 44 Auf einen Nachweis der zahllosen Belege für die zentrale Bedeutung des Materialbegriffs in der Ästhetik und Poetik der russischen Formalen Schule (und des Prager Strukturalismus) kann und muß hier verzichtet werden; vgl. dazu die zusammenfas¬ sende Darstellung von Hans-Jürgen Lehnert: Verfahren - Gestalt - Gattung. Kontro¬ verse Positionen in der sowjetischen Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre. In: Dieter Schienstadt (Hrsg.): Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theo¬ retische Dimensionen eines Problems. Berlin 1981, 403-458 und 709-715; der Wort¬ lautanalogie zu den Definitionen von Richard Weiß wegen sei lediglich hingewiesen auf Viktor Maksimovic Zirmunskij: Zadaci poetiky (1919). In: V.M.Z.: Teorija litera¬ tury. Poetika. Stilistika. Leningrad 1977, 222: „Material der Dichtung sind weder Bil¬ der noch Emotionen, sondern es ist das Wort. Dichtung ist Wortkunst, Dichtungs¬ geschichte ist Geschichte der Wortkunst.“ Schon Hermann Cohen hatte 1889 für einen Rekurs auf Kants legitime Opposition Materie/Form gegenüber der „gedan¬ kenlosen“ Opposition Inhalt/Form plädiert; vgl. dazu Götz Braun: Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung. Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Lite¬ ratur. Berlin 1983, 30 (Anm. 81). 45 Vgl. die Danksagung in F 341, 50. 46 Vgl. die Danksagung in F 274, 23f. 47 Vgl. F 329, 22: „Heine [...] hat das höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaf¬ fen ist; höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird“; F 256, 29: „Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung.“ 48 Georg Lukäcs: Die Eigenart des Ästhetischen. Bd. 1. Berlin 1981, 637ff. 49 Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917. Hrsg, von Eva Karädi und Eva Fekete. Über¬ tragen von Agnes Meller-Vertes. Budapest 1982. 50 Ebd., 64. 51 Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven-London 1986, 172. 52 Georg Lukäcs an Paul Emst, Mitte November 1911. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 257. 53 Leo Popper an Georg Lukäcs, 7. Dezember 1910. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 171.

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

237

54 Georg Lukäcs an Beatrice de Waard, etwa 23. Dezember 1910. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 188. 55 Vgl. Georg Lukäcs: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied 1971, 133-154 und 251 (Hinweis auf den Vorabdruck). 56 Fritz Wittels: Ezechiel der Zugereiste. Roman. 1.-4. Auflage Berlin 1910. 57 Georg Lukäcs an Paul Emst, Anfang Februar 1911. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 200. Diese Information dürfte indessen schon zum Zeitpunkt ihrer Weitergabe überholt gewesen sein, denn Wittels hatte - nach dem von Karl Kraus Ende 1910 gegen ihn angestrengten Prozeß - bereits den Verleger gewechselt und eine 5., überarbeitete Auflage des Schlüsselromans 1911 in Wien erscheinen lassen. Einer im Anhang abgedruckten Blütenlese von „Kriüken über das Werk“ (ebd., 241-246) ist die ,Anmerkung“ vorangestellt: „Es haben sich Personen gefunden, die sich vor Gericht unter Angabe verschiedener Details als Modelle einzelner Romanfiguren erkannten. Da infolge Verbreitung dieses Vorgehens durch die Presse auch ursprüng¬ lich rein künsderische Details schlüsselhaft wirken könnten, hat der Autor einige Ände¬ rungen vorgenommen“ (ebd., 241). Zu den wichtigsten dieser Änderungen gehört die Verwandlung der auf Ludwig von Janikowski abzielenden Figur des „Stanislaw Ritter von Sinepopowski“ (L—4. Aufl., 126ff.) in einen Bulgaren namens Boris Popow (5. Aufl., 126ff.) sowie der fortsetzungsverheißende Zusatz am Ende: „Schluß des ersten Teiles“ (ebd., 240), ein Echo des im Anhang reproduzierten Urteils von Arthur Luther: „Das Buch [...] schreit geradezu nach einem zweiten Teil“ (ebd., 245f.). 58 Emst Bloch an Georg Lukäcs, 5. März 1914. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 331: „Als Du [...] über Burschell das gescheite Wort von der objektiven (nicht subjektiven) Unechtheit gesprochen hattest, schienst Du mir Dein eigenes, weithin vernichtendes, absolutes Urteil gefällt zu haben.“ 59 Gemeint sein dürften vor allem Poppers Freunde Otto Mandl und Karl Polänyi, vgl. Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 101 (Anm. 8) und 412f. 60 Georg Lukäcs an Leo Popper, 27. August 1911. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 252f. 61 Vgl. Georg Lukäcs: Die Seele und die Formen (s. Anm. 55), 7, 9, 41, 198—200. 62 Leo Popper an Georg Lukäcs, 7. Oktober 1910. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 146. 63 Zu diesem kritischen Topos vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hrsg, von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/Main 1972, 51, 286, 369. 64 Rundfrage über Karl Kraus. Innsbruck 1917, 21; zuerst in: Der Brenner 3 (Heft 18, 15. Juni 1913), 843. Vgl. auch Friedrich Pfäfflin: Karl Kraus und Arnold Schönberg. Fragmente einer Beziehung. In: Ludwig Arnold (Hrsg.): Karl Kraus. München 1975, 127-144. 65 Vgl. Arnold Schönberg: Harmonielehre (s. Anm. 30), 201: „Die Vogelperspective, aus der die Ereignisse gesehen werden, ist eine Vogelgehimperspective.“ Analog schon F 7, 4: „Vogelhirnperspektive“. Ein weiteres stillschweigendes „Fackel“-Zitat liegt vor in A. S.: Harmonielehre, 472: „Da hat wieder einer ,einen Gefangenen gemacht, der ihn nicht losläßt1. “ Die Quelle ist mit Sicherheit ein Aphorismus aus der Jubiläumsnummer F 300 (Ende März 1910, erschienen am 9. April 1910), zu deren Beiträgen auch ein „Lied“ (9) von Arnold Schönberg aus den „Fünfzehn Gedichten“ (op. 15) gehört: „Vom Künstler und dem Gedanken gelte das Nestroy’sche Wort: Ich hab’ einen Gefangenen gemacht und er läßt mich nicht mehr los“ (23). Vgl. auch schon F 121, 27: „Und mein unerschrockener Bekämpfer [...] mag [...] mit Nestroy ausrufen: ,Ich habe einen Gefangenen gemacht, und er lässt mich nicht mehr los!1“

Anmerkungen

238

66 Vgl. Juri Tynjanow: Über die literarische Evolution. Deutsch von Brigitta Schröder. In: Fritz Mierau (Hrsg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen For¬ malen Schule. Leipzig 1987, 405-421; Günter Mayer: Materialtheorie bei Eisler. Zu Hanns Eislers Konzeption einer dialektischen Theorie der Musik. In: Günter Mayer: Weltbild - Notenbild (s. Anm. 42), 93-348; ders.: Arnold Schönberg im Urteil Hanns Eislers, ebd., 349-383; Ingeborg Münz-Koenen: Abbild mittels Phantasie und Konstruktion.

Probleme

der Widerspiegelung

im

kunsttheoretischen

Denken

Hanns Eislers. In: Literarische Widerspiegelung (s. Anm. 44), 602-657; Theodor W. Adorno/Hanns Eisler: Komposition für den Film. Textkritische Ausgabe von Eberhardt Klemm. Leipzig 1977, passim. Die Frage des musikalischen Materials war bereits um 1930 der Hauptgegenstand des theoretischen Dialogs zwischen Adorno und Krenek gewesen. Vgl. Theodor W. Adorno und Emst Krenek: Briefwechsel. Hrsg, von Wolfgang Rogge. Frankfurt/Main 1977, passim. Die bereits 1929 von Ador¬ no verwendete Kategorie „Stand des Materials“ (ebd., 168) setzt schon die aus Schön¬ berg wie Kraus ableitbare Opposition Naturmaterial/„geschichtlich aktuelle Vor¬ formung des Materials“ (ebd.) bzw. „präformiertes Material“ (ebd., 169) voraus. Ein Resümee dieser dialektischen Auffassung des Materialbegriffs gibt Michael Franz: Wahrheit in der Kunst. Neue Überlegungen zu einem alten Thema. Berlin 1984, 240: „Das Material der Gestaltung ist auch in den nonverbalen Künsten nicht nur stofflich-energetisches Material, in ihm ist jeweils seine ganze Geschichte als Aus¬ drucksmedium künstlerischer Aneignung sediert [sic! gemeint ist natürlich: sedimentiert]; diese wird in bewußter oder unbewußter Bezugnahme stets mitverarbeitet. [...] Das sinnliche Material ist immer schon formsprachliches Rohmaterial; dazu gehören auch die historisch bereits realisierten und jeweils geregelten strukturellen Möglichkeiten des Materials, sein Alt- und Neuwerden, der jeweilige historische Materialstand.“ 67 Leo Popper an Georg Lukäcs, 13. Juni 1910. In: Georg Lukäcs: Briefwechsel 1902-1917 (s. Anm. 49), 131. 68 Hanns Eisler: Arnold Schönberg. In: H. E.: Musik und Poliük. Schriften. 1948-1962. Textkritische Ausgabe von Günter Mayer. Leipzig 1982, 320. Schönbergs „Vorwort zur dritten Auflage“ der „Harmonielehre (s. Anm. 30), VHIf., trägt das Datum „24. Juni 1921“; Gemeinsamkeiten in der Auffassung von den Möglichkeiten und Grenzen meisterlichen „Lehrens“ lassen es als mehr denn einen Zufall erscheinen, daß das im gleichen Monat erschienene Heft der „Fackel“ (F 572, 1-76) gänzlich Beiträgen „Zur Sprachlehre“ gewidmet ist. 69 Arnold Schönberg: Harmonielehre (s. Anm. 30), 22. Zur Spezifik des Wechselver¬ hältnisses von Innovation und Tradition ebd., 481: „Nie war es Absicht und Wirkung neuer Kunst, die alte, ihre Vorgängerin, zu verdrängen oder gar zu zerstören. Im Gegenteil: tiefer, inniger und respektvoller liebt keiner seine Vorfahren, als der Künstler, der wahrhaft Neues bringt [...].“ 70 Lothar Kühne: Haus und Landschaft. Aufsätze. Dresden 1985, 214f. Die Prägung „Pathos der Sachlichkeit“ findet sich indessen schon in Theodor Haeckers Vortrag „Sören Kierkegaard“, den Karl Kraus 1926 nicht nur in der Jäckel“ angekündigt (F 743, 4. Umschlagseite), sondern auch selbst gehört hat (F 751,91 f.); vgl. Theodor Haecker: Essays. München 1958, 194: „[...] nicht mit dem echten Pathos der Sach¬ lichkeit, sondern mit dem falschen Pathos der Versicherung nur [...]“ Die ältere im Unterschied

zur

„Neuen

Sachlichkeit“

der

zwanziger

Jahre

rubrizieren

Hamann/Hermand als die „werkbetont-sachliche Phase“ innerhalb der „Stilkunst um 1900“, wobei sie zwar Texte von Loos, nicht aber von Kraus oder Schönberg als

Ästhetische Kritik als Kritik der Ästhetik

239

Belegmaterial heranziehen, vgl, Richard Hamann/Jost Hermand: Stilkunst um 1900, Berlin 1967, 505-540. 71

Lothar Kühne: Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen. Dres¬ den 1981, 104 und 278 (Anm. 120).

72 So schon F 259, 38: „Wenn ein Künstler Konzessionen macht, so erreicht er oft nicht mehr als der Reisende, der sich im Ausland durch gebrochenes Deutsch verständlich zu machen hofft.“ 73 Arnold Schönberg: Harmonielehre (s. Anm. 30), 253f. 74 Die terminologische Spur der besonders im Spätwerk der „Fackel“ häufig verwende¬ ten Begriffe „Sachverhalt(e)“ und „Wertbestand“ bzw. „Wertbestände“ (vgl. S 12, 44, 101, 127, 163, 233, 239, 258, 272 und F 890, 7, 45, 91, 100, 167, 176, 230, 242, 263, 289; S 12, 238 und F 890, 45, 52) weist zurück auf eine mit der „Adäquaüonstheorie“ („Wahrheit“ als „adaequatio intellectus et rei“) verknüpfte, ontologisch fundierte Lehre von objektiv gegebenen Sach- und/oder Wertverhalten. Vgl. die Beschreibung der Geschichte dieser „Sachverhaltslehre“ von der Frühphilosophie Franz Brentanos über Marty, Stumpf und Meinong bis zu Wittgenstein, Russell und Bühler in: Oskar Kraus: Die Werttheorien. Geschichte und Kritik. Brünn-Wien-Leipzig 1938, XVII, 11-13, 16f., 62, 73, 194f., 217-223, 229, 235-239, 257, 264-267, 271, 303, 333, 390; ders.: Wege und Abwege der Philosophie. Vorträge und Abhandlungen. Prag 1934, 37-61. Zum Standpunkt der „Sprachkritik“, der Oskar Kraus die ,Adäquationstheo¬ rie".wie die „Sachverhaltslehre“ unterwirft, vgl. die Stellennachweise im Register zu: Die Werttheorien, 509. Diese „Sprachkritik“ ist ebensowenig eine solche „im Sinne Mauthners“ wie bei Wittgenstein (vgl. Tractatus 4.0031), doch kritisiert sie auch des¬ sen Sprachauffassung mit den Mitteln einer auf Franz Brentano und Anton Marty sich berufenden „phänomenognostischen Analyse“ (ebd., XVII), deren Ziel es ist, durch die Übersetzung von „Redewendungen [...] aus der fiktiven Sprache in die Denksprache“ (ebd., 288) von der „Herrschaft des Wortes“ zu „befreien“ (ebd., 381).

„La trahison des clercs“ (Seite 73—90)

Veröffentlicht in: Wiss. Z. Univ. Halle XXXXI ’92 G, H. 6, 21-30. Zugrunde liegt dieser Studie ein Vortrag, gehalten auf der vierten Arbeitstagung einer 1982 bis 1988 in Zwei¬ jahresabständen von den Germanistischen Instituten der Martin-Luther- und der AdamMickiewicz-Universität abwechselnd in Halle und in Poznan unter dem Generaltitel „Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus“ durchgeführten Kollo¬ quiumsreihe. Diese vierte Tagung fand vom 31. Mai bis zum 1 .Juni 1988 in Poznan statt.

1

Havelock Ellis: Impressions and Comments. Third and Final Series 1920-1923. New Edition. London 1930, 30-33.

2 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Th.W.A.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfürt/Main 1963, 125-146; vgl. den Anlaßund Erstdrucknachweis, ebd., 173. 3 Ebd., 125. 4 In: Walter Muschg: Die Zerstörung der Literatur. Bern 1956, 47-70. 5 Vgl. Victor Farinas: Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt/Main 1989. 6 Paris: Bemard Grasset 1927. 7 Die Schwierigkeiten der adäquaten Wiedergabe des Begriffes „clerc“ durch Über-

240

Anmerkungen

Setzungen findet man in diesen regelmäßig reflektiert, vgl. Julien Benda: Zrada vzdeIancü. Prelozila Vera Urbanovä (= Knihy Mänesa, svazek 1). Praha 1929, 6; Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen. Mit einem Vorwort von Jean Amery. Aus dem Französischen von Arthur Merin. Frankfurt/Main 1988, 251-253. 8 Immanuel Kants Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Leipzig: Insel 1921, 161-171. 9 Julien Benda: Trahison (s. Anm. 6), 62f. (Übersetzung K. K.), vgl. Julien Benda: Ver¬ rat (s. Anm. 7), 116. 10 Walter Benjamin: Drei Bücher. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hrsg, von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/Main 1972, 113. 11

Ebd., 176 („Bücher, die übersetzt werden sollten“).

12 Vgl. ebd., 351. 13 M. N. (= Manfred Naumann): La trahison des clercs. In: Kindlers Literatur Lexikon im dtv. München 1974. Bd. 21, 9503. 14 Julien Benda: Trahison (s. Anm. 6), 247; ders.: Verrat (s. Anm. 7), 221. 15 Vgl. Julien Benda: La Fin d’Etemel. Paris 1929, 9-57 („Reponses du clerc ,de droite“'); 59-118 („Reaction du clerc ,de gauche1“); 118-208 („Reaction des philosophes“). 16 Ebd., 261. 17 Walter Benjamin: (Theologisch-politisches Fragment). In: W. B.: Gesammelte Schrif¬ ten. Bd. II/l. Hrsg, von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frank¬ furt/Main 1977, 203. 18 Siehe S. 19f. dieses Bandes. 19 Bertolt Brecht: Arbeitsjoumal 1938-1955. Berlin-Weimar 1977, 103. 20 Der Wortlaut dieses am 2. Oktober 1914 in fast allen deutschen Tageszeitungen veröffenüichten Aufrufs „An die Kulturwelt!“ in: Romain Rolland: Das Gewissen Euro¬ pas. Tagebuch der Kriegsjahre 1914-1919. Deutsch von Cornelia Lehmann. Bd. 1: Juli 1914 bis November 1915. Berlin 21983, 85-89; den vollständigen Text dokumen¬ tierte im Mai 1915 auch „Die Aktion“ unter der von Franz Pfemfert eingeführten Rubrik „Ich schneide die Zeit aus“, vgl.: Die Aktion 1911-1918. Eine Auswahl von Thomas Rietzschel. Berlin-Weimar 1986, 453-457. - Die geringe Differenz, die den 93 „Vertretern deutscher Wissenschaft und Kunst“ noch fehlte, um sich als komplet¬ te Hundertschaft präsentieren zu können, hat Karl Kraus wiederholt satirisch the¬ matisiert: „[...] die 93 Musikanten und Professoren - aufs Hundert fehlen noch sie¬ ben Schwaben - [...]“ (F 462, 51). - „Seitdem 93 deutsche Intellektuelle die feindlichen Stellungen erfolgreich mit Lügen belegt haben, hat keine Regung unse¬ res Geisteslebens so zündend gewirkt wie der Protest jener sechs Schwaben, und es kann nur solche, die von dem Maß meiner satirischen Pedanterie keine Ahnung haben, wundern, daß es mich gelüsten mochte, auf meine Art das Hundert voll zu machen“ (F 514, 35). - Jenes akademische Neu-Deutschland, das nach den Göttin¬ ger Sieben durch dreiundneunzig Intellektuelle erst das Maß vollzumachen wähnte; [...]“ (F 531, 144). 21

Bertolt Brecht: Über Karl Kraus. In: B. B.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 19. Frankfurt/Main 1967, 431.

22 Vgl. B I, 171: „Ich arbeite jetzt [...] das scheußliche Vorspiel dieser Zeit durch; [...]“ (20. Juli 1915). 23 Vgl. Julien Benda. Trahison (s. Anm. 6), 163: „Les anciens moralistes franfais, meine hommes de guerre (Vauvenargues, Vigny), tenaient la guerre pour une triste necessite; leurs descendants la recommandent comme une noble inutilite.“ Der im Mai

,La trahison des clercs

241

1916 (F 418, 45) abgedruckte kriegsverdammende Passus aus „Servitude et grandeur militaires“ von Alfred de Vigny hatte bereits zum Programm der 83, (31. Wiener) Vor¬ lesung vom 30. Oktober 1915 gehört, der vierten nach Kriegsausbruch (vgl. F 413, 111). Die Stelle findet sich in der Neuübersetzung: Alfred de Vigny: Soldatenknecht¬ schaft und Soldatengröße. Deutsch von Otto Freiherrn von Taube. Merseburg 1936, 81f. 24 Karl Kraus folgt hier - wie wohl auch in den übrigen Liliencron-Gedichten dieses Pro¬ gramms - dem Text der von Richard Dehmel besorgten postumen Ausgabe: DeÜev von Liliencron: Gesammelte Werke. 2. Bd.: Gedichte. Berlin-Leipzig 1911, 362-363; davon abweichend die Lesarten der Verse 6 und 13 in der Ausgabe letzter Hand, vgl. Detlev von Liliencron: Sämüiche Werke. Bd. 8: Kämpfe und Ziele. Der Gesammelten Gedichte zweiter Band. 6. Aufl. Berlin-Leipzig o. J., 189: „Dem Stämmchen ward so wunnund weh“ (V. 6) und „Das Bäumchen singt, der Vogel fliegt“ (V. 13). 25

„Mittelwelt“ („middle-earth“) ist eine „Einschöpfung“ aus der Baudissinschen Über¬ setzung der „Merry Wives of Windsor“ (V. 5), vgl. Shakespeares Dramen. Für Hörer und Leser bearbeitet. Teilweise sprachlich erneuert von Karl Kraus. Bd. II. Wien 1935, 217. Sie steht in wortspielhafter Beziehung zu den „Mittelmächten“ Zentral¬ europas und der für diese symptomatischen Perversion des Verhältnisses von Lebens mittel und Lebenszuircfc (F 499,2: „den Gespensterreichen dieser Lebens¬ mittelmächte“), vgl. S 12, 198; F 890, 73, 140, 183.

26 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. II/1. Hrsg, von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main 1977, 341. 27 Vgl. F 426, 93: „.Kreatur“, im Mund des Menschen zum Schimpf geworden, [...]“. 28 Zu den Rehabilitationsmöglichkeiten der in den „Letzten Tagen der Menschheit“ ver¬ nichtend satirisierten Weltkriegsphrase vom „heiligen Verteidigungskrieg“ (S 10, 71: „Mirfühm einen heilinger Verteilungskrieg führn mir!“) vgl. S 12, 238; F 890, 23,178. 29

„Hätte ich die Wahl gehabt, einen Hund oder dessen Schlächter zu tranchieren, ich hätte gewählt!“ (F 426, 94): Dieser Kemsatz aus der Prosasatire „Die Fundverheim¬ lichung“ (ebd., 90-96) kehrt, prosodisch transformiert und exemplarisch überhöht, wieder in der gleichnamigen Verssatire (F 445, 170-176): „O hätte man mir nur die Wahl gelassen, / den Hund oder den Schlächter zu tranchieren, / ich hätt’ gewählt!“ (ebd., 174).

30 Vgl. die Glosse „Vom Glück“ (F 462, 133), verarbeitet zu einer der in den „Letzten Tagen der Menschheit“ am Ende der großen „Tafelszene“ (V/5) aufsteigenden „Erscheinungen“: „Die zwölfhundert Pferde“ (S 10, 721). 31 Vgl. F546, 8f. 32 Vgl. S. 221 dieses Bandes. 33 Vgl. Eckart Koester: Literatur und Weltkriegsideologie. Positionen und Begrün¬ dungszusammenhänge des publizistischen Engagements deutscher Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. Kronberg/Ts. 1977, 37. 34 Theodor Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes. In: Brenner-Jahrbuch 1915. Innsbruck 1915,

130-187; erweiterte Fassung in: Th. H.: Satire und Polemik.

1914-1920. Innsbruck 1922, 63-163. Die Arbeit daran hatte Haecker gleich nach Kriegsausbruch aufgenommen, vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1914—1925. Hrsg, von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Inns¬ bruck 1988, 20: „Ich rette mich nur dadurch, daß ich jeden Tag schreibe; es wird eine umfangreiche Arbeit sein am Schluß, etwa mit dem Titel: Krieg und Feuilleton unter besonderer Berücksichtigung des Berliner Tageblatts“ (An L. v. Ficker, 29. Septem¬ ber 1914).

Anmerkungen

242

35 Sören Kierkegaard: Der Begriff des Auserwählten. Mit einem Nachwort übersetzt von Theodor Haecker. Hellerau 1917; im Herbst 1918 erschien als Separatausgabe: Th. H.: Ein Nachwort. Hellerau 1918. - Zu den eindeutigen „FackeU-Bezügen des „Nachworts“ gehört an erster Stelle dessen leitmotivische Übernahme der unbeschönigenden Verdeutschung des italienischen Originalwortlauts des päpstlichen Kriegsverdammungsurteils vom 28. Juli 1915 („orrenda cameficina, che omai da un anno disonora l’Europa“) durch die Formel „ehrlose Menschenschlächterei

(F 437,

110; F 445, 21; Th. H.: Ein Nachwort. Hellerau 1918, 44, 59, 73, 75, 82, 91); vgl. Apostolica exhortatio ad populos belligerantes eorumque rectores. In: Acta Apostolicae Sedis. Commentarium Officiale. Annus VII —Vol. VII - Num. 13 (Die 31 Julii 1915), 365-368 (die zitierte Stelle ebd., 366). Es fällt auf, daß von den drei vulgarsprachigen „Versiones authenticae“ (ebd., 369—377) die deutsche die abgeschwächteste Fassung der Formel bietet (ebd., 373: „diesem entsetzlichen Kampfe“), während die franzö¬ sische wie die englische dem italienischen Originalwortlaut optimale Treue bewah¬ ren (ebd., 370: „cette horrible boucherie“, 376: „this horrible slaughter“). Auch in der satirischen Konfrontation „Zwei Stimmen“ (F 406, lf.) vom Oktober 1915 war noch von „diesem fürchterlichen Morden“ (ebd., 1) die Rede, die lapidar verschärfende Formel „ehrlose Menschenschlächterei“ also noch nicht gefunden. 36 Walter Benjamin (s. Anm. 17), 204. 37 Der Brenner. Herausgeber Ludwig Ficker. Heft 1/VI (Oktober 1919), 79. (= Theo¬ dor Haecker: Ein Nachwort. Hellerau 1918, 93). In der Kösel-Neuausgabe der „Essays“ (München 1958, 86) fehlt dieser wichtige Ergänzungssatz der Separat¬ ausgabe „Ein Nachwort“. Sein Bezugstext ist die Bibelstelle Hesekiel (Ezechiel) 11, 19 (nach Luther): „Und will euch ein einträchtig Herz geben und einen neuen Geist in euch geben; und will das steinerne Herz wegnehmen aus eurem Leibe und ein fleischern Herz geben.“ 38 Ein verblüffend analoges Verfahren empfiehlt fast zur gleichen Zeit die als Motto zitierte Tagebucheintragung von Havelock Ellis (s. Anm. 1). 39 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd.

1/2.

Hrsg,

von

Rolf

Tiedemann

und

Hermann

Schweppenhäuser.

Frankfurt/Main 1974, 694. 40 Erstveröffentlichung in: L’Humanite (Paris), 26. Juni 1919; eine deutsche Fassung davon publizierte Georg Friedrich Nicolai in: Demokratie (Berlin), 18. Juli 1919, vgl. Rene Cheval: Romain Rolland, l'Allemagne et laguerre. Paris 1963, 696-698, und die dort angeführte Literatur; Romain Rolland: Das Gewissen Europas (s. Anm. 20), Bd. 3: März 1917 bis Juni 1919, Berlin 21983, 739-796. - Eine erste Auseinandersetzung damit bereits Ende Juli/Anfang August 1919 in F 514, 62-65. 41

Zitiert in Julien Benda: Trahison (s. Anm. 6), 297.

42 Ebd., 298. 43 Der Wortlaut des „Berlin, im September 1919“ datierten, von Professor Wilhelm Foerster Unterzeichneten Rundschreibens der „Liga zur Beförderung der Huma¬ nität“, auf den der Antwortbrief des Verlags der „Fackel“ vom 15. Oktober 1919 (F 521, 136f.) sich bezieht, in: Ivan Vojtech: Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg. Unbekannte Briefe an Erwin Schulhoff. In: Miscellanea musicologica. XVIII. Praha 1965, 68 (Beilage I. B.). Dem Rundschreiben als Flugblatt beigeschlos¬ sen war die deutsche Version des Rollandschen Manifestes, „Für die Unabhängigkeit des Geistes!“, ebd., 68-70 (Beilage I. C.) Dieser Fassung ist auch das in F 521, 137 angeführte Zitat entnommen, während die Polemik in F 514, 62-65, noch auf eine andere deutsche Version bezogen gewesen war.

„La trahison des clercs

243

44 Vgl. Ivan Vojtech (s. Anm. 43), 48f. (Alban Berg an Erwin Schulhoff, 21. 10. 1919): .Ausschlaggebend wäre heute auch für mich, wer sich von den Wienern z. Zt. unter¬ schrieben hat. Und vielleicht noch mehr, wer sich nicht unterschrieben hat: Nicht Schönberg, nicht Karl Kraus, nicht Adolf Loos, nicht Kokoschka. Übrigens ist aus der letzten Fackel der Standpunkt Karl Kraus’ hiezu ersichtlich, den ich vollinhaltlich teile u. der Sie, lieber Herr Schulhoff, besser informieren wird als mein flüchtiges, in hoher Eile hingeworfenes Geschmiere.“ 45 Rudolf Leonhard: Über den Schlachten. Berlin-Wilmersdorf o.J. (1914), Titelblatt. 46 Vgl. F 462, 24: „Dichter, die sich hinreißen ließen (hier hat der hingerissene Setzer anfänglich ,hirnreißen1 gesetzt) [...]“ Zum Thema des Intellektuellen, der sich „mit¬ reißen läßt“, vgl. schon BI, 71. 47 Vae victis! Ein Weihelied den verbündeten Heeren. Wien: Hugo Heller 1914; auf¬ genommen in: A. W.: Österreichische Gedichte (= Österreichische Bibliothek 12). Leipzig o.J. (1915), 4—7. In späteren Werkausgaben fehlt das Gedicht, vgl. Albert Berger: Lyrische Zurüstung der „Österreich“-Idee: Anton Wildgans und Hugo von Hofmannsthal. In: Österreich und der Große Krieg 1914—1918. Die andere Seite der Geschichte. Hrsg, von Klaus Amann und Hubert Lengauer. Wien 1989, 144—152. 48 Vgl. Robert Musil: Tagebücher. Hrsg, von Adolf Frise. Bd. 1. Reinbek 1976, 924. 49 Julien Benda: Trahison (s. Anm. 6), 90. 50 Walter Benjamin: Friedensware. In: Gesammelte Schriften. Bd. III (s. Anm. 10), 23-28. 51 Vgl. die Anmerkungen der Herausgeberin, ebd., 609-613. Zu den im Abdruck durch „Die literarische Welt“ vom 21. Mai 1926 gestrichenen Stellen gehört auch die Dank¬ sagung: „Kurz - um mit Dank hier eines unvergeßlichen Begriffs, den Karl Kraus geprägt hat, zu gedenken - das Werk, an welchem Herr von Unruh sich für seine Reise schulte, war ,die Fibel1. Ihre Sätze haben gehaftet“ (ebd., 612). 52 Vgl. die Glosse F 622, 152 (Juni 1923): „Beste Friedensware“. 53 Vgl. Günter Hartung: Walter Benjamins Antikriegsschriften. In: Weimarer Beiträge. Heft 3/XXXII (1986), 404-419.

Vom „Kasmader“ zum „ Troglodyten “ (Seite 91-103)

Veröffenüicht in: Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. Hrsg, von Günter Hartung und Hubert Orlowski. Halle/Saale: Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

1987/30, 177-193. Vortrag auf der dritten

Arbeitstagung der in der Annotation zu „La trahison des clercs“ (s. S. 239 dieses Bandes) erwähnten Kolloquiumsreihe „Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschis¬ mus“, Halle, 23. bis 25. Juni 1986.

1

ZStr 194; als Notenbeispiel 22 bei Georg Knepler: Karl Kraus liest Offenbach. Erin¬ nerungen - Kommentare - Dokumentationen. Berlin 1984, 144-148; die genaue Datierung ermöglicht der am 22. September 1928 vorgetragene „Rechenschaftsbe¬ richt“ durch den Hinweis: „[...] als ich im Frühjahr zu Offenbachscher Musik den Plan ansagte, mich aus dem Strudel fortzumachen [...]“ (F 795, 9). Den zeit- und werkgeschichtlich spezifischen Kontext dieses Zweiffontenkampfes gegen „Kujone“ und „Troglodyten“ hat Kraus wenig später in einer für die 442. (58. Berliner) Vorle¬ sung vom 30. März 1928 ad hoc verfaßten „Rede“ (F 781, 12) genauer dargelegt: „Ich

Anmerkungen

244

kämpfe gegen die Macht des Troglodytentums, die immerhin den klaren Fall der Umsetzung des Totschlags in Druckerschwärze und der verkehrten Möglichkeit vor¬ stellt. Doch immer wieder gegen die gefährlichere Macht eines halbschlächtigen Intellektualismus, der sich in Österreich wie Deutschland, also überall dort, wo schlechtes Deutsch geschrieben wird, nicht scheut, sich jener Hilfe gegen mich zu bedienen“ (F 781, 22). 2 Die „echten .Schätze'“ stehen in kontrastivem Bezug zu einem ironischen Ausruf im Tonfall des „böhmakelnden“ Brünner Bäckermeisters Zopak aus Nestroys Posse „Eisenbahnheiraten“ beim Anblick „der merkwürdigsten Druckfehler“ (F 917, 75) des „Prager Tagblatt“: „Schäätze -! Schäätze -!' sag ich als Nestroyscher Zopak [...] Schäätze

(F 917, 75 und 77).

3 Vgl. Jean Pauls Werke. Hrsg, von Rudolf Gottschall. 7.-10. Theil: Hesperus. Berlin o. J. [1879], 6 („Vorrede zur dritten Auflage“, 5. Absatz). 4 Fred Zimmermann: Strukturen völkischer Ideologie und volkliche Vorstellungen in Deutschland zu Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts. In: Traditionen und Tra¬ ditionssuche des deutschen Faschismus. Hrsg, von Günter Hartung und Hubert Orlowski. Halle 1987, 22-37. 5 Deutsches Fremdwörterbuch. Begründet von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Bas¬ ler, weitergeführt im Institut für deutsche Sprache. 7 Bde. Berlin (New York) 1913-1984. 6 Ebd., Bd. 5, Lieferung 3, Berlin-New York 1981, 488-490. 7 Ebd., 490. 8 Emst Fischer: Kunst und Koexistenz. Beitrag zu einer modernen marxistischen Ästhetik. Reinbek 1966, 35; vgl. auch schon Ernst Fischer: Zeitgeist und Literatur. Gebundenheit und Freiheit der Kunst. Wien-Köln-Stuttgart-Zürich 1964, 55: „Der Halbgott, der die Träume der Urzeit realisiert, den Traum vom Fliegen, vom Aufstieg zu den Sternen, von der Bezwingung der Natur, ist ein Troglodyt geblieben.“ 9 Dieses 1931 geprägte Wortspiel wird 1934 über seinen personalen Anlaß hinaus zur Gattungsbezeichnung einer Spezies linker Publizistik, die aus der Quelle der „Fackel“ schöpft, ohne sich zu ihr zu bekennen oder sie auch nur anzugeben: „Daß das Werk der Fackel, dessen Benützung sich die Perlen-Fischer einer Partei für je¬ glichen Ein- und Tonfall gegen die Bürgerwelt vorbehielten, in die Kategorie der .Konterrevolution' fällt, darüber sind sieh die Sozialwissenschaftler, mögen sie anein¬ ander auch kein gutes Haar lassen, einig; oder doch die Wissenschafühuber, die sich so nach ihr benennen“ (F 890, 49). 10 In Anspielung auf Ernst Fischers Grazer Vorleben vor 1927 erscheint hier das sati¬ rische Leitzitat „Steirer macht letzten Versuch“ (vgl. unten Anm. 13) zum ersten und einzigen Mal als „Glossenmarke'' (F 820, 65). 11

Die hier und im folgenden gebotenen Stellenverzeichnisse aus dem Gesamtbereich der

„Fackel“

streben Vollständigkeit an, ohne für sie mit gänzlicher Sicherheit bür¬

gen zu können; ihr Anspruch ist, eine proportional stimmige Vorstellung von erstem Auftreten, Streuungsbreite und phasenspezifischer Dichte einzelner Begriffskom¬ plexe zu vermitteln, unbeschadet der Möglichkeit, daß angesichts des riesigen Ein¬ zugsbereichs nicht alle einschlägigen Belege lückenlos erfaßt worden sind. Zu „Tro¬ glodyt“ und dessen Ableitungen vgl. F 657, 81; F 697, 9f.; F 743, 85. 138; F 751, 21; F 766, 80, 89; F 777, 2, 6f.; F 778, 19, 28; DU 144f.; F 781, 22, 59, 69, 89; F 787, 149; F 795, 46; F 800, 29, 50, 64, 73f„ 84; F 806, 56-59; F 810, 11; F 811,94-97, 102f., 111, 151; F 820, 35; F 827, 99; F 838, 124, 133; F 845, 2, 31; ZStr 194; F 857, 27, 116, 120; S 12, 86, 307; F 890, 38, 73, 124, 141, 288.

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

245

Zur Verbreitung des Begriffs über die „Fackel“ hinaus vgl. das „Nachrichtenblatt der Vereinigung Karl Kraus“, Nr. 6/1930, 1, zitiert in Alfred Pfabigan: Karl Kraus und der Sozialismus. Wien 1976, 327: „Faschisten wollen unser Land erobern! Wiederholt war auch schon Karl Kraus das Ziel ihrer Drohungen und anonymen Schmähungen! Einem Sieg der Troglodyten am 9. November wäre vielleicht keine Vorlesung des Künstlers am 16. November mehr gefolgt!“ - Dem Begriffskomplex des „Troglodytischen“ war die Glossenrubrik „Aus dem Neandertal“ (F 622, 159; F 632, 32) vorange¬ gangen. Zugleich mit den „Troglodyten“ (F 657, 81) wird der spezifisch alpenländische „Neandertaler“ (F 657, 53) vorgestellt und „dem Vorschlag einer Freundin [= Mechtilde Lichnowskys, K. K] zugestimmt [...], dem Vorschlag, das österreichische Geld schlicht, wie es ist, zu nennen: Neanderthaler“

(F 657, 198, vgl. auch F 668,

32: F 679, 139). Uber diesen ursprünglich österreichisch-alpenländischen Geltungsbe¬ reich

hinaus

wird

das

Assoziationsfeld

des

Komplexes

„Neandertal“/„Nean-

dert(h)aler“ bald so erweitert, daß es sich mit dem des „Troglodytischen“ deckt und dieses synonymisch vertreten kann: „Es ist eben ein umfassender Verein ,d’ Neander¬ taler1, der die Kulturbedürfnisse vom Belt bis Hallstatt regelt, und sein Leibgesang, wenn er sich nicht an edleren Dichtungen vergreift, ist und bleibt: .Neandertal, du bist mei Freud1“ (F 697, 67; vgl. auch F 697, 11; F 735, 36; F 743, 117; F 751, 18-21; F 766, 65; F 781, 87; F 787, 197; F 820, 36; S 12, 86; F 890, 3). Mit dem Stichwort „Hallstatt11 (vgl. auch F 531, 110) wird ein früher satirischer Topos der „Fackel“ zur Sammelbe¬ zeichnung von „Troglodyten nationalen wie chrisüichen Bekenntnisses“ (F 778, 28) aufgegrifFen: Der „Hallstätter Cretin“ (F 148, 27) bzw. „Kretin“ (F 154, 26f.; F 207, 26) kann auch als „Hallstätter Leser“ (F 149, 28), „Hallstätter Satiriker“ (F 180, 55) oder „Hallstätter Polemiker“ (F 531, 93) sich bemerkbar machen. Mitgemeint ist hier immer auch ein spezifisch provinzielles Element, jener „Idiotismus des Landlebens“, der, wie es im „Kommunistischen Manifest“ heißt, „die Bauemvölker von den Bourgeoisvölkem“ (Marx-Engels: Werke, Bd. 4, 466) unterscheidet. Zum begrifflichen Umfeld vgl. Marie Simon: Idiot von löiomig. In: Soziale Typenbegriffe im alten Griechenland und ihr Forüeben in den Sprachen der Welt. Hrsg, von Elisabeth Charlotte Welskopf. Bd. 5: Das Fortleben altgriechischer sozialer Typenbegriffe in der deutschen Sprache. Ber¬ lin 1981, 291-306; A. J. Storfer: Wörter und ihre Schicksale. Wien-Prag-Leipzig 1935, 225-227 („Kretin, Idiot“). - Mit Beginn der dreißiger Jahre tritt in der .Fackel“ das übergreifende Synonym „Höhlenbewohner“ hinzu, vgl. F 852, 29; F 857, 1; F 876, 14, 128; S 12, 113; F 890, 97. 12 Vgl. F 1,15 („bodenwüchsig“); F 29,19; F 68, 8; F 103,14; F 133, 5; F 145, 31; F 324, 22; F 376, 38f.; F 601, 108, 114; F 608, 16, 33; F 613, 170; F 622, 62, 171; WKK 104; F 640, 10; F 668, 58,150; F 676, 7 („bodenwüchsig“); F 679,127; F 697, 8,123; F 717, 94; F 726, 52; F 732, 33; F 735, 149; F 777, 2; DU 132; F 781, 87, 89; F 795, 50; F 806, 57; F 820, 4; F 838, 67,106; F 847,10; ZStr 153; F 852, 43; F 857, 3, 23, 26, 29, 36; F 873, 3; F 876,14, 127; S 12, 55, 85, 102, 164, 190 („bodenwüchsig“), 196, 285, 311; F 890, 101; F 909, 33, 34, 38; F 912, 41; F 917, 51, 72, 77, 83, 86 („bluboständig“). Vgl. auch die Glosse „Phra¬ se wird Leben“ (F 876, 59), deren Titel sich auf den zitierten Wortlaut eines Zeitungs¬ berichts bezieht, in dem von der reichsamtlichen Förderung der „Liebe [...] zum Boden“ durch „Geländesport“ und „Ordnungsübungen“ die Rede ist. 13 Zur ironisch-satirischen Funktion dieses Annoncen-Zitats vgl. ferner F 568, 63; F 622, 18f.; F 657, 22; F 668, 65, 151; F 676, 18; F 679, 119; F 712, 55; F 726, 41; F 730, 16; F 732, 3; F 735, 148; F 847, 92. 14 Vgl. Kurt Krolop: Genesis und Geltung eines Wamstücks. In: LTdM II, 312f.; dazu auch schon F 521, 61f.

246

Anmerkungen

15 Vgl. F 501, 80; F 508, 44; F 531, 57-59, 96; F 557, 64; F 561, 72; F 568, 61; F 577, 25; F 583, 60, 77; F 588, 76; F 595, 27, 35, 91; F 601, 110, 128; F 613, 11; F 622, 76, 174; F 632, 6-10; F 640, 156-158; F 649, 142,143; F 657, 51; F 668, 104, 110;F679, 35,117, 136; F 697, 123; F 743, 117; F 759, 14; F 766, 59, 72, 82; F 806, 58; F 847, 46; F 852, 43; F 890, 122f., 229, 273, 277; F 917, 72, 108. - Die auf den ersten Blick rätselhafte Bil¬ dung „Schachtelkasmader“ (F 890, 123) erweist sich als weiträumiger Rückbezug auf die Glosse „Gelungen!“ (F 381, 65) vom September 1913, das Zitat einer Zeitungs¬ meldung unter der Spitzmarke „Wiener Humor in Mondsee“, welcher in dem „Ulk“ bestand, daß Ausflugsteilnehmer als „Balkandelegierte der Friedenskonferenz“ sich mit humoristischen Scherznamen wie „Kalt-is-Pascha, Naß-is-Pascha, Schach-tel-KasPascha u.s.w.“ ins Hotelgästebuch ein trugen. 16 Zu diesem in der Satire „Der tragische Karneval“ (F 426, 35-39) erstmals thema¬ tisierten Leitmotiv der Kriegsjahrgänge der „Fackel“ vgl. auch F 454, 7, 8, 16; F 457, 13; F 462, 58; F 484, 84, 185; F 499, 4, 31; F 501, 48; F 514, 64. 17 Vgl. Lexikon der kosmetischen Praxis. Bearbeitet von in- und ausländischen Fach¬ leuten aus Wissenschaft und Praxis. Schriftleitung: R. Volk und F. Winter, Wien. Wien 1936, 117: „Eau de Lubin ist ein balsamisches Toilettenwasser der Firma Lubin in Paris.“ Vgl. die Satire „Von einem Mann namens Emst Posse“ (F 431, 72-77), dem Chefredakteur der „Kölnischen Zeitung“: „Der geistige Vertreter jener Stadt, die, wie man gleich sehen wird, ihren Geruch in der Welt mit weit mehr Recht dem Köl¬ nischen Wasser als der Kölnischen Zeitung anvertraut, heißt Emst Posse, ist aber nur in seinem Zunamen ernst zu nehmen“ (F 431, 72). 18 „Konzentrationslager“ hier als Synonym für „Intemiertenlager“, vgl. auch F 418, 7f.; dagegen Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Halle/Saale 31957, 36 (Tagebucheintragung vom 29. Oktober 1933): „Dagegen Konzentrationslager. Ich habe dieses Wort nur als Junge gehört, [...] während des Burenkrieges [...] Das Wort verschwand dann gänzlich aus dem deutschen Sprachgebrauch. Und jetzt bezeichnet es, plötzlich neu auftauchend, eine deutsche Institution [...]“ 19 „Die Lage der Deutschen in Österreich“ taucht als satirisches Zitat eines LeitartikelKlischees bereits im zweiten Heft der Jäckel“ auf, hier noch in deutschliberaler Regie: „Die Völker Österreichs [...] würden erleichtert aufathmen, wenn man ihnen sagte, dass der Herr, der die .deutsche Gemeinbürgschaft“ journalistisch vertritt und dessen Deutsch beiweitem schlechter ist als die .Lage der Deutschen in Öster¬ reich“, Mendel Singer heißt [...]“ (F2,19). Spätestens ab 1904 sind, wenn von der „Lage der Deutschen in Österreich“ (F 162, 29) bzw. von den „Deutschen in Öster¬ reich - ich meine die mit der ,Lage“‘ (F 185, 21) die Rede ist, stets die „mauldeut¬ schen“ (F 162, 29) Völkischen gemeint, vgl. F 163, 19; F 180, 51; F 190, 17; F 199, 4; F 208, 7, 17; F 212, 25; F 232, 7; F 269, 26; F 285, 45; F 307, 55; F 309, 2; F 331, 33f.; F 338, 14; F 357, 74, F 368, 26; F 376, 36; F 381, 32; F 400, 6; F 484, 208; F 501, 80; F 514, 31; F 531, 58, 72; F 551, lf.; F 622, 63; F 632, 163, 167; F 657, 74; F 751, 111; F 811, 111; F 852, 8; F 857, 25-27; F 876, 10, 4L - Eine zeittypische böhmische Variante bietet die ironisch-satirische Erzählung von Hermann Wagner „Die Lage der Deutschen in Böhmen“. In: H. W.: Die feindlichen Mächte und andere Novellen. München-Leipzig 1909, 55: „Die Geschichte, die ich erzählen will, hängt eng mit der Lage der Deutschen in Böhmen zusammen, jener Lage, von der es bekannt sein wird, daß sie schon lange keine bequeme mehr ist.“ Als einer der 30 Beantworter der Rundfrage des „Brenner“ über Karl Kraus hat der deutschböhmische Erzähler Hermann Wagner (1880-1927) seine frühe Kenntnis und Bewunderung der Werke von Karl Kraus bekundet, vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914. Hrsg.

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

247

von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Salzburg 1986, 146f. 20 „Belange" sind im sadrischen Kontext der „Fackel“ fast stets eo ipso im Sinne der Phrase von den „nationalen Belangen“ oder vor deren Hintergrund zu verstehen, vgl. F 357, 36; F 484, 156; F 499, 4; F 501, 80; F 531, 17, 55, 57; F 557, 71; F 561, 73; F 588, 107; F 601, 116; F 608, 33; F 622, 170; WKK 106; F 632, 4, 32, 167; F 640, 90; F 657, 85, 90; F 668, 151; F 676, 7; F 726, 52, 60; F 735, 38; F 743, 115, 121; F 777, 2, 10; F 778, 23, 30, 36; DU 46, 48, 132; F 781, 89, 100; F 806, 29, 56, F 811, 111, 113; F 820, 6, 80; ZStr llf„ 68; F 857, 23; F 868, 51; F 873, 14; S 12, 48, 98, 112, 129, 165, 219, 220, 239, 313; F 890, 18, 75, 93, 97, 102, 168; F 917, 73. - Dagegen wiederum Victor Klemperer: LT1 (s. Anm. 18), 194: „[...] Belange, auch eines der schmutzig gewordenen Worte

vgl. auch ebd. 202 und 286.

21 Vgl. dazu das Kapitel „Im divertissement“ bei Michael Naumann: Der Abbau einer verkehrten Welt. Satire und politische Wirklichkeit im Werk von Karl Kraus. Mün¬ chen 1969, 117-121. 22 Vgl. Christian Johannes Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus. Göttingen 1965, 74. 23 Vgl. auch das diesem Aufsatz vorangestellte Zitat (F 291,17) sowie vor allem die letzte Vorkriegsglosse, „Ein Ruf, der bis ans Ende der Zeit dringt“ (F 400, 88f.). Karl Kraus hat sie nicht nur in das Programm seiner 82. (30. Wiener) Vorlesung vom 13. Februar 1915 aufgenommen, durch welche „Der Emst der Zeit und die Satire der Vorzeit“ (F 405, 14-20) als Identität und Kontinuum erwiesen werden sollte, er wies ihr auch im Jubiläumsprogramm seiner 500. (313. Wiener) Vorlesung vom 29. April 1929 in einer retrospektiven „Reihe von Glossen der Vorkriegszeit“ (F811, 36) den Platz des Schluß- und Gipfelpunktes zu, mit der ausdrücklichen Vorbemerkung: „In Nr. 400 der Fackel nun - jetzt hatten wir Nr. 800 - am 10. Juli 1914, also knapp vor dem Unheil, ist die folgende Glosse erschienen - es war die letzte -: die heute die sym¬ bolhafte Beziehung eines lokalen Greuels auf die unmittelbare Zukunft gespenstisch wirken läßt“ (F 811, 37). Zur Funktion des Rückbezugs auf die Glosse über die „Käseausstellung“ von 1914 in der „Dritten Walpurgisnacht“ (S 12, 324f., zitiert F 890, 145) vgl. Jochen Stremmel: „Dritte Walpurgisnacht“. Uber einen Text von Karl Kraus. Bonn 1982, 110. - Im „Nachruf“ heißt es gleich eingangs: „[...] mochte [...] unsere Käserinde von einem Staat ihr Milbenmaterial mobilisieren; [...] - das Ende, bis zu dem wir durchhielten, war unentrinnbar [...]“ (F 501, 9). - Im „Traumstück“ (Wien-Leipzig 1923, 22) wird die „Milbe“ schließlich zum kleinsten metaphorischen Nenner des satirischen Anlasses, den „Der Traum“ dem „Dichter“ gleichwohl als vor¬ nehmstes Merkziel der Be(tr)achtung vermächtnishaft zuweist: „Im Taggekribbel achte nur der Milbe, / was macht es, daß sie’s selber nicht versteht: / du bleibst am Leben, das im Tod vergeht, / du lebst im Wort und stirbst an einer Silbe.“ 24 Vgl. Fritz Freund: Das österreichische Abgeordnetenhaus. Ein biographisch-stati¬ stisches Handbuch. 1911-1917. XII. Legislaturperiode. Wien 1911, 317 (Hummer), 332 (Wolf), 373 (Teufel). Im Oktober 1918 war noch von einem anderen Dreige¬ spann die Rede gewesen, den .Abgeordneten Teufel, Pantz und Waldner, von denen jeder einzelne nur ein Drittel ist und die deshalb nur zusammen ausgehen“ (F 484, 188f.); Ferdinand Reichsritter von Pantz war christlichsozialer Abgeordneter eines steirischen Wahlkreises (Freund, 142), Viktor Waldner Kärntner Vertreter der Deut¬ schen Volkspartei (ebd., 167). Die im „Nachruf' (F 501) vorgenommene Konzen¬ tration auf das Deutschnationale und „Sudetische“ (F 890, 113) erscheint bemer¬ kenswert.

Anmerkungen

248 25

1923, vier Jahre nach der Entdeckung Kasmaders, löst der Name „Faschingbauer“ (F 622, 167) keinerlei Rückbesinnung auf die ihm einst zugedachte Rolle mehr aus.

26 Vgl. Geschichte der Republik Österreich. Unter Mitwirkung von Dr. Walter Goldinger, DDr. Friedrich Thalmann, Dr. Stephan Verosta, Dr. Adam Wandruszka hrsg. von Dr. iur. et phil. Heinrich Benedikt. Wien 1954, 407 (Adam Wandruszka). 27 Zur immanenten Filiation dieses „Fackel“-Leitmotivs vgl. Jochen Stremmel: „Dritte Walpurgisnacht“ (s. Anm. 23), 112f. Die dort angeführten Belegstellen lassen sich ver¬ vollständigend ergänzen: F 199, 4; F 219, 45; F 226, 1; F 354, 32; F 395, 4; F 431, 58f., F 454, 17f.; F 457, 61; F 462, 119; F 484, 208; F 519, 14; F 546, 20; F 552, 2; F 640, 90, F 657, 89; F 668, 149; F 697, 123; F 778, 32; F 781, 87; F 820, 77; F 838,106f.; S 12, 165. 28 Zur Geschichte und zur sprachkritischen Wertung dieses während der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen auftauchenden Modeworts vgl. Deutsches Fremdwörterbuch (s. Anm. 5), Bd. 2. Berlin 1942, 102; Eugen Lerch: Französische Sprache und Wesensart. Frankfurt/Main 1933, 75. - Die zitierende Einführung des Worts als satirische Abbreviatur für „jene mitteleuropäische Weltanschauung die man mit einem gebührend ekelhaften Wort die ,Mentalität“ genannt hat“ (F 531, 78), ist bezeichnenderweise gekoppelt mit dem Hinweis auf das Syndrom der „ver¬ folgenden Unschuld“ (vgl. F 474, 36; F 484, 13; F 787, 19; S 12, 28, 164, 194; F 890, 161). „Mentalität“ behält seine satirische Leitmotivfunktion bis zuletzt, vgl. F 544, 13; F 546, 76; F 608, 31; F 632, 43; F 668, 1; F 706, 35; F 735, 67; F 787, 7, 188; F 876, 42; S 12, 90, 179; F 890, 171, 277; F 909, 46. 29 Vgl. Geschichte der Republik Österreich (s. Anm. 26), 407; die Kooperaüon der Nazisten in „Reichdeutschland“, „Deutschösterreich“ und „Deutschböhmen“ dokumen¬ tieren Jaroslav Cesar/Bohumil Cerny: Politika nemeckych burzoaznich stran v Ceskoslovensku v letech 1918—1938 (Die Politik der bürgerlichen deutschen Partei¬ en in der Tschechoslowakei von 1918-1938). Dil I. (1918-1929). Praha 1962, 226f., Faksimile Nr. 23 (nach 264), 280-283. 30 Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2/1. Hrsg, von Norbert Oellers. Weimar 1983, 376, vgl. auch ebd., Bd. 1, 426 („Bürgerlied“). 31 August Heinrich Holfmann von Fallersleben: Unpolitische Lieder. Bd. 1. Hamburg 1840, 15. 32 Der ironische Hinweis auf die Unüberholtheit der „Germania, die eine der aktuell¬ sten Schriften ist“ (F 657, 85), in der man ,„Eigenschaften der Teutonen“ (ebd.) auch und gerade zehn Jahre nach Kriegsausbruch noch immer gültig beschrieben finde, gehört zu den satirischen Leitmotiven des Augustheftes von 1924, vgl. auch F 657, 88. Damit erscheint satirisch vorweggenommen, was Rudolf Borchardt ein Jahr später zu Beginn des Nachworts seiner Übersetzung des Hartmannschen .Armen Heinrich“ affirmativ behauptet hat: „Die erste deutsche Nationalurkunde, älter, tiefer, umfas¬ sender als alle Edda, verläßlicherer Grund als alle auf Umwegen erschlossene alte Sage, in ganz anderen und mächtigeren Gegensatzmassen aufgebaut als auch das ehrwürdigste deutsche Selbstzeugnis es vermöchte, ist die Germania des Tacitus.“ Vgl. dazu Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte. Ham¬ burg 1961, 446ff. 33 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Ber¬ lin

1992, 168. - Mit dem Begriff des „technisch avancierten Troglodytentums“

erfolgt eine Neubenennung des kulturkritisch schon früh diagnostizierten Sachver¬ halts der „Gleichzeiügkeit“ mit LTngleichzeitigem, der seine erste Ausprägung in der Formel „elektrisch beleuchtete Barbaren“ (S 12, 41) gefunden hatte; vgl. auch S. 250f. (Anm. 15) dieses Bandes.

Vom „Kasmader“ zum „Troglodyten

249

34 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Lite¬ ratur. Hrsg, von Gerhard Seidel. Leipzig 1970, 152. 35 Vgl. die Stellennachweise in Anm. 11. 36 Jochen Stremmel: „Dritte Walpurgisnacht“ (s. Anm. 23), 61.

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit (Seite 105-118)

Unveröffenüicht. Der dieser Studie zugrundeliegende Vortrag wurde auf der vom Insti¬ tut für klassische deutsche Literatur der NFG Weimar vom 23. bis 24. März 1988 abge¬ haltenen „Frühjahrsberatung“ mit dem Thema „Zum literaturgeschichtlichen Standort Jean Pauls“ gehalten.

1

Die Schiller-Sätze (zuerst in: Die Horen. Erster Jahrgang. Elftes Stück, November 1795, 71) eröffnen eine Folge „Zitate“ (F 443, 13-23), welche das Zentrum des Hef¬ tes bildet und außer Prosatexten von Schiller und Goethe abschließend auch die „Friedenspredigt vor dem Kriege an den Fürsten“ aus Jean Pauls „Levana“ (Jean Pauls Sämüiche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg, von der Preußischen Aka¬ demie der Wissenschaften. Abt. I: Zu Lebzeiten des Dichters erschienene Werke. Weimar 1927-1963. Bd. 12, 292-297) enthält.

2 Thema dieser Anspielungsvariation sind die büchmannreifen Verse 77-80 des Schillerschen Gedichts „Das Siegesfest“: „Ohne Wahl vertheilt die Gaben, / Ohne Billig¬ keit das Glück, / Denn Patroklus liegt begraben, / Und Thersites kommt zurück!“ Kraus hat diesen Passus wiederholt „eingeschöpft“ (z. B. F 622, 99; F 657, 200; F 732, 43; S 12, 41), zuletzt noch, abermals literaturgeschichtsbezogen, in F 890, 100: „Doch ohne Wahl und ohne Billigkeit, wie nur das Glück selbst, verfährt die deutsche Lite¬ raturgeschichte [...]“ 3 So lautete das Rahmenthema der vom Institut für klassische deutsche Literatur der NFG Weimar im Jean-Paul-Gedenkjahr 1988 abgehaltenen „Frühjahrsberatung“ vom 23. bis 24. März 1988, zu der die vorliegende Studie einen Beitrag darstellte. 4 Von Karl Kraus mit Sperrdruck hervorgehoben; ebenso auch bei der Übernahme in S 3, 259. 5 Deutsche Dichtung. Hrsg, und eingeleitet von Stefan George und Karl Wolfskehl. Erster Band: Jean Paul. Zweite Ausgabe. Berlin 1910, 5. 6 Ebd. Vgl. dazu Kurt Krolop: Späte Gedichte Goethes. In: Goethe-Jahrbuch 97 (1980), 45. 7 Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers. Karl Kraus und seine geistige Welt. München 1974, 92. Als Beispiel für „peinliche Widersprüche“ der Heineschen Börne-Denk¬ schrift von 1840 gilt dem Verfasser der Heine-Denkschrift „Heine und die Folgen“ von 1910 das ironisch-herablassende Fehlurteil über Jean Paul, vgl. S 4, 205: „So wird Jean Paul der .konfuse Polyhistor von Bayreuth' genannt, und von Heine heißt es, er habe sich ,in der Literatur Europas Monumente aufgepflanzt, zum ewigen Ruhme des deutschen Geistes' ... Der deutsche Geist aber möchte vor allem das nackte Leben retten; und er wird erst wieder hochkommen, wenn sich in Deutschland die intellek¬ tuelle Schmutzflut verlaufen haben wird. Wenn man wieder das Kopfwerk sprach¬ schöpferischer Männlichkeit erfassen und von dem erlernbaren Handwerk der Sprachzärtlichkeiten unterscheiden wird.“ (Die Zitate aus „Ludwig Börne. Eine Denkschrift“ in: Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hrsg, von Hans

Anmerkungen

250

Kaufmann. Bd. 6. Berlin-Weimar 21972, 93 und 224.) In der Formel vom „Kopfwerk sprachschöpferischer Männlichkeit“ ist der Maßstab für die Hochschätzung des Sprach- und Kunstwertes der Prosajean Pauls komprimiert, den Karl Kraus polemisch anzulegen wußte, wenn es galt, den an Trivialvorstellungen von Poesie orientierten Vorwurf des Undichterischen von Jean Paul abzuwehren, vgl. z. B. F 341, 29, in der pointierend redigierten Fassung von S 3, 246: „Über Jean Paul fand ich die Bemer¬ kung, er sei eigentlich kein Dichter gewesen, bezeichnend sei ja hiefür, daß er keine Verse geschrieben habe. Seit damals glaube ich, daß die Sphärenmusik von Charles Weinberger ist und das Buch der Schöpfung von Buchbinder.“ Bemerkenswert auch die affirmativ wertende Herstellung einer Relation der Prosakunst Peter Altenbergs zum Jean Paulschen Prototypus: „Es ist seit Jean Paul wieder der erste Fall, daß an einer Anderthalbnatur eben das als Minus erscheint, was den Halben zum Erfassen fehlt, und sie ist so reich, daß man wohl aus dem, was sie nicht hat, ein Dutzend Wie¬ ner Dichter machen könnte, aber aus dem, was sie ist, keinen einzigen“ (F 372, 20). 8 Otto Weininger:

Geschlecht und

Charakter.

Eine

prinzipielle

Untersuchung.

22. Aufl. Wien 1921, 515 (Anm. zu 149: Hinweis auf Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 11., 39, Z. 30-34); 590 (Anm. zu 423: Hinweis auf Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 11,89-192, §26-55). 9 Ebd., 515 (Anm. zu 149); 532 (Anm. zu 207). 10 Ebd., 521 (Anm. zu 171: Hinweis aufjean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 7, 27f., 503. Stazion, Fußnote). 11

Zur Prägung und Inhaltsbestimmung des Begriffs „Einschöpfung“ vgl. F 572, 62; F 787, 162-169; Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992, 258.

12 Vgl. Dorothea Böck: Grundzüge der literarischen Periode - Struktur des künstle¬ rischen Werks. Zu Problemen der Jean-Paul-Interpretation. In: Kunstperiode. Stu¬ dien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts von einem Auto¬ renkollektiv (Leitung: Peter Weber). Berlin 1982, 181. -Jean-Paul-Bezüge hatten bei Karl Kraus zunächst vor allem satirische Kontrast- oder polemische Beglaubigungs¬ funktion; ihr Einzugsbereich war fast ausschließlich die nichtfiktive Prosa des Dich¬ ters, so schon 1897 bei der ironischen Reklamation eines Jean-Paul-Plagiats (FS II, 121, vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 18, 149, Nr. 29), bei dem ersten identifikatorischen Zitat aus der „Vorschule der Aesthetik“ (F 253, 20 =Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 11, 368, Z. 17-23) oder bei der Anspielung auf den Brief des jungen Jean Paul an Pfarrer Vogel vom 8. März 1782 in dem Aphorismus: „Der Vorsatz des jungen Jean Paul war, ,Bücher zu schreiben, um Bücher kaufen zu können'. Der Vor¬ satz der meisten jungen Schriftsteller ist, Bücher zu kaufen, um Bücher schreiben zu können“ (F 256, 19, umgeformt in S 8, 128, vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke, Abt. III: Briefe. Berlin 1956, Bd. 1, 38). Ähnlichen Stellenwert haben die Jean-Paul-Bezüge der Aphorismen: F 323, 12 (S 8, 269): „Einer zitierte gern Jean Pauls Wort, daß jeder Fachmann in seinem Fach ein Esel sei. Er war nämlich in allen Fächern zuhause.“ F 338, 16 (S 8, 237): „Man tadelte Herrn v. H. wegen eines schlechten Satzes. Mit Recht. Denn es stellte sich heraus, daß der Satz von Jean Paul und gut war.“ - F 381, 73 (S 8, 348): „Den Weg zurück ins Kinderland möchte ich, nach reiflicher Überle¬ gung, doch lieber mitjean Paul als mit S. Freud machen.“ 13 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 7, 9. 14 Ebd., 23. 15 Als Karl Kraus sich 1933 in der „Dritten Walpurgisnacht“ auf die Priorität der „oft (selten mit Quelle) zitierten Erkenntnis“ berief, daß in Deutschland „elektrisch

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit 251 beleuchtete Barbaren hausen und daß es das Volk der Richter und Henker sei“ (S 12, 41), da war er sich offenbar nicht mehr bewußt, daß 35 Jahre zuvor in dem Ischler Brief des jungen Chroniqueurs der „Wage“ vom 21. September 1898 dessen .Abnei¬ gung gegen die Nation der elektrisch beleuchteten Barbaren“ (FS II, 253) noch den Ungarn gegolten hatte. 1908 war ihm dann die christlich-soziale Politik der „unver¬ hüllte Barbarismus“, der „in die elektrisch beleuchtete, mit allem Komfort der Neu¬ zeit ausgestattete Barbarei“ (F 245, 2) des liberalen „Fortschritts“ einbreche; ein Jahr später wird in der Satire „Die chinesische Mauer“ die Formel in die Antithese Asien/Europa einbezogen: „Wilde Völkerschaften, elektrisch beleuchtete Barbaren wird Asien entdecken“ (F 285, 15). 16 Vgl. Christian Wagenknecht: Die Vorlesungen von Karl Kraus. Ein chronologisches Verzeichnis. In: Kraus-Hefte 35/36 (Oktober 1985), 1-30; vgl. ebd., 2: „Bezugnah¬ men auf einzelne Vorlesungen von Karl Kraus sollten künftig in der Form ,V 700' (= Vorlesung Nr. 700) erfolgen.“ Das geschieht im folgenden, jedoch im Bedarfsfall in der lokalspezifisch erweiterten Form „V 20 (Wien 7) “ (= Vorlesung Nr. 20, Wiener Vorlesung Nr. 7). 17 Es handelte sich um die 14. (5. Wiener) Vorlesung vom 15. Mai 1911, veranstaltet vom .Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien“ (AVLM), vgl. Heinz Lunzer: Karl Kraus und der .Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien“. In: Karl Kraus - Ästhetik und Kriük. Beiträge des Rraus-Symposiums Poznan. Hrsg, von Stefan H. Kaszynski und Sigurd Paul Scheichl. München 1989, 176. 18 Sieht man rechtens ab von zwei Ausnahmen, die als Beglaubigungszitate im Kontext der „eigenen Schriften“ zu werten sind: den unter der aktualisierenden Überschrift „Dem internationalen Preßkongreß“ in der „Fackel“ abgedruckten (F 303, 25), unter dem Titel „Die Presse“ in das Programm von V 14 (s. Anm. 17) aufgenommenen Ver¬ sen Grillparzers „Der Henker hole die Journale [...]“, vgl. Franz Grillparzer: Sämt¬ liche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 1. Hrsg, von Peter Frank und Karl Pömbacher. München 1960, 301f., sowie den Auszügen aus den Kapiteln 6, 8, 9 und 13 der biblischen Apokalypse in der Übersetzung von Martin Luther im III. Teil der 20. (7. Wiener) Vorlesung vom 5. Februar 1912 (F 343, 13), dem als „Zu¬ gaben“ noch sieben

„Fackel“-Glossen

folgten, vgl. Heinz Lunzer: Karl Kraus und der

.Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien“ (s. Anm. 17), 177. 19 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 6, 247-252. 20 Vgl. Deutsche Dichtung (s. Anm. 5) 80-84. - Die insgesamt 75 im „Inhalt“ (ebd., lOlf.) ausgewiesenen Titel umfassen an Auszügen: 3 aus der „Unsichtbaren Loge“ (8-15); je 20 aus „Hesperus“ (15—49) und „Titan“ (50-77); 3 aus den „Biographi¬ schen Belustigungen“ (77-79); 4 aus dem „Siebenkäs“, dessen prosaischer Name bezeichnenderweise durch die Überschrift „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke“ (80-87) glücklich vermieden wird; 3 aus den „Flegeljahren“ (88-93); abschließend 22 Titel, die insgesamt 30 einzelne „Streckverse“ bezeichnen (93-100): 22 aus den „Flegeljahren“ (93-98), 4 „Polymeter“ aus „Dr. Katzenbergers Badereise“ (98f.) sowie ebenfalls 4 „Ernste Ausschweife“ zum „Urkapitel“ und zu den ersten beiden „Vorkapiteln“ des „Komet“ (99f.). - Zu den Auswahlkriterien Georges vgl. Hans Ger¬ hard: Stefan George und die deutsche Dichtung. Gießen 1937, 71-82 (= Gießener Beiträge zur deutschen Philologie. Begründet von Otto Behaghel. Hrsg, von Alfred Götze und Karl Vietor). - Die Behauptung, „daß sich Kraus offensichtlich von den Auswahlprinzipien“ Georges „beeinflussen ließ“ (so Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Studien zum „Theater der Dichtung“ und Kulturkonservatismus. Kronberg/Taunus 1973, 54), ist durch nichts „Offensichtliches“ zu belegen.

252

Anmerkungen

21 Anlaß für die hier vorgenommene Prioritätsreklamation war der Bericht über eine Berliner Lesung der „Rede...“ durch den bekannten Vortragskünstler Ludwig Hardt (1886-1947) am 22. Oktober 1912, vgl. ebd. - Zu den Möglichkeiten, auch 1912 noch mit der „Rede...“ bei den Zensurbehörden Anstoß zu erregen, vgl. den Brief der Schriftleitung des „Brenner“ (Ludwig von Ficker) an den Verlag der „Fackel“ vom 28. Dezember 1912, in: Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914. Hrsg, von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. Salzburg 1986, 108: „[...] tei¬ len wir Ihnen mit, daß die Zensurbehörde bezüglich des Vortrags von Jean Pauls ,Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ folgenden Bescheid erteilt hat: sie gestattet die Anführung dieses Titels auf den Programmen, verbietet ihn aber für die Plakate. [...] Der Vorschlag der Behörde geht dahin, für die Plakatierung etwa diesen Titel zu wählen: Jean Paul: .Das erste Blumenstück1 (aus .Blumen-, Frucht- und Dornenstücke1). Selbst die abgekürzte Form: .Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab1 (ohne ,daß kein Gott sei1) scheint ihr für die Plakaderung nicht genehm.“ 22 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 9, 541-557; den Ausschlag für die Wahl gerade dieses Textes mag das unmittelbar vorangegangene Heft der „Fackel“ vom 27. Januar 1912 gegeben haben, in dem das als satirischer Anlaß so traditionsreiche Thema des Jahreswechsels von nicht weniger als fünf Glossen variiert wird, vgl. F 341, 1—5: „Bevor der Humor in seine Rechte trat“; 9: „Man überschätzt das“; 20: Jene elegant geklei¬ dete Dame“; 21: „Und vielleicht erlebe ich noch“; 23f: „Eine Voraussagung und wie sie eintraf“. - Zum Genre der Silvestersatire bei Karl Kraus vgl. schon FS II, 138-140 (1. Januar 1898); F 29, 23-26; F 193, 7-9: auf die „lange Reihe der Jahresschluß- und Neujahrsaufsätze“ bei Jean Paul gehen ein: Kurt Schreinert in Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 17, XLIff., Eduard Berend in Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 18, XXTVf. und XXIXf., Wilhelm von Schramm injean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 14, XXXVI1I-XL. 23 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 7, 60, Z. 23 - 64, Z. 16; vgl. F 343, 13: „die letzten Seiten aus dem .Kampaner Tal1, die auf dem Programm Vorbehalten waren, wurden nicht gelesen“. 24 Lichtenberg: Aphorismen - Essays - Briefe. Hrsg, von Kurt Batt. Leipzig 1963, 528f. 25 Jean Pauls Sämdiche Werke, I, Bd. 7, 12ff. 26 Vgl. dazu zusammenfassend CW (d.i. Christian Wagenknecht): Kraus als Philologe. In: Kraus-Hefte 9 (Januar 1979), 20. 27 Es handelt sich um die 35. (14. Wiener) Vorlesung vom 18. Dezember 1912; die 37. (3. Grazer) Vorlesung vom 12. Januar 1913; die 44. (5. Prager) Vorlesung vom 4. März 1913. 28 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 6, 247-252. Hier- im Unterschied zu den weiteren drei Lesungen - registriert das Programm ausdrücklich: „(mit der Vorbemerkung und der Fußnote)11 (F 363, 29). Gemeint ist die „Fußnote“ zum Titel der Rede (ebd., 247) sowie der anschließende „Vorbericht“ (ebd., 247f.). 29 Thomas Mann an Ludwig von Ficker, 12. Juni 1913. In: Ludwig von Ficker: Brief¬ wechsel 1909-1914 (s. Anm. 21), 159; abgedruckt in der ersten Folge der Antworten auf die „Rundfrage über Karl Kraus“ in: Der Brenner, Heft 18/III (1912/13), 15. Juni 1913, 839f.; wiederholt in: Rundfrage über Karl Kraus. Hrsg, von Ludwig von Ficker. Innsbruck 1917, 15f.; jetzt auch in: Thomas Mann: Aufsätze - Reden - Essays. Hrsg, von Harry Matter. Bd. 1: 1893-1913. Berlin-Weimar 1983, 348f. (dazu Anm., 436f.).

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit 253 30 Vgl. a. (d. l. Friedrich Austerlitz): Leseabend Karl Kraus. In: Arbeiter-Zeitung (Wien, Sonntag, 11. Februar 1912), zitiert in F 343, 14: „Überraschenderweise wurden die träumerisch-weichen Stellen von dem in seinen Lebensauffassungen so unerbitt¬ lichen Kritiker, der nicht selten ein Dichter ist, am schönsten gesprochen: zum Bei¬ spiel der Anruf des letzten Lesers und Menschen bei Jean Paul und die ergreifende Stelle in der Offenbarung Johannis: .Und der Name des Sternes heißt Wermut.'“ Bei den hervorgehobenen Stellen handelt es sich um die Anrufung des „letzten Lesers“ durch den Autor (Jean Pauls Sämüiche Werke, I, Bd. 9, 549); die visionäre Anrede des Jünglings“ an den „letzten Menschen“ (ebd., 552-554); die Luthersche Liber¬ setzung von Offb. 8, 11. 31

P. Th.: Anmerkungen zu einer Kraus-Vorlesung. In: Reichspost, Wien, 15. März 1912, zitiert in F 345, 25: „Er las zuerst mit erstaunlich reich abgestufter Tonskala der Emp¬ findung die Mondnachtszene aus dem .Kampaner Tal' des Jean Paul... Die schwär¬ merische Innigkeit dieser Stelle, für ein männliches Organ schier nicht zu bewäl¬ tigen, strömte aus der Stimme des Vorlesers auf, zum Zuhörer über...“

32 st. (d. i. Ludwig Steiner): Leseabend Karl Kraus. In: Prager Tagblatt, Nr. 83/XXXV1I (24. März 1912), 5, zitiert in F 345, 26: „Das Pathos des Hasses kennt man an Kraus; was man aber nicht wußte und was selbst für gute Leser des Wiener Schriftstellers etwas ganz Überraschendes und Neues war, brachte die [...] Vorlesung ausjean Pauls ,Kampanertal': die Erkenntnis, daß Kraus auch lyrischer Gestaltung fähig ist.“ 33 Sie konfrontiert als „Börnes Prophezeiung nach dem Tode Jean Pauls, 1825:“ angekündigte Auszüge aus der „Denkrede auf Jean Paul“ (Ludwig Bömes gesam¬ melte Schriften. Hrsg, von Alfred Klaar. Bd. 1, Leipzig o. J. [1899], 156f.: „Ein Stern...“ bis: „...nachkomme“; 162: „So war Jean Paul!“ bis „...geduldet, wie er.“) mit einer Reklamenotiz über einen Decknamensvetter des Dichters, veröffentlicht in der Wiener Presse, von Kraus zitiert als deren Beitrag „Zum 150. Geburtstage, 1913“: „[Jean

Paul

im

Etablissement

.Gartenbau']

Der Lachregent

im gegenwärtigen Programm des Etablissements Gartenbau ist Jean Paul. Das neue¬ ste Couplet Jean Pauls Alles wegen mir' übt eine geradezu explosive Lachwirkung aus.“ „Was Albernheit und Gedankenlosigkeit täglich leisten“ (F 173, 23), das hatte Kraus schon acht Jahre zuvor unter vielen Beispielen an einem aus dem zumeist mit Kleister und Schere arbeitenden „Neuen Wiener Journal“ demonstriert: „Eine erfreulichere Originalnotiz: sche

,(Jean

Paul.)

Nicht

der

französi¬

Schriftsteller, sondern der urwüchsige Münchener Komiker entfes¬

selt allabendlich im Etablissement Gartenbau Stürme von Heiterkeit...'“ (F 173, 24). 34 Vgl. Ludwig Börnes gesammelte Schriften, Bd. 1 (s. Anm. 33), 160 („Die Trost¬ bedürftigen...“ bis: „...von der Wand herab zu holen.“), vgl. das zweite Motto dieser Studie. 35 Ebd. - Polemischer Bezugspunkt ist hier ein Gedenkartikel der Wiener .Arbeiter-Zei¬ tung“ zum 150. Geburtstag des Dichters, von welchem es heißt: Jean Paul [...] war kein Polemiker, kein Streiter, kein Hasser, und wo er Partei nahm, da tat er es immer mehr aus Liebe zu den Gesinnungsgenossen als aus Haß gegen die Gegner“ (F 376, 26). Dem läßt Kraus durch die Autorität des Börne-Zitats widersprechen, mit der Ankündigung: „Börne, der immerhin über Polemik Bescheid wußte, sagt in seiner Denkrede:“ (F 376, 26). 36 Adolf Loos an Ludwig von Ficker [vor 15. Juni 1912]. In: Ludwig von Ficker: Brief¬ wechsel 1909-1914 (s. Anm. 21), 154; abgedruckt ebenfalls in der ersten Folge von Antworten auf die „Rundfrage über Karl Kraus“ sowie in deren Sammelausgabe (s. Anm. 29), ferner in: Adolf Loos: Trotzdem. Innsbruck 1931, 130.

254

Anmerkungen

37 Vgl. Kurt Krolop, Sprachsatire (s. Anm. 11), 37. 38 Vgl. dagegen den Einspruch gegen diese Deutung bei Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Hrsg, von Gerhard Seidel. Leipzig 1970, 142. 39 Das „Nachwort“ rechtfertigt die Tilgung des in der Erstfassung enthaltenen Satzes: „Der Säbel, der ins Leben schneidet, habe recht vor der Feder, die sich sträubt (F 354, 71). 40 Vgl. Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers (s. Anm. 7), 97f. und 245 (Anm. 4 zu Kapi¬ tel II). 41 Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven-London 1986, 247f., 334f., 341, 357, 390. 42 Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers (s. Anm. 7), 98. 43 Im satirischen Kontext der „Fackel“ wird gerade dieser Text in besonderem Maße zu einem „reinen Gegenbild der hier abgebildeten Welt“ (F 852, 52, vgl. Kurt Krolop, Sprachsatire [s. Anm. 11], 273), zum Fluchtpunkt einer Perspektive der Hoffnung, ganz im Sinne der Börneschen „Denkrede“, an deren Ende es heißt: „Sucht ihr seine Hoffnungen? Im Campanerthale findet ihr sie“ (Ludwig Börnes gesammelte Schrif¬ ten, Bd. 1 [s. Anm. 33], 162). Auch diese Stelle mag dazu beigetragen haben, die Auf¬ merksamkeit des Satirikers auf das „Kampaner Thal“ zu lenken. Zur pathetisch-sati¬ rischen Thematisierung des „Naturverrats“ vgl. Seite 19ff. und 81f. dieses Bandes; Edward Timms: „Rächer der Natur“. Zur Ästhetik der Satire bei Karl Kraus und Rosa Luxemburg. In: Karl Kraus - Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan. Hrsg, von Stefan Kaszynski und Sigurd Paul Scheichl. München 1989, 55—69. 44 Vgl. Rolf Vollmann: Das Tolle neben dem Schönen. Jean Paul. Ein biographischer Essay. Tübingen 21976, 156: „ein philosophisches und sprachliches Wunderwerk“, dem Vollmann ein besonderes Kapitel widmet: „Sommertag, Sommernacht“ (ebd., 183-199). 45 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 7, 32, Z. 8—12. 46 Für die Buchfassung wurde „nie wieder ein solcher Satz geschrieben werden wird" geändert in: „nie wieder ein solches Wort gesagt sein wird“. - Vgl. die Mutter-Meta¬ pher in der von Karl Kraus wiederholt vorgetragenen Schlußpartie, Jean Pauls Sämt¬ liche Werke, I, Bd. 7, 61: „O mein Geliebter, mußte dann nicht jeder entzückten Seele sein, als falle von der gedrückten Brust die irdische Last, als gebe uns die Erde aus ihrem Mutterarm reif in die Vaterarme des unendlichen Genius - als sei das leichte Leben verweht?“ 47 Ausdrücklich verzeichnet sind „Die Kinder der Zeit“ in den Programmen folgender Vorlesungen: V47 (Wien 17),V60 (Prag 6), V 62 (Wien 22), V64 (Innsbruck 3), V 65 (Budapest 2), V 67 (München 3), V 68 (Mannheim), V 69 (Zürich 1), V 70 (Heidel¬ berg), V 75 (Berlin 6), V 81 (Wien 29), V 87 (Wien 34). - Die Lesung des Textes in dem in der „Fackel“ nicht spezifizierten Programm von V 64 ist zu erschließen aus: Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914 (s. Anm. 21), 354. - Das macht es in hohem Grade wahrscheinlich, daß „Die Kinder der Zeit“ Bestandteil eines Großteils von zehn weiteren Vorlesungen waren, deren Programme inhaltlich gleichfalls nicht spezifiziert sind: V50 (Brünn 4),V52 (Mährisch Ostrau 1),V53 (Czemowitz 2), V 54 (Triest 2), V 55 (Pola), V 56 (Graz 4), V 63 (Salzburg), V 72 (Bielitz 2), V 73 (Mährisch Ostrau 2), V 74 (Brünn 5). Die vermudiche Gesamtzahl der öffentlichen Lesungen dieses Textes wäre so mit rund 20 zu beziffern. 48 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 7, 20. 49 Der zitierte Satz in: Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 7, 63, Z. 30-32.

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit 255 50 Vgl. dazu Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers (s. Anm. 7), 99f. - Eine analoge sati¬ rische Namenskontamination bietet die in der 57. (21. Wiener) Vorlesung vom 19. November 1913 (F 389, 20) gelesene Glosse „Das Organ des Auswärtigen Amtes“, vgl. F 387, 2: Jean Paul Stefan Großmann“. Hier sind sogar drei Namen miteinander verschränkt: 1. Jean Paul; 2. Paul Stefan (Pseudonym für Grünfeld); 3. Stefan Gro߬ mann. 51 Zur Geschichte und zur sprachkriüschen Wertung dieses während der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen auftauchenden Mode-Fremdworts vgl. S. 97 und S. 248 (Anm. 28) dieses Bandes. 52 Vgl. LTdM 1/29 = LTdM, AA 1/12, vgl. S 10, 800 und 803. - Textgrund- und -Vorlage dieser Dialogpartie sind zwei aufeinanderfolgende Aphorismen in F 406, 127f., deren Zusammenhang auch bei der Übernahme in den Aphorismenband „Nachts“ (S 8, 402) gewahrt blieb: „Welcher Weg der deutschen Seele von der Schwärmerei zur Klarheit - von der Jean Paul’schen Entrückung in einer Montgolfiere bis zu dem gelungenen Witz, der eine Bombe aus einem Zeppelin begleitet! - Deutsche Sätze wie die fünf Seiten bei Jean Paul, in denen der Aufstieg einer Montgolfiere beschrie¬ ben wird, können heute nicht mehr Zustandekommen, weil der Gast der Lüfte nicht mehr die Ehrfurcht vor dem näheren Himmel mitbringt und bewahrt, sondern als Einbrecher der Luft die sichere Entfernung von der Erde zu einem gleichzeitigen Attentat auf diese selbst benützt. Der Aufstieg des Luftballs war eine Andacht, der Aufsüeg des Luftschiffs ist eine Gefahr für jene, die ihn nicht mitmachen. Weil die Luft .erobert' ist, wird die Erde bombardiert. Es ist von allen Schanden dieser Erde die größte, daß jene einzige Erfindung, die die Menschheit den Sternen näher bringt, ausschließlich dazu gedient hat, ihre irdische Erbärmlichkeit, als hätte sie unten nicht genügend Spielraum, noch in den Lüften zu entfalten! [...]“ 53 In Frage kommen alle die Vorlesungen, deren Programme Aphorismen aus der ersten Kriegsfolge von „Nachts“ (F 406, 94r-168) verzeichnen: V 83 (Wien 31), V 84 (Wien 32), V 86 (Zürich 2), V 87 (Wien 34), V 89 (Wien 36). 54 Also nach V 24 (Wien 8) und V 25 (Prag 3) dessen dritte Lesung, was Christian Wagenknechts Verzeichnis (s. Anm. 16) nicht registriert. 55 Vgl. Bertolt Brecht: Über Karl Kraus. In: B. B.: Gesammelte Werke in zwanzig Bän¬ den. Bd. 19. Frankfurt/Main 1967, 430. 56 Aus einer Besprechung der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 28. November 1916, mit Bezug auf die Folge „Zitate“ des Novemberhefts 1916 der „Fackel“, F 443, 13-23. 57 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd 14, 79-89; vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 11), 324 (Anm. 16). 58 So zu Beginn der 83. (31. Wiener) Vorlesung vom 30. Oktober 1915, vgl. F 413, 111: „I. Sätze von Jean Paul, Claude Tillier und Alfred Graf von Vigny (mit verbindenden Worten)“. Bei den Sätzen von Jean Paul handelt es sich wahrscheinlich um die in F 418, 45 zitierten aus der „Kriegs-Erklärung“ (Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 14, 82, Z. 28-83, Z. 3), auf die Karl Kraus dann 1921 wieder zurückgriff, vgl. F 561, 78. Als Titel-Fußnote zur „Kriegs-Erklärung“ konnte Kraus bereits den Hinweis finden: „Man halte diese Kriegserklärung nur für einen Nachtrag zur andern in der Levana [...]“ (Jean Pauls Sämdiche Werke, I, Bd. 14, 79). 59 Jean Pauls Sämdiche Werke, I, Bd. 12, 292, Z. 30-297, Z. 16. Auch an diesem Text hat in einer der „Notizen“ vom Januar 1917 (F 445, 105; übernommen als erste der „Lesarten“ in S 7, 150f.) „Karl Kraus als Philologe“ (s. Anm. 26) sich betätigt, indem er einen Emendationsvorschlag zu einem grammatikalisch inkongruenten Satz vor¬ brachte, der in Jean Pauls Sämtlichen Werken, I, Bd. 12, 296, Z. 9-12, noch immer

256

Anmerkungen

lautet: „Und mit welchen Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche, wie soge¬ nannte Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortsprützenden Wasserstral der Fontänen, eben so nur auf emporspringenden Blutströmen in der Flöhe sich erhal¬ ten!“ Vgl. dazu auch Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers (s. Anm. 7), lOlf. 60 Anspielung auf die 1915 entstandene, erst nach Kriegsende veröffentlichte (F 508, 49-52), in der 138 (75. Wiener) Vorlesung vom 23. Februar 1919 zum ersten Mal vor¬ getragene (ebd., 33) „Ballade vom Papagei“, während der Nachkriegsjahre außeror¬ dentlich oft wiederholt, in Städten außerhalb Wiens häufig mit der erläuternden Vor¬ bemerkung: „Beruhtauf der Wiener Anekdote, daß ein Papagei entkommen war, der unaufhörlich die Worte rief ,Der wird noch hundert Jahre alt“, woraus ein hellhöri¬ ger Polizeibeamter sofort erkannte, daß der herrenlose Vogel aus dem Belvedere, dem Schloß des ungeduldigen Thronanwärters Franz Ferdinand, entflogen war“ (F 686, 39; ähnlich F 868, 37). 61

Zu V 95 vgl. Kurt Krolop, Sprachsatire (s. Anm. 11), 167f.; das in V 122 mit dem in F 445, 101 abgedruckten „Kriegslied“ von Matthias Claudius kontrastierte „heutige Kriegslied“ ist den Textproben des Kriegsaufsatzes „Der Krieg im Schulbuch“ (F 426, 56-65; S 5, 160-173) entnommen.

62 Demnach wären insgesamt fünf Vorträge der „Friedenspredigt“ zu verzeichnen (V 93, V 95, V 100, V 116, V 122), nicht nur zwei (V 116, V 122) wie bei Christian Wagenknecht in Kraus-Hefte 35/36 (Oktober 1985), 28. Daß in Vorlesungsprogram¬ men der Jahre 1916 und 1917 die „Friedenspredigt“ noch nicht wie in V 116 und V 122 unter diesem Titel erscheint, sondern sich hinter Ankündigungen wie „Von Kriegen“ (V 93, V 100) oder „über den Krieg“ (V 95) eher verbirgt als anzeigt, dürfte der Rücksicht auf die Zensur zu verdanken sein, ähnlich wie schon 1915 die Bevor¬ zugung des Generaltitels „Dämmerungen für Deutschland“ gegenüber dem Spezial¬ titel „Kriegs-Erklärung gegen den Krieg“, s. oben, S. 113. - Zur Kriegszensur der „Fackel“, für die der „Oberstaatsanwalt in Preßsachen“ Dr. Kurt Hager hauptverant¬ wortlich zeichnete, vgl. John Halliday: Satirist and Censor: Karl Kraus and the Censorship Authorities during the First World War. In: Karl Kraus in neuer Sicht. Lon¬ doner Kraus-Symposium. Hrsg, von Sigurd Paul Scheichl und Edward Timms. München 1986, 174-199. 63 Vgl. Eduard Haueis: Karl Kraus und der Expressionismus. Diss. Erlangen-Nümberg 1968, 121 f.; Werner Kraft: Dasja des Neinsagers (s. Anm. 7), 94—96; Helmut Kreu¬ zer/Richard Döhl: Georg Kulka und Jean Paul. Ein Hinweis auf expressionistische Centonen. In: Dvjs 40 (1966), 567-576. 64 Abgesehen von dem frühen Zitat von 1908 (s. Anm. 12), kam Karl Kraus in dem Auf¬ satz „Von Humor und Lyrik“ (F 577, 41-52) nach der Kulka-Affäre noch einmal kri¬ tisch auf das zurück, was Jean Paul, der gewiß in vielem verehrungswürdige und trotz umfassender Bildung unbeschränkte Geist“ (F 577, 46), in der „Vorschule“ zur Defi¬ nition des Humors gesagt hatte. - Von einer erneuten Lektüre der „Vorschule“ zeu¬ gen - in unmittelbarer Nachbarschaft des Hinweises auf .Auslandschaft (eine Wort¬ bildung Jean Pauls) “ (B I, 588, vgl. unten, Anm. 85) - mehrere Bezüge in den Beiträgen des „FackeT'-Heftes vom Mai 1927 „Zur Sprachlehre“ (F 759, 76-87); so die „mit aller Ehrfurcht vor dem hohen Menschentum“ Schillers nachvollzogene Kritik „des Versifikators solcher Lehrmeinungen, die schon Jean Paul aus dem Bereich des Dichterischen entfernt hat“ (F 759, 76f., vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke. I, Bd. 11, 373-377); die Bestätigung der Krausschen Distinktion zwischen den Relativprono¬ mina „der und welcher“: „Nach der Aufstellung dieses Unterschiedes habe ich [...] seine konsequente Einhaltung bei Jean Paul (Vorschule der Ästhetik) gefunden [...]“

Bewahrer, Zeugen und Rächer der Natur - Richter der Menschheit 257 (F 759, 81); und schließlich die Feststellung, daß „vielleicht Jean Paul der einzige Autor“ gewesen sei, „der davor zurückschrak“: nämlich vor der intransitiven Verwen¬ dung des transitiven Imperfekts „zurückschreckte“ (F 759, 85). 65 Zum zeitgeschichtlichen Kontext dieser Wiederaufnahme vgl. Kurt Krolop: Sprachsadre (s. Anm. 11), 134f. 66 Vgl. dazu die Eindrucksschilderung in der „Zuschrift eines befreundeten Hörers“ vom 21. November 1925, F 707, 98—100; Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 11), 166f. - Allein schon diese Zeugnisse widerlegen den Befund von Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Studien zum „Theater der Dichtung“ und Kulturkonservaüsmus. Kronberg/Taunus 1973, 54: .Abgesehen von der Aufdeckung des Plagiates an Jean Paul, dessen Kraus Georg Kulka beschuldigte [...], spielte dieser [gemeint ist Jean Paul, nicht Kulka oder Kraus, K K] fortan (auch in den Lesungen) keine gewichtige Rolle mehr.“ 67 Vgl. Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen. Gesammelt und hrsg. von Eduard Berend. Berlin-Weimar 1956, 243: „Le soir, on fit la lecture d’un article superbe que Jean Paul avait fait inserer dans un almanac: .Erinnerungen aus den schönsten Stunden für die letzten1; cela toucha beaucoup...“ (Henriette von Ende, Mittwoch, 1. September 1819); ebd. 248f.: „[...] am erinnerlichsten ist mir ein schö¬ ner Aufsatz, ich glaube, er hieß .Erinnerungen von schönen Stunden für die letzten“. Ich habe das Schriftchen seitdem nicht mehr gelesen, aber damals schien es mir aus einem ebenso hohen Geiste wie reinem Herzen hervorgegangen. Ich hätte ihm gern die Hand geküßt, als er fertig war“ (Emilie von Binzer, geb. von Gerschau). 68 Jean Pauls Sämüiche Werke, I, Bd. 17, 245-260. 69 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 11), 134f., 253, 349 (Anm. 7); Christian Wagenknecht in: Kraus-Hefte 35/36 (Oktober 1985), 28; Edward Timms: „Rächer der Natur“: Zur Ästhetik der Satire bei Karl Kraus und Rosa Luxemburg. In: Karl Kraus - Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan. Hrsg, von Ste¬ fan H. Raszynski und Sigurd Paul Scheichl. München 1989, 55—69. 70 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 17, 249. 71 Vgl. F 405, 5: „Freilich wurzelt dann auf dem Anfallskrieg der Abtreibungskrieg fort [...]“ (Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 14, 80). 72 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 17, 253. 73 Ebd., 258. 74 Ebd., 257. 75 Vgl. Christian Wagenknecht: „Heimkehr und Vollendung“. In: Kraus-Hefte 13 (Ja¬ nuar 1980), 10-13; imJean-Paul-Kontext schon der Hinweis auf den „großartigen, in kein Buch eingegangenen Aufsatz .Heimkehr und Vollendung““ in: Werner Kraft: Das Ja des Neinsagers (s. Anm. 7), 93f.; „in kein Buch eingegangen“ ist hier cum grano salis, nämlich im Sinne „in keines der von Kraus selbst zusammengestellten Bücher“ zu verstehen; sehr wohl eingegangen ist er in den 4. Band der von Heinrich Fischer herausgegebenen Werkausgabe, Karl Kraus: Widerschein der Fackel, Glos¬ sen. München 1956, 273f. 76 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 17, 248. 77 Ebd., 247. 78 Vgl. Kurt Schreinert in: Jean Pauls Sämüiche Werke, I, Bd. 17, XLIXf.: „Wie der alte Hartmann ist auch der Vater des Dichters an einem Frühlingsnachmittag heim¬ gegangen [...] Sonntag den 25. April 1779, nachmittags um 1/2 5 Uhr“; Donnerstag, den 5. April 1900, war Jakob Kraus gestorben, der Vater des Satirikers, vgl. Paul Schick: Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1965, 43.

Anmerkungen

258

79 Vgl. F 917, 72, wo die Fragwürdigkeit des Verfahrens, den Nestroyschen Dialog kon¬ sequent „einzuwienem“ an einem Beispiel aus dem 18. Auftritt des 3. Aktes des „Talisman“ demonstriert wird: „Phantastischer aber als das Jean Paulhafte Gemälde vom Erwachen jenes Titus - welches er aus ,einem Glasscherben, der vielleicht einst ein Spiegel war' und worin er einen eisgrauen Kopf als den seinen erkennt, vorspie¬ gelt - wäre die Möglichkeit, ein solches Stück Dichtung, das natürlich die Vision durch Lokalismen unterbricht, ins Kasmaderische zu übersetzen.“ 80 Hingewiesen sei stellvertretend auf die Einarbeitung des Plagiatmotivs (s. Anm. 63) in die dramatische Satire „Literatur oder Man wird doch da sehn“ (1921), wo Franz Werfel als Johann Wolfgang, Sohn“, Georg Kulka als Johann Paul, Cousin“ auftreten, während wiederum die Bezugsfiguren Goethe bzw. Jean Paul im Dialogtext als Werfel bzw. Kulka erscheinen, vgl. S 11, 7-83. — Noch in dem großen „Fackel“-Heft „Warum die Fackel nicht erscheint“ von 1934 wird von einer publizistischen Äuße¬ rung über den Satz „Kein Wort, das traf' (F 888, 4) festgestellt, daß „dessen Gedan¬ ke zutreffend noch durch die Jean Paul’sche Vorstellung ergänzt wird: ,den Frost des Winters mit scharfen Worten zu rügen'“ (F 890, 136). Diese Jean Paul’sche Vorstel¬ lung“ entstammt den in F 405, 5f. zitierten Partien aus der „Kriegs-Erklärung gegen den Krieg“, vgl. Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 14, 79: „Gegen den Krieg schreiben ist allerdings so viel, als im Druck harte Winter scharf zu rügen, oder die Erbsünde. [...] Gleichwohl wäre ein Wort für den Krieg noch heilloser, als eines dagegen fruchtlos ist; [...] “ 81 Vgl. Kurt Krolop, Sprachsatire (s. Anm. 11), 357 (Anm. 80). 82 Heinrich Fischer: Ungeschminkt. Ein Vortrag über Theater. Wien 1931, vgl. KKB, 397 (K 1799): bibliographisch verzeichnet auch in F 876, 94. 83 Jean Pauls Sämtliche Werke, I, Bd. 11, 344; F 876, 57; von Fischer leicht redigiert, an einer Stelle auch unter Eingriff in den Wort- und Lautbestand: „stellet ihm doch ein eigenes entgegen“. 84 Wortspiel mit der damals noch gebräuchlichen Schreibweise (und wohl auch einer am lateinischen Grundwort „fasces“ orientierten Lautung) des Wortes „Faszismus“, mit Sekundäranklang an das österreichische .faschiert“ (durch den Fleischwolf gedreht). 85 B I, 588, Brief vom 3./4. April 1927. - In Zusammenhang mit der satirischen Wie¬ deraufnahme

des

Maximilian-Harden-Themas

in

F 557,

58-62

(„Weihnachts¬

geschenke“) sowie F 561, 14—28 („Erlösergeburttage“) steht die Auskunft im Brief vom 15./16. März 1921 an die Freundin: „DaßJean Paul das ,s‘, zeitweise, entließ, ist bekannt. Eine seiner vielen Ungenießbarkeiten. Das hat jenes Gräuel [= Maximilian Harden, K K] ihm abgeguckt, sonst nichts, oder vielmehr auch die Schwelgerei in Bildung, die natürlich hier [bei Harden, K. K] eine viel äußerlichere ist, wiewohl J. P. auch mit einem großen Zettelkasten begabt war“ (B I, 496). Mit dem Stichwort „Ungenießbarkeiten“ sind Einwände berührt, die Kraus bereits in seiner Notiz zur „Friedenspredigt“ (s. Anm. 59) benannt und 1921 in die Feststellung eingebracht hat, daß er „gegen Goethe Jean Paul schützen würde, den er in einem betrüblich leeren Augenblick einen Philister genannt hat. Denselben Jean Paul, den ich als eine der verehrungswürdigsten Gestalten der deutschen Welt empfinde und an dem ich mich doch mit dem Widerspruch versündige, daß ich die meisten seiner Sätze für so abgründig miserabel halte wie die übrigen für erhaben“ (F 583, 19).

Prager Autoren im Lichte der „Fackel

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Prager Autoren im Lichte, der „Fackel“ (Seite 119-140) Veröffentlicht in: Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Hrsg, von der Öster¬ reichischen Franz Kafka-Gesellschaft Wien-Klosterneuburg. Wien 1989 (Schriftenreihe der Franz Kafka-Gesellschaft 3), 92-117. Vortrag auf dem von der Österreichischen Franz Kafka-Gesellschaft veranstalteten wis¬ senschaftlichen Kolloquium zum Thema „Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kaf¬ kas“. 1 Auf das Epigramm „Prager Klassiker“, dem die Verse des Mottos entnommen sind, folgt ein weiteres unter der Überschrift „Berichdgung“; zum Anspielungscharakter beider Epigramme vgl. Seite 272 (Anm. 17) dieses Bandes. 2 Vgl. dazu Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: Deutsche Vier¬ teljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Sonderheft 1971, 282. 3 Vgl. Goethe-Handbuch. Goethe, seine Welt und Zeit in Werk und Wirkung. 2., voll¬ kommen neugestaltete Aufl. unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Alfred Zastrau. Stuttgart 1961, Sp. 1301: „Goethe verbrachte während 17 Aufenthal¬ ten in den Bädern Böhmens insgesamt drei Jahre und elf Tage in diesem Lande.“ 4 Vgl. F 400, 90-95: „Sehnsucht nach aristokratischem Umgang.“ 5 Karl Kraus. In: Prager Presse Nr. 147/V (29. Mai 1925), Morgen-Ausgabe, 4; Anlaß der Besprechung war die 343. (25. Prager) Vorlesung vom 27. Mai 1925 im „Mozar¬ teum“. 6 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Ber¬ lin 21992, 60. 7 Vgl. F 2, 16: „Herr Bacher als der biedere Sprachenverordnungspolitiker, wie er aus den Leitartikeln bekannt ist: mit einer Lebensanschauung, die etwa von Saaz bis Trautenau reicht, ,ein gelernter Deutschböhm', wie ihn einmal Graf Taaffe genannt hat [...]“ 8 „Der Schlachtbankier“ als mehrfach wiederkehrender, auf Moriz Benedikt bezoge¬ ner Glossentitel (F 474, 65f.; F 484, 155) personalisiert einen Einfall aus der Apho¬ rismenreihe „Nachts“ in F 445, 3: „Sollte .Schlachtbank' nicht vielmehr von der Ver¬ bindung der Schlacht und der Bank herkommen?“ 9 Siehe Anm. 1. 10 Zu der über seinen polemischen Anlaß hinausweisenden satirischen Perspektive die¬ ses Werks vgl. Rüzena Grebenickovä: Karl Kraus’ magische Operette „Literatur oder Man wird doch da sehn“. Aus dem Tschechischen übersetzt von Kurt Krolop. In: alternative, Heft 81 (Dezember 1971), 225-233. 11 Vgl. den Brief Franz Kafkas an Max Brod (Matliary, Juni 1921). In: F. K.: Briefe 1902-1924. New York 1958, 336f. 12 Vgl. Kurt Krolop: Ein Manifest der „Prager Schule“. In: Philologica Pragensia 4/VII (1964), 329-336. 13 Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, 9. 14 Ebd.,91. 15 Daniel Spitzer: Gesammelte Schriften. Hrsg, von Max Kalbeck und Otto Erich Deutsch. 2. Bd.: Wiener Spaziergänge II. München-Leipzig 1912, 145f. 16 Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 336. 17 Vgl. schon F 292, 14.

260

Anmerkungen

18 Vgl. dazu Kurt Krolop: Ludwig Winder (1889-1946). Sein Leben und sein erzähle¬ risches Frühwerk. Ein Beitrag zur Geschichte der Prager deutschen Literatur. Phil. Diss. Halle/Saale 1967, 29fL, 275ff. 19 Vgl. dazu ebd., 295f., sowie Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Pra¬ ger deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Kon¬ ferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, 83. 20 Bei der Überarbeitung des Passus für sein zweites Aphorismen-Buch hat Karl Kraus die Attribuierung „also in Prag“ weggelassen, vgl.: Pro domo et mundo. München 1912, 53; in Literatur und Lüge, Wien-Leipzig 1929, 53, heißt es dagegen wieder: „also etwa in Prag“. 21 Vgl. dazu Martina Bilke: Zeitgenossen der „Fackel“. Wien-München 1981, 20. 22 Zeitschrift für deutsche Philologie 3/C (1981), 384f. 23 Vgl. Seite 48ff. dieses Bandes. 24 „Ein Tscheche“ wird bereits im August 1899 unter den Einsendern von Zuschriften an den Herausgeber registriert (F 14, 24). - Im Besitz des Verfassers befindet sich ein „12. 4. 1900“ datiertes Antwortschreiben des Herausgebers der Jäckel“ an den tsche¬ chischen Publizisten Bedrich Hlaväc, der bereits jener im Dezember 1899 apostro¬ phierte „Leser in Prag“ (F 25, 30f.) gewesen sein könnte, der Informationen „über die Beziehungen zwischen Theater und Journalistik“ (F 25, 30) in Prag geliefert hatte, vor allem über die ,Ausfütterung der Pressleute“ (F 25, 31) im Hause des Theaterdirektors Angelo Neumann: „Sehr geehrter Herr, unmöglich; - die Umarbeitung Ihres AngeloNeumann-Artikels hätte zu viel Zeit, der Artikel zu viel Raum in Anspruch genommen. Neumann soll ja definitiv abgethan sein: Umso besser macht sich dann in der nächsten Nr. die Enthüllung, daß er in Wahrheit hinter dem Ganzen steht. Mit bestem Dank Ihr ergebener K K“ Zu den Themen des eingesandten, aber nicht veröffentlichten Artikels dürften mit Sicherheit lancierte Pressemeldungen über eine bevorstehende Berufung Neumanns nach Wien gehört haben, vgl. F 44, 27: „Wir hätten den Herrn bekanndich nach Wien bekommen sollen.“ Zu Bedrich Hlaväc vgl. Robert Musil: Briefe nach Prag. Hrsg, von Barbara Köpplovä und Kurt Krolop. Reinbek 1971, 90 (Anm. 13). 25 Vgl. Egon Erwin Kisch: Karl Kraus. In: E. E. K: Gesammelte Werke in Einzelaus¬ gaben. Bd. 10. Berlin-Weimar 1985, 70f. 26 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 6), 321f. 27 Berlin: Ernst Hofmann & Co. 1905. 125 S. 28 Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge zu einem systematischen Ausbau des Naturalismus. Berlin: Ernst Hofmann & Co. 1907,21908. 29 Max Steiner: Die Welt der Aufklärung. Nachgelassene Schriften. Hrsg, und eingelei¬ tet von Kurt Hiller. Berlin: Emst Hofmann & Co. 1912. 196 S. 30 Vgl. ebd., 9, und Hartmut Binder in: Kafka-Handbuch. Bd. 1. Stuttgart 1979, 241. 31 Vgl. ebd., 26, und Hartmut Binder (s. Anm. 30), 241. 32 Vgl. F 256, 21: „Nervenärzten, die uns das Genie verpathologisieren, sollte man mit dessen gesammelten Werken die Schädeldecke einschlagen.“ Gegen einen Nerven¬ arzt dieses Schlages, den Münchner Psychiater Dr. Ferdinand Probst, und dessen im Herbst 1904 erschienene Broschüre „Der Fall Otto Weininger“ ist Max Steiners erste Zuschrift gerichtet, die Karl Kraus im Februar 1905 in der Rubrik .Antworten des Herausgebers“ unter der Spitzmarke „Philosoph“ (F 176, 22-24) abdruckte: eine Anerkennung der Qualifikation des Einsenders, noch bevor dessen erstes philoso¬ phisches Buch erschienen war. 33 F 179, 13-15, gezeichnet mit den Initialen „M. S.“ und eingeleitet mit der Vor¬ bemerkung des Herausgebers: ,An das Auftreten der schwedischen Masseuse

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europäischer Seelenverfettung knüpft die folgende Zuschrift an:“ (ebd., 13). Auf der 3. Umschlagseite der nächsten Nummer (F 180) sowie im Inhaltsverzeichnis ist sie unter dem Titel „Seelenvollheit“ als einer der Hauptbeiträge ausgewiesen. Bezugs¬ punkt der Zuschrift war die satirische Polemik über Ellen Key (F 178, 1-4), gerichtet gegen deren Wiener Auftreten und Stefan Großmanns Berichterstattung darüber in der ,Arbeiter-Zeitung“. 34 Vgl. Max Steiner: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 29), 156-162; F 343; 33f.; F 384, 19-24; die ausdrückliche Quellenangabe schon in F 343, 34: „man findet dieses und andere Zitate, durch die sich der liberale Glaube nicht beirren läßt, in Max Steiners ,Welt der Aufklärung1.“ 35 Aus Schopenhauers Brief an Julius Frauenstädt vom 2. März 1849. In: Schopenhauer’s Briefe. Hrsg, von Eduard Grisebach. Leipzig 21898, 155f., zitiert in F 343, 34; F 384, 23, nach Max Steiner: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 29), 159. 36 Kurt Hiller: Die Weisheit der Langenweile. Eine Zeit- und Streitschrift. Bd. 1. Leipzig 1913, 175. 37 Vgl. Karel Capek: Karl Kraus jako ucitel (Karl Kraus als Lehrmeister). In: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Wien 1934, 21f. 38 LTnter den zahlreichen Belegen dafür sei ein Beispiel herausgegriffen, in dem das Echo der .Fackel“ zugleich „wörtlich“ und „sprachlich“ vernehmbar wird: „Echte Kultur läßt das Kreuz ruhig neben dem Blitzableiter stehen. Echte Kultur vermag Symbole zu trennen. Sie erschöpft sich nicht in mechanischen Instrumenten und baut aus Quadratwurzeln keine Religion. Sie wird einst den Tag herbeiführen, da man .Monismus' mit .Einseitigkeit' übersetzen wird” (Max Steiner: Die Welt der Auf¬ klärung [s. Anm. 29], 83). Angeregt war diese wortspielhafte Übersetzung unver¬ kennbar durch ein analoges Wortspiel von Karl Kraus, das bezeichnenderweise zuerst in „Ellen Key“ (F 178, 1) zu finden ist, 1908 im „Prozeß Veith“ (F 263, 12) noch ein¬ mal aufgenommen wurde, bis es 1909 seine verselbständigte aphoristische Ausprä¬ gung erfuhr, vgl. Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche. München 1909, 229: „Wir leben in einer Gesellschaft, die .Monogamie' mit .Einheirat' übersetzt.“ 39 Max Steiner: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 29), 196. 40 Vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte (s. Anm. 19), 76. 41 Vgl. Herder-Blätter Nr. 3/1 (Mai 1912), 26; Max Mell: Das bekränzte Jahr. Gedichte. Berlin o.J. [1911], 47. 42 Vgl. F 293, 9. 43 Vgl. F 372, 31, und Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte (s. Anm. 19), 79. 44 Vgl. Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Frankfürt/Main 1967, 325. 45 Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 254; zur Korrektur der Fehldatierung dieses Briefes vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte (s. Anm. 19), 83; ders.: Ludwig Winder (s. Anm. 18), 299. 46 F 56, 3; zum Prager Kontext dieses Fachjargonausdrucks vgl. auch F 91, 25; Egon Erwin Kisch: Briefe an den Bruder Paul und an die Mutter 1905-1936. Hrsg, von Josef Poläcek unter Mitarbeit von Fritz Hofmann. Berlin-Weimar 1978, 90 (Brief an die Mutter, 31. August 1914). 47 Ezechiel der Zugereiste. Roman von Fritz Wittels. 1.-3. Aufl. Berlin 1910. Die Umschlagzeichnung von M. Friedmann ist unverkennbar als Karl-Kraus-Karikatur intendiert, deren Violett auf die „brüllend violetten Plakate“ (ebd., 49) anspielt, mit der eine Zeitschrift, die in diesem Schlüsselroman „Das Riesenmaul“ heißt, „ganz Wien mit violettem Schimmer übergoß“ (ebd., 107).

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Anmerkungen

48 Vgl. ebd., 49: .„Das Riesenmaul' hieß diese Zeitschrift, und ihr Herausgeber hieß Benjamin Eckelhaft mit ck.“ 49 Vgl. ebd., 126ff. 50 Auf die „besondere Bedeutung“ dieses Freundes für Karl Kraus verwies zuerst mit Nachdruck Paul Schick: Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rein¬ bek 1965, 54 und 56f. 51 Vgl. Bohemia Nr. 33/LXXXIII (3. Dezember 1910), lf. 52 Gemeint ist der im Mai 1899 verhandelte Prozeß Kraus contra Oskar Friedmann, in dem auch die späteren „Bohemia'-Redakteure Willi Handl und Felix Adler zu Arrestbzw. Geldstrafen verurteilt wurden, vgl. dazu die Dokumentation in: Noch mehr. Herausgeber Kurt Faecher. Wien (Juni 1984), 1-8. 53 Vgl. Franz Kafka: Briefe an Felice (s. Anm. 44), 295 (Otto Pick an Franz Kafka, 10. Februar 1913). 54 Vgl. Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hrsg, von Max Brod. Taschenbuchausgabe in sieben Bänden. Bd. 7: Tagebücher 1910—1923. Frankfurt/Main 1976, 121 (19. November 1911). 55 Verzeichnet in: Dieter Schlenstedt: Egon Erwin Kisch. Leben und Werk. Berlin 1985, 428f.; darüber hinaus Josef Poläcek: Egon Erwin Kisch über Karl Kraus. In: Germanistica PragensiaV (1968), 61-83. 56 Vgl. Dieter Schlenstedt: Egon Erwin Kisch (s. Anm. 55), 61-63. 57 Josef Poläcek/Fritz Hofmann: Nachwort. In: Egon Erwin Kisch: Briefe an den Bruder (s. Anm. 46), 395. 58 Egon Erwin Kisch: Vorlesung Karl Kraus. In: E. E. K.: Gesammelte Werke in Einzel¬ ausgaben. Bd. 8. Berlin-Weimar 1983, 67; vgl. auch den gekürzten Abdruck dieser Vortragskritik in F 313, 60, der gerade diese Wendung als Zitat für sich wirken läßt. 59 Egon Erwin Kisch: Briefe an den Bruder (s. Anm. 46), 44; vgl. dazu auch Dieter Schlenstedt (s. Anm. 55), 63f. 60 Vgl. F 357, 71f.: „Das Blattgefühl“; ferner F 363, 7; F 366, 36; F 374, 26; F 393, 3: „das sogenannte ,Blattgefühl‘ - die lausigste Eigenschaft, die sich je mit Stolz zu sich selbst bekannt hat“. - „Blattgefühl“, ab 1912 als vernichtendes Zitat affirmativer journa¬ listischer Selbstcharakteristik dem medienkritischen Vokabular der „Fackel“ einver¬ leibt, wird 1918 von Egon Erwin Kisch als kritischer Leitbegriff übernommen, vgl. Egon Erwin Kisch: Dogma von der Unfehlbarkeit der Presse. In: E. E. K.: Gesammelte Werke. Bd. 8 (s. Anm. 58), 208-216, vor allem 213-216. 61 Zu August Strobel, seit 1899 Redakteur der „Bohemia“, vgl. Kurt Krolop: Ludwig Winder (s. Anm. 18), 48 und 289. Von ihm stammt die „a. st.“ gezeichnete, in F 368, 25 abgedruckte Besprechung der 36. (4. Prager) Vorlesung vom 6. Januar 1913. 62 Egon Erwin Kisch: Herr Karl Kraus, ln: E. E. K.: Gesammelte Werke. Bd. 8 (s. Anm. 58), 156. 63 F 313, 61: aus Strobls Besprechung der 10. (1. Brunner) Vorlesung vom 14. Dezem¬ ber 1910, einer Wiederholung des Programms der 1. Prager Vorlesung vom 12. Dezember 1910; vgl. das analoge Urteil von Paul Kisch in: Egon Erwin Kisch: Brie¬ fe an den Bruder (s. Anm. 46), 430 (Paul Kisch an Egon Erwin Kisch, 4. Januar 1911): „Mit Karl Kraus hast Du entschieden unrecht. Sein Verdienst liegt nicht in der Form, nicht im Sachlichen, wenn auch hier seine Sexualethik nicht ohne Tiefe ist. Aber man denke, daß die NFP in der Neujahrsnummer sogar den Aristophanes vermauschelt- und man wird seine Notwendigkeit in Wien begreifen.“ 64 Vgl. Egon Erwin Kisch: Ein Prager Roman, ln: E. E. K: Gesammelte Werke. Bd. 8 (s. Anm. 58), 127-131 (März 1914); F 398, 23f.: „Da sehen wir denn einen, der in bur-

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schikoser Haltung dasitzt, mitten im Grünen, und darunter ist zu lesen: , K a r 1 Hans Strobl, beinahe mit .Weinlaub im Haar“. Aber er stirbt nicht in Schön¬ heit, sondern lebt in Brünn“ (April 1914). 65 Vgl. F 315, 50; zur weiteren Entwicklung vgl. Eduard Haueis: Karl Kraus und der Expressionismus. Phil. Diss. Erlangen-Nürnberg 1968, 28ff. 66 Vgl. Max Brods Briefe an Hugo und Olga Salus aus den Jahren 1904-1909 in: Max Brod. Von Werner Kayser und Horst Gronemeyer unter Mitarbeit von Lando Formanek. Eingeleitet von Willy Haas und Jörg Mager. Hamburg 1972, 21-27. 67 Max Brod an Karl Kraus. 19. November 1907, zitiert in: Martina Bilke: Zeitgenossen der „Fackel“. Wien-München 1981, 205. 68 Max Brod: Ausgewählte Romane und Novellen. 2. Bd.: Schloß Nornepygge. Der Roman des Indifferenten. Leipzig-Wien 1918, 497. 69 Vgl. Anm. 19. 70 Vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte (s. Anm. 19), 57 und 79. 71 Die Besprechung von Friedrich Austerlitz dokumentierte Karl Kraus ausdrücklich als einziges Zeugnis gegen „die ganze stumme Preßrache Wiens“ (F 303, 38). 72 Vgl. Martina Bilke: Zeitgenossen (s. Anm. 67), 168. 73 Vgl. F 319, 65. Die hier abgedruckte Übersetzung der Kritik Saidas stammt von Franz Janowitz, vgl. Christine Ulmer: FranzJanowitz. Diss. Innsbruck 1970, 305f.: „Sehr ver¬ ehrter Herr Kraus, verzeihen Sie, daß ich die versprochene Übersetzung so spät schicke. Novina ist eine sehr achtbare Halbmonatsschrift. Zu dieser Kritik gratuliere ich. Mit Ausnahme H. Bahrs, der wahrlich aus anderen Gründen von den Tschechen begeistert aufgenommen wird, wurde wohl über keine Vorlesung eines deutschen Autors von einem tschechischen Blatt so geschrieben“ (Franz Janowitz an Karl Kraus, 28. März 1911). 74 Vgl. Max Brod: Streitbares Leben. Autobiographie. München 1963, 61. 75 F 363, 24—28. Unter der Überschrift „Gegen die Jugend“ war dieser Schlußabschnitt schon im Programm der 71. (24. Wiener) Vorlesung vom 11. März 1914 angekündigt und vorgetragen worden (vgl. F 395, 36). Konkreter Ausgangs- und Bezugspunkt die¬ ser Polemik „Gegen die Jugend“ waren vor allem die Beiträge Robert Müllers für die Zeitschrift „Der Ruf“, vgl. Giselher Sorge: Die literarischen Zeitschriften des Expres¬ sionismus in Wien. Phil. Diss. Wien 1968, 43-63. - Die Absage an die „Generation“ der um 1890 Geborenen wird aus dem ursprünglichen Wiener Kontext nun auch auf Prag übertragen: „Es ist gespenstisch, wie die Realität meiner Satire folgt. Schatten werfen Körper. Und jetzt erfüllt schon die Jugend, was ich der Presse andichte! So sieht die Generation aus, die den Vätern antwortet. Sie liefert dem Schab das philo¬ sophische Fundament. Verzweifelnd blickt man sich nach einer andern Jugend um: denn die hier ist brauchbar!“ (F 363, 26). 76 Vgl. Hartmut Binder: Jan Gerke. Soziogramm eines Prager Musensohns. Aus Johan¬ nes Urzidils Schülertagen. In: Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Hrsg, von der Österreichischen Franz Kafka-Gesellschaft Wien-Klosterneuburg (Schriftenreihe der Franz Kafka-Gesellschaft 3). Wien 1989, 1-36. 77 Vgl. Franz Kafka: Gesammelte Werke. Bd. 7 (s. Anm. 54), 23: „Wenn die Franzosen ihrem Wesen nach Deutsche wären, wie würden sie erst dann von den Deutschen bewundert sein“ (17. Dezember 1910). Dieser Gedanke bewegt sich durchaus im Pro¬ blemkreis der Eröffnungspartien des soeben erschienenen Essays, vgl. z. B. F 329, 6. 78 Vgl. Anm. 70. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß diese Gemeinsamkeit vor¬ tragsstrategisch nirgendwo sinnfälliger demonstriert und publizistisch verständnis¬ voller gewürdigt wurde als gerade in Prag, wo sowohl im März 1911 als auch im März

264

Anmerkungen

1913 Kraus und Loos nicht nur unmittelbar nacheinander, sondern auch mit unver¬ kennbarem Bezug aufeinander auftraten: am 15. März 1911 Kraus, am 17. März 1911 Loos; am 3. März 1913 Loos, am 4. März 1913 Kraus. Dies u. a. zur Ergänzung der Wir¬ kungsgeschichte von „Ornament und Verbrechen“ in der Arbeit von Burkhardt Rukschscio: Ornament und Mythos. In: Ornament und Askese. Im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende. Wien 1985, 57-68. 79 Von der 11. (3. Wiener) Vorlesung vom 1. Februar 1911 bis zur 77. (25. Wiener) Vor¬ lesung vom 22. April 1914 hat Karl Kraus diese Satire insgesamt mindestens an 23 Abenden gelesen. 80 Diese im Februar 1909 zuerst in der „Fackel“ veröffentlichte, im März 1910 von Her¬ warth Waiden in die Zeitschrift „Der Sturm“ übernommene Satire war Programmbe¬ standteil von mindestens 50 der insgesamt 700 „Vorlesungen Karl Kraus“. 81 Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 334. 82 Ebd.,336. 83 Vgl. ebd., 380. 84 Beide Hefte enthalten spezifisch Prager Personalien und Realien: das Märzheft eine Auseinandersetzung mit Ludwig Winder (F 588, 59-63), das Juliheft die gegen Wer¬ fel gerichtete satirische Polemik „Er ließ etwas streichen“ (F 595, 41-48). 85 Vgl. Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 302 (Brief an Max Brod, Anfang Februar

1921);

vgl.

auch

Franz

Kafka:

Briefe

an

Ottla

und

die

Familie.

Frankfurt/Main 1974, 108 (Brief an Otüa, ca. 10. Februar 1921). 86 Vgl. Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 445, 458. - Zu wechselseitigen Affi¬ nitäten der Satiriker Karl Kraus und Frigyes Karinthy vgl. Jänos Szabö: Karl Kraus und Frigyes Karinthy. Parallelen und Ähnlichkeiten. In: Literatur und Literaturgeschichte in Österreich. Hrsg, von Ilona T. Erdelyi. (Sondernummer der Zeitschrift Helicon.) Budapest 1979, 153-163; ders.: Karl Kraus es Karinthy Frigyes. Szäzadunk elsö hermadänak ket szatirikusa. Budapest 1982, vor allem 31—33. — Zur notwendigen Rückdatierung der Kafkaschen Briefe mit Swift-Bezügen vgl. Hartmut Binder: Kafka-Handbuch (s. Anm. 30), 555. Bereits im Juli 1920 war in der Jäckel“ von Swift die Rede gewesen, und zwar im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Georg Kulka und Albert Ehrenstein (F 546, 55-67), dessen polemisches „Krausbuch“ Kafka bei seinem Lob der Prager Vorlesung Ehrensteins vom 8. November 1920 ausdrücklich ausklammert, vgl. Franz Kafka: Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe von Jürgen Born und Michael Müller. 9.-18. Tausend, Frankfurt/Main 1986, 289 und 352. 87 Zur Opposition „Sprache des Autors“/„angewandte Sprache“ vgl. F 572, 48. 88 Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 336. 89 Ebd., 446 (Kafka an Max Brod, 14. September 1923). — Die Vertrautheit mit diesem von Karl Kraus als saürisches Leitmoüv verwendeten Moriz-Benedikt-Zitat weist Kafka nicht nur als gründlichen Kenner der „Letzten Tage der Menschheit“ aus, wo es zum Phrasenrepertoire des „alten Biach“ gehört und sein letztes Wort ist (vgl. LTdM 1/10; 1/11; IV/26; V/9), sondern auch als nicht minder aufmerksamen Leser der Jäckel“,

in der es nach seiner ersten Einführung (F 406, 122) bald als Sprachgeste so zitierbar gemacht wurde, daß sie zur Glossenmarke werden konnte: „Es rieselt im Gemäuer“ (F 484, 21 lf.). Auch im letzten Heft der Jäckel“ vor dem Datum des Kafkaschen Briefes wird das „Rieseln im Gemäuer“ (F 622, 19) als Benediktsches Leitmotiv nochmals beschworen. 90 Anton Kuh:Juden und Deutsche. Ein Resume. Berlin 1921, 39. 91 Vgl. Egon Erwin Kisch: Die Abenteuer in Prag. In: E. E. K.: Gesammelte Werke in Ein¬ zelausgaben, Bd. II/1. Berlin 1968, 460: „Was der alte Schmock aber druckte, war

Prager Autoren im Lichte der „Fackel

265

eine ihm vom Schauspieler Emst Deutsch diktierte Szene...“ Demnach wäre der vor¬ letzte Satz der Glosse „Die mit dem Tod intim sind“ amphibolisch zu verstehen: „Das ist Deutsch!“ (F 384, 41). 92 Franz Kafka: Briefe 1902-1924 (s. Anm. 11), 270 (Kafka an Max Brod, Meran, 10. April 1920), vgl. dazu Kurt Krolop: Zu den Erinnerungen Anna Lichtenstems an Franz Kafka. In: Germanistica Pragensia V (1968), 45. 93 Kafka selbst sprach von seinem „kleinen Einleitungsvortrag über Jargon“, vgl. Franz Kafka: Gesammelte Werke. Bd. 7 (s. Anm. 54), 182; der von Max Brod geprägte Titel „Rede über die jiddische Sprache“ entspricht nicht dem Sprachgebrauch des Kafkaschen Vortrags selbst, in dem stets nur von Jargon“ die Rede ist, nicht von .jiddi¬ scher Sprache“, vgl. Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hrsg, von Max Brod. Taschenbuchausgabe in sieben Bänden. Bd. 6: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt/Main 1976, 306-309. - Max Brods Besprechung eines Prager Nachkriegsgastspiels von Heinrich Eisenbach, auf¬ genommen 1923 in den Band „Sternenhimmel“, enthält eine bemerkenswerte Stelle, die der Autor in der Neuausgabe von 1966 weggelassen hat, vgl. Gastspiel Eisenbach. In: Sternenhimmel. Musik-und Theatererlebnisse. Prag-München 1923, 218: „Ein¬ wände, die ich im Innersten meines Herzens gegen Orpheumstücke habe, sind [...] eigentlich nichts anderes als - Herzensvorbehalte gegen Palästina, d.h. gegen die Ausschließlichkeit der Palästinarettung des Juden. So verloren und würde¬ los, wie Eisenbach den Europajuden zeigt, erscheint er mir denn doch nicht! “ - Vgl. dagegen Alfred Polgars bemerkenswerten Nachruf: Heinrich Eisenbach. In: Ja und Nein. Schriften des Kritikers. Bd. III: Noch allerlei Theater. Berlin 1926, 213—215. 94 Bezugstext ist Ferdinand Kürnberger: Die Blumen des Zeitungsstils. In: F. K.: Gesam¬ melte Werke. Hrsg, von O. E. Deutsch, 2. Bd.: Literarische Herzenssachen. Mün¬ chen-Leipzig 1911, 8-17.

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner (Seite 141-158) Veröffentlicht in: Berlin und der Prager Kreis. Hrsg, von Margarita Pazi und Hans Dieter Zimmermann. Würzburg 1991, 81-100. Referat auf dem wissenschaftlichen Kolloquium „Berlin und der Prager Kreis“, abgehal¬ ten im November 1988 im Rahmen der von der Europäischen Gemeinschaft initiierten Veranstaltungen „Berlin - Kulturstadt Europas 1988“, organisiert vom Institut für deut¬ sche Philologie, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin und dem Literarischen Colloquium Berlin. 1 Vgl. z. B.: Ellen Key und Friedrich Nietzsche (F 227, 22): ,Am Ende wird überhaupt nur mehr das Paralytikerbekenntnis übrigbleiben: Goethe und Goethe ..." 2 Vgl. Kurt Krolop: Das „Prager Erbe“ und „das Österreichische“. In: Zeitschrift für Germanistik 2/IV (Mai 1983), 176f. 3 Alfred Mademo: Die deutschösterreichische Dichtung der Gegenwart. Leipzig 1920,

210. 4 Ebd., 36f. 5 Ebd., 38. 6 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit. [Logos] Reinbek 1969, 64f. 7 Ebd., 65.

266

Anmerkungen

8 Kurt Hiller: Max Steiner. In: Max Steiner: Die Welt der Aufklärung. Nachgelassene Schriften. Hrsg, und eingeleitet von Kurt Hiller. Berlin 1912 [erschienen Ende 1911], 5-44. 9 Vgl. F. B. [d. i. Franz Bacher]: Die Klasse Beda Wysoky. Erinnerungen an die Piaristen-Schule. In: Deutsche Zeitung Bohemia, Nr. 116/CV (15. Mai 1932), 14. 10 Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, 35. 11 Vgl. Ludo Abicht: Paul Adler, ein Dichter aus Prag. Wiesbaden-Frankfurt/Main 1972. 12 Vgl. Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene litera¬ rische Landschaft. Wien-Hamburg 1987, 187f. 13 Vgl. Karl Hobi: Hermann Grab. Leben ur.d Werk. Phil. Diss. Freiburg i. d. Schweiz 1969, 16 und 142. 14 Zu analogen Phasen des Sympathisierens mit der Sozialdemokratie und dem Haeckelschen Monismus beim jungen Kafka vgl. zusammenfassend Hartmut Binder in: Kafka-Handbuch. Bd. 1. Stuttgart 1979, 241; zur Priorität und Dominanz des Scho¬ penhauer-Erlebnisses vgl. Max Brod: Streitbares Leben. Autobiographie. München 1965, 145f. 15 Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 9. 16 Vgl. dazu Gotthart Wunberg: Österreichische Literatur und allgemeiner zeitgenössi¬ scher Monismus um die Jahrhundertwende. In: Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne. Hrsg, von Peter Berner, Emil Brix und Wolfgang Manü. Wien 1986, 104-111. 17 Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 9. 18 Vgl. dazu etwa Otto Weininger: Wissenschaft und Kultur. In: Über die letzten Dinge. Mit einem biographischen Vorwort von Dr. Moriz Rappaport. Wien-Leipzig °1920, 160: „Machen: das ist das Wort für den heutigen Fabrikbetrieb des Erkennens, in welchem die Vorsteher der großen Laboratorien und Seminare die Funktionen kapitalistischer Industriebarone vortrefflich ausfüllen.“ 19 Max Steiner: Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge zu einem systema¬ tischen Ausbau des Naturalismus. Berlin 21908: „Unsere experimentierenden Bureaukraten stellen in ihren Hörsälen die Welt auf den Kopf.“ Ders.: Die Welt der Aufklärung

(s. Anm. 8), 60: „Die moderne Naturwissenschaft ist eine experimentierende Büro¬ kratie.“ 20 Max Steiner: Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums. Eine kritische Untersuchung. Berlin 1905, 20. 21 Vgl. Die Schriften des Neuen Clubs. Hrsg, von Richard Sheppard. 2. Bde. Hildesheim 1980-1983; Peter Gust: Studenten in der künstlerischen Avantgarde. Der „Neue Club“ und die Freie Wissenschaftliche Vereinigung an der Berliner Universität. In: Berliner Studenten und deutsche Literatur (1810-1933/1945). Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe, Heft 7/XXXVI (1987), 607-615. 22 Vgl. Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 54 und 62. 23 Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 16. 24 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 57. 25 Vgl. dazu Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Lite¬ ratur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Konferenz über die Pra¬ ger deutsche Literatur. Prag 1967, 48 und 73. 26 F.W.V.er Taschenbuch, hrsg. von der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung an der Universität Berlin. Berlin o. J. (Dezember 1908), 93-106.

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

267

27 Vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte (s. Anm. 25), 50 und 74; ders.: Lud¬ wig Winder (1889-1946). Sein Leben und sein erzählerisches Frühwerk. Ein Beitrag zur Geschichte der Prager deutschen Literatur. Phil. Diss. Halle/Saale 1967, 32 und 277. 28 Vgl. F.W.V.er Taschenbuch (s. Anm. 26), 94: „18. Juli [1881]... Mit Stimmenmehrheit wird der Beschluß gefaßt, in corpore dem deutsch-österreichischen Schulverein bei¬ zutreten (gegründet am 23. Juni 1881). Erste Sympathiekundgebung für die deut¬ schen Kommilitonen Prags.“ 29 Ebd., 106. 30 Vgl. Theodor Mommsen: An die Deutschen in Österreich. In: Neue Freie Presse, Nr. 11923 (31. Oktober 1897), 1; dazu Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Öster¬ reich 1867-1918. Wien 1949, 295. Mommsens Enunziation enthielt die berühmt¬ berüchtigte Aufforderung: „Seid hart! Vernunft nimmt der Schädel der Tschechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich.“ 31

F.W.V.er Taschenbuch (s. Anm. 26), 113.

32 Max Brod: Der Prager Kreis (s. Anm. 10), 35. 33 Vgl. Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 21; Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 62 („Curt C.“). 34 Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 64f. 35 Zur erstmaligen Attribuierung vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992, 322. 36 Vgl. Kurt Hiller: Max Steiner. In: Die Neue Rundschau, Heft 2/XXIII (Februar 1912), 300: „Steiner, welcher wie ein Einsiedler lebte, war heimlicher König einer nicht engen Gruppe junger Intellektueller. Er beherrschte sie alle und hielt sie in Abstand [...]“ 37 Vgl. Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 65; „Steiner war ein Eremit und eiskalt [...]“; ähnlich schon ders.: Max Steiner (s. Anm. 8), 39: „[...] mich, der ich [...] wußte, wie fern diesem Anachoreten, diesem Vieldeutigen, diesem verschlossenen Ironiker selbst ein Freund stand.“ 38 Max Brod: Kommentar zu Robert Walser. In: M. B.: Über die Schönheit häßlicher Bil¬ der. Ein Vademecum für Romantiker unserer Zeit. Wien-Hamburg 1967, 172; zum Erstdruck vgl.: Max Brod. Von Werner Kayser und Horst Gronemeyer unter Mitarbeit von Lando Formanek. Eingeleitet von Willy Haas und Jörg Mager. Hamburg 1972, 87 (Nr. 421). 39 Der von Ellen Key geprägte, von Karl Kraus und Max Steiner ironisch zitierte Begriff „Seelenvollheit“ ist auch der Titel, unter den Kraus die Steinersche Zuschrift nachträglich stellte; vgl. F 180, 3. Umschlagseite. 40 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philo¬ sophiert. In: F. N.: Werke. Hrsg, von Alfred Baeumler. Bd. 5/2, Leipzig 1930. 84. 41 Vgl. zu diesem Komplex Nike Wagner: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Ero¬ tik der Wiener Moderne. Frankfurt/Main 1987. 42 Siehe Anm. 20. 43 Siehe Anm. 19. 44 Siehe Anm. 8 und 36; ferner Kurt Hiller: Max Steiner. In: Der Demokrat, Heft 4/III (1. Februar 1911), Sp. 106-108,jetzt auch in: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 2, 159-161. 45 Siehe Anm. 8. 46 Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 17. 47 Das Recht über sich selbst. Eine straffechtsphilosophische Studie von Dr. Kurt Hiller; zum Termin vgl. Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 68: „es dürfte im Juli 1907 gewesen sein“.

268

Anmerkungen

48 Vgl. Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 17. 49 Vgl. F.W.V.er Taschenbuch (s. Anm. 26), 115. 50 Vgl. Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 2 und Bd. 2, 657; zur spezi¬ fischen Symptomatik dieses Aufsatzes vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorge¬ schichte (s. Anm. 25), 55 und 78. 51 Vgl. F.W.V.er Taschenbuch (s. Anm. 26), 126. 52 Max Steiner: Der Student als Erzieher. In: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), 172. 53 Ebd., 177-178. 54 Max Steiner. Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), nach 196. 55 Vgl. F.W.V.er Taschenbuch (s. Anm. 26), 111. 56 Vgl. ebd., 109. 57 Kurt Hiller: Das Recht über sich selbst (s. Anm. 47), 1: Verweis auf Max Steiner: Die Rückständigkeit (s. Anm. 20), 66. Das satirische Stichwort dazu schon in F 145, 1: „Voraussetzungslosigkeits-Rummel“. 58 Kurt Hiller: Das Recht über sich selbst (s. Anm. 47), 73: Verweis auf Max Steiner. Die Rückständigkeit (s. Anm. 20), 111. 59 Kurt Hiller (Das Recht über sich selbst [s. Anm. 47] ,110) glaubt, seine „Studie nicht würdiger abschließen zu können als mit den ruhig-energischen Worten des Wilhelm von Humboldt“, welche dessen „Grundsatz“ aufstellen. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In. W. v. H.: Werke in fünf Bänden. Hrsg, von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 1. Darmstadt-Berlin 1960, 156: „[...] um für die Sicherheit des Bürgers Sorge zu tragen, muss der Staat diejenigen, sich unmittelbar allein auf den Handelnden beziehenden Handlungen verbieten, oder einschränken, deren Folgen die Rechte andrer krän¬ ken, d. i. ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besitz schmälern, oder von denen dieses wahrscheinlich zu besorgen ist [...] Jede weitere, oder aus andren Gründen gemachte Beschränkung der Privatfreiheit aber bleibt außerhalb der Gränzen der Wirksamkeit des Staats.“ (Im Original gesperrt.) Als „höchster [...] Grundsatz“ (ebd., 229) galt das ebenso für den Verfasser von „Sitt¬ lichkeit und Kriminalität“. 60 Auf beabsichtigte Doppeldeuügkeit läßt sich u. a. daraus schließen, daß die übliche¬ re, aber auch vereindeutigendere Version „Der Roman eines Indifferenten“ bewußt vermieden erscheint. 61 Vgl. Paul Raabe: Der junge Max Brod (1905-1910) und der Indifferentismus. In: Weltfreunde (s. Anm. 25), 253-269; Margarita Pazi: Max Brod - von „Schloß Nornepygge“ zu „Galilei in Gefangenschaft“. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftstel¬ ler und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg, von Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts. 1985, 193-212; die Stellenhinweise in den Registern zu: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 542, Bd. 2, 669. 62 Vgl. dazu Karl Haueis: Karl Kraus und der Expressionismus. Phil. Diss. Erlan¬ gen-Nürnberg 1968, 28—40; Martina Bilke: Zeitgenossen der „Fackel“. Wien-Mün¬ chen 1981, 52-55, 165-168. 63 Vgl. dazu Hans E. Goldschmidt: Von Grubenhunden und aufgebundenen Bären im Blätterwald. Wien-München 1981. 64 Brief von Erwin Loewenson an Grete Tichauer, 17. Oktober 1911. In: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 520. 65 Siehe Anm. 44. 66 Vgl. Brief von Erwin Loewenson an Grete Tichauer, 19. Oktober 1911. In: Die Schrif¬ ten des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 521.

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

269

67 Kurt Hiller: Max Steiner. In: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 2, 161. 68 Der Demokrat, Heft 5/III (11. Februar 1911), Sp. 129-132; vgl. auch Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 453. 69 Brief von Georg Zepler an Erwin Loewenson, 12. Februar 1911. In: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 489. 70 Die Aktion, Heft 1/1 (20. Februar 1911), Sp. 10-12. 71 Vgl. Kurt Hiller: Max Brod (Stadien einer Enttäuschung). In: K. H.: Die Weisheit der Langenweile. Eine Zeit-und Streitschrift. 1. Bd. Leipzig 1913, 143-163; zur Datierung der Einzelpartien dieser Textfolge vgl. Richard Sheppard: Die Struktur von Kurt Hillers „Die Weisheit der Langenweile“. In: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 2, 632. 72 Vgl. Kurt Hiller: Paraphrase zu Jüdinnen“. In: Herder-Blätter, Heft 2/1 (Februar 1912), 27-29. 73 Kurt Hiller: Max Steiner. In: Max Steiner: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), 6f. 74 Ebd., 7. 75 In seiner Rede „Die Decadence der Zeit und der Aufruf des .Neuen Clubs'“, gehal¬ ten am 8. November 1909, hat Erwin Loewenson Max Brod als den Urheber dieses alsbald

zum

Lieblingswort des

„Neuen

Clubs“ gewordenen

Begriffs

namhaft

gemacht; vgl. Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 1, 186f.: „Ich denke an solche, die der Dichter Max Brod neulich mit einem entzückenden Ausdruck die .Cerebralen' getauft hat; die trotz aller Verfeinerung aesthetischer Hochkultur noch die Notwendigkeit fühlen, die Dinge des Daseins mit dem Blick des Verstehns zu durchglühn.“ 76 Kurt Hiller: Max Steiner. In: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), 43. 77 Vgl. Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), 439. 78 Vgl. Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 91. 79 Der Sturm, Nr. 43 (22. Dezember 1910), 443; aufgenommen in: Die Weisheit der Langenweile (s. Anm. 71), Bd. 1, 25-28. 80 F 319, 61-64; vgl. dazu Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 91: „[...] mein (ich glaube, nicht zu bedeutender) Text, .Seine Stellung zur Metaphysik'.“ In mar¬ kantem Gegensatz dazu urteilt Richard Sheppard in: Die Schriften des Neuen Clubs (s. Anm. 21), Bd. 2, 566 (Anm. 121): „Hillers Aufsatz .Seine Stellung zur Metaphysik' ist einer der wichtigsten Meilensteine seiner geistigen Entwicklung.“ 81

Kurt Hiller: Onto- und Teleologen. In: Die Weisheit der Langenweile (s. Anm. 71), Bd. 1, 164f.; weithin textidentisch mit dem ersten Absatz von Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 5-7; der in Anm. 74 nachgewiesene exemplifizierende Schlußsatz ist hier (ebd., 165) durch eine andere Version ersetzt, die das Urteil über die „Ontologen“ verschärft, ohne jedoch Namen zu nennen: „Und es fragt sich noch sehr, ob diese Vitalität [nämlich „die zureichende Vitalität, sich aus den Schrecken der Skepsis in die ... Psychose der .Wissenschaftlichkeit' zu retten“, K K] überhaupt eine ist - oder nicht vielmehr ein Verfallsfieber und ein Pakt mit dem Teufel.“

82 Vgl. Kurt Hiller: Der Eth. In: Die Weisheit der Langenweile (s. Anm. 71), Bd. 1, 25; die Opposition „Eth“/.Ästhet“ wird hier als lebens- und denkhaltungsbezogene „Kultur-Antinomie“ der rein fachwissenschaftsbezogenen Opposition „Ethiker“/ .Ästhetiker“ entgegengestellt. 83 Vgl. Kurt Hiller: Die Weisheit der Langenweile (s. Anm. 71), Bd. 2, nach 199. 84 Vgl. z. B. die Würdigungen aller drei Bücher Max Steiners in: Literarische Rund¬ schau für das katholische Deutschland, Jahrg. 1906, 256 (Remigius Stölzle über „Die Rückständigkeit...“);Jahrg. 1908, 701 (Pater E. Wasmann, S. J., über „Die Lehre Dar-

Anmerkungen

270

wins...“), Jahrg. 1912, 493 (H. Auer über „Die Welt der Aufklärung“). Einen Aus¬ nahmefall sach- und fachkundig motivierter Wertschätzung bereits des Ersdingswerks bildet Rudolf Eislers Rezension in: Neue Freie Presse, Nr. 14738 (3. Septem¬ ber 1905), 40. 85 Dr. W. Schallmayer: Max Steiner: Die Lehre Darwins ... In: Zentralblatt für Anthro¬ pologie, Heft 5/XIII (1908), 259. 86 Siehe Anm. 36. 87 Chrisüan Vogel (d. i. Kurt Hiller): Ueber Max Steiners „Die Welt der Aufklärung“. In: Die Aktion, Heft 35/11 (28. August 1912), Sp. 1104. 88 Siehe Anm. 72; die Anzeige ebd., nach 31. 89 Salomo Friedlaender: Max Steiner: Die Welt der Aufklärung. In: Der Sturm, Nr. 107/III (April 1912), 20-22; Nr. 108/III (Mai 1912), 28-30; Nr. 109/III (Mai 1912), 34: dieser Text ist zugleich eine wesentliche Vorstufe zu Friedlaenders Philo¬ sophen! der „schöpferischen Indifferenz“, vgl. S. F.: Schöpferische Indifferenz. München 1918. 90 Vgl. auch F 384, 17-24. Die hier angeführten Schopenhauer-Stellen finden sich so gut wie alle zitiert bei Max Steiner: Schopenhauer und die Politik. In: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), 156-162. 91 Alfred Bach: Welt der Aufklärung. In: Der Brenner, Heft 2/III (15. Oktober 1912), 91. 92 Vgl. etwa Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (s. Anm. 6), 38, wo die Rede ist von „den fünf Göttern der erörternden deutschen Prosa: Goethe, Schopenhauer, Heine, Nietzsche, Kerr“. 93 Salomo Friedlaender (s. Anm. 89), 20. 94 Vgl. Theodor Lessing: Max Steiner. In: Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin o.J. [1939]; München 21984. Mit einem Essay von Boris Groys, 132-151. Was Lessing über die von Kurt Hiller (s. Anm. 8) beigebrachten Daten zur Biographie Steiners vorzubringen hat, entspringt einer oft wenig sachkundigen Fabulierlust, so etwa die für das deutschjüdische Prag aufgestellte Behauptung: „jedes Kind der gebildeten Schicht spricht ebensogut tschechisch wie deutsch“ (ebd., 135), oder die Schilderung eines angeblichen Bildungserlebnisses des jungen Max Steiner: „Stei¬ ner erlebte die erste Blütezeit der tschechischen Dichtung: Otokar Brezina und die gewaltigen Dichter des Proletariats Petr Bezruc undjirf Wolker“ (ebd.). 95 Vgl. Brief Schopenhauers an Julius Frauenstädt, 2. März 1849. In: Schopenhauer’s Briefe. Hrsg, von Eduard Grisebach. Zweiter, mehrfach berichtigter Abdruck. Leip¬ zig o.J. (1898), 156: „20 blauhosige Stockböhmen stürzen herein, um aus meinen Fenstern auf die Souveränen zu schießen“. Zum wiederholten Zitat dieser Briefstel¬ le in der „Fackel“ vgl. Anm. 90. 96 Immanuel Kant: Kriük der reinen Vernunft. In: Immanuel Kants Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 3. Hrsg, von Felix Gross. Leipzig 1920, 386 (Die transzenden¬ tale Dialektik, 2. Buch, 2. Hauptstück, 5. Abschnitt); zitiert in: Max Steiner: Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums (s. Anm. 20), 44f. 97 Vgl. Theodor W. Adorno: Sittlichkeit und Kriminalität. In: Noten zur Literatur III. Frankfurt/Main 1965, 60. 98 Karl Kraus: Erpressung. In: Sittlichkeit und Kriminalität. Wien-Leipzig 1908, 53. 99 Max Steiner: Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen (s. Anm. 19), 170. 100 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 81985, 64. 101 Kurt Hiller: Max Steiner (s. Anm. 8), 27. 102 Erwin Loewenson (s. Anm. 75), 183.

Ein Prager Frondeur in Berlin: Max Steiner

271

103 Vgl. dazu Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven-London 1986, 172. 104 Max Steiner: Selbstanzeige. In: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), 196; zur Friedrich-Schlegel-Analogie vgl. Willy Michel: Ästhetische Hermeneutik und frühroman¬ tische Kritik. Friedrich Schlegels fragmentarische Entwürfe, Rezensionen, Charakterisüken und Kritiken (1795-1801). Göttingen 1982. 105 Salomo Friedlaender: Max Steiner (s. Anm. 89), 34. 106 Vgl. Max Steiner: Die Welt der Aufklärung (s. Anm. 8), 101: „Der Liberalismus geht mit der Zeit. Er ist .modern1 2 3 4, und nichts scheint ihm größerer Schimpf zu sein als die Sünde gegen den heiligen Zeitgeist. Deshalb hat der Liberalismus keine politische Zukunft. Denn die politische Zukunft ist nicht eine Zeit, mit der man geht, sondern eine Zeit, die man erst schaffen muß. Das Gegenteil von Anbiederung an allgemeine Grundsätze von Assimilation an das herrschende Milieu, das ist die politische Zukunft. Aller .Radikalismus' (zu deutsch Wurzelfestigkeit) hat von künftigen Gesümen noch etwas zu erhoffen.“ Vgl. den analogen etymologisierenden Rekurs auf die Grundbedeutung von „radikal“ bei Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Hrsg, von Arnold Rüge und Karl Marx. 1844. Einleitung und Anmerkungen von Joachim Höppner. Leipzig 1973, 171: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ - Zum „Extremismus“ vgl. Max Steiner: Die Rückständigkeit (s. Anm. 30), 115: „Die Sittlichkeit kennt [...] nur Extreme. Nichts widerstrebt ihr mehr als der Kompromißgedanke, die Gleich¬ wertigkeit.“ 107 Siehe Anm. 89. 108 Vgl. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hrsg, von Hella TiedemannBartels. Frankfurt/Main 1972, 52, 138, 150, 412. 109 Felix Weltsch: Das Wagnis der Mitte. Ein Beitrag zur Ethik und Politik der Zeit. Mährisch-Ostrau o. J. (erschienen Ende 1936); vgl. dazu Margarita Pazi: Felix Weltsch - Die schöpferische Mitte. In: Bulletin des Leo Baeck Institutes, Heft 50/XIII (1974), 51-75.

„Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff‘ (Seite 159-166) Veröffentlicht in: Explizite Beschreibung der Sprache und automatische Textverarbei¬ tung. XIV. Probleme und Perspektiven der Satz- und Textforschung. Praha: Matematicko-fyzikälni fakulta Univerzity Karlovy 1987, 129-141. Der Sammelband, in dem diese Studie zuerst erschien, war als Festschrift zum 80. Geburtstag des Prager Linguisten Prof. Dr. Pavel Trost (3. Oktober 1987) gedacht; durch dessen plötzlichen Tod am 6. Januar 1987 wurde er zur Gedenkschrift. 1 Pavel Trost: Die dichterische Sprache des frühen Werfel. In: Weltffeunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, 314. 2 Ebd.,316. 3 Ebd., 315. 4 Franz Werfel: Das lyrische Werk. Hrsg, von Adolf D. Klarmann. Frankfurt/Main 1967, 13.

272

Anmerkungen

5 Kurt Hiller: Die Weisheit der Langenweile. 1. Bd. Leipzig 1913, 120: „Den Turgor der Seele gibt Walter Hasenclever: brausend und brodelnd, wild und weltlich, ein ren¬ nender Jüngling und Neo-Schiller, Siegesbote der Erde an die Gehirne.“ 6 So 1918 der erfahrene „Fackel“-Leser und -Autor Berthold Viertel, vgl. Kurt Krolop: Ein Manifest der „Prager Schule“. In: Philologica Pragensia 4/VII (1964), 329. 7 Ebd. 8 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten. Prosa - Tagebücher - Aphorismen Literarische Nachträge. Hrsg, von Adolf D. Klarmann. München-Wien 21975, 581f. „Vater und Sohn“ in: F. W.: Das lyrische Werk, 86f. 9 Franz Werfel: Das lyrische Werk, 168. 10 Bezugs- und Zielpunkt dessen, was Werfel „Meine Poetik des lyrischen Gedichts“ nannte, war ausdrücklich das „strophische“ Gedicht, vgl. F. W.: Zwischen Oben und Unten, 673f. und 220. 11 Vgl. Jacob Minor: Neuhochdeutsche Metrik. Straßburg 21902, 436. 12 Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von J. Peterson. Hrsg, von Norbert Oellers und Siegfried Seidel. Weimar 1943ff., Bd. 1, 95. Das Werfelsche Gedicht „Vater und Sohn“ war schon im Februar 1912 im zweiten Heft der „Herder-Blätter“ erschienen, vgl. Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vor¬ geschichte der Prager deutschen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, 84 (Anm.

111). 13 Vgl. vor allem F 291, 27. 14 Schillers Werke, Bd. 3, 45f.; Bd. 2/II, 16 und 199. 15 Zur Distinktion „wörtlich“/„sprachlich“ vgl. F 389, 37. 16 Vgl. Franz Kafka an Max Brod. Juni 1921. In: F. K.: Briefe 1902-1924. New York 1958, 336f. 17 In Prag gab es noch einen weiteren „andern Schiller“, einen in der Tat auch mit Gedichten hervortretenden Fritz Schiller, im bürgerlichen Beruf „Chef des Prager Modewarenhauses Moritz Schiller“, vgl. Prager Tagblatt, Nr. 113/XLI (23. April 1916), 8. Dieser Sachverhalt bildet den Hintergrund der Epigramme „Prager Klassi¬ ker“ (F 472, 24) und „Berichtigung“ (ebd.). 18 Franz Werfel: Die Dramen. 2 Bde. Frankfurt/Main 1959, Bd. 1, 11-23. 19 Franz Werfel: Das lyrische Werk, 49. 20 Schillers Werke, Bd. 1, 112. 21

Franz Werfel: Das lyrische Werk, 176 und 288; vgl. F 484, 101.

22 Vgl. ebd., 37, 76, 88, 116, 125, 127 u. ö. 23 Ebd., 56. 24 Vgl. F 406, 118: „Die deutschen Lyriker sind versatile Leute.“ 25 Franz Werfel: Das lyrische Werk, 40f. 26 Schillers Werke, Bd. 1, 58 und 35: „Menschen bald auf schwanken Thronen schau¬ keln.“ 27 Franz Werfel: Das lyrische Werk, 38. 28 Vgl. Goethe. Berliner Ausgabe. Bd. 3. Berlin 1965, 99: „Du beschämst wie Morgen¬ röte / Jener Gipfel ernste Wand, / Und noch einmal fühlet Hatem / Frühlingshauch und Sommerbrand.“ 29 Das bezieht sich primär auf den vielzitierten Vers „Geuß unverzehrbar dich durchs All: Wir sind! “ Hier wie auch sonst hat Werfel in späteren Auflagen die Kraussche Kri¬ tik stillschweigend berücksichtigt: „Gieß“ statt „Geuß“ (F. W.: Das lyrische Werk, 117), „Dasein“ statt „Da-Sein“ (ebd., 88; vgl. F 484, 102), Streichung der Zeile „Mußt

.Elysisches. Melancholie an Kurt Wolff“

273

du brav sein“ (ebd., 30 und 645; vgl. F 484, 102). Leider sind solche Überarbeitungs¬ prozesse in den Anmerkungen (ebd., 645-668) nur sehr unzureichend und lücken¬ haft dokumenüert. 30 Zu der Schillerschen Prägung „Kinder des Hauses“ (Schillers Werke, Bd. 20, 285) vgl. den Stellenkommentar ebd., Bd. 21, 227f. Dem Habsburger-Kenner Salten wußte Kraus ironisch nachzusagen, „daß er wie’s Kind im Erzhaus sei“ (F 319, 15). 31 An die Phantasie. In: Ludwig Christoph Heinrich Hölty’s Sämtliche Werke. Hrsg, von Wilhelm Michael. 1. Bd. Weimar 1914, 78. 32 Schillers Werke, Bd. 1, 57 und 33. 33 Vgl. z. B. Franz Werfel: Das lyrische Werk, 36, 94, 142. 34 Vgl. dazu Bömes Tagebuchnotiz vom 30. April 1830 zum Briefwechsel Schillers mit Goethe in: Ludwig Bömes gesammelte Schriften. Hrsg, von Alfred Klaar. 2. Bd. Leip¬ zig o.J. [1899], 156: „Mich ärgert von solchen Männern das pöbelhafte Deklinieren von Eigennamen.“ 35 Friedrich Torberg: Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anek¬ doten. München 21976, 162. Dem von Kraus hochgeschätzten Ludwig Steiner wird in der „Vermeidung der Umlaute“ besondere Korrektheit nachgerühmt und unter ein¬ schlägigen Wendungen die vom „heheren Verwaltungsbeamten Geethe“ (ebd., 163) in den Mund gelegt. 36 Schillers Werke, Bd. 1, 114; Bd. 2/1, 396. 37 Heinrich Heine: Lobgesänge auf König Ludwig. I. In: Werke und Briefe. Hrsg, von Hans Kaufmann. Bd. 2. Berlin-Weimar 21972, 337. 38 Vgl. Schillers Werke, Bd. 1, 121, 213; Bd. 2/1, 395; Franz Werfel: Das lyrische Werk, 118. 39 Schillers Werke, Bd. 1, 57. 40 Vgl. Franz Werfel: Die Dramen, Bd. 1, 199. 41

Schillers Werke, Bd. 1, 36 und 59.

42 Vgl. ebd., Bd. 3, 109 und 211. 43 Ebd., Bd. 1,34 und 57. 44 Ebd., Bd. 1, 423. 45 Vgl. F 241, 1: „Diese finden jenes, jene dieses schön. Aber sie müssen es .finden1. Suchen will es keiner.“ 46 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten, 474.

Noch einmal und ganz anders: Franz Werfel und Karl Kraus (Seite 167-177)

Veröffentlicht in: Stifter Jahrbuch, Neue Folge 5, 1991, 101-111.

1

F 577, 67.

2 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Frankfurt/Main 1967, 608ff. (23. Kapitel). 3 Ebd., 148. 4 Ebd., 632; vgl. Biographisches Lexikon zur Geschichte der Böhmischen Länder. Hrsg, im Auftrag des Collegium Carolinum von Heribert Sturm (f), Ferdinand Seibt, Hans Lemberg, Helmut Slapnicka. München-Wien 1979£f, II/8 (1983), 590. Die Wohnung von Anton Marty (Mariengasse 35) befand sich in unmittelbarer Nachbar¬ schaft des Wohnhauses der Familie Werfel (Mariengasse 41).

274

Anmerkungen

5 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (s. Anm. 2), 634; vgl. Biographisches Lexikon zur Geschichte der Böhmischen Länder (s. Anm. 4), III/5 (1989), 389, und Werfels Nachruf in F. W.: Zwischen Oben und Unten. Prosa - Tagebücher - Aphorismen Literarische Nachträge. München-Wien 1975, 341-344. 6 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (s. Anm. 2), 633f. 7 Ebd.,635f. 8 Vgl. dazu Kurt Krolop: Zu den Erinnerungen Anna Lichtenstems an Franz Kafka. In: Germanisdca Pragensia V (1968), 32f. (Anm. 34). 9 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (s. Anm. 2), 18. 10 Vgl. Franz Kafka: Tagebücher. Hrsg, von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Mal¬ colm Pasley. Frankfurt/Main 1990, 854f. (15. II. 1920). 11

Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (s. Anm. 2), 192.

12 Ebd., 193-195. 13 Vgl. Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 790. 14 Erster Wiederabdruck in: Kurt Krolop: Ein Manifest der „Prager Schule“. In: Philologica Pragensia 4/VII (1964), 333f.; 1975 von Adolf D. Klarmann übernommen in Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 202f. 15 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 202. 16 Ebd., 213. 17 Vgl. ebd., 110-125. 18 Ebd., 114. 19 Vgl. ebd., 690f.: „Ich bin Jude. [...] mein Vater nahm mich zu den hohen Feiertagen schon als sechsjährigen Buben in den Tempel mit [...] Mit vierzehn Jahren, als ich es endlich zum Atheisten und Anarchisten gebracht hatte, hörten diese frommen Gänge auf.“ 20 Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (s. Anm. 2), 209. 21

Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit. [Logos]. Reinbek 1969, 57.

22 Vgl. Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 48 u. ö. 23 Vgl. dazu Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Lite¬ ratur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Konferenz über die Pra¬ ger deutsche Literatur. Prag 1967, 47-96; Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1909-1914. Hrsg, von Ignaz Zangerle, Walter Methlagl, Franz Seyr, Anton Unterkircher. (Bren¬ ner-Studien Band VI). Salzburg 1986, passim; Jürgen Born: Der junge Willy Haas und sein Freundeskreis: Versuch einer Abgrenzung. In: Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas. Wien 1989 (Schriftenreihe der Franz Kafka-Gesellschaft 3), 37-45. 24 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 13. 25 Zum kontroversen Aspekt des Themas vgl. S. 159-166 dieses Bandes sowie Roger Bauer: Kraus contra Werfel: Eine nicht nur literarische Fehde. In: Laßt sie koaxen. Die kritischen Frösch’ in Preußen und Sachsen! Zwei Jahrhunderte Literatur in Österreich. Wien 1977, 181-199 und 255f. 26 F 321, 31: „Die vielen Dinge“ (Franz Werfel: Das lyrische Werk. Hrsg, von Adolf D. Klarmann. Frankfurt/Main 1967, 36); F 321, 31f.: „Kindersonntagsausflug“ (F. W.: Das lyrische Werk., 16f.); F 321, 33: „Der schöne strahlende Mensch“ (F. W.: Das lyrische Werk, 51). 27 F 321, 24: „Prater“. Von Fritz Kreuzig. 28 F 324, 44: „Nächtliche Stadt in der Nähe“. Von Paul Mahlberg. 29 Anzeigen des Bandes „Der Weltfreund“ in F 339, 2. Umschlagseite; F 354, 3. Um¬ schlagseite; Anzeigen von „Wir sind“ in F 374, 2. Umschlagseite („Soeben erschie¬ nen“); F 376, 2. LTmschlagseite („Soeben erschienen“).

Noch einmal und ganz anders: Franz Werfel und Karl Kraus

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30 F 339, 48: ,Armer Student, süße vornehme Frauen anbetend“ (F. W.: Das lyrische Werk, 25f.); F 339, 49: .Junge Betderin an der Krücke“ (F. W.: ebd., 26); F 339, 49: „Wanderlied“ (F. W.: ebd., 55); F 339, 49f.: „Der Menschen Bett“ (F. W.: ebd., 55f.); F 339, 50f.: ,An den Leser der Nacht“ (F. W.: ebd., 65). 31

Zur Genese dieses Leitgedankens bei Karl Kraus vgl. S. 232 (Anm. 53) dieses Bandes.

32 Zum Welt- und Menschenfeind-Topos als Grundgestus universaler, pathetischer Sa¬ tire vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992, 183. 33 Vgl. Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 34: „Wir aber, die wir das Leben verteidigen wollen, [...] wir müssen eine Masse bilden, eine aufrührerische Irredenta der Weltfreundschaft gegen die Weltverödung.“ 34 Vgl. Eduard Goldstücker: Rainer Maria Rilke und Franz Werfel. Zur Geschichte ihrer Beziehungen. In: Germanistica Pragensia I (1960), 45. 35 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 753; vgl. F 406, 111; F 445, 3. 36 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 568; vgl. F 404, 4L: .Aber eines trüben Tages sieht man heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so zielbewußt mit keinem Schritte zu verfehlen.“ 37 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten

(s. Anm. 5), 431; zum Begriff des

Lfrsprungs bei Karl Kraus vgl. S. 19f. dieses Bandes. 38 So heißt es z. B. in einer von Adolf D. Klarmann auf 1917 datierten Aufzeichnung: .Alles können, weil man nichts ist, heißt die Formel“ (Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten [s. Anm. 5], 753). Schon im Dezember 1913 war in der „Fackel“ zwischen einem Adolf-Loos- und einem Max-Brod-Aphorismus zu lesen gewesen: „Seit einigen Jahren ist die Welt schon ganz mondän. Wer nur diese große Entschädigung: zu kön¬ nen, was man nicht ist, in die Welt gebracht hat? Woher haben sie es, die Weiber und die Schreiber?“ (F 389, 37). 39 Vgl. Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 614; Gunter E. Grimm: Ein hartnäckiger Wanderer. Zur Rolle des Judentums in Werk Franz Werfels. In: Im Zei¬ chen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg, von Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts. 1985, 258-279. Vgl. auch den unterdrückten Entwurf „Vorwort. Bernadette“, faksimiliert in: Franz Werfel 1890-1945. Katalog [...], zusammengestellt von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos. Wien 1990, 71: „Der Verfasser ist ein Jesus-Christusgläubiger Jude. Er ist trotzdem ein ungetaufter Jude“ (Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten [s. Anm. 5], 525). 40 Franz Werfel, der sich im November 1913 in Prag aufhielt (vgl. Kurt Wolff: Brief¬ wechsel eines Verlegers 1911-1963. Hrsg, von Bernhard Zeller und Ellen Otten. Frankfurt/Main 1966, 102), dürfte es nicht versäumt haben, die 60. (6. Prager) „Vor¬ lesung Karl Kraus“ vom 28. November 1913 zu besuchen, zu deren Programm auch „Die Kinder der Zeit“ gehörten, vgl. F 389, 21. 41

Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (s. Anm. 5), 575.

42 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 32), 92-97. 43 Vgl. F 418, 47f.: „Da die Tatsache eines deutschen Dostojewski immerhin wichtiger ist als die Existenz sämtlicher momentan vorrätigen deutschen Originale, so wird hier (wie in der freiwilligen Anzeige auf dem Umschlag) auf diese Gesamtausgabe hinge¬ wiesen.“ 44 Walter Benjamin: Karl Kraus. Gustav Glück gewidmet. I. Allmensch. In: W. B.: Lese¬ zeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur. Hrsg, von Gerhard Seidel. Leip¬ zig 1970, 126-138, und die bibliographische Notiz, ebd., 443.

276

Anmerkungen

45 Ebd., 137. 46 Franz Werfel an Ludwig von Ficker, vor 15. 7. 1919. In: Ludwig von Ficker: Brief¬ wechsel 1909-1914 (s. Anm. 23), 169, und dazu ebd., 343; vgl. auch die von Kurt Wolff überlieferte Äußerung Werfels: „Wenn Kraus so lange gelebt hätte, daß er, wie ich, hätte emigrieren müssen, wäre ich zu ihm hingegangen und hätte meinen Frie¬ den mit ihm gemacht“ (Kurt Wolff: Autoren, Bücher, Abenteuer. Berlin o. J., 97).

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen (Seite 179-198) Veröffentlicht in: Philologica Pragensia 1/XXXI (1988), 1-17. Der im Rahmen des Pra¬ ger Karl-Kraus-Kolloquiums vom 21. Mai 1986 gehaltene Vortrag wurde vom Autor für diese Publikation erweitert und ergänzt. 1 Die Zitate entstammen der Krausschen Version des „Wintermärchens“, vgl. Shake¬ speares Dramen. Für Hörer und Leser bearbeitet, teilweise sprachlich erneuert von Karl Kraus. Bd. 1. Wien 1934, 272: „Böhmen. Eine wüste Gegend am Meer“, und 277: „Denkt jetzt, / Ihr edlen Hörer hier, ihr seid versetzt / ins schöne Böhmen“. 2 Zu den frühen Vorträgen der „Weber“ vgl. Friedrich Jenaczek: Zeittafeln zur „Fackel“. München 1965, 7. 3 Vgl. noch Daniel Spitzers Reisebrief „Aus Pest. 10. Mai 1887“ in: Letzte Wiener Spa¬ ziergänge. Hrsg, von Max Kalbeck. Wien 1894, 110-116. 4 Ebd., 48. 5 Ebd. 6 Vgl. F 245, 2 und F 253, 1. 7 Vgl. Bruno Adler: Kampf um Polna. Ein Tatsachenroman. Prag 1934. 8 Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Kultur und Presse. Ein Archivbericht. In: Kraus-Hefte 2 (April 1977), 9. 9 In Hinblick auf das Genre der „jüdischen Anekdoten“ bezeichnet Karl Kraus hier diese Formel als „das bewährte und [...] beliebte Schema für solche Anekdoten“ (F 60, 27). 10 Vgl. dazu Kurt Krolop: Die Berufung auf Schiller wird zur Gänze abgewiesen. Schil¬ ler-Bezüge der „Dritten Walpurgisnacht“ im Lichte der Jäckel“. In: K K: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992, 231-251. 11 Vgl. dazu FS II, 235, 240-242, 264. 12 Vgl. dazu vor allem Kurt Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deut¬ schen Literatur des „expressionistischen Jahrzehnts“. In: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, 57. 13 In Briefen aus den Jahren 1906 und 1907, vgl. Martina Bilke: Zeitgenossen der Jäckel“. Wien-München 1981, 204f. 14 Zum bisherigen Stand der wirkungs- und rezeptionsgeschichüichen Forschung in diesem Bereich vgl. Jaromfr Louzil: Karl Kraus und die Tschechoslowakei. Zur Rezep¬ tion der „Letzten Tage der Menschheit“. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch der DDR-CSSR 1985/86. Hrsg, von Ingrid Kelling. Prag 1986, 36-45, und die dort ange¬ führte einschlägige Literatur. 15 Vgl. F 23, 7-12. Schon vorher war der in der Jäckel“ unbeanstandet gebliebene Arti¬ kel „Die .Neue Freie Presse' und der Orang-Utang“ (F 9, 23-25) bei seinem Nach¬ druck durch ein Wochenblatt in Troppau (Opava) Anlaß zu einer Konfiskationsver¬ fügung des dortigen Staatsanwalts geworden, vgl. F 10, 7.

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

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16 Vgl. „Kaiserworte“ (F 41,4—11), dazu unter dem gleichen Titel F 42, 10-12, mit einer Quantifikation der multiplikatorischen Wirkung von Konfiskationen: „Und wenn sonst ein Exemplar einer Zeitschrift durchschnittlich von zwei bis drei Personen gele¬ sen wird, so kommen auf ein verkauftes Exemplar einer confiscierten Nummer ihrer mindestens zehn“ (ebd., 1 Of.). Hier auch der Hinweis auf die „paar tausend Perso¬ nen“ (ebd., 11), die den unverkürzten Passus in den bis zur Beschlagnahme bereits verkauften Exemplaren von F 41 hatten lesen können. Die „FackeP'-Reprints bieten leider nur den Text von Nr. 41 in der .Ausgabe nach der Confiscation“ (F 41,1), also mit einer unausgefüllten Zensurlücke von neun Zeilen. 17 Vgl. Jaroslav Hasek: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Welt¬ krieges. Aus dem Tschechischen übertragen von Grete Reiner. 1. Bd. Berlin 51955, 273, 282 u. ö.; zur Entstehung dieses Spottnamens für Franz Joseph I. vgl. Radko Pytlik: Vznik satirickeho typu v tvorbe Jaroslava Haska (Die Entstehung des satirischen Typus im Werk Jaroslav Haseks). In: O ceske Satire. Sbornik stad. Hrsg, von F. Buriänek. Praha 1959, 264. 18 Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Wien-Leipzig 1922, 40. 19 Vgl. B I, 475, 479f., 484f. u. ö. 20 128.-131. (8.-11. Prager) Vorlesung, 15., 16., 17. und 20. November 1918, vgl. F 508, 41. 21 Vgl. Jaroslav Hasek: Osudy dobreho vojäka Svejka za svetove välky. II. a IV. dil. Hrsg, von Zdena Ancik und Frantisek Danes. Praha 1959, 12f.; die Abweichungen in der Textdarbietung und -anordnung durch Grete Reiner (s. Anm. 17, Bd. 2, 58f.) stim¬ men weithin mit F 632, 34f. überein. 22 Vgl. „Vom .Kasmader* zum ,Troglodyten“‘, S. 91-103 dieses Bandes. 23 Vgl. Anm. 14. 24 Vgl. Pavel Reiman: Ve dvacätych letech. Vzpominky (In den zwanziger Jahren. Erin¬ nerungen). Praha 1966, 110. 25 Vgl. ebd., 22. 26 Vgl. auch die Kritik von Georg Knepler in: G. K.: Karl Kraus liest Offenbach. Erinne¬ rungen - Kommentare - Dokumentationen. Berlin-Wien 1984, 238-242. 27 Vgl. Anm. 14. 28 Vgl. die polemische Satire „Bei den Tschechen und bei den Deutschen“ (F 572, 64-68). 29 Vgl. S. 199-215 dieses Bandes. 30 Ein Sammelbuch. Hrsg, und eingeleitet von Otto Pick. Reichenberg-Prag-LeipzigWien 1922. 31 Sestavil Otto Pick. Praha 1931. Die Sammlung enthält Lyrik oder Prosa von 31 tsche¬ chischen und sechs deutschen Autoren aus den böhmischen Ländern (Rainer Maria Rilke, Walter Seidl, Franz Werfel, Karl Kraus, Otto Pick, Ludwig Winder), deren Stimmen ausdrücklich als die deijenigen deutschen Dichter aus der Tschechoslowa¬ kei hervorgehoben werden, „die weder 1914 noch irgendwann danach in den Stim¬ menchor der Kriegsbefürworter eingefallen sind. Die mächtigste dieser Stimmen, die Stimme von Karl Kraus, hat den Weltkrieg übertönt, als sie das unvergängliche dra¬ matische Lied von den .Letzten Tagen der Menschheit* zu intonieren anhob“ (ebd., Vif.). Mit Genehmigung des Verfassers, wie das Impressum (ebd., 178) ausdrücklich vermerkt, sind von Karl Kraus die tschechischen Erstübersetzungen der Prosasatire „Das technoromantische Abenteuer“ (ebd., 51-56 = F 474, 41-45) sowie des Gedich¬ tes „Meinem Franz Janowitz“ (ebd., 66 = F 484,115) aufgenommen, letztere als Nach¬ dichtung von Pavel Eisner ausgewiesen, von dem auch die (nichtgezeichnete) Über¬ setzung des Prosabeitrags stammen dürfte.

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Anmerkungen

32 Auswahl und Einleitung von Otto Pick. Anmerkungen und Wörterbuch von O. [= Ota] Lederer. Praha 1931. = Deutsche Lektüre. Bd. 16. Die von dem Germanisten Hugo Siebenschein redigierte Reihe bot schulgerechte Editionen von Texten, die zum Kanon der „zusammenhängenden Pflichüektüre“ für den Deutschunterricht an tschechischen Gymnasien und sonstigen Mittelschulen gehörten, vgl. ebd., 112, und den Hinweis auf Karl Kraus als tschechisches Maturitätspensum in F 864, 54 sowie Friedrich Jenaczek: Zeittafeln zur „Fackel“. München 1965, 48. — Von Otto Pick aus¬ gewählt wurden (ebd., 24—30) die Gedichte „Vallorbe“, „Der Irrgarten“, „Grabschrift für ein Hündchen“, „Slowenischer Leierkasten“, „Meinem Franz Janowitz“, „Wiese im Park“, „Der tote Wald“ und „Vor dem Schlaf1. 33 Vgl. dazu S. 217ff. dieses Bandes sowie jetzt auch die weitere kritische Pressestimmen auswertende Prager Diplom- bzw. Magisterarbeit von Blanka Zävitkovskä: Karl Kraus v letech 1933-1936. Ohlasy na tvorbu a osobnost Karla Krause v prazskem tisku (Karl Kraus in den Jahren 1933-1936. Das Echo auf Werk und Persönlichkeit von Karl Kraus in der Presse Prags). Praha 1992, 42-68. 34 Pavel Eisner: Nemeckä literatura a pude Ceskoslovenske republiky. Od r. 1848 do nasich dnü (Die deutsche Literatur auf dem Territorium der Tschechoslowakischen Republik. Von 1848 bis in unsere Tage). In: Ceskoslovenskä vlastiveda. Dil. VII. Pisemnictvi. Praha 1933, 360f. 35 Karel Poläcek: Zumalisticky slovnik. Praha 1934. 36 Vgl. F 845, 23. 37 Karel Capek: V zajeti slov. In: Karel Poläcek: Zumalisticky slovnik. Praha 1934, 9-12; jetzt auch aufgenommen in die Neuausgabe der „Schriften“, vgl. Karel Capek: Spisy XIX. O umeni a kulture III. Praha 1986, 495-497 sowie 860 (Hinweis auf zwei Vor¬ abdrucke im Dezember 1933). 38 Ebd., 13-16. 39 Jan Münzer: Karl Kraus. In: Ottuv slovnik anucny nove doby. Bd. III/2. Praha 1935, 833. 40 Karl Kraus: Aforismy. Ze sbirek Pro domo et mundo a Nachts vybral a prelozil Aloys Skoumal. In: Divadlo, Nr. 10/XV (prosinec 1964), 1 lf., 28f., 32f, 42f. - An weiteren Karl-Kraus-Texten enthält das Heft „In dieser großen Zeit“ (ebd., 34—42) sowie „Nestroy und die Nachwelt“ (ebd., 48-55) in Übersetzungen von Rio Preisner. Darüber hinaus werden auch einführende und interpretierende Texte über Karl Kraus in tschechischer Übersetzung geboten: „Karl Kraus“ von Walter Benjamin in einer Übertragung des Arnold-Schönberg-Forschers Ivan Vojtech (ebd., 13-28), der Originalbeitrag „Dichter, Mime und der Ursprung“ von Roger Bauer, über¬ setzt von Rudolf Toman (ebd., 30-32), sowie der mit KKB K 1802 identische Aufsatz „Karl Kraus und das Theater“ von Hans Heinz Hahnl in einer tschechischen Versi¬ on von Eva Balvinovä (ebd., 44—47). Auch der Bericht des Chefredakteurs und Thea¬ terwissenschaftlers Milan Lukes über die Wiener Festwochen von 1964 („Videnske mikroklima“, ebd., 1-11) ist zum überwiegenden Teil der Lindtbergschen Inszenie¬ rung der „Letzten Tage der Menschheit“ gewidmet. 41

Praha 1984, 21990. = Svetovä cetba, Bd. 454. (Auflagenhöhe je 2000 Exemplare). Nicht wenige der bereits 1964 (s. Anm. 40) veröffentlichten Aphorismen sind hier gründlich überarbeitet; translatorisch interessantes Vergleichsmaterial bieten die Neuübertragungen bereits einmal übersetzter Texte: „In dieser großen Zeit“ (vgl. Anm. 40) und „Das technoromantische Abenteuer“ (vgl. Anm. 31). - Der Titel die¬ ser Prosaauswahl, welche den dramatischen wie den lyrischen Bereich konsequent ausspart, ist unverkennbar auf eine Formel des Credo bezogen (,judicare vivos et mortuos“ / „zu richten die Lebendigen und die Toten“).

Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen

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42 Vgl. Hanus Karlach: Zu Problemen einer Neuübersetzung des Dramas „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus. In: brücken. Germanistisches Jahrbuch der DDR-CSSR 1985/86. Praha 1986, 46-49. 43 Vgl. Karl Kraus: Posledne dni l’udstva. Übersetzt von Jan Strasser und Peter Zajac. Nachwort von Jana Juränovä, Jan Strasser und Peter Zajac. Anmerkungen von Peter Zajac. Bratislava 1987. = Band 178 der Edition „Svetovä tvorba“ („Weltkunstschaf¬ fen“) . Der umfangreiche Anmerkungsteil enthält außer zeit- und lebensgeschichdich informierenden Nachworten und Erläuterungen auch einen ausführlichen Rechen¬ schaftsbericht der Übersetzer zur Sprachproblematik nicht nur dieser, sondern jeder Übertragung des Dramas (ebd., 697-704: „Napnutä tetiva slovenciny“ = „Die ange¬ spannte Bogensehne des Slowakischen“). 44 Karl Kraus: Moc a bezmoc slova. Vybor z bäsni a epigramü (Macht und Ohnmacht des Wortes. Eine Auswahl von Gedichten und Epigrammen). Übersetzt von MichaelaJacobsenovä. Nachwort von Hanus Karlach. Praha 1988. = Bd. 165 der Edition „Kvety poesie“ („Blumenstücke lyrischer Dichtung“). (Auflage: 3500 Exemplare.) 45 Für die Jahre 1933 bis 1936 hat die in Anm. 33 angeführte Arbeit von Blanka Zävitkovskä einiges bisher Unbeachtete ans Licht gezogen; doch gibt es auch zur Früh¬ geschichte der tschechischen Kraus-Rezeption noch manches zu entdecken. Eine dieser Spuren, der in einer gesonderten Studie nachzugehen ist, heißt geradezu so, vgl. den Brief von Franz Janowitz an Karl Kraus, Prag, 2. April 1911. In: F. J.: Auf der Erde und andere Dichtungen. Werke, Briefe, Dokumente. Mit einem Anhang hrsg. von Dieter Sudhoff. Innsbruck 1992, 145: „Sehr geehrter Herr Kraus, die Stopa (Spur), ein beinahe talentiert geführtes Kampfblatt [...], bringt diesmal keine Apho¬ rismen, aber eine Glosse von Ihnen [...] “ 46 Pavel Eisner: Die letzten Tage der Menschheit. In: Prager Presse, Nr. 158/XIII (10. Juni 1933), 6.

Der Jawohlsager und der Neinsager (Seite 199-215)

Veröffenüicht in: Österreich und der Große Krieg 1914-1918. Die andere Seite der Geschichte. Hrsg, von Klaus Amann und Hubert Lengauer. Wien 1989, 251-260. Für diese Studie wurden folgende „Svejk“-Ausgaben verwendet: Jaroslav Hasek: Die Abenteuer der braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges. Aus dem Tschechischen übertragen von Grete Reiner. Bd. I—II. Berlin 51955 (in den fol¬ genden Anmerkungen kurz mit „Schwejk I-II“ bezeichnet). Jaroslav Hasek: Osudy dobreho vojäka Svejka za svetove välky. K vydäni pripravili Zdena Ancfk a dr. Frantisek Danes. Predmluvu napsal a vysvetlfvkami opatfil Zdena Ancfk. Illustroval närodnf umelec Josef Lada. [Bd. I:] I. a II. dil. [Bd. II:] III. a IV. dfl. Praha 1959. = Knihovna vojäka. Svazek 122 (im folgenden kurz „Svejk I-II“). Mit Rücksicht auf die Paginierungsunterschiede der zahlreichen tschechischen und deut¬ schen Ausgaben werden die Band- und Seitennachweise durch Teil- und Kapitelnach¬ weise in der Form 1/1 u. ä. ergänzt. Die Sekundärliteratur zu Jaroslav Hasek ist verzeichnet in: Boris Medilek: Bibliografie Jaroslava Haska. (Soupis jeho dfla a literatury o nem). Praha 1983. - Von den seither erschienenen Darstellungen wurden benutzt: Jirf Häjek: Jaroslav Hasek. Praha 1983; Zdenek Horenf: Jaroslav Hasek novinär (Der Journalist Jaroslav Hasek). Praha 1983; Radko Pytlfk: Kniha o Svejkovi (Das Buch vom Svejk). Praha 1983; ferner die einschlägigen

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Anmerkungen

Beiträge der Hasek-Jubiläums-Hefte der Zeitschriften: Ceskä literatura Nr. 1/31 (1983), 3—91; Literämi mesicnik Nr. 4/12 (1983), 17-48; Neue Rundschau 1/94 (1983), 65—82 (Gisela Riff: Besondere Merkmale: Keine. Überjaroslav Hasek, geboren 1883).

1 Vgl. Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1916, 31921. 2 Pavel Reiman: Ve dvacätych letech. Vzpominky (In den zwanziger Jahren. Erinne¬ rungen). Praha 1966, I7f. (Übersetzung K. K). 3 Vgl. dazu den einschlägigen Artikel in: Printern slovnik k dejinäm KSC. Svazek I. Praha 1964, 378. 4 Pavel Reiman (s. Anm. 2), 98. 5 Ebd., 110. 6 Jaroslav Hasek: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrie¬ ges. Aus dem Tschechischen übertragen von Grete Reiner. Illustriert von Josef Lada. I. Prag 1926; II. Prag 1926; III. Prag 1926; IV. Prag 1927. Als Bände V und VT folgten die Übersetzungen von: Karel Vanek: Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk in russischer Gefangenschaft. I—II. Aus dem Tschechischen übertragen von Grete Rei¬ ner. Illustriert von Josef Lada. Prag 1927. 7 Zit. nach dem Abdruck der Originalfassung des - später für die Übernahme in Sammlungen überarbeiteten - Artikels in: Zdenek Horeni: Jaroslav Hasek novinär. Praha 1983, 242. 8 Vgl. die satirische Parodie des „Erlebnis“-Klischees im Munde der Schalek-Figur, LTdM I, 195 (II/7): „-wie Sie wissen, schildere ich nur aus dem persönlichen Erleben — 9 Max Brod: „Der gute Soldat Schwejk“. In: Sternenhimmel. Musik- und Theatererleb¬ nisse. Prag-München 1923, 212. Hier wie auch bei dem ebenfalls des Tschechischen mächtigen Egon Erwin Kisch (vgl. E. E. K: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 8. Berlin 1983, 445) zeigt sich, daß offenbar vor Grete Reiner niemand auf den Einfall gekommen war, den Titelhelden nach dem Vorbild der patriotischen Öster¬ reicherin Baronin von Botzenheim nicht den „guten“, sondern den „braven“ Sol¬ daten Schwejk zu nennen; vgl. Svejk I, 102; Schwejk I, 79; 1/8. Für den Wieder¬ abdruck seines Aufsatzes hat Max Brod die Version Grete Reiners stillschweigend übernommen; vgl. Max Brod: Prager Sternenhimmel. Musik- und Theatererlebnisse der zwanziger Jahre. Wien-Hamburg 1966, 202-206: „Der brave Soldat Schwejk“. 10 Kurt Tucholsky: Herr Schwejk. In: Ausgewählte Werke. Bd. 4. Hrsg, von Roland Links unter Mitarbeit von Christa Links. Berlin 1971, 420f. 11

So der Titel eines Berichts von Josef Otto Novotny vom 26. November 1926 über die begeisterte „Sveik“-Aufnahme in Deutschland; vgl. Radko Pytlik: Kniha o Sveikovi. Praha 1983, 279.

12 München 1928, vgl. ebd., 8: „Die gebotene Auswahl war von einem dreifachen Krite¬ rium bestimmt: der ideellen oder ästhetischen Bedeutung; dem dokumentarischen Wert als Aussage von einem konstitutiven Zug des nationalen Geistes oder der natio¬ nalen Seele; endlich von dem Kriterium der Aktualität in welchem Betracht auch immer.“ 13 Brünn 1934. Kraus ist hier (ebd., 134) berücksichtigt. 14 Vgl. dazu Seite 217f. dieses Bandes sowie Jaromir Louzil: Karl Kraus und die Tsche¬ choslowakei. Zur Rezeption der „Letzten Tage der Menschheit“. In: brücken. Germa¬ nistischesjahrbuch DDR-CSSR 1985/86. Hrsg, von Ingrid Kelling. Prag 1986, 36-45. 15 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neun Studien. Ber¬ lin 21992, 142f.

Der Jawohlsager und der Neinsager

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16 Den Gipfelpunkt der vor allem ethisch motivierten Abwertung Haseks bei gleichzei¬ tiger Respektierung, ja Hochschätzung der Andkriegshaltung von Karl Kraus bildet wohl die furiose Philippika des Wiener „polnischen Erasmus“ (F. Th. Csokor) Otto Forst de Battaglia: Der Kampf mit dem Drachen. Zehn Kapitel von der Gegenwart des deutschen Schrift- und von der Krise des deutschen Geisteslebens. Berlin 1931, 142—146; der Thersites-Topos (ebd., 142) fehlt hier ebensowenig wie das Klischee vom „Fußtritt des Esels an den sterbenden, an den toten Löwen“ (ebd., 145). 17 Hier fehlt der Hinweis auf Haseks Buch, dessen Ruhm in den zwanziger Jahren nach dem Negativzeugnis Forsts (s. Anm. 16, 142) erst „ein literarischer Skandal von mit¬ teleuropäischem Ausmaß“ war, während Engländer, Franzosen „von dem schmutzi¬ gen Buch keine Notiz genommen“ hätten. 18 Er fehlt daher auch in: Franz Ogg: Personenregister zur Fackel von Karl Kraus. Mün¬ chen 1977. 19 Vgl. dazu die Dokumentation: Materialien zu Bertolt Brechts „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“. Vorlagen (Bearbeitungen), Varianten, Fragmente, Skizzen, Brief- und Tagebuchnotizen. Ediert und kommentiert von Herbert Knust. Frankfurt/Main 1974. 20 Ebd., 114, 122; George Grosz: Hintergrund. 17 Zeichnungen zur Aufführung des „Schwejk“ in der Piscator-Bühne. Berlin 1928. 21

Schulter an Schulter. Blätter der Piscatorbühne. Berlin 1928; eine Aufzählung der einzelnen Beiträge in: Materialien (s. Anm. 19), 30.

22 Schulter an Schulter (s. Anm. 21), 4—6. 23 Ebd., 4; vgl. F 499, 13f.: „Mir san ja eh die reinen Lamperln“. 24 Schulter an Schulter (s. Anm. 21), 5f. 25 Emanuel Radi: Välka Cechü s Nemci (Der Krieg der Tschechen mit den Deutschen). Praha 1928, 172. Zur Geschichte der „Svejk“-Rezeption vgl. außer den eingangs genannten neueren Darstellungen vor allem Radko Pytlik: Boje o Svejka (Kämpfe um Svejk). In: Ceskä literatura Nr. 1/31 (1983), 5-33. 26 Als aufmerksamem „Simplicissimus“-Leser, der Hasek war, müssen ihm wohl auch einige der 34 Beiträge von Karl Kraus aufgefallen sein, die dort von Februar 1900 bis August 1910 erschienen sind; wenn Radko Pytlik (Toulave house. Zpräva o Jaroslavu Haskovi (Bericht über Jaroslav Hasek). Praha 1971, 165; ders. in: Spisy Jaroslava Haska. Svazek 12. Praha 1973, 265) für Haseks journalistische Mystifikationen der Jahre 1908 bis 1913 die zeidiche Priorität gegenüber dem berühmten „Grubenhund“ beansprucht (den er mit 1913 außerdem auch noch zwei Jahre später ansetzt), dann übersieht er nicht nur, daß Karl Kraus die Sache bereits im Februar 1908 mit der fin¬ gierten Zuschrift des „Zivilingenieurs J. Berdach“ (F 245, 21f.) praktiziert hatte, so daß ein Prioritätsanspruch allenfalls in umgekehrter Richtung zu erheben wäre; er unterschätzt auch das Alter einer satirischen Tradition, die Gilbert Highet unter der Rubrik „The Hoax as Satire“ (in: The Anatomy of Saüre. Princeton 1962, 92-103) Umrissen hat; vgl. auch Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 15), 32f. 27 Josef Hora: Karl Kraus a cesky bäsnik (Karl Kraus und der tschechische Dichter). In: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Wien 1934, 27 (Übersetzung K. K.). Hora, achtjahre jünger als Hasek, berichtet hier auch, wie er bereits während seiner Studienzeit vor 1914 von der „Fackel“ Kenntnis genommen habe. 28 Josef Hora in: Anketa o 5 knihäch (Rundfrage über die 5 [= die 5 wichtigsten, K. K.] Bücher). In: Tribuna Nr. 1/8 (1926), 7f. (= Boris Medilek: Bibliografie Jaroslava Haska, Nr. 1023). 29 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 15), 86.

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Anmerkungen

30 Vgl. F 890, 283f„ 306, 310. 31 Vgl. Schwejk II, 281. 32 Vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 15), 86. 33 Vgl. z. B. Svejk I, 110; Schwejk I, 88f.; 1/9. 34 Zur Funktion dieser „Beispiele“ vgl. Wolfgang Fritz Haug: Das umwerfende Einver¬ ständnis des braven Soldaten Schwejk. In: Bestimmte Negadon. Frankfurt/Main 1973, 57-67; zur Unterscheidung des „Beispiels“ vom „Exempel“ vgl. Andre Jolles: Einfache Formen. Halle/Saale 21956, 146-148. Das Prinzip der Einführung von „Bei¬ spielen“ durch Überleitungsformeln ist dasselbe, das Karl Kraus bei der jüdischen Anekdote festgestellt hat: „Das kommt mir vor, wie“ (F 60, 27). 35 Vgl. Johann Nepomuk Nestroy: Der Talisman (III/18): „Spund: Das ist ja nicht mög¬ lich. Titus: Wirklichkeit ist immer das schönste Zeugnis für die Möglichkeit.“ 36 Svejk I, 376; Schwejk I, 400f.; II/4 (Übersetzung KK). 37 Vgl. F 157, 1-6; F 158, 17-20 u.ö. 38 Vgl. LTdM I, 421-425 (IV/30). 39 Vgl. Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche. Wien-Leipzig 41924, 175: „Der Wort¬ witz, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, indem er der Abbreviatur einer witzigen Anschauung dient. Er kann ein sozial¬ kritisches Epigramm sein.“ 40 Zur Problematik dieser Übersetzung, deren wirkungsgeschichtliches Verdienst gar nicht überschätzt werden kann, vgl. Pavel Petr: Haseks „Schwejk“ in Deutschland. Berlin 1963, 61-80; korrigierend dazu: Pavel Trost: Zur deutschen Übertragung des Hasekschen Svejk. In: Deutsch-tschechische Beziehungen im Bereich der Sprache und Kultur. Aufsätze und Studien II. Berlin 1968, 47-49 (= Boris Medilek: Biblio¬ grafie Jaroslava Haska, Nr. 3377); einen aparten Versuch, Svejks Idiom ins ,Austriakische“ zu repatriieren, bietet Peter Demetz mit der eigenen Übersetzung einer län¬ geren Stelle (Svejk I, 59, Schwejk I, 27; 1/2) in: Till Eulenspiegel und seine Vettemschaft. Vom Überleben der Plebejer. In: Literatur und Kritik 75 (Juni 1973), 303. 41 Auf den komplementären Charakter der „Lesarten“ von Lada und Grosz verweist Karel Kosik: Hasek a Kafka neboli Groteskni svet (Hasek und Kafka oder Groteske Welt). In: Plamen, Heft 6/5 (1963), 98. 42 Svejk I, 39; Schwejk I, 5. 43 Ebd. 44 So handelt es sich, um ein Beispiel für viele zu nennen, bei dem scheinbar apo¬ kryphen Gelehrten „Fr. S. Krause“, in dessen Buch der Auditor Ruller auf der Suche nach obszönen Zeichnungen blättert (Svejk I, 383; Schwejk I, 409; II/4), tatsächlich um den bekannten Folkloristen, Sittengeschichtler und Sexualwissenschafder Frie¬ drich Salomo Krauss (1859-1938, vgl. NDB 12 [1980], 714L); seine Verwechslung mit Karl Kraus ist in einer Notiz aus der Jäckel“ 1924 ironisch glossiert; vgl. F 640, 64. Merkwürdig übrigens, daß ein ganz analoges MoUv (pornographische bzw. als pornographisch geltende konfiszierte Schriften auf dem Tisch des Untersuchungs¬ richters) zu Beginn des dritten Kapitels von Kafkas „Prozeß“ erscheint. Der Kom¬ mentar von Josef K könnte auch im Namen von Josef Svejk gesprochen sein: „,Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert werden', sagte K, ,von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.'“ 45 Vgl. F 283, 19-25. 46 Vgl. u. a. F 531, 3; F 572, 67; F 601, 113; F 622, 133; F 679, 19; F 686, 89; F 781, 91f.; F 890, 59.

Der Jawohlsager und der Neinsager

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47 Svejk II, 226; Schwejk II, 307; IV/1. 48 Vgl. auch LTdM I, 5 (Vorwort). 49 Eine vollständige Bibliographie der von 1915 bis 1919 in 55 Bändchen erschienenen Reihe in: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV). 1911-1965. Hrsg, von Reinhard Oberschelp. Bd. 133. München-New York-London-Paris 1980, 335f. 50 Vgl. LTdM I, 264-268 (III/3). 51

Svejk II, 91f.; Schwejk II, 148f.; III/2.

52 Svejk II, 12f.; Schwejk 58f.; III/1. 53 Auf dieser Textvorlage scheinen manche der Abweichungen der Textdarbietung der Reinerschen Übersetzung (vgl. Anm. 51) zu beruhen. 54 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 15). 55 Vgl. LTdM II, 347f.; im Programm der 700. Vorlesung vorletzter Text vor den „Re¬ klamefahrten zur Hölle“ (F 577, 96-98). 56 Svejk I, 243; Schwejk I, 244; II/1; vgl. die korrespondierende Stelle Svejk II, 138; Schwejk II, 202; III/3. Die der Annäherung an die Front proporüonale Beschleuni¬ gung in der Abfolge solcher Sequenzen ist vergleichbar mit der Zunahme der „Schnittgeschwindigkeit“ in der Abfolge der „Erscheinungen“ im Schlußteil der Szene V/55 der „Letzten Tage der Menschheit“; vgl. LTdM I, 588—601. 57 Svejk II, 154; Schwejk II, 221; III/3; zu den Analogien bei Karl Kraus vgl. Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 15), 108f. 58 Vgl. Materialien (s. Anm. 19), 119. 59 Vgl. z. B. die in Anm. 44 nachgewiesene Stelle, wo dem nach obszönen Zeichnungen suchenden Auditor Ruller das Postament des auf dem Amtstisch stehenden Kruzi¬ fixes zur Ablagerung von Zigarettenasche und Zigarettenresten dient; zur Häufigkeit und Ambiguität der Anspielungen auf neutestamentarische Sachverhalte vgl. schon Joseph Peter Stern: On the Integrity of the Good Soldier Schweik. In: Forum for Modem Language Studies, Vol. 2, No 1 (January 1966), 16. 60 Sigurd Paul Scheichl: Ohrenzeugen und Stimmenimitatoren. Zur Tradition der Mimesis gesprochener Sprache in der österreichischen Literatur. In: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg, von Sigurd Paul Scheichl und Gerald Stieg. Innsbruck 1986, 82. 61 Vgl. Frantisek Danes: Prispevek k poznäni jazyka a slohu Haskovych „Osudü dobreho vojäka Svejka“ (Ein Beitrag zum Verständnis von Sprache und Stil der .Abenteuer des braven Soldaten Svejk“ von Jaroslav Hasek). In: Nase ree, Nr. 3-6 (1954), 124—139; zahlreiche Einzelanalysen belegen hier die Feststellung: „Die Stärke des Hasekschen Svejk liegt vor allem in der einzigartigen Fähigkeit des Autors, gesprochene Sprache mit allen ihren Nuancen und in der ganzen Ausdehnung ihrer Variationsbreite zu reproduzieren“ (ebd., 124); ähnlich Heinrich Kunstmann: Zur auditiven Stilisierung in der modernen tschechischen Prosa. John, Hasek, Hrabal. In: Die Welt der Slawen, Heft 4/5 (1970), 361-381; auf die Affinität nicht nur der Figurenrede, sondern auch der Erzählsprache zu gesprochener Wiedergabe verweist mit Nachdruck Jiri Häjek: Jaroslav Hasek. Praha 1983, 192f. 62 Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Der Stilbruch als Stilmittel bei Karl Kraus. In: Karl Kraus in neuer Sicht. Hrsg, von Sigurd Paul Scheichl und Edward Timms. München 1986, 128-142; Pavel Trost: Code Switching. In: Explizite Beschreibung der Sprache und automatische Textbearbeitung. XIV. Probleme und Perspektiven der Satz- und Text¬ forschung. Praha 1987, 151-156. 63 Kaiser Franz Joseph: An meine Völker. In: Österreichischer Almanach auf das Jahr 1916. Hrsg, von Hugo von Hofmannsthal. Leipzig o. J. [1915], 23.

284

Anmerkungen

64 Svejk II, 220; Schwejk II, 300; IV/1 (Übersetzung K K.). 65 Vgl. Arthur Schopenhauer: Eristische Dialektik. In: Arthur Schopenhauer’s hand¬ schriftlicher Nachlaß. Bd. 2. Hrsg, von Eduard Grisebach. Leipzig 21896, 71-107. 66 Vgl. die Tonfallparodie LTdM I, 146-149 (1/25). 67 Vgl. Studijni vydäni del Bedricha Smetany [5.]: Dalibor. Libreto napsal Josef Wenzig. Cesky text Ervin Spindler. Praha 1945, 95f. (1. Akt, 4. Auftritt). 68 Svejk II, 293 (Erläuterungen von Zdena Ancik). 69 Zum Begriffsgehalt vgl. Kurt Krolop: Sprachsadre (s. Anm. 15), 32f. 70 Vgl. F 501, 106: „Der [...] unvergeßliche Typus Nowotny von Eichensieg“; als ein sol¬ cher Typus tritt „Nowotny von Eichensieg“ auf in LTdM I, 614 (Epilog). Zum Thema der martialischen Adelsprädikate vgl. schon F 484, 72. 71

Svejk II, 117; Schwejk I, 156; III/3.

72 Vgl. Joseph Peter Stern: On the Integrity (s. Anm. 59), 17. 73 Svejk II, 98f.; Schwejk II, 156; III/2. 74 „Die einzige würdige Zeile, die in dieser ganzen großen Zeit gedruckt wurde, stand im Manifest des Kaisers“ (F 406, 118); „jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit einge¬ leitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat“ (F 404, 3). In der Wiedergabe des „Nörglers“ lautet diese Zeile: „Ich habe alles reiflich erwogen“ (LTdM I, 179,1/29; auch schon F 501, 7); vgl. dagegen den authentischen Wortlaut nach: Deutscher Geschichtskalender. Begründet von Karl Wippermann. Hrsg.: Dr. Friedrich Parlitz. Jg. 1914. I. Bd.: Juli-Dezember. Leipzig o. J., 200: „Ich habe alles geprüft und erwogen.“ 75 So in Svejk II, 287 Zdena Ancik, der zwar erläutert, daß Svejk dieses unpassende Fremdwort „absichtlich“ verwende, ohne jedoch diese Absicht zu benennen. 76 Vgl. Anm. 19. 77 Bertolt Brecht: Arbeitsjoumal 1938-1955. Berlin-Weimar 1977, 288. 78 Vgl. F 864, 59. Hingewiesen sei abschließend noch auf Robert Pynsent: The Last Days of Austria. Hasek and Kraus. In: Holger Klein (Hrsg.): The First World War in Fiction. A Collection of Critical Essays. New York-London 1977, 1978, 136-148, 227f. Vgl. dazu Sigurd Paul Scheichl in: Kraus-Hefte 30 (April 1984), 13.

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister“ (Seite 217-222)

Veröffentlicht in: brücken. Germanistisches Jahrbuch DDR-CSSR 1988/89. Hrsg, von Dieter Kelling. Prag 1989, 36-42, und in: Zeitschrift für Slawistik, 1/35 (1990), 66-71. Anlaß für den - in tschechischer Sprache gehaltenen - Vortrag war die Internationale wissenschaftliche Konferenz zur 50. Wiederkehr des Todestages von Karel Capek: „Clovek, svet a umeni Karla Capka“ („Der Mensch, die Welt und die Kunst Karel Capeks“), die vom 6. bis 7. Dezember 1988 in Dobris stattfand.

1 Vgl. Franz Leschnitzer: Ein zweites Gedicht Bertolt Brechts über Karl Kraus. „Über den schnellen Fall des guten Unwissenden.“ In: Neue deutsche Literatur 4/XII (April 1964), 212-215; Friedrich Jenaczek: Zeittafeln zur „Fackel“. Themen - Ziele Probleme. Gräfelfmg 1965, 123: „Die [...] hervorragende Arbeit des tschechischen Germanisten Kurt Krolop“; so auch noch Jochen Stremmel: „Dritte Walpurgisnacht“. Über einen Text von Karl Kraus. Bonn 1982, 192: „der tschechische Germanist Kurt Krolop“.

Karel Capek: „Karl Kraus als Lehrmeister

285

2 Vgl. Kurt Krolop: „Solche Erfolche erreichen nur deutsche Molche.“ Karel Capek, Karl Kraus und die „Molchhymne“. In: K. K.: Sprachsatire als Zeitsadre bei Karl Kraus. Neun Studien. Berlin 21992, 304-307. 3 Vgl. Jaromir Louzil/Zdenek Solle: Karel Capek über Karl Kraus. In: Kraus-Hefte 12 (Oktober 1979), 9f.; dies.: Karl Kraus und die Tschechoslowakei. In: Kraus-Hefte 15 (Juli 1980), 1-8; Jaromir Louzil: Karl Kraus und die Tschechoslowakei. Zur Rezepüon der

„Letzten Tage

der

Menschheit“.

In:

brücken.

Germanistisches Jahrbuch

DDR-CSSR 1985/86. Prag 1986, 36-49. 4 Karel Capek: Karl Kraus. Posledni dnove lidstva. In: Pfitomnost 19/X (10. Mai 1933), 299; dass, in: Panorama Nr. 4/XI (25. Mai 1933), 57f.; jetzt auch in: Karel Capek: Spisy XIX. O umeni a kulture III. Hrsg, von Emanuel Macek und Milos Pohorsky. Praha 1986, 454—457. Zur einmonatigen Verzögerung des ursprünglich für Ende April 1933 in Aussicht gestellten Erscheinens vgl. Zpravodaj Druzstevni präce Nr. 4/V (25. Mai 1933), 31. 5 Karel Capek: Spisy XIX (s. Anm. 4), 455f. (Übersetzung K. K). 6 Vgl. Fritz Schalk: Einleitung. In: Die französischen Moralisten. Bd. 1. Leipzig 1938, IX-XXXIX; Martin Fontius: Moralistes. In: Lexikon der französischen Literatur. Hrsg, von Manfred Naumann. Leipzig 1987, 310. 7 Vgl. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Hrsg, von Arnold Rüge und Karl Marx. 1844. Ein¬ leitung und Anmerkungen von Joachim Höppner. Leipzig 1973, 165: „Krieg den deutschen Zuständen! [...] Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft. [...] Ihr wesentliches Pathos ist die Indigna¬ tion, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation.“ Dazu Kurt Krolop: Späte Gedichte Goethes. In: Goethe-Jahrbuch 97 (1980), 62. 8 Vgl. dazu Ladislav Soldän: Kritik a estetik. In: Kniha o Capkovi. Kolektivni monografie. Praha 1988, 107. 9 Karel Capek: Spisy XIX (s. Anm. 4), 456f. 10 Karl Kraus: Erpressung. In: Sittlichkeit und Kriminalität. Wien-Leipzig 1908, 53. 11

Theodor W. Adorno: Sittlichkeit und Kriminalität. In: Noten zur Literatur III. Frank¬ furt/Main 1965, 60.

12 Karel Capek: Karl Kraus jako ucitel (Karl Kraus als Lehrmeister). In: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Hrsg, von einem Kreis dankbarer Freunde. Wien 1934, 21; die deutsche Übersetzung des Textes ebd., 22; Wiederabdruck des tsche¬ chischen Originals in: Karl Kraus: Soudim zive i mrtve (Ich richte die Lebendigen und die Toten). Prelozil Aloys Skoumal. (= Svetovä cetba, Bd. 454). Praha 1984, 303; die deutsche Version steht gleichsam als Motto an der Spitze des Bandes; Dem Andenken an Karl Kraus. Hrsg, von Paul Engelmann. Tel Aviv 1949, 1; 2. Aufl., hrsg. mit einem Vor- und Nachwort von Elazar Benyoetz, Wien 1967, 7. - Nachdrückliche Hinweise außer in der in Anm. 2 zitierten Arbeit auch in meinem Nachwort zu Karl Kraus: Anderthalb Wahrheiten. Aphorismen. Hrsg, und mit einem Nachwort von Kurt Krolop. Berlin 1969,31983, 151 sowie in: Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 2), 159, 216, 305f., 323. Daß trotz solcher wiederholten Hinweise dieser Text nicht Auf¬ nahme in den zuständigen Bd. XIX der „Spisy“ (s. Anm. 4) gefunden hat, markiert ein - leider nicht vereinzeltes - interdisziplinäres Kommunikationsdefizit im Bereich der „Germanoslavica“: Er hätte sich hier als „missing link“ zwischen „V zajeti slov“ („Im Bann der Worte“) vom Dezember 1933 (ebd., 495-497) und „Kdybych byl lingvistou“ („Wenn ich Linguist wäre“, ebd., 635-637) vom Februar 1935 erweisen kön¬ nen. - Inzwischen ist auf Grund dieses Hinweises „Karl Kraus jako ucitel“ in Bd. XVI

286

Anmerkungen

der Karel-Capek-Werkausgabe aufgenommen worden (Praha 1991, 173), allerdings mit dem

Druckfehler „nahromadila“

(„angehäuft haben“)

anstatt

„nahradila“

(„ersetzt haben“). Schon in den Abdruck durch Aloys Skoumal (s. oben, 303) hatte sich ein Druckfehler eingeschlichen: Es heißt hier „kus morälni filologie“ („ein Stück Moralphilologie“) anstatt „kurs morälni filologie“ („einen Moralphilologie-Kurs“). 13 Thomas Mann: Romane und Erzählungen. Bd. 6: Doktor Faustus. Nachwort von Klaus Hermsdorf. Berlin 1975, 327; vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 2), 150f„ 160, 172, 203. 14 Zur Opposition „Sprache des Autors“/„angewandte Sprache“ vgl. F 527, 48. 15 Aloys Skoumal (s. Anm. 12, 129) übersetzt: „Ovlädäm jenom ree druhyeh. Moje si se mnou delä co chce.“ Dem von Karl Kraus beabsichtigten sprachlich/xerotischen Doppelsinn angemessener gewesen wäre die Version: „Ta moje...“ 16 Karel Capek: V zajeti slov. In: Spisy XIX (s. Anm. 4), 495-497 und dazu die Anmer¬ kung, ebd., 860. 17 Praha 1934, 9-12. 18 „Die Tschechen bei Karl Kraus - Karl Kraus bei den Tschechen“, s. S. 179-198 dieses Bandes. 19 Vgl. Karel Capek: V zajeti slov. Kritika slov a üslovi. Zusammengestellt und hrsg. von Miroslav Halik. Praha 1969. 20 Bertolt Brecht: Über Karl Kraus. In: B. B.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 19. Frankfurt/Main 1969, 430f.; vgl. dazu Kurt Krolop in: Anderthalb Wahrheiten (s. Anm. 12), 140f.; ders.: Sprachsaüre (s. Anm. 2), 102. 21 Vgl. auch den umfassenden Bericht eines Budweiser Augenzeugen über diese Aus¬ rottungsaktion vom 5. Juli 1924 in: Deutsche Zeitung Bohemia, 13. Juli 1924, 5; Aus¬ züge daraus in der Wiener .Arbeiter-Zeitung“, 17. Juli 1924, 4. 22 Karel Capek: Chväla novin. In: Marsyas cili na okraj literatury (1919-1931). Praha 31948, 37-51; Nachweis des Erstdrucks ebd., 263; vgl. dazu Frantisek Buriänek: Karel Capek. Praha 1988, 226. 23 Vgl. Heinrich Heine an Julius Campe, 3. September 1854. In: Heinrich Heine. Säku¬ larausgabe. Bd. 23. Weimar-Paris 1972, 365. 24 Karel Capek: Chväla novin (s. Anm. 22), 37. 25 Vgl. dazu Kurt Krolop: Sprachsatire (s. Anm. 2), 63.

Personenregister

Adler, Bruno

119f., 185

Adler, Felix

Berg, Alban

262

55, 86

Berger, Alfred Freiherr von

Adler, Karl

119

Bezruc, Petr

Adler, Paul

143

Bie, Oscar

Adler, Victor

119 58, 69, 73, 127,

156f„ 177, 218 Ady, Endre

67

Altenberg, Peter

208

97, 262

Auemheimer, Raoul Augustinus, Hl. Aust, Ludvik

87

54

120, 184, 263

154

Bach, Johann Sebastian Bacher, Eduard Bacher, Franz

16

120

30f„ 33, 41, 172, 232, 263

Börne, Ludwig

105f., 110f„ 115, 273

Brecht, Bertolt

17, 19f., 24, 27, 29, 35,

191 239

Bretschneider, Ludwig August

Brie, Alfred

209 55, 65

11, 59, 121, 126f„ 131,

Brügel, Johann Wolfgang

231

Buber, Martin

Bühler, Karl

75-80, 85, 87, 89

239

Buriänek, Frantisek

120,137 9, 16-20, 27, 28f., 47,

Busse, Karl

31

Calas,Jean

76

52, 68, 71, 76-78, 84f„ 89, 101, 142, 158, 176, 256

Cale, Walter

74, 89

Benzenburg, Johann Friedrich

102

54

Buchbinder, Bernhard Ludwig

172

Benn, Gottfried

206

270

163, 171, 173, 189, 201, 203, 225, 265,

115

Benjamin, Walter

54

275

Beer-Hofmann, Richard

Benda, Julien

66

134-137, 141-143, 146-148, 151-154,

135, 225

Benedikt, Moriz

16,182f.

Borchardt, Rudolf 248

Brod, Max

191

Belloc, Hilaire

163, 172

Broch, Hermann

129,139

120, 129

Bekessy, Imre

Blei, Franz

Brezina, Otokar

172

Baum, Oskar

64

Brentano, Franz

49, 126, 143, 182

Batka, Richard

Blaß, Emst

221,225, 231,234

62

Bartsch, Rudolf Hans

191

Bismarck, Otto Fürst von

Breiter, Emst

Badeni, Kasimir Felix Graf 39f., 43, 46,

Bahr, Hermann

136

41, 43, 52, 61, 77, 79, 116, 203, 215,

142

Bachtin, Michail

Baxa, Karel

27-29

Böhm, Wilhelm

Austerlitz, Friedrich

Bauer, Roger

Bin Gorion, Emanuel

Bloch, Emst

191

Bach, Alfred

31f.

Binovec, Frantisek

91, 134, 173, 250

42

Bierbaum, Otto Julius

Binder, Hartmut

Alexander der Große

Aristophanes

65f.

Bielohlawek, Hermann

Adorno, Theodor W.

139

270

109

Calmon, Curt

155 146

221

250

288

Personenregister

Canetti, Elias

17-19, 25

Felsenstein, Walter

Capek, Karel

127, 197, 217-222

Filipinsky, Jan

191

Castiglioni, Camillo 195

Fischer, Heinrich

Cerny, Josef

Fischer, Emst

191

Cemy, Vaclav

191

Chargaff, Erwin

42

10

Cingr, Petr

172

Frankfurter, Richard Otto

191

August

172

145

36

Franz, Richard 114

Cohen, Hermann

99f.

Franz Joseph I., Kaiser von Österreich

236

39, 277

Conrad, Michael Georg

30f., 36

Franzei, Emil

Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus

Czakay

281

Frankl, Ritter von Hochwart, Ludwig

Claudius, Matthias

Graf

86

Forst de Battaglia, Otto

190f.

Claudel, Paul

66

Foerster, Wilhelm

Chesterton, Gilbert Keith Choc, Vaclav

116, 120, 225

66, 92

Fleischei, Egon

Cervantes, Miguel de

25

186

195

Fresl, Vaclav

191

Freud, Sigmund

112

250

Freytag, Gustav

124

Friedjung, Heinrich Darwin, Charles Robert

57, 148, 150,

153, 156

123, 129, 180f., 192

Friedlaender, Salomo (Mynona)

63,

154, 158

Davis, Gustav

43

Friedmann, M.

Dessoir, Max

60

Friedmann, Oskar

Deutsch, Emst

138

Dobrzensky, Mary

57

Frischauer, Otto

120

24, 120

186 167,

175f.

Ganz, Hugo

125

Gasbarra, Felix 183

43

George, Stefan

187f.

Dworaczek, Wilhelm

203

Gautsch, Paul

60

Dvorak, Anton

25

Fürnberg, Louis

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch

Dühring, Eugen

Gerke, Hans 128

106-108

136

Gerson, Jean de

76

Girardi, .Alexander Ebner, Ferdinand

55

Ehrenstein, Albert

63, 66, 173, 264

Eisenbach, Heinrich Eisler, Hanns

93, 139

21,23-25,52,61,69

Globke, Hans

73

93,139

167, 174, 249, 258, 259, 265

Ejchenbaum, Boris Michajlovic

Gogol, Nicolai 54, 62

Elisabeth, Kaiserin von Österreich 73

Engels, Friedrich

167

182

230, 234

Goldmann, Paul

59

Goldstücker, Eduard

Grab, Hermann

143

Ernst, Otto

31f.

Grabs, Manfred

23

Emst, Paul

65f.

Grafe, Felix

188

Gregorig, Josef 41f. Falkenhayn, Erich von Feigl, Johann

207

174

Goluchowski, Agenor Graf 40 60

42

9,11,16,

23, 56, 106, 121, 154, 159f„ 162, 164f„

196, 198, 202, 277

Ellis, Havelock

Glaser, Maria

Goethe, Johann Wolfgang von

Eisler, Rudolf 270 Eisner, Pavel

120

120

Fühmann, Franz

102

Dörfl, Gottfried (?)

Dreyfus, Alfred

262

Frischauer, Berthold

Deutsch, Otto Erich

Dollfuß, Engelbert

261

Greuter, Josef 37, 232 Grillparzer, Franz

251

289

Personenregister Großmann, Stefan

255, 261

Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig

Grosz, George

61, 203, 207, 211

Grüner, Franz

64, 68

Fürst zu

232

Hölderlin, Johann Christian Friedrich

Grünne, Philipp Graf

186f.

52,54 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich

Haas, Willy

121, 127, 135, 155, 167, 171,

226 Habermann, Gustav Hader, Franz

191

Homer

203

Haeckel, Emst

16, 82, 85, 89, 110,

172,238 Hager, Kurt

256

Hamsun, Knut

75

Harden, Maximilian

16

212

Hrüzova, Anezkä

185

Hybes, Josef

Iro, Karl

120

252

Hardeben, Otto Erich Hartung, Günter Hasek, Jaroslav

185

Jacobsenovä, Michaela

31f.

49, 89 190, 194, 199-215

Hasenclever, Walter

149

124

Jagow, Traugott von

151

Janikowski, Ludwig von

Jean Paul

61

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Heidegger, Martin Heine, Heinrich

67, 218

130f„ 134, 136, 151, 165, 221

Henckell, Karl

Jesus Christus

Joycejames

76, 78 191

197

Jünger, Emst

Kafka, Franz

Herder, Johann Gottfried

142

106

121f., 126f„ 129-138, 143,

147, 161, 167, 189,202,282

51

Kalbeck, Max

232

120

Kann, Helene

120

Herzl, Theodor

64, 126f„ 142-144, 146-157,

Kant, Immanuel

22, 54£, 60, 76, 107,

143, 145f., 154, 171

171, 175 Hilsner, Leopold

Hirdina, Karin

Karinthy, Frigyes

185

Hindenburg, Paul von

Hitler, Adolf

142

11, 79, 91, 105-118, 224

25

32

Herzog,Jakob

120

Johanis, Viktor

74, 142

23, 47, 56, 63f., 106,

Heinz, Wolfgang

120, 171

Janowitz, Otto Jaspers, Karl

179 Heartfield, John

63, 131, 237

20, 120, 171, 263, 279

Janowitz, Hans

13, 30—32, 75, 108,

197

Jacobsohn, Siegfried

Janowitz, Franz

61,63,173

Hauptmann, Gerhart

Hirsch, Julius

141

191

38, 40, 120, 128f.,

Hartei, Wilhelm Ritter von

Hiller, Kurt

268

96

Husserl, Edmund

131-134, 155, 189, 258

Hauer, Karl

127, 157

Hrabal, Bohumil

Hummer, Gustav

123, 131-133, 262

Hardt, Ludwig

205

Horkheimer, Max

Humboldt, Wilhelm von

Händel, Georg Friedrich Handl, Willi

31

120

Horajosef

59f„ 79, 126, 144f., 266

Haecker, Theodor

209

Karlweis, Carl

16, 75, 97, 99, 102 260

Hoddis, Jakob van

64

Hoffmann von Fallersleben, August Hein¬

197

Karpath, Ludwig

59

Kassner, Rudolf

142

Katz, Hermann

123

Kerr, Alfred

202

Key, Ellen

192

122

67, 86, 89, 93, 99, 116, 130,

134f„ 151, 154, 203

98

Hofmannsthal, Hugo von

137

Karl I., Kaiser von Österreich Karlach, Hanus

62, 70 120

Hlaväc, Bedfich

rich

163-165 Holz, Arno

59, 126, 147f.

Personenregister

290 Kierkegaard, Sören

Liebknecht, Karl

82, 167

Kisch, Egon Erwin

52, 121, 125f.,

Kisch, Paul

132f., 136 123

Klages, Ludwig

Klicka, Hynek

31f.

Lipps, Theodor

59

31 f., 80f., 173

120

Loewenson, Erwin

156f., 246f.

Lokesch, Arthur

191

151, 156, 269

209

233

Longen, Emil Arthur

53

Loos, Adolf 55, 58, 86, 111, 120, 136,

Klimt, Gustav Klinger, Max

Lindner, Anton

Lobkowicz, Max

142

Klemperer, Victor

81, 115

Liliencron, Detlev von

132-136, 138, 147, 231, 280

Klaar, Alfred

84, 148

Liebknecht, Sonja

Klofäc, Vaclav

238, 275

191

Klopstock, Friedrich Gottlieb

11, 75,

Loos, Victor

120

Louzil, Jaromir

106, 159 Klopstock, Robert Knepler, Georg

201

195, 217

Lublinski, Samuel

137

Ludwig, Otto

25,91

65, 142

224

Kociän, Jaroslav

188

Ludwig I., Herzog von Orleans

Koester, Eduard

82, 86

Lueger, Karl

Kokoschka, Oskar

55, 59, 68, 86

Kolochy, Anastasia

116

36f„ 39, 44, 48

Lukäcs, Georg

55, 64—67, 69, 142

Luther, Martin

Komarow, Wissarion Wissarionowitsch

76

16

Luxemburg, Rosa

15,81,115

186 Kommerell, Max

106

Kopisch, August Kraft, Werner

11,106,111

238 173

Kronawetter, Ferdinand Kubelik, Jaü

188

Kuh, Anton

138

Kulka, Georg

110 13,110,220

Manteuffel, Otto Theodor Freiherr von 148

70

Marty, Anton

114, 257, 258, 264 122

Marx, Karl

57f., 106, 139,

184

Lada, Josef 208 159, 163f.

Mautner, Eduard

36

Meinong, Alexius

239

Merian, Hans

204f., 208, 211

Leitzmann, Albert

109

63, 106

155

Lichnowsky, Mechtilde

106

141

Mittenzwei, Werner

Lessing, Gotthold Ephraim Lessing, Theodor

Meyrink, Gustav

Minor, Jakob (Junius)

Leonhard, Rudolf 86

120, 245 109

133

61

Moliere,Jean Baptiste Mommsen, Theodor

Lichtenberg, Georg Christoph

179f.

32, 54

Meyer, Richard M.

63, 67, 173

185, 191-193,

128

Mensi von Klarbach, Alfred

188

Lasker-Schüler, Else

50, 71, 271

195

Mell, Max

Langer, Frantisek

64

167, 239

Masaryk, Tomäs Garrigue

Kürnberger, Ferdinand

Lania, Leo

67

237

Marmorek, Alexander

Kuranda, Camill

Laforgue, Jules

Maillol, Aristide

Mann. Thomas

53

Kühne, Lothar

173

Mann, Heinrich 190

188

141

Mahlberg, Paul

Mandl, Otto

Kreuzig, Fritz Peter

Kühn, Paul

Maderno, Alfred

282

257

Kfenek, Ernst

56, 107

Machar, Josef Svatopluk

Kraus, Friedrich Salomo Kiaus,Jakob

Mach, Ernst

164

Montinari, Mazzino

87f. 145,232

25

Mosenthal, Salomon Hermann

36f.

291

Personenregister Müller, Ernst

120

Poläcek, Josef

Müller, Georg

66

Poläcek, Karel

Müller, Hans

120,213

Müller, Robert

Münzer, Jan

74

Myslbek, Josef

190

Popper, Leo

55, 64—70

Pospisil, Vincenc

13, 87, 196

Mussolini, Benito

121

Pollak, Viktor

197, 217

Musil, Robert

265

Pollak, Ernst

120

Muschg, Walter

237

Polgar, Alfred

120

Münz, Siegmund

220

Polänyi, Karl

263

Münz, Bernhard

132

Posse, Ernst

75

Probst, Ferdinand

187

Prohaska

Nädhemy, Sidonie von

Raabe, Paul 115,208

Radi, Enranuel

33, 37, 52, 56, 58, 91, 93,

101, 103, 108, 111, 206, 225, 237, 258 Neumann, Angelo

121, 125, 260

Neuwirth, Joseph

Nicolai, Georg Friedrich

Nordau, Max Novalis

155 203

Reimann, Paul

25, 78, 143, 148,

154, 167, 232

195, 199-202, 204

Reiner, Grete

201f., 207, 209, 280

Reinhardt, Max

59, 64

103,139

Reitler, Elisabeth

9

Remes, Antonin Renan, Ernest

Offenbach,Jacques Ögg, Franz

33,93,101

Riehl, Walter

119

Olbracht, Ivan

120 191

78 97

Rilke, Rainer Maria 200-202

Ompteda, Georg Freiherr von Ondricek, Franüsek Ostwald, Wilhelm

Panizza, Oskar

31

Rilla, Paul

188

24f.

Rimbaud, Jean Nicolas Arthur

79

Rodin, Auguste

93f.

Pantz, Ferdinand Reichsritter von Pascal, Blaise

247

151

Pedro de Arbues Peguy, Charles Pfabigan, Alfred Pfemfert, Franz Pick, Otto

Rott, Max

168

Pazi, Margarita

172 195 135, 151 f., 240

Planck, Max

13

149

Rubiner, Ludwig

63f.

Russell, Bertrand

239

Saida, F. X.

135

Salten, Felix

33, 273

Salus, Hugo

121, 128-131,133E, 167,

189 Sauer, August

191

Piscator, Erwin

Rubin, J.

54f., 69

139

37

171, 188, 196, 226, 277, 278

Pik, Ludvik

85f., 87 129

Rosenzweig, Franz 142

164

67

Rosegger, Peter

31

Pannwitz, Rudolf

126, 141, 159, 174,

196, 277

Rolland, Romain Pallenberg, Max

91,93f.

Raudnitz, Robert Wolf 167

Reimann, Hans 86

42

204

Raimund, Ferdinand

Ree, Paul

122f.

Nietzsche, Friedrich

151

Rabelais, Francois

191

Nestroy, Johann

78, 85

120, 136, 174,

193 Napoleon Bonaparte

260

190

Proust, Marcel

Nemec, Antonin

191

246

61,203

106,133

Scheerbart, Paul

173

Scheichl, Sigurd Paul

211

Platon

54

Scheler, Max

142

Plotin

54

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

54

292

Personenregister

Schelsky, Helmut

Steiner, Ludwig

142

Schiller, Friedrich

11, 16, 54, 61, 98,

105f., 159-166, 186f„ 225, 256 Schiller, Fritz

135,273

55, 57, 59f., 126—130, 136,

141-158, 171, 260 Steinschneider

272

Schlaf, Johannes

Steiner, Max

112

Stern, Joseph Peter

31

214

Schlegel, Friedrich

127, 157

Stemberg, Adalbert Graf

Schlenstedt, Dieter

132

Sterne, Laurence

Schloemp, Felix

Stifter, Adalbert

209

Schneider, Ernst

Schneider, Ferdinand Josef Schober, Johannes Schönauer, Emil

106

63, 65f„ 68, 157 54

Strindberg, August

120 55, 59, 68f., 86, 238

Schönerer, Georg von Schönherr, Karl

Stoessl, Otto

145

Strauß, Ludwig

97

Schönberg, Arnold

44-46

226 60, 127, 143, 146,

154f.

Strobel, August

133

109

190

Stumpf, Carl

239

Schulhoff, Erwin

86

Suse, Theodor

Schütz, Friedrich

59, 120f.

Sveceny, Antonin

Schwadron, Abraham Schwarzkopf, Gustav

157, 227 34

134,195

Strzygowski, Josef 59 Stukart, Moriz

Sehnal, Vaclav

57,173

Strobach,Josef 41

Strobl, Karl Hans

Schopenhauer, Arthur

Schüddekopf, Carl

17,106,213

Stöcker, Adolf

36f.

128

Swift, Jonathan

191

29, 137, 197

Szegeda, Wilhelm

202

191

Seidl, Walter 277

Tacitus

Seitz, Karl

Taaffe, Eduard Graf

84

Sello, Heinrich

128

Semer, Walter

63,120

Shakespeare, William

Siebenschein, Hugo Simmel, Georg

75

119,278

153

Singer, Emanuel Singer, Mendel

120

Singer, Wilhelm

Skoumal, Aloys

120 62

197 213 191

Tschuppik, Karl

120

Tucholsky, Kurt

201f.

41

Einruh, Fritz von

195, 217

Sommer, Emst

155

124, 159

Tynjanov, Jurij Nikolaevic

76, 78

Solle, Zdenek

191

55

Twain, Mark

Sobotka, Antonin

11,65,111,227

Tomäsek, Frantisek

Trost, Pavel

Smetana, Bedrich

255

Timms, Edward

Trebitsch, Arthur

Sklovskij, Viktor Borisovic

131

Thun, Franz Graf 44

Trakl, Georg

246

121, 123

Thorsch, Alexander

Tillier, Claude

151,153

259

96

Teweles, Heinrich 52

95, 167, 225, 241

Shaw, George Bernard Sheppard, Richard

98

Teufel, Oskar

Seume, Johann Gottfried

Sokrates

191

42, 197

LTrzidil, Johannes

62, 69

89 121, 143

120

Spann, Othmar

142

Valentin, Karl

Specht, Richard

129

Vauvenargues, Luc de Clapiers, Marquis

Spinoza, Baruch de Spitzer, Daniel

76

de

37-40, 43, 45-47, 52,

106, 122f., 181f. Stefan, Paul (Grünfeld)

80

Veith, Marcell und Mizzi Vergani, Emst

255

93

Vergil

16

36f.

261

293

Personenregister Verulam, Baco von Viertel, Berthold Vigny, Alfred de

80, 255

Volkelt, Johannes Vollmann, Rolf Voltaire

149

55, 63, 173, 272

59

Wieland, Christoph Martin Wilde, Oscar

106

56

Wildgans, Anton

876

Wilhelm 16, deutscher Kaiser

111

Wilson, Woodrow

76f.

Winder, Ludwig

225, 264, 277

Vrchlicky, Jaroslav

187f.

Wagner, Hermann

246

Wittels, Fritz

Waiden, Herwarth

152, 264

Wittgenstein, Ludwig

Winter, Leo

191

Witt, Johan und Cornelis de

Waldner, Viktor

247

Waldstein, Max

Wedekind, Frank

66

316,110,121,128,

170, 173 36f.

Weinberger, Charles Weininger, Otto

55-57, 59f., 106, 126,

Wolff, Kurt

106

270

Wunberg, Gotthart

57

Zagorski, Stanislaus von

Zepler, Georg

190

1516

Weiß, Richard

62-65, 676

Zifferer, Paul

Weltsch, Felix

131, 135, 142, 158, 225

Zimmermann, Fred

Werfel, Franz

64, 103, 121, 1296, 136,

141, 159-177, 189, 226, 258, 277

Wiegier, Paul

94, 96, 120

153, 159, 276

Wolfskehl, Karl

Zeller, Friederike

200

Wertheimer, Paul

55, 576, 68, 142,

188, 250

144, 1476, 155 Weiskopf, F. C.

Wolf, Karl Hermann

Wolker, Jiri

Weilen, Alexander

76

57,61,66,131

239

36, 230

Wassermann,Jakob

45

85

31

123, 131-133

Zola, Emile

112,1196

Zumbusch, Kaspar Zweig, Stefan

91

76 187

128, 134

207

CARR MCLEAN