Justiz und Steuerumgehung: Ein kritischer Vergleich der Haltung der Dritten Gewalt zu kreativer steuerlicher Gestaltung in Großbritannien und Deutschland [1 ed.] 9783428480265, 9783428080267

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Justiz und Steuerumgehung: Ein kritischer Vergleich der Haltung der Dritten Gewalt zu kreativer steuerlicher Gestaltung in Großbritannien und Deutschland [1 ed.]
 9783428480265, 9783428080267

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Schriften zum Steuerrecht

Band 48

Justiz und Steuerumgehung Ein kritischer Vergleich der Haltung der Dritten Gewalt zu kreativer steuerlicher Gestaltung in Großbritannien und Deutschland Von

Karsten Nevermann

Duncker & Humblot · Berlin

KARSTEN NEVERMANN

Justiz und Steuerumgehung

Schriften zum Steuerrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Joachim Lang und Prof. Dr. Jens Peter Meincke

Band 48

Justiz und Steuerumgehung Ein kritischer Vergleich der Haltung der Dritten Gewalt zu kreativer steuerlicher Gestaltung in Großbritannien und Deutschland

Von

Dr. Karsten Nevermann Richter am Amtsgericht Hamburg

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Nevermann, Karsten:

Justiz und Steuerumgehung : ein kritischer Vergleich der Haltung der Dritten Gewalt zu kreativer steuerlicher Gestaltung in Grossbritannien und Deutschland / von Karsten Nevermann. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Steuerrecht; Bd. 48) Zug!.: Hamburg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08026-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 3-428-08026-2

Meiner Frau

Vorbemerkung Diese Arbeit wurde im Jahre 1993 vom Fachbereich Rechtswissenschaft 11 (Refomlierte Juristenausbildung) der Universität Hamburg als Dissertation angenonmlen. Ihr Ziel ist es, die Rolle der Dritten Gewalt in der steuerrechtlichen Auseinandersetzung näher zu beleuchten. Dazu habe ich mich auf einen Bereich konzentriert, in dem das Recht auf besondere Art herausgefordert wird, nämlich wo kreative rechtliche GestaltUllgen die Ziele des Gesetzgebers zu vereiteln drohen. Derartige Fragestellungen, bei denen es nicht um rechtliche Details zu konkreten, eng umrissenen Problemen, sondern um richterliche Grundhaltungen geht, leben vom Vergleich. Deshalb sollte die Betrachtung nicht auf das nationale deutsche Rechtssystem beschränkt bleibeIl. Die Wahl Großbritalmiens als Kontrast, durch welchen auch die in Deutschland bestehenden Eigentümlichkeiten besser hervortreten, beruht darauf, daß das britische Rechtssystem so ganz anders zu sein scheint als das unsrige; das ließ mich auf stärkere Unterschiede und klarere Ergebnisse hoffen als bei einem Vergleich etwa mit Frankreich oder Österreich. Mitentscheidend waren aber auch ganz persönliche Präferenzen: Im Jahre 1989 erhielt ich durch ein Stipendium des British Council die Gelegenheit, das britische Rechtssystem an der Universität, in Anwaltskanzleien und bei Gericht für sechs Monate kennenzulernen, wodurch wichtige fachliche Grundlagen für diese Arbeit gelegt wurden. Es ist hier der Ort, all denen, die zu dem seinerzeitigen Programm mit viel Engagement beigetragen haben, zu danken, besonders Dr. Kenneth Reid von der Universität Edinburgh, Mr. Gordon Davidson WS, Solicitor, Mr. James Drummond Young QC, Advocate, und Herrn Professor David Edward QC. jetzt Richter am Europäischen Gerichtshof Erster Instanz. Luxemburg. Großen Dank schulde ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Rainer Walz LLM, vom Fachbereich Rechtswissenschaft 11 der Universität Hamburg. Sein Buch "Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, Grundlinien einer relativ autonomen Steuerrechtsdogmatik" hat mir geholfen, eine ganz neue Perspektive des Steuerrechts zu gewinnen und so die für diese Arbeit entscheidenden Fragen überhaupt erst stellen zu können. Seine fortwährenden begleitenden Anregungen haben entscheidend zur Entwicklung der in dieser Arbeit vorgetragenen Gedanken beigetragen. Als Glück für mich erwies sich, daß ich in den Jahren 1991 und 1992 die Möglichkeit erhielt, an einem Forschungsprojekt am Centre Jor Socio-Legal Studie.I·, Wolfson College, der Universität Oxford mitzuarbeiten, in welchem die Grenzen des Rechts und rechtlicher Kontrolle am Beispiel des Steuerrechts und des Bilanzrechts mit empirischen Methoden näher untersucht wurden.

8

Vorbemerkung

Mein besonderer Dank gilt Dr. Doreen McBarnet, Senior Lecturer am Centre for Socio-Legal Studie,I', die mir in Oxford viele Wege ebnete und in zahlreichen Gesprächen eine "law in action"-Perspektive vennittelte, Zu großem Dank verpflichtet bin ich auch Mr. Donald Harris, seinerzeitiger Direktor des Centre, und Sir Raymond Hoffenberg, seinerzeitiger Präsident des Wolj:wn College, Beide haben sich sehr darum bemüht, daß ich als Visiting Scholar am Wolfson College alle Vorzüge, die die Universität ihren Gästen zu bieten hat, genießen konnte. Ich danke auch Mr. Edwin Simpson, Barrister und Lecturer am Christ Church College, der mir auf meine steuerrechtlichen Fragen immer bereitwillig kompetente Auskunft gab, und der Anglo-German Foundation, die durch ihre finanzielle Unterstützung erheblich zu dem Gelingen meines Aufenthalts in Oxford beigetragen hat. Schließlich danke ich den Herren Professoren Dr. Joachim Lang und Dr. Jens Peter Meincke von der Universität zu Köln, die sich bereit erklärt haben, meine Arbeit in ihrer steuerrechtlichen Reihe erscheinen zu lassen, und dem Präsidenten des Amtsgerichts Hamburg, der mich als Richter trotz angespannter Personal situation zur Anfertigung dieser Arbeit beurlaubte. Meine Frau. Lone Gerlach MA. hat sich bei der Durchsicht dieser Arbeit sehr verdient gemacht. Auch im übrigen mußte sie einen großen Teil der damit verbundenen Last mittragen, Deshalb -und nicht nur deshalb- ist ihr dieses Buch gewidmet. Soviel mir die Unterstützung anderer auch geholfen hat. für die vielleicht großen Irrtümer. die mir unterlaufen sein mögen. trage ich allein die Verantwortung. Hamburg. im November 1993

Karsten Nevermann

Inhaltsverzeichnis Einleitung

........ 23

I. Zur Ausgangsfrage ................................................................................. 23 11. Standortbestimmung ............................................................................... 25 III. Zum rechtsvergleichenden Grundansatz ........................................................ 26 IV. Die historische Perspektive ....................................................................... 27 V. Schwerpunkt: Oberste (Steuer-)Gerichte ....................................................... 29 VI. Wissenschaft und Schrifttum ..................................................................... 31 VII. Methodenlehre, Fallvergleich, Gesetzesauslegung ........ ........................ ........... 35 I. Die Technik des Fallvergleichs ............................................... .. .. .. .......... 38

2. Statutory Interpretation ................................................. .. ...................... 39 3. Zur Auslegung britischer Steuergesetze ............................ .... .... . ....... . ....... 43 4. Case Law im britischen Steuerrecht ......................................................... 43 VIII. Form und Substanz als Vergleichsmaßstab ............. ........... .. .......... .. ...... .. ...... 44 IX. Zur Präsentation des Materials ................................................................... 45 A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext ...................................................... 47 I. Sprachgebrauch/Definitionen ..................................................................... 49 11. Erscheinungsformen und Auswirkungen ....................................................... 51 1. Zur Entwicklung von Steuerumgehung in Großbritannien unter besonderer Berücksichtigung direkter Steuern .............................................................. 52 a) Ausgangslage: Zur Entwicklung der Einkommensteuer ............................. 52 b) Die Entstehungsbedingungen "moderner" Steuerumgehung ........................ 54 c) Erste Umgehungsgestaltungen ............................................................ 54 d) Zum Beitrag der Justiz ..................................................................... 56 e) Steuerumgehung in den vierziger bis sechziger Jahren .............................. 58 t) Steuerumgehung und die Veränderungen der sechzig er und siebziger Jahre .... 61

g) Der Umschwung in den achtziger Jahren und die Gegenwart ...................... 67 2. Vergleichende Gesichtspunkte zur Entwicklung von "Steuerumgehung" in Deutschland ...................................................................................... 69

10

Inhaltsverzeichnis a) Die unterschiedliche Ausgangslage in Deutschland ................................... 69 b) Steuerumgehungen werden zum Problem ....................... ........................ 69 c) Der Weg zur entscheidenden Weichenstellung ....... ................................. 72 d) Zur weiteren Entwicklung ................................ ................................. 73 3. Zwischenergebnis ............................................................................... 74 III. Bekämpfungsstrategien und ihre Konsequenzen .............................................. 75 l. Die Möglichkeiten der Umgehungsbekämpfung .......................................... 76

a) Interpretation der bestehenden Gesetze .................................................. 76 b) Rückgriff auf externe Rechtsinstitute .............. .. .................. .. ................ 76 c) Steuerliche Generalklausel ....................................... .. ....... .. ............... 77 d) Erlaß spezieller Anti-Umgehungsgesetze ............................................... 77

cl Spezielle Ermächtigung der Verwaltung ................................................ 78 2. Praktische Konsequenzen ...................................................................... 79 3. Der Grundwertekont1ikt: Rechtsstaat v Gerechtigkeit.. .................................. 82 IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht.. ........................................... 84 l. Steuerumgehung als Ursache von Rechtsentwicklungen ................................ 85

2. Die Rolle des Beraterstandes .................................................................. 89 3. "Fmud insurance" : Die Aushebelung des Steuerstrafrechts ................. . ........... 92 a) "Non-disclosing disclosure" .................. ............................................. 94 b) "Innocent error" ............................................................................. 95 c) "Legal opinions" ............................................................................. 96 d) "Fraud insurance" in Deutschland ...................... .... .. .... .. .... ................. 97 4. Berater und die Anziehungskraft von Formalismus .............................. . ....... 97 a) Rechtliche Formen als Schwäche und Stärke des Rechts .......... . ... . ............. 98 b) Exkurs: Aspekte von Form und Substanz ...................................... . ....... 99 aal Formale und substantielle Begründungen .......................................... 99 bb) Form und Substanz als unverziehtbare Bestandteile jeden Rechts ........... 100 ce) Form und Substanz als Maßstab zum Vergleich zweier Rechtssysteme .... 102 c) Therapie durch Aufwertung substantieller Argumentation? ........................ 104 5. Überleitung zu den folgenden Teilen ................................... . ................... 108 B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung ................................................ 109 1. Der "traditionelle" Ansatz ....................................................................... 111 I. Ayrshire ................. . ........................ .... ............................................ 112

Inhaltsverzeichnis

II

2. Die "Westminster dorm'ne" .......................................... .. ...................... 116 a) Der Ausgangsfall .................... ................................ ............. ......... 116 b) Die Begrundungen der Richter ........................................................... I 18 c) Kritische Schlußfolgerungen ............................................................. 120 d) Die Auswirkungen der Entscheidung ..................................... .. ............ 123 3. Die "silam doctrine" ........................................................................... 127 4. Exkurs: WestmillSter im Kontrast zu Gregory v Helvering oder zur WeichensteIlung in den USA ............................................................................... 128 H. Von Westminster

ZU

Plummer ................................ . ............... ................... 133

I. IRC v Mallaby-Deeley ......................................................................... 134

2 Die Rechtsprechung im Zweiten Weltkrieg: "Feuerprobe" rur Westminster ........ 136 3. "Form over Substance": Ein Mythos entsteht ............................................ 140 a) IRC v Ayrshire Employers Mutual Associarion ud. .................................. 141 b) Weitere Entscheidungen ................ .. .. .. .. .. ...... .. ..... .. .. .. ........ .. .. .. ........ 142 c)

Lord Vestey's Ererutors v IRe ........................................ .. ................. 145

d) Die Vestey-Entscheidung als Paradigma ............................................... 149 4. Das goldene Zeitalter des Steuersparers ................................................... 149 a) Formalismus auch gegen den Steuerzahler ............................................ 150 b) Pot/'s Eterutors I' IRC: Formalismus als Grundlage gelungener Steucrplanung ........................................................................................... 152 c) Auswirkungen des Formalismus auf die Gesetzgebung ............................. 156 d) Griffiths (/nspertor

0/ Taxes) I' J.P.Harrison

(Watford), ud ....................... 157

5. Ein Mythos wird verteidigt.. ................................................................. 159 a) Beispiele substantiellerer Entscheidungen: Bares v IRe, Luke v IRC, IRe l' Parker ................................................................................ 160 b) C/lSIOmS alld Ercise Comrs v Top Tell Promotiolls ud.......... .. .................. 165 aal Lord Justice Diplocks "ratiollal basis ofthe Un" ................... .. ........... 165 bb) Die Aufnahme der Diplockschen Theorie ....................... .. ............... 167 c) Stärkere Berucksichtigung wirtschaftlicher Aspekte ................................. 169 d) Formale Rechtsanwendung in den 70er Jahren und der Keim des "lIew approach" ............... ..................................................................... 171 III. Das "Ramsay prillciple": Ein neuer Manstab rur Steuerumgehungen ................... 179 I. Ramsay und Rawlillg .................. .. .. .... ................................................ 180

a) Lord Wil berforce .............. . ... . ....... .... . ....... . ............... . .................... 182 b) Lord Fraser ..................................... .. .. .. .............................. .. ....... 185

Inhaltsverzeichnis

12

c) Das Schrifttum .................................................................... .. ....... 186 2. Burmah Oil. ................. . ................................................................... 187

a) Lord Fraser ................................... .... .... ....................................... 188 b) Lord Diplock ..................................................................... . .......... 188 c) Lord Scarman .................................................................... .... . ...... 189 d) Das Schrifttum .............................................................................. 189 3. Fumiss \. Dawsoll ........................................................................ ...... 190 a) Zum Sachverhalt von Dawsoll ........................... .. .. .. ...... .. .. .. ... .. .. .. ..... 190 h) Die Begründungen der Richter ........... . ... ............................................ 191 aa) Lord Brightman ........................................................................ 191 bb) Lord Roskill ............................................ . .................... . .......... 193 ce) Lord Bridge of Harwich ....... .... ........................................ . .......... 194 dd) Lord Scarman ............................... .................................... . ...... 194 ce) Lord Fraser .................................................................. . .......... 195 c)

Einige Reaktionen im Schrifttum .............................................. . ......... 195

d) Aspekte von Dawsoll .................................. .. .................................. 198 4. Cravell \. White .................................................. .... ........ .... ............... 201

a) Die Sachverhalte ........................................................ . ... . ............... 202 aal Cravell ............................................ ....................................... 202 hh) Baylis ........................ . ............... ................................ ........... 202 ce) Bowaler ................................................. .. .... ............ .............. 202 h) Der ausschlaggehende Gesichtspunkt. .................................. .. .............. 203 c) Die Voten der Mehrheit ................................................................... 203 aal Lord Oliver 01' Aylmerton .................... .. .......... .. .......... .. .............. 203 hh) Lord Keith und Lord Jauncey ....................................................... 208 d) Die "disselllillg judgmellls" .............. .. .. .. ......... .. ....... .. ...... .. ...... .. ....... 208 aal Lord Templeman ....................... ........................ . ... .................... 209 bb) Lord Goff ........................................... .... ............................... 210 e) Aus den Stellungnahmen zu Cravell \' Wllite ................................. .. ....... 211 t) Eigene Stellungnahme.............................................

. .. .. ...... 214

5. Der "lieH' approa,h" als neuer Maßstab ....... ...... .. ................................... 216 a) Weitere Fälle ................................................................................ 217

aal Ellsigll Tallkers (Leasillg) LId. \. Stokes (Illsperror (!f'Taxes) ..... .. ........... 217 bb) Illgram v IRC. ..........................................................................217

Inhaltsverzeichnis

13

ce) CUSlOms and Exeise Comrs v Failh Conslruclion ud ........................... 218

dd) Bird v IRC ...................................................... .. .. .. .................. 218 ee) SherdLey v SherdLey .................................................................... 218 ff) Reed v Young ............................................................................ 21 9

gg) Reed v Nova Securilies ud.; Coares v Amdale Properries ud............... 219 hh) Moodie v IRC .......................................................................... 220 ii) Shepherd v Lyntress .................................................................... 220 ,Ü) Filzwilliam (Countess) v IRC ............... .. ......................................... 221

b) Folgerungen ................................................................................. 221 C. Steuerumgehung und -venneidung in der deutschen Rechtsprechung ........... .. ............. 223 I. Einleitung ........................................................................................... 223

11. Der Einzug substantieller Argumentation in die steuerliche Rechtsanwendung in Deutschland ......................................................................................... 224 I. Die veränderte Grundhaltung der Steuerrechtsprechung ............................... 225 2. Die gesetzlichen Grundlagen für eine aktive Rolle des RFH bei der Umgehungsbekämpfung .............................................................................. 227 a) Die Konzeption von § 4 RAO als Programm für eine substantielle Rechtsanwendung ................................................................................... 227 aal Die substantielle Prägung von § 4 RAO ........................................... 228 bb) Fonnale Begrenzungsmöglichkeiten ............................................... 228 ce) Das § 4 RAO zugrundeliegende Konzept ........................................ 229 dd) Anwendung der Maßstäbe von Atiyah/Summers ........ .. .. .. .................. 231 ee) Der programmatische Charakter von § 4 RAO .................................. 232 b) Der gesetzliche Ansatz in § 5 RAO: Zwiespalt zwischen Form und Inhalt ..... 232 aal Grundkonzeption und Funktion ..................................................... 232 bb) § 5 RAO an den Maßstäben von Atiyah/Summers ............................. 233 cl Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen .......................... .. ............. 234 3. Grundelemente der RFH-Rechtsprechung in der Praxis ............................... 235 4. Aspekte von Form und Substanz in Entscheidungen des RFH ........................ 238 a) Zur Ablehnung der GmbH & Co KG: RFHE 21. 92.. .............................. 239 aal Zur rechtlichen Argumentation des RFH .......................................... 239 bb) Das Form/Substanz-Verhältnis in der Argumentation .......................... 240 ce) Der Einfluß substantieller Argumentation ......................................... 241 b) Verdeckte Gewinnausschüttungen bei Umsatzvergütungen: RFHE 21. 275 .... 242

Inhaltsverzeichnis

14

aal Zu Sachverhalt und EntscheidungsglÜnden ....................................... 242 bb) Die Wechselwirkungen der Argumentationstypen .............................. 243 ce) Das "Gewicht" der Argumentationstypen ......................................... 243 dd) Parallele Argumentationsmöglichkeit aus § 5 RAO ............................. 244 c) Gesellschafterdarlehen als verstecktes Stammkapital:RFHE 34. 194 ............. 244 aa) Zu Sachverhalt und EntscheidungsglÜnden ....................................... 244 bb) Die substantiellen und formalen Grundlagen der Entscheidung .............. 245 ce) Die drei wesentlichen Aspekte der Entscheidung ................................ 245 d) Unbeachtliche Zwischenschaltung einer Gesellschaft: RFH vom 10.1.1935. RStBI. 1935. 148 ........................................................................... 246 e) "Dividend stripping" vor dem RFH: E 36. 303 vom 11. 7.1934 ........ .. ........ 246 aal Sachverhalt und EntscheidungsglÜnde ........................ ..................... 247 bb) Form und Substanz in der Argumentation des RFH ............................ 247 5. Zwischenergebnis .......................................................................... 248 6. Exkurs: Substantielle Argumentation - Ursache nationalsozialistischer Au~wüchse im Steuerrecht? ....................................................................... 250 111. Die Neubesinnung auf eine formalere Rechtsanwendung .... .. .. .. ....... ... .. .... ........ 253 I. Zeichen des Umbruchs ..................................................... .. ........ ......... 255 a) Das Pfennig-Urteil des OFH .................................................... ......... 255 b) Bundestinanzhof vom 22.8.1951 zu Familiengesellschaften ....................... 256 c) Einschränkung der typisierenden Betrachtungsweise ....................... ......... 258 d) ßFH vom 3.6.1953 zum "verdeckten Eigenkapital ..................... .............. 259 2. Der zeitweilige Niedergang der wirtschaftlichen Betrachtungsweise

260

3. Konsequenzen für steuerliche Kreativität

262

a)

~!~~:~~~~g~~~l.~I.l~ .~~I.l~. ~~~t.~~~~.~ ~'. ~.I~..~~i.s.~~~.I. ~.~ .~il.l~ .I~t~n.t. ~~ ~.st.ant~~.I~~.. 262

b) Das negative Kapitalkonto des Kommanditisten: BFH

VOIll

13.3.1964 .......... 264

IV. Aspekte von Form und Substanz in der heutigen Rechtsprechung des Bundeslinanzhofs zu kreativer Gestaltung .................................... ~ ........................ 266 I. Die Verbindung wirtschaftlicher Betrachtungsweise mit teleologischer Ausle-

gung .............................................................................................. 266 2. Die transformierte Generalklausel ............................................... ... .. ...... 274 a) Die ratio der Generalklausel nach der Rechtsprechung ..... . ....................... 274 b) Zur Dogmatik des § 42 AO .................................................. . ........... 277 aal Grundlegendes .................................................................. . ....... 277 bb) Zu den Tatbestandsvoraussetzungen der Generalklausel.. ..................... 279

Inhaltsverzeichnis

15

(I) Zweckgerichtete Konkretisierung der Tathestandsmerkmale ............... 279

(2) Zusätzliche Wertungen im Mißbrauchsbegriff. ....................... ....... 280 (a) Absicht. ............................................... .... . ........... ............ 280 (b) Unangemessene Gestaltung ................................................... 281 (3) Die Feststellung der "Umgehung": Einfallstor rur die Wertungen des umgangenen Steuergesetzes ...................................................... 283 c) Das Potential der Generalklausel rur formale und substantielle Argumentation .... 284 V. Flucht in den Gesetzespositivismus? ....... . ............................... . ................... 285 D. Vergleich Großbritannien/Deutschland ............................................ .... .... .... ....... 290 I. Die Entwicklung der Rechtsprechung in bei den Ländern ................................. 290

I. Die unterschiedlichen Grundansätze ........................................................290 2. Kontrastierende Fälle ...................................................... . ................... 293 3. Die Umbrüche im gesellschaftlichen Kontext ............................................ 295

III. Weitere Ursachen von "literalism" im Vergleich zur Situation in Deutschland ........ 305 l. Gerichtliches Rollenverständnis: "self-restraint" ................................ .. ....... 306

2. Mangelnde Spezialisierung ................................................................... 307 3. "Drafting style ............................................................... . ................... 307 IV. "Newapproach" und Generalklausel: Ein Blick auf die Kriterien ....................... 311 l. (Un-)Angemessenheit der Gestaltung und "legitimate commercial purpose" ....... 312

2. Die Willensrichtung des Steuerpflichtigen ................................................ 313 3. Ungeschriebene Zusatzerwägungen und moralische Dimension? .................... 314 V. Steuerumgehung und die Anziehungskraft von Formalismus ............................ 315 l. "Creative compliance" und substantielle Argumentation ............................... 317

2. Das Beispiel des "/lew approarh ...... .. ............................... .. .......... .. ........ 31 8 3. Beispiele aus Deutschland ...................................... .................... . ... . ..... 320 4. Gemeinsame Grundstrukturen und Mechanismen ....................................... 323 E. Zusammenfassung ..................... . .................................................................. 325 I. Problem ...................................... .. ...................................................... 325

11. Fragestellung ........................ . ....... . ....... ..................................... . ......... 326 III. Maßstab und Methode ............................................................................ 326

Inhaltsverzeichnis

16

IV. Befund ................................................................................. .............. 326

V. Ursachen .............................................. ......................... . .. . ................. 327 VI. Folgcrungcn ........................................................................................ 328 Vcr.leichnis dcr zitierten britischen Fälle .................................................................. 331 Vcr.lcichnis der zitierten US-Fälle .......................................................................... 336 LitcraturvcrJ:cichnis

............................................................................ .... . ....... 337

Abkürzungsverzeichnis A.

Abschnitt

a.a.O.

am angegebenen Orte

AC

Appeal Cases

ACT

Advance Corporation Tax

a.F.

alter Fassung

All ER

All England Law Reports

AO

Abgabenordnung

Art.

Artikel

ass.

assistant

ass. ed.

assistant editor

Aufl.

Auflage

Aug.

August

BB

Betriebsberater

Bd.

Band

betr.

betrifft / betreffend

BFH

Bundesfinanzhof

BFHE

Entscheidungen des Bundesfinanzhofs

BFHlNV

Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs

BJS

British Journal of Sociology

Bros.

Brothers

BStBl.

Bundessteuerblatt

BT

Bundestag

BTR

British Tax Review

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

bzgl.

bezüglich

CA

Court of Appeal

ca.

circa

CGT

Capital Gains Tax

CGTA

Capital Gains Tax Act

Ch

Law Reports Chancery Division

CU

Cambridge Law Journal

CLP

Current Legal Problems

Co.

company

Co. Rep.

Coke (King's Bencll Law Reports 1572-1616)

col.

column

Com.

committee: commission

2

~evennann

Abkürzungsverzeichnis

18

Comrs

Commissioners

Conv .

Conveyancer and Property Lawyer

CS

Court of Session

CT&EPQ

Capital Taxes and Estate Planning Quarterly

CTT

Capital Transfer Tax

DB

Der Betrieb

Deb.

Debate

Dec.

December

ders.

derselbe

dies.

dieselben

Diss

Dissertation

DRIZ

Deutsche Richterzeitung

Drucks.

Drucksache

DStR

Deutsches Steuerrecht

DStZ

Deutsche Steuer-Zeitung

Dtsch. Jur. Ztg .

Deutsche Juristen-Zeitung

DVR

Deutsche Verkehrssteuer Rundschau

E.

England

E. & I. App.

English and Irish Appeals

ed.

edition. editor

ESt

Einkommensteuer

EStG

Einkommensteuergesetz

EStR

Einkommensteuerriclltlinien

ex p

ex parte (auf Antrag

f.

folgende Seite

VOlL .. )

F.2d

Federal Reporter. Second Series

FA

Fill3llCe Act / Finanzamt

ff.

folgende Seiten

FG

Festgabe / Finanzgericht

FinMin

Finanzminister

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

F.S .

Fiscal Studies

FY

Financial Year

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GrEStG

Grunderwerbssteuergesetz

HarvLRev .

Harvard Law Review

HC

House of COinmons

HL

House of Lords

Hrsg.

Herausgeber

ICLQ

International and Comparative Law Quarterly

ICTA

Income and CorporatiOiI Taxes Act

IEA

Institute of Economic Affairs

Abkünungsveneichnis IHT

lnheritance Tax

USL

International Journal of the Sociology of Law

in re

in rerum (in Sachen)

IPR

Internationales Privatrecht

IRC

Inland Revenue Commissioners Judge (High Court)

JbFSt

Jahrbuch der Fachanwälte rur Steuerrecht

JLS JSPTL JW

Journal of Law and Society

KapErStG 1961

Gesetz über steuerrechtliche Maßnahmen bei Erhöhung des Nennkapitals

Journal of the Society of Public Teachers of Law Juristische Wochenschrift aus Gesellschaftsmitteln und bei Überlassung von eigenen Anteilen an Arbeitnehmer

KB

King' s Bench

KC

King' s Counsel

KG

Kommanditgesellschaft

KStG

Körperschaftssteuergesetz

LAWCOM.

Law Commission

L.C.

Lord Chancellor

Lfg. U LQR L.R.

Lieferung

LSG LT Ltd. L&T Rev.

Lord Justice of Appeal Law Quarterly Review Law Reports First Series, 1865-heute Law Society's Gazette Law Times limited company Law and Tax Review

M

Mark

Mass.

Massachusetts

m.E.

meines Erachtens

MLR

Modem Law Review

Moo. P.C.C.

Moore. E.F .. Privy Council Cases, 1836-1862

M.R.

Master of the RoUs

Mrd.

Milliarden

m. wt. Nachw.

mit weiteren Nachweisen

NE

North Eastern Reporter (USA, Ist. Series)

n.F.

neue Fassung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

No.

number

Nov.

November

Nr.

Nummer

NW

Nordrhein-Westfalen

Oct.

October

2"

19

20

Abkürzungsverzeichnis

OECD

Organisation For Economic Cooperation And Development

OFH

Oberster Finanzgerichtshof

OJU;

Oxford Journal of Legal Studies

p.a.

pro anno

PAYE

Pay-as-you-earn

pie

public limited company

QB

Queen' s Bench

QC

Queen's Counsel

RabelsZ

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RAO

Reichsabgabenordnung

Rcv.

Revenue

RFH

Reichsfinanzhof

RFHE

Entscheidungen des Reichsfinanzhofs

RGBI.

Reichsgesetzblatt

RGZ

Entscheidunungen des Reichsgerichts in

RIW

Recht der Internationalen Wirtschaft

RM

Reichsmark

Zivilsachen

RN RStBI.

Randnummer Reichssteuerblatt

RZ

Randziffer

s.

Seite

s.

section

sc

Session Cases

Sc.

Scotland

Sch

Schedule

SCOT. LA W COM. Scottish Law Commission sec.

section

s.o.

siehe oben

Sp.

Spalte

StAnpG

Steueranpassungsgesetz

StBJb

Steuerberaterjahrbuch

STC

Simon's Tax Cases

Std.

Stand

StRK

Steuerrechtskartei

StuW

Steuer und Wirtschaft

sub-so

subsection

Tax Cas.

Tax Ca ses (in Zitaten)

TC

Tax Ca ses

TZ

Textziffer

u.a.

unter anderem I und andere

UChiLRev

University of Chicago Law Review

UK

United Kingdom

Abkürzungsverzeichnis UPennLRev.

University of Pennsylvania Law Review

US

United States Supreme Court Reporter

USt

Umsatzsteuer

v

versus

v.

vom / von

VAT

Value Added Tax

VGA

Verdeckte Gewinnausschüttung

vgl.

vergleiche

Vol.

Volume

WLR

Weekly Law Reports

z.B.

Zum Beispiel

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht

z.T.

zum Teil

und Wirtschaftsrecht

21

Einleitung I. Zur Ausgangsfrage Diejenigen, welche zur Steuer herangezogen werden, werden in der deutschen Rechtssprache als "Steuerpflichtige" bezeichnet. Ein Steuerpflichtiger ist jemand, der steuerlichen Pflichten unterliegt. Wer Verpflichtungen hat, muJ3 sie nicht nur erfüllen, sondem muß die Erfüllung im Zweifel auch noch nachweisen. Eine Pflicht ist das Gegenstück zu einem Recht, und Leute finden es in der Regel angenehmer, berechtigt als verpflichtet zu sein. Niemand kann sich sehr in der Rolle eines Steuerpflichtigen gefallen. Steuerzahler dagegen sind Leute, die etwas für die Allgemeinheit tun. Sie sind berechtigt zu wissen. warum sie überhaupt etwas zahlen sollen und was mit dem von ihnen "sauer erarbeiteten" oder sonstwie erworbenen Geld gemacht wird. Wird es in eine ausufemde Bürokratie gesteckt. die viel kostet und wenig leistet, so sind Steuerzahler bestens dazu legitimiert. einen solchen Zustand anzuprangem und auf Abhilfe zu drängen. Eine deutsche Organisation. die sich auf derartige Problemstellungen konzentriert. nelmt sich "Bund der Steuerzahler". Es ist angenehmer. ein Steuerzahler zu sein als ein Steuerpflichtiger. In der englischen Rechtssprache heißen diejenigen. an die die Finanzverwaltung ihre Steuerbescheide adressiert. "taxpayer". also "Steuerzahler". Sprache funktioniert zwar nicht so. daß für jedes Wort eines mit genau gleicher Bedeutung in einer anderen Sprache existiert. aber es ist schon so. daß auch beim britischen "taxpayer" die gleiche unterschwellige Bedeutung mitschwingt wie beim deutschen "Steuerzahler": Er ist eigentlich ein Berechtigter und kein Verpflichteter. Daß nun die britische Rechtssprache gerade diesen Ausdruck gewählt hat. um Personen in ihrem oft schwierigen Verhältnis zu den Finanzbehörden zu bezeichnen. während das deutsche Steuerrecht die gleichen Leute als "Steuerpflichtige" betrachtet. kann natürlich auf einem reinen Zufall beruhen. in den nicht viel hineininterpretiert zu werden braucht. Auch wenn es aber ein Zufall ist -und nicht doch mehr dahintersteckt- eignet er sich gut. um die vorherrschenden Einstellungen in beiden Ländem zu illustrieren. In dieser Arbeit sollen derartige. das Recht prägende und GrundeinsteIlungen entlarvende Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland betrachtet werden. Das Oberthema lautet "Justiz und Steuerumgehung" . Damit wird ausgedrückt. daß einerseits ein Schwerpunkt auf die Rolle gerade

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Einleitung

der Richter in der steuerlichen Auseinandersetzung gelegt wird und daß andererseits die steuerliche Rechtsanwendung besonders da genauer untersucht wird, wo sie besonders schwierig wird, wo nämlich kreative Intelligenz darauf verwandt wird, Steuern zu venneiden. Unterschiede zwischen britischen und deutschen Richtern, ihre verschiedene Bedeutung in der jeweiligen Rechtskultur , sind schon häufig in rechtsvergleichenden Schriften aufgezeigt worden. Das Neue, was diese Arbeit dem hinzufügen soll, liegt darin, daß vorhandene Erkenntnisse an einem spezifischen gesellschaftlichen und rechtlichen Problem gemessen werden sollen. Es soll -anl Beispiel des Steuerrechts- der Frage nachgegangen werden, ob die andere Stellung der Richter in bei den Rechtskulturen Auswirkungen in der praktischen steuerlichen Rechtsanwendung hat. Das Problem der legalen Umgehung der Steuergesetze ist in Großbritamrien und Deutschland gleichennaßen bedeutsam. In bei den Ländern wird Steuerumgehung in regelmäßigen Abständen zum politischen Thema. Steuervernleidende und -umgehende Gestaltungen beschäftigen hier wie dort ständig Gesetzgeber, Behörden, Rechtsprechung, Schrifttum und viele Menschen, die sich etwas davon erhoffen. Am Centrejor Sodo-Legal Studies der Universität Oxford werden seit einigen Jahren empirisch gestützte rechtssoziologische Forschungen vorgenommen, in denen untersucht wird, ob erfolgreiche Steuerumgehung überhaupt in größerem Umfang möglich ist, und woran dies ggf. liegen könnte. Die Ursache für den dort nachgewiesenen Erfolg kreativer Gestaltungen wird in Grundstrukturen des Rechts überhaupt gesehen. Es ist interessant zu fragen, ob die dazu am Beispiel britischen Rechts getroffenen Aussagen auch auf Deutschland übertragen werden können. Wenn auch das gesellschaftliche Problem grob betrachtet als vergleichbar erscheint, so ist die rechtliche Ausgangslage in Großbritannien und Deutschland ganz verschieden, und zwar lricht nur hinsichtlich des materiellen Steuerrechts, sondern auch auf institutioneller Ebt::ne und in der Art, wie das materielle Recht angewandt wird. Gerade daß in bei den Ländern erfolgreich Steuergesetze umgangen werden, scheint zu bestätigen, daß steuerliche Kreativität Vorstellungen von Recht ausnutzt, die bei den Rechtssystemen, vielleicht allem westlichen Recht, gemeinsam sind. Fundierte Aussagen darüber lassen sich letztlich allerdings lricht rechtsdogmatisch ableiten, weil es um Tatsachen geht, und über die treffen juristische Lehrsätze nun eililllal keine Aussage. Feldforschungen -wie die erwähnten Studien aus Großbritannien- stehen in Deutschland zum Thema Steuerumgehung noch aus. Diese Arbeit kalm sie auch lricht liefern, derill sie ist keine empirische, mit sozialwissenschaftlichen Methoden verfahrende Studie. Aber es soll versucht werden, die klassische, auf den Inhalt von Rechtssätzen bezogene juristische Perspektive durch eine auch "soziologische" Betrachtungsweise zu ergänzen.

11. Standortbestimmung

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11. Standort bestimmung Im folgenden sollen Aspekte von Steuern, ihrer Umgehung, Recht, Gerechtigkeit, Justiz in Großbritannien und Deutschland angesprochen werden. Die Darstellung wird nicht nur positives Recht behandeln, sondern auch rechtsmethodische, historische und soziologische Bezüge aufweisen. Teil A steht unter der Überschrift "Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext". Hier soll der grundlegende Konflikt dargestellt werden, den die bei den miteinander verglichenen Rechtskulturen zu lösen haben. Das umfaßt Aussagen über die historische Entwicklung des gesellschaftlichen Phänomens der Steuerumgehung in Großbritannien und Deutschland. über Bekämpfungsmethoden und ihre Auswirkungen, über die grundsätzlichen, einander widersprechenden Wertungen, die hier abstrakt und im Einzelfall zum Ausgleich gebracht werden müssen, über das Verhältnis von Steuerumgehung und Recht und über die in der Praxis erkennbaren Mechanismen, die bei der Konstruktion und Abwehr steuerumgehender Gestaltungen greifen. Soweit das Verhältnis von Steuerumgehung und Recht behandelt wird, wird die für diese Arbeit grundlegende Betrachtungsweise allen Rechts näher umrissen werden, welche in dem bahnbrechenden Werk "Foml And Substance In AngloAmerican Law - A Comparative Study of Legal Reasoning. Legal Theory, and Legallnstitutions" , von den Professoren Atiyah (Oxford) und Sunilllers (Cornell) für Zwecke des Rechtsvergleichs entwickelt wurdel. In Teil Bund C wird die grundsätzliche Haltung britischer bzw. deutscher Justiz zu steuervemleidenden und steuerunIgehenden Gestaltungen in der Zeit ab dem Ersten Weltkrieg bis zu Beginn der neunziger Jahre dargestellt werden. Im Mittelpunkt stehen jeweils möglichst repräsentative Fälle. anhand derer verdeutlicht werden soll, was für gerichtliche Argunlentationen in der jeweiligen Rechtskultur zu unterschiedlichen Zeiten akzeptabel waren und welche Wertungen von der jeweiligen Rechtsprechung bevorzugt wurden. Teil B ist dabei der britischen Rechtsprechung gewidmet, während sich Teil C mit der deutschen Rechtsprechung befaßt. Die Entwicklung in bei den Jurisdiktionen wird in verschiedene Perioden eingeteilt, welche sich jeweils durch unterschiedliche Trends in der Rechtsprechung unterscheiden. Zur Abgrenzung der einzelnen Perioden und als gemeinsamer Maßstab wird dabei im wesentlichen das Konzept von Fornl und Substanz. so wie es Atiyah/Swlilllers entwickelt haben, zugrunde gelegt.

1 P.S.Aliyah/R.S.Summers.Oxford 1987. reprint 1991.

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In Teil D werden die für die jeweilige Jurisdiktion getrennt voneinander gefundenen Ergebnisse einander gegenübergestellt, und es wird versucht werden, die entscheidenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Eine knappe Zusammenfassung des Inhalts und der wichtigsten Erkenntnisse enthält Teil E. Schon dieser kurze Überblick zeigt, daß diese Arbeit Aspekte aus mehreren Teilgebieten der Rechtswissenschaft miteinander vereint. Das stellt besondere Anforderungen an die Einleitung, welche sich mit der gleichen Berechtigung an den Rechtsvergleicher, den SteuerrechtIer, den Rechtssoziologen, den Rechtshistoriker oder den methodisch Interessierten wenden könnte. Die Voraussetzungen, die jeder dieser potentiellen Leser mitbringt, und das Grundverständnis, mit welchem sie die Arbeit aufnehmen werden, sind naturgemäß verschieden. Es soll hier nicht versucht werden, es jedem recht zu machen. Diese Einleitung will aber wenigstens die wichtigsten Bezüge zu den angesprochenen rechtswissenschaftIichen Teilgebieten verdeutlichen. Unabhängig davon sollen schon hier solche grundlegenden Unterschiede zwischen dem britischen und dem deutschen Rechtssystem aufgezeigt werden, die zum Verständnis vorausgesetzt werden müssen, ohne daß sie noch an anderer Stelle der Arbeit behandelt werden könnten. Dazu gehören insbesondere Fragen der juristischen Methode, des Instanzenzuges, aber auch des richterlichen Personals und der Bedeutung juristischer Autoritäten in Rechtsprechung und Schrifttum.

III. Zum rechtsvergleichenden Grundansatz Diese Arbeit folgt aber gleichzeitig einer Vorstellung, nach welcher es bei Rechtsvergleichung weniger darauf ankommt. praktische Lösungen für praktische Probleme aus einem anderen Recht entnehmen zu können. Wichtiger ist es, die Bedeutung und Arbeitsweise von Recht in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu erkennen, indem das Recht einer Gesellschaft in Kontrast zu dem Recht einer anderen Gesellschaft gesetzt wird. Ein praktischer Nutzen so verstandener Rechtsvergleichung besteht nur mittelbar. Er liegt in den Folgerungen, die in späteren Schritten aus den gewonnenen Erkenntnissen im nationalen Kontext gezogen werden können. So verstandene Rechtsvergleichung trifft nicht nur Aussagen über das Recht, sondern auch Aussagen über die Gesellschaft in den verglichenen Jurisdiktionen2 . Jonathan

2 Max Rheinslein, zitiert aus Rheinslein, Einfilhrung in die Rechtsvergleichung, hrsg. von

Gerhard Lücke, 2. Auflage, SaarbIilcken 1987, S. 28 f.

IV. Die historische Perspektive

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Hili, ein Universitätslehrer aus Bristol, hat dies mit folgender Formulierung ausgedrückt: ..... perhaps most interestingly, comparative law can reveal -more vividly than the study of a single legal system- the relationship between law and political and moral values. . .. Comparative law can help to demonstrate the extent to which the form and the substance of any legal system are not 'natural', but result from the implementation of moral and political values. "3

Das bedeutet, daß der Leser enttäuscht werden muß, der erwartet, daß hier konkrete Regelungen oder Patentrezepte im britischen Recht gesucht werden, mit denen dalm dem Problem der Steuerumgehung ergänzend zu Leibe gerückt werden kaun. Das solche Erwartungen an Rechtsvergleichung im Grunde wenig wert sind, sagt auch Walz: "Rechtsvergleichung und Berichte über ausländisches Recht ... sind Material fiir Überlegungen. was Juristen tun und wie sie es tun. Wenn sie sich vorschnell auf die Verteilung von Noten einlassen. diese oder jene Entscheidung sei richtig. bedenklich oder falsch. wirken sie leicht so provinziell wie der deutsche Tourist. der eine fremde Küche danach beurteilt. ob Sauerkraut. Braten und Bier ebenso schmecken wie zu Hause. Richtiger und nützlicher ist es. Doktrinen. Entwicklungstrends und tiefsitzende Widersprüche und Unklarheiten einer fremden Rechtsordnung mit der Frage zu konfrontieren. warum einiges ganz ähnlich und anderes völlig anders verläuft als im heimischen Recht. "4

Nicht die Suche nach potentiellen" legal transplants"5 soll hier also im Vordergrund stehen, nicht "better solution comparative law"6 betrieben werden, sondern Rechtsvergleichung soll hier -zumindest auch- dazu dienen, das eigene Recht wld die eigene Gesellschaft einmal aus anderer Perspektive zu betrachten.

IV. Die historische Perspektive Einer der ganz Großen der Rechtsvergleichung, Alan Watson, vertritt die Auffassung, daß diese Disziplin -wenn sie Aussagen über die betreffenden Gesellschaften ermöglichen solle- historisch vorgehen müsse 7 . Dabei spricht er allerdings offenbar von Jahrtausenden und stellt schon danlit Anforderungen auf, denen diese Arbeit -isoliert betrachtet- nicht gerecht werden kann. Diese Arbeit blickt nur auf einen vergleichsweise unbedeutenden Zeitraum von etwas über siebzig Jahren zurück. Das erscheint für das hier behandelte Problem allerdings als ausreichend. Zwar haben Leute zu allen Zeiten 3 "Comparative Law. Law Reform and Legal Theory". in (1989) Oxford Journal of Legal Studies. S. 101. 114 f. 4 W. Rainer Walz. Richterliche Rechtsfindung im Steuerrecht der USA. in StuW 1982. 1. 12. 5 Alan Warson. Legal Transplants. An Approach to Comparative Law. Edinburgh 1974. 6 Vgl. dazu Hill, (1989) OJLS 106 f. 7 Alan Watson, Legal Change: Sources Of Law And Legal Culture. in (1983) University of Pennsylvania Law Review, S. 1121.

Einleitung

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Erstaunliches unternommen, um keine Steuern zahlen zu müssen, hier geht es aber nur um diejenigen Varianten steuersparenden Verhaltens, die im modernen Steuerstaat als kontliktträchtig empfunden werden. Und deren Geschichte ist wesentlich kürzer. Auf der anderen Seite wäre eine ganz und gar unllistorische Betrachtungsweise nach dem rechtsvergleichenden Grundkonzept und nach der konkreten Fragestellung unbefriedigend gewesen. Besonders hinsichtlich der Haltung der britischen Gerichte zu Steuervermeidung und Steuerumgehung hat sich herausgestellt, daß sie stark durch Traditionen und Präzedenzfalle geprägt ist und sich in ihrer Beständigkeit durch eine geradezu unwahrscheinliche Widerstandskraft gegen Wellen neuer Gesetzgebung und erhebliche wirtschaftliche und soziale Veränderungen "ausgezeichnet" hat. Der über viele Jahrzehnte meistzitierte und immer noch bedeutende Präzedenzfalls stammt z.B. aus dem Jahre 1935 und konnte schon zu jener Zeit als die Verkörperung einer mindestens fünfundsechzigjährigen Rechtsprechungspraxis betrachtet werden. Die in Deutschland in aktuellen Entscheidungen zitierten Fälle sind zwar in der Regel nicht so alt, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch ihre Wurzeln oft weit tiefer zurückreichen als es einem heute bei der Rechtsanwendung bewußt wird. Blickt man genauer hin, ist die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs allgegenwärtig. Die für lange Zeit wichtigsten Werkzeuge des Rechtsanwenders gegen Steuerumgehungen, die wirtschaftliche Betrachtungsweise und die GeneralklauseI, stammen aus dem Jahre 1919, und vieles, was in jener Zeit von den Gerichten entwickelt wurde, hat bis in die jüngste Zeit fortgewirkt. Bezeichnenderweise ist es in Großbritannien und Deutschland gerade die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der steuersparende rechtliche Gestaltungen erstmals eine größere gesellschaftliche und politische Aufmerksanlkeit erfahren haben und verstärkt diverse staatliche Maßnahmen dagegen herausforderten. Die Entwicklung in beiden Jurisdiktionen ist seither geprägt durch die unterschiedlich ablaufende ständige Auseinandersetzung verschiedener Grundwertungen -wie z.B. Steuergerechtigkeit und Rechtssicherheit- und die inmler wieder gestellte Frage nach Freiheit und Bindung des Rechtsanwenders. Das Interessante daran ist nicht irgendeine -vielleicht morgen schon überhoIte- Zwischenbilanz, wenn man sie denn überhaupt ziehen kann, sondern der andauernde Verlauf dieser Auseinandersetzung. Die hier zu ziehende praktische Schlußfolgerung lautet: Jedenfalls Aussagen, wie sie hier getroffen werden sollen. lassen sich schon ihrer Art nach nicht auf die Situation an einem Stichtag x gründen, sondern nur auf den Prozeß, der dahin geführt hat. Dieser Prozeß erhielt in der Zeit um 1919 in beiden betrachteten Ländern wichtige Impulse. und deshalb beginnt dieser Rechtsvergleich ungefähr zu jener Zeit. 8

IRe v Duke of Westminster (1936) AC I.

V. Schwerpunkt: Oberste (Steuer-)Gerichte

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v. Schwerpunkt: Oberste (Steuer-)Gerichte Wenn in dieser Arbeit von Richtern, Gerichten und Rechtsprechung die Rede ist, dann liegt darin eine beabsichtigte Vereinfachung, auf die jedoch hingewiesen werden muß. Tatsächlich konzentriert sich die Untersuchung auf die Haltung derjenigen Gerichte, die in steuerlichen Angelegenheiten höchstes Gericht sind. Das ist in Großbritannien das House 0/ Lords, in Deutschland der Bundesfinanzhof bzw. früher der Reichsfinanzhof. Auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts wurden betrachtet, allerdings nicht, um Aussagen über die Haltung dieses Gerichts zu treffen, sondern weil sie einen Einflußfaktor auf die Haltung des Bundesfinanzhofs bilden. Steuerliche Dispute werden in Großbritannien zunächst vor relativ unabhängigen. der Verwaltung zuzurechnenden Kommissionen behandelt. Im Falle der Einkommensteuer sind das die IIlLalld Revellue Commissiollers. Dabei hat der Steuerzahler die Wahl. ob er sich an die relativ schnellen. preiswerten Gelleral Commissiollers wendet -einem örtlichen. aus Laien bestehenden. fachkundig angeleiteten Gremium- oder an die hochqualifizierten Special Commissioners. Bei anderen Steuerarten. etwa der VAT (eine Umsatzsteuer). sind die Commissiollers (ir CuslOms alld E>:rise zuständig. Danach ist in England der Rechtsweg vom High Court über Court 0/ Appeal zum House 0/ Lords gegeben. In Schottland werden Steuerfalle vom Court 0/ Sessioll (Ouler House und IlIlIer House) entschieden. bevor sie das House 0/ Lords erreichen können.

Die Begrenzung auf die höchstrichterliche Rechtsprechung ist durch die tatsächliche Situation in bei den Ländern gerechtfertigt. In Großbritannien binden Entscheidungen des House 0/ Lords fornlal alle anderen Gerichte und die Verwaltung. In der Praxis wirken auch Entscheidungen des höchsten deutschen Steuergerichts ähnlich auf die Rechtsprechung der einzelnen Finanzgerichte9 . Die vorgenonmlene Einschränkung beruht auf der Hypothese, daß sich die unteren Gerichte nach dem Obergericht richten. Aus der Rechtsprechung des Obergerichts läßt sich prognostizieren, wie das Untergericht entscheiden wird. Nun gibt es keinen Zweifel daran, daß diese Hypothese nicht für alle Fälle zutrifft. Tatsächlich gab es manclmlal Auseinandersetzungen zwischen High Court, Court 0/ Appeal (bzw. Court 0/ Session) und House 0/ Lords, und tatsächlich folgen auch die deutschen Finanzgerichte nicht blind dem Bundesfinanzhof. Anwälte, die ständig an einem bestinmlten Untergericht auftreten, wissen regelmäßig auch, worin sich Haltung und Auffassungen "ihres" Gerichts von denen des Obergerichts unterscheiden. Systematische Untersuchungen von typischen Unterschieden, anderen Haltungen der verschiedenen Gerichte eines Instanzenzuges bzw. regionaler Verschiedenheiten sind 9 Die Finanzverwaltung reagiert hingegen in wenigen Fällen mit Nichtanwendungserlassen. welche zunehmend durch Nichtanwendungsgesetze verdrängt werden. vgl. dazu Joachim Lallg. Reaktionen der Finanzverwaltung auf mißliebige Entscheidungen des Bundesfinanzhofs. 111 DRIZ 1992, 365.

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Einleitung

allerdings schon auf nationaler Ebene eher selten. Offenbar wird dieser Frage keine allzu große Bedeutung beigemessen, da am Ende oft doch das Obergericht maßgeblich sein wird bzw. sein könnte und weil sich Untergerichte trotz anderer Nuancierungen- nur höchst selten in offenen Gegensatz zu Obergerichten setzen. Kurz, bei Abwägung aller Faktoren hält es der Verfasser für gerechtfertigt, die Betrachtung grundsätzlich auf die höchsten Gerichte zu beschränken. Die getroffenen Aussagen über Richter und Rechtsprechung sind in diesem Silme zu verstehen. Bei der Gegenüberstellung des House of Lords mit dem Bundesfinanzhof fallen zwei zusammenhängende äußere Faktoren besonders ins Auge: Anders als in Deutschland gibt es in Großbritannien keinen eigenen finanzrechtlichen Zweig der Gerichtsorganisation. Die zunächst mit Einsprüchen gegen Behördenentscheidungen befaßten Commissioners sind zwischen der Verwaltungsebene und der Gerichtsebene einzuordnen, wobei ihre TatsachenfeststeIlungen in allen weiteren Instanzen als verbindlich zugrunde gelegt werden. High Court, Court of Appeal und House of Lords sind nicht nur für steuerrechtliche Angelegenheiten, sondern auch für die meisten anderen Arten von Rechtsangelegenheiten zuständig. Im High Court findet dabei noch eine gewisse Spezialisierung statt, da Steuerrechtsfälle -unter anderem- in den Bereich der Chancery Division fallen. Im Court of Appeal und House of Lords hingegen hört jede institutionalisierte Spezialisierung auf. Das ist nur möglich, weil die meisten steuerlichen Streitigkeiten bereits auf der Ebene der Commissioners abschließend erledigt werden. Grout und Sabine 10 haben im Jahre 1976 untersucht, wie viele steuerrechtliche Streitigkeiten in den ersten einhundert Jahren, seitdem der (auch zuvor offene) Rechtsweg gesetzlich geregelt wurde, tatsächlich gerichtlich entschieden wurden. Dabei stellten sie fest. daß das House of Lords zwischen 1945 und 1974 insgesamt nur über 148 Steuerfälle zu entscheiden hatte, d.h. im Schnitt über ca. 5 Fälle jährlich, und daß die Eingangszahlen seit Jahren konstant geblieben waren. Vor den High Court gelangten in diesem Zeitraum jährlich nur ca. 33 Fälle, während die Commissioners nach Schätzungen von Grout und Sabine etwa über 1500 Fälle jährlich zu entscheiden hattenli. Eine überschlägige Betrachtung der in den einschlägigen Sammlungen veröffentlichten Steuerfälle zeigt, daß sich auf der (vollständig dokumentierten) Ebene des House of Lords an diesen Zahlen nichts Entscheidendes geändert hat l2 . Im Vergleich dazu erledigt der Bundesfinanzhof im Jahre 1991 ca. 3.700 Verfahren, davon über 2.000 durch Ent10 GrautISabille, The First Hundred Years Of Tax Cases. in (1976) British Tax Review, S. 75. 77. 11 Ebd .. S. 81. 12 Vgl. etwa lohn Ti(fY, "Taxation", in (1991) All ER Annual Review, S. 343 ff., welcher in seinem umfassenden Uberblick über die Entwicklungen des Jahres 1991 nur vier Fälle des Hause af Lords erwähnt.

VI. Wissenschaft und Schrifttum

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scheidung in der Sache. Der Hauptgrund dafür, daß britische Gerichte in Steuersachen so viel seltener bemüht werden. dürfte in den erheblich höheren Verfahrenskosten zu suchen sein 13 . Der Stellenwert einer Entscheidung des House 0/ Lords in der britischen Rechtsordnung ist demnach höher als der einer Entscheidung eines Senats des Bundesfinanzhofs. Auch dürfte es naheliegen, daß Bundesfinanzrichter ihre Entscheidung aus einer mehr steuerrechtlichen Perspektive fällen, während Richter im House 0/ Lords anstelle besonderer steuerlicher Fachkenntnisse einen allgemeineren Background in die Entscheidungen einbringen werden. VI. Wissenschaft und Schrifttum Wenn es in dieser Arbeit vor allem darum geht, Aussagen über die Rechtsprechung in Deutschland und Großbritamuen zu treffen, so heißt das nicht, daß das Schrifttum bei der Länder damit ignoriert werden kölmte. Ob eine Gerichtsentscheidung zu einem beliebigen Zeitpunkt als empörend, wie gehabt. mißglückt, gelungen, oberflächlich, freirechtlich, verfassungsgemäß etc. einzuschätzen war, kann man ihr nicht ansehen, schon gar lucht, wenn sie aus einer anderen Jurisdiktion stanmlt. Ob ein Gericht beispielsweise weit über seine bisherigen Grenzen hinausgegangen ist, um Gestaltungen, die es für unakzeptabel hält. der Besteuerung zu unterwerfen oder ob sich seine Interpretation des Gesetzes ganz und gar im üblichen Rahmen bewegte, läßt sich ohne Berücksichtigung der einschlägigen Literatur kaum sagen. Erst der Blick auf das Schrifttum liefert das notwendige Gegengewicht, um Entscheidungen richtig zu wägen. Allerdings gibt es zwischen steuerrechtlichen Abhandlungen in Deutschland und Großbritamuen beträchtliche Unterschiede. die man ebenfalls berücksichtigen muß. Das steuerliche Schrifttum in Deutschland erfaßt ein weites Spektrum von Publikationen. Auf der einen Seite steht eine Art Praktikerliteratur. d.h. Anleitungsbücher , vom einfachen Leitfaden bis zum stattlichen Handbuch, oder Aufsätze, die Argumentationshilfen liefem und auf neue Möglichkeiten hinweisen. Auf der anderen Seite finden sich wissenschaftliche Schriften, größtenteils verfaßt von Professoren, mit dem Ziel, das Steuerrecht als solches zu betrachten, seine grundlegenden Prinzipien offenzulegen. Impulse für seine Weiterentwicklung zu geben und seine zahlreichen Bezüge zu anderen Rechtsgebieten -etwa zum Zivilrecht oder zum Verfassungsrecht- weiter aufzuklären. Nicht irmner war das Interesse an den zuletzt genannten Fragen in Deutschland gleichemtaßen vorhanden, und es wurde neuerdings von ver13 Vgl. dazu allgemein am Beispiel der Ziviljustiz: Basil Markesillis. Litigation Mania in England. Germany and the USA: Are We So DIfferent? in (1990) Cambridge Law Journal. S. 233. 254 ff.

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Einleitung

schiedenen Seiten beklagt, daß sich RechtswissenschaftIer in Deutschland seit den zwanziger Jahren stark aus dem Steuerwesen zurückgezogen hätten l4 • Dennoch ist gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ein substantieller Literaturkörper zu Fragen entstanden, die mehr grundsätzlich / theoretisch sind und die Praktiker nur mittelbar betreffen. Abgesehen davon hat es immer auch Kommentare und andere Werke gegeben, in denen versucht wurde, nicht nur Hinweise auf Entscheidungen zu geben, sondern das Steuerrecht tiefer zu durchdringen. Über den ganzen hier betrachteten Zeitraum war es auch für deutsche Gerichte üblich, sich in Entscheidungen mit dieser Literatur auseinanderzusetzen, sei es, um Meinungen abzulehnen oder ihnen zu folgen. In Großbritannien ist die Lage anders. Die steuerliche Literatur ist beinahe ausschließlich auf Bedürfnisse der Praktiker zugeschnitten. Es fällt schon auf, daß steuerrechtliche Werke zwar Verzeichnisse der zitierten Urteile und Gesetze, aber kein Literaturverzeichnis enthalten. Das allerdings entspricht einer auch im übrigen bezeichnenden Gepflogenheit im britischen juristischen Schrifttum. Noch mehr ins Auge sticht -wenn man es einmal gesehen hat-, daß von Juristen verfaßte Werke über das Steuerrecht, selbst wenn sie 1500 und mehr Seiten haben und umfassend auf Rechtsprechung verweisen, so gut wie keine Hinweise auf andere steuerrechtliche Literatur enthalten l5 . Fast alle in Lehr- und Handbüchern gegebenen Referenzen beziehen sich auf Entscheidungen, Gesetze, Gesetzentwürfe, offizielle Stellungnahmen. Ähnliches gilt für Aufsätze, wie sie etwa in der British Tax Review, einer im Steuerrecht führenden Zeitschrift, erscheinen. Beiträge zu problematischen steuerrechtlichen Fragen befassen sich mit Gesetzen und Urteilen, kaum aber mit anderen Meinungen aus der Literatur. Versuche, prinzipienorientierte Gesamtkonzepte aufzustellen, wie wir sie aus Deutschland kennen, sind dem Verfasser trotz vieler Mühen im britischen juristischen Schrifttum nicht bekanntgeworden. Wenn auch britische Autoren mitunter Fragen ansprechen, die in Deutschland als verfassungsrechtlich bezeichnet würden, so gibt es kein Äquivalent zu den Diskussionen "Steuerrecht und Verfassungsrecht" , "Steuer und Eigentum" oder "Steuerrecht und Zivilrecht". Dazu paßt eine für den deutschen Juristen auffällige Eigenschaft britischer Urteile: In kaum einer der vielen in dieser Arbeit zitierten höchstrichterlichen steuerrechtlichen Gerichtsentscheidungen befindet sich eine einzige Referenz zu irgendeiner rechtswissenschaftlichen Veröffentlichung.

14 Vgl. Brigitte Kllobbe-Keuk. Das Steuerrecht - eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts. Bonn 1986. S. 22. 15 Vgl. als beliebige Beispiele Butterwonhs UK Tax Guide 1991-1992, consultant ed. lohn Tiley. 10. Aufla~e. London 1991; Slephell W. Maysoll, Revenue Law, 8. Auflage, London 1988: Chris WllIlehouse / Elizabelh Sluan-Buttle. Revenue Law - Principles and Practice, 9. Auflage. London 1991.

VI. Wissenschaft und Schrifttum

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Für diese offenbaren Unterschiede gibt es tiefergehende Erklärungen und Ursachen, die bei der Einbeziehung des Schrifttums in diese Arbeit im Auge behalten werden müssen. Die fehlenden Literaturhinweise in Gerichtsentscheidungen lassen sich dabei vordergründig noch mit der sogenannten non-citation rule erklären, nach welcher es einen Verstoß gegen die Etikette bedeutete, wissenschaftliche Werke lebender Autoren vor Gericht zu zitieren. Folglich konnten sich auch Richter in ihren Entscheidungen nicht darauf beziehen. Der dahinterstehende Gedanke war, daß der zitierte Autor seine Meinung ändem könnte, wodurch die Autorität des Urteils leiden könnte. Ansichten von Rechtswissenschaftlem konnten nur so in einen Rechtsstreit hineingelangen, daß sie seitens der Anwälte als eigenes Argument vorgetragen wurden. Diese bis zu Begillll der sechziger lahre strikt befolgte Regel wurde erst in den letzten lahren -zumindest im House of Lords- schweigend begraben l6 , prägt aber immer noch stark die bestehende Praxis17. Heute gilt zwar, daß Lehrbücher keinem Tabu mehr unterliegen, daß sie aber nur "sparingly and cautious(V" in Verhandlungen benutzt werden sollen l8 . Allerdings liegt es sehr nahe. die non-citation rule als ein Symptom für die relativ geringe Bedeutung anzusehen, die rechtswissenschaftlichen Theorien in der britischen Rechtskultur überhaupt beigemessen wird. So ist die Auffassung weit verbreitet, daß Recht -und besonders Steuerrecht- nichts Wissenschaftliches, sondem etwas Praktisches sei. Die Begriffe "bookleaming". "strict logic", "intellectual refinement" haben für den britischen COInmon Lawyer einen negativen Beigeschmack, während ein bodenständiger, durch common sense bestinmlter Pragmatismus traditionell bei Richtem und Anwälten hoch im Kurs steht l9 . Atiyah, mittlerweile emeritierter Professor der Universität Oxford, hält es für mehr als einen "Zufall". daß der Ausdruck "academic" nicht nur als Bezeichnung für Universitätslehrer verwandt wird. sondem auch als Attribut für Fragen oder Probleme. auf die es praktisch nicht ankonmlt ("an academic question")2o.

16 Dazu Lord Reid. The Judge As A Law Maker. in Vol. 12 (1972/73) Journal 01' the Society of Public Teachers of Law. S. 22: "In the House of Lords at least we turn a blind eye to the old rule that an academic writer is not an authority until he is dead. because then he can no longer change his mind. May I suggest to text book writers and editor~ that they could usefuUy promote appreciation of academic work by practising members of the profession by increasing their citations from academic works ... ". 17 Vgl. die Beobachtungen zur Anwendung dieser Regel in der am CellTre for Socio-Legal Srudies der Universität Oxford betreuten empirischen Studie von Alall Parersoll. The Law Lords. London 1982. S. 14 ff. 18 Glallville Williams. Learning the Law. 11. Autlage. London 1982. S. 163. 19 P.S. Ariyah, Pragmatism and Theory in English Law. (The Hamlyn Lectures. Thirty-ninth series. London 1987). z.B. S. 34 ff. 20 Ariyah. Pragmatism (1987). S. 35. 3 Ncvermann

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Einleitung

Der geringere Stellenwert akademischer Theorien schlägt sich im Ansehen britischer Professoren nieder. Während in Deutschland und anderen kontinentalen Jurisdiktionen traditionell Professoren als höchste "Rechtshonoratioren " angesehen wurden, gelten in Großbritannien allein die Richter als "Orakel des Rechts". Alan Watson glaubt, daß die Ursache dafür in der unterschiedlichen Verbreitung des römischen Rechts in Europa und in Großbritannien zu suchen ist. Während sich römisches Recht auf dem Kontinent in der frühen Neuzeit wieder durchzusetzen begann, gab es keine entsprechende Entwicklung in England. Auf dem Kontinent wurde römisches Recht an Universitäten von Professoren gelehrt, welche in Disputen oft autoritative Gutachten abgaben. In England hingegen war das Recht ganz in den Händen eines nach praktischen Bedürfnissen und ganz auf Prozeßführung ausgerichteten Standes, welcher kein großes Interesse daran hatte, das Recht systematisch, strukturell oder philosophisch zu durchdringen 21 .

Das Prestige von Rechtsprofessoren ist in Großbritannien wesentlich geringer als das von Richtern. Das zeigt sich auch im Einkommen. Während ein High Court Judge im Jahre 1987 etwa b 60.000 im Jahr verdiente, betrug der Verdienst eines Professors um die b 20.00022 . Für Deutschland hingegen werden die meisten dahingehend übereinstimmen, daß das Prestige von Rechtsprofessoren über dem von Richtern liegt und nur höchste Richter die einem Professor vergleichbare fachliche Autorität genießen, So ist das Grundgehalt eines Jura-Professors der Besoldungsgruppe C4 in etwa mit dem eines Vorsitzenden Richters am Oberlandesgeri~ht (Besoldungsstufe R3) zu vergleichen. Das im Vergleich zu Richtern geringe Prestige von Professoren in Großbritannien tritt noch krasser dadurch hervor, daß der Titel "Professor" sehr viel zurückhaltender als in Deutschland vergeben wird und nur von einer verhältnismäßig geringen Zahl von Universitätslehrern im Laufe ihrer akademischen Karriere überhaupt erreicht wird. Nicht einmal dieser "Seltenheitswert" britischer Professoren stellt sie auf eine Stufe mit den allerdings ebenfalls vergleichsweise seltenen- Richtern. Es ist anzunehmen, daß derartige Faktoren nicht nur etwas über Akzeptanz und Bedeutung rechtswissenschaftlicher Lehren aussagen, sondern auch Einfluß auf ihre Vielfalt und letztlich ihren Inhalt haben. Wenn auch an juristischen Fakultäten in Großbritannien mehr Steuerrecht gelehrt wird als in Deutschland, so geschieht dies vor allem deshalb, um künftigen Praktikern Grundkenntnisse zu vermitteln, wie überhaupt die vorrangige Aufgabe von Universitätslehrern im Fach Recht darin gesehen wird, den Nachwuchs auszubilden und den Praktikern zu helfen. Bis in 'die späten siebziger Jahre haben die Inns oj Court für Barrister keinen Universitäts21 (1983) UPennLRev. 1131. 22 Ariyah (1987). Pragmatism, S. 40; nach lohn A.G. Grijfilh, The Politics Of The Judiciary, 4. Auflage, London 1991, S. 23 verdienten High Court ludges 1990 jährlich b 72.000: Lord lustices of Appeal b 79.500 und Law Lords b 82.750.

VII. Methodenlehre. Fallvergleich. Gesetzesauslegung

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abschluß verlangt und den Universitäten jede größere Bedeutung in der juristischen Ausbildung abgesprochen23 . Auch heute noch ist es nicht nötig. daß ein angehender Barrister unbedingt Jura studiert hat. Auf der anderen Seite weigerten sich führende Universitäten. Verantwortung für die Ausbildung in ." merely practical' subjects such as law and business" zu übernelmlen 24 . Besonders Steuerrecht gilt noch inmler für die wissenschaftliche Forschung als unpassend. es gibt kaum Professoren25 • die sich damit beschäftigen. und die steuerliche Expertise liegt beinall ausschließlich bei den Praktikern26 . Das britische steuerrechtliche Schrifttum. welches in dieser Arbeit verwandt wurde. stanmlt größtenteils von Praktikern für Praktiker. In der deutschen Literatur hingegen sind die Universitätslehrer sehr viel stärker vertreten. was nicht heißt. daß sich ihre Schriften nicht oft auch an Praktiker wenden und ihnen mitunter große Dienste leisten. Das liegt aber daran. daß in Deutschland die "wissenschaftliche" Aufarbeitung des Steuerrechts -obwohl es über viele Jalue "vernachlässigt" wurde- einen viel höheren Stellenwert und damit auch eine höhere Bedeutung für die Rechtsanwendung hat als in Großbritannien. VII. Methodenlehre, Fallvergleich, Gesetzesauslegung Der Problembereich legale Steuerumgehung / Steuervemleidung ist eng verknüpft mit der Rechtsanwendung im allgemeinen, denn der Erfolg einer Gestaltung hängt oft davon ab, wieviel Freiheit dem Rechtsanwender zugestanden wird. Aus diesem Grunde sollen hier von einer etwas allgemeineren Warte einige Aspekte der unterschiedlichen juristischen Methode und Begründungstechnik in beiden Jurisdiktionen betrachtet werden. Sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien hat die Literatur zum Thema "Juristische Argumentation", "Juristisches Begründen", "Juristische Methoden" in den letzten Jaluzehnten stark zugenonmlen. In Deutschland wird die Methodenlehre zunehmend bereits als eigener Zweig der Rechtswissenschaft betrachtetn . Ihren jetzigen Rang verdankt sie u.a. den bedeutenden 13 Mark J. Osiel. Lawyers as Monopolists. Aristocrats. And Entrepreneurs. (review of Lawyers in Society. 3 vol. Berkeley/Ca 1988. 1989. edited by Richard L. Abel. Philip S. C. Le"Vls). in (1989-90) 103 Harvard Law Review. S. 2009. 2034. 14 Osiel. (1989-1990) HarvLRev .. S. 2034. 15 Im britischen Sinne. wo dieser Titel nur einem kleinen Anteil aller Universitätslehrer vorbehalten ist. 26 Atiyah (1987), Pragmatism. S. 132 f.: hinzuzufügen ist allerdings. daß einige hervorra· gende Autoren mit dem Hintergrund jahrzehntelanger Praxis den Titel Professor verliehen bekamen. z.B. H.H. Monroe. G.S.A. Wheatcroft oder lohn Tiley. 27 Hans-Martill Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre. Heidelberg 1986. S. 1. RZ 1: vorsichtiger noch KochlRiißmallll. Juristische BegTÜndungslehre. München 1982. S.4.

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Einleitung

Werken von Larenz und Engisch, welche die Rechtsanwendung spürbar beeinflußt haben. Doch schon im letzten Jahrhundert gab es wichtige wissenschaftliche Veröffentlichungen zu den Methoden des Rechts, wie etwa die von Friedrich earl von Savigny und Rudolf von Ihering. In der heutigen deutschen steuerrechtlichen Praxis ist die -im Schrifttum zunehmend kritisierteLehre von Larenz von zentraler Bedeutung. Ihr Herzstück bildet eine auf von Savignys klassischem Auslegungskanon aufbauende objektiv-teleologische Theorie zur Gesetzesauslegung. In Großbritannien wurde die Rechtsanwendung bis vor kurzem auf allen Ebenen als etwas immens Praktisches angesehen 28 • Von der in den letzten Jahren verstärkt vertretenen Begründungsliteratur wird vieles, was sich nach deutschen rechtswissenschaftlichen Kategorien auch unter "Methodenlehre" einordnen ließe, unter der Bezeichnung "Jurisprudence" gehandelt. Tatsächlich gehen (auch in Deutschland) rechtsphilosophische, -soziologische, -linguistische, -ökonomische, -politische Fragestellungen nahtlos in Methodenfragen über. Besonders vielfältig sind in Großbritannien Veröffentlichungen, die sich mit den Funktionen von Gerichten und Richterrecht auseinandersetzen. Viele Autoren in dieser Debatte sind bzw. waren hohe Richter, Z.B. Lord Goff, Lord Devlin, Lord Edmund-Davies, Lord Scarman oder Lord Diplock. Auf der anderen Seite stammen auch viele Veröffentlichungen, die sich mit der richterlichen Tätigkeit bei der Fallentscheidung befassen, von Universitätslehrern. Zu nennen sind hier etwa die Professoren John Bell, H.L.A. Hart (Oxford) oder die auch in Oxford auf dem Gebiet des englischen Rechts lehrenden bzw. forschenden amerikanischen Professoren Ronald Dworkin und Robert Stevens. Es soll an dieser Stelle nicht versucht werden, die Verflochtenheit von Jurisprudenz und Methoden zu entwirren oder einen Aufriß der anspruchsvollen Diskussion -etwa zu den weithin beachteten Lehren Dworkins- zu geben. Der Zusanunenhang zwischen rechtlichen Methoden und Jurisprudenz wurde hier nur deshalb erwähnt, um nicht sagen zu müssen, es gäbe in Großbritannien keine Methodenlehre, es würden lediglich gewisse praktische Fertigkeiten vermittelt, mit denen das Recht "gehandhabt" würde. Denn trotz einiger beachtlicher Werke, die sich mit legal method29 , rules 30 oder statutory

28 Vgl. Lord Reid. (1972173) JSPTL 28: "What we shall do if we are forced into the Common Market and have to deal with Continental legislation and decisions I just do not know. We shall have to learn a lot about not only European law but more important about the habits of mind of European lawyers. which I suspect are more theoretical and less practical than our own.·· 29 Jolm H. Farrar/AllllwlI)' M. Dugdale. Introduction to Legal Method, 3. Auflage. London 1990. 30 WiUiam TwilmillgslDavid Miers. How To Do Things With Rules. 3. Auflage, London 1991.

VII. Methodenlehre, Fallvergleich, Gesetzesauslegung

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interpretation 31 beschäftigen, läßt sich wohl (noch?) nicht sagen, daß die auf

Methodenfragen konzentrierten Veröffentlichungen in Anspruch, Inhalt und Bedeutung im rechtlichen Schrifttum bereits einen ähnlichen Rang eilmelmlen wie die "rechtswissenschaftliche Methodenlehre" in Deutschland. Der Anwendungstechnik folgt die Jurisprudenz auf dem Fuße; für den Zwitter "Methodenlehre" ist bislang noch nicht viel Raum vorhanden. Trotz der Bewegung, die es in neuerer Zeit auf diesem Gebiet gegeben hat3 2 , erscheint es noch als unpassend, die britischen Schriften zur Methode zum Pendant der deutschen Methodenlehre zu erklären. Der entscheidende Unterschied ist der: In Deutschland rechtfertigen sich Gerichtsentscheidungen dadurch, daß sie im Einklang mit der Methodenlehre stehen. Auch wenn sie nicht inmler viel Aufllebens von ihrem methodischen Ansatz machen, wäre es undenkbar. daß sie sich offen zu der herrschenden Methodenlehre in Widerspruch setzen. Britische Gerichtsentscheidungen hingegen verdanken ihre Legitimation nicht einer offenen oder implizierten Berufung auf akademische Lehren33 . Sie folgen ihren eigenen Techniken und Regeln und werden durch den Prozeß legitimiert. aus dem sie erwachsen. Autoren können zwar versuchen. den Gerichten zu folgen und deren Methoden möglichst differenziert zu porträtieren. das aber macht keine "Methodenlehre" oder "Begründungslehre" aus. Gehen britische Autoren darüber hinaus -und das ist meistens der Fall-, befinden sie sich bereits in der Jurisprudenz. Ihre Theorien könnten gerichtliche Entscheidungen nicht rechtfertigen 34 . 1m folgenden sollen eituge Grundelemente britischer juristischer Methodik angesprochen werden, die in der Gerichtspraxis tatsächlich eine Rolle spielen und die möglicherweise als Hintergrundwissen für manche der später betrachteten richterlichen Argwllentationen nützlich sein können:

31 F.A.R. BeIlIlifm. Statute Law. 3. Auflage 1990: .101111 Bell/Sir George Ellgie. Cross. Statutory InterpretatIOn. 2. Auflage 1987. 32 So etwa Neil MarCormick. Legal Reasoning and Legal Theory. Oxford 1978: "gI. auch _. zum Trend FarrarlDugdale (1989). Preface vii. 33 Vgl. z.B. Lord Reid zur Interpretation von Gesetzen: "We hear a lot about new methods 01' approach. . .. I get little help from them. It seems to me the simpler our approach the more likely we are to reach a reasonable result". in (1972-73) JSPTL 22. 28. 34 Vgl. Lord Radrl{ffe. The Lawyer And His Times. in Sutherland. The Path 01' The Law from 1967. Cambridge/Mass. (USA) 1968. S. 9. 17: "What then are you going to tell the student 01' the law about his subject that will make it to him something more than a skill or a technique .... ? Must you not tell him then that he is not to approach the study 01' law as an independent science ... ? If we are not prepared to have it that the law should become alienated from the movement of ordinary life. there 1S only one great danger of this disaster occurring and that is through law coming to be regarded as a set of self contatned principles which stand valid in their own right. There are seductive temptations that beckon towards this very peril ... And there is the intellectual delight of spinning the great cocoon of jurisprudence. the deductions. the analogies. the distinctions ... I sometimes think that it would havc been easier for the law to come to tenns with ordinary life if it were not for the special attraction it exercises over the most intelligent and vigorous minds. "

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Einleitung

Juristen, die in einem kontinentalen Rechtssystem ausgebildet wurden, werden die Gesetzesauslegung automatisch als eine der wichtigsten Aufgaben und Anliegen juristischer Methode betrachten. Für britische Juristen liegt das zentrale Anliegen juristischer Methode in der Anwendung des Common Law. Die für Fragen des Common Law angewandte MedlOde des Fallvergleichs unterscheidet sich grundlegend von der Gesetzesauslegung (statutory interpretation), wobei letztere noch bis vor kurzem als weniger wichtig angesehen wurde. Bezeichnend ist. daß SlalulOry interprelalion traditionell nicht während des Jura-Studiums behandelt wurde und kein Prufungsfach darstellte. Auch wenn hier in neuester Zeit Änderungen eingetreten sein mögen. hielt es Professor Glanville Williams noch 1982 für unwahrscheinlich. daß Examenskandidaten auf diesem Gebiet gepruft würden 35 . Die Law Commissions Englands und Schottlands -offizielle Gremien, zu deren Haupttätigkeiten Gutachten zur Vorbereitung von Reformen gehören- bemerkten bereits 1967 in einem gemeinsamen working paper, daß die Auslegung von Gesetzen "already a major part of the judicial function" sei36. Doch gerade eine solche Feststellung wirft ein Licht auf die traditionelle Situation.

Wer sich mit britischem Recht auseinandersetzt, muß sich also klarmachen, daß sich die Methoden des Rechts in zwei ganz verschiedene Anwendungszweige teilen.

1. Die Technik des Fallvergleichs Beim Fallvergleich wird das Recht anhand von Regeln bestinmlt, die aus früheren Fällen entnommen werden und die oft erst mühevoll gefunden werden müssen. Das erklärt, warum frühere Fälle in späteren Entscheidungen oft erneut analysiert werden (s.o.). Entscheidend ist es dabei, die ratio decidendi der vorangegangenen, verbindlichen oder autoritativen Entscheidungen zu finden. Beruht ein Präzedenzfall auf einem Sachverhalt, welcher dem zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalt im wesentlichen gleicht, dann ist entsprechend zu entscheiden. Stellt sich heraus, daß der Sachverhalt des betrachteten Präzedenzfalles in einem oder mehreren wesentlichen Punkten abweicht, ist er nicht einschlägig; er wird distinguished. Beide Denkoperationen setzen voraus, daß die tragenden Gesichtspunkte des etwaigen Präzedenzfalles, das Wesentliche, die ratio decidendi, ermittelt werden, was häufig unter Bezugnalmle auch auf zahlreiche in diesem Zusammenhang erwägenswerte Fälle geschieht. Eine besondere Schwierigkeit ist es dabei, die ratio von anderen Bestandteilen der vorangegangenen Entscheidung(en) zu trennetl. Denn andere Dinge, die Gerichte zu früheren Anlässen geäußert hatten, die aber nicht fall35 Learning the Law. S. 97. 36 DIe Lav.' Commission and 7he SCOllish Law Commission (Report, Law Com. No. 21, Scot. Law Com. No. 11): The Interpretation Of Statutes (erstmals vorgelegt 1967, gedruckt 1969), S. 3; TZ 4.

VII. Methodenlehre, Fallvergleich, Gesetzesauslegung

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entscheidend wurden, sogenalUlte obiter dicta, sind für Nachfolgeentscheidungen nicht bindend. Auch sind nicht alle fruheren Entscheidungen irgendeines Gerichts verbindlich. Welches Gericht an welche Entscheidungen gebunden ist, hängt von seinem Platz in der gerichtlichen Hierarchie ab. Bis 1966 war das House oj Lords auch an seine eigenen vorangegangenen Entscheidungen gebunden. Durch Herausgabe eines sog. practice statement hat es sich selbst davon befreit (das ist eine Geschichte für sich). Dem Court oj Appeal wurde eine ähnliche Freiheit hinsichtlich seiner eigenen Entscheidungen bislang nicht zugestanden. Die schwierigste Frage aber bleibt bestehen: Wie findet der Rechtsanwender die ratio decidendi? Ein britischer Klassiker37 schreibt dazu: "The ascertainment of the ratio decidelldi of a case depends upon a process of abstraction from the totality of facts that occurred in it. The higher the abstraction. the wider the ratio decidelldi . ... How do we know when to stop with our abstraction? The answer is: primarily by reading what the judge says in his judgment. but partly also by our knowledge of the law in general. and by our common sense and our feeling for what the law ought to be .... The finding of the ratio decidelldi is not an automatie process. it calls for lawyerly skill and knowledge. "

2. Statutory Interpretation Während kontinentaleuropäische Juristen alles Recht aus Gesetzen herleiten, sind Statutes aus traditioneller Sicht des COfnmon Lawyers nur Abwandlungen oder Ergänzungen der eigentlich anderweitig bestehenden Regel. Wenn das Gesetz einen Fall nicht regelt, fällt der Kontinentaljurist ins Nichts, falls es ihm nicht doch gelingt, für den seiner Auffassung nach besonders regelungsbedürftigen Fall etwas Verbindliches aus Gesetzen zu folgern. Darin dürfte ein wesentlicher Anreiz für die Entwicklung von ausgefeilten Interpretationsmethoden gelegen haben. Nach traditionellen Vorstellungen in Großbritamuen hingegen war das Commol1 Law allumfassend und der Statute beschrieb nur die AusnalUllen. Bei dieser Ausgangslage bestand keine Notwendigkeit, den Anwendungsbereich von Statutes über ihren klaren Wortlaut hinaus zu erweitern. Mehr noch, vom 18. Jahrhundert an bis etwa zum Beginn der sechziger JallTe dieses Jahrhunderts legten Gerichte bei der Interpretation von Statutes häufig die VernlUtung zugrunde. daß das COfl/mol/ Law durch den Statute nicht geändert werden sollte, wenn dies lucht ausdrucklieh in dem entsprechenden Gesetz zum Ausdruck kam 38 . Eine oft sehr enge, technische Auslegung von Gesetzen war die Folge, die wiederum einen extrem

37 Glallville Williams. Leaming the Law. 11. Auflage. London 1982. S. 72 L die I. Auflage dieser weitverbreiteten und von vielen luristengenerationen benutzten Einführung erschien 1945. 38 lohn Bell, Policy Arguments in ludicial Decisions. Oxford 1983 (reprint 1985). S. 85.

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Einleitung

detaillierten Gesetzgebungsstil nach sich zog39. Intentionen des Gesetzgebers durften nicht berücksichtigt werden, soweit sie nicht klar in dem jeweiligen Gesetz zum Ausdruck kamen. Insbesondere der Rückgriff auf die Gesetzgebungsgeschichte ist nach einer im 18. Jahrhundert40 von den Gerichten entwickelten Regel untersagt: Parlamentarische Materialien dürfen in der Verhandlung von keinem Barrister zitiert werden, und das Gericht darf sie nicht verwenden. Diese bereits öfter unter Druck geratene "Hansard Rule"41 gilt auch heute noch42 , wenn es auch in den letzten Jahrzehnten im übrigen zunehmend akzeptabler wurde, zweckgerichtete Erwägungen in die Auslegung von Gesetzen miteinfließen zu lassen43 . Als Zeichen für diese Abkehr vom Literalismus mag Z.B. die folgende, schon 25 Jahre zurückliegende Feststellung der Law Commission und der Scottish Law Commission gedeutet werden: "It is self evident that in order to understand astatute a court has to take into account many matters which are not to be found within the statute itself. Legislation is not made in a vaccuum. and a judge in interpreting it is able to take judicial notice of much information relating to legal. social. economic and other aspects of the society in which the statute is to operate. "44

Smith/Bailey meinen -mit aller gebotenen Vorsicht und diversen Einschränkungen-, daß ein genereller Trend zur purposive construction von Gesetzen auch zur Zeit anhält45. An dieser Stelle sollen keine weiteren Aussagen zur Haltung der Gerichte bei der Gesetzesauslegung getroffen werden. Die derzeitige Entwicklung ist überaus interessant, doch es ist ausgeschlossen, ihr im Rahmen einer Einführung zu einem anderen Thema auch nur annähernd gerecht zu werden. Das Gesagte genügt seinem Zweck, weml es verdeutlicht, daß sich die theoretisch sehr beständigen Interpretationstechniken der Gerichte nicht im lufleeren Raum bewegen. Wenn nachstehend einige traditionsreiche und dementsprechend auch schon ältere "Regeln" dazu erwähnt werden, wird dies nicht zu dem Fehlschluß führen, die Art der Gesetzesauslegung unterläge keinen Schwankungen. 39 Bell (1983/85). S. 85: vgl. dazu auch William Dale. Statutory Reform: The Draftsman and the Judge. in (1981) International and Comparative Law Quarterly. S. 141. welcher mittels Synopsen aus britischen. französischen und deutschen Gesetzen die besondere Detailbesessenheit des britischen Gesetzgebungsstils am Beispiel "Copyright" autzeigt. 40 Zur Geschichte im steuerrechtlichen Kontext vgl. Michael Rawlillsoll. Tax Legislation And ll1e Handard Rule. in (1983) BTR 274 ff. 41 "Hansard" ist die Bezeichnung der amtlichen Protokolle von Parlamentssitzungen. 42 Smirh/Bailey. The Modern Le~al System, 2. Auflage. London 1991. S. 350; Bell (1983/85). S. 85 f.: n,e Law Commiss/Oll. S. 31 ff.. TZ 53-62. 43 Bell. S. 85. 44 Ebd .. S. 27 f (TZ 46). 4~ Law Com .. S. 327.

VII. Methodenlehre, Fallvergleich, Gesetzesauslegung

Die Regeln, um die es hier geht, sind von den Jahrhunderten entwickelt worden. Sie als "rules" ständlich, da sie nicht wie Regeln im sonstigen Ihre Funktion besteht eher darin, leitsatzartig Gesetzesauslegung zu bezeichnen46 .

41

Gerichten in verschiedenen zu bezeichnen, ist mißverFallrecht verbindlich sind. verschiedene Ansätze zur

Die älteste dieser Regeln ist die sogelllumte "Mischi(1 Rule" (I), welche auf einen Fall aus dem Jahre 1584, Heydon's Case4 7 , zurückgeht. Um die Bedeutung eines Gesetzes zu verstehen, so besagt diese Regel, müsse in Betracht gezogen werden, wozu das Gesetz eingeführt wurde. Dazu müsse zunächst das Common Law vor Verabschiedung des Statute betrachtet und gefragt werden, welchem mischiej der Statute abhelfen sollte. Entsprechend sei das Gesetz dann auszulegen48 • Durch die später eingeführte Hansard Rule, nach der parlamentarische Materialien vor Gericht nicht zitiert werden durften, wurde die Mischh1 Rule allerdings ihrer Hauptquelle beraubt, umso mehr als Hansard auch auf Working Papers der Law Commissions , mit denen viele Gesetze vorbereitet werden, ausgedehnt wurde. Mittlerweile dürfen diese Working Papers insoweit herangezogen werden, wie es nötig ist, um das Gericht über Art und Ausmaß des Mißstandes zu unterrichten, dem der Statute abhelfen sollte, nicht aber, soweit es Wll die "Kommentierung" einzelner Abschnitte des Statutes geht49 . Die sog. "Literal Rule" (2) setzte sich im 18. und 19. Jahrhundert durch: Ihr zufolge sollen Gesetze in erster Linie ihrem klaren Wortlaut nach ausgelegt werden. Die Mischh1 Rule wurde damit praktisch auf Fälle beschränkt. in denen der Wortlaut mehrdeutig war50 . Zu den Auswirkungen dieser bis vor kurzem dominierenden und nunmehr viel kritisierten Literal Rule wurde bereits oben etwas gesagt. "The literal rule is a rule against using intelligence in understanding language", schrieb Glanville Williams 51 . Die dritte und letzte klassische Regel ist die ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammende "Golden Rule" (3), wonach ein Gesetz abweichend vom klaren Wortlaut ausgelegt werden kann, weml anderenfalls ein absurdes Ergebnis drohte. Diese Regel erscheint als notwendiges Korrektiv zur Literal Rule, welche leicht unsinnige Ergebnisse hervorrufen kann. Das Problem der

46 Lav.-' COIII ..• ebd .. S. 14, 17. TZ 22.29. 47 (1584) 3 Co. Rep. 7a. 48 Lav.-' COIII .. S. 14. TZ 23. 49 Glallville Williams (1982). S. 101 f. 50 Smith/Bailey (1991). S. 323. 51 Glallville Williams (1982). S. 105.

42

Einleitung

Golden Rule war und ist es, daß absurdity and inconsistency als Kriterien nichtssagend sind52 . Auf einer etwas anderen Ebene bewegen sich sogenannte "rules of language". Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine aus mehreren Unterregeln bestehende, auch als "Context Rule"53 (4) bezeichnete Regel, nach welcher in

einem Statute gebrauchte Worte in ihrem jeweiligen Zusammenhang zu verstehen sind. Weitere

wichtige

Interpretationsregeln

ergeben

sich

aus

sog.

"presumptions" (5), welche sich auch als Unterfall der Golden Rule54 begrei-

fen lassen. Das berühmte Beispiel des Mörders, welcher sein Opfer nicht beerben soll, obwohl das die Erbfolge regelnde Gesetz für einen solche Fall keine Ausnahme statuiert55 , verdeutlicht, um was es geht. Auch welID ein Gesetz vom Wortlaut her anwendbar ist, wird vermutet, daß es bestimmte Grundlagen nicht außer Kraft setzen soll, wie etwa die Regel "no one is entitled to profit from his own wrong", es sei deml, dies wird ausdrücklich gesagt. Zum Kreis der presumptions gehör(t)en die Vermutungen, daß ein Statute das Common Law nicht ändem will, daß ein Gesetz eine bestehende gerichtliche Zuständigkeit nicht einschränken will, daß wohlerworbene Rechte nicht beeinträchtigt werden sollen, daß Strafgesetze eng und zugunsten des Bürgers ausgelegt werden sollen, daß Gesetze nicht rückwirkend gelten etc. 56 Existenz und Umfang der implizierten Vermutungen seien zwar eine Quelle erheblicher Schwierigkeiten, meinte die Law Commission, doch dies müsse im wesentlichen hingenommen werden57 • Tatsächlich erinnern diese presumptions stark an die eher prinzipienorientierte Rechtsanwendung auf dem Kontinent. Erhellend ist auch hier der Kommentar von Glanville Williams: "One can therefore say that the courts retain the power to read statutes in the light of general principles. the only question being whether the particular court will be able to find or invent a general principle that will enable it to give a sensible effect to the statute. Much will depend on the legal knowledge and ingenuity of counsel and the court. as weil as on the readiness of the court to take a liberal view. "58

52 Law Com .. S. 19. TZ 32. 53 Glallvitte Wittiarru (1982), S. 97. 54 Glallvitte Wittiarru (1982), S. 108. 55 Re Sigsworth (1935) eh 89. 56 Vgl. zu den einzelnen Fällen Smith/Baitey (1991), S. 353 ff. 57 Law Com .• S. 21. 58 Glanville Williarru. S. 110.

VII. Methodenlehre, Fallvergleich, Gesetzesauslegung

43

Es gibt allgemeine Gesetzgebung zur Interpretation von Statutes, die allerdings erst jenseits der hier angesprochenen Punkte von (überhaupt ziemlich begrenzter) Bedeutung ist59 •

3. Zur Auslegung britischer Steuergesetze Steuergesetze werden nach moderner Auffassung grundsätzlich nach den für andere Statutes auch geltenden Regeln ausgelegt. In vielen Urteilen -besonders solchen aus der zweiten Hälfte des vergangenen und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts- ist allerdings von allerhand Besonderheiten die Rede. Immer noch lassen sich abstrakte Regeln nur unter Vorbehalten formulieren. Britische Darstellungen bedienen sich meist einer langen Kette von Zitaten, um die spezielle Problematik bei der Interpretation von Steuergesetzen zu verdeutlichen. Gerade darin zeigt sich, daß es hier mehr um richterliche Haltungen geht als um feststehende Regeln, die nur angewandt zu werden brauchen und zu gleichfömligen Ergebnissen führen. "A court cannot deal with hypothetical questions relating to the construction of legislation", heißt es in Simon's Taxes60 . Dementsprechend denken britische Richter auch nicht in abstrakten Auslegungsprinzipien, weml sie Steuergesetze anwenden. Die Art und Weise, wie Richter Steuergesetze auslegen. ist traditionell eng, enger noch als bei anderen Gesetzen. Traditionell spielen Prinzipien, Zwecke. Intentionen eine noch geringere Rolle als im übrigen Statute Law. Und letztlich entsprach es auch einer gewissen Tradition, den Steuerbürger vor dem staatlichen Zugriff auf seine Ressourcen zu schützen. In den letzten Jahrzehnten sind diese Haltungen unter Druck geraten, bis es schließlich in den achtziger Jahren zu einem Umschwung kam, der vielen als geradezu revolutionär erschien. Diese Entwicklung, ihre Ursachen und die Dynamik, in der sie sich ereignete. gehören zu den wichtigen Fragen dieser Arbeit. An dieser Stelle soll davon nichts weiter vorweggenonmlen werden.

4. Case Law im britischen Steuerrecht Der heutige detaillierte Gesetzgebungsstil im Steuerrecht geht zu einem großen Teil auf Entwicklungen ab den zwanziger Jaluen dieses Jahrhunderts zurück. Zuvor hatten sich Steuergesetze häufig noch sehr viel unbestinmlterer Begriffe bedient. Deshalb verwundert es nicht, daß gerade im Bereich der Grundlagen des Steuerrechts, insbesondere des Einkonmlensteuerrechts, anstelle oder ergänzend zu gesetzlichen Definitionen richterrechtliche Rechts-

59 lmerprerarioll AN 1978.

60 A. 1.301, issue 153. S. 211.

44

Einleitung

körper bestehen, z.B. bei dem Begriff "trade" , einer Einkunftsart61 . Geht es um die Auslegung derartiger, in Gesetzen vorkommender Begriffe, ist das dazu existierende Fallrecht ähnlich bedeutsam wie etwa entsprechende Entscheidungen deutscher Gerichte. Auch die eng am jeweiligen Gesetzeswortlaut orientierte Auslegung durch die Gerichte hat also nicht dazu geführt, daß Präzedenzfälle im britischen Steuerrecht unwichtig seien. VIII. Form und Substanz als Vergleichsmaßstab Für den Vergleich der Haltungen britischer und deutscher Richter erschien es als vorteilhaft, ergänzend einen gemeinsamen, systemneutralen Maßstab anzuwenden. Eine Aussage, die etwa dahingehend lautet, daß der Bundesfinanzhof den Gedanken der Mischiej RuLe aus Heydon 's Case wesentlich öfter bei der Beurteilung von Steuerspargestaltungen anwende als das House of Lords wäre vielleicht weitgehend zutreffend, würde aber doch wohl einige unbeabsichtigte Bedeutungen übermitteln. Würde auf der anderen Seite versucht, Argumentationen aus dem House of Lords mit den Kategorien des in Deutschland verbreiteten Auslegungskanons zu messen, bestünde ebenfalls die Gefahr, vieles Unbeabsichtigte auszudrücken und Mißverständnisse hervorzurufen. Auf der Suche nach einem solchen Maßstab stieß der Verfasser auf das bereits erwähnte Werk "Form and Substance in AngLo-American Law" von Atiyah und Summers62 , in welchem die Begriffe von ''form'' und "substance" als Grundkategorien jedes westlichen Rechtssystems und als Anknüpfungslinie rechtsvergleichender Untersuchung erkalmt und entwickelt werden. Die entsprechende Grundidee, daß auf der einen Seite rechtliche Formen zu finden sind, auf der anderen Seite eine davon verschiedene (wirtschaftliche) Substanz, ist im deutschen und britischen Steuerrecht eigentlich seit langem bekannt. Auch außerhalb des Steuerrechts wird rechtliche Fornl mitunter der davon verschiedenen, nicht unbedingt nur wirtschaftlichen Substanz gegenübergestellt. Bei Atiyah und Summers erhält die Unterscheidung von form und substance jedoch eine neue, bislang nicht erkannte Tragweite. Atiyah/Summers entwickeln ein differenziertes Konzept, um Form und Substanz auf verschiedenen Ebenen zu unterscheiden und beweisen auf eindrucksvolle Art, wie es in vielen verschiedenen Zusanmlenhängen funktioniert. Ihr Gedankengebäude ist nicht mit Blick auf das Steuerrecht entworfen, aber es kann auch dort zum Einsatz kOllIDlen63 • Was ursprünglich 61 Vgl. ss. 831. 832 ICTA 1988. 62 Oxford 1987 (reprint 1991). 6, Vgl. William D. Podkill. "Judicial Anti-Tax Avoidance in England: A United States Perspectlve". in (1991) BTR 283 ff.

IX. Zur Präsentation des Materials

45

in dieser Arbeit "nur" als Zusatzmaßstab gedacht war, wurde im Verlauf ihrer Entstehung zu einer ihrer wichtigsten Grundlagen. Bei der von Atiyah/Summers getroffenen Unterscheidung von Form und Substanz handelt es sich unter anderem um eine neue Art, die Spannung zwischen strikter Bindung und eigenschöpferischer Rechtsfindung des Rechtsanwenders zu beschreiben. Dabei muß man sich verdeutlichen, daß Form oder Substanz nicht Dinge sind, die einem bestimmten Sachverhalt untrennbar anhaften. Ein Vorgang hat nicht von sich aus eine Rechtsnatur , eine Forn1 oder einen wirtschaftlichen Inhalt, genausowenig wie eine Tonfolge notwendigerweise eine Melodie, ein Satz oder ein Kaufangebot ist. Rechtliche und wirtschaftliche Bedeutung, Forn1 und Substanz beruhen auf Wertungen, die erst an den Sachverhalt herangetragen werden. Es sind zusätzliche Kategorien, mit deren Hilfe Rechtsadressat und Rechtsanwender begründen, welche Folgerungen aus dem Sachverhalt zu ziehen sind. Es geht genauer gesagt nicht um Fornl oder Substanz eines Geschehens (das Geschehen "hat" weder Form noch Substanz), sondern darum, ob die dafür "erkalmten" Rechtsfolgen durch fonllale oder substantielle Argumentation gerechtfertigt werden. Wenn Atiyah und Sunmlers von Fornl und Substanz sprechen, dalm meinen sie damit zwei verschiedene, im juristischen Denken verbreitete Arten, auf anerkamlte Weise zu argwllentieren. Vieles, was bei Atiyah/Sunllllers als substantiell (bzw. "substantive") bezeichnet wird, entspricht dem, was in Deutschland teleologisch heißt. Die besondere Stärke der Ideen von Atiyah und Sunllllers liegt darin, daß die Autoren diese Unterscheidung nutzen, Wll einen neuen allgemeinen Maßstab in die Rechtsvergleichung einzufilluen. Tatsächlich haben sie mit "Fornl" und "Substanz" zwei weitgehend vernachlässigte Dimensionen aufgedeckt, unter denen Rechtssysteme gewinnbringend miteinander verglichen werden können. Die Grundlagen dieses Konzepts und in welchem Silme "Fornl" und "Substanz", "fornlal" und "substantiell" hier gebraucht werden, werden in Teil A ausfillulich beschrieben. Für die folgenden Teile ist das Verständnis dieses Konzepts von entscheidender Bedeutung.

IX. Zur Präsentation des Materials Vieles, was in dieser Einleitung gesagt wurde, galt dem Grundkonzept und den Fernzielen dieser Arbeit, manches auch dem, was in dieser Arbeit nicht behandelt, aber vorausgesetzt wird. Diese Arbeit hat auch ein Nahziel: Sie will den Leser möglichst konkret über Beispiele britischer Rechtsanwendung infornIieren. Was eigentlich ein fremdes Recht und fremdes Rechtsdenken ausmacht, kalm man kaunl abstrakt verstehen, viel nützlicher ist es oft, die wirklichen Konflikte, so wie sie sich ereignet haben, zu betrachten. Das Recht, welches hier im Mittelpunkt steht. ist aufgrund von wirklichen Streitfällen entstanden. Es ist geprägt von den Ereignissen. die es erzeugt habeil.

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Einleitung

Rechtsfällen ist hier deshalb viel Rawn gewidmet, und zwar sowohl den Sachverhalten -das ist mitbedingt durch die Methode des Fallvergleichs- als auch den richterlichen Ideen und Äußerungen, welche sie veranlaßt haben. Das Nahziel dieser Arbeit ist erreicht, wenn sie auch solchen Lesern, die sich den hier gezogenen Schlußfolgerungen nicht anschließen, und die vielleicht den ganzen Ansatz ablehnen, Stoff zwn Weiterdenken vermittelt.

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext Steuerrecht ist Recht. Es ist die Grundlage für die Entscheidung. wer wieviel zur Finanzierung des Staates "beizusteuem" hat. Materiell dient es unter anderem dazu. die Interessen der Steuerpflichtigen gegeneinander abzuwägen und zu einem gerechten Ausgleich zu bringen!. Es ist damit auch Aufgabe des Steuer-Rechts. die einzelnen Steuerpflichtigen davor zu schützen. überproportional viel zur Deckung des staatlichen Finanzbedarfs beitragen zu müssen. Steuem greifen erheblich in Rechte und Vermögen des Steuerpflichtigen ein. Das läßt sich nur rechtfertigen. wenn alle Steuerpflichtigen. bezogen auf ihre jeweiligen Verhältnisse und die daraus erwachsene Leistungsfähigkeit. gleich stark betroffen sind2 • In Großbritannien wird diese Vorstellung durch die Begriffe ability-to-pay principle und concept 0/ equal sacrifice verkörpert 3 . Die grundsätzliche Entscheidung. wie eine gleichmäßige. sozial gerechte Besteuerung zu verwirklichen ist. liegt beim Gesetzgeber, wobei auch der Gesetzgeber -sowohl in Deutschland wie in Großbritanllien4 - verfassungsmäßigen Bindungen unterliegt. Ein gesellschaftliches Problem entsteht dalUl, wenn die grundsätzliche gesetzgeberische Belastungsentscheidung lucht in die Praxis umgesetzt wird. Das kalm dadurch geschehen, daß in größerem Umfang Steuem hinterzogen werden, d.h. daß Steuerpflichtige durch falsche Angaben erreichen, daß die Finanzämter zu welug von ihnen einfordem. Mit Strafgesetzen, Kontrollmechalusmen und durch die Unterhaltung eines eigens zu diesem Zweck geschaffenen Apparates versucht der Staat, kriminelle Steuerhinterziehung in Grenzen zu halten. Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, wie die gesetzgeberische Belastungsentscheidung unterlaufen werden kann: Durch legale Umgehung im Wege kreativer rechtlicher Gestaltung. Sie ist lucht strafbar und unterliegt keinem kriminellen Stigma, sie ist ! Vgl. diesen Gedanken tur Deutschland z. B. bei Tipkel Lallg. Steuerrecht. 13. Auflage. Köln 1991. S. I; tur Großbritannien z.B. bei Lord Diplock. The Courts As Legislators (1965). in Harvey (ed.). The Lawyer and Iustice. 1978. S. 265 ff.. der seine Aussage: "Law is about man' s duty towards his neighbour" gerade anhand des Steuerrechts verdeutlicht: zur fairen Verteilung der Steuerlast und eventuellen "redistribution of wealth" vgl. auch Wllitehousel StlIart-Buttle. Revenue Law - Principles and Practice. 9. Auflage. London 1991. S.4. 1 Für Deutschland folgt dies direkt aus Artikel 3 Grundoesetz und dem Sozialstaatsprinzip. In Großbritannien wird vertikale und horizontale Gleichbehandlung traditionell als eine Grundforderung an das Steuerrecht betrachtet. vgl. Margarer Wilkillsoll. Taxation. London 1992. S. 17: J.A. KayIM.A. King, The British Tax System. 5. Auflage. Oxford 1990. reprint 1991. S. 41; G.S.A. Wheatcroft. The Attitude Of The Legislature And The Courts To Tax Avoidance. in (1955) Modem Law Review. s. 209. 212: "the principle of equality between persons of similar means is inherent in our system of direct taxation. " 3 Wilkinson (1992). S. 17 ff. 4 Da Großbritannien keine geschriebene Verfassung hat. ist das Parlament allerdings formell nicht gehindert. sich aus den meist auf convelltiolls beruhenden Bindungen selbst zu entlassen. Steuerliche Belastungsgleichheit hat auch keinen Verfassungsrang.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

wie McBarnet es ausdlÜckt- "Whiter than white collar crime"5. Ihre Folgen aber sind ähnlich wie die der Steuerhinterziehung: die Steuerlast wird zu Lasten der übrigen Steuerzahler verlagert6 . Steuerumgehung wird dadurch erleichtert, daß Besteuerung oft an rechtlichen Formen anknüpft7. Diese entsprechen nicht notwendig dem wirtschaftlichen Sachverhalt, der besteuert werden soll, im Gegenteil, rechtliche Fornl und wirtschaftliche Substanz fallen häufig auseinander8 • Damit ist Steuerumgehung gesellschaftlich ein wesentlich schwerwiegenderes Problem als Steuerhinterziehung. In Hinterziehungsfällen geht es allein um die Durchsetzung von Recht. Das ist mitunter schwierig, aber das Recht als solches wird nicht in Frage gestellt. In Fällen der Steuerumgehung jedoch wird das Recht von imlen heraus ausgehebelt und läuft leer, falls nicht eine Korrektur möglich ist. Nun liegt die Substanz der Steuergesetze nicht offen zutage, wird oft sogar nur schwer, wenn überhaupt, zu finden sein. Auch führt nicht jede geschickte Gestaltung zu Steuerumgehung. In komplexen Lebenssituationen mag eine kreative Gestaltung von Rechtsverhältnissen mitunter sogar praktisch notwendig sein, um zugunsten des Steuerpflichtigen die in diesem Fall substantiell gerechte Besteuerung zu erreichen. Die gleichen formalen Kriterien, die Umgehung ermöglichen, können Steuernormen über-inklusiv werden lassen9 . Das Problem ist, daß sich die substantiell gerechtfertigte Steuervemleidung äußerlich oft nicht von der Steuerumgehung unterscheidet. In diesem Kapitel sollen Grundfragen von Steuerumgehung, Recht und Gesellschaft angesprochen werden. Welche Bedeutung hat "Steuerumgehung" 5 Doreell MeBamet, "Whiter than white collar crime: tax, fraud insurance and the management of stigma", in (1991) British Journal of Sociology, S. 323 ff. 6 Vgl. Kay/Killg (1990), S. 41: "In practice, horizontal equity is most frequently violated ... when tax impinges heavily on some transactions but can be avoided on others; when tax is paid principall'y by the honest; or those without effective tax advisers or the readiness to reorganize their affalrs so as to minimize their liabilities ... A high proportion of popular complaints about the tax system results from inequities of this kind. There are serious dlfficulties here in the UK income tax." 7 Vgl. BUllern;orths UK Tax Guide 1991-1992. consultant editor lohll Tiley, 10. Auflage, London 1991. TZ 1:05. 8 Tipke/Kruse. AO. Anm. I zu § 42. 9 Vgl. lall Fe"ier. The Meaning Of The Statute: Mansfield On Tax Avoidance. in (1981) British Tax Review. S. 303, 307: "Slopr.ily drafted statutes are used to impose penal tax liabilities not intended by Parliament"; vg . auch Wheaterojt. (1955) MLR 209. 225. welcher meinte. daß Gesetze in der gesetzgeberischen Erwartung einer vernünftigen Anwendung durch die Steuerbehörden mitunter absichtlich zu weit gefaßt wurden. Demgegenüber fuhren Whilel/Ouse/Stuarl-BulIle (1991). S. 7, die umstrittene Praxis der britischen Steuerverwaltung, nach eigenem Gutdünken extra slatutory cOllcessiolls. d. h. gesetzlich nicht geregelte Steuert:,rleichterungen. zu gewähren. gerade auf die immer wieder vorkommende (versehentliche) Uber-Inkluslvität von Steuernormen zurück. Vgl. auch HeIlsei, Zur Dogmatik des Begriffs "Steuerumgehung" in Festgabe fur Ernst Zitelmann, 1923. S. 219, 257 (Fn. 4): "Die Umgehung eines (unbeabsichtigten!) Gesetzesfehlers fuhrt oft erst zu dem wirtschaftlichen Zustand. den der Gesetzgeber herbeizufuhren beabsichtigte. "

I. SprachgebrauchlDefinitionen

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in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Großbritannien und Deutschland? Ist die Schwierigkeit, die seit langem bekannte Erscheinung "Steuerumgehung" zu bewältigen, Zeichen innerer Widerspruche im Recht selbst?

I. Sprachgebrauch/Definitionen

"Tax avoidance" im britischen Englisch bedeutet soviel wie "Steuerumgehung"l und "Steuervemleidung"2. Es läßt sich in beiderlei Simle übersetzen und wird in beiderlei Simle gebraucht. In einem englischen Steuerrechtslehrbuch beginnt das entsprechende Kapitel mit den Worten: "Tax plamung (or tax avoidance) excites different reactions in different people including judges"3. Und wahrscheinlich wäre es auch richtig zu sagen: '" Tax avoidance' ruft verschiedene Reaktionen schon bei einer einzigen Person hervor", je nachdem, von was für einem Fall gerade die Rede ist, "a cheap exercise in tax avoidance" oder "a legitimate avoidance of liability of taxation"4. Die im Deutschen von Tipke/Kruse5 vorgeschlagene strikte verbale Trelillung zwischen "Steuervemleidung" als "lucht-mißbräuchlicher" und "Steuerumgehung" als "mißbräuchlicher", jeweils legaler Steuerersparung hat in der englischen Sprache bislang kein anerkanntes Äquivalent 6 . Im Anschluß an Lord Templeman in seinem judgmel/1 zu der neuseeländisches Recht betret~ fenden Entscheidung des House of Lords (Privy Council) in IRe v Challellge Corporatioll Lld7 wird lar avoidallce gelegentlich in Kontrast zu wirtschaftlich begründeter laX miligatioll gesetzt. Im House of Lords wurde diese begriffliche Unterscheidung erst kürzlich wiederho11 8. ohne daß man sie deshalb als allgemein anerkannt ansehen könnte. Auf ähnliche Weise wollen manche Autoren zwischen la\' al'oidallce und lar plallllillg unterscheiden 9. Derartige Unterscheidungen haben sich aber nicht allgemein durchgesetzt lO .

I

1987.

Collins. Pons-Großwörterbuch Englisch/Deutsch. I. Auflage. Stuttgart 1981. Nachdruck

2 Diell/Moss/LoreIlZ. Wörterbuch fiir Recht. Wirtschaft und Politik. Teil I EnglischDeutsch. 4. Auflage. München 1987. 3 Slephell W. Maysoll. Revenue Law. 9. Auflage. London 1988. S. 8. vgl. Revenue Law Committee of The Law Society. Tax Law In The Melting Pot. London 1985. S. 24: "Unfortunately the boundaries of tax avoidance are undefined. 1I is a phrase which means different things to different people. " 4 So die von Stamp 1. in Re WeslOlI 's SeUlemellIS getroffene Unterscheidung (1968) I All England Law Reports. S. 720. 725. 5 AO. § 42. RN I. 6 Dies betonen zu Recht Vogel. Steuerumgehung nach innerstaatlichem Recht und Abkommensrecht. SluW 1985. 369 und Walz. Richterliche Rechtsfindung im Steuerrecht der USA. SluW 1982. I. 10 (fiir amerikanischcs Englisch). 7 (1986) Simoll 's Tax Cases 548. 555. 8 EIlSigll TQ/!kers (Leasillg) LId. \. SlOkes (Illsperlor of Tares) (1992) All ER 275. 295 c (Lord Goff of Chlcvclcy). 9 Vgl. L.E. T. 101les. in International Bar Association (ed.). Tax Avoidance. Tax Evasion. London 1982. S. 80 f. 10 Vgl. Malcolm Gammie. in Strategie Tax Planning (ed. A.I. Shipwriglu. ass. ed. lejJrey W. Price) London. incorporating supplement 6. March 1991. D/3: "The writer would eschew any atlempl 10 distinguish legitimale and illegitimate tax avoidance. strategie tax planning. tax 4 Nevennann

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

Diese und andere VersucheIl zeigen aber nur, daß vergleichbare Unterscheidungen gedanklich eben doch immer wieder vorkommen. Was alles unter tax avoidance verstanden werden kann, verdeutlicht beispielhaft auch die folgende Beschreibung: "Tax avoidance comes in many different forms, some of which are socially acceptable and even desirable, while others are not. At one end of the scale it includes taking advantage of fiscal incentives offered by Parliament in order to encourage a particular activity ... It covers making full use of exemptions and concessions deliberately granted by Parliament, even if only for reasons of administrative convenience... In a less acceptable fonn, tax avoidance extends to taking advantage of statutory exemptions in situations for which they were never intended by Parliament. and the exploitation of "Ioopholes." that is to say, situations c1early within the intended scope of the tax but in fact falling outside the ambit of any relevant charging section. "12

Ein Grund für das Fehlen einer anerkannten begrifflichen Differenzierung könnte sein, daß konkrete, scheinbar griffige Abgrenzungskriterien, die etwa auf "Mißbrauch"13 oder den "Normzweck"14 abstellten, in Großbritannien bislang nicht allgemein überzeugen konnten: In der Sprachschwierigkeit spiegelt sich die inhaltliche Auseinandersetzung. Nach wie vor läßt sich das Problem als "ever-controversial" bezeichnen l5 • Gemeinsam ist bei den Gesellschaften und Rechtsordnungen jedoch zumindest die Erscheinung, daß bestimmte legale steuersparende rechtliche Gestaltungen auf Widerspruch stoßen können, sei es, daß sie Gegenstand von Prozessen werden, sei es, daß gegen sie gerichtete Gesetzentwürfe eingebracht werden. Die entstehenden Kontroversen, so die hier aufgestellte These, reflektieren zwei grundlegende Probleme: Zum einen das konkrete materielle Problem der gerechten Lastenverteilung, zum anderen die Grenzen dessen, was normengestütztes, demokratische Legitimation beanspruchendes Recht noch leisten kann. Dieses letztere Problem ist nicht nur steuerrechtlicher Art, mitigation or the like. Tax avoidance cannot even be regarded as an elephant - to be recognized when seen. but not to be described ... 11 Whiterrum versucht das Problem mit folgendem Vergleich zu beschreiben: "It is tempting to compare the dictum attributed to Louis Armstrong: 'If you need to ask what jazz is, you'lI never know'''. Whiteman On Capital Gains Tax, 4. Auflage, London 1988, TZ 5-85, Fn. 12. S. 82). 12 Peter Milieu. A New Approach To Tax Avoidance Schemes, in (1982) Vol. 98 The Law Quarterly Review, S. 209,211; bei P. White, in Longman's Practical Tax Planning and Precedents, 1990, release 5, S. 1402 (B9.0030) heißt es im Kontrast dazu: "However, the expression 'tax avoidance', as traditionally used, signified, in relation to business transactions, the exercise by a businessman on a rational basis, having regard to taxation law and practice, of his freedom of choice as to what he did and as to th~ ways and means to be employed to achieve his intended object"; vgl. auch die weitergehenden Uberlegungen bei J.F. Avery Jones, Nothing Either Good Or Bad, But Thinking Makes It So - The Mental Element In Anti-Avoidance Legislation. in (1983) BTR. S. 9,31 - 34. 13 Vgl. § 42 AO . .. 14 Vgl. Dallzer, Die Steuerum~ehung, Diss. Bochum 1981, insbesondere S. 19 ff (mit Uberb1ick über andere Kriterien); TlpkelKruse, AO, § 42 AO, RN 1. 15 M. C.Flesch. Tax Avoidance - The Attitude Of The Courts And The Legislators, in (1968) Current Legal Problems. S. 215.

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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es ist ein Grundproblem modemen Rechts überhaupt. Bei den Gestaltungen, die diese Spannungsverhältnisse veranschaulichen, setzt die weitere Untersuchung an. 11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

Mehr oder weluger phantasievolle Versuche, Abgaben zu vemleiden, hat es gegeben, seit sie erhoben werden. Die Geschichte steuervemleidender Sachverhaltsgestaltungen ist ebenso lang wie kurios. Auch rechtliche GestaltmIgen wurden -in den selteneren Fallgruppen, wo dies möglich war- schon früh zur Steuervemlinderung verwandt!. Hier finden sich die Anfänge von. Steuermugehung im modemen Sitllle, mit der in dieser Arbeit gewisse Steuerersparnisse durch den kreativen Einsatz rechtlicher Gestaltung bezeichnet werden. Zumindest in ihrer jetzigen Vielgestaltigkeit handelt es sich allerdings um eine verhältlusmäßig neue gesellschaftliche Erscheinung. Sie hat vor allem im Bereich direkter Besteuerung Bedeutung erlangt und ist in ihrer Entwicklung eng mit der Entwicklung der direkten Besteuerung verwoben2 • Damit soll lucht übersehen werden, daß Steuerumgehung auch in anderen Bereichen, besonders bei bestinllllten Verkehrsteuem, wie Umsatzsteuer, Grunderwerbsteuer bzw. VAT und Stamp Duty:., zu verzeichnen ist; das größte Gewicht aber hat das Problem inllller noch bei den direkten, besonders den einkonllllensabhängigen Steuem4 . Der folgende Überblick über die Entwicklung des gesellschaftlichen Phänomens "Steuermllgehung" in Großbritanluen stützt sich daher vor allem auf Beispiele aus dem Bereich der direkten Besteuerung. Ausgehend von der Vorstellung, daß Recht verschiedene Interessen illllerhalb der Gesellschaft zum Ausgleich bringen soll, ist es Ziel des folgenden Absclllutts, elluge Hintergrundinformation über die Gesellschaft und Steuermugehungen in Großbritallluen zu vemlitteln, um die innerhalb des heutigen britischen Rechts zum Ausdruck konllllenden Wertungen besser nachvollziehen zu kÖllllen. Ohne Berücksichtigung auch historisch-politischer und wirtschaftlicher Besonderheiten Großbritallluens und Deutschlands wäre

1 So wurden Trusls bzw. ihre Vorläufer (Uses) nicht nur zur Vermeidung feudaler Verpflichtungen. sondern auch als Mittel gegen Erbschaftsteuern eingesetzt. Dies läßt sich unschwer mehr als 450 Jahre bis zum "SlalUle oj Uses" zurückverfolgen. vgl. .l.H. Baker. An Introduction to English Legal History. 3. Auflage. London 1990. S. 288. 2 Vgl. fiir Großbritannien: Commiuee Oll Elljorremel/l Power.l· Of n,e Revellue Depanmenls. Chairman: Lord Keil/! of Kinkei. Report. London 1983. Vol.1. S. 155 ff (im fol,senden "Keilh Report") und schon The Royal Commissioll Oll Illrome Tax 1920. zitiert nach Kellh Report. Vol. 11. S. 778. Selbst die Vorläufer moderner Steuerumgehung. Trusts zur Vermeidung von Erbschaftsteuern. bezogen sich auf direkte Steuern. 3 Vgl. z.B. Ingram v IRC (1986) Ch 585. 4 Vgl. Keilh Report (1983). S. ISS.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

dies nicht möglich 5 . So weist auch Walz auf die erhebliche Bedeutung sozialpsychologischer und politischer Faktoren nicht nur für die Steuergesetzgebung, sondern auch für die Gesetzesauslegung hin6 . Die hier auf Deutschland bezogenen Ausführungen fallen allerdings wesentlich kürzer aus: Die Situation in Deutschland dürfte im wesentlichen bekannt sein. Für die spätere rechtswissenschaftIiche Argumentation kamt darauf zurückgegriffen werden, ohne daß es einer vorgezogenen, ohnehin notwendig unvollständigen allgemeinen Darstellung bedürfte. Es sollen daher nur solche Punkte der deutschen Rechts- und Gesellschaftsentwicklung ausdrücklich angesprochen werden, die im Hinblick auf eine unterschiedliche rechtliche Weichenstellung in Deutschland und in England bedeutsam erscheinen7 .

1. Zur Entwicklung von Steuerumgehung in Großbritannien unter besonderer Berücksichtigung direkter Steuern a) Ausgangslage: Zur Entwicklung der Einkommensteuer König CharIes I hatte versucht, Steuern ohne Zustimmung des Parlaments zu erheben, damit schon in der Magna Charta verbriefte Rechte verletzt und einen Bürgerkrieg verursacht, an dessen Ende im Jahre 1649 er geköpft wurde. Nach weiteren politischen Veränderungen, vor allem der sogenannten Glorious Revolution, schrieben Parlament und König in der Bill oj Rights 1689 nochmals ausdrücklich fest, daß Geldabgaben nur mit Zustimmung des Parlaments erhoben werden dürften. Dieses Postulat wurde künftig respektiert. Im Jahre 1799 führte das britische Parlament zur Finanzierung des Krieges gegen Napoleon erstmals eine Einkonilltensteuer8 ein. Nach ihrer vorübergehenden Abschaffung im Jahre 1802 wurde sie schon 1803 wegen des wieder aufgeflammten Krieges erueuert und bis 1816 erhobetl. Die Grundlagen des heutigen britischen Einkommensteuerrechts gehen bereits auf diese von Addington geformte Steuer zurück 9 , insbesondere das schedular system, d.h. daß als Einkommen nur besteuert wird, was unter einen der heute sechs schedules fällt (the doctrine oj the source) und das Prinzip, Steuern möglichst an ihrer Quelle abzuziehen (deduction oj tax at source)IO. Seit der 5 Vgl. Fritz Jähnke. Die deutsche und englische Einkommensbesteuerung, Diss. Berlin 1935. S. 149. 6 Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, Grundlinien einer relativ autonomen Steuerrechtsdogmatik. Heidelberg/Hamburg (1980). S. 213 Fn. 10 mit weiteren Nachweisen. 7 Es fallt allerdings auf. daß legales steuersparendes Verhalten als soziales Phänomen nirgends umfassend empirisch untersucht wurde. Einer breiten juristischen Literatur und zahlreichen Urteilen. die deutlich zeigen. daß hier ein gesellschaftliches Problem ist. stehen keine sozialwissenschaftlichen Forschungen über Fakten gegenüber. 8 Capital Gains Tax und Corporate Tax wurden erst 1965 eingeführt. 9 Kay/ King (1990). S. 56. 10 Simon's Taxes. Vol. A. issue 133, A 1.455; Ursprünglicher Sinn dieses Systems war es, den Steuerpflichtigen zu ermöglichen. ihre Gesamteinkünfte geheimzuhalten; vgl. auch

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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britische Premier Sir Robert Peel sie 1842 als "befristete" Maßnahme wiederbelebte, hat sich die Einkommensteuer mittlerweile zu der wichtigsten Quelle des britischen Staatseinkommens entwickeJt1l. Wie von ihrem Anbeginn an muß ihre Fortdauer auch heute noch jedes Jahr durch das Parlament beschlossen werden. Das geschieht -jeweils zusammen mit anderen Steuern im jährlichen Finance Act, der auf der Grundlage des dem Parlament vorliegenden Entwurfs, der Finance Bill, nach ausführlicher Debatte erlassen wird l2 . Die durch die jährlichen Finance Acts unübersichtliche Einkonmlensteuergesetzgebung wird in weiten Abständen konsolidiert, d.h. in einem einheitlichen Gesetz zusanmlengefaßt; zuletzt geschah dies 1988 \3. Die Belastung durch Einkonmlensteuer war bis zum Ersten Weltkrieg unerheblich. Nur wenige waren steuerpflichtig und die Beträge, um die es ging, waren gering. So verwundert es nicht, daß steuervemleidende Gestaltungen, auch wenn sie gelegentlich vorkanlen, nicht als Problem angesehen wurden l4 . Erstmals im Jahre 1910/1911 wurde zusätzlich zur nicht progressiven Einkonmlensteuer für Bezieher höherer Einkonmlen eine ergänzende, abgestufte Einkommensteuer, die sogenannte "Super-Tax" erhoben ls . Doch auch die dadurch verursachte Belastung l6 rechtfertigte den Aufwand steuersparender Gestaltungen im allgemeinen nicht l7 .

Kay/ Kil/g (1990). S. 55 f: fur Hauptbeispiele fur Steuerabzug im Bereich der II/mme Tax vgl. die Aufzählung bei Wllitelwuse/Stuart-Butrle (1991). TZ 4.22. S. 30. 11 R. L. Harril/gtoll. Money and finance: public expenditure and taxation. in Prest/Coppock's. The UK Economy - A Manual 01' Applied Economics. M.J. Artis (Hrsg.). 12. Auflage. London 1989. S. 121. 12 Das Steuerjahr läuft dabei jeweils vom 6. April bis zum 5. April des Folgejahres. 13 Zuvor 1970. 1952 und erstmals 1918. 14 Vgl. David W. Williams. Taxing Statutes Are Taxing Statutes. The Interpretation 01' Revenue Legislation in Vol. 41 (1978) MLR 404. 411: David Stop!orth. The Background to the Anti-Avoidance Provisions Concerning Seulements by Parents on their Minor Children. in (1987) BTR 417. der bei Auswertung von Protokollen des "Se/ert Committee 01/ II/come al/d Properry Tax" (1852) auf Zeugenaussagen stieß. die Umgehungsf.il1e schilderten. Das Komitee hat daraus aber keine Folgerungen gezogen. Vgl. dazu auch CG. Kries. Grundzüge und Ergebnisse der englischen Einkommensteuer. in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. X. 1854. 517. der zu dem durch das Komitee aufgedeckte neuartigen Verhalten des englischen Steuerbürgers bemerkt: "Es ist sogar vorgekommen. daß rechnungskundige Personen angenommen und bezahlt wurden. um Rat zu geben und die Rechnungen so zu entrichten. daß die Steuer vermieden wurde. " IS Diese Steuer blieb als Ergänzung zur Einkommensteuer bis zum Inkrafttreten des Fillallce Act 1971 erhalten. vgl. Potter And Monroe's Tax Planning With Precedents. by D. C Potter / A.R. Tlwmhill. London 1978. S. 2: nach einigen Modifikationen im Jahre 1927 wurde sie "Surtax" genannt. vgl. dazu Wllitemall/Wheatcroji. On Income Tax And Surtax. London 1971. S. 8. TZ 1-13. 16 Bis 1909 schwankte der Satz zwischen 3 % und 7 %. Nach Einführung der super-tax war bei Einkommen über b 5.000 (ca. b 150.000 nach heutigem Maßstab) eine Spitzenbelastung von 8% denkbar. vgl. dazu Kay/Kil/g (1990). S. 20. 17 So Stop!orth (1987) BTR 418. der sich insbesondere auf eine Veröffentlichung von E.E. Spicer, in The Accountant vom 21. Januar 1911 bezieht. Nach Darlegung von sieben Möglichkeiten der Steuerersparnis kommt Spicer zu dem Ergebnis. dall ihre nut Kosten und Schwierigkeiten verbundene Umsetzung in der Regel nicht lohnen werde.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

b) Die Entstehungsbedingungen "moderner" Steuerumgehung Die Verhältnisse änderten sich radikal im Ersten Weltkrieg. Das gross income steigerte sich von Anfang des Krieges bis zu seinem Ende von 1,1

Milliarden Pfd. auf 2 Milliarden Pfd., die Belastung durch Einkommensteuer und Super-Tax aber von 47 Millionen Pfund auf 293 Millionen Pfund, d.h. während sich die Volkseinkünfte tucht ganz verdoppelten, stieg die Steuerlast um mehr als das Sechsfache l8 . Daneben wurde die sogenannte "Excess Profits Duty", eine Kriegsabgabe, eingeführt, der Gewinne unterlagen, soweit sie das Vorkriegsniveau überstiegen. Ihr Steuersatz betrug 50 %, und mehr als ein Viertel des gesamten Steueraufkommens wurde über diese Steuer aufgebracht l9 . Auch die allgemeinen Steuersätze wurden wesentlich erhöht, die Freigrenzen gesenkt und Steuervorteile, z.B. für Anlagen in Lebensversicherungen, eingeschränkt. Auf der anderen Seite waren diese einschneidenden Änderungen tucht möglich, ohne in aller Eile zahlreiche neue Steuererleichterungen, Härteregelungen etc. zu schaffen. Das Ergebnis war, daß die schon in der Vorkriegszeit als refonnbedürftig angesehene Gesetzgebung auch Experten als unverständlich und konfus erschien2o . Dies waren die Bedingungen, unter denen Steuerumgehung im modernen Sinne entstand21. Von gesellschaftlichen Institutionen "entdeckt" wurde das Problem jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg 22 . c) Erste Umgehungsgestaltungen Nach dem Ersten Weltkrieg begriff die britische Bevölkerung sehr schnell, daß die Steuern auch auf Dauer weit über dem Vorkriegsniveau bleiben würden23 , selbst die Excess Profits Duty wurde zunächst weitergeführt. Eine im Jahre 1919 einberufene Expertenkommission untersuchte gründlich alle Aspekte der Einkommensteuer, einschließlich Super-Tax und legte einen umfangreichen, über mehrere Jahrzehnte für Einkommensteuerfragen autoritativen Grundsatz-Bericht24 vor. Im Hinblick auf die Vermeidung von SuperTax wurden zahlreiche Gestaltungen aufgedeckt, die die Kommission als tucht hinnehmbar ("evil") ansah und gegen die ihrer Meinung nach etwas unter18 Simoll 's Taxes. A. 1.417, S. 293; Ursu/a Hieh, Die Öffentliche Finanzwirtschaft Grossbritanniens 1799-1949, in Handbuch der Finanzwissenschaft, Erster Band, Hrsg. Wilhelm Gerloff I Fritz Neumark, Tübingen 1952, S. 327, 335. 19 Simoll's Taxes. A 1.417, S. 293. 20 Simoll 's Taxes. A 1.418, S. 294. 21 Vgl. SlOpfonh, (1987) BTR 417, 432; Wheatcroft, (1955) MLR 209, 210. 22 Flesch, (1968) CLP 236; Wheatcroft, (1955) MLR 210; lones (1982), S. 83. 23 Wheatcroft, (1955) MLR 210. 24 Repon of the Royal Commissioll Oll lncome Tax 1920.

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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nonmlen werden sollte25 . Dazu gehörten verbreitete Praktiken, Super-Tax durch die Nicht-Ausschüttung von Kapitalgesellschafts-Gewinnen zu verzögem, Gewinne durch die Ausgabe von Bonus-Aktien in Kapital umzuwandeln, um sie der Besteuerung beim Empfänger zu entziehen oder Einkunftsquellen pro fomla auf andere Familielmlitglieder zu verlagem. Stopforths Forschungen26 -in teilweise erst seit kurzem zur Verfügung stehenden Quellen- haben die durch Steuerumgehung seinerzeit ausgelöste gesellschaftliche Dynamik näher beleuchtet. Stopforth konzentrierte sich dabei auf die spezielle Umgehungsmethode der fomlellen, aber tatsächlich nicht kontrollierbaren Verlagerung von Einküilften auf Kinder durch settlements. Dies ist nur eine von mehreren fiiihzeitig gebräuchlichen Steuersenkungsmethoden; mit aller Vorsicht läßt sich aber annehmen, daß die untersuchten Abläufe beispielhafte Bedeutung haben könnten. Damit diese Gestaltung künftig nicht länger zu Steuererspamissen führe, hatte die Royal COInmission zielgerichtete Gesetzgebungsvorschläge unterbreitet. Diese Vorschläge wurden jedoch nicht sogleich umgesetzt. Offenbar hatten die Verantwortlichen einen politischen Handlungsbedarf nicht sogleich erkannt. Die Finanzbehörden hatten es auch versäumt, das Ausmaß der Einkonmlensverlagerungen genauer festzustellen. Die Konmlission konnte ihre diesbezüglichen Angaben nicht mit harten Fakten untemlauem, sondem mußte sich auf nur allgemeine Beschreibungen stützen27 • Das genügte nicht, um sofort etwas zu bewegeIl. Die schließlich -nach Rückfragen des Chancellors- noch weiter ausgeleuchteten Umgehungsmethoden führten dann auch in den Augen der politisch Verantwortlichen zu "erschreckenden Ungleichheiten" ("startling inequalities"). "I think most people will recognise that it is not fair that those that are clever enough to find ways to do these things should benefit at the expense of odlers", sagte der Chancellor oi the Exchequer in der Haushaltsdebatte 1922 28 , in der die vorgeschlagenen Änderungen dann schließlich in modifizierter Foml verabschiedet wurden. Im Oktober 1933 wurde wiederum ein Komitee gebildet, welches sich mit Steuerumgehungen befaßte ("The Board's Committee on Tax Evasion"). Diesmal waren die Steuerbehörden in der Lage, die durch (fomlale) EinkommellSverlagerung auf Minderjährige der Besteuerung entzogenen Beträge zu schätzen und Zahlen über die eingerichteten settlements vorzulegen. Schon für 1931, bevor diese Methode wirklich populär wurde, belief sich der Schätz25 Vg!. Stop!ortJz. (1987) BTR 420. 26 Stop!ortJz. ebd.; ders .• The First Attack on Settlements Used for Income Tax Avoidance. in (1991) BTR 86 ff. 27 Stop!orth, (1991) BTR 102. 28 Hansard. May I. 1922. co!. 1033. Sir R. Horne.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

betrag auf b 587.00029 . Die Kommission empfahl in ihrem im Februar 1934 vorliegenden Bericht gesetzgeberische Maßnahmen. Auch diesmal wurden die Empfehlungen nicht sogleich aufgegriffen, sondem von der Behördenspitze zurückgehalten (im Jahre 1934 aufgrund etwaiger Äußerungen des Lord Chancellors und im Jahre 1935 ohne heute nachvollziehbaren Grund)3o. Erst mit dem Finance Act 1936 wurden. die Empfehlungen der Kommission umgesetzt. Die Entwicklung in dem von Stopforth beispielhaft näher erforschten Bereich veranschaulicht die Schwierigkeiten, die das neue Problem Steuerumgehung für die Finanzbehörden und den Gesetzgeber verursachte. Im Rückblick betrachtet bedeuten die Finance Acts der dreißiger Jahre den ersten koordinierten Angriff staatlicher Gewalten gegen Steuerumgehung 31 • Diverse Steuersparmöglichkeiten wurden durch Gesetzgebung eingeschränkt. Betroffen waren z.B. auch Gestaltungen, die die Verlagerung von Einkunftsquellen ins Ausland enthielten oder Manipulationen durch die Einschaltung von EinMalm-Gesellschaften verbunden mit künstlichem (damals steuergünstigen) Nicht-Ausschütten von Gewinnen sowie allgemein die umfassende Verwendung von Trusts und Settlements 32 . Auch die Möglichkeit rückwirkender Besteuerung bestimmter Transaktionen wurde erwogen, jedoch wenig angewandt. Das System insgesamt wurde komplizierter 33 . d) Zum Beitrag der Justiz Bei Betrachtung dieses Prozesses drängt sich die Frage auf, welche Rolle eigentlich die Justiz gespielt hat, um dem neuen Phänomen der Steuerumgehung zu begegnen. Dem soll erst an späterer Stelle genauer nachgegangen werden. Für die Zwecke dieses Teils reicht es aus, auf einige Grundentschei29 SlOpforrh. (1987) BTR 428. Das entsprach nach den bei Simon's Taxes. A 1.491, S. 333, veröffentlichten Statistiken zwar nur ca. 0.2 % des Gesamtaufkommens von Income Tax und Surtar. aber es handelte sich zum einen nur um eine von vielen Gestaltungen. zum anderen stand die explosive Verbreitung dieser Methode noch bevor (während z. B. zwischen April 1931 und März 1932 nur 466 neue bedingt widerrufliche "settlements" angemeldet wurden. waren es zwischen April 1936 und März 1937 bereits 25.505). 30 Stopforrh. (1987) BTR 432: ders .. (1992) BTR 105 31 Simoll 's Taxes. A 1.431. 32 Simoll's Taxes. A.1431. 1.432; Ein Beispiel fiir eine entsprechende, in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg typische Manipulation geben Pennycuick, KC und Hills als Prozeßvertreter der Steuerbehörden in ihrem Plädoyer in Pott's Executors v IRC (1951) AC 443,448 (HL): Danach sei es weit verbreitet gewesen, daß wohlhabende Steuerpflichtige Mittel in sogenannten "accumulatioll trusts" unterbrachten, wo sie zugunsten von Abkömmlingen oder anderer nahestehender Begünstigter gehalten wurden. Insoweit habe keine Surtat gezahlt zu werden brauchen. Die entsprechenden Mittel seien den Steuerzahlern dann wiederum geliehen worden, ohne von den Trustees zurückgefordert zu werden. Dies sei regelmäßig erst nach dem Tod des Steuerzahlers geschehen. so daß dann aufgrund der Abflüsse aus dem Nachlaß die Erbschaftsteuern verringert worden wären. Erst mit sec. 40 des Fillallce AN 1938 sei dieser Gestaltung begegnet worden (zur heutigen Rechtslage vgl. sec. 677 ICTA 1988). 33 SimO/l 's Taxes. A. 1.433.

H. Erscheinungsfonnen und Auswirkungen

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dungen hinzuweisen. die verdeutlichen. daß der anfängliche Beitrag der Justiz zur Bekämpfung der Steuerumgehung äußerst gering war. Die Rechtsprechung hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Regel entwickelt. wonach Steuergesetze wortwörtlich und eng auszulegen seien34 • In unzähligen späteren Entscheidungen (auch in vielen anderen ConmlOn-LawJurisdiktionen) wurde dafür folgende Passage aus der Entscheidung des House of Lords in Partington v Attorney General aus dem Jahre 1869 zitiert: " ... as I understood the principle of all fiscal legislation. it is this: If the person sought to be taxed comes within the letter of the law he must be taxed. however great the hardship may appear to the judicial mind to be. On the other hand. if the Crown. seeking to recover the tax. cannot bring the subject within the letter of the law. the subject is free. however apparently within the spirit of the law the case might otherwise appear to be. In other words. if there be admissable. in any statute. what is called an equitable construction. certainly such a construction is not admissable in a taxing statute. where you can simply adhere to the words 01' the statute. "35

Diese Regel. die im Widerspruch zu der noch Anfang des 19. Jahrhunderts umstrittenen Auffassung stand. ob Steuergesetze nicht im Zweifel einfach zugunsten der Krone auszulegen seien36 • hatte sich erst in der Mitte jenes Jahrhunderts in Großbritamuen durchgesetzt3 7 und war zunächst durchaus zweischneidig 38 . Im zwanzigsten Jahrhundert. vor dem Hintergrund viel höherer Steuern und immer mehr steuervenlleidender GestaltUllgen änderten sich ihre Auswirkungen; sie bekam ein anderes Gewicht. welches inmler öfter zugunsten der Steuerzahler in die Waagschale fiel. Charakteristisch sind die folgenden Worte von Lord President Clyde: "No man in this country is under the smallest obligation. moral or other. so to arrange his legal relations to his business or to his property as to enable the Inland Revenue to put the largest possible shovel into his stores. The Inland Revenue is not slow -and quite rightly- to take every advantage which is open to it under the taxing statutes for the purpose of depleting the taxpayer' s pocket. And the taxpayer iso in like manner. entitled to be astute to prevenl. so far as he honestly can. the depletion of his means by the Revenue. "39

In dem berülmlt gewordenen Fall IRe v Duke of Westminster4 0 wurde daraus im House of Lords (Lord Tomiin):

34 Vgl. dazu Wileatcroft. (1955) MLR 215: ein ausführlicher Überblick über die Entwicklung findet sich bei David W. WiJliams. (1978) MLR 404. 35 (1869) Vol. IV L.R. 100. 122 (Lord Cairns). 36 So die 1809 erschienene Ausgabe von Blackstolle's Commentaries. Vol. 1. S. 323. zitiert nach David W. Williams (1978) MLR 404. 411 mit Nachweisen von gegenteiligen Auffassungen: vgl. auch H.H. MOlIme. Intolerable Inquisition? Reflections On The Law Of Tax. The Hamlyn Lectures. 33rd Series. London 1981. S. 53. 37 David W. Williams. (1978) MLR 404. MOllroe. Inquisition. S. 53. 38 Im Falle Partillgtoll wurde sie z. B. gegen die Steuerzahler eingesetzt. 39 Ayrsllire Pullmall Motor Services alld D.M. Ritchie v IRC (1929) 14 TC 754. 763. 40 (1936) AC I = (1935) All ER 259. 267 I.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext "Every man is entitled. if he can. to order his affairs so that the tax attaching under the appropriate Acts is less than it othelWise would be. If he succeeds in ordering them so as to secure this result. then however unappreciative the Commissioners of Inland Revenue or his fellow taxpayers may be of this ingenuity. he cannot be compelled to pay an increased tax. "

Diese Zitate wurden zu Leitsätzen der extremen richterlichen Zurückhaltung. die die britische Justiz über weite Abschnitte dieses Jahrhunderts kennzeichnete4 1. e) Steuerumgehung in den vierziger bis sechziger Jahren Noch im Jahre 1939 betrug der durchschnittliche Jahreslohn in Großbritantrien b 180,00. Einkommensteuer zahlte nur eine Minderheit42. Dies änderte sich durch den Zweiten Weltkrieg. Steigenden Löhnen standen niedrigere Grundfreibeträge und höhere Steuersätze gegenüber43 . Die Mehrheit der Arbeitnehmer wurde steuerpflichtig; revolutionäre Änderu.ngen der Steuerverwaltung und der Abzugsmethode (ab jetzt: PAYE, Pay-as-you-earn) folgten. Wiederum wurde eine Excess Profits Tax eingeführt, mit welcher zunächst 60 %, sodann -mit Verabschiedung des Finance Acts 1940- sogar 100 % des die Vorkriegsgewinne übersteigenden GewinIlS als Steuer zu zahlen waren. Dies wurde ergänzt durch strafrechtliche und weitere, teilweise rückwirkende Anti-Umgehungsbestimmungen44, die durchaus einen gewissen Erfolg hatten45 . Vieldeutige, sehr weitgefaßte Bestimmungen wurden dabei mit einem nur eingeschränkt nachprüfbaren Emlessen der Steuerbehörden kombiniert. Soweit sie die entstehenden, teilweise bereits äußerst komplizierten Umgehungsgestaltungen46 nicht erfaßten, wurde dies politisch tricht problematisiert. Nach dem Krieg begallll eine neugewählte Labour-Regierung umfangreiche gesellschaftliche Reformen. Unter dem Slogan vom "New Deal" wurden Schlüssel industrien verstaatlicht und eine sozial gerechtere Gesellschaft angestrebt. Dazu gehörte auch eine spürbare Umverteilung des Einkonmlens47 . 41

H.H. Monroe. Fiscal Finesse: Tax Avoidance And The Duke Of Westminster. in (1982)

BTR 200. 201.

42 KaylKing (1990). S. 21 und 61.

43 KaylKing (1990). S. 22.

44 Z.B. Section 24 Finance Act 1943.

45 Simon's Taxes. A 1.441; 1.442; 1.447.

46 Ein Beispiel fur derartige Sachverhaltsgestaltungen enthält die Entscheidung des House of Lords inlRC v Ross and Coulter and others (Bladnoch Distillery Co. LId.) (1948) I All ER 616 ff (HL). Allein die unmittelbar in diesem Verfahren verhandelten Fälle betrafen einen streitigen Steuerbetrag von 4.5 Millionen Pfund. Es ging um verschiedene Varianten einer Gestaltung, mit welcher der Steuer unterliegende Geschäftsgewinne in Kapitalgewinne aus Anteilsveräußerungen umfunktioniert werden sollten. Die voneinander abweichenden Entscheidungsgründe der funf Law Lords spieBein die vielen Zweifelsfragen. die die während des Krieges eingefuhrten AntiUmgehungsbesllmmungen mit sich brachten, deutlich wider. 47 J. Denis Derbyshire I lan Derbyshire. PoIitics in Britain - From Callaghan to Thatcher, Cambridge 1988, S. 16

H. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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Wesentliche Impulse zur Bekämpfung von Steuerumgehungen blieben aber aus. insbesondere ergingen keine bedeutenden Anti-Umgehungsgesetze. In den fünfziger Jahren setzte auch in Großbritannien ein starkes Wirtschaftswachstum ein. Bei gesenktem Steuersatz kam es zu einem consumer boom. Die (konservativen) Regierungen von Churchill über Eden zu Macmillan verfügten im Parlament über sichere Mehrheiten48 • Diese Zeit. besonders zwischen 1954 und 1963. wird bei Simon' s als "golden age of border-line capital profits and elaborate avoidance schemes" bezeichnet49 . Die Ausarbeitung und Vermarktung von Steuerspar-Gestaltungen nalml eine neue Dimension an. Macmillans Ausruf: "We've never had it so good" wurde unter Steuerplanern zum geflügelten Wort. mit "it" meinten sie tax avoidance50 . Wheatcroft beschreibt in seinem bereits zitierten. 1955 erschienenen Aufsatz 51 acht Grundtypen seinerzeit möglicher Steuerspar-Gestaltungen und bemerkt. daß es sich nur um einen kleinen Ausschnitt aller gängigen Möglichkeiten handele. Die Aufzählung aller seit den zwanziger Jaluen eingeführten Methoden würde ein Buch füllen. Bestinmlte. in den fünfziger Jaluen zugunsten der Bezieher hoher Einkommen verbreitete Steuerspargestaltungen haben sich bis heute in der einen oder anderen Fornl gehalten. Eine lange Kette von GegenbestinmlUngen in den verschiedenen Finance Acts bezeugt die Schwierigkeit. die sich chamäleonartig verändernden Gestaltungen auf eine befriedigende Art in den Griff zu bekonmlen. Eine dieser Gestaltungen. die große praktische Bedeutung erlangt hat. ist das sogenannte bond washing . Sie beruhte darauf. daß es günstiger war. Kapitalgewilme zu erzielen als Einkommen zu beziehen. Bis 1965 waren KapitalgewiIme grundsätzlich steuerfrei52. danach unterlagen sie zwar der Capital Gains Tax. doch diese war niedriger als die lncome- und Surtax. Steuerzailier. die ihre Einkonmlensspitzen hoch versteuern mußten. waren daher daran interessiert. Einkonmlen in Kapital zu verwandeln. Besaßen sie Aktien und war eine Dividende angekündigt. war es gang und gäbe. die Papiere zu einem Wert. der auch die Dividende reflektierte. an Steuerzahler zu verkaufen. die einen niedrigeren Satz zu zahlen hatten. oder gar an Wohltätigkeitsorganisationen. die überhaupt von der Steuer befreit waren. Nach 48 DerbyshirelDerbyshire

(1988). S. 19.

49 Simon's Taxes. A 1.447.

50 M. C. Flesch (1968) CLP 222: Nigel Tutt. The History 01' Tax Avoidance. London 1989. S. viii. 51 (1955) MLR 209.210-212. 52 Geschäftliche Veräußerungsgewinne unterlagen mitunter als "tradillg" der bzrome Tax. doch waren die Grenzen dafür weit enger als für vergleichbare Einkünfte "aus Gewerbebetrieb" in Deutschland.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

Auszahlung der Dividende wurden die Papiere dann zu einem entsprechend niedrigeren Preis zurückerworben. Auf diese Weise ließ sich ein steuerfreier oder niedrig besteuerter Kapitalgewinn erzielen, während Einkommensteuer beim Erwerber allenfalls zu einem niedrigeren Satz anfiel, wenn sie nicht ohnehin ganz vermieden wurde 53 . Eine etwas ausgefeiltere Variante der gleichen Grundidee war das sogenannte dividend-stripping 54 • Hierbei wurden die Papiere an eine Gesellschaft verkauft, die ihrem Gegenstand nach Wertpapierhandel betrieb. Wiederum erzielte der Verkäufer einen steuergünstigen Kapitalgewinn. Die mit Wertpapieren handelnde Käuferin hatte dafür zwar die Dividende voll zu versteuern, aber beim Rückverkauf an den ursprünglichen Eigentümer zu einem herabgesetzten Preis (ex-dividend) erzielte sie einen entsprechenden Verlust. Da ihr Geschäft gerade im Handel mit Wertpapieren bestand, wurde dieser Verlust nicht als Kapitalverlust behandelt, sondern minderte das Einkommen55 . Gegen beide Methoden sind schon ab den dreißiger Jahren Gesetze erlassen worden, die sich aber als ineffektiv erwiesen und nur die offensichtlichsten Mißbräuche erfaßten56 . Erst durch die kürzlich geschehene Angleichung der Steuersätze von Income Tax und Capital Gains Tax wurden derartige Gestaltungen weitgehend gegenstandslos. Viele andere Praktiken wurden in den fünfziger und frühen sechziger Jahren entwickelt und im Wechselspiel mit entsprechender Gesetzgebung 57 perfektioniert oder gestoppt. Dazu gehörte besonders der Kauf von Verlusten zur Steuerverrechnung (entsprechend dem deutschen "Mantelkauf")58; die Verla53 WhilehouselStuarr-Bullle (1991), S. 610. 54 WllitehouselStuarr-Bullle (1991), S. 610; einer ähnlichen Konstruktion in Deutschland versagte der Reichsfinanzhofirn Urteil vom 11.7.1934 die Anerkennung (RStBI. 1934,979). Nach Einfiihrung des KStG 1977 wurde diese Methode in Deutschland zugunsten ausländischer Anleger verwandt, die der beschränkten Steuerpflicht unterlagen. um KörperschaftsteuerErstattungen abzuschöpfen. Aufgrund eines koordinierten Ländererlasses der Finanzverwaltung (FinMin NW vom 28.8.1978 - S 2252- 29 - VB2) verweigerten die Finanzämter die Anerkennung. Nach Zeitungsberichten ist diese Praxis in Deutschland immer noch weit verbreitet. allerdings durch Verschleierung der Tatsachen in illegaler Form (Vgl. WalierlCampbell. in Financial Times vom 20.12.1991: "Germans call for tougher rules" über den "Frankfurter Bankenskandal"). 55 Die Anerkennung des Verlustabzugs seitens des Wertrapierhändlers war und ist umstritten. In Gr(ffiths v J. P. Harrison (Watjord) ud (1962) I AI ER 909 erkannte das House o[ Lords diese Gestaltung an. Obwohl diese Entscheidung nie aufgehoben wurde. sind in den SIebziger und achtziger Jahren gegenläufige Entscheidungen ergangen: die heutige Rechtslage ist unklar. vgl. Bullerworrhs (1991). TZ 31 :08. 56 Butterworrhs (1991). TZ 31 :08,31 :09. 57 Der Fillallce Act 1960 wurde z.B. ausdrücklich als "anti-avoidance Act" bezeichnet. vgl. Simol/ 's Taxes. S. 321. 58 Gegen die steuerliche Anerkennung von Mantelkauf-Gestaltungen wurden erst 1969 Gesetze emgefiihrt (heute: 1ncome and Corporation Taxes Act 1988, sec. 768), aber bei gänzlich verändertem Geschäftsgegenstand war auch früher schon eine Verlustverrechnung gemäß sec. 385 ICTA 1988 (heutige Ziffer der Vorschrift) nicht möglich, vgl. BUllerworrhs (1991), TZ 25:29: 7:43: WllitellouselStuart-Bullle (1991). S. 134.

II. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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germIg von Einkunftsquellen -mittels Trusts und Gesellschaften- in "Steuerparadiese "; die Gewinnverlagerung durch überhöhte Konzernverrechnungspreise; die Erschleichung von Steuervorteilen durch künstliche Beendigung und anschließende WiederaufmumIe gewerblicher Tätigkeit; die UnmlütlZung von Gewinnen aus Grundstückshandel in Kapitalgewinne; Saleand-lease-back Transaktionen. bei denen der beim Verkauf realisierte Kapitalgewinn steuerfrei blieb. die anschließende Miete aber als Geschäftsausgabe von der Steuer abgezogen werden konnte59 . t) Steuerumgehung und die Veränderungen der secllZiger und siebziger Jahre

Zu Beginn der secllZiger Jahre war Großbritannien in einer schwierigen Phase. Trotz des zurückliegenden Aufschwungs war der Anteil des einstigen Kolonialreichs am Welthandel von 25 % im Jahre 1952 auf 15 % im Jahre 1962 gesunken. das Wirtschaftswachstum war auf unter 2 % pro Jahr gefallen. die Arbeitslosigkeit stieg stark an. die Zahl der Streiks nalml zu und die Außenhandelsbilanz verschlechterte sich dramatisch 6o . Unter der die KOtlServativen ablösenden Labour-Regierung von Wilson erhöhte sich die Steuerbelastung wesentlich. Capital Gains Tax und Corporate Tax wurden eingeführt, und der SpitzetlSteuersatz bei der Surtax auf über 90% erhöht61 . Das führte dazu. daß die Nachfrage nach Gestaltungen. mit denen der Besteuerung ausgewichen werden konnte. noch stärker anstieg 62 • Das Steuerspargewerbe konnte diese gestiegene Nachfrage dank seines in vierzig Jallfen gesanmleiten Know-hows befriedigen. Eine in großem Umfang angewandte Methode. um die 1965 eingeführte Capitat Gains Tax zu vemlindern. war das sogenannte "bed-andbreakfasting". Kapitalverluste sind und waren im allgemeinen nur abziehbar. wenn sie realisiert wurden. Fiel der Wert einer Aktie unter den Anschaffungspreis. berechtigte dies nicht zum Steuerabzug, wenn der Steuerptlichtige das Papier behielt. Hatte der Steuerzallier Kapitalgewinne erzielt und besaß gleicllZeitig Aktien. die im Kurs gesunken waren. empfahl es sich. jene Papiere pro forma zu verkaufen und kurz darauf wieder zurückzuerwerbetl.

59 Zu allem Simon 's Taxes. A. 1447. S. 320-322. DerbyshirelDerbyshire (1988). S. 2l. 61 Inklusive einer zusätzlichen Surcharge betrug er im Steuerjahr 1965/1966 z. B. 96.25 %. FIeseh. (1968) eLP 218. Fn. 7. 62 Zu den die Initiative zu positivem Einkommenserwerb mindernden Folgen vgl. Kay/ King (1990). S. 16.25 ff.. besonders 33 f.. mit Hinweisen auf empirische Untersuchungen. 60

62

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

Damit hatte der Steuerzahler dann einen verrechenbaren Verlust realisiert. Auch ließen sich umgekehrt auf diese Weise künstlich Gewimle realisieren, mit denen anderweitig eingetretene Verluste und die nicht in spätere Jahre übertragbaren Freibeträge ausgenutzt werden konnten. Ein künstlich realisierter Gewinn hatte zudem den Vorteil, daß der bei einer künftigen Veräußerung der Steuer zugrunde zu legende Anschaffungswert des Papiers höher wurde: Eine Besteuerung dieses Gewinns in der Zukunft wurde so vemlieden. Würden die Kurse hingegen wieder fallen, hätte der Steuerpflichtige bei einer künftigen Veräußerung wenigstens die Möglichkeit eines Verlustabzugs, die sich ohne den vorangegangenen Pro-fomla Verkauf -jedenfalls in diesem Umfang- nicht ergeben hätte 63 . Gesetze gegen diese Praxis haben sich ebenfalls als nicht effektiv erwiesen. Nach einem (inzwischen erfolglos beendeten) gesetzgeberischen Versuch wurde der Gestaltung die Anerkennung versagt, wenn die Papiere im gleichen Steuerjahr zurückerworben wurden. Das führte jedoch nur dazu, daß aus dem bed-and-breakfasting das sogenannte "weekending" wurde: Der Steuerzahler verkaufte die Papiere zum Ende des Steuerjahres und kaufte sie erst zu Beginn des nächsten Steuerjahres zurück64 • Die immer weitere Verbreitung steuervemleidender und -umgehender Gestaltungen löste Gegenreaktionen aus. Eine bereits 1958 von Steuerbehörden eingerichtete Spezialabteilung zur Bekämpfung legaler Steuerumgehung65 wurde in den Folgejahren stark vergrößert. Anti-Umgehungsgesetzgebung war zum regulären Bestandteil der jährlichen Finance Acts geworden, und Steuerumgehung wurde regelmäßig in den Haushaltsdebatten angeprangert66 . Auch die Justiz wurde von dieser Gegenbewegung berührt. In seinem bereits zitierten Aufsatz67 aus dem Jahr 1968 beklagt M.C. Flesch. daß "the personal distaste of some judges for avoidance" mehr und mehr in Urteilen zum Ausdruck käme. Was immer die Gründe dafür seien, "the picture for the citizen minded to reduce his tax burden is depressingly clear: ... he's never had it so bad." 1968 war aber der Höhepunkt der Entwicklung noch nicht erreicht. Die ökonomischen Probleme blieben bestehen. Ende 1974 lag die Inflationsrate bei 20 %, im Juli 1975 erreichte sie 26 %68. Die Löhne und Gehälter stiegen

63 Vgl. WlzilellOuselSluarl-Bullle (1991), S. 328. 64 Vgl. MeBanzel. Law, Policy. and Legal Avoidance: Can Law effectively Im(llement Egalitarian Policies? in (1988) Journal Of Law And Society, 113, 115 f. ,; mit der geschIlderten Methode ließen sich z.B. viele am "Black Monday" erzielte Wertpapier-Verluste steuergünstig verwerten. 65 Tull (1989), S. 39. 66 Hansard. HC Deb. 729, col. 477. 67 (1968) CLP 209. 229. 68 DerbyshirelDerbyshire (1988), S. 51.

11. Erscheinungsformeil und Auswirkungen

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stark an. besonders von 1970 bis 197269. Das wiederum hatte zur Folge. daß immer mehr Steuerzahler durch die unangepaßten ProgressiollSschritte mit einem höheren Satz besteuert wurden7o . Zwar blieb aufwendige SteuenUllgehung auch jetzt für die Masse der Steuerzahler finanziell uninteressant. aber die Bevölkerung wurde sich der Steuerlast stärker bewußt. Die mögliche Spitzenbelastung betrug 98 % des zu versteueruden Einkonmlens. Zudem hatte es in den Jahren 1970 bis 1972 einen Boom im Grundstücksgeschäft gegeben. wodurch hohe. und für die Beteiligten oft selbst überraschende. ungeplante Gewinne erzielt worden waren. Viele. die hier profitiert hatten. versuchten nun, diese Gewimle durch kurzfristige Maßnalmlen vor der Besteuerung in Sicherheit zu bringen71 . In dieser Situation wurde das Steuerspar-Gewerbe in Großbritamuen zur "Industrie "72. Wachsende Kreativität von Steuerplanem verband sich mit gestiegener Risikobereitschaft sei teIlS der Steuerzahler. Ein Steuerzallier. dessen Einkünfte der Spitzenbesteuerung unterlagen. hatte bei einer auf Steuererspanus abzielenden TrallSaktion in der Regel lucht mehr viel zu verlieren: Er konnte theoretisch 50 oder 60 % seines SpitzeneinkonmlellS für kreative Gestaltungen aufwenden und im Ergeblus inmler noch profitieren. Die Erspanuschance rechtfertigte einen hohen Aufwand für die eingesetzte Gestaltung. Auch für Steuerzalller mit luedrigerem Steuersatz bestanden genügend Anreize. Steuerspargestaltungen zu versuchen. Es entstanden Unternelmlen, welche im großen Umfang sogenannte "taxsaving schemes" vermarkteten. Diese schemes waren häufig sehr kompliziert

und bestanden aus einer Vielzahl einzelner Schritte zwischen diversen. eigellS zu diesem Zweck itlS Leben gerufenen Gesellschaften. Zum bekamltesten Exponenten dieser Branche wurde die Rossminster Group. deren Gestaltungen die Gerichte in zahlreichen Fällen. darunter wichtige Präzedenzfälle. beschäftigten 73 • Die Orgalusation eines solchen Unternelmlens setzte viel voraus. Eituge schemes beinhalteten, daß in einem bestinmlten Stadium steuerbefreite gemeinnützige Orgalusationen mitwirkten. Oft waren hohe Finanzierungen vorzunelmlen. Diese Leistungen konnten die Unternelmlen der tax avoidance

69 M. C. Kelllledy spricht von einer "wage explosioll". in PrestlCoppock's (1989). S. 47. 70 Vgl. KaylKillg (1990). S. 191. 196. 71 MilieU. (1982) LQR 209. 211. 72 Milieu. (1982) LQR 211: ders .. Artificial Tax Avoidance - The English And American Approach. in (1986) BTR. S. 327: Ma/co/m Gammie. The Implications of Fumiss v Dawson. in (1985) Fiscal Studies (Vol. 6 .. No. 3). S. 51: nach Wllite (1990). S. 1402 (B9.0040). bestand diese sehr schnell wachsende tax avoidallce il/(mstrv aus "professional consultants. accountants. and lawyers devising and marketin~ schemes serVing no commercial purpose and havin" no meaningful relationship to any bus11less in which the taxpayer in quesllon may have been engaged. " 73 IRC v P/ummer (1979) 3 All ER 775 (HL): WT. Ramsay v IRC (1981) STC 174 (HL); Eilbeck (Illspeclor 0/ Taxes) v Rawlillg (1981) STC 174 (HL); vgl. auch IRC v Rossmillster LId (1980) I All ER 80 (HL); andere typische und beruhmte schemes finden sich in Caims v McDiarmid (1983) STC 178 (CA) und PilkillglOlI Bros LId v IRC (1982) STC 103 (HL).

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

industry für eine große Anzahl von Interessenten "with faultless precision"74

erbringen. "The scheme required nothing to be done by Mr Rawling except the signing of the scheme documents, and the payment of fees", so die von Lord Wilberforce gegebene Beschreibung eines typischen Falles75 . Die in die Abwicklung der schemes eingeschalteten Banken oder gemeinnützigen Stiftungen wurden mitunter sogar von den Unternehmen der tax avoidance industry beherrscht, wie z.B. im Falle Rossminster 76 . Daß derartige schemes nicht nur eine kleine reiche Elite ansprechen sollten, sondern auch, und wahrscheinlich besonders, auf breitere Schichten von Steuerzahlern zielten, verdeutlichen die teilweise in der Rechtsprechung genannten Summen, um die es geht: Im Falle Plummer war es z.B. nur eine Einkonmlensminderung von ca. b 2.50077 . In Ramsay und Dawson waren die zu versteuernden Summen höher, nämlich ca. b 185.000 bzw. b 152.000; beide Fälle lassen aber auf einen mittelständischen Hintergrund schließen. In Ramsay war Farmland veräußert worden, während die Dawsons ihr Familienunternehmen verkauft hatten. Die Technik der schemes war äußerst vielfältig. Häufig kam es vor, daß durch eine Reihe von Transaktionen auf der einen Seite ein steuerfreier Gewinn, auf der anderen ein entsprechender, aber steuerlich erheblicher Verlust erzielt wurde 78 . Ein Beispiel dafür ist eine Gestaltung mittels Warentermingeschäften. wobei zu jedem Geschäft ein entsprechendes Gegengeschäft getätigt wurde. und dann durch die Verbindung mit einem ganz anderen Rechtsgebiet. den Liquidationsregeln für Personengesellschaften, dafür gesorgt wurde. daß sich das Verlustgeschäft steuerlich auswirkte. während der korrespondierende Gewiml steuerfrei blieb79. Teilweise wurden aus anderer Geschäftstätigkeit anfallende Gewinne direkt zu in Steueroasen gelegenen Basisgesellschaften gelenkt 8o • Auch Verlustzuweisungen aus film-schemes waren üblich81 - der Steuerzahler wurde zum Partner einer Personengesellschaft und partizipierte für Steuerzwecke an hohen. seine Einlage übersteigenden Verlusten.

74 Lord Brightman in Furniss (/nspecTor of Taxes) v Dawson (1984) STC 153, 161 c, (HL). 75 Eilbeck (/nspecTor of Taxes) v Rawling (1981) STC 174, 186 e (HL. Lord Wilberforce). 76 Vgl. dazu das Buch des Journalisten Michael Gillard, In the Name of Charity - The Rossminster Affair. London 1987. 77 Allerdings handelte es sich hier um einen (erfolgreichen). von der Steuersparindustrie inszenierten Testfall. Der scheme wurde in mehreren hundert Fällen auch mit sehr Viel größeren Einsätzen durchgefiihrt. 78 Vgl. IRC v W T Ramsay ud. (1981) STC 174 (HL). 79 Es handelt sich um den der Grundiddee nach aus den USA stammenden Commodiry Carry Scheme. vgl. TUll (1989), S. 104-106; Gillard (1987), S. 181 ff.; eine Beschreibung, wie dieser scheme genau funktionierte. findet sich bei F.R. Davies. Introduction To Revenue Law. London 1980.S.12f. 80 Vgl. Fumiss (InspeclOr of Taxes) v Dawsoll 54 TC 324 ff. 81 Ellsigll Tallkers (Leasing) LTd. v STokes (1lIspeclOr of Taxes) (1989) Weekly Law Reports 1222; (1991) STC 136 (CA); (1992) All ER 274 (HL).

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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Typisch für derartige schemes war außerdem, daß ihre genaue Funktionsweise selbst den Kunden gegenüber soweit wie möglich geheimgehaIten wurde. Regelmäßig wurden die Abnehmer zu Verschwiegenheit verpflichtet. Manche Transaktion wurde nur aus Verschleierungsgründen überhaupt eingebaut. Den Steuerbehörden gegenüber hatte das den Sinn, daß eine besonders kritische Prüfung, wie sie einem erkannten scheme stets drohte, schon im Vorwege vennieden werden sollte. Die den Behörden zunächst mitübersandten Unterlagen beschränkten sich in der Regel auf ein Minimum. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß die eigentlichen Zusanilllenhänge nicht gesehen wurden, und die Steuervorteile entsprechend der Erklärung des Kunden eintraten. Für den Fall aber, daß der scheme vollständig ans Licht kam, war seitens der Vertreiber sichergestellt, daß ihre Rechtsposition zWllindest vertretbar war. Die Vereinbarungen mit den Kunden sahen zwar keine Erfolgsgarantie vor, wohl aber häutig die Verpflichtung. einen Rechtsstreit in einem test case bis ZWll House of Lords zu tinanzieren. falls dies notwendig werden sollte 82 . Auch die Vermeidung von Erbschaftsteuern, ein Gebiet, welches in Großbritannien bereits auf eine mehrere Generationen währende Tradition zurückblicken konnte, wurde weiter perfektioniert und angepaßt. In den frühen siebziger Jahren erschienen beispielsweise beinalle täglich Anzeigen folgender Art in The Till/es und anderen Zeitungen: "GREA T NEWS tür the AFFLUENT UNDER 60s! At last your Estate Duty problem can be solvcd without disturbing the composition of your assets in any way. " "Heirs .. , or Estate Duty? Choose while you still have a choice. If you let it. Estate Duty will make a mockery of your life' s work. "83

Die Art und Weise, wie Erbschaftsteuern vennieden wurden. war hoch entwickelt und konnte durch eine Reihe von Methoden. besonders durch discretionary trusts geschehen. Atkinson zitiert Schätzungen, wonach bereits seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre jährlich ungefähr b 60 Millionen an Erbschaftsteuern auf legale Weise vennieden werden konnteng 84 . Eine kurzzeitig weit verbreitete Methode. Capital Trallsfer T1U 85 zu sparen. war der sogenannte "NelA'spaper-Frallro srlleme". Nach § 6 (7) schedule 5 FilIalIre Art 1975 konnten aus einem disrretiollary trust steuerfrei Vermögenswerte auf Begünstigte übertragen werden. wenn die Übertragung durch die Trustees davon abhängig gemacht -wurde. daß die Begün82 Vgl. dazu die Auswertung eigener empirischer Forschung bei MrBamet. It's Not What You Do But The Way You Do It: Tax Evasion. Tax Avoidance And The Boundaries Of Deviance. in D. DOWlles (ed.). Unravelling Criminal lustice: Eleven British Studies. Oxford 1992; als test rase bekannt wurde auch Caims ~'MrDermoll (1983) STC 178 (CA). 83 Zitiert nach A.B. Atkillsoll. Unequal Shares. -Wealth in Britain-. London 1972. S. 121. 84 Ebd .. S. 128. 85 Die Nachfolgesteuer der Esrate DlIT)'. welche nunmehr auch Übertragungen unter Lebenden erfaßte. 5 Ncvennann

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext stigten eine bestimmte Person überlebten. Nach dem Wortlaut des Gesetzes war es nicht erforderlich. dan die erstversterbende Person irgendwelche Beziehungen zu dem Trust oder den Begünstigten hatte. Anstelle nun direkt Zuwendungen an die entsprechenden Empfanger zu machen. suchten die Trustees Personen. von denen sie annahmen. dan sie am Rande des Todes standen. und machten die in ihrem Ermessen stehende Zuwendung davon abhängig. dan die Begünstigten jene Person überlebten. Häufig wurde zu diesem Zweck General Franco ausgewählt. über dessen angeschlagenen Gesundheitszustand die Presse ausführlich berichtet hatte. Nach den schlechten Erfahrungen mit dem General. dessen Sterben sich viel länger als erwartet hinzog. wurde der scheme verbessert. Nunmehr wurde etwa "diejenige Person. deren Tod sich am Sonnabend. den 29. November 1975 ereignet und dereil Todesanzeige als erste (alphabetisch) in der Times von Montag dem I. Dezember 1975 erscheint" als Bezugsperson ausgewählt 86 . Eine Gesetzesänderung im Finanre Arl 1976 schob diesem srheme für die Zukunft einen Riegel vor.

In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurden die Praktiken der tax

avoidance industry in der Presse, besonders in Sunday Times und Guardian,

in vielen Artikeln kritisiert 87 und auch das Fernsehen berichtete mit ähnlichem Grundtenor. "Steuerumgehung" wurde zum Politikum88 .

In seiner Budget Speech zum Finance Act 1977 erklärte Chancellor Healey (Labour) es für unakzeptabel, daß während die große Mehrheit ihre Steuern ehrlich zahlte. eine kleine Minderheit von wohlhabenden Unternehmen und Personen ihren Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber durch Steuerumgehung im großen Stile auswichen 89 . Mit der Finance Bill 1978 sah sich die Regierung sogar genötigt (nicht zum ersten Mal), rückwirkende Gesetzgebung vorzuschlagen und durchzusetzen 9o . Die Notwendigkeit dazu begründete Chancellor Healey im House of Commons wie folgt: ~6 Vgl. IRC v Sir lohn Aird's Seltlemenl. The Times Law Report, Dec. 21. 1981 (Mr. Justice Nourse) = (1982) STC 245. Dieses Gericht bestätigte den scheme. Bei der Zeitungsvariante setzte sich vor dem High Courl das Argument der Steuerbehörden nicht durch, daß die Zuwendung in Wahrheit nicht von dem Tode einer anderen Person. sondern nur vom Eintreten eines Datums x abhängig sei. War es doch gar nicht sicher. dan eine der Beschreibung entsprechende Person stürbe. Denn nach den Streiks und Aussperrungen der siebziger Jahre konnte es durchaus sein. daß die Times a) überhaupt nicht erschiene. b) keine entsprechende Todesanzeige veröffentliche. Die Zeitungsvariante wurde -anders als die Generalsvariante- vom Court 0/ Appeal verworfen. (1983) STC 700 (CA). 87 Z.B. Guardian vom 5. Juni 1976 (S. I). Sunday Times vom 27. Mai 1977. mit einem Bericht über einen lax scheme. der von einem Unternehmen der lax avoidance induslry für eine der größten britischen Baugesellschaften in die Wege geleitet war und auf eine Steuerersparnis von 18 Millionen Pfund zielte. 88 Hinsichtlich der public altitude vertritt L.E. T. lones die Auffassung. daß die große Mehrheit der Bevölkerung, die ja der Besteuerung durch Gehaltsabzüge ausgesetzt sei, wenig Sympathien für Steuerumgehung habe. Infolge diverser Negativ-Publicity seien "avoidance sclIe,,!es 0/ a more arTijicial nalure" auch bei den übrigen Bevölkerungsgruppen sehr viel unbeliebter geworden. vgl. lones (1982). S. 83. 89 Hansard. 29. März 1977. 90 Dan es überhaupt rückwirkende Bestimmungen geben würde. war bereits durch eine Erklärung vom 3. Dezember 1976 im House 0/ Commolls angekündigt worden. Diese Erklärung bezog sich aber auf eine andere als unakzeptabel angesehene Gestaltung, die das Verkaufen und Zurückerwerben von Land betraf und gegen die im FA 1978 dann tatsächlich auch rückwirkende Bestimmungen erlassen wurden. Dazu Siehe While (1990), S. 1407 (B 9.0080). Oft war es der Zeitpunkt der unbestimmten Ankündigung eines möglichen rückwirkenden Gesetzes, auf den dann das Gesetz zurückbezogen wurde (vgl. Simon's Taxes A 1.307). Wird die Rückwirkung aus rechtsstaatlicher Sicht dadurch weniger bedenklich?

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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"Tax avoidance ... has emerged recently in a new form which involves marketing a succession of highly artificial schemes -when one is detected the next is immediately sold and is accompanied by a level of secrecy which amounts almost to conspiracy to mislead. The time has come not only to stop the particular schemes we know about but to ensure that no schellles of a similar nature can be lllarketed in the future. So the provisions I shall be introducing this year to deal with artificial avoidance by certain partnerships dealing in COllllllOdity futures will go back to 6 April 1976. "91

Auf die in der Rechtsanwendung erzielten Ergebnisse hatten diese politischen Tendenzen auch in den siebziger Jahren zwar einen gewissen Einfluß. Doch noch gegen Ende des Jahrzehnts ergingen mehrere bedeutende Urteile des Court oj Appeal bzw. des House oj Lords, in denen typische tax schemes im Ergebnis anerkannt wurden92 bzw. nur aufgrund "technischer Defekte" scheiterten93 . g) Der Umschwung in den achtziger Jahren und die Gegenwart In der Zeit von 1975 bis 1988 kam es im britischen Steuerwesen zu einer weitreichenden Umwälzung, die in einem Standardwerk gar als "SteuerRevolution" bezeichnet wird94. Der Spitzensteuersatz wurde auf 40% gesenkt, die Steuersätze von Capilal Gains Tax und Income Tax wurden hamlonisiert, diverse Steuererleichterungen wurden abgeschafft: Sowohl Ansatzpunkte als auch Veranlassung für Steuerumgehung wurden damit drastisch verringert. Zusätzlich hatte sich die Rechtsanwendung grundlegend zu Lasten derjenigen geändert, die ihre Steuern durch Steuerspargestaltungen vemlindern wollten. Diese veränderte Haltung der Rechtsprechung wird vielfach mit dem Schlagwort "new approach" bezeichnet9\ ihre juristische Grundlage nach dem Ausgangsfall als "Ramsay principle"96. Die tax avoidance industry der siebziger Jahre hörte auf zu existieren, zumindest nach einer im Schrifttum der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verbreiteten Auffassung 97 . Gleichwohl hat diese Veränderung nicht bewirkt, daß Steuerumgehung als solches in Großbritannien nicht mehr stattfindet98 . Sie hat nur ihr Gesicht verändert und

91 Hansard. 11. April 1978. 92 IRC ~. Clmrch Commissiollers 0/ Ellglalld (1975) 3 ALL ER 614 (CA): (1976) STC 339 (HL): IRC v Plummer (1979) STC 793 (HL): Vesrey v IRC (1980) STC 10 (HL): vgl. auch Rallsom v Riggs (1974) 3 All ER 949 (HL. grundlegend Lord Simon). 93 Floor v Davis (1lIspeclOr 0/ Taxes) (1978) I eh 295 (CA): (1979) STC 379 (HL). 94 Whiremall On Income Tax. 3. Auflage. bearbeitet von Pe/er G. Whiremall. David Goy. Frallcis Salldisoll. Michael Sherry. London 1988. preface viii. 95 Vgl. Maysoll (1989). S. 9. 96 Vgl. Whirehouse/Sruarl-BulIle (1991). S. 591: W T Ramsay v1RC (1981) STC 174. 97 Vgl. W1ziremall onlncomeTax(1988).S.viii: G.R. Brellell / Fa)' Srockroll. The Ramsay Doctrine: An Interim Review. in (1987) BTR 280.290: R. K. AshlOlI. The Ramsay "Saga" - Is There Now Light at The End of the Tunnel? (1988) BTR 482. 485. 98 Ka)'/King (1990). S. 41. 5·

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

auch das nur zum Teil. Ihr Wiedererstarken wird von vielen Steuerjuristen für möglich gehalten99 . Auch ist zur Zeit noch unklar, welche Rolle die Rechtsprechung in Zukunft spielen wird loo , ob der new approach nur ein Vorstoß in einer unhaltbar gewordenen Situation war oder ob die Justiz nun dauerhaft aktiver in die Regelung der Interessenkonflikte eingreifen wird, die sich hinter dem Phänomen "Steuerumgehung" verbergen. Steuerumgehung in Großbritannien ist nicht tot lOl • Viele Faktoren stellen sicher, daß sie weiterlebt. Einerseits ist die jetzige Gesetzgebung noch übersät mit Bestimmungen, die verhindern sollen, daß income in capital verwandelt werden kann I 02. Diese Bestimmungen sind wegen der angeglichenen Steuersätze in der Sache weitgehend überflüssig geworden. Andererseits ist diese bei fast allen Steuern äußerst technische, unübersichtliche Gesetzgebung notwendigerweise mit Lücken behaftet, die nach klassischem Muster ausgenutzt werden können, bis sie vom Gesetzgeber -oder eventuell von der Rechtsprechunggeschlossen werden l03 . Sehr große wirtschaftliche Bedeutung haben in den letzten Jahren Gestaltungen angenommen, bei denen die Ungereimtheiten verschiedener Steuersysteme und Doppelbesteuerungsabkommen ausgenutzt werden. Ein bekanntgewordener Weg dazu war der sogenannte "Delaware-link scheme" 104. Multinationalen Konzernen gelang es durch die Begründung doppelter Sitze bestimmter Konzerngesellschaften, Ausgaben bei der Gewinnfeststellung "doppelt" abzusetzen. Allein in den Jahren 1983 bis 1985 sollen dem britischen Staat dadurch ungefähr 400 Millionen Pfund an Steuereinnahmen verlorengegangen sein l05 . Die Ausnutzung von Doppelbesteuerungsabkommen in derartigen schemes ist immer noch eines der problematischsten Gebiete und führt zu wahrscheinlich höheren Steuerausfällen als zuvor die schemes der tax avoidance industryJ06.

99 Lord Templeman in Crawll v While (1988) STC 476. 489d. JO°Gammie (1991). 0/38. TZ 2.19. 101 Whirehouse/Sluart-BulIle (1991). S. 591. 102 Wllilemall. On Income Tax (1988). S. IX. 103 "However a careful reading of the regulations suggests that loopholes exist which can be exploited by good old-fashioned schemes" heißt es z. B. bei Whilehouse/ Sluart-Bullie. (1991) S. 694. hier bezüglich erbschaftsteuerrechtlicher Regelungen. I040ie genaue Funktionsweise wird beschrieben bei McBamel. in D. D(M//les (1992). 105McBamel (1992). zitiert nach dem autorisierten Entwurf. S. 14. 1060ies beruht auf Angaben eines leitenden Juristen der britischen Steuerbehörden in einem Gespräch mit dem Verfasser am 14. November 1991. Mein Gesprächspartner wollte nic~t namentlich erwähnt werden: vgl. dazu auch BUllerworths (1991). TZ 32:20. S. 914: dIe Effektivität dagegen eingefiihrter gesetzlicher Bestimmungen wird sich noch zeigen.

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

69

2. Vergleichende Gesichtspunkte zur Entwicklung von "Steuerumgehung " in Deutschland a) Die unterschiedliche Ausgangslage in Deutschland Bei einem Vergleich der Entwicklung der Einkommensteuer in Deutschland und Großbritannien. fällt auf. daß Deutschland zur Zeit der ersten Einführung der britischen Einkommensteuer (1799) ein zerstückeltes Staatengebilde war, während in England seit 1689 politische Kontinuität herrschte 107 . Während Steuern im Deutschland des 18. Jahrhunderts von den jeweiligen Obrigkeiten vielfach willkürlich verhängt wurden. bedurften sie in England eines Parlamentsgesetzes. Während in Deutschland mit archaischer Steuertechnik oft irrationale und ungerechte Abgaben eingetrieben wurden l08 , verhandelten in Großbritannien bereits unabhängige Gerichte über Steuerstreitigkeiten, mitunter in mehreren Instanzen lO9 . Auch im wirtschaftspolitischen Bereich waren die die Besteuerung beeinflussenden Unterschiede erheblich: In Großbritannien war die industrielle Entwicklung Anfang des 19. Jahrhunderts wesentlich weiter fortgeschritten als im damals noch agrarischen Deutschland. Zum Industriestaat entwickelte sich Deutschland erst in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts, dafür aber umso rascher llO • Das liberale Bürgertum in Großbritannien hatte die zu wirtschaftlicher Entwicklung nötigen Freiheiten nebst den dazugehörigen Rechten selbst durchgesetzt, in Deutschland waren diese Freiheiten, soweit sie für die Wirtschaftsentwicklung gebraucht wurden- unter Leitung eines volkswirtschaftlich gebildeten Berufsbeamtentums im 19. Jahrhundert von oben verordnet worden, im Interesse staatlich-tinanzpolitischer Ziele I 11. Die deutsche Geschichte des 18" 19. und 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch politische Brüche, die auch die Rechtsentwicklung im Steuerrecht beeinflußt habeIl. Die englische Geschichte ist geprägt von einer Kontinuität, die gleichfalls ihre Spuren im Steuerrecht hinterließ. b) Steuerumgehungen werden

ZUlU

Problem

Versuche von Steuerpflichtigen, der Besteuerung durch legale rechtliche Gestaltung auszuweichen, werden in Deutschland erstmals am Ende des letz1?7 yl1 l. allgemein Fritz Jälmke, Die deutsche und englische Einkonuuensbesteuerung. Diss. Berlm I ~35. i08Ygl. Walz, Steuergerechtigkeit (1980), S. 28. I09 Ein erhellendes Beispiel eines tar m'oidal/re-Falles aus dem Jahr 1783. der die Rechtsprechung vom Court of Sessiol/ bis zum House of Lords beschäftigte, findet sich bei laI/ Ferrier, The Meaning Of The Statute: Mansfield On Tax Avoidance, in (1981) BTR 303 ff: die Grundlagen des heutigen Gerichtsverfahrens in Steuerangelegenheiten gehen zurück auf den (ustoms al/d II/lal/d Revel/ue Art 1874, don sec. 9. llOZum Einfluß dieser Entwicklung auf das Steuersystem, vgl. auch .lälmke (1935), S. 141. III Walz, Steuergerechtigkeit (1980), S. 32 (bzgl. Deutschland).

70

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

ten bzw. Anfang dieses Jahrhunderts als Problem begriffen. Die Einkonmlensteuer war Ländersteuer und folgte in allen deutschen Staaten verschiedenen Prinzipien, mit verschiedenen Erhebungsmechanismen und dementsprechend großen Differenzen l12 . In Preußen wurde die Einkommensteuer nach den Miquetschen Reformen von 1891 als bedeutende Finanzierungsquelle der Zukunft erkalmt l13 . Die Miquetschen Reformen führten eine klassenlose, progressive neue Einkommensteuer ein, mit wesentlich verändertem Veranlagungsverfahren, d.h. insbesondere einer Steuererklärungspflicht für Einkommen über 3.000 Mark pro Jahr, regelten den Steuerrechtsweg neu, sahen die Eimichtung eines Spezialsenats für Steuersachen am obersten Verwaltungsgerichtshof vor und dehnten die Einkommensteuer auch auf bestimmte juristische Personen, vor allem Aktiengesellschaften, aus 114 . 1906 wurden in Preußen dalm auch Gesellschaften mit beschränkter Haftung einkommensteuerpflichtig 115. Neben ihrem großen finanziellen Potential bot die Einkommensteuer jetzt die Chance, bessere Belastungsgerechtigkeit gegenüber den bis dahin vorherrschenden indirekten Steuern zu verwirklichen. Insgesamt stieg die Bedeutung der Einkommensteuer in der Zeit um die Jahrhundertwende erheblich. In Preußen z.B. betrug ihr Anteil am Gesamtaufkommen aller Staatssteuern im Jahre 1881 noch 26,9%, während er 1913 schon auf 61,0% angewachsen war 1l6 . Als bedeutende Verkehrsteuer verblieb die Stempelsteuer 117. Die (für heutige Verhältnisse niedrige) Belastung durch direkte Steuern wurde immerhin so hoch, daß Ausweichbewegungen nicht mehr auf Einzelfälle beschränkt blieben 118 . Dabei machten sich Steuerpflichtige die diversen Ungereimilieiten des damaligen Systems zunutze, z.B. die unterschiedliche Behandlung von unternehmerischem StanmlVermögen und gewerblichem Gewinn. Sie bewirkte, daß Steuerpflichtige Veräußerungsgewinne nicht als gewerbliche Einkünfte, sondern als steuerfreie Kapitalgewinne darzustellen versuchten und häufig entsprechende Manipulationen vornahmen, die dann die Rechtsprechung beschäftigten119. Allerdings lag dies zu einem nicht unwesentlichen Teil auch an dem noch nicht ausreichend entwickelten Erhebungs112Ygl. Adolf Wagner, Finanzwissenschaft, I. Buch, Steuergeschichte vom Altertum bis zur Gegenwart, 2.Aufl. unter Mitarbeit von Hennann DielI, Leipzig 1910, Nachdruck Glashütten im Taunus 1973. S. 500 ff. 113Wagller (1910), S. 370 ff. 114Zu allem Wagner (1910). S. 369; vgl. auch Heillrich Wilhelm Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts. Band I. Allgemeiner Teil. 1991, S. 6. 115 Wagner (1910). S. 375. 116FrilZ Terhalle. Geschichte der deutschen öffentlichen Finanzwirtschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Schlusse des Zweiten Weltkrieges, in GerlofflNeumark (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Erster Band, 2. Auflage, Tübingen 1952, S. 289. 117Wagller (1910), S. 372, 374; nach Terhalle, S. 289, erbrachte die Stempelsteuer im Jahre 1913214.3 Millionen Mark, d.h. ca. 7,5% des gesamten Steueraufkommen. 118Die Progression in Preußen bewegte sich zwischen 0,5% für Einkünfte ab M 3.000 bis 4\t ab M 100.000. Gemeindezuschläge konnten aber eine über den doppelten Betrag hinausgehende Steigerung dieser Belastung erzeugen, vgl. Wagner (1910), S. 369. 119 Walz. Steuergerechtigkeit (1980), S. 77.

11.

Erscheinungsfonnen und Auswirkungen

71

verfahren, das vor allem an einer mangelnden Ausbildung der Mitglieder der Veranlagungskonmüssion krankte. Diese Steuerausweichbewegungen bedurften Jücht unbedingt einer kreativen rechtlichen Gestaltung im Vorwege, sondern hatten schon bei eiJügem Einfallsreichtum in der Steuererklärung gute ErfolgschancenJ2o . Die Auswirkungen neuer Gestaltungen gelangten bald zur Aufmerksamkeit der Behörden und Gerichte. So hatte das preußische Oberverwaltungsgericht im Jahre 1906 einen zwischen Eltern und Kindern geschlossenen Arbeitsvertrag zu beurteilen 121 und das Oberlandesgericht Stuttgart setzte sich mit der möglichen Sittenwidrigkeit eines Steuerumgehungsgeschäfts auseinander 122 . Nachdem im Jahre 1909 in Bayern eine Körperschaftsteuer für Gesellschaften mit beschränkter Haftung eingeführt worden war, wurde schon im Jahre 1910 in einer Münchner Anwaltskanzlei die Rechtskonstruktion der "GmbH & Co KG" entwickelt, um die Körperschaftsteuer zu vermeiden 123 : Rechtliche Auseinandersetzungen mit dem Handelsregister und den bayrischen Steuerbehörden waren die Folge. In anderen Fällen wurde vor Gericht darunl gestritten, ob sich Stempelsteuer (die auf dem Ausgabewert neuer Aktien beruhte) bei der Gründung von Aktiengesellschaften vemleiden ließe, wenn zunächst pro fomla eine Bargründung vorgenonmlen wurde und anschließend noch wesentliche Sacheinlagen ohne weitere Aktienausgabe erfolgten 124 . Auch Teclllüken der verdeckten Gewinnausschüttung durch überhöhte Geschäftsführergehälter und obskure vertragliche Verptlichtungen von Gesellschaften mit beschränkter Haftung verbreiteten sich125. Die seinerzeit von der Begriffsjurisprudenz geprägte Rechtsprechung beurteilte die Steuerfolgen einer Gestaltung in der Regel nur nach ihrer zivilrechtlichen FOOll. Steuervemleidung durch geschickte Wahl zivilrechtlicher Formen wurde durch Gerichte so gut wie Jücht beschränkt 126 . Mitunter -so im Falle der Gmbh & Co KG- wurde auch die Rechtstigur des Scheingeschäfts

120So verstehe ich WaRller (1910). S. 371. der in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der kreativen rechtlichen Gestaltung. Steuerumgehung und Steuerplanung etc. noch gar nicht erwähnt. 121 Dtsch. Jur. Ztg. 1906. S. 1154. 122Urteil vom 26. März 1912. abgedruckt in Recht 1912. Nr. 1578. 123Vj:1. Kllobbe-Keuk. Das Steuerrecht· eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts. Honn 1986. S. 6. 124RG JW 1910. 342ff (Urteil vom 7. Juni 1910). vgl. auch den "Hohenlohe"-Fall. RGZ 84.17. 125Albert Helzsel. Zur DOllmatik des Begriffs der Steuerumgehung. Festgabe fiir Ernst Zitelmann. München und LeipZig 1923. S. 219. 253. 126Helmut Cordes, Untersuchungen über Grundlagen und Entstehung der Reichsabgabenordnung vom 23. Dezember 1919. Diss. Köln 1972. S. 36 f1'.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

eingesetzt, um der zivilrechtlichen Gestaltung die steuerliche Wirksamkeit versagen zu können I27 . c) Der Weg zur entscheidenden Weichenstellung Den 1914 begonnenen Krieg versuchte das Reich zunächst über Kriegsanleihen zu finanzieren. Als die Erträge immer noch bei weitem nicht ausreichten, folgten drückende Kriegsabgaben. Das Ende des Ersten Weltkriegs bedeutete für Deutschland nicht nur finanzielle Belastungen in unabsehbarer Höhe l28 , es bezeichnet auch einen tiefgehenden Bruch mit dem bisherigen politischen System. Die Folgen auch auf steuerlichem Gebiet waren einschneidend. Zunächst mußte die neue Reichsregierung feststellen, daß die Anleiheerlöse für die Jahre 1918 und 1919 weit hinter den Erwartungen zurückblieben 129 . Aber auch die erhofften Steuereinnahmen, die zu einem nicht unerheblichen Teil aus neuen Steuern stammen sollten, waren viel zu gering l30 . Ein Grund dafür war der nach der Niederlage verstärkte Steuerwiderstand in der Bevölkerung, der sich auch gerade in Umgehungsgestaltungen äußerte. So bezeichnete Hensel die Jahre 1918 bis 1920 als die "Zeit des größten Steuerschiebertums" J3J, wobei mit "Steuerschiebertum" zumindest auch legale Gestaltungen gemeint sind. Die eng an die privatrechtliche Begriffsbildung anknüpfende Steuerrechtsanwendung hatte zur Folge, daß legale steuervermeidende Gestaltungen überaus erfolgreich waren J32 • Es ist kein Wunder, daß die Neuordnung des staatlichen Abgabenwesens der neuen Reichsregierung als besonders dringende Aufgabe erschien; schon die Regierung des Kaiserreichs hatte angesichts der sich für Deutschland abzeichnenden Belastungen die Notwendigkeit einer Reform erkannt: Im Sornnler 1918 hatte sie die Einrichtung des Reichsfinanzhofs als einheitliches, oberstes Steuergericht und die Einführung einer (noch zu entwerfenden) Reichsabgabenordnung beschlossen J33 • Ganz unabhängig von dieser durch den Finanzbedarf vorgegebenen Notwendigkeit galt es für die neue Reichsregierung, die Reichseinheit zu erhalten und zu stärken l34 und den lange unterdrückten Be-

117Ygl. Hemel (1923). S. 257: Georg Crezelius. Steuerliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung. Herne/Berlin 1983. S. 222. Fn. 19. 128Ygl. im einzelnen Terllalle (1952). S. 295. 1291m Etat 1918 waren 40.6 Mrd. M aus Anleihen veranschlagt. tatsächlich wurden nur 22.7 Mrd. Meingenommen. 1919 betrugen die Einnahmen aus Anleihen gegenüber einer veranschlagten Summe von 46.3 Mrd. M gar nur 1.3 Mrd.M (Terhalle. S. 297). 130Terlla/le (1952). S. 297. 131 Hemel (1923). S. 259. 132 Walz. Steuergerechtigkeit (1980). S. 212 f. 133 Cordes. S. 17. 134Cordes. S. 8.

11. Erscheinungsformen und Auswirkungen

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dürftussen in der Bevölkerung nach sozialen Veränderungen 135 auch durch ein refonlliertes Abgabenwesen entgegenzukonilllen. Hervorzuheben sind vor allem drei wesentliche Neuerungen, die zu BeginIl der Weimarer Republik zum Tragen katllen: -

Die Gesetzgebungskompetenz für die Einkommensbesteuerung wurde in der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 dem Reich zugewiesen. und bereits 1920 ergingen die ersten Reichseinkommensteuer-. Körperschaftsteuer- und Kapitalertragsteuergesetze.

-

Der Reichsfinanzhof als oberstes Steuergericht nahm die Arbeit auf. und es wurde bei den Finanzämtern eine Finanzgerichtsbarkeit eingerichtet. Das Besteuerungsverfahren wurde in der Reichabgabenordnung vereinheitlicht und verrechtlicht.

Im Hinblick auf die Bekämpfung von Steuerumgehungen setzte die RAO 1919 entscheidende neue Impulse. In ihrem § 4 enthielt sie eine Auslegungsvorschrift, aus der später von der Rechtsprechung die sogenannte "wirtschaftliche Betrachtungsweise" entwickelt werden konnte. Mit § 5 führte sie eine Generalklausei zur Bekämpfung von Steuerumgehungen ein. Beide Vorschriften waren in den Beratungen des Entwurfs in den Ausschüssen und der Nationalversammlung stark umkämpft worden. Während die Parteien darin übereinstinilllten, daß "Steuerschiebertwll" lucht hingenommen werden könne, befürchteten die Gegner der Generalklausei eine schwere Beeinträchtigung der Rechtssicherheit 136 . Trotz dieser Widerstände konnten beide Vorschriften weitgehend entwurfsgemäß durchgesetzt werden. Entscheidend dafür war letztlich eine verbreiteteStinilllUng in der Bevölkerung. verursacht durch die steuerliche Nichterfassung sog. Kriegsgewinne L17 • "Dem gesteigerten sozialen Bewußtsein der Zeit wollte der alte Grundsatz nicht mehr einleuchten. daß die willkürliche Wahl von zivilrechtlichen Formen ohne weiteres die Steuerpflicht beeintlusse. daß geschickte zivilrechtliehe Formulierung ohne wirtschaftliche Änderung zur Steuerersparung führen dürfe"

schrieb Kurt Ballt 38. d) Zur weiteren Entwicklung Mit den §§ 4 und 5 RAO 1919 hatte der deutsche Gesetzgeber dem Rechtsanwender weite Kompetenzen zur Bekämpfung von Steuerumgehungen eingeräumt. Nach Ansicht des Verfassers des RAO-Textes. Enno Becker. war § 4 dabei die entscheidende Vorschrift. Dem Richter sollte die Möglichkeit t3S yg l. Cordes. S. 39. 136 yg l. Cordes. S. 60. L17 Walz. Steuergerechtigkeit (1980). S. 212: Cordes. S. 63. 138Steuerrecht und Privatrecht. Mannheim/Berlin/Leipzig 1924. S. 71.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

gegeben werden, sich bei der Rechtsanwendung von dem Wortlaut der Tatbestände zu lösen und den Gesetzesinhalt voll zu erfassen 139 • § 5 sollte nur als "Notbehelf" dienen, "der ängstliche Richter bei manchmal unzureichender Fassung des Gesetzesausdrucks vor Mißgriffen bewahren sollte" 140. Aus der Sicht des Entwurfsverfassers hatte der Gesetzgeber seine schon durch § 4 geäußerte Absicht mit § 5 lediglich noch einmal ausdrücklich und unmißverständlich klargemacht. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß der Reichsfinanzhof tatsächlich eine aktive Rolle in der Bekämpfung von Steuerumgehungen einnahm hat, wobei dies eher mittels "wirtschaftlicher Betrachtungsweise" als durch die Generalklausei geschah. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Tendenz auch yom Bundesfinanzhof aufrechterhalten, aber mit bedeutenden Einschränkungen. Ohne hier noch im einzelnen auf die folgende Entwicklung des gesellschaftlichen Phänomens "Steuerumgehung" einzugehen, läHt sich festhalten, daß es seit der Zeit des Reichsfinanzhofs nicht etwa verschwunden, sondern zur dauerhaften Eimichtung geworden ist 141 . Zahllose Urteile -auch soweit sie sich nicht auf § 42 AO stützen- und die regelmäßig in den Steuerrechtsänderungsgesetzen enthaltenen Anti-Umgehungsgesetze beweisen es 142 .

3. Zwischenergebnis Sowohl in Deutschland wie in Großbritannien entwickelte sich Steuerumgehung am Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem stärkeren EintluH der direkten Besteuerung zu einem gesellschaftlichen Problem. In Deutschland wurden gesellschaftliche Institutionen bereits vor dem Ersten Weltkrieg in einem nicht ganz unerheblichen Umfang damit befaßt, in Großbritannien schuf erst die gewaltige Abgabeosteigerung im Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit, Steuerumgehung gezielt zu bekämpfen. Die britischen Staatsorgane widmeten sich dem Problem zunächst routillemäßig: Sie entdeckten bestimmte Steuerumgehungsmethoden aufgrund der Ergebnisse eines UntersuchungsKomitees und setzten die Empfehlungen des Komitees (mit einiger Verzöge139E/1/1O Becker, Zur Anwendbarkeit des § 5 AO., wenn zwischen Gesellschaften m.b.H. und ihren Gesellschaftern Verträge über Verpachtung eines Unternehmens geschlossen werden, in StuW 1924. Spalte 441. 442. 140Ebd .. Spalte 443. 141 Vgl. dazu Kruse. Steueruml?,ehung zwischen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. in StBJb 1978/1979. S. 443. 445: 'Es gehört zu den Paradoxien unseres Steuerrechts. daß eines seiner Hauptprobleme, das Problem der Steuerumgehung, nicht angesprochen wird. Jeder weiß um dieses Problem, doch keiner nennt das Kind beim Namen." Vgl. auch Paut Kirchhof, Steuerumgehung und Auslegungsmethoden, in StuW 1983,173: "Eme bewußte Umgehung steuerbelastender Tatbestände ist alltäglich und wird von der Rechtsordnung gebilligt. " 141Ein neueres Beispiel ist das sog. "Policendarlehen", dem durch eine Änderung des § 10 EStG im SteuerrechtsänderungsG 1992 beigekommen werden soll. Es beruht auf der Kopplung von Lebensversicherungen mit betrieblichen Darlehen und fuhrt zu erheblichen, vom Gesetzgeber ungewollten Steuerersparungen, wie das Berechnungsbeispiel in BT-Drucksache 12/1108 vom 3.9.1991. S. 56 zeigt. Die Grundidee findet sich schon bei Whealcroji, (1955) MLR 209. 211.

111. Bekämpfungsstrategien und ihre Konsequenzen

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rung) im Ralmlen des jährlichen Finance Acts in sehr spezielle Anti-UmgehungsbestinmlUngen um. Die bereits bestehende Aufgabenverteilung zwischen den Gewalten änderte sich dadurch nicht. In Deutschland fiel das massive Auftreten von Steuerumgehungen zusanmlen mit einem tiefgehenden politischen Bruch und einer schweren gesellschaftlichen und finanziellen Krise. Bei veränderter Regierung, Staatsform und Verfassung mußte das Steuerwesen in aller Eile tiefgreifend und radikal umgestaltet werden. Der Gesetzgeber gab einer erneuerten Verwaltung und neugeschaffenen Gerichten weite Befugnisse, Steuerumgehungen zu verhinden!. Befürchtungen, daß die Rechtssicherheit beeinträchtigt werden könnte, wurden aufgewogen durch das Ziel, die große Abgabenlast gerecht zu verteilen. Ab dieser Weichenstellung nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Entwicklung in bei den Ländern wesentlich durch den einmal eingeschlagenen Lösungsweg bestinmlt. In Großbritannien entwickelte sich eine umfangreiche, sehr spezielle Anti-Umgehungsgesetzgebung; Verwaltung und Gesetzgeber erwarben dabei eine hohe Kompetenz, Umgehungsgestaltungen zu entdecken und präzise zu stoppen. Ungereimtheiten im Steuersystem und eine extrem hohe Belastung von Einkonmlensspitzen (98 %) in den siebziger Jaluen riefen in Großbritannien eine so hochprofessionelle Steuerspar-Industrie hervor, daß gesetzgeberische Mittel allein dem Problem nicht mehr gerecht zu werden schienen; erhebliche Änderungen in der Rechtsprechung folgten. Im NachkriegsDeutschland wurden das Steuersystem und die Aufgabenteilung der Gewalten nicht im gleichen Maße auf die Probe gestellt wie in Großbritannien. Allerdings entwickelte sich auch hier -besonders in den siebziger und achtziger Jaluen- eine ausgeprägte Steuersparbranche. Wieviel die jeweilige Rechtsprechung zu einer Lösung beiträgt, die den verschiedenen gesellschaftlichen Interessen gerecht wird, wird in den folgenden Teilen der Arbeit näher untersucht werden. IH. Bekämpfungsstrategien und ihre Konsequenzen Steuerumgehung als legales Verhalten, welches zu nicht akzeptabler Steuerersparnis führt, wird in Großbritatmien und Deutschland als Problem angesehen. Die Art und Weise aber, wie die jeweiligen Rechtsordnungen das Problem traditionell zu bewältigen versuchen, ist -wie schon der unter II. gegebene, anl Tatsächlichen orientierte Überblick zeigt- verschieden. Welche rechtstechnischen Mittel bzw. Strategien stehen überhaupt zur Verfügung, und welche Konsequenzen haben sie? Wie lassen sie sich kombinieren? Nach einem entsprechenden Überblick sollen zunächst die eher praktischen Konsequenzen der verschiedenen Methoden aufgezeigt werden. Anschließend soll das Verhältnis der zur Verfügung stehenden Methoden zu den grundSätzlichen, durch sie beliihrten rechtlichen Prinzipien angesprochen werden. Nicht illIDler ist es möglich, die jeweiligen Aspekte sauber zu trennen.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

1. Die Möglichkeiten der Umgehungsbekämpjung

Bei Betrachtung bei der Rechtsordnungen ergeben sich folgende Möglichkeiten der Umgehungsbekämpfung: a) Interpretation der bestehenden Gesetze Steuerumgehungs-Gestaltungen unterfallen typischerweise nicht dem Wortlaut von belastenden Steuergesetzen bzw. unterliegen dem Wortlaut begünstigender Regelungen, wie er nach (bis dahin) gängiger Auslegung aufgefaßt wird. Durch weitere Interpretation kann der vom Rechtsanwender erkannte Gesetzeszweck unter Umständen trotzdem verwirklicht werden. Mit "Interpretation" ist hier jede Art der Erarbeitung von Rechtsfolgen aus dem Gesetzestext gemeint, sei es durch erweiternde bzw. einschränkende Auslegung, Analogie oder "wirtschaftliche Betrachtungsweise" etc. Eine andere Frage ist, nach welchen Regeln die Grenze der zulässigen Interpretation gezogen wird. Hierüber gibt es zu verschiedenen Zeiten und in Deutschland und Großbritannien unterschiedliche Auffassungen!. b) Rückgriff auf exteme Rechtsinstitute Der Rückgriff auf externe Rechtsinstitute ist ein Vorgehen, das sowohl im deutschen wie im britischen Steuerrecht vorkonmlt, aber neben der Interpretation als nur schwer greifbar erscheint. Es besteht aus einer Verbindung von Auslegung und der Anwendung von eigenständigen Rechtsprinzipien2 . Es ist eine "veredelte Interpretation" -veredelt insofem. als die Interpretation noch durch die aus anderen Rechtsinstituten entstanill1enden Gedanken ergänzt wird. Ein Beispiel könnte die "wirtschaftliche Betrachtungsweise" sein. wie sie von manchen Juristen aufgefaßt wurde. ein "Prinzip für die Erfassung und Würdigung von Sachverhalten" als "Bestandteil der allgemeinen Rechtslehre":". Auch wird in der deutschen Literatur häufig wiederholt, daß mit dem Begriff "Steuerumgehung" (als juristischer Terminus) ein Unterfall der

1 Während in Deutschland lange Zeit -und z.T. immer noch- die Analogie zu Lasten des Steuerzahlers für unzulässig gehalten wurde bzw. wird, galt ähnliches für "teleologische" Auslegung in Großbritannien: vgl. etwa Lord Donovan, in Mangill v lRC(197l) AC 739.746 (unter Bezugnahme auf ältere Rechtsprechung): "... one has to look merely at what is c1early said. There IS no room for any intendment. ., 2 Diese eigenständigen Prinzipien werden in Großbritannien in der Regel auf Richterrecht beruhen. welches im Steuerrecht zwar äußerlich völlio hinter dem Gesetzesrecht zurücktritt. ~leichwohl aber viele Grundlagen des Steuerrechts geschaffen hat. vgl. dazu WhilehouselStuartJjuttle (1991). S. 24. TZ 3.21. :" Halls Blellcke. Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht und ihre Grenzen. Herne/Berlin 1979. S. 167.

III. Bekämpfungsstrategien und ihre Konsequenzen

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Gesetzesumgehung bezeichnet werde4. Mit anderen Worten: Gäbe es keine GeneralkJausel, bestünde für den Rechtsanwender theoretisch die Möglichkeit, aus dem Rechtsinstitut der Gesetzesumgehung Regeln für den Fall der Steuerumgehung zu entwickeln5 . Diese kämen dann in Verbindung mit weiterer Interpretation des Tatbestandes eventuell zu dem gleichen Ergebnis wie man es jetzt bei Anwendung der GeneralkJausel erzielte. Dementsprechend sprechen britische Autoren auch von der "abuse of rights doctrine", wenn sie die Grundlage der GeneralkJausel beschreiben6 . Für Großbritannien ist als eine teilweise vergleichbare Erscheinung das Ramsay principle zu nennen, welches ebenfalls von einigen Richtem und juristischen Autoren als ein neben eine Interpretation tretendes, eigenständiges Rechtsprinzip angesehen wird 7 . Fomlal betrachtet werden gerade Rechtsfortbildungen durch Richterrecht häutig auf einer Verbindung von Interpretation mit anderweitigen Prinzipien beruhen. c) Steuerliche GeneralkJausel Eine steuerliche GeneralkJausel ist grundsätzlich darauf gerichtet, alle Arten von Steuerumgehungen (durch rechtliche Gestaltungen) zu erfassen. Diesen Weg ist der Gesetzgeber in Deutschland mit § 5 RAO 1919 § 6 StAnpG bzw. § 42 AO 1977 gegangen. In Großbritannien hat man diese schon mehrfach diskutierte Lösung bisher inlliler wieder verworfen. d) Erlaß spezieller Anti-Umgehungsgesetze GestaItungen, durch die unvorhergesehene und unerwünschte Steuervorteile eintreten, können durch spezielle Anti-Umgehungsgesetze bekämpft werden. Der deutsche Gesetzgeber hat diese Methode oft angewandt. Beispiele sind § 15a EStG, das Außensteuergesetz, § 1 Abs. 2 GrEStG oder § 8 Abs. 4 KStG (betr. Mantelkauf). In GroßbritalUuen ist dies die häutigste gesellschaftliche Reaktion auf Steuenuugehungen8 . Beispiele sind sec. 776 lncome 4 TipkefKruse. AO. § 42 RN 2: Da/lur. Steuerumgehung (1981). S.5. Crezelius. Rechtsanwendung (1983). S. 219: vgl. schon Be('ker. StuW 1924. Sp. 443: Hemel. Dogmatik (1923). S. 222. :. piese Konsequenz wird -wenn ich die Ausführungen richtig verstehe- bestritten von Crezehus. S. 218 ff. 6 Revel/ue Lav.,' Commirree (!f' n,e Law SodeT)'. Tax Law In The Melting Pot. London 1985. S. 33. 7 Revel/ue Law Commirree 0/ n,e Law SodeT)'. S. I: Milieu. (1986) BTR 327. 338: "It is a judge-made doctrine. based on ordinary common law reasoning." 8 Vgl. Maysoll (1989). S. 21: "many provisions are designed purely to prevent or adjust the laX consequences of lax avoidance measures": lOlles (1982). S. 85. erwähnt Schätzungen. nach denen die Income Tax Acts in der Zeit um 1982 circa IOD Seiten reiner AntiUmgehungsgesetzgebung enthielten. im Vergleich zu 30 Seiten im Jahre 1952. Tendenz: steigend; vgl. schon WhiTemallfWheaTcrolT.OnlncomeTaxAndSurtax.LondonI97I.TZI16. S. 10: "".there has been a mass of legislation since 1920 which is designed to counter a particular method of lax avoidance. but rarely does so cffectively at tirst attempt. ..

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

and Corporation Taxes Act 1988 (lCTA 1988)9, sec. 729. 730 1CTA 1988\0, sec. 674 1CTA 1988 11 . Spezielle Anti-Umgehungsgesetze können verschieden weit gefaßt werden. Ihre Wirkung kaml hinsichtlich der Steuerart. für die sie gelten. ähnlich sein wie die einer allgemeinen Generalklausel12. Sie können aber auch so konkret gefaßt sein, daß sie nur eine einzige unerwünschte Gestaltung treffen l3 . Mitunter sind spezielle Anti-Umgehungsgesetze allein an Praktikabilitäts-Gesichtspunkten orientiert: Sie ziehen nach eindeutigen. gut zu handhabenden. aber nicht unbedingt sachlich gerechtfertigten Kriterien eine klare Linie, bei der die meisten unerwünschten Gestaltungen und einige andere Sachverhalte erfaßt werden l4 . Um der dadurch leicht entstehenden Über-Inklusivität zu begegnen. ist es in Großbritannien üblich geworden, daß die Steuerbehörden sogenalmte "extra-statutory concessions". d.h. durch Richtlinien geregelte Abweichungen vom Gesetz zugunsten des Steuerzahlers, gewähren I 5. In den Kreis spezieller Anti-Umgehungsgesetze gehören auch solche Gesetze. die im Hinblick auf bestimmte Umgehungen rückwirkend erlassen werden l6 oder bei bestinmIten GestaltUllgen eine Beweislastumkehr anordnen. d.h. eine Steuerfolge bestimmen, wenn nicht der Steuerpflichtige nachweist, daß er die Gestaltung aus nichtsteuerlichen wirtschaftlichen Gründen heraus gewählt hat. Beide Methoden werden in speziellen britischen Steuergesetzen angewandt. e) Spezielle Ermächtigung der Verwaltung In Großbritannien ist diese Methode als "administrative control approach" bekamu. Danach wird Verwaltungsstellen für bestimmte Fallgruppen ein 9 Betr. "arrjicial transaetions in land: taxation 0/ capilal gains"; diese Bestimmung soll sicherstellen. daß bestimmte Veräußerungsgewinne als Einkommen und nicht als Kapitalgewinn versteuert werden. 10 Gegen dividend stripping (s.o. 11). wenn der Rückkauf von Anfang an in demselben zweiseitigen Vertrag vereinbart wurde. 11 Demjenigen. der Vermögen (durch sellleme1ll) auf einen Treuhänder überträgt. werden die entsprechenden Einkünfte unter bestimmten Voraussetzungen weiter zugerechnet. 12 Diese Methode wird in Großbritannien als "shotgun approach" bezeichnet, vgl. BUllerworrhs (1991). TZ 31:03; vgl. rur Deutschland schon Hensel. Dogmatik (1923), S. 263: "Der Gesetzgeber hat sich daher entschließen müssen, in das Spezialsteuer~esetz gleichsam eine Generalklausel aufzunehmen" über eine Anti-Umgehungsbestimmung im setnerzeitigen GrEStG. l3 Der sog. ".miperapproach". vgl. BUllerworrhs (1991). S. 872. TZ 31:02. auch "patching met/wd" genannt. vgl. Wheatcroft. (1955) MLR 209. 225. Ein Beispiel dafur ist sec. 157 {eTA 1988 betr. die steuerliche Behandlung von Firmenwagen. 14 WheatcrCift (1955) spricht von "hil-or-miss"-Methode. 15 Etwas Entsprechendes scheint es in Deutschland auf den ersten Blick nicht zu geben. Allerdings enthalten auch die dort üblichen Richtlinien mitunter Abweichungen vom Gesetzeswortlaut zugunsten des Steuerpflichti~en. Mit Recht könnten manche dieser Besserstellungen als "extra-statUlory cOllcessions' bezeichnet werden. Ein Beispiel ist etwa A 166 der EinkommensteuerrichUimen 1990: Danach brauchen ausländische Studenten. die sich nur zum Studium an deutschen Universitäten in der Bundesrepublik aufhalten, ihren "Monatswechsel" auch dann nicht zu versteuern. wenn ihre Eltern in Deutschland nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind. Das ist eine echte. auf Billigkeitsgründen beruhende Ausnahme von § 22 Ziffer I EStG. Es gibt weitere Beispiele. 16 Vgl. dazu White (1990). S. 1405. TZ B9.0080.

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weites (im Rechtsmittelwege aber prüfbares) Ermessen darüber übertragen, ob eine Gestaltung als Umgehung angesehen wird und welche Steuerfolgen daraus erwachsen sollen. Diese Methode galt hinsichtlich der Excess Profits Tax im Zweiten Weltkrieg, wird aber zur Zeit nicht angewandt 17. Eine Entsprechung in Deutschland ist nicht ersichtlich. Allerdings bestand in Deutschland fortwährend eine steuerliche Generalldausel, die in vieler Hinsicht mit dieser Methode vergleichbar ist und neben der diese Methode keinen Sinn ergibt. Insgesamt handelt es sich bei diesem Ansatz derzeit nur um eine theoretische Möglichkeit, auf die deshalb nicht weiter eingegangen werden soll.

2. Praktische Konsequenzen Die hier aufgezeigten prinzipiellen Möglichkeiten der Umgehungsbekämpfung unterscheiden sich zunächst dadurch, daß unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen mit Umgehungsbekämpfung betraut werden. Außerdem erzeugt jede Methode andere Wechselwirkungell. Soweit die interpretationsbezogem;n Möglichkeiten (1) und (2) zum Zuge konmlen, liegt es in der Hand des Rechtsanwenders zu entscheiden, welchen Steuerspar-Gestaltungen die AnerkelUlUng zu versagen ist. Finanzämter und Justiz erhalten damit in dem ihnen zugestandenen Rahmen die Freiheit. die gesellschaftlich akzeptablen von den nicht akzeptablen legalen Wegen zur Steuerersparnis zu trennell. Maßstab dieser Freiheit ist, wieweit es dem Rechtsanwender gestattet wird, den Sinn des gesetzlichen Tatbestandes selbst und eigenverantwortlich zu bestimmen, ohne dabei auf die Vorgaben durch die gesetzlichen Fonllulierungen beschränkt zu sein l8 . Wird dem Rechtsanwender ein weiter Interpretationsralmlen eingeräumt. hat er die Möglichkeit, den meisten Gestaltungen, die er als Umgehung eines Steuertatbestandes erkennt. die Anerkennung zu versagen. Eine andere Frage ist es. welche Freiheit des Rechtsanwenders eine Gesellschaft bereit ist hinzuneimlen. Wird diese Frage aber eiImIal zugunsten der praktischen Erwägungen zurückgestellt. ergibt sich die These, daß ein weiter Interpretationsralullen des Rechtsanwenders eine effektive Bekämpfung von Umgehungen verspricht. Die Einführung einer Generalldausel (3) berührt sowohl Gesetzgeber als auch Rechtsanwender. Sie ist eine gesetzgeberische MaßnalmIe. die mit Aufgabenzuweisungen an den Rechtsanwender kombiniert wird. Auch eine Generalldausel begründet Freiheit des Rechtsanwenders. Wie unterscheidet sich diese Freiheit von der aus den interpretationsbezogenen Ansätzen erwachsen 17 Bulterworths (1991), S. 873, TZ 31 :05: Wheatrroft (1955). mit weitergehender Erörterung der entsprechenden Bestimmung (sec. 35 (I) Fillallce Art 1941). 18 Vgl. Walz, Was heißt Gesetzesbindung? in StuW 1991. 77. 80.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

den Freiheit? Eine denkbare Antwort ist, daß der Einführung einer GeneralklauseI die Vorstellung zugrunde liege, daß dem Rechtsanwender überhaupt erst die besondere Kompetenz zur Umgehungsbekämpfung übertragen wird, ohne die er nur enge Möglichkeiten habe, rechtlichen GestaItungen die steuerliche Wirksamkeit zu versagen. Der Gesetzgeber ist frei, die mit der Generalklausei an den Rechtsanwender übertragenen Kompetenzen durch Änderung oder Abschaffung der Generalklausei zu modifizieren oder zurückzunelmlen: Die Freiheit des Rechtsanwenders beruhte damit auf der GeneralklauseI und hätte sich in ihrem Rahmen zu halten. Die Einführung einer weitgefaßten Generalklausei kann aber auch anders verstanden werden. Sie kann bedeuten, daß der Gesetzgeber dem Rechtsanwender zur Umgehungsbekämpfung "grünes Licht" gibt, kanu als Zeichen dafür aufgefaßt werden, daß der Rechtsanwender bei der Interpretation von Steuerrechtsnomlen gerade viel Freiheit genießen soll. Der Rechtsanwender braucht kein "schlechtes Gewissen" mehr zu haben, wenn er die Nicht-Anerkennung bestimmter GestaItUllgen aus einer weiten Interpretation des Steuertatbestandes ableitet, deml durch Anwendung der Generalklausei würde er letztlich das gleiche Ergebnis erzielen. Es ist interessant zu beobachten, wie in Deutschland grundsätzlich beide Auffassungen von der Einführung der steuerlichen GeneralklauseI an 19 bis heute in verschiedenen Varianten vertreten werden. Einerseits wird gesagt, die GeneralklauseI sei überflüssig 20 bzw. solle nur als Ausnalmlevorschrift2 1 angewandt werden, andererseits wird die stärkere Anwendung der GeneralklauseI zu Lasten weitergehender Auslegung gefordert 22 • Dieser Konflikt spiegelt sich auch in der deutschen Finanzrechtsprechung wider, wenn durch Interpretation der Steuertatbestände begründete Urteile ersatzweise mit § 42 AO gerechtfertigt werden23 . Insofern verwundert es nicht, daß sich der Anwendungsbereich der Generalklausei erweitert, wenn die Auslegungsfreiheit des Rechtsanwenders stärker beschränkt wird und umgekehrt24 . Diese in Deutschland bestehende Spannung um die Generalklausel macht es schwer, ihre praktische Bedeutung zu bestinmlen. Über lange Zeit wurde beobachtet, daß sie leerliefe, ein Schattendasein führe oder gar selbst -vom Rechtsanwender- umgangen würde 25 . 19 Vgl. Becker (1924). Sp.443. der die Generalklausel fur überflüssig hielt und auf der anderen Seite Hemel (1923). S. 244. 20 Differenzierend Walz. Steuergerechtigkeit (1980). S. 224 ff.; Dallzer. Steuerumgehung. S.68. 21 Blellcke. Gestaltungsfreiheit im Steuerrecht und ihre Grenzen. Herne/Berlin 1979. S. 147 f. 22 Kruse. Steuerumgehung zwischen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. in StBJ 1978/1979. S. 442. 460; Crezelius. Rechtsanwendung (1983). S. 225. 23 BFH v. 22.1.1960. BStBI. III. 111; BFH v. 1.6.1978 BStBI. 11. 1978.618. 24 Vgl. Walz. Steuergerechtigkeit (1980). S. 226. der diese Aussage konkret auf die Bindung des Rechtsanwenders an zivilrechtliche Begriffe bezieht. 25 Crezelius. Rechtsanwendung (1983). S. 225.

III. Bekämpfungsstrategien und ihre Konsequenzen

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Tipke/Kruse meinen allerdings, daß § 42 AO mittlerweile zu den am häufigsten angewendeten Vorschriften der Abgabenordnung gehöre 26 . Die von Haegert am Finanzgericht München durchgeführte empirische Untersuchung 27 , in welcher Entscheidungen im Hinblick auf die angewandten Vorschriften ausgewertet wurden, läßt an dieser Aussage jedoch erhebliche Zweifel aufkommen: Die Generalklausei hat bei über 1.000 untersuchten Entscheidungen in keinem Fall eine wesentliche Rolle gespielt 28 . Möglicherweise ist ihre Existenz aber in der Veranlagungspraxis als eine Art Abschreckungsmitte12 9 von einer gewissen Bedeutung. Das Revenue Law Committee oj The Law Society vertrat in einer 1985 veröffentlichten vergleichenden Studie die Auffassung, daß weitgeschnittene Generalklauseln, wie sie in Kontinentaleuropa verbreitet sind, vor allem als "'{n terrorem' sanctions" gegen Steuerzahler wirkten, auch wenn sie unmittelbar wenig angewandt würden 30 . Andererseits steht jede Generalklausei vor der Notwendigkeit, selbst einen, wenn auch weitgefaßten Tatbestand haben zu müssen. Das aber macht sie selbst anfällig für Umgehungen, denn wenn nur eines der Tatbestandselemente nicht erfüllt ist, scheidet ihre Anwendung aus". Deshalb erscheint es unwahrscheinlich, daß eine Generalklausei diejenigen, die entschlossen sind, Steuertatbestände erfolgreich zu unterlaufen und über die nötige Kompetenz verfügen, von ihrem Vorhaben abhalten kölmte. Alles in allem hängt die praktische Bedeutung steuerlicher Generalklausein sehr stark von dem System ab. in das sie eingefügt werden. Ob die derzeitige Generalklausei in Deutschland effektiv ist. ist sehr zweifelhaff'2. Spezielle Anti-Umgehungsgesetze sind der laufende Beitrag des Gesetzgebers zur Umgehungsbekämpfung. Diese in Großbritannien vorherrschende Methode" hat es auch in Deutschland gegeben, seit Steuerumgehungen bemerkt wurden, und sie spielt heute keine unerhebliche Rolle. Daß Umgehungsbekämpfung sogar in erster Linie auf ein Spezialklausel-System gestützt werden sollte, hielt z.B. Hensel für wütischenswert 34 . Diese Methode scheint 26 AO 1977. §42. TZ I. Haegerl. Eine empirische Widerlegung der gängigen Thesen über die Ursachen der Uberlastung der Finanzgerichte. in BB 1991. 36. 28 Das deckt sich mit dem Ergebnis von Gesprächen des Verfassers mit Richtern am Hamburger Finanzgericht. 29 Diese Möglichkeit wird schon bei Hel/sei (1923). S. 284 angesprochen. jedoch als fur die damalige Zeit unwahrscheinlich verworfen. 30 Rev. Law Committee (1985). S. 33. 76 f. ,I Vgl. Hel/sei (1923). S. 276. der davon spricht. daß der Absatz II der damaligen Generalklausel sich aus genau diesem Grunde schnell zur "magna charta des Steuerschiebers" entwickeln könne. Für die Zurückhaltung bei der Anwendung des § 42 AO hat mir ein Hamburger Finanzamtsleiter Entsprechendes gesagt. 32 Vgl. Walz, Steuergerechtigkeil (1980). S. 227. nach dessen Auffassung "es nicht verwundert. wie wenig praktische Hilfe § 42 AO und die Vorgängernormen der Steuerverwaltung und den Finanzgerichten geleistet haben." 33 Vgl. WhirellOuse/Sruarl-Butlle (1991). S. 26. 34 Hel/sei (1923), S. 284; entsprechend fur Großbritannien: Flesch (1968) CLP 209. 230 ff. .. 27

6 Nevermann

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

auf den ersten Blick viele Vorteile zu haben. Wenn der Gesetzgeber bestimmte Umgehungsgestaltungen ausdrücklich der Besteuerung unterwirft, erhöht dies die Rechtssicherheit. Der auf seine Steuerlast achtende Bürger weiß von Anfang an, daß die von der Gesetzgebung betroffene Gestaltung in seiner Steuerplanung ausscheiden muß. Auch hat diese im Vorwege gegebene gesetzgeberische Entscheidung mehr Autorität als die nachträgliche Entscheidung eines Finanzamts oder eines Gerichts. Doch diesen Vorteilen stehen auch beträchtliche praktische Nachteile gegenüber. Bis eine Umgehungsmethode bemerkt wird, verstreicht regelmäßig viel Zeit, und noch mehr Zeit vergeht, bis der Gesetzgeber reagiert 35 • In der Zwischenzeit schafft dies bedeutende Steuerverluste und erhebliche Ungleichheit. Wäre es hingegen dem Rechtsanwender überlassen, die Umgehungsgestaltung als solche zu bewerten, würde zwar auch eine gewisse Zeit vergehen, bis sie erkannt würde; ist dies aber einmal geschehen, können alle ähnlich gelagerten36 , noch nicht abgeschlossenen Fälle bereits entsprechend behandelt werden. Der entscheidende Nachteil der primären Bekämpfung von Steuerumgehungen durch spezielle Gesetzgebung liegt aber anderswo: Steuergesetze sind derzeit aus vielerlei Gründen permanenter Veränderung unterworfen. Häufig eröffnen Änderungen die Möglichkeit, sie auf unvorhergesehene Art für Umgehungen auszunutzen. Entsprechende Anti-Umgehungsgesetzgebung, die wieder aus Regeln und Ausnahmen bestehen muß, folgt und bleibt dann oft über lange Zeit erhalten, auch weml ihre eigentliche Ursache schon wieder verschwunden ist. Es bildet sich ein überkompliziertes Geflecht von Bestimmungen heraus, das genau die Ungereimtheiten und Widersprüche produziert, die den für Steuerumgehung fruchtbarsten Boden abgeben. "The result might be described as a patchwork were it not for the overtones of antique cosiness that go with the word, it is better described as a shambles"37. 3. Der Grundwertekonflikt: Rechtsstaat v Gerechtigkeit

Die Entscheidung, ob und durch wen Steuerumgehung bekämpft werden soll, berührt verschiedene Grundwerte eines sozialen, demokratischen Rechtsstaats. Die Problematik soll im folgenden kurz umrissen werden: Für Steuern gilt der Gesetzesvorbehalt. Die Grenzen dessen, was der Rechtsanwender darf, ergeben sich aus dem ihm zugestandenen Interpreta35 Vgl. etwa Whire (1990), S. 1404, TZ B.9.0070, der an verschiedenen Beispielen aulZeigt, daß der Prozeß zur Verabschiedung brauchbarer Anti-Umgehungsgesetze "not only slow, but sometimes even dilatory" verlaufen sei. 36 Es entspricht der Erfahrung, daß Umgehungsgestaltungen serienmäßig auftreten. 37 BUllerworrhs (1991), S. 19, TZ I :26; im gleichen Sinne schon Whireman/Whealcrojt (1971), S. 10, TZ 1-16.

111. Bekämpfungsstrategien und ihre Konsequenzen

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tionsrahmen. einschließlich seiner Befugnis. ergänzend auf andere Prinzipien zuruckzugreifen und den durch eine GeneralklauseI gezogenen Grenzen. Sind die Befugnisse des Rechtsanwenders weit. so wird argumentiert. werde das Recht weniger sicher38 • Die daraus entstehende Unsicherheit widerspräche dem Rechtsstaatsprinzip bzw. dem Postulat der Herrschaft des Rechts. welches -gerade. wenn es wie im Steuerrecht um staatliche Eingriffe geheRechtssicherheit verlange. Es könne darm fraglich werden, ob der für Steuergesetze geltende Parlamentsvorbehalt überhaupt noch gewahrt sei. Das setze voraus, daß der Tatbestand39 hinreichend bestinmlt sei. Die spätere Entscheidung des Rechtsanwenders aufgrund des vom Gesetzgeber erlassenen Gesetzes solle im wesentlichen vorhersehbar sein4o . Bei einem weitgesteckten Entscheidungsrahmen des Rechtsanwenders sei das aber gerade nicht der Fall. Nicht nur die Grundsätze des Rechtsstaats. sondern auch die der Demokratie würden dann verletzt. Andererseits: Sind die Grenzen dessen. was der Rechtsanwender darf. eng. wenn Gesetze z.B. wortwörtlich auszulegen sind. wären Umgehungen an der Tagesordnung. Das Gesetz wäre nicht mehr effektiv, liefe leer. Die Ergebnisse. die der Gesetzgeber anstrebt. würden nicht erreicht. Wirtschaftlich gleiche Sachverhalte würden verschieden behandelt werden. Die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen wäre nicht mehr gewährleistet. Diejenigen. welche die Mittel hätten. sich weitläufig wirtschaftlich zu betätigen und sich kompetent beraten zu lassen, könnten der Besteuerung weit effektiver ausweichen als Bevölkerungsteile. die durch die Art ihrer Einkünfte und durch das begrenzte ihnen verfügbare Know-how keine Möglichkeit dazu hätten. Kurz, auch bei dieser extremen Altemative wären Grundprinzipien der Rechtsordnung verletzt: Das Rechtsstaatsprinzip. weil Gesetze nur noch for-

38 Z.B. bei Buttenmrtl!s (1991). S. 873. TZ 31 :06. 39 In Deutschland wird der Gesetzesvorbehalt fiir Steuergesetze aus Art 2 Absatz I. 20 Absatz 3 und ergänzend (nach nicht unbestrittener Ansicht) aus Art. 14 GG abgeleitet. vgl. TipkelLallg. Steuerrecht. Köln. 13. Aufl. 1991. S. 29. Maßgeblich sind dabei das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip. vgl. dazu Tipke. "An den Grenzen der Steuerberatung: Steuervenneidung. Steuerumgehung. Steuerhinterziehung". in StBJ 78/79. S. 509. 511. Art 20 Absatz 3 GG wird hingegen als Grundlage fiir das Prinzip der "Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung" genannt. dessen heutige Bedeutung im einzelnen streitig ist. vgl. z.B. Walz. Steuergerechtigkeit (1980). S. 137 ff. und Crezelius. Rechtsanwendung (1983). S. 129. 40 Britische Juristen. die nicht auf eine geschriebene Verfassung zurückgreifen können. zitieren in diesem Zusammenhang häufig Adam Smitl! (1776). The Wealth Of Nations. Book Five. Chapter Two. Part Two: "... the tax which each individual is bound to pay ought to be certain, and not arbitrary. The time of payment. the manner of payment. the quantity (0 be paid, ought all to be clear and plain to the contributor. and to every other person .... The certainty of what each individual ought to pay is in taxation. a matter of so great importance. that a very considerable degree of inequahty ... is not near so great an evil as a very small degree of uncertainty." (zitiert nach Ma{rolm Gammie. After Dawson. in Fiscal Studies. Vol. 5. No. 3 Aug. 1985. S. 23. 38); vgl. auch fiir viele andere Lord MacDermott in IRC v Bladllocl! Distillery Co. LId. (1948) I All. ER 616. 651 F) und Wheatcro(t. 111e Present State Of The Tax Statute Law. in (1968) BTR S. 377. . 6"

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

mal erfüllt werden, materiell aber leerlaufen41 ; das Demokratieprinzip, weil die demokratisch gefällten Entscheidungen des Gesetzgebers nicht umgesetzt werden; der Gleichheitssatz, weil Steuerpflichtige ohne rechtfertigenden Grund ungleich behandelt werden; das Sozialstaatsprinzip, weil der sozial schwächere Steuerzahler gegen den stärkeren strukturell benachteiligt wird. Diese Negativfolgen kölmen allerdings bis zu einem gewissen Grade durch gesetzgeberischen Aktivismus aufgefangen werden. Ob aber dieser Weg tatsächlich auf Dauer befriedigende Ergebnisse liefern kann, erscheint zweifelhaft. Die Gegenüberstellung dieser grundsätzlich in Deutschland und Großbritalmien gültigen Wertungen soll die identischen Probleme bei der Rechtsordnungen verdeutlichen, wenn sie sich für eine einzige oder eine Kombination der oben genannten Optionen entscheiden. Eines jedenfalls dürfte klargeworden sein: Ein dynamisches Phänomen wie Steuerumgehung kann nur beWältigt werden, welill auch die gewählte BekämpfungsmetlIode Dynamik erlaubt, sei es durch flexible Interpretation, eine GeneralklauseI oder ein Marathon des Gesetzgebers. Immer aber besteht die Gefahr, daß fundamentale Werte verletzt werden.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht Recht habe zwei Gesichter, meint Roger CotterrelJ!. Es erscheine einerseits als eine Sunmle von Lehren oder Ideen (Gesetzen, Rechtssätzen), die logisch oder dogmatisch interpretiert und entwickelt werden kÖlillten, wirke aber andererseits als ein Mechanismus, der das gesellschaftliche Leben durch bestinmlte Institutionen und Praktiken regele. Recht erschöpfe sich also nicht in abstrakter Logik, sondern müsse praktisch auch als eine Angelegenheit gesellschaftlicher Erfahrung bzw. empirischer Forschung behandelt werden. Nur in juristischen Lehrbüchern hätten Rechtsregeln ein Eigenleben. Anderswo aber hinge ihre Bedeutung davon ab, wie sie -welill überhaupt- auf bestinmlte gesellschaftliche Situationen und Beziehungen angewandt werden. Wenn Recht Teil gesellschaftlicher Mechanismen ist, dann gehört zur Darstellung des gesellschaftlichen Problems "Steuerumgehung" in Großbritannien und Deutschland auch das Verhältnis von Steuerumgehung und Recht, zumindest soweit die praktisch-gesellschaftliche Seite des Rechts berührt ist. Im folgenden soll ein Schlaglicht auf Wechselwirkungen zwischen Steuerumgehung und Recht geworfen werden, und es sollen Grundstrukturen westlichen Rechts angesprochen werden, die für das Verständnis des Phänomens 41 V~l. zum Kontlikt zwischen fonneller und materieller Rechtsstaatlichkeit: Tipke/ Lang (1991). S. 41 f. 1 The Sociology of Law. London 1984 (reprint 1990). preface v.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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"Steuerumgehung" in beiden hier untersuchten Jurisdiktionen von Bedeutung sind.

1. Steuerumgehung als Ursache von Rechtsentwicklungen Daß Steuern umgangen werden, hat das Recht in Großbritannien und Deutschland in vielen Bereichen verändert. Im Steuerrecht zeigt sich das schon rein äußerlich an der großen Zahl der speziellen Anti-UmgehungsbestinIDlUngen. Sie sind in fast alle Steuergesetze eingewoben und haben zur Verabschiedung spezieller in sich geschlossener Gesetze geführtl. In bei den hier betrachteten Jurisdiktionen sind sehr viele Urteile und behördliche Richtlinien durch kreative steuerliche Gestaltung hervorgerufen worden. Beeinflußt ist aber auch der Stil der Steuergesetzgebung (im weitesten Sinne). Mittels einer komplizierten, technischen, selbst dem Juristen kaum verständlichen Sprache werden oft Dinge ausgedrückt, die ursprünglich eilIDlal auf einfachen Grundsätzen beruhten~. Daß die Mehrheit der Parlamentsmitglieder, welche Steuergesetze verabschieden, deren Sprache oft nicht versteht und ihre StinIDle -abgesehen von Partei räson- im Vertrauen auf die in den Ministerien arbeitenden Entwurfsverfasser abgibt, dürfte wahrscheinlich sein4 . Diese Entwicklungen beruhen zwar auch auf der insgesamt bestehenden Komplexität vieler Situationen, die in Steuergesetzen berücksichtigt werden müssen, gleichwohl ist die Vemleidung möglicher Umgehungen ein entscheidender Faktor für die Verdunkelung des Rechts durch unverständliche Sprache~. Im Ergebnis fördert dies die Tendenz, daß das Parlament überhaupt nur noch fomlal als Gesetzgeber tätig wird, während die Rechtsetzung praktisch in die wenig transparenten Strukturen bürokratischer Institutionen der Exekutive verlagert wird6. Damit verbundene Probleme, besonders 2 Wie z.ß. das AußensteuerG. :; Vgl. WiliteilollselStllarT-Burtie (1991). S. 8: "Tax is often seen as an ephemeral area: as a part of law devoid of principle and subject to the whims of politicians. In part this view is true ... The underlying principles do. however. remain. and it is usually only the sur1'ace landscape that is altered .... In understanding tax law the golden rule must be to ignore the form in 1'avour of the substance. Given that the whole edifice is man-made and is designed to achieve practical ends. it should also follow that it is fully comprehensible. " 4 Vgl. Lord Reid in Flemillg v Associated Newspapers ud (1972) 2 All ER 574 über ein unverständliches Steuergesetz: "Draftsmen as weIl as Homer can nod. and Parliament is so accustomed to obscure drafting in Finance Bills that no one may have noticed the de1'ects in this subsection. " ~ Vgl. McBamet. 'Law. Policy and Legal Avoidance: Can Law Effectively Implement Egalitarian Policies?'. in (1988) Journal of Law And Society. S. 113. 114: "But much of the complexity 01' law and the convoluted style 01' its wording is not the cause but the result 01' avoidance. Specific devices to avoid law result in more law and more verbose law in the attempt to dose the loophole. " 6 Daß das Parlament oft Gesetze verabschiedet "with little idea of what it is passing". meinen auch PotterlT7lOmilill. in Potter And Monroe' s Tax Planning With Precedents. 8. Auflage. London 1978, preface vi: vgl. auch Lord Reid, in IRe l' Hillrlly (1960) AC 749. 760: "... it is idle to speculate whether Parliament or, indeed. any member of Parliament, understood the full effect of the enactment. "

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

im Hinblick auf die demokratische Legitimation von Gesetzen, werden in der deutschen und britischen rechtswissenschaftlichen Literatur angesprochen? Kreative steuerliche Gestaltung hat in Deutschland das Privatrecht, besonders das Gesellschaftsrecht, erheblich beeinflußt. "Daß wichtige Teile des materiellen Privatrechts durch das moderne Steuerrecht 'aufgerollt', daß privatrechtliche Institute durch steuerrechtlich motIvIerte Gestaltungen 'denaturiert' werden, ist freilich keine bloße Gefahr mehr, sondern vollzogene Wirklichkeit," konnte Walz 1983 unwidersprochen feststellen 8 . Die für diese Behauptung von ihm angeführten Beweise, z.B. die verschiedenen Forolen der GmbH & Co KG und deren Entwicklung, die Publikums-Personengesellschaft, Bauherrenmodelle, bei denen Erwerber in Bauherren umfunktioniert werden, sprechen für sich. Daß sich das Steuerrecht in der Praxis als eine "unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts" ausgewirkt habe, meint auch Knobbe-Keuk, wenn sie auch die "Schuld" dafür bei den Zivilgerichten sieht9 . Es spricht einiges dafür, daß die große Zahl der steuerlich motivierten Gestaltungen auch im britischen Privatrecht ihre Spuren hinterlassen hat. Allerdings sind dem Verfasser keine britischen Arbeiten zu diesem Thema bekamltgeworden. Aus Gesprächen mit verschiedenen Steuer- und Wirtschaftsjuristen ist vielmehr der Eindruck entstanden, daß diese spezielle Fragestellung in Großbritannien bislang noch nicht aufgegriffen wurde, auch wenn das Phänomen als solches durchaus vorhanden ist. So zeichnet sich bei Betrachtung des britischen Privatrechts ab, daß große Teile des Trust-Rechts, besonders soweit es discretionary trusts betrifft, seinen jetzigen Entwicklungsstand aufgrund steuerlich motivierter Gestaltungen erlangt hat lo . 7 Vgl. für Großbritannien Z.B. David W. WilIiam5, (1978) MLR 404, welcher Finance Bills zwar als "creatures of Treasury Ministers and their Revenue advisers" bezeichnet, die allein die dahinterstehenden Zwecke festlegten (S. 406), der jedoch -gerade bei detaillierter Gesetzgebungeine scharfe Kontrolle der Exekutive durch das Parlament für gewährleistet hält (S. 422f); für Deutschland im Gegensatz dazu WaLz, StuW 84, 170, 171 nach welchem detailbesessene, koml?lizierte. undurchdringliche Steuergese~.e allenfalls formal demokratisch seien, weil die Details die Abgeordneten überforderten. AhnIich auch Wassermeyer (Richter am BFH), DB 1991. S. 1795, 1796: "Man kann getrost unterstellen, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestags in diesem Bereich schon lange nicht mehr zur Kenntnis nehmen, was sie eigentlich beschließen." Noch einen Schritt weiter geht VogeL, der mit Blick auf die Wähler, die komplizierte Steuergesetze auch nicht mehr verstehen, feststellt: "Eiri kompliziertes Steuergesetz schützt also die Parlamentarier vor ihrer Verantwortung", in "Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht", bei Friaul (Hrsg.), Steuerrecht und Verfassungsrecht. 1989, S. 123. 129. 8 Die steuerrechtliche Herausforderung des Zivilrechts, in ZHR 147 (1983), S. 281, 282. 9 Das Steuerrecht - eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts. Bonn 1986, Vorwort v. 10 So heißt es in dem für Studenten geschriebenen Anleitungsbuch von Sydenham, Trusts in a Nutshell, London 1987, S. 12 beiläufig: "Often it is not clear whether a transaction amounts to a dec\aration of trust or a disposition of an equitable interest. The cases are inconsistent and illogical. !his is because many 01 them are revenue cases." (Hervorhebung von mir). J.H. Baker, Introduction to English Legal History , 3. Auflage, London 1990, S. 335, beschreibt, wie das strict settLement. ein über mehr als dreihundert Jahre (17. bis 20. Jahrhundert) verbreitetes,

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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Grundlegend für das in England wichtige Rechtsinstitut des constructive trust 11 ist Z.B. die steuerrechtliche, stamp duty betreffende Entscheidung Oughtred v IRCt2 geworden. Als weiteren Beleg dafür, daß das Steuerrecht bzw. steuerrechtliche Kreativität das Privatrecht grundsätzlich auch in Großbritannien beeinflußt, läßt sich der Fall Sherdley v Sherdley13 anführen, der zu einer (durch steuerliche Gestaltung veranlaßten) Änderung im familienrechtlichen Unterhaltsverfahren führte. Sichere Aussagen können an dieser Stelle allerdings nicht gemacht werden. Dazu bedürfte es entsprechender UntersucllUngen von britischer Seite. Die Gründe dafür, daß steuerlich motivierte Kreativität das Privatrecht beeinflußt, sind komplex. In der Regel ist es so, daß Rechtsinstitute, Vertragstypen und Gesellschaftsformen für wirtschaftliche Zwecke verwandt werden, für die sie im privatrechtlichen System nicht vorgesehen, unüblich und oft wenig geeignet sind. Die Hoffnung auf günstige Steuerfolgen mag dies in den Augen der Beteiligten rechtfertigen, gleichzeitig aber liegt es auf der Hand, daß die neukonzipierten Rechtsverhältnisse der wirtschaftlichen Situation zwischen den Beteiligten oft nicht voll gerecht werden. Tritt eine von den Beteiligten unvorhergesehene Situation auf, entstehen Streitigkeiten, für die das existierende Recht dann keine hinreichend sichere Antwort gibt. Für manche Beteiligte mag dies ein Grund sein, die Angelegenheit "auf kaufmännische Art" außergerichtlich zu bereinigen, aber andere werden gerade durch die Vielzahl der vertretbaren Möglichkeiten dazu veranlaßt, ihre wirklichen oder vemleintlichen Ansprüche gerichtlich "klären" zu lassen: Für einen Vergleich fehlt ihnen die Kalkulationsgrundlage l4 . Angesichts des rechtlichen Neulands wird der Streit oft nicht in der ersten Instanz erledigt, höhere Gerichte werden damit befaßt, Entscheidungen werden veröffentlicht, Aufsätze geschrieben und die Interessen der Beteiligten herausgearbeitet. Schließlich sind die neuen Konstruktionen allgemein bekamlt und durch Gerichtsurteile und verbesserte Neuauflagen der ursprünglichen Idee so verfeinert, daß Prozesse mehr und mehr sichere und akzeptable Ergebnisse verim weitesten Sinne erbrechtliches Rechtsinstitut aus dem Common Law in diesem Jahrhundert verschwand. und zwar überwiegend aus steuerlichen Gründen: "Between 1900 and 1970 the rate of death duties increased about a hundred-fold. and many settled estates were so badly hit by the burdens of taxation ... that they had to be sold. As in all periods. the conveyancer has sought ingenious ways of reducing the incidence of taxation: but the old law of settlements. enshrined in the pages of Littleton and Coke. has faded away with the landed gentry whose fortunes it governed so long." 11 Ein cOl/structh·e trust ist ein ohne ausdrückliche Vereinbarung begründetes TrustVerhältnis. 12 (1960) AC 206 (HL). 13 (1987) All ER 54 (HL). 14 Vgl. Walz. ZHR 147 (1983). S. 293. der die These vertritt. daß Prozesse weit häutiger dort auftreten, wo die Rechtsordnung keine effiziente Regelung bereitstellt. Das ist bei Verwendung neuer Formen. die die Interessen der Beteiligten mcht angemessen berücksichtigen. regelmäßig der Fall.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

sprechen: Das Recht ist dann Wll einen neuen Bereich ergänztl.'\, Natürlich geschieht dies bei weitem nicht in jedem Falle kreativer steuerlicher Gestaltung. Viele Gestaltungen erweisen sich schlicht als "Totgeburt", die entweder schon nicht ihre steuerlichen Ziele erreichen oder solch fatale privatrechtliche Folgen für eine Seite haben, daß sie nur kurz auftauchen und dann wieder verschwinden. Andere bieten typischerweise wenig Konfliktstoff zwischen den Beteiligten l6 . Wieder andere werden durch eine schnelle Reaktion des Gesetzgebers obsolet, bevor sie weitere Rechtsentwicklungen in Gang setzen kOillltell. Trotzdem aber gelangen immer wieder neue Rechtsinstitute, die ursprünglich aus steuerlich motivierten Einzelgestaltungen erwachsen sind, zum dauernden Verbleib in das materielle Privatrecht. Auf dem langen Weg dorthin werden bereits bestehende, effiziente zivilrechtliche Regelungen nicht genutzt und von Gesellschaft und Rechtsordnung für schutzwürdig befundene Interessen durch die Wahl dieser neuen Fomlen beeinträchtigt l7 . Zwischen steuerlich motivierten Änderungen des Privatrechts und sonstigen Änderungen besteht dabei ein grundlegender Unterschied. Im allgemeinen entwickelt sich das Recht weiter und bildet neue Fomlen heraus, welm sich die Gesellschaft entsprechend verändert: Interessen verschieben sich, Werte erlangen andere Bedeutungen, neue tatsächliche Verhaltensweisen und -muster entstehen, die wirtschaftlichen Grundlagen einer Regelung entfallen oder werden durch andere ersetzt. Demgegenüber reflektiert der steuerliche Einfluß auf das Privatrecht keine unmittelbaren gesellschaftlichen Entwicklungen, an die das Recht angepaßt werden müßte. Wenn steuerlich bedingte Änderungen eintreten, ist das zwar auch Zeichen bestinmlter zugrundeliegender Interessen (Steuern zu sparen) und Symptom eines gesellschaftlichen Konflikts (Abgabengerechtigkeit), nur haben die konkreten Änderungen nicht das geringste mit den sie motivierenden Interessen, dem gesellschaftlichen Konflikt oder den damit zusanmlenhängenden ökonomischen Aspekten zu tun. Die steuerlichen Gründe führen dazu, daß Rechtsinstitute, welche eine in der jeweiligen Situation optimale Regelung ermöglichen, durch zweifelhafte Gestaltungen mit ungeklärten Folgen in den Schatten gestellt werden. Der gesellschaftliche Aufwand, der mit solchen Rechtsentwicklungen auf vielen Ebenen einhergeht, ist groß und muß von der Volkswirtschaft getragen werden. 15 Dieser Prozeß dürfte in Großbritannien noch dadurch beschleunigt werden. daß höchstrichterliche Entscheidungen unmittelbare Bindungswirkung entfalten. und zwar auch dann. wenn etwa privatrechtliche Gestaltungen im Rahmen eines Steuerfalles zu beu rteilen waren. 16 So hat z.B. die steuerlich motivierte Wiederbelebung des un/lebräuchlich gewordenen Nießbrauchs in den achtziger Jahren nicht zu einer Welle von ZiVIlprozessen zwischen den Beteiligten geführt. obwohl die Interessenlagen. die heute bei Einräumung eines Nießbrauchs maßgeblich sind. ganz andere sind als die wirtschaftlichen Gründe. die in früheren Zeiten zur Verwendung dieses Rechtsinstituts führten. 17 Walz. ZHR 147 (1983). S. 281. 292.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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Mit Recht halten deutsche Autoren diese unökonomische Entwicklung für schädlich. Die Therapievorschläge variieren allerdings. So meint KnobbeKeuk, daß die Zivilgerichte neue Fomlen für steuersparende Gestaltungen oft zu voreilig aufgriffen und den Interessen der Beteiligten entsprechend weiterentwickelten. Ohne diese Schützenhilfe hätten sich viele Gestaltungen für die Beteiligten als so riskant und so schwer durchführbar erwiesen, daß sie nie größere Bedeutung hätten erlangen können l8 . Auch Walz hat beobachtet, daß die deutsche Rechtsprechung Steuerspanllotive häufig als legitim und allgemein unterstützenwert ansehe; "ohne ideologische Verzeichnung" kölllle sie als "überaus wirtschaftsfreundlich" charakterisiert werden l9 . Die Folgerung daraus müsse aber sein, daß die Zivilgerichtsbarkeit stärker bemüht sein solle, die jeweiligen GestaltUlIgen danach zu beurteilen, was die Parteien wirtschaftlich erreichen wollten 20 . Zivilrichter sollten lucht gezwungen sein, eine Gestaltung -unter dem Mantel der Privatautonomie- nach einem Fonllaltyp einzuordnen, der ihr von den Parteien beigelegt wurde. Die Rechtsfolgen sollten vielmehr weitestgehend an den dafür bereits bestehenden Aktstypen orientiert sein, auch wenn diese Rückführung auf das bestehende Zivilrecht bewirke, daß der erstrebte Steuervorteil lucht erreicht werde 2l .

2. Die Rolle des Beraterstandes Die angesprochenen Entwicklungen im Steuerrecht und im Zivilrecht sind lucht einfach irgendwie -ohne daß jemand etwas dazu getan hätte- eingetreten. Nicht als erstes Glied der Ursachenkette, aber doch noch am Anfang, stehen die Handlungen steuerrechtiicher Berater, deren meist gutbezahlte Kreativität den Kreisel in Gang gesetzt hat. Die Kautelarpraxis "hat mit einer geradezu bewundernswerten Phantasie und innovativen Kraft atypische gesellschaftsvertragliehe GestaltUlIgen ersonnen und Mischfomlen entwickelt", schreibt Knobbe-Keuk 22 , bevor sie durch gezielte Beispiele aus der Rechtsprechung zu zeigen versucht, daß die Überlebensfahigkeit dieser "gesellschaftsrechtiichen Mißgebilde" erst durch die Zivilgerichte gesichert worden sei. Der Fingerzeig auf die Gerichte ist symptomatisch dafür, daß der Einfluß der Berater -und der durch sie vertretenen Interessen- lucht nur auf den Ausgang konkreter Steuerrechtsfälle, sondern sogar auf grundlegende Rechtsentwicklungen als etwas so Selbstverständliches angesehen wird, daß eine weitere Untersuchung offenbar gar lucht lohnt. Die Rolle des kreativen Beraters ist in Deutschland in diesem Zusanmlenhang bislang lucht besonders thematisiert worden. Wohl werden Reflexe der Beratertätigkeit bemerkt, wenn neuersonnene Gestaltun18 Kllobbe-Keuk. Rechtsquelle (1986), S. 6 ff.

19 Steuergerechtigkeit (1980), S. 315. 20 ZHR 147 (1983). S. 310. 21 Ders .. S. 310 f. 22 Rechtsquelle (1986). Vorwort v.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

gen in der Rechtsprechung zutage treten, wenn plötzlich gehäuft bestinmlte, bis dahin unübliche wirtschaftliche Aktivitäten beginnen (Ärzte bauen Gastanker etc.) oder wenn sich das Privatrecht durch steuerrechtlichen Einfluß verändert. Doch der Berater, bei dem die Fäden zusammenlaufen, bleibt diskret im Hintergrund, und das nicht nur in Deutschland. Im Jahre 1984 bemängelte die britische Rechtssoziologin McBarnet23, daß in der wissenschaftlichen Literatur bemerkenswert wenig darüber gesagt werde, daß, wie und warum juristische Berater die praktische Bedeutung von Recht, den Inllalt des gelebten Rechts, beeinflußten. Die teuren und trotzdem regen Berateraktivitäten bewiesen jedenfalls entscheidende Unstinmligkeiten in den simplistischen Theorien marxistischer Soziologen, nach denen das Recht der Macht folge und die Macht beim Kapital liege. Wenn das Recht einer herrschenden Klasse auf einem goldenen Tablett serviert würde, daml wäre unverständlich, warum die kapitalkräftigen Gruppen in der Gesellschaft so viele Juristen damit beschäftigen müßten, unerwünschte Rechtsfolgen, z.B. Steuerfolgen, zu vermeiden. Eine wichtige Aufgabe der profession sei es, das Recht für ihre Klienten so zu bearbeiten, daß es deren Interessen genüge. Dies beginne damit, die wirtschaftlichen Aktivitäten der Klienten sorgfältig zu gestalten, so daß sie gerade außerhalb unvorteilhafter Bestimmungen stattfänden bzw. alle denkbaren Vorteile ausnutzten, auch wenn diese für derartige Sachverhalte nicht vorgesehen wären. Auf anderer Ebene setze es sich dadurch fort, daß bestimmte allgemeine Praktiken etabliert würden, d.h. daß Standards geschaffen würden, die -welche Intentionen auch immer hinter dem vom Gesetzgeber gesetzten Recht stehen mögen- letztendlich dem Klienten dienen. Diese Standards, z.B. im Bilanzrecht, bewirkten oft genug, daß dem Recht die Zähne gezogen würden. "Often the value of standard legal practice is precisely that it slips nicely between legislative or case law definitions of what shall or shall not be done, thus avoiding proscription, regulation or liability; or it uses substantive law for purposes for which it was never designed "24. Der große Einfluß einer standard legal practice läßt sich m.E. auch im deutschen Recht zeigen. Als ein Beispiel ist die massenhafte Einführung der GmbH & Co KG zu nennen. Diese ursprünglich allein aus steuerlichen Gründen konzipierte Rechtsfigur wurde zur Standard-Form bei vielen Unternehmensgründungen, so daß ihre Berechtigung schließlich auch steuerrechtlich nicht mehr angezweifelt werden konnte. Sehr instruktiv ist die Beschreibung dazu bei Knobbe-Keuk 25 . Mittlerweile infolge der notwendig erweise eintretenden Wei-

23 McBamer, 'Lawand Capital: Tbe Role of Legal Form and Legal Actors', in McBarnet (ed.), Law and Capital, special issue of International Journal of the Sociology of Law, (August 1984), S. 231. 233. 24 McBamer, (1984) DSL 23 I. 234 25 Rechtsquelle (1986), S. 5 f; vgl. auch Walz, Steuergerechtigkeit (1980), S. 315, der die Geschichte der GmbH & Co und verwandter Rechtsformen "als Lehrstück für eine durch institutionelle. organisatorische und professionelle, auch ausbildungsbedingte Faktoren herbeigeführte Fehlsteuerung der Rechtsfortbildung" bezeichnet.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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terentwicklungen des Rechts gibt es auch außersteuerliche Gründe. die fur die Wahl dieser Rechtsform sprechen können.

Berater sind nach McBamet damit tucht einfach Rechtskundige, die dem Klienten Auskunft geben, sie übten vielmehr einen aktiven Einfluß auf das Recht als solches aus, jenseits aller naiven Vorstellungen von einem Rechtsetzungsmonopol des Staates. Auch wirkten gerade Anwälte als Initiatoren von gerichtlichen Entscheidungen mit, die dann als Präzedenzfälle Bedeutung erlangten26 • Zwar fällten tucht Anwälte die Urteile, wohl aber hätten sie (in der Interessensphäre körperschaftlicher Mandanten) einen erheblichen Eintluß darauf, welche Fälle überhaupt gerichtlich ausgetragen würden 27 . Geeignete Fälle, welche durch die Anwälte mitgefomlt würden, könnten als test case zur Schaffung neuen Rechts benutzt werden, andere Fälle hingegen könnten durch großzügige Vergleiche aus den Gerichtssälen herausgehalten werden28 . Daß derartige Malupulationen Erfolg hätten, führte McBamet vor allem auf zwei in den Grundlagen des Rechts verankerten Faktoren zurück: Zum einen auf die institutional forms of law, zum anderen auf das overriding concept of the rule of law. Die geschickte Nutzung rechtlicher Formen emlögliche Umgehungen. Das concept of the rule of law liefere dann auf rechtlicher und politischer Ebene wirksame Argumente gegen Versuche, eine sich vor allem auf institutionalisierte Fomlen stützende Rechtsanwendung in Frage zu stellen. Dafür, daß diese Argumente dann auch laut und deutlich gehört werden, würde durch die mit dem Beraterstand verwobenen Lobbyisten gesorgt 29 . Wie z.B. bei den grundlegenden Entscheidungen zur GmbH & Co. Um zum Beispiel die grundSätzliche steuerliche Anerkennung einer neuen Rechtsfigur wie seinerzeit der GmbH & Co KG zu erreichen. könnte es sich empfehlen. einen atypischen Fall auszuwählen oder zu konstruieren. bei dem ungewöhnliche Umstände als (zusätzliches) Argument fur eine außersteuerliche Berechtigung sprechen. wie etwa: Eine langjährig bestehende GmbH will als Komplementärin in eine langjährig bestehende. personenverschiedene KG. deren persönlich haftender Gesellschafter verstorben ist. eintreten. Kein Fall einer Unternehmensgründung. sondern eines später entstandenen. kaum von der Hand zu weisenden wirtschaftlichen Bedürfnisses. Ist dann erst die prinzipielle Zu lässigkeit bejaht. kann anhand der Entscheidungsgründe versucht werden. auch anders gelagerte Fälle unter diese Gründe zu bringen. Solche Versuche könnten sich übrigens auch lohnen. wenn im Ausgangsprozeß der Anspruch mit einer Begründung x verneint wurde. Denn aus x lassen sich dann wahrscheinlich Kriterien dafur entnehmen. in was fur Fällen die Zulässigkeit der neuen Form doch vielleicht bejaht werden könne/müsse. 28 McBamet. (1984) USL 235. 29 Daran. daß Lobbyismus im Steuerrecht in Deutschland und in Großbritannien existiert. gibt es keinen Zweifel. Als Beispiel dafur können die von der [ay,,' Sodety. der Berufsorganisation der englischen Solicitors. im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu steuerlichen Grundsatzurteilen des House of Lords publizierten Schriften "Tax Law in the Melting Pot" (1985) und "Tax Law after Furniss v Dawson" (1988) genannt werden. Bei Gri(fith. The Politics OfThe Judiciary. London. 4. Auflage 1991. S. 258 f. werden diese Schriften m.E. zu Recht als Ausfluß von "professional and business interests" charakterisiert. Als Beispiel fur steuerlichen Lobbyismus in Deutschland ließe sich etwa der von Steuerberatern / Anwälten herausgegebene steuertip (Verlag Markt Intern / Düsseldorf) nennen. welcher auch durch Anfragen. Briefe. Proteste bei Ministerien in Erscheinung tritt und über "Erfolge" berichtet (vgl. Nr. 44/91: "Erfolgreiche 'steuertip'-Initiative in Sachen 'Außensteuergesetz"'). Auch Wirtschaftsmagazine betätigen sich als Lobbyisten ihrer steuerzahlenden Leserschaft. - so berichtete die Zeitschrift Capiral mehrfach über zwei Musterprozesse. die sie in der steuerlichen Frage Schuldzinsenabzug beim Hauskauf vor dem Bundesverfassungsgericht fuhre. vgl. Capital 211992. S. 183: 5/92, S. 267). 26 27

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

Berater erwiesen sich damit als Katalysatoren für Recht, wandelten es um, veränderten es. Der Problembereich Steuerumgehung sei möglicherweise exemplarisch für auch in anderen Bereichen bestehende grundlegende Schwächen des Rechts. Die geschilderten Beobachtungen veranlaßten McBarnet/Mansfield am Centre jor Soda-Legal Studies (Woljson College / University oj Qxjord), eine empirische Studie 30 durchzuführen, in deren Verlauf u.a. "in-depth technical interviews with 105 accountants, city solicitors, barristers, judges, merchant bankers, insurers, Inland Revenue officers, tax consultants"31 stattfanden. Die Studie sollte empirisch gesicherte Erkenntnisse über die Rolle der verschiedenen befragten Berufsgruppen in bezug auf Steuerumgehung, Steuerhinterziehung und die gezielte Manipulation von Steuerrecht liefern 32 . Sie hat vieles ergeben, auf das im folgenden gesondert eingegangen werden muß. Die Rolle der steuerrechtsberatenden Berufe jedenfalls sieht McBarnet durch die Interviews in vollem Umfang bestätigt. "Indeed the role of the professions as mediatars working on the law for economic elites, to make it fit their interests, emerged as a key part ofthe research"33. Es ist nicht zweifelhaft, daß Steuerpraktiker in Deutschland ebenfalls Eint1uß auf das Recht -so wie es praktisch funktioniert- ausüben. Dies ist untrennbar mit dem Kernbereich ihrer Tätigkeit verwoben, unabhängig davon, wie sie sich verhalten. Daß der Eint1uß, den sie ausüben, nicht gegen, sondern für die Interessen ihrer Klienten wirkt bzw. wirken sollte, ist dabei nur folgerichtig. Daß dabei tatsächlich all das gefördert wird, was kreative Gestaltung einerseits und eine vorhersehbare, starre Rechtsanwendung andererseits begünstigt, müßte noch bewiesen werden; unwahrscheinlich ist es nicht. Bei all dem geht es -jedenfalls in diesem Zusammenhang- nicht um moralische Wertungen. Es geht einzig um die Wirkung des Phänomens Steuerumgehung auf das Recht.

3. "Fraud insurance": Die Aushebelung des Steuerstrajrechts Mitunter wird -besonders von 10urnalisten- von einem Graubereich zwischen Steuerumgehung und Steuerhinterziehung gesprochen. Liest man dagegen juristische Literatur, erscheint dies geradezu unverständlich, sind doch Steuerumgehung und Steuerhinterziehung angeblich ganz verschiedene Dinge, 30 Auswertungen der Ergebnisse unter verschiedenen Aspekten und Folgerungen daraus sind veröffentlicht in McBamet. Whiter than white collar crime: lax. fraud insurance and the management of stigma. (1991) British Journal of Sociology. S. 323: McBamet. in D. DlMII!es (ed.). Unravelling Criminal Justice: eleven British Studies. London 1992. McBarnetlWhelan. The Elusive Spirit of the Law: Fonnalism and the Struggle for Legal Control. (1991) MLR 848. 31 McBamet (1991). in D. DOl1!/1es (ed.). zitiert nach dem autorisierten Entwurf. dort S. 5 32 Ebd. 33 Ebd .. S. 3.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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die in ganz andere rechtliche Schubladen gehören. Während es bei Steuerumgehung darum geht, durch legale GestaltUlIgen eine günstigere steuerliche Behandlung zu erreichen, betrifft Steuerhinterziehung Fälle, in denen dem Finanzamt für die Besteuerung erhebliche Umstände verschwiegen oder überhaupt falsche Angaben gemacht werden 34 . Daß das Recht in den Büchern mit seiner strikten Trennung zwischen Umgehung und Hinterziehung die britische Realität nicht trifft, zeigt schon die Betrachtung mancher bekanntgewordener tax schemes der siebziger Jahre. Wie oben bereits beschrieben35 , enthielten sie häutig Elemente, die vor den Behörden geheimgehalten wurden. Durch geschickte Gestaltung war jedoch sichergestellt, daß trotz dieser Verschleierung und selbst, wenn die angestrebten steuerlichen Ziele nicht erreicht wurden, eine strafrechtliche Verfolgung vemlieden blieb. Die tax schemes waren regelmäßig von Steuerrechtlern geprüft worden und beruhten auf einer vertretbaren Rechtsauffassung, und wenn diese Auffassung nur deshalb Gewicht hatte, weil sie aus dem AuftragsGutachten eines angesehenen Barristers stanmlte. Das genügte als Rechtfertigung dafür, viele Infonllationen, die zu einer ungünstigeren Auffassung der Steuerbehörden hätten führen können, gar Ilicht erst zu geben:;6. Dieser MechaIlismus wird im Report der unter dem Vorsitz von Lord Keith of Kinkel vom Parlanlent im Jahre 1980 eingesetzten Untersuchungskommission beschrieben 37 . Die Konmlission empfahl schließlich, dieser Praxis dadurch zu begegnen, daß der Steuerzahler in seiner Erklärung auch folgende Frage beantworten solle: "In l11aking this return have you taken the benefit of any doubt about whether any itel11 ought to be declared. or any deduction allowed? If so give brief details. "38

Ob derartige Fragen aber tatsächlich dazu führen, daß sich keine Rechtfertigungen mehr für unvollständige Erklärungen gegenüber den Steuerbehörden tinden lassen, darf bezweifelt werden. Aufgrund der von ihr durchgeführten Interviews mit Praktikern schließt McBamet, daß nach wie vor ein großes BedürfIlis besteht, sowellig wie möglich gehaltvolle Infomlationen an die Finanzbehörden zu geben, schon weil dies stets auch bei der scheinbar sicher34 MrBamel. (1991) BJS 323: "Tax evasion is a term usually reserved for non paYl11ent of tax by l11cans of criminal fraud or other violations of law. Tax avoidance involves minil11izing or elil11inating a tax bill legally." Dabei ist zu beachten. daß der Ausdruck "tax evasion" zwar die verbotene Tätigkeit bezeichnet. nicht aber einen strafrechtlichen Tatbestand. Die in verschiedenen (Steuer-) Gesetzen bzw. im Commoll Law enthaltenen Straftat bestände werden nicht einheitlich bezeichnet. H~ufig wird der Ausdruck (tax) 'fraud" gebraucht. vgl. Keilh Report (1983). besonders die Ubersicht über die Strafbestiml11ungen in Note 19 (Bd. 2). es kommt aber auch 'false arcoulllillg". ':forgery" und "perjuT)'" in Betracht. 35 A 11 I f. 36 Vgl. MeBamel. (1991) BJS 323. 340: KEIm Report (1983). Bd. I. S. 159. 37 Keilh Report (1983). Bd. 1. ausfiihrlichS. 159. TZ 7.3.1.: S. 161. RZ 7.3.4. 38 Keilh Report. Bd. 1. S. 162. RZ 7.3.6.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

sten Gestaltung ein potentielles Risiko bedeutet39 • So stieß die zitierte Empfehlung der Keith Commission auch auf den Widerstand der Organisationen der beratenden Berufe40 • Doch unabhängig davon wäre es naiv zu glauben, daß den Erfindungskünsten dieser Branche durch derartige Fragen eine Grenze gesetzt werden könnte. McBarnet beschreibt verschiedene Wege, die sich Steuerpflichtige zunutze machen kÖllllen, um auf strafrechtlich unangreifbare Weise Relevantes zu verschweigen oder ein falsches Bild entstehen zu lassen41 . Miteinander kombiniert laufen diese Methoden auf eine Immunität von strafrechtlicher Verfolgung hinaus, die McBarnet ''fraud insurance" nelUlt. a) "Non-disclosing disclosure" Ein Weg ist die Technik des "non-disclosing disclosure" . McBarnet zitiert dafür folgendes Beispiel: Ein Steuerpflichtiger beschäftigt in seinem Betrieb seine siebzigjährige Mutter zu einem möglicherweise überhöhten Gehalt. Dem Betriebsprüfer werden zwar die Lohnlisten vorgelegt, er kommt jedoch nicht darauf, die Höhe der Zahlungen an die Mutter des Steuerpflichtigen zu hinterfragen, denn er weiß nicht, daß eine spezielle Beziehung des Steuerpflichtigen zu der Gehaltsempfängerin besteht. Auch wenn der Steuerpflichtige von sich aus nicht auf die spezielle Beziehung zu der Gehaltsempfangerin hinweise, könne man ihn dafür kaum strafrechtlich belangen42 . Dieses Beispiel ist deshalb so instruktiv, weil es grundsätzlich gleichermaßen für Deutschland gilt43 und weil es sich auch auf komplexe wirtschaftliche und gesellschaftsrechtliche Verflechtungen übertragen läßt. Andere Wege des non-disclosing disclosure bestehen darin, wichtige Informationen zwischen einem Wust irrelevanter Angaben zu verstecken (extended disclosure approach). Auch werden kritische Punkte -durch entsprechende Wortwahl etc.- so beschrieben, daß ihr wahrer wirtschaftlicher Gehalt einerseits nicht deutlich wird, daß aber andererseits nicht gesagt werden kann, die Information sei zurückgehalten worden. Interviewte Accountants werden von McBarnet z.B. mit den Worten zitiert: "Presentation is all important: how areturn strikes an inspector in the first instance can easil y send hirn in the wrong direction" und "I say, don' t use these words in 39 McBamer. (1991) BIS 323. 328. 40 McBamet, (1991) BIS 330. 41 Vgl. auch F.R. Davies (1980), S. 7, welcher aufzeigt, daß gerade in Zusammenhang mit häufig verwandten legalen Verschleierun~staktiken eine simplifizierende Sichtweise rn·me versus IIO-crime der Problematik nicht gerecht wIrd. 42 (1991) BIS 332. 43 In Deutschland wird allerdings z.B. in der Anlage GSE der Einkommensteuerformulare (Ausgabe 1991) nach Gehaltszahlungen an Angehörige gefragt.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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the accounts. use these. theyare less likely to excite the inspector"44. Um die Aufmerksamkeit des Prüfers abzulenken und um den Erfolgszwang. unter dem der Prüfer intern steht. gerecht zu werden. gilt auch in Großbritannien der Rat: "leave something for them to find." McBarnet faßt die Methode des non-disclosing disclosure mit den Worten zusammen: "In short. information is presented in a way that will not attract tax simply because it will not attract attention. Non-disclosing disclosure plays on the problems of policing complex financial areas. the low risk of being caught. the scope for settlement if one is challenged and protecting from stigma involved in hliVillg disclosed however obscurely. "45

b) "Illllocent error" Irren ist menschlich. In einer komplexen Geschäftswelt gibt es viele Irrtumsquellen. Zeitmangel. Arbeitsdruck und die Geschwindigkeit. in der vieles abläuft. führt zu unvermeidlichen Übernlittlungsfehlern. Eine Fehlerquelle ist die Einschaltung von Beratern als Mittelsleuten. Berater können im besten Glauben unvollständig informiert sein oder manches falsch verstanden oder lucht gehört haben. Berater können Dinge bei der Vielzahl der von ihnen bearbeiteten Fälle vergessen oder gerflde lucht präsent haben. Berater bilden damit einen wirksamen Puffer zwischen dem Steuerpflichtigen und Behörden. "The mere fact of there being amiddieman -the professional practitioner- between the person best informed on the facts -the taxpayer- and the authorities. hel ps limit disclosure in a way that does not constitute abreach of the rules. "46

Mittels zwischengeschalteten Beratern kann manches auf eine inakkurat günstige Art und Weise dargestellt werden. ohne daß sich irgendwo Anhaltspunkte für willentliche oder grobfahrlässige Fehlinfornlation ergebell. Berater können auch Maß und Umfang dessen. was ein Prüfer erfährt. mit den Behörden aushandeln (Stichwort: "negotiating disclosure"). Allein das praktische Bedürflus, das oft sehr umfangreiche Material in den Griff zu bekonilllen, läßt derartige Verhandlungen als notwendig und legitim erscheinen. Wenn sie dazu führen, daß Relevantes weggelassen wird, läßt sich das oft niemandem anlasten. Dem Berater lucht, der die entsprechenden Tatsachen lucht kannte, dem Steuerpflichtigen lucht, der entweder glaubte, der Berater sei infornliert oder der lucht wußte, daß es überhaupt auf diese Tatsachen ankam. Sind gleich mehrere Beratungsfirmen auf seiten des Steuerpflichtigen eingeschaltet, vervielfachen sich diese Möglichkeiten. Schließlich ist der Berater dem Mandanten gegenüber standesrechtlich auch zur Verschwiegenheit verpflichtet. Er darf Informationen überhaupt nur insoweit weitergeben, wie er das Einver-

44 (1991) BJS 333.

45 (1991) BJS 333 f. 46 (1991) BJS 332.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

ständnis des Mandanten aImellß1en kaml, und das wird im Zweifel nur das rechtlich notwendige Minimum erfassen. Wo diese Grenze liegt, ist abhängig von einer rechtlichen und tatsächlichen Einschätzung, bei der für den Berater ein weiter Raum und viele Irrtumsmöglichkeiten bestehen. Wenn das Finanzamt nachher anderer Auffassung ist, wird das oft in der Natur der Sache liegen. Das Strafrecht bleibt außen vor. c) "Legal opinions" In Großbritannien werden schwierige geschäftliche Transaktionen nicht nur durch solicitors und accountants bearbeitet, sondern es werden regelmäßig auch die "opinions" spezialisierter barristers bzw. in Schottland advocates eingeholt. Diesen opinions wird hohes Gewicht beigemessen. Handelt ein solicitor in einem Rechtsfall auf ihrer Grundlage, reicht dies in vielen Fällen, ihn von jeder Haftung gegenüber dem Klienten zu befreien47 . Kaml ein Steuerpflichtiger eine counselopinion vorweisen, die ihm z.B. bestätigt, daß bestimmte Erträge steuerfrei sind, läßt sich gegen ihn kaum ein strafrechtlicher Vorwurf daraus begründen, daß er diese Erträge nicht offengelegt hat. Die verbreitete Praxis des opinion shopping48 und eine stetige Anpassung der geplanten Gestaltung bzw. der Fragestellung gewährleistet dabei, daß am Ende eine entsprechende "opinion" vorliegt. Ungünstige opininions hingegen verschwinden in der Versenkung. Schweigepflicht und die Privilegien der juristischen Berufe stellen sicher, daß nichts über diese Stellungnahmen bekannt wird. Oft beruhen opinions, die eine bestimmte Gestaltung bestätigen (z.B. bestimmte Verlustabzüge für zulässig erklären) und spezielle InformatiOllen darüber an die Steuerbehörden als überflüssig erscheinen lassen, auf abstrakten Fragestellungen. Mitunter treffen diese Fragestellungen nicht genau das Problem -entscheidende Umstände, auf die es bei rückwirkender Betrachtung ankommt, können in den Instruktionen des beauftragten Barristers fehlen. Das Ergebnis ist, daß das Gutachten des Barristers klar und eindeutig scheint. Konmlt dann während einer Steuerprüfung ans Licht, daß dem Barrister Informationen fehlten, die dem Prüfer relevant erscheinen, und daher möglicherweise ganz andere Schlußfolgerungen zu ziehen sind, kalm es dafür viele "unschuldige" Gründe geben: Sei es, daß der beauftragende Solicitor die Bedeutung dieser Umstände nicht erkannt hatte, sei es, daß auch ihn diese Infornlationen, aus was für Gründen auch immer, nicht erreicht hatte!l. Wer körnIte, bei diesen zahlreichen Irrtumsquellen, strafrechtlich

47 Vgl. dazu Walker. The Scottish Legal System, Edinburgh 1981, S. 320; demgegenüber hafteten Barristers traditionell schon deshalb nicht. weil jedwedes Vertra~sverhältnis zwischen den Beteili~ten verneint wurde. Erst im letzten Jahrzehnt ist hier eine Anderung eingetreten (ebd .. S. 3j I). 48 Für diesen Begriff und die folgenden Ausführungen dazu: McBamel. (1991) BJS 336.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

97

relevante absichtliche Manipulation nachweisen49 . Die Chance aber, daß ein Prüfer das Problem überhaupt entdeckt, ist gering. d) "Fraud insurance" in Deutschland Werden alle diese Methoden zusanmlengenonmlen, scheint McBarnets Ausdruck ''fraud insurance" die in Großbritatmien bestehende Situation gut zu beschreiben. Ein Interviewpartner wird bei ihr mit dem Ausspruch zitiert: "Yes. it's fraud insurance. and it's cheap insurance at that. "50

Die geschilderten Praktiken sind nicht auf Großbritannien beschränkt, sie werden ähnlich auch in Deutschland erfolgreich eingesetzt51 . Zwar gibt es natürlich einige auf den verschiedenen Rechtssystemen beruhende Unterschiede. Doch die prinzipiellen Gemeinsanlkeiten überwiegen. Äußerliche Unterschiede entstehen Z.B. dadurch, daß es in Deutschland keine Barristers gibt. Rechtsgutachten sind aber trotzdem ein fester Bestandteil der Kautelarpraxis. In größeren Kanzleien werden sie in Foml von Aktennotizen durch juristische Mitarbeiter oder Partner des federführenden Beraters erstellt. Für manche Fragen wird auch das externe Gutachten eines Spezialisten, z. B. eines Fachanwalts, eingeholt. Steuerberater und Wirtschaftsprüfer beauftragen Anwaltskanzleien mit der Prüfung einer Frage, Anwaltskanzleien wenden sich oft an (oft genug verbundene) Steuerberater- oder Wirtschaftsprüferfimlen. Erhebliche Bedeutung in größeren Transaktionen haben auch Auftragsgutachten und -Veröffentlichungen von Professoren. Der Umstand, daß auf diese Weise juristische Meinungsbildung betrieben wird. ist vielen bekannt, wird jedoch weithin tabuisiert. Die übrigen Vorgehensweisen, Wll fraud insurance zu erlangen. mögen sich in ihren konkreten Ausprägungen ebenfalls -bedingt durch verschiedenes Recht und verschiedene Kulturen- in bei den Ländern unterscheiden. Dafür aber, daß sie grundsätzlich gleich sind, spricht vieles. Eine entsprechende empirische Studie in Deutschland steht jedoch noch aus.

4. Berater und die Anziehungskraft von For1l/alis1I/us McBarnet/Whelan sehen den Problembereich "Steuerumgehung " als ein Beispiel dafür an, wie Interessengruppen -mittels ihrer juristischen Berater- in 49 Vgl. Keith Report. S. 451: Danach hat die Revenue Bar Association in der Beweisaufnahme angegeben. daß es allgemein üblich war. bei Steuerspargestaltungen Barristern nur abstrakt formulierte Aufgabengestaltungen zu geben. 50 McBamet. (1991) BJS 338. 51 Diese Aussage gründet auch auf eigene berufliche Erfahrungen des Verfassers und auf Gespräche mit Steuerpraktikern bei der Seitei!. 7 Nevermann

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

98

der Lage sind, nicht nur Sachverhalte, sondern auch das Recht selbst zu manipulieren. Das gilt nicht nur für einzelne rechtliche Ergebnisse, sondern erstreckt sich nach der McBarnet'schen Theorie auf grundlegende Strukturen des Rechts. Ansatzpunkt dieses Hebels sind rechtliche Fornlen. a) Rechtliche Formen als Schwäche und Stärke des Rechts Daß Recht sich bestimmter Formen bedienen muß, macht es anfällig für Umgehungen durch creative compliance, denn Formen, so unvermeidlich sie sein mögen, sind manipulierbar. Umso größer in einem Rechtssystem die Bedeutung von Fornl für die jeweilige Rechtsfolge ist, umso größer ist die Gefahr von Manipulationen. Auf der anderen Seite verspricht die strikte Anwendung differenzierter Regelungen genau vorhersehbare Rechtsfolgen und damit Sicherheit für die Rechtsadressaten. Darin wird die Stärke eines formalisierten Rechts gesehen, welches Gerechtigkeit durch fornlale Gleichheit verspricht. Welche Bedeutung rechtliche Formen tatsächlich haben und wie sie sein sollte, ist besonders in der amerikanischen wissenschaftlichen Diskussion \ Gegenstand großer Meinungsverschiedenheiten52 . Der Begriff ''jormalism'' wird in dieser Diskussion auf die Tendenz angewandt, rechtlichen Fornlen eine sehr große Bedeutung zuzumessen. Im Anschluß an andere Autoren verstehen McBarnet/Whelan Formalismus als "concept of decision making according to rule", wobei "rule" hier nicht einfach "Regel", sondern wortwörtlich zu befolgende Regel bedeutet, eine Regel, die dann angewandt ist, wenn den Worten, mit denen sie fornlUliert ist, exakt entsprochen wurde 53 . Fornlalistische Ansätze sehen Recht als ein in sich geschlossenes System, welches vorhersehbare, logische, einheitliche und von politischen, kulturellen und anderen außerrechtlichen Gegebenheiten unabhängige Ergebnisse erzielt54 • Das Gegenstück enggefaßter rules sind standards, d.h. Regelungsmechanismen, die viel Raum dafür bieten, von Fall zu Fall nach den Zwecken einer Regelung unter Einbeziehung vieler denkbarer Aspekte zu entscheiden. Derartig weitgefaßte Regelungen, "broad rules", wiederum werden kritisiert, weil sie unpräzise seien, überinklusiv, oder weil sie zu unerträglichen Ergebnissen führten55 . Häufig wird von einem Konflikt rules v standards gesprochen, der die technische Frage zu berühren scheint, wie Regeln am besten formuliert werden. Dahinter steht aber etwas Tiefergehendes: Der die Grundlagen des Rechts berührende Konflikt form v

substance.

52 Kelman, A Guide to Critical Legal Studies, Cambridge/Mass. und London, 1987; Duncan Ke/llledy. Form and Substance in Private Law Adjudication. 89 (1976) Harvard Law Review,

S. 1685.

53 McBametlWhelan. (1991) MLR 848. 849. 54 McBametlWhelall. (1991) MLR 849 m. wt. Nachw.

55 Nachweise für entsprechende Kritik im steuerlichen Zusammenhang in Großbritannien bei

McBamellWhelan. (1991) MLR 858.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

99

b) Exkurs: Aspekte von Form und Substanz Eine m.E. sehr erhellende Analyse des form v substance-Konflikts findet sich bei Atiyah/Summers56 . Nachstehend soll ein mit eigenen Beispielen versehener und durch einige Gedankenbrücken zu dem hier behandelten Thema ergänzter Extrakt aus dieser Analyse gegeben werden. aa) FOffilale und substantielle Begründungen Der form/substance-Konflikt hat viele Facetten. Letztlich geht es darum, wie Rechtsentscheidungen begründet werden kÖlUlen/dürfen. Unter substantiellen Begründungen verstehen Atiyah/SWlUllers moralische, ökonomische, politische, institutionelle und sonstige gesellschaftliche Erwägungell. Sie unterscheiden zwei Typen substantieller Gründe, die "rightness reasons" und die "goal reasons". Rightness reasons bezeichnen Gerechtigkeitserwägungen: Das klassische Beispiel ist der Fall des Großvateffilörders, der nicht erben soll, obwohl der einschlägige Statute (anders als das BGB) keine AusnalUlle für einen solchen Fall vorsieht 57 . Goal reasons hingegen sollen gesellschaftlich nützlichen Zwecken Rechnung tragen58 . Formale Gründe sind dagegen schwieriger zu beschreiben. Sie treten selten isoliert auf, meistens verkörpern sie -Atiyall/SWlUllers zufolge- gleichzeitig bis zu einem gewissen Grade substantielle Erwägungen. Dieser substantielle Gehalt kann sehr gering sein, z.B. weml es Wll UlUllittelbare FOffilVorschriften geht wie etwa bei Testamenten. In anderen Fällen, etwa bei einer "Promille-Grenze" im Verkehrsrecht, ist der substantielle Gehalt der FOffilal-Regel unverkelUlbar. Das entscheidende Merkmal allen fomlalen Rechts sehen Atiyall/SWlUllers darin, daß es immer einige oder alle substantiellen Gründe von der Berücksichtigung bei der Entscheidung ausschließt, und daß seIten die Frage ist, ob eine Begründung fomlal oder substantiell ist, sondern nur, inwieweit und inwiefern sie es ist. Bei gellaUerer Betrachtung zeigen sich daml mehrere -oft miteillander verwobene- Grundtypen fomlaler ArgWllentation: authoritative (=validitiy) formality (I), content formality (2), interpretative formality (3), mandatory formality (4). Bei aurhorirative fom/alir}' (1) geht es darum. wieweit eine Begründung Ql~rgrulld ihrer Quelle formale Autorität beanspruchen kann. Dabei kann es um die Gültigkeit oder Anwendbarkeit eines Gesetzes gehen. die Heranziehung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung. die ständige Rechtsprechung eines Gerichts oder die in einem Kommentar vertretene Rechtsauffassung. Die aurllOrirative formality eines Entscheidungsgrundes wächst mit der Autorität und 56 Form And Substance In Anglo-American Law. Oxford 1987. reprint 1991. 57 Vgl. den New Yorker Fall Riggs v Palmer. 22 NE 188 (1889) und dessen Erörterung bei Dworkill. Law's Empire. London 1986 (third impression 1991). z.B. S. 15 ff.: sowie Walz. StuW 1991. 77. 81. der mit diesem Fall die Grenzen rein begrifflicher (formaler) Argumentation aufzeigt. Das britische Pendant findet sich in Re Sigisworrh (1935) Ch 89. 58 In Deutschland können die Maßstäbe dafur z. B. aus dem Grundgesetz entnommen werden. 7·

100

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

Verbindlichkeit der herangezogenen "Rechtsquelle" rur den Rechtsanwender. Unter "Rechtsquelle" ist in diesem Zusammenhang alles zu verstehen, was der Rechtsanwender als bindend darstellt59 . Nicht jede Bezugnahme auf derartige denkbare Rechtsquellen bedeutet allerdings. daß es sich um eine (autoritativ-) formale BegIiindung handelt. Geht es nur um das Argument. nicht aber um dessen auf seiner Quelle beruhenden Verbindlichkeit. ist der Formalitätsgrad gering.

COlllelll forTlUllity (2) bezieht sich auf die Frage, wieweit der Inhalt einer Regel präzisiert ist und dadurch über- oder unterinklusiv wird. Hohe inhaltliche Formalität wäre z. B. bei einer festgelegten Geschwindigkeitsbegrenzung erreicht, niedrige inhaltliche Formalität bei der Anordnung. mit der "gebotenen Sorgfalt" zu fahren. Umso präziser und strikter eine Regel wird. umso mehr Fälle, die nach dem Regelungszweck eingeschlossen werden müßten. werden nicht erfaßt. und umso mehr Fälle. die vom Regelungszweck nicht erfaßt werden, werden eingeschlossen. Auch wer z. B. eine strikte Geschwindigkeitsbegrenzung einhält. fahrt dabei mitunter schneller. als es nach der Verkehrslage geboten wäre, während es auf der anderen Seite Verkehrssituationen gibt, wo eine strikte Geschwindigkeitsbegrenzung im Vergleich zu den üblichen Standards als nicht erforderlich erscheint (Tempo 100 auf einer autobahnähnlich ausgebauten landstraße). [Illerpretative formality (3) betrifft die Auslegungsspanne von enger Wortlautbindung bis zu eigenschöpferischer Rechtserkenntnis durch den Richter. Hält sich der Richter eng an den Wortlaut einer Rechtsquelle gebunden, ist die interpretatorische Formalität einer Entscheidung hoch. BeIiicksichtigt der Richter hingegen auch Zwecke oder den mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers und die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse ist die interpretatorische Formalität niedrig. Bei mandatory formality (4) geht es um den Geltungsanspruch prima facie anwendbarer Regeln. In der Regel selbst können ausdIiickliche oder implizierte Einschränkungen enthalten sein. RechtfertigungsgIiinde können dazu fuhren, daß die Regel in manchen Fällen nicht gilt. Ein Verbot. im Park Auto zu fahren, tritt z. B. (aufgrund von RechtfertigungsgIiinden) zuIiick. wenn ein Ambulanzwagen einen im Park Verunglückten abholt. Je nachdem. in weichem Maße eine Entscheidung eine prima facie anwendbare Regel vor anderen Erwägungen zuIiicktreten läßt oder nicht, ist sie weniger oder mehr TIUlndalOry formal. Ist z. B. in einem Mehrparteienhaus zwischen acht Uhr abends und sieben Uhr morgens Ruhe zu halten, wäre eine Entscheidung. die eine Regelverletzung auch in Husten. Baby-Geschrei oder dem Betätigen der WC-Spülung erblickt. hochfonnal, während die Formalität abnimmt. je weniger der Geltungsanspruch der priTlUl fade anwendbaren Regel gegenüber anderen GIiinden aufrechterhalten wird.

bb) Form und Substanz als unverzichtbare Bestandteile jeden Rechts Wird eine Begründung als "fomlal", ''formalistic'' oder "fomlalistisch" bezeichnet, schwingt im deutschen wie im englischen die Assoziation mit, sie sei engstirnig und unausgegoren, ja unehrlich, heuchlerisch, bigott60 . Derartige Nebenbedeutungen sollen hier keine Rolle spielen, wenn von "fomlal" oder "Fomlalität" gesprochen wird. Delill zu Recht meinen Atiyah und 59 Zwar sind deutsche Gerichte -außer wenn ein Fall an sie zuIiickverwiesen wurdetheoretisch nicht an Präzedenzfalle und schon gar nicht an Literatunneinungen gebunden. in der Praxis aber folgen Gerichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Für Literaturmeinungen gilt. daß Stimmen nicht gezählt. sondern gewogen werden und daß der Hinweis auf einen renommierten Kommentar -besonders in allgemein dünn kommentierten Nebengebieten- oft eine tiefergehende inhaltliche BegIiindung ersetzt. Auch derartige Argumentationen sind in diesem Sinne formal. 60 Vgl. Atiyah/Summers. S. 7 (bezüglich amerikanischem Englisch); Willliam Twinning / David Miers. How To Do Things With Rules. 3. Auflage. London 1991. S. 196.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

101

Summers61 , daß eine Entscheidung ohne ein -und sei es noch so geringesElement an Fonnalität wohl kaum als Rechtsentscheidung angesehen werden kömle. Auch McBarnet/Whelan sehen diese grundlegende Bedeutung fonnaler Argumentation in gängigen Vorstellungen von Recht62 . Für die Rechtsanwendung in Deutschland gilt m.E. nichts anderes. Das Grundgesetz bindet alle Gewalten, auch die dritte, an "Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG). Insofern sind die häufigen Bezugnahmen auf das Gesetz in Urteilen nicht verwunderlich. Schon das injiziert in fast jede Entscheidung ein minimales fornlales Element. Juristische Argumentation unterscheidet sich gerade darin von anderer rationaler Argumentation, daß sie einen ZUSaIlmlenhang herstellt zwischen dem konkreten Problem und dem Gesetz, juristischer Dogmatik und Präjudizien63 : Dadurch wird sie notwendigerweise zu einem gewissen Grade fomlal. In Anwaltsschriftsätzen und Urteilen in Deutschland ist es üblich, noch so schlagende substantielle Argumente durch fomlale Argumentation zu stützen, indem Gesetze, frühere Urteile und wissenschaftliche Literatur zitiert werden. Generalklausein wie § 242 BGB und der notfalls Ulmlittelbare Rückgriff auf das Grundgesetz und seine Wertungen64 erleichtern es, substantiellen Argumentationen auch in schwierigen Fällen fomlale Legitimität zu verleihen 65 • Ein Blick auf die historische Entwicklung deutschen und englischen Rechts zeigt, daß fomlale Argumentation in der Vergangenheit eine wesentliche Bedeutung für die Akzeptanz von Recht gespielt hat. Extrem fonllale 61 Aliyah/Summers (1987/1991). S. 6: "... we do not think that a substantive reason can be 'in the law' without acquiring a minimal formal element"; ... "a purely substantive reason cannot ... exist in the law." (S. 19). 62 Vgl. M('BameIIWhelall. (1991) MLR 871: "it may be that there is a fundamental formalism inherent in the very idea of legal control in the liberal democratic state which makes formalist arguments difficult to resist and easy to justify." 63 Vgl. Roben Ale.\y. Theorie der juristischen Argumentation. 2. Autlage 1991. insbesondere S. 41 und 261 ff. 64 So lernen Jura-Studenten in Deutschland in den ersten Semestern. daß nicht für jeden Fall gleich mit dem Grundgesetz argumentiert werden soll. Das Grundgesetz ist vielmehr frühestens bei der Auslegung der einschlägigen anderen Vorschriften heranzuziehen. Erst in letzter Linie darf unmittelbar auf das Grundgesetz zurückgegriffen werden. In der Praxis geschieht dieser Rückgriff meistens aufgrund einer stark von substantiellen Gründen geprägten Argumentation. die oft genug ein Abweichen vom Recht -wie es bisher verstanden wurde- be~riindet. Daß dies meist durch ein in der Hierarchie hochstehendes Gericht und unter der -Uberschrift eines Grundgesetzartikels geschieht. verleiht den an sich oft außerrechtlichen EIWägungen die notwendige formale Legitimität. 65 Wie sich das Reichsgericht in einem 1920 entschiedenen Steuerumgehungs-Fall (JW 1920. 643) um formale Legitimität bemühte. beschreibt bereits Hel/sei. Dogmatik (1923). S. 251: "Mit der Berufung auf einige allgemeine Sätze der Begründung des früheren Urteils (die letzteres in keiner Weise trugen. sondern mehr zum rechtsgedanklichen Schmuck dienten) wird ein allgemeiner Rechtssatz llewonnen und die Umgehungsbekämpfung durch Analogieschluß bereits als feststehende PraxIs des RG hingestellt. Das ist unrichtig. aber ganz charakteristisch für den Beginn (!) gewohnheitsrechtlicher Rechtsbildungen ... Im Zusammenhang von Form und Substanz heißt das: Damit das Reichsgericht seine Entscheidung auf substantielle EIWägungen stützen konnte. benötigte es einen formalen Ansatz. Den fand es in früherer. autoritativer Rechtsprechung, auch wenn diese dann nach Hensels Auffassung nicht ganz paßte. Bezeichnend für die Wichtigkeit formaler Argumentation auch zu Reichsgencllts-Zeiten 1St. daß Hensel ein derartiges Vorgehen als charakteristisch für die Entstehung von Gewohnheitsrecht ansieht.

102

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

Beschränkungen lassen sich in Großbritannien bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Um ihre Negativ-Wirkungen zu mildern, hat sich neben dem traditionellen Common Law der Rechtskörper der Equity herausgebildet. Durch teilweise absurd formalistische Rechtsanwendung im Großbritamuen des 19. Jahrhunderts haben Richter zum Ausdruck gebracht, daß sie dem Recht unterworfen waren und daß Rechtsprechung mehr war als die Machtausübung einer Klasse über die andere. Das hat wesentlich zur Akzeptanz des Rechts beigetragen66 • Das Gegenstück zu diesem Fornlalismus ist die in Deutschland im 19. Jahrhundert aufgekommene Begriffsjurisprudenz, die zwar heute zu Recht als untauglich für eine gesellschaftliche Konfliktlösung angesehen wird, die aber einen Fortschritt gegenüber fürstlicher Willkür darstellte. Dieser bis an die jüngste Zeit heranreichende Formalismus hat moderne Vorstellungen von Recht entscheidend geprägt. Auch heute noch gilt deshalb, daß Recht unabhängig von seiner Funktion, Interessen auszugleichen und Wertungen wnzusetzen, ohne Formen nicht auskommt. Wo diese Formen unverzichtbar sind, sind formale Argumente gute Argumente67 . Im übrigen aber gilt, daß in der heutigen Zeit, in der Richter weder als Priester noch als delphische Orakel fungieren, Entscheidungen nur werden überzeugen können, wenn sie (auch) auf substantiellen Gründen beruhen und dies offen aussprechen 68 • Das betonen auch Atiyah/Summers: "... we may wonder whether a legal system without a very large content of substantive reasoning could qualify, conceptually, as a legal system at all. There may well be, indeed almost necessarily will be limits ... Still, within whatever limits, reasons of substance must have their place"69.

cc) Form und Substanz als Maßstab zum Vergleich zweier Rechtssysteme Während Form und Substanz als Grundelemente allen Rechts angesehen werden können, ist es ihre jeweilige Mischung, durch die ein einzelnes Rechtssystem seine besondere Prägung bekommt. Atiyah/Summers nelmen vierzehn verschiedene Gesichtspunkte, unter denen das Form/Substanz- Verhäluus in einem Rechtssystem -oder einem Teilbereich davon- ans Licht gebracht werden kann. Weil diese Aspekte gleichzeitig illustrieren, wie Rechtsvergleichung unter dem FormlSubstanz-Ansatz praktisch funktioniert, sollen sie hier kurz angesprochen werden. Die nachfolgende Aufzählung, zu der sich noch vieles anmerken ließe, stammt von Atiyah/Summers7o : 66 Vgl. DougLas Hay et al, Albion's Fatal Tree (1975), S. 198, zitiert nach einer in Twillllillg/Miers, S. 197f abgedruckten Passage. Daß das "formalistische und umständliche"

Common Law bistorisch "~erade darum" Schutz vor herrschaftlichem Zugriff gewährte, meint auch Kötz. in "Uber den Stil höchstrichterlicher Entscheidungen", RabelsZ 1973, S. 245, 253. 67 Atiyah/Summers, S. 7. 68 Vgl. Tipkes Forderung nach Abkehr von begriffsjuristischen Begründungen, in v. Wallis FS (1985), S. 133, 135. 69 Atiyah/Summers (1987/1991), S. 21. 70 Ebd., S. 412 ff.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

103

(1)

In einem formalen Rechtssystem wird geltendes Recht nur anhand seiner Quelle identifiziert, sein substantieller Inhalt hingegen ist nahezu irrelevant. In einem substantielleren Rechtssystem wird gültiges Recht auch anhand allgemeiner Wertvorstellungen erkannt.

(2)

In einem fonnalen System werden Widerspruche zwischen verschiedenen Regeln allein danach gelöst, welche Regel höherrangig ist. In einem substantielleren System läßt sich ein solcher Konflikt nur durch einen Analyseprozeß lösen. in dem auch andere Werte und Ziele miteinfließen.

(3)

In einem formalen System werden Regeln als strikt verbindlich angesehen. Es wird in Kauf genommen. daß solche starren Regeln oft über- oder unterinklusiv sind. In einem substantielleren System werden Regeln flexibel gehandhabt. Es werden. z.B. durch Generalklauseln. Ermessensspielräume eingebaut. die Einfallstore rur politik-oder moralorientierte Erwägungen bilden.

(4)

In einem formalen System wird vom Gesetzgeber erwartet. prazlse. klare. vollständige Regeln zu schaffen. Recht ist nahezu gleichbedeutend mit gesatztem Recht. In einem substantielleren System wird es als Aufgabe des Gesetzgebers angesehen, weite Regelungen zu schaffen. welche den Gerichten die Möglichkeit einräumen. das Recht anhand bestimmter Fälle zu entwickeln und dabei diejenigen Erwägungen einzubringen. die sich in diesen Fällen ergeben.

(5)

In einem fonnalen System wenden Gerichte Gesetze weitgehend wortgetreu an. In einem substantielleren System sollen Gerichte auch enggefaßte Gesetze nicht wörtlich. sondern zweckorientiert anwenden. wobei die jeweiligen Zwecke aufgrund substantieller Erwägungen erkannt werden.

(6)

In einem formalen System wird von Gerichten erwartet. daß sie sich strikt an Präzedenzfälle halten. ohne bei deren Anwendung auf politische. moralische oder andere Gesichtspunkte Rücksicht zu nehmen. die bei der Formulierung der ihnen entnommenen Regeln eine Rolle gespielt haben könnten. In einem SUbstantielleren System wird dem Rechtsanwender bei der Heranziehung von Präzedenzfällen mehr Freiheit gelassen: er soll die jeweiligen Fälle im Lichte der Fakten und der substantiellen Gründe. auf denen der Präzedenzfall beruht. anwenden.

(7)

In einem formalen System wird den Urteilen höherer Gerichte Bindungswirkung zugeschrieben. In einem substantielleren System werden Präzedenzfälle eher als bloße Hinweise oder Richtlinien angesehen. von denen abgewichen werden kann. wenn sie falsch. ungerecht. schlecht oder überholt erscheinen.

(8)

In einem formalen System wird es als nahezu ausschließliche Autgabe der Gerichte angesehen. bereits existierendes Recht anzuwenden. um bestehende Konflikte zu lösen. und zwar auch dann. wenn die Ergebnisse substantiellen Erwägungen zuwiderlaufen. denen ansonsten im allgemeinen der Vorrang eingeräumt würde. Die Aufgabe von höheren Gerichten wird nahezu ausschließlich darin gesehen. Irrtümer der unteren Instanzen zu berichtigen. In einem substantielleren System wird die Hauptaufgabe höherer Gerichte vor allem darin gesehen. das Recht substantiell weiterzuentwickeln und zu verbessern.

(9)

In einem formalen System wird erwartet. daß Gerichte nur selten neues Recht schaffen oder altes Recht reformieren: statt dessen überlassen sie jede Art der Rechtsetzung dem Gesetzgeber. In einem substantielleren System schaffen die Gerichte neues Recht. wenn es benötigt wird. und sind schnell bereit. altes Recht zu reformieren. Sie verweisen nur dann auf den Gesetzgeber. wenn die ihnen angetragene Veränderung so weitreichend ist. daß sie durch ein Gericht nicht mehr geleistet werden könnte.

(10) In einem formalen System wird das durch den Gesetzgeber gesetzte Recht als Musterbeispiel rur Recht überhaupt angesehen. Dementsprechend wird geglaubt. daß das wichtigste Recht in Gesetzesform ergehen müsse. und vom Gesetzgeber wird erwartet. existierendes Recht bereitwillig zu reformieren. In einem substantielleren System werden

104

A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

beglÜndete Gerichtsentscheidungen, die auf substantiellen Erwägungen beruhen, als die Grundfonn von Recht angesehen, und vom Gesetzgeber wird erwartet, den Gerichten mehr Raum zu lassen, indem gesetzliche Regelungen weit gefaßt oder überhaupt nicht erlassen werden. (11) In einem formalen System wird, wenn Streitigkeiten über Tatsachen auftreten, als selbstverständlich angesehen, daß Gerichte den Sachverhalt richtig feststellen und darauf das bestehende Recht anwenden. Es wird damit angenommen, daß das Recht in den Büchern auf diese Weise effektiv verwirklicht wird. In einem substantielleren System wird unterstellt, daß Gerichte sich der formalen Anwendung bestehenden Rechts entziehen können, wenn dies in Anbetracht des Sachverhaltes zu schlechten oder ungerechten Ergebnissen führe. Die Folge ist. daß das law in action oft vom Recht in den Büchern abweicht. (12) In einem formalen System herrscht die Überzeugung, daß das Recht, wie es außerhalb gerichtlicher Streitigkeiten angewandt wird (so etwa bei privaten Vergleichsabschlüssen), sich eng an den Ergebnissen orientieren solle, die auch durch Gerichte in einem Prozeß erzielt würden. In einem substantielleren System wird erwartet, daß private Regelungen über Rechtsstreitigkeiten von den Ergebnissen fonnaler Rechtsanwendung stärker abweichen, z.T. weil das Recht oft weniger klar sein wird, z.T. weil die gefundenen Ergebnisse häufiger übergeordnete Gerechtigkeitserwägungen wiedergeben. (13) In einem formalen System halten sich die Rechtsadressen im allgemeinen stärker an rechtliche Regeln. etwa an das Strafrecht, und es wird als großer Mißstand empfunden. wenn bestehende Gesetze nicht umfassend befolgt werden. In einem substantielleren System. wo das Recht etwa gegen strafrechtliche Vorwürfe umfangreiche, auch neue Verteidigungsmöglichkeiten gewährt, werden Abweichungen vom bestehenden Recht eher akzeptiert. (14) In einem formalen System werden rule of law-Werte als besonders wichtig angesehen. Recht wird darauf reduziert, daß in die Zukunft wirkende, allgemeine, klare, sichere, vorhersehbare. gleiche Regeln für alle bestehen und jeder die faire Möglichkeit hat. ihnen zu folgen. In einem substantielleren System wird es anerkannt, daß diese Werte im Interesse materieller Gerechtigkeit im Einzelfall oft zUlÜckstehen müssen.

Die vorstehende Aufzählung wirft ein Licht auf die verschiedenen Ebenen, auf denen sich Unterscheidungen nach Fonn und Substanz im Recht, auch im Steuerrecht, treffen lassen. Sie ist nicht vollständig, sondern letztlich nur beispielhaft und sicher in vielem diskussionswürdig und -bedürftig. Hier aber dient sie nur dazu, die in dieser Arbeit auf den Problembereich "Steuerumgehung" angewandte Betrachtungsweise besser zu veranschaulichen. c) Therapie durch Aufwertung substantieller Argumentation? Die Erkenntnis, daß ein hoher Grad an Formalität das (Steuer-) Recht besonders anfällig für Umgehungen macht, deutet auf einen Ansatzpunkt für ein Gegenmittel hin: Ist die Fonnalität zu hoch, so muß man sie senken. Im Konflikt von Fornl und Substanz müßte demnach die Substanz aufgewertet werden, um Umgehungen künftig zu verhindern. Die Grundidee besteht damit darin, daß dem Rechtsanwender weitergehende Möglichkeiten substantieller Argumentation zugebilligt werden. Ob sich diese Idee umsetzen läßt und ob sie Erfolg haben könnte, sind Fragen, die sowohl in der britischen wie deutschen Literatur angesprochen werden.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

lOS

In Deutschland wird unter verschiedenen Aspekten darüber diskutiert, wie hier als "substantiell" bezeichnete Argumente stärker in die steuerliche Rechtsanwendung einfließen kötmen. Teilweise wird dies für notwendig und wünschenswert gehalten71 , teilweise wird vertreten, es sei praktisch UImlöglich, in einem Rechtsgebiet wie dem Steuerrecht anders als strikt fornlal zu argumentieren. "Substantielle Argumentation" im Sinne dieser Arbeit wird besonders von solchen Autoren als problematisch angesehen werden, die sich stark für rule of law-Werte wie etwa Rechtssicherheit einsetzen und im Zweifel den Gesetzgeber in die Pflicht nelmlen wollen 72 . McBarnet/Whelan beschäftigen sich mit der Frage, ob anti-fonnalistische substance over form-Ansätze Manipulationen erfolgreich verhindern können73 . Mit den Begriffen "antilormalism" und "substance over form" bezeichnen sie eine Rechtsanwendung, die für die Bewertung einer Gestaltung nicht deren rechtliche Fornl. sondern deren wirtschaftlichen Gehalt zugrunde legt 74 . Regelungstechnisch -also auch von seiten des Gesetzgebers- sollen dabei Generalklausein und Standards die detaillierten, enggefaßten Regeln eines fornlalistischen Systems ersetzen. Während sich die in Deutschland geführte Diskussion jedoch mit der Frage beschäftigt. wie denn eine am wirtschaftlichen Gehalt einer Gestaltung orientierte Rechtsanwendung überhaupt aussehen soll, ob und wie sie juristisch machbar ist, fragen McBarnet/Whelan aus rechtssoziologischer Perspektive. ob einform over substance approach Erfolg haben körnlte. Ihre entsprechende Theorie entwickeln sie auf der Grundlage des derzeitigen britischen Rechtssystems. den dort gemachten Erfahrungen mit antilormalism und ihrer eigenen vorrangig in Großbritannien, aber auch in Frankreich und Deutschland durchgeführten Forschungen. Die Aussagen, die sich auch auf bestinmlte europäische Entwicklungen des Bilanzrechts (ojJ-balance-sheet-jinancing) beziehen, werden so getroffen, daß sie auch an anderen Rechtssystemen und in anderen Rechtsgebieten getestet werden kömlen.

71 Walz. StuW 1984.170 ff.: Tipke. v. Wallis FS .. S. 135. 72 Vgl. (all.gemein fiir el~tsprechende Positionen) Crezelius. Rechtsanwendung (1983). dort z.B. S. 149 ff.. Kllobbe-Keuk. Rechtsquelle (1986). S. 58. 73 (1991) MLR 853 ff. 74 In den Begriffen von Ariyahl Summers bedeutet eine substantielle Argumentation im Steuerrecht nicht notwendig. daß sie sich nur auf wirtschaftliche Gegebenheiten bezieht. Substantielle Ar~umente können auch anderen Ursprungs sein. wie Z.B. wenn es um die steuerliche Abzlehbarkeit betrieblich veranlaßter Geldstrafen geht. Es ist jedoch nicht zweifelhaft. daß gerade der wirtschaftliche Gehalt vieler Gestaltungen eine sehr wichtige Rolle in substantieller steuerlicher Argumentation spielen muß. Auch MrBamer/Whelall. (1991) MLR 867. weisen darauf hin. daß bei der Frage. was genau unter "Substanz" zu verstehen ist. unterschiedliche Auffassungen Z.B. zwischen Lawyers und ArCOlllllalllS bestehen.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

McBamet/Whelan meinen, daß in einem substance over form approach tatsächlich die einzige Chance besteht, Umgehungen besser in den Griff zu bekommen. Allerdings sei ein anti-formalistischer Ansatz auch nicht mehr als eine Chance, und die sei nicht sehr groß. Denn die gleichen gesellschaftlichen Interessen, die die unter einem formalistischen Regime bestehenden Möglichkeiten des Rechts zum Zwecke legaler Umgehungen benutzten, könnten auch eine scheinbar flexible substantielle Rechtsanwendung erstarren lassen und auf fomlalistischen Kurs zurückbringen. Werden weitgefaßte Regelungen eingeführt, die breiten Raum für substantielle Argumentation lassen, gäbe es eine Fülle von Mechanismen, mit denen sie so eingeengt werden, daß am Ende wiederum nichts als ein Geflecht von relativ strikten, technischen Regeln übrigblieben. Ihre Aussagen belegen McBametlWhelan durch eine Analyse konkreter Rechtsentwicklungen im Bereich Steuerumgehung bzw. Umgehung bilanzrechtlicher Bestimmungen in Großbritannien. Darauf soll noch an anderer Stelle dieser Arbeit eingegangen werden, weml mehr über das positive Recht gesagt worden ist. An dieser Stelle sollen diejenigen Mechanismen, die McBamet/Whelan für die Erstarrung ursprünglich weitgefaßter Regelungen verantwortlich machen, erst einmal nur benannt werden, ohne die zahlreichen von McBametlWhelan herangezogenen Belege und Beispiele, die zu einem großen Teil der britischen Rechtsentwicklung im Bereich der Steuerumgehung entstammen, zu vertiefen oder zu bewerten. Jeder Versuch einer Abkehr von strengem Formalismus durch Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung rufe heftige Kritik auf verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Ebenen 75 hervor. zumindest in den Bereichen, wo ein Bedürfnis fUr Formalismus bestehe76 . Standesorganisationen und Lobbies träten an die Öffentlichkeit und warnten vor dem zu befUrchtenden Verlust an Rechtssicherheit, Eingaben würden zu Ministerien gesandt. in Tageszeitungen erschienen kritische Artikel und in Fachzeitschriften würde aus wissenschaftlicher Sicht erklärt, daß die (vorgeschlagenen) Änderungen unvereinbar mit überlieferten Grundsätzen seien und daß die bestehenden Zustände -trotz vielleicht einzelner Auswüchse, die es immer geben werde- einschneidende Änderungen nicht rechtfertigten. Sobald im Steuerrecht weiter formulierte Regelungen eingefUhrt sind, setze seitens der Steuerpflichtigen und der Berater eine große Nachfrage nach "clarijication"77 ein. Behörden müßten darauf reagieren. Dies beginne mit -oft ganz informellen- Hinweisen durch die einzelnen steuerlichen Sachbearbeiter und fUhre schließlich zu allgemeineren Richtlinien. Schon nach sehr kurzer Zeit fUhre dieser Prozeß zu einer working cenainty, aus der sich dann eine feststehende Praxis mit klaren. formalistischen Regeln ergäbe78 .

75 (1991) MLR 856. 76 (1991) MLR 871. 77 Der juristische Begriff "Konkretisierung" bezeichnet teilweise denselben Prozeß, hat aber im ganzen ein etwas anderes Bedeutungsspektrum als das, was McBametlWhelan mit "clarification" bezeichnen wollen. 78 (1991) MLR 860 ff.

IV. Zum Verhältnis von Steuerumgehung und Recht

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- Die clarijicatioll bzw. Einengung weitgefaßter Regelungen erreichten Steuerpflichtige und ihre Berater auch durch die Einschaltung von Gerichten. Die Urteilsgründe fuhrten ebenfalls zur Entwicklung allgemeiner fonnaler Kriterien 79 . - Auch Rechtsgutachten würden dazu benutzt werden. um den clarijicarioll-Prozeß voranzutreiben. Sie wirkten sich mitunter als Leitfaden fur eine große Zahl von Fällen aus. Behörden müßten darauf durch Zustimmung. Ablehnung. Differenzierung reagieren. was zur Fonnalisierung und Erstarrung der ursprünglich weiten. flexiblen Regel fuhre. Dort. wo offizielle Instanzen versuchen. die "clarification" und Fonnalisierung einer Regel zu verhindern bzw. hinauszuschieben. gäbe es "Versäumnisentscheidungen" ("decisiolls by dejault"). Im täglichen Geschäftsgang würde sich schlicht eine entsprechende feststehende. genonnte Praxis herausbilden. die sich wieder fonnaler Kriterien bediente. Wenn Instanzen darauf fur längere Zeit nicht reagierten. würde es immer schwerer. diese feststehende Praxis noch in Frage zu stellen und einzelne Gestaltungen. die sie hervorgebracht habe. als Umgehungen anzugreifen.

Dieser Erstarrungsprozeß. bei dem sich einstmals weitgefaßte Regelungen in enge. feststehende Regeln zersetzten. ereigne sich nicht von ungefähr. Das Recht treibe nicht einfach ZWll Formalismus. es werde vielmehr dorthin gesteuert. Die Wiederbelebung des am Ende dieses Prozesses stehenden Formalismus sei das Ergebnis gezielter Arbeit am Recht: "Rules are constructed not just by regulators but through the actions of the regulated - trying out schemes. seeking clearances. asking for infonnal rulings. acquiring legal opinions or initiating judicial limitation via carefully selected court cases .... The mechanisms. institutions and structures of law are thus used to narrow down. tighten and define broad open textured anti-formalist controls. Law not only dr(fts from substance to form. from broad to narrow. from open to closed. it can also be steered quite deliberately. "80

McBarnet/Whelan halten eine Schlußfolgerung. wonach FonllalisnlUs sich immer durchsetze. wo er gewünscht werde. zwar noch für verfrüht; das gelegentliche Erstarken anti-formalistischer Ansätze zeige inilllerhin. daß sich auch die dadurch verkörperten Interessen zWllindest zeitweilig durchsetzen könnten. bis das Recht wieder Wllgearbeitet sei. Offen hingegen sei die Frage. ob es das Recht -gegen den Widerstand einer einflußreichen Gruppe seiner Adressaten- auch zulasse. ein signifikantes Maß substantieller Anwendung dauerhaft zu halten81 •

79 Auch dieser Prozeß wird in Deutschland als "Konkretisierung" bezeichnet. Im allgemeinen wird dies als positive und notwendige Aufgabe der Rechtsprechung angesehen. vgl. BT Drucks. VII1982 (Regierungsentwurf eines § 45 der AO): "Wann im einzelnen ein Gestaltungsmißbrauch vorliegt. wird die Rechtsprechung klären müssen. Jede weitere Umschreibung durch den Gesetzgeber würde die Bedeutung und die Wirksamkeit der Generalklausel mindern. " 80 McBametlWlzelall. (1991) MLR 864. 81 McBametlWhelall. (1991) MLR 871. 873.

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A. Steuerumgehung im gesellschaftlichen Kontext

5. Überleitung zu denjolgenden Teilen Die durch die McBarnet'schen Theorien aufgeworfenen Fragen, die sich als Fragen- genauso auf die Situation in Deutschland übertragen lassen, erfordern eine Untersuchung des Rechts in seiner Anwendung auf vielen gesellschaftlichen Ebenen. Diese Arbeit kann dazu nur einen Beitrag leisten. Sie will die Rolle der Justiz bei der Bekämpfung von Steuerumgehung in Deutschland und Großbritannien vergleichen. Die Bedeutung von Form und Substanz in der einschlägigen richterlichen Argumentation und die McBarnet'schen Thesen werden dabei einen gemeinsamen Maßstab beider Rechtssysteme bilden. Während in diesem ersten Teil das gesellschaftliche Problem "Steuerumgehung" von mehreren Seiten beleuchtet wurde, dienen die folgenden Teile dazu, die Rechtsanwendung zu diesem Problem in beiden Ländern näher zu betrachten.

B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung Dieses Kapitel ist der britischen Rechtsprechung zu Steuerumgehung gewidmet. Die Frage ist zunächst, wo beginnt diese Rechtsprechung und wo hört sie auf. Die meisten bedeutenderen geschäftlichen Transaktionen werden von den Beteiligten zuvor auf ihre steuerlichen Konsequenzen untersucht worden sein und somit von Anfang an das eine oder andere Element steuerlicher Kreativität enthaltenI. Nur wenige Fälle, die überhaupt vor Gerichten verhandelt werden, werden gar keinen Zusanmlenhang zu kreativer Gestaltung aufweisen. Wie aber läßt sich ein sinnvoller Ausschnitt aus der endlosen Menge von Fällen bilden? Wer Gestaltungen kreiert, um damit Steuergesetze legal zu umgehen, achtet darauf, nachteilige Tatbestände zu vermeiden und begünstigende Tatbestände zu erfüllen. Die Tatbestände ihrerseits sind so gefaßt, daß erkennbaren oder auch nur vorstellbaren Umgehungsgestaltungen von vornherein der Erfolg versagt werden soll. Soweit die Gesetze in diesem Sinne tatsächlich funktionieren und die Entwurfsverfasser auf in Frage konmlende Gestaltungen im voraus richtig reagiert haben, ist Steuerumgehung kein besonderes Problem: Die Lösung ist dann eine Frage schlichter Gesetzesanwendung. Daß die seitens des "sparwilligen" Rechtsadressaten verwandte, aufgrund der Gesetzeslage fehlgeschlagene Konstruktion subjektiv auf Steuerumgehung gerichtet war, ist für die Fallentscheidung nicht wichtig. Steuerspargestaltungen, die sich bei vertretbarer Auslegung in den Maschen eines speziellen Anti-Umgehungsgesetzes oder einer sonstigen BestinmlUng verfangen haben, verlangen von dem danlit befaßten Gericht oft keine besondere Position oder Grundhaltung zur Steuerumgehung, sondem nur eine Entscheidung in einer Spezialfrage zu dem Merkmal oder Rechtsinstitut, von dem die steuerlich motivierte Konstruktion jeweils gerade abhängt. Auf der anderen Seite kann ein Gericht schwierigen Fragen im Zusanmlenhang mit Steuerumgehungen bewußt oder unbewußt ausweichen, wenn es schon durch Auslegung einer rechtstechnischen Einzelheit zu dem von ihm favorisierten Ergebnis gelangen kann. Den Vorwurf, sich so zu verhalten, hat Crezelius gegen deutsche Gerichte erhoben, welche seiner Meinung nach mitI Auch diese heutige Selbstverständlichkeit beruht auf einer Entwicklung der letzten Jahrzehnte. So bemerkte Rowlatt J in Sealzam Harbour Dock Co. v Crook (1930) 16 TC 333. 340: "Apparently this part of the country is inhabited by persons so unsophisticated thai they enter into transactions without thinking of the Income Tax Acts. whereas everybody who does anything oUBht to think. how are the Income Tax Acts going to affecl. or will they affect at all. this transacllon which I am entering into. "

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

unter methodisch unhaltbare Auslegungen produzierten, um die Auseinandersetzung mit der Generalklausei des § 42 AO bzw. dessen Vorläufern zu vermeiden2 . Auch McBarnet/Whelan meinen, daß Gerichte ihre Entscheidungen, wie in allen Rechtsbereichen, so auch im Steuerrecht, oft genug nicht mit den wirklich maßgeblichen Gesichtspunkten begründen3 . Das heißt, daß gerade solche Entscheidungen, die sich auf einen technischen Punkt stützen, die dahinter stehenden wahren Gründe oft nicht (hinreichend) zum Ausdruck bringen4 • Mit einer ähnlichen Aussage kritisierte der erklärtermaßen konservative Autor M.C. Flesch die britische Steuerrechtsprechung der sechziger Jahre: Seiner Auffassung nach überschritten schon die Gerichte jener Zeit vielfach die Grenzen zulässiger Auslegung, um einem steuerlicher Kreativität abträglichen Zeitgeist zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Erklärung für viele für den Steuerzahler negative Entscheidungen ließe sich jedoch nur vermuten5 . Nimmt man diese aus ganz unterschiedlichen Richtungen geäußerte Kritik ernst -und dazu besteht aller Anlaß-, zeigt sich, daß eine unübersehbare Zahl steuerlich motivierter kreativer Gestaltungen vor britische und deutsche Gerichte gelangt, bei denen Steuerumgehung als spezifisches Problem überhaupt nicht angesprochen wird. Sei es, daß dies tatsächlich nicht notwendig ist, weil die Konstruktion mißglückt ist und schlicht unter die bestehenden Gesetze fallt, sei es, daß das Gericht vermeidet, das Problem beim Namen zu nennen. Fällt die Konstruktion in einen (zivil-) rechtlich problematischen Bereich, sind es oft andere Rechtsgebiete, diejenigen, aus denen die Bausteine erfolgversprechender Sparkonstruktionen stammen6 , die plötzlich angekurbelt werden. Was sich dann nicht weiterentwickelt, sind die mit Umgehungen zusammenhängenden Ansätze im Steuerrecht. Dieses Phänomen erschwert die Untersuchung sowohl der britischen als auch der deutschen Rechtsprechung zum Thema "Steuerumgehung". Um die Haltung der Gerichte zu erkennen, ist einerseits von großer Bedeutung, wie sie sich dazu äußern. Andererseits ist aber auch von Belang, wo, wann und warum sie schweigen bzw. sich -trotz entsprechender Veranlassung- nicht auf das Thema einlassen. Das Problem ist nur: Es ist -besonders, wenn es um 2 Crezelius. Rechtsanwendung (1983), S. 91, S. 226 ff. 3 McBarnel/Whelall, (1991) MLR 848, 853: "Sociologists ... emphasise how rules are used to construct post hoc accounts of decisions rather than actually constraining them; and underline the autonomy in practice of regulatory a~ents, relying as much on bluff and blunder as on rules and powers, or ignoring rules altogether. ' 4 In diesem Sinne Tipke, v. Wallis FS (1985), S. 133, 136 f. Im Gegensatz dazu sieht Crezelius, Rechtsanwendung (1983), z.B. S. 133. 134, allerdings das Problem nicht darin, daß Entscheidungen auf technische Punkte gestützt werden als vielmehr darin, daß Tatbestände zu weit ausgelegt würden. 5 FIeseh. (1968) eLP 215,218,229. 6 Für Deutschland wäre hier das Gesellschaftsrecht zu nennen. fiir Großbritannien das Trust-Recht.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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einen fremden Rechtskreis geht- äußerst schwierig zu erkennen, ob die in der Entscheidung genannten Gründe auch die wahren Gründe sind oder ob an sich unwichtige technische Punkte vorgeschoben wurden. Bei Betrachtung von Entscheidungsbegründungen aus dem eigenen Rechtskreis drängt sich manchmal der Verdacht auf, es gäbe noch nicht erwähnte Zusatzgründe7 , doch bleibt auch dies im konkreten Fall meistens nur eine mehr oder weniger starke Vermutung. Urteile sind mit dem Ziel verfaßt, im eigenen Rechtskreis eine Entscheidung zu rechtfertigen und damit zu überzeugen. Sie sind deshalb in der Regel so gestaltet, daß sie von Mitgliedern dieses Rechts- und Kulturkreises als richtig akzeptiert werden könnenS. Die Frage. ob ein Gericht sich vor einem Problem (bewußt oder unbewußt) "gedrückt" hat, wird sich daher nur selten eindeutig beantworten lassen. Es bleibt praktisch inmler möglich. daß das Gericht das Gesagte auch wirklich meinte. Gerade scharfe Kritiker legen deshalb wert auf die Aussage. daß sie den kritisierten Gerichten bösen Willen oder Willkür jedenfalls nicht unterstellen9 • Kommt hinzu. daß das Rechtssystem, in dem eine Entscheidung gefallt wurde. nicht dasjenige ist. in dem der Untersuchende ausgebildet wurde, wird die Bewertung der jeweiligen gerichtlichen Argumentation weiter erschwert. Für die Auswahl der in dieser Arbeit angesprochenen britischen Entscheidungen folgt daraus. daß vor allem solche Urteile betrachtet werden sollen, die sich offen mit dem Problem Steuerumgehung auseinandersetzen. Auch solche Entscheidungen, die nach Auffassung britischer Autoren bzw. des britischen Gesetzgebers eindeutig Umgehungskonstruktionen betreffen. sind für eine nähere Untersuchung geeignet, selbst wenn dort nicht viel über die Umgehungsproblematik gesagt wird. Was hier nicht geleistet werden kann, ist die Suche nach versteckten Grundhaltungen zu kreativer steuerlicher Gestaltung in steuerlichen Urteilen, die bislang von keiner Seite mit "tax avoidance" in Verbindung gebracht wurden. I. Der "traditionelle" Ansatz Heutige britische Autoren stinmlen darin überein, daß die "traditionelle" bzw. "klassische" Haltung britischer Gerichte zu Steuerumgehung. Steuerplanung, kreativer steuerlicher Gestaltung durch das bereits zitierte Diktum Lord Tomiins in der 1935 gefällten Entscheidung des House of Lords IRe v

7 Crezelius. Rechtsanwendung (1983), S. 234. bemängelt beispielsweise. daß die leitenden Beweggrunde fiir einen häufigen Wechsel der Methode in der Rechtsprechung des BFH nicht aufgedeckt würden: Damit stehe und falle oft eine Entscheidung in dem einen oder anderen Sinne. S Vgl. dazu die Differenzierungen bei Bell (1983), S. 23 f. 9 Crezelius, S. 232 (Willkür).

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

Duke oj Westminster wiedergegeben werdet. Danach steht es jedem frei, seine Angelegenheiten so zu gestalten, daß Steuern vennieden werden, auch wenn ein anderer Weg zum gleichen wirtschaftlichen Ergebnis höhere Steuern zur Folge gehabt hätte. Darstellungen der heutigen Rechtslage werden in der Regel auf der Grundlage dieser grundSätzlich immer noch gültigen Entscheidung begonnen2 • Meinungsverschiedenheiten bestehen allerdings darüber, was die Entscheidung ursprünglich bedeutete, ob sie in den Folgejahren richtig verstanden wurde und was heute noch von ihr übrig ist. Hier soll -entsprechend der historischen Reihenfolge- zunächst der oft in einem Atemzug mit Westminster genannte schottische Fall Ayrshire Pullman Motor Services and Ritchie v IRO dargestellt werden, der außerdem eitrige interessante Kontraste zu Westminster erlauben wird. I. Ayrshire Es ging um die Verlagerung von Einkünften unter Familienangehörigen. Im Jahre 1926 gründete Mr. David Ritchie das Busunternehmen Ayrshire Pullman Motor Services. 1927 schloß er mit seinen funfteilweise noch minderjährigen Kindern einen schriftlichen Gesellschaftsvertrag. Die neuerrichtete Personengesellschaft sollte das Geschäft, rückwirkend von seinem Beginn an, übernehmen und weiterfuhren. Ritchies ursprüngliche Einlage in Höhe von b 1.600 wurde der Gesellschaft bei einem Zinssatz von 5% p.a. als Darlehen gewährt. Ritchie garantierte fur Verbindlichkeiten gegenüber der Hausbank. Nach dem Gesellschaftsvertrag war Ritchie der einzige geschäftsfuhrende Gesellschafter, wurde jedoch an den Geschäftsgewinnen nicht beteiligt. Diese standen zu gleichen Teilen seinen Kindern zu und durften nur entnommen werden, wenn Ritchies Darlehen zuvor zurückgezahlt wurde. Unabhängig davon erhielten seine im unterschiedlichen Maße im Betrieb tätigen Kinder vorab feste wöchentliche Löhne. Bis zum 5. April 1929 hatte das Unternehmen Gewinne in Höhe von b 9.654 erwirtschaftet, die -wie Ritchies ursprüngliche Einlage- im Geschäft blieben. Die Steuerbehörden veranlagten Ritchie fur die am 5. April 1926, 1927, 1928 und 1929 endenden Steuerjahre hinsichtlich des erzielten Gewinns zur Income Tax und zur Super Tax. Dagegen wandte sich Ritchie mit der Begründung, daß diese Gewinne nicht ihm, sondern ausschließlich seinen Kindern zurechenbar seien.

I (1935) ALL ER 259, 267 I (HL); der berühmt gewordene Ausspruch lautete: "Every man is entitled, if he can, to order his affairs so that the tax attaching under the appropriate Acts is less than it otherwise would be. If he succeeds in ordering them so as to secure this result, then however unappreciative the Commissioners of Inland Revenue or his fellow taxpayers may be of his ingenuity, he cannot be compelled to pay the increased tax. " 2 Vgl. Mire, in Longman's Practical Tax Planning and Precedents, London 1990, release 5. TZ B9.0030: "In modern times the legitimacy and efficacy of this exercise (lax avoidanceK.N.) have rested upon the celebrated dictum of Lord Tomiln in nIe Duke 0/ WeslmillSler v IRe: Geoffrey Morse, The New Mythodology Of Tax Avoidance, in (1983) The Conveyancer and Property Lawyer. S. 11: "The first myth of tax avoidance was born." Mayson (1989), S.8ff.: WhilellOlIse/Smart-BlIllle (1991), S.59Iff.; BUllerworths (1991), TZ 1:04, S.4f; Gammie, in Shipwrighl (ed.), Strategic Tax Planning, Vol. 11, London 1991, TZ 2.2; H.H. Monroe, Fiscal Finesse: Tax Avoidance And The Duke Of Westminster, in (1982) BTR 200 ff.; Whiteman On Income Tax, by Peler G. Whileman, David Goy, Francis Sandison, Michael Sherry, 3. Auflage, London 1988, TZ 2-03, 2-11. S. 54ff.. 58ff.: Keilh Report (1983). Vol. I. S. 159. (1929) 14 TC 754.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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Für die Zeit nach Abschluß des Gesellschaftsvertrages gab der Court of Session dem Kläger recht. Besonders die berühmte speech von Lord President

Clyde verdeutlicht, welche Gesichtspunkte für die Abwägung, auf der dieses Ergebnis beruhte, eine Rolle spielten4 . Entscheidend war letztlich, daß tatsächlich ein Gesellschaftsvertrag zwischen den Beteiligten abgeschlossen worden war, daß der Vertrag ernstgemeint war und daß er tatsächlich auch durchgeführt wurde. Seine Überzeugung, daß diese Voraussetzungen vorlagen, begründete Lord President Clyde mit einer -gemessen an der insgesamt knappen Begründung- relativ ausführlichen Tatsachenwertung. Der schriftliche Vertrag selbst lag dem Gericht vor. Die Buchhaltung, Bilanzen und sonstigen Geschäftsunterlagen standen damit im Einklang. Daß das "Darlehen" Ritchies trotz der GewiIme lucht schon zurückgezahlt worden war und seine Kinder demzufolge noch luchts entnollUllen hatten und auch luchts entnelmlen konnten, widersprach dem -nach Auffassung von Lord President Clyde- lucht. Es könnte doch sein, daß die Beteiligten es als bessere Geschäftspolitik angesehen hätten, wenu sie gleich jeden verfügbaren PemlY im Geschäft beließen statt heute Verbindlichkeiten zu begleichen, die sie morgen bei jemand anders wieder neu begründen müßten. Sicher schien jedenfalls zu sein, daß der Vertrag Folgen in der wirklichen Welt hatte: Würde das Unternelmlen liquidiert, stünde das nach Rückzahlung der Schulden verbleibende Kapital vollen Umfangs Ritchies Kindern zu.

Auf der anderen Seite würdigte Lord President Clyde den Umstand, daß der Vertrag (vor dem damaligen Hintergrund) ziemlich ungewöhnlich war, d.h., daß er sich durch verschiedene "peculiarities" vom "ordinary style of such documents" unterschied. Dies begalm schon damit, daß es sich um einen Gesellschaftsvertrag zwischen einem Vater und seinen lucht bzw. lucht verantwortlich im Betrieb tätigen Kindern handelte, von denen zwei sogar noch minderjährig waren. Ferner erschien dem Richter als "saUent and striking". daß Ritchie nur als Darlehensgeber Erträge erzielen komtte und keinen Anteil am Gewinu erhalten sollte, obwohl er doch alleiluger geschäftsführender Gesellschafter war. Diese Besonderheiten erklärte sich Lord Clyde allerdings schon dadurch, daß der Vertrag wohl dem Ziel diente, Ritchies Kindern nach und nach das Geschäft zu übertragen und gleichzeitig das gewährte Darlehen zu sichern. Zwar bestanden für Lord Clyde keine Zweifel daran. daß die durch diesen Vertrag begründeten Rechtsbeziehungen der Familie auch eine günstige steuerliche Position schaffen sollten, und zwar im Hinblick auf Income Tax, Super Tax und Death Duties: zu einer solchen Zielsetzung aber -so besagt das bereits zitierte DiktumS des Law Lords- sei der Steuerzahler 4 Auf die Opilliolls der übrigen Lords. die der leadillg speech von Lord Clyde zustimmten. soll hier nicht emgegangen werden. 5 "No man in this country is under the smallest obligation. moral or other. so to arrange his legal arrangements to his business or his property as to enable the Inland Revenue to put the 8 Nevermann

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

berechtigt: Rechtliche oder moralische Verpflichtungen, mögliche Vorteile, die die Steuergesetze offenließen, nicht wahrzunehmen, gäbe es nicht. Soweit die angegriffenen steuerlichen Veranlagungen allerdings den Zeitraum vor Abschluß des Gesellschaftsvertrages betrafen, seien sie richtig. Deml die entsprechenden Steuerfolgen seien bei Vertragsschluß bereits eingetreten gewesen und ließen sich nicht nachträglich beseitigen. Bei einer kritischen Betrachtung dieses Votums -die zugegebenermaßen auf einem aus einer anderen Rechtskultur und einer anderen Zeit stanmlenden Vorverständnis beruht- fällt auf, daß Lord President Clyde (und mit ilml das Gericht) dem Steuerzahler sehr viel Verständnis entgegenbringt. Es scheint so, als wenn das Gericht geradezu Gründe dafür (er-) findet, die die seinerzeit zweifellos ungewöhnliche Vereinbarung und ihre Folgen unter verschiedenen Aspekten rechtfertigen. So ist der angesprochene Umstand, daß das Darlehen trotz entsprechender Gewinne stehengelassen wurde, in den Augen von Lord Clyde offenbar (möglicherweise aufgrund des Vortrags der Steuerbehörden) erklärungsbedürftig: Doch die Antwort darauf, nämlich, daß dies wohl Folge einer sinnvollen Geschäftspolitik sei, liefert er dann selber. Auch wird das Motiv, Steuern zu sparen, nur als ein nicht einmal besonders wichtiger Grund von mehreren dafür bezeichnet, daß der Gesellschaftsvertrag abgeschlossen wurde 6 • Damit wird das steuerliche Motiv der Vereinbarung stärker abgeschwächt, als es angesichts der Tatsachen gerechtfertigt erscheint. Daß die steuerliche Bedeutung der Vereinbarung besonders groß war, wird schon dadurch deutlich, daß sie rückwirkend abgeschlossen wurde, deml für die übrigen möglicherweise dahinterstehenden Erwägungen ist die Rückwirkung unerheblich. Welche außersteuerlichen Gründe es gegeben haben soll, das Unternehmen und die daraus erwachsenden Einkünfte trotz des andauernden maßgeblichen Einsatzes des Vaters und der jedenfalls durch Löhne abgegoltenen Mitarbeit einiger Kinder bereits auf die Kinder zu übertragen, ist nicht nachvollziehbar. Unverständlich ist auch, warum der so uneigemlützige, den largest possible shovel into his stores. The Inland Revenue is not slow -and quite rightly- to take every advantage which is open to it under the taxing statutes for the purpose of depleting the taxpayer's pocket. And the taxpayer is, in like manner. entitled to be astute to prevent, so far as he honestly can. the depletion of his means by the Revenue" (per Lord President Clyde, S. 763 f). 6 Wörtlich heißt es bei Lord Clyde: "but these are indeed peculiarities and they show, as plainly as words can show. that the object of this contract of co-partnery was to enable the children of Mr. Ritchie to acquire the substantial interests in this business as time went on -at any rate, if they chose- and incidentally to secure repayment of Mr. Ritchie's capital advance of b 1,600. and. I think one may reasonably add, to create astate of legal relations ... favourable in relation to the Inland Revenue ... ". Die Art, wie das Steuennotiv in die Urteilsbegrundung eingefiihrt wird, erweckt den Eindruck, als sei es verglichen mit den anderen Absichten völlig untergeordnet und nur noch der Vollständigkeit halber überhaupt erwähnt. Daß die Worte "and, I think one may reasonably add" nicht auf britischem Understatement beruhen, bei dem das Wichtigste so präsentiert wird, als sei es das Unwichti~ste, scheint mir nach der vorangegangenen -sehr starken- kontrastierenden Fonnulierung 'as plainly as words can show" eindeutig zu sein.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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Betrieb leitende Vater auf der anderen Seite ein so starkes Sicherungsbedürfnis für das von ilml gewährte, tucht besonders hoch verzinste "Darlehen" entwickelt, daß die Kinder, unabhängig von der übrigen Vermögenslage des Unteruelmlens, bis zur künftigen Rückzahlung des Darlehens keinerlei Geschäftsgewimle entnehmen dürfen. Damit soll nicht etwa ausgesagt werden, daß der Court of Session meiner Auffassung nach anders hätte entscheiden sollen. Es soll nur der entstandene Eindruck wiedergegeben werden, daß sich das Gericht bei der Bewertung der Fakten des Falles ziemlich stark darunl bemüht hat, alle möglichen theoretisch denkbaren außersteuerlichen Gründe für die gewählte Gestaltung zu betonen. Für die Begründung, mit der Ritchie schließlich von Lord Clyde recht bekonmlt, wäre es -geht man von ihrem Wortlaut aus- lucht erforderlich gewesen, daß das Gericht irgendwelche außersteuerlichen Interessen in der Vereinbarung entdeckte. Deml der Steuerzahler sei ja gerade weder moralisch noch sonstwie verpflichtet, den Steuerbehörden ungehinderten Zugriff auf sein Vemlögen zu gewähren, soweit er dies auf ehrliche Art ("so far as he honestly can") im Rahmen der Steuergesetze verhindern könne. Für den Fall so wie ihn das Gericht dargestellt hat- hätte es genügt auszusprechen, daß eine geschäftliche Vereinbarung, die den Neben-Zweck hat, Steuern zu sparen, steuerlich anzuerkennen ist. Dieser nicht aufgelöste Widerspruch zwischen der Bewertung der Fakten, die auf einen "weichen Fall" schließen lassen, und den starken Sätzen, mit dem das Ergebnis gerechtfertigt wird, läßt die speech von Lord Clyde in sich als unstinmlig erscheinen. Im letzten bleiben zwei Möglichkeiten, die Entscheidung zu verstehen. Einerseits etwa in dem Sinne: 'Die Vereinbarungen der Familie Ritchie führen zu einer ganz nomlalen, ernstgemeinten wirtschaftlichen Gestaltung. Selbst wenn dies aber anders sein sollte und der Vertrag entgegen den getroffenen Feststellungen ausschließlich deshalb geschlossen worden sein sollte, um Steuern zu sparen, ließe sich das lucht beanstanden.' Die zweite Lesart orientiert sich stärker an der vom Gericht erarbeiteten Bewertung der Fakten und betont die erwähnte Einschränkung der Gestaltungsfreiheit des Steuerzahlers "so far as he honestly can". Das Ergeblus ist in etwa: 'Steuerzahler dürfen grundSätzlich ihre Angelegenheiten steuergünstig gestalten. Die von Mr. Ritchie gewählte Gestaltung ist jedenfalls anzuerkennen, weil es für die zugrundeliegende Vereinbarung alle möglichen auch außersteuerlichen Gründe gab. Wo genau die Grenze der Gestaltungsfreiheit des Steuerzahlers verläuft, braucht hier lucht festgestellt zu werden, denn der Fall ist eindeutig auf der richtigen Seite.' Diesen letzten Satz hat Lord Clyde nicht ausgesprochen, aber möglicherweise ergibt er sich ungeschrieben aus Lord Clydes vorheriger Analyse des Falles und bildet die Erklärung dafür, warum sie überhaupt vorgenonmlen wurde. In Urteilen formulierte Regeln holen mitunter zu weit aus; sie müssen dann, um die ratio 8'

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

decidendi festzustellen, letzIich durch common sense eingeschränkt werden7 • Hier beruhte dieser einschränkende common sense auf den Fakten des Falles und dem Zusammenhang, in dem die Äußerung gefallen ist. Die bei den hier genannten Lesarten verkörpern gleichzeitig den Unterschied zwischen formaler und substantieller Betrachtung 8 • Wie immer jedoch das Diktum Lord President Clydes letzIich gemeint war, es wurde im folgenden als Bestätigung einer nur durch das Strafrecht begrenzten steuerlichen GestaItungsfreiheit betrachtet9 • Die formale Betrachtungsweise hatte sich durchgesetzt.

2. Die "Westminster doctrine" Der eigentliche Präzedenzfall für weitestgehende steuerliche Gestaltungfreiheit, der in der Praxis je nach Perspektive zu einer "Taxpayers' Declaration oj Independence"lo bzw. zu einer Art "tax avoider's charter"ll wurde, ist die Entscheidung des House oj Lords in IRe v Duke oj Westminster l2 • a) Der Ausgangsfall Der Westminster case betrifft die geglückte Verwandlung steuerlich nicht abziehbarer Lohnzahlungen an Privat-Angestellte in abziehbare UnterhaltsrenteIl. Die Fakten sind die: Die Familie des Duke of Westminster, Grosvenor, gehörte zu den reichsten und angesehensten Grundeigentümern Großbritanniens. Zu Beginn der dreißiger Jahre gab der Duke verschiedenen seiner festen Angestellten 13 ein schriftliches Schuldversprechen (deed oj covenant) , in welchem er sich verpflichtete, ihnen in Anbetracht ihrer vergangenen oft langjährigen Dienste (von vier bis zu fünfundvierzig Jahren) wöchentliche Zahlungen zu leisten, die einen erGlallville Williams. Learning the Law, 11. Auflage. London 1982. S. 73. Vgl. hier insbesondere Fall (11) bei Ariyah/ Summers (1987), S. 414. 9 Den wohlwollenden Grundtenor der Entscheidung ~egeniiber steuervermeidenden Gestaltungen als Beispiel einer allgemeinen Tendenz jener Zelt heben Whiteman/ Whealcroft hervor. On Income Tax And Surtax, London 1971, S. 80, TZ 1-65: "Inevitably, however, m border-line cases, the final decision will be to some extent swayed by a judge's own view of the merits; until the 1939 war the climate of judicial opinion did not, in general, view lawful lax avoidance with disfavour. Probably the c1earest expression of this view was uttered by Lord Clyde: ... " (Es folgt das bekannte Zitat aus Ayrshire Pul/mall Services). 10 Morse. (1983) Conv. 11. 11 MOl/roe. (1982) BTR 200. 12 (1936) AC I = (1935) All ER 259 (HL). 13 Die einzelnen Gestaltun~en bz~l. der verschiedenen Angestellten wichen leicht voneinander ab. Die Prozeßbeteliigten emigten sich darauf, daß der Fall des Gärtners Allman typisch sei und daß das bei einer Erörterung der in diesem Falle getroffenen Arrangements gefundene Ergebnis insgesamt zugrunde gelegt werden solle. 7

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I. Der "traditionelle" Ansatz

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heblichen Teilbetrag ihres bisherigen Lohnes ausmachten l4 . In einem an die betroffenen Angestellten übersandten Schreiben erläuterten die herzöglichen Solicitors, daß die Zahlung etwaige Rechtsansprüche der Empfänger auf ihren laufenden Lohn nicht berühren sollte. Es wurde aber gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß von den jeweiligen Angestellten erwartet wurde, daß sie während der Laufzeit der zugesagten Zahlung in der entsprechenden Höhe keine Lohnansprüche geltend machen würden und wie bisher weiterarbeiten würden. In Höhe einer noch bestehenden Differenz zwischen dem bisherigen Lohn und der zugesagten Zahlung würde der Lohn weitergezahlt werden. Dies alles sei bereits bei Übergabe der Versprechensurkunde mündlich besprochen worden, und der jeweilige Empfänger habe diesem Vorgehen zugestimmt. Sämtliche Adressaten bestätigten schriftlich, daß sie das Begleitschreiben erhalten hätten und das Schuldversprechen dementsprechend annehmen würden. Im folgenden zahlte der Duke regelmäßig die zugesagte Sunmle und die jeweiligen Angestellten arbeiteten wie zuvor weiter, ohne daneben insoweit noch Lohnansprüche geltend zu machen. Gegenüber den Steuerbehörden machte der Duke geltend, daß die aufgrund der Schuldversprechen gezahlten Beträge von seinem Einkommen absetzbar seien, so daß darauf keine Income Tax bzw. Surtax entfieleis. Dieser Abzug wurde ihm von den Steuerbehörden, den Commissioners und dem High Court versagt. Die Commissioners und der High Court, durch Finlay J waren der Auffassung, daß die Zahlungen an die Angestellten "in substance" nicht abziehbare Lohnzahlungen seien l6 . Der Court oj Appeal und das House oj Lords folgten dem nicht.

14 Die Zahlungsverpfiichtung war auf sieben Jahre bzw. auf die gemeinsame Lebenszeit des Dukes und des jeweihgen Angestellten beschränkt, wobei ein bestimmter. in wöchentlichen Raten auszahlbarer Jahresbetrag zugrunde gelegt wurde. Diese und weitere Modalitäten ergaben sich aus den gesetzlichen Voraussetzungen fur einen möglichen Steuerabzug von a/muiries aufgrund eines deed 0/ covellam. 15 Nach Rule 19 0/ rlle Gelleral Rules applicable ro all sclledules minderten durch derartige Schuldversprechen (deeds 0/ covellallr) zugesagte Zahlungen (alllluiries) unter bestimmten Voraussetzungen das Einkommen des Versprechenden. während sie bei einem nicht steuerbefreiten Empfänger -in der Regel mit einem niedrigeren Satz- steuerlich erfaßt wurden. Grundgedanke der Befreiung war die Annahme, daß das Einkommen des Versprechenden von v?rnherein in Höhe des z~gesa$ten Betrages de~ Empfänger der all/miry zustehe. d. h.. daß sein ElIlkommen schon mit dieser es vermllldernden Belastung entstehe. vgl. dazu Whiremall/Whearcroft. S. 6. mit Hinweis auf IRC v Frere (1965) AC 402. 419 (Lord Radcliffe). Ob bzw. inwieweit im Falle des Dukes nicht bereits die Lohnzahlungen als Ausgaben von der jeweiligen Einkunftsart abgesetzt werden konnten, wird in dem veröffentlichten Sachverhalt ausdrücklich nicht behandelt. Vermutlich ist die Erklärung einfach die. daß es sich um PrivatAngestellte des Dukes handelte. deren Täti~keit nicht der Erzielung irgendwelcher Einkünfte diente. Abgesehen davon wirkte sich die ElIlkommensminderunj1 infolge der all/lUit)' auf das zusammengefaßte Einkommen aus allen schedules aus. während die Verrechnung von Verlusten aus einer Einkunftsart mit Gewinnen aus einer anderen früher wie heute diversen Einschränkungen unterliegt, vgl. Butrerworths (1991). TZ 2: 10. S. 56. Erst der Fillallce ACl 1988 bestimmte, daß künftige covellalllS nur dann noch als einkommensmindernd gelten. wenn sie zugunsten gemeinnütziger Organisationen erfolgen (Sec 347A. 347B [CTA 1988). 16 Im High Court-Urteil, (1936) 19 TC 490. 501. heißt es: "Iooking. not at the form. but at the substance. of the thing, thls must be regarded. as in the case of the servants remaining in His Grace's employ, as wages."

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

b) Die Begründungen der Richter Sämtliche mit dem Fall befaßten Richter im House oj Lords widmeten sich der Frage, was die getroffenen Arrangements im Rechtssinne eigentlich bedeuteten. Vier von fünf Law Lords kamen zu dem Ergebnis, daß die Zusagen des Dukes rechtlich nichts anderes als deeds oj covenant im Sinne der einschlägigen Bestimmungen des lncome Tax Act seien. Es sei rechtlich ausgeschlossen, die aufgrund dieser Schuldversprechen erfolgenden Zahlungen als Lohnzahlungen anzusehen. Das Schuldversprechen werde auch in Verbindung mit Vorgespräch und Zusatzschreiben nicht zu einer in Wahrheit auf Lohnzahlung gerichteten Vereinbarung. Für die wahre Rechtsnatur der deeds kornnle es auch nicht darauf an, wie sich die Angestellten nach Erhalt der Zusage verhielten, ob sie z.B. ihren Lohn nicht mehr verlangten oder unverändert wie zuvor weiterarbeiteten. Die Steuerminderung sei danach gerechtfertigt. Eine andere Auffassung vertrat nur Lord Atkin, der in einer scharfsinnigen, die Imeressenlage des Dukes und seiner Angestellten einbeziehenden juristischen Analyse die Schlußfolgerung zog, das vom jeweiligen Empfänger gegengezeichnete Begleitschreiben im Zusammenhang mit der dort erwähnten mündlichen Vereinbarung und der eigentlichen Urkunde bedeute rechtlich nur eine Veränderung des bestehenden Arbeitsverhältnisses 17 : die daraus erwachsenden Zahlungen müßten demzufolge unverändert als Lohnzahlungen qualifiziert werden. Diese Auffassung aber setzte sich nicht durch. Auch die -von keiner Seite behauptete- Möglichkeit, es könne sich vielleicht um ein reines Scheingeschäft handeln, mit welchem Lohnzahlungen verdeckt würden, wurde von einigen Richtern kurz angesprochen, aber sogleich verworfen l8 . Nachdem die Law Lords ihre weitgehende Einigung über die rechtliche Natur der getroffenen Gestaltung erzielt hatten, standen sie vor der Frage, ob die aus dieser Qualifizierung erwachsenden Folgen steuerlich akzeptiert werden müßten. Das führte zu Lord Tomiins berühmt gewordenen und bereits zitierten Worten, daß jedermalill das Recht habe, wenn er könne, seine Angelegenheiten so zu ordnen, daß sich seine Steuern minderten, sowenig die Steuerbehörden und andere Steuerzahler von seinem diesbezüglichen Erfindungsreichtum auch halten mögen. Häufig mitzitiert werden aber auch die dieser Feststellung Ulllllittelbar folgenden Sätze. Im Grunde sind sie es, durch die der Westminster case seine einzigartige Bedeutung unter all den Fällen bekam, in denen britische Richter 17 Wörtlich heißt es bei Lord Atkin, S. 265 C: "We are thus, I think, inevitably forced to the conclusion that before the deed was executed there was a contract between master and servant as to the effect of the deed on the existing contract of service. " 18 Vgl. Lord Wright, S. 272 F.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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mit einprägsamen Formulierungen die Freiheit des Steuerpflichtigen zu kreativer Gestaltung im Steuerrecht festhänmlerten. Denn nachdem Lord Tomlin das alle anderen gesellschaftlichen Interessen ausstechende Grundrecht jedes Steuerpflichtigen auf kreative steuersparende Gestaltung bestätigt hatte, fuhr er fort: "This so-called doctrine of 'the substance' seems to me to be nothing more than an attempt to make a man pay notwithstanding that he has so ordered his affairs that the amount of tax sought from him is not legally c1aimable. "19

Die Argumentation der Commissioners und des High Court, daß die Zahlungen des Duke "in substance" Lohnzahlungen wären, hatte bei Lord Tomlin und den anderen die Entscheidung stützenden Richtern Anstoß erregt. Der Fall führte zu einer vollständigen Verwerfung der erst ansatzweise entwickelten Idee, daß neben eine rein rechtliche eine für die Besteuerung maßgebliche, substantielle Qualifizierung bestinmlter Gestaltungen treten kÖlme. Lord Tomlin sprach dieser Idee jede Berechtigung ab, bezweifelte, daß so etwas überhaupt eine juristische Lehre bilden kölme und führte ihr Aufkoumlen darauf zurück, daß eilrige untergeordnete Rechtsanwender frühere höchstrichterliche Entscheidungen falsch verstanden haben müßteil. Es sei an der Zeit, damit ein Ende zu machen, denn sonst tausche man Recht gegen unsichere und zwei felhafte Ermessensentscheidungen. "This supposed doctrine (upon which the commissioners apparently acted) seems to rest for its support upon a misunderstanding of language used in some earlier cases. The sooner this misunderstanding is dispelled and the supposed doctrine given its quietus the better it will be for all concemed. for the doctrine seems to involve substituting 'the uncertain and crooked cord of discretion' for 'the golden and straight mete wand of the law' ...

Daß, was inmler unter "substance" zu verstehen sei nicht dazu benutzt werden dürfe, rechtliche Konstruktionen außer acht zu lassen, betonten auch Lord Russel und Lord Wright. Angängig sei die Lehre von der Substanz allenfalls, wenn damit gemeint sei, daß die wahre Rechtsnatur einer Gestaltung ernlittelt werden sollte, um danach die Rechtsfolgen zu bestinmlen2o . "Ir. on the other hand. the doctrine means that you may brush aside deeds. disregard the legal rights and liabilities arising under a contract between parties. and decide the question of taxability or non-taxability upon the footing of the rights and liabilities being different from what in law they are. then I entirely dissent from such a doctrine. "21

Im Grundtenor ähnlich, wenn auch sehr viel wohlwollender gegenüber den unteren Instanzen, ist auch die Meinung des dissidierenden Lord Atkin. Auch er hält es für unzulässig, in der steuerlichen Rechtsanwendung von der ge fun19 Auf S. 267 I und 268 A. 20 Lord Wright: "... the true nature of the legal obligation and nothing else is 'the substance"', S. 273 F. 21 Lord Russel. S. 270 G.

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

denen rechtlichen Einordnung ("correct view oj the legal effect") von Vereinbarungen abzuweichen. Aber als sie sich auf die Substanz der Gestaltungen berufen hätten, sei es den Commissioners und dem High Court sicherlich nur darum gegangen, eben diese wahre Rechtsnatur der Gestaltung zu ermitteln, zUlllal dafür alle "surrounding circumstances" heranzuziehen seietl. Das entspräche letztlich seinem eigenen Vorgehen22 . Keine offene Auseinandersetzung, aber eine praktische Absage an substantielle Rechtsanwendung, gekoppelt mit spürbarer Unzufriedenheit über das so erzielte Ergebnis, eniliält die Urteilsbegründung von Lord Macmillan: "( am fully conscious of the anomalous consequences which might conceivably arise in other connections from the course adopted by the respondent, but your Lordships are concerned only with the technical question whether the respondent has brought hirnself within the language of the income tax rule as to contractual payments, and ( think that he has succeeded in doing so. That is enough for the decision of the case. It is not likely that many other employers will follow the respondem's example, for few employers would care to take the risk to which the respondent has hirnself exposed. namely. that his servants may quit his employment and take their services elsewhere and yet continue to exact the covenanted weekly payments from hirn. "23

c) Kritische Schlußfolgerungen Was sich sicherlich unstreitig aus der Westminster-Entscheidung entnelmlen läßt, ist ein großes Verständnis der seinerzeitigen höchstrichterlichen Rechtsprechung für kreative steuerliche Gestaltungen24 • Abgesehen von der an sich nicht überraschenden, aber immerhin bestätigenden Feststellung, daß jedern1ann das Recht habe, Steuern zu vern1eiden, soweit ihm dies nur gelinge, und von der Zurückweisung der substance doctrine, gaben die Law Lords (bis auf Lord Atkin) auch noch ein Beispiel dafür, wie man komplexe Vereinbarungen auf eine extrem enge, die Interessen der Beteiligten weitgehend ignorierende, rein technische Art und Weise auslegen kam1, Ull1 das Ergebnis dann als "true nature"25 der gewählten Konstruktion zu präsentieren -wenig überzeugend aus heutiger Sicht26 . Daß die durch das covenant bedachten Angestellten des Dukes tatsächlich genauso und zum selben Preis für ihn arbeiten sollten wie zuvor, war für keinen Beteiligten zweifelhaft. Daß etwaige durch die Gestaltung begründete Rechte in der wirklichen Welt nichts verändern sollten, war ebenfalls allen Beteiligten klar. Soweit diese Rechte 21 Lord Atkin. S. 265 H, I.

23 Lord Macmillan. S. 272 C. 24 Dazu heißt es bei Monroe, (1982) BTR 200, 201: "Ringing sentiments, roundly expressed. All the pent-up dislike of tax and taxing authorities characteristic of judges no less than of other citizens expressed in a resounding constitutional declaration and the real legal problem quietly shelved for another 40 years or so. " 25 Vgl. Lord Wright, S. 273 F. 16 So auch neuestens Lord Templernan. in Ensign Tankers (Leasing) LId. v Stokes (1992) 2 All ER 275. 285 f.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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für die Beteiligten theoretische Risiken beinhalteten -für den Duke das des Mißbrauchs durch disloyale Angestellte, für die Angestellten mögliche Konfusion bzgl. ihres Arbeitsverhältnisses 27 -, war dies in Anbetracht der damaligen sozialen Situation unerheblich: Die Autorität und Macht der beinah noch feudalen Person des Herzogs verhinderte Mißbräuche und garantierte Erfüllung der Vereinbarung im Sinne des Steuersparplans wirkungsvoller als gerichtlich feststellbare Ansprüche zwischen den Beteiligten dies hätten tun können. Daß die Lords die Vereinbarung trotz allem als das akzeptiert haben, was sie auf dem Papier zu sein vorgab, entspricht dem ironisch von Monroe wiedergegebenen Motto: "Y ou are to take a taxpayer' s document at its face value. If he signs an agreement to make annual payments. that is the legal transaction he effects. "28

Zwingend war die Argumentation tucht, wie das Votum von Lord Atkin, aber auch die vorangegangenen Rechtsentscheidungen der Commissioner bzw. des High Court verdeutlichen. Letztlich bezeichnet es auch Lord Tomlin selbst als eine "indisputable rule", daß bei Auslegung eines Dokuments die "surrounding circumstances" gesehen werden müßten29 , ohne daß sich das allerdings in seinem Ergebtus tuedergeschlagen hätte. Kein Wunder, daß später auch in anderen Beziehungen von der West11linster-Entscheidung gesagt wurde, in ihr seien den Gerichten Scheuklappen aufgesetzt worden 30 • Von den vielen unterschiedlichen, vielfach zustimmenden Stellungnahmen, die zu diesem Fall ausgewertet werden konnten, fand sich keine, die das Ergebtus unter materiellen Gerechtigkeitsgesichtspunkten rechtfertigte. Der Westminster-Fall wurde damit zum -durchaus von vielen Seiten begrüßten- Präzedenz-Fall für den hohen Wert formaler Argumentation im Steuerrecht und gleichzeitig zum Sinnbild einer steuerzahlerfreundlichen Grundeinstellung der Gerichte. Doch beides konnte er überhaupt nur werden, weil sein Ergebnis so fragwürdig war und ist. Ist die Einhaltung eines hohen Prinzips mit einem Ergebtus verbunden, das allen als gerecht erscheint und tucht gegen andere hohe Prinzipien verstößt, dann fehlt es schon am "Fall" -von "Präzedenz" im Sinne herausragender und richtungsweisender Bedeutung ganz zu schweigen. Daß den Zeitgenossen des Dukes die für ihn günstigen Steuerfolgen seiner Transaktion im Ergebnis als ungerechtfertigt erschienen, zeigt die, allerdings durch den Zweiten Weltkrieg verzögerte, Reaktion des Gesetzgebers: Die Lücke, die für die Gestaltung ausgenutzt wurde, wurde 1946 geschlossen31 . 27 Und z.B. die Zurechnung des nicht erhobenen Arbeitslohns und daraus resultierende Steuerpflicht, wie Lord Atkin in seinem Votum als denkbares Problem anspricht. 28 Monroe. (1982) BTR 200, 203. 29 Lord Tomiin, (1935) All ER 268 D. 30 Monroe, (1982) BTR 200, 206. 31 Nach sec. 28 FA 1946 wurde der Abzug vemeint. wenn das Versprechen einem Angestellten des Versprechenden gegeben wurde, ein Beispiel für den "slliper approach": der

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

Zieht man eine Parallele zum Falle Ayrshire, ist Westminster eindeutig der extremere Fall. In Ayrshire bestand das Problem darin, daß der Steuerzahler laufend durch seinen Einsatz das von ihm herrührende Vermögen seiner Kinder mehrte, ohne daß die Erträge seiner Aktivitäten ihm zunächst selbst hätten zugerechnet werden können. Immerhin blieben diese Erträge dem Sachverhalt nach endgültig bei seinen Kindern und waren von diesen -wenn auch niedriger- zu versteuern. Im Falle des Duke of Westminster hingegen blieb in der wirklichen Welt praktisch alles beim alten. Allein die veränderte rechtliche Etikettierung ohnehin erfolgender Privatausgaben bewirkte, daß sie plötzlich steuerlich absetzbar wurden. Während bzgl. Ayrshire immerhin noch darüber diskutiert werden könnte, ob die Einkünfte nicht wirklich zutreffend bei Ritchies Kindern erfaßt wurden, liegen im Falle Westminster die für den Rechtsanwender offenbar unüberwindbaren gesetzlichen Ungereimtheiten auf der Hand. Während Ayrshire bei Betrachtung der Fakten des Falles allenfalls die Schlußfolgerung rechtfertigt, daß ein auf Steuerersparnis gerichtetes Nebenmotiv für die Anerkennung der Gestaltung unschädlich ist3 2 , muß Westminster zu der Schlußfolgerung führen, daß eine steuerliche Motivation für die Gestaltung in jedem Falle vollkommen unerheblich ist, auch wenn die ganze Transaktion ausschließlich durch steuerliche Gründe veranlaßt ist3 3. Im Gegensatz zu der Situation in Ayrshire (so wie sie das Gericht -weml auch nur wenig überzeugend- bewertete) ist die Gestaltung in Westminster ohne jeden Zweifel allein steuerlich motiviert. Was immer sie unbeabsichtigterweise an wirklichen Konsequenzen haben kölmte, würde die durch die Anstellungsverhältnisse geregelte Balance der Parteiinteressen durcheinanderbringen; insofern war sie positiv gefährlich und unsinnig 34 . Überspitzt gesagt war dies eine Gestaltung, deren Risiken am ehesten für Leute tragbar waren, die aus jahrhundertealtem, einflußreichem Geschlecht stammten und ihr Personal mehr oder weniger "ererbt" hatten 35 . denkbar engste und gezielteste Weg, eine bestimmte Gestaltung zu treffen und dabei vieles andere unangetastet zu lassen. Annuiries wurden in späteren Jahrzehnten häufig dazu verwandt, um steuerbegünstigt ehemalige Mitgesellschafter abzufinden, Kaufpreise bei dem Erwerb eines Unternehmens zu zahlen oder Ehegattenunterhalt nach einer Scheidung zu leisten, vgl. Potter' s and Monroe's Tax Planning With Precedents, by D.C. Porter and A.R. 1homhill, 8. Auflage, London 1978. S. 10 f. Die Entwicklung der damit zusammenhängenden Vorschriften veranlaßt die Autoren, S. 7, zu der Bemerkung: "Tbe statutory exceptions of the rule have, however, become more important than the rule itself." So sollen z. B. schon im Jahre 1952 ca. 600.000 Schuldversprechen steuerlich eingesetzt worden sein, vgl. Whearcrojr. (1955) MLR 209, 226. 32 Vgl. dazu die obigen Ausftlhrungen unter I. 33 Dies ist nach Whireman, On Capital Gains Tax, 4. Auflage, London 1988, TZ 5-11, S. 60 eine Hauptfolgerung aus dem Fall. 34 Dazu vgl. die Analyse von Lord Atkin. 35 Wenn Lord Macmillan aus diesem Grunde meinte, daß diese Steuersparmethode keine allzu große Verbreitung finden würde, kann dies im nachhinein nicht unbedingt bestätigt werden. Sropforrh. (1992) BTR 88, 97 weist nach, daß der "Westminster scheme" in der Fachpresse bereits ausführlich im Jahre 1930 behandelt worden war und betrachtet dies als Indiz dafiir. daß die konkrete Gestaltung schon vor der Wesrminsrer-Entscheidung relativ weit verbreitet gewesen sein könnte. Soziale Beziehungen. wie sie die Gestaltung ermöglichten, hanen damals noch keinen Seltenheitswert.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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d) Die Auswirkungen der Entscheidung Der Westminster case wird hier aber nicht (nur) angesprochen, weil er die extrem steuerzahlerfreundliche, frühere Rechtsprechung trefflich illustriert, sondern weil er die britische Rechtsanwendung für über vierzig Jahre grundlegend prägte. Und diesen Einfluß übte der Fall auf eine Weise aus, die damit, was wirklich entschieden wurde, nicht allzu viel zu tun hat. Wofür Entscheidungen stehen und was sie tatsächlich besagen, ist nicht notwendig dasselbe 36 . Die Westminster-Entscheidung steht für das angebliche Recht des Steuerzahlers, nach der rechtlichen Form und nicht nach der Substanz der von ihm gewählten Gestaltungen besteuert zu werden37 • Was sich hinter dieser eingängigen und gleichzeitig mysteriösen Beschreibung eines Rechts verbirgt, ist eine Frage für sich. Jedenfalls beriefen sich Steuerpflichtige in späteren Jahren häufig dann auf den Westminster-Fall, wenn die Argumentation der Steuerbehörden irgendwie nach "Substanz" roch, d.h., wenn wirtschaftliche Zielsetzungen oder Sinn und Zweck bestimmter Gestaltungen bei der Festlegung von Steuerfolgen zu Lasten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden sollte. Mißt man das, was die Entscheidung tatsächlich besagt, an dem, was ihr hiernach- zugeschrieben wird, zeigt sich, daß der durch sie geworfene Schatten die Grenzen ihrer eigentlichen Aussage weit überschreitet3 8 • Tatsache ist, daß alle an der Entscheidung beteiligten Richter mehr oder weniger explizit verneint hatten, daß es noch jenseits einer Erkelmtnis der einzig wahren Rechtsnatur einer Gestaltung Raum für substantielle Argumentation gäbe. D.h., welm diese wahre Rechtsnatur einmal -anläßlich irgendeines Konfliktserkannt ist, ergibt sich die Rechtsfolge in allen Bereichen automatisch. Es ist daml nicht mehr möglich zu argumentieren, daß die Situation substantiell mit der zuvor ermittelten Rechtsnatur der Gestaltung nicht im Einklang stünde, so daß eine einem anderen Rechtsinstitut entsprechende Rechts- bzw. Steuerfolge einzugreifen habe. Alle aus einem Sachverhalt erwachsenden Konflikte haben somit einen einzigen rechtlichen Ausgangspunkt. Sei es, daß ein Gärtner den Dienst verläßt, um woanders zu arbeiten und trotzdem seine annuity weiterbeziehen wi1l 39 , sei es, daß ein anderer Gärtner mehr Urlaub will und mög-

36 Vgl. MOllroe. (1982) BTR 200. 206: "The myth is the message." 37 Maysoll (1989), S. 9. vgl. auch WhitehouseIStuarr-Buttle. FUn/iss v Dawsol/: Recent Developments, in (1984) The Law Society's Gazette. S. 2437; .f{eilh Report (1983). Vol. I. S. 159; Gammie (1991), TZ 2.2, der den Fall unter der Uberschrift präsentiert: "The Westminster case: substance versus form". dann jedoch im Text von dieser Aussage abrückt. 38 Millett, (1982) LQR 209: "That case represented the high-water mark of judicial decision in favour of the taxpayer, though it has been cited on the taxpayer's behalf more frequently than it has been properly understood." Gammie (1991), TZ 2.1.. spricht von "various misconceptions that had arisen as to the troe effect of the decision in that case. " 39 Vgl. Lord Macmillan, S. 272 D.

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

liehe Ansprüche vor einem Industrial Tribunal40 verfolgt oder daß ein Gläubiger eines dritten Gärtners dessen "ruhende" oder aufgelaufene Gehaltsansprüche pfändet41 . Oder sei es eben, daß die Steuerfolgen der Gestaltung streitig sind. Wenn die Regeln, nach denen diese verschiedenen denkbaren Konflikte gelöst werden, jeweils auf der Qualifizierung des einen zugrundeliegenden Rechtsverhältnisses beruhen, dann bedeutet das Verbot, daneben nach substantiellen Gesichtspunkten zu entscheiden, auch, daß die einmal gefundene Qualifizierung in allen Fällen durchgehalten werden muß, oder anders ausgedrückt, daß eigenständige Qualifizierungen in verschiedenen Rechtsgebieten nicht möglich sind. Dies beschränkt die Freiheit des Rechtsanwenders sicherlich erheblich, aber ist es tatsächlich schon dasselbe wie die Aussage, die Besteuerung richte sich nach der rechtlichen Form einer Gestaltung? Heißt das, daß der Rechtsanwender wie gebannt auf die vom Steuerpflichtigen in eine Sachverhaltsgestaltung eingeworfenen Rechtsformen starren muß, ohne irgendwelche anderen Gesichtspunkte überhaupt wahrnehmen zu dürfen? Diese Fragen stellen, heißt sie verneinen. Als Alternative oder Gegensatz zu substance wird der Ausdruck form in der gesamten Westminster-Entscheidung nicht verwandt. Statt dessen tauchen zwei verschiedene substance-Begriffe auf. Substance zum einen im Sinne von "the true nature of the legal obligation" -etwas für alle am Fall beteiligten Richter vollkommen Akzeptables42- und substance zum anderen als etwas, was neben die rechtliche Qualifikation einer Gestaltung tritt und zu abweichenden Folgerungen führt; gegen letzteres richten sich die gesammelten Angriffe der die Mehrheitsentscheidung tragenden Richter. "Thus the contrast is not between substance and form, but rather between substance and effect"43. Eine ganz andere Frage ist es aber, was für substantielle Erwägungen miteinfließen dürfen, um den effect, die wahre Rechtsnatur oder die rechtliche Substanz44 einer Gestaltung zu bestimmen. Hier liegt auch die Bedeutung des Votums von Lord Atkin. Während die unteren Instanzen die Zahlungen "in

40

Dies nur als ausgedachtes Beispiel: bzdJ4slrial Tribunals wurden erst 1964 eingefiihrt.

41 Derartige Fragen spricht Lord Atlein in seiner Analyse an. 42 Dieser Begriff von "subslance" stößt auch in heute vertretenen Auffassungen auf

Zustimmung. So heißt es bei Simon's Taxes, Vol. A., issue 153, TZ A 1.314, S. 239 (looseleaf, update 1991): "Tbe true principle goveming "substance" and "form" is that taxing Acts are to be applied in accordance with the legal rights of the parties of a transaction. It is those rights which determine what is the "substance" of the transactIOn in the correct usage of that term. Reading substance in that way, it is clearly true to say that the substance of a transaction prevails over mere nomenclature. " 43 WJzilemall.OnCapitaIGainsTax(1988).TZ 5-11, S. 60, wobei subslallce hier im wirtschaftlichen Sinne zu verstehen ist. 44 Vgl. Lord Tomiin, (1935) All ER 268 F: "So here the substance is that which results from the legal rights and obligations ... " .

I. Der "traditionelle" Ansatz

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substance" als Löhne ansahen -und dabei offenbar eine Art wirtschaftliche Betrachtungsweise zugrunde legten- hielt Lord Atkin die Zahlungen ihrer wahren Rechtsnatur nach für Löhne. Wie Lord Atkin selbst meinte, werden de facto ähnliche Überlegungen zu diesem gleichen Ergebnis geführt haben45 . Ausschlaggebend kann immer nur sein, ob bestimmte Gesichtspunkte überhaupt berücksichtigt werden, und nicht, unter welcher Überschrift dies geschieht. Wie weit ein Richter gehen kann, um die true nature einer rechtlichen Gestaltung zu erketmen, und wie weit er dabei an die von den Parteien vorgegebenen Formen gebunden ist, geht aus Wesmlinster nicht hervor4 6 • Zwar haben die meisten an der Entscheidung beteiligten Law Lords die wahre Rechtsnatur tatsächlich auf rein formalem Wege gefunden, aber dafür stehen die gegebenen Begründungen nicht. Das eigentliche, in aller Stille zu den Akten gelegte Problem läßt sich auch anhand der von Peter Millett vertretenen ratio aus Westminster verdeutlichen, welche besagt: "1l1e taxpayer is to be taxed by reference to what he has actually done. and not by reference to what he might more naturally have done. but did not do to achieve the same result. "47

Diese scheinbar griffige Formulierung bereitet ungeahnte Schwierigkeiten: Gut, der Steuerzahler soll danach behandelt werden, was er wirklich getan hat. Aber was hat der Steuerzahler wirklich getan? Zahlte er Lohn an seine Angestellten, oder zahlte er aufgrund eines Schuldversprechens? Ist die aufgesetzte Urkunde tatsächlich ein deed of covenant, wie draufsteht, oder ist sie Teil eines Arbeitsvertrages? Wenn die von den Parteien gewählte Form maßgeblich ist, datm ist die Entscheidung einfach. Ist hingegen die wahre Rechtsnatur ausschlaggebend, hängt die Entscheidung davon ab, was für Überlegungen bei deren Bestimmung miteinbezogen werden dürfen. Eine nach der Millett'schen Formel und Westminster vollkonmlen offene Frage. Der Bann von Westminster würde nur eine Argumentation treffen, die sagt, es handelt sich zwar der Form bzw. der wahren Rechtsnatur nach um ein deed of covenant, aber substantiell ist es ein Arbeitsverhältnis, aus dem Lohn gezahlt wird. Aus dem Vorstehenden ergeben sich folgende Aussagen über den

Westminster case:

45 Lord Atkin, (1935) All ER 265 I, 266 A. 46 Das meint Monroe, (1982) BTR 201 mit "the real legal problem quietly shelved for another 40 years or so. " 47 Millert, (1982) LQR 211.

126

B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

(I)

Nach der ratio von Westminster darf ein Steuerzahler nicht aufgrund einer vom übrigen Recht unabhängigen, einer Gestaltung innewohnenden substance besteuert werden. Autonome steuerliche Qualifizierungen werden ausgeschlossen.

(2)

Westminsler besagt allerdings auch nicht, daß allein die von den Beteiligten einer Gestaltung gewählte rechtliche Form entscheidet48 •

(3)

Entscheidend fur die steuerliche Behandlung einer Gestaltung ist nach der ralio von Westminster deren lrue legal posilion49 . Welche Erwägungen jedoch angestellt werden können, um sie zu finden, läßt der Fall offen. Der Umstand, daß die Richter im WeslminslerFall praktisch die eigenen Qualifizierungen des Steuerzahlers übernahmen, wirft ein Licht auf die damalige Rechtsanwendung; fur die ralio der Entscheidung ergeben sich daraus aber keine Folgerungen.

(4)

Negativ erscheint die Folgerung möglich, daß es fur die Beurteilung einer Gestaltung unerheblich ist, ob sie durch ein Steuervermeidungsmotiv beeinflußt wurde50 •

Die aus Westminster gezogene Folgerung, die Besteuerung habe sich nach der von den Parteien bestimmten Form zu richten, hat für lange Zeit -losgelöst von dem Fall, der sie hervorgebracht hat- die Rechtsanwendung beeinflußt. Wie, beschreibt Robert Stevens51 mit folgenden Worten: "The actual conscious or subconscious motives of the law lords in the Weslminsler case provided a fertile field for speculation, but its effects were c1ear. The case finally gave the balance of the advantage to those with resources sufficient to hire the best legal talent, who might then camouflage the substance of their transaction under some formal disguise. It did not, of course, mean that the taxpayer always won in litigation. It did, however, signal that tax litigation had become an arid, semantic (and often antisocial) vicious circ1e, and frequently the result of this was a windfall for the taxpayer. Worse still, the attitude that led the judges to examine form rather than substance proved remarkably difficult to undo even when the legislature did intervene. "

Diese Folgen der Entscheidung sind nur durch das Zusammenwirken dreier Faktoren erklärbar: Zum einen galt auch vor Westminster die in Partington v Attomey General52 begründete rule of strict construction im Steuerrecht. ZUfli zweiten hatte die Mehrheit der Lords in Westminster ein Beispiel davon gegeben. wie sie die true legal position einer Gestaltung bestimmten, nämlich extrem formalistisch. Zum dritten hat sich auch die Mehrdeutigkeit der Begriffe form und substance ausgewirkt: form einmal für die äußere. von den Parteien gewählte Bezeichnung und zum anderen für die wahre Rechtsnatur , und substance einmal für die wahre Rechtsnatur und zum anderen für eine aus

48 Gammie (1991), TZ 2.2, D/6. 49 Lord Russel ofKilloween, S. 270 D; dies stellt auch Whileman, CGT (1988) TZ: 5-12 als eine wesentliche Schlußfolgerung heraus; ebenso Revenue Law Commillee 0/ lhe Law Society, Tax Law in the Melting Pot, London 1985, S. 4. 50 So Whileman, CGT (1988), RZ 5-12. 51 Law and Politics (1979), S. 207 f. 52 (1869) Vol.4 L.R., E. & I. App., S. 100, 122, (HL per Lord Cairns).

I. Der "traditionelle" Ansatz

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wirtschaftlichen Gründen davon abweichende Qualifizierung. Ein einheitlicher Sprachgebrauch besteht heute noch nicht53 • und vielleicht liegt hier überhaupt die Wurzel der auch von McBarnet/Whelan hervorgehobenen Unterscheidung zwischen lawyers' substance und accountants substance54 • Jedenfalls waren es nicht Aussagen in der Entscheidung selbst. sondern die problematischen Folgerungen. welche später daraus gezogen wurden. durch die der Westminster case erst nachträglich zu der tax avoiders charter gemacht wurde. als die ihn Momoe in neuerer Zeit dann fairerweise doch nicht bezeichnen möchte55 . Wie dies geschehen konnte. wird in den entsprechenden Zusanunenhängen dargestellt werden. Auch gegenwärtig enthält die Westnunster-Entscheidung geltendes Recht. Doch die Rechtsprechung hat sich mittlerweile mehrfach erheblich geändert. Daß die Entscheidung trotzdem nie fönnlich overruled wurde. ist im Grunde der beste Beweis dafür. daß sie vieles. was aus ihr herausgelesen wurde. tatsächlich nicht enthält. Jedenfalls darüber. daß ihre Bedeutung zur Zeit nicht klar ist und eine Neubewertung noch aussteht56 • sind SiC~l die meisten interessierten britischen Rechtsgelehrten eitrig. Bei Butterworths wird anhand der weiteren Rechtsprechung bereits der vorsichtige Versuch vorgenommen. die heutige Bedeutung des Falles zu beschreiben. Das Ergeblris (auf das noch einzugehen sein wird) ist mit den hier allein aus dem seinerzeitigen Fall gezogenen Schlußfolgerungen durchaus vereinbar. Den verschiedenen Aspekten der Entscheidung soll durch eine Differenzierung zwischen Westminster approach und Westminster doctrine Rechnung getragen werden: "... it is probably right to distinguish the Westminster doctrine just outlined from a Westminster approach which tended to look not too unfavourable on attemps to avoid tax. "57

Hinzufügen ließe sich noch der Westnlinster myth. um das zu bezeichnen. was dem Fall zu Unrecht zugeschrieben wurde.

3. Die "sham doctrine" In den Fällen Ayrshire und Westminster wurde jeweils die Frage gestreift. ob es sich um echte oder nur zunl Schein eingegangene Gestaltungen handele.

53 Dazu kritisch Butte,.,."orths (1991). TZ 1:05. S. 5. 54 Vgl. McBametIWh.elan. (1991) MLR 848.867. 55 Vgl. MOllroe. (1982) BTR 200. 206. 56 Vgl. Monroe. (1982) BTR 200. 206: R.K. Ashtoll. The Ramsay and Burmah ~ecisions A Reappraisal, in (1983) BTR 221.222: ders .. The Ramsay 'Saga'- Is There Now Light at the End ofthe Tunnel?, in 1988 BTR 482,489: WhitehouseIStuan-Buttle. (1984) LSG 2437. dies. (1991), S. 592, TZ 31.1.-31.20. 57 Buttenvorths (1991). TZ 1:06, S. 7.

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B. Steuerumgehung in der britischen Rechtsprechung

In beiden Fällen wurde letzteres verneint. Im Falle Ayrshire, weil sich wirkliche rechtliche Konsequenzen nach Auffassung des Gerichts nicht leugnen ließen, im Falle Westminster, weil die Steuerbehörden als Prozeßpartei schon selbst eingeräumt hatten, daß der Duke bona fide gehandelt habe, die Gestaltung mithin genuine sei. So wie viele frühere und spätere Fälle auch, veranschaulichen beide Fälle die unveränderte Möglichkeit eines britischen Gerichts, Gestaltungen als unbeachtlich zu verwerfen, wenn sie entweder überhaupt nicht ernstgemeint sind oder wenn sie nur dazu dienen, andere rechtlich wirklich gewollte Gestaltungen zu verbergen. Eine wohl allgemein anerkannte juristische Definition lautet: "A particular document or transaction is genuine if it is not a sham. A sham means acts done or documents executed by the parties which are intended to give the appearance of creating between the parties legal rights and obligations different from the actual legal rights and obligations (if any) which the parties intend to create. "58

Von der Grundidee und den Rechtsfolgen her kommt dies dem deutschen Rechtsbegriff "Scheingeschäft" sehr nahe. Allerdings sagt diese Begrifflichkeit wenig darüber aus, wie sie auf konkrete Fälle angewandt wird: Nur weil eine Rechtskonstruktion von deutschen Rechtsanwendern als Scheingeschäft eingeordnet würde -und dafür gäbe es z.B. in einem Falle wie Westnzinster sicher gute Argumente- muß dies aus der Sicht britischer Rechtsanwender nicht der Fall sein. Das sham-Argument hat es immer gegeben, und deshalb wird es hier der Vollständigkeit halber erwähnt. Es hat aber, obwohl es seitens der Steuerbehörden viel verwandt wurde, vor Gericht selten gehalten59 . "This doctrine has had extraordinarily little scope in United Kingdom tax law", meint Tiley zusammenfassend6o .

4. Exkurs: Westminster im Kontrast zu Gregory v Helvering oder zur Weichenstellung in den USA Unterschiede zwischen britischem und kontinentalem Recht werden häufig auf die verschiedenen Rechtskreise zurückgeführt, wobei dann die britische

58 Zitat aus Simon's Taxes, A 1.315, S. 242; entsprechend auch Snook v London and Wesl Riding IllveSlmenlS Lid. (1967) I All ER 518, 528 (CA, r~r Diplock, U), zustimmend zitiert in W. T. Ramsay Lid. v IRe (1981) STC 181, 189 i, 190 a (HL, Lord Fraser of Tulleybelton); vgl. auch Buuerworlhs (1991), TZ 1:06, S. 6; Ward, Avery fones (u.a.), The Business Purpose Test And The Abuse Of Rights Doctrine, in (1985) BTR 68, 69; ergänzend Mayson (1989), TZ 1.4.2.1., S. 9: "the court will not give effect to transactions which are not bona tide or which are used as a cloak to hide the real transactions. " 59 Buuerworrhs (1991), TZ 1:06, S. 6. Vielfach wird die Frage "sham" oder nicht als reine Tatfrage eingeschätzt. Insoweit wären Gerichte an die Beurteilung der Special Commissioners gebunden, vgl. dazu Milieu, (1982) LQR 209, 215. 60 folzn Tiley, ludicial Anti-avoidance Doctrines: The US Alternatives, in (1987) BTR 180, 195.

I. Der "traditionelle" Ansatz

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case law tradition der kontinentalen civil law tradition gegenübergestellt

wird. Es überrascht nicht, daß mit der grundsätzlich scheinbar so verschiedenen Auffassung über die Bedeutung und Reichweite von Gerichtsentscheidungen eine ebenso verschiedene Auffassung über die Arbeit am Gesetz einhergeht61 . Es fallt leicht, Abweichungen des Rechts und seiner Anwendung durch den anderen rechtlichen Hintergund zu erklären. und sicher sind derartige Erklärungen oft auch zutreffend. Hier besteht allerdings die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Längst nicht alle Unterschiede im jeweiligen Recht lassen sich auf die Verschiedenheit der Rechts-Systeme zurückführen. Eine größere Rolle noch spielt es, daß in bei den lurisdiktionen eine zwar verwandte, aber doch andere Kultur mit zwar ähnlichen, aber doch anderen gesellschaftlichen und politischen Grundentscheidungen besteht. Schon aus dieser durch den Rechtsvergleich begründeten Fragestellung heraus erscheint es sinnvoll. den Blick einmal auf eine andere case law jurisdiction zu werfen, um besser erkennen zu können. welche Unterschiede wohl primär in der Technik der Rechtsanwendung ihre Ursache haben und wo das eigentlich Britische ausschlaggebend ist. Ganz unabhängig davon sind in Großbritannien -auch im Steuerrecht- vergleichende Betrachtungen ilIDerhalb des angloamerikanischen Rechtskreises üblich 62 • So hat die US-Rechtsprechung indirekt auch nicht wenig zu dem späteren Umschwung in der britischen Rechtsprechung in der Behandlung von Steuerumgehungen beigetragen63 . Außer den Gerichten ist auch die britische Rechtswissenschaft auf die USEntwicklung eingegangen und hat daher stanIDlende Argumentationsmuster geprüft und teilweise übernonIDIen. All diese Gründe sprechen für einen kurzen Exkurs ins US-Recht. Daß dies gerade jetzt geschieht, erscheint sinnvoll. weil der Westminster-Fall am deutlichsten die Tremlstelle der Entwicklung in bei den lurisdiktionen markiert.

61 Vgl. Walz. Richterliche Rechtsfindung im Steuerrecht der USA. in StuW 1982. I. 2. der hervorhebt. daß die Fallrechtstradition in der steuerlichen Rechtsanwendung in den USA sehr bedeutend ist. obwohl Steuerrecht auch in den USA Gesetzesrecht ist. 62 Letztlich fußen alle nationalen Rechte dieses Rechtskreises auf dem britischen Recht. Diese gemeinsamen Wurzeln zeigen sich deutlich auch gerade im US-Steuerrecht. Hingewiesen sei dazu wiederum auf Walz. StuW 1982, I ff.: Vieles, was dort über die traditionellen Methoden amerikanischer Gerichte in Steuerf