The aim of this book is to make the extent of modern violence recognizable by the disproportionate enlargement of suppos
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German Pages 1104 [1102] Year 2019
Table of contents :
Cover
Inhalt
Teil 1: Nationalsozialismus
Danksagung
I. Zur Einleitung: Unverhältnismäßige Lektüren
II. Der erste Traum: Zugreisen in die Vernichtung
III. Der zweite Traum: Mit der Eisenbahn in den Ritualmord
IV. Der dritte Traum: Geschichten von Vertreibung
V. Statt einer Zusammenfassung: Züge, Puppen, Gleise heute
Teil 2: Kolonialismus
I. Zur Einleitung: Nachträumen des Unverhältnismäßigen
II. Der vierte Traum: Koloniale Gewaltherrschaft
III. Statt einer Zusammenfassung: Ständer und Exoskelett. Überlegungen zur Figur des Trägers in Becketts En attendant Godot
Teil 3: Kalter Krieg
I. Zur Einleitung: Methodik und inhaltlicher Überblick
II. Der fünfte Traum: Das atomare Inferno
III. Der sechste Traum: Fallbeil auf Knopfdruck
IV. Statt einer Zusammenfassung: Lösungen des Sowieso
Bibliographie
Register
Inhaltsverzeichnis
Anne D. Peiter Träume der Gewalt
Lettre
Anne D. Peiter (Dr. habil.), geb. 1973, ist Germanistikdozentin an der Universität von La Réunion (Frankreich). Als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes promovierte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde an der Sorbonne Nouvelle habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der modernen Gewalt vom Kolonialismus bis zum Kalten Krieg sowie Shoah- und Exilliteratur.
Anne D. Peiter
Träume der Gewalt Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg
Die Drucklegung des Werkes wurde unterstützt durch den Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort sowie durch die beiden Forschungszentren CEREG (= Centre d‘Etudes et de Recherches sur l‘Espace Germanophone, Université Sorbonne Nouvelle - Paris III) und DIRE (Déplacements, Identités, Regards, Ecritures, Université de La Réunion).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Nicole Bloch, geboren am 12.1.1939, deportiert am 31.7.1943. Foto aus: Serge Klarsfeld: Le mémorial des enfants juifs déportés de France, Paris: Fayard 2001, S. 513. Die Autorin dankt der Familie Bloch sowie Serge Klarsfeld für die Abdruckgenehmigung. Lektorat: Anne D. Peiter Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen und Italienischen: Anne D. Peiter Satz: Katia Auzoux, Marie-Pierre Rivière, Sabine Tangapriganin (= BTCR der Universität von La Réunion) Druck: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg Print-ISBN 978-3-8376-4567-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4567-9 https://doi.org/10.14361/9783839445679 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhaltsübersicht
Träume der Gewalt. Nationalsozialismus I. II. III. IV. V.
Zur Einleitung: Unverhältnismäßige Lektüren | 13 Der erste Traum: Zugreisen in die Vernichtung | 41 Der zweite Traum: Mit der Eisenbahn in den Ritualmord | 215 Der dritte Traum: Geschichten von Vertreibung | 271 Statt einer Zusammenfassung: Züge, Puppen, Gleise heute | 353
Träume der Gewalt. Kolonialismus I. II. III.
Zur Einleitung: Nachträumen des Unverhältnismäßigen | 385 Der vierte Traum: Koloniale Gewaltherrschaft | 433 Statt einer Zusammenfassung: Ständer und Exoskelett. Überlegungen zur Figur des Trägers in Samuel Becketts En attendant Godot | 679
Träume der Gewalt. Kalter Krieg I. II. III. IV.
Zur Einleitung: Methodik und inhaltlicher Überblick | 735 Der fünfte Traum: Das atomare Inferno | 775 Der sechste Traum: Fallbeil auf Knopfdruck | 989 Statt einer Zusammenfassung: Lösungen des Sowieso | 997
Träume der Gewalt Teil 1: Nationalsozialismus
Für Duccio
Danksagung
An diesem Buch haben viele Menschen mitgetragen. Ihnen möchte ich hier im vollen Bewusstsein der Bedeutung des Wortes meine Dankesschuld ab-tragen. Ohne die künstlerische Arbeit und das jahrelange, produktive Querdenken meines Mannes Duccio Fumo hätte das Buch nicht entstehen können. Meine Kinder Irene und Michelangelo haben durch die Frische ihrer oft gar nicht kindlichen Fragen zur Entstehung der Fotoausstellung (und vielem mehr) beigetragen, die der Geschichte des kolonialen Trägerwesens gewidmet ist. Ich danke außerdem meinen mitdenkenden und gegenlesenden FreundInnen Inge Stephan, Birgit Dahlke, Klaus Werner, Katja Schubert, Anne-Marie Sebera, Hélène Yèche, Béatrice Pellissier und Andreas Girbig für ihr Gefühl des richtigen Maßes und ihre klugen Korrekturvorschläge. In Bezug auf die bibliographischen Recherchen und die gar nicht so einfache Heranschaffung von Büchern bis in den Indischen Ozean danke ich der Bibliothek meiner Universität, besonders Pauline Grebert und Sylvie Mastagli. Das Layout des Buches ist mit ebenso viel Umsicht wie Professionalität von Marie-Pierre Rivière hergestellt worden. Der Universität von La Réunion und dem Forschungszentrum DIRE sei für das Forschungsfreisemester gedankt, in dem dieser Band fertig gestellt werden konnte. Als Forscherin auf einer kleinen Insel bestehende Wissensinseln zu erweitern, ist nur möglich, wenn man mitunter ein wenig über den Inseltellerrand hinüberschauen darf. Doch gleichzeitig ist es eben dieses kleine Stück Erde im Indischen Ozean, das mich mit seiner von Sklaverei und Gewalt geprägten Vergangenheit überhaupt hat wach werden lassen in Bezug auf Unverhältnismäßigkeiten, von denen mir bis dahin nichts träumte. Es sei also auch meiner Insel gedankt – und ihrer keineswegs peripherischen, studentischen Jugend. Gero Wierichs vom transcript-Verlag war wieder einmal ein Berater, wie man ihn sich besser nicht hätte wünschen können. Das wird, wenn er’s erlaubt, auch in Zukunft so bleiben. Jürgen Ritte hat sich durch die weite Entfernung zwischen Paris und La Réunion und die Umfänglichkeit des Buches nicht davon abschrecken lassen, diese Habilitation zu betreuen. Ihm sei für seine Unterstützung nicht nur maßvoll-zurückhaltend, sondern vielmehr – es sei mir gestattet – mit dem herzlichsten Unmaß gedankt.
I. Zur Einleitung: Unverhältnismäßige Lektüren
UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT Das vorliegende Buch ist ein Beispiel für Unverhältnismäßigkeit. Es geht aus von einem Hörspiel, das erstmals Anfang der 1950er Jahre vom Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde – Träume, geschrieben von Günter Eich. Die Buchfassung dieses Hörspiels beträgt keine 50 Seiten. Doch ihre Analyse nimmt Raum ein. Viel Raum. Unverhältnismäßig viel? Das ist zu hoffen, denn die Lektüre, die vorgeschlagen wird, zielt nicht eigentlich darauf, sich und andere LeserInnen zu den Träumen ins Verhältnis zu setzen. Vielmehr möchte sie auf kleine und kleinste Motive, Anspielungen, mitunter gar auf einzelne Worte mit Unverhältnismäßigkeit antworten: „Entstellungen in Richtung Wahrheit“.1 Unverhältnismäßigkeit bedeutet, dass, obwohl doch das Lesen von Schrift etwas Planes, Zweidimensionales ist, die Annäherung an die Träume auf eine dritte Dimension angewiesen ist: Über einzelnen Worten türmt sich die Analyse, wie ein Berg. Das Nachdenken über den eichschen Text ist gleichsam unfähig, sich mit der Fläche des Papiers zu begnügen, das ihm zur Verfügung steht. Es nimmt das von Eich Gedruckte zum Anlass, Bausteine zu so etwas wie einer Interpretation zusammenzutragen und sie (nämlich die Steine) über den einzelnen Motiven, Anspielungen, Worten übereinanderzuschichten, höher und höher. Diese Anhäufung ist jedoch derart exzessiv, dass der Ausgangstext unter ihnen begraben wird: Die Träume verschwinden unter der Interpretation, statt durch sie klarer hervorzutreten. On couvre au lieu de découvrir. Die Interpretation bringt den Text nicht ans Licht, sondern nimmt ihm dieses. Die Analyse zielt, mit anderen Worten, darauf, auf dem Text zu lasten, ihn zu belasten, und nicht etwa darauf, dem Autor oder dem, was er geschrieben hat, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nicht umsonst ist der Begriff der „Unverhältnismäßigkeit“ ein juristischer. Im Kontext von Prozessen bedeutet er, dass eine Strafe, die nach Analyse der belastenden Beweise über eine Person verhängt wird, in keinem Verhältnis zur Schwere der von ihr begangenen Tat steht. Unverhältnismäßigkeit impliziert also Ungerechtigkeit. Eine
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Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, München 2009, Bd. 1, S. 86; künftig zitiert als: Anders: Antiquiertheit. – Wie bei diesem wird von der These ausgegangen, „dass es Erscheinungen gibt, bei denen Überpointierung und Vergrößerung sich nicht vermeiden lassen; und zwar deshalb nicht, weil sie ohne diese Entstellung unidentifizierbar und unsichtbar bleiben würden“. Ebd., S. 15.
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Strafe darf nicht unverhältnismäßig sein, sie muss versuchen, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem, was zur Beurteilung steht, und dem, worin das Urteil besteht. Die vorliegende Interpretation vergeht sich in diesem Sinne am Recht. Sie ist sich bewusst, die Dinge zu schwer zu nehmen. Sie weiß, dass sie Eich unverhältnismäßig ernst nimmt. Zwar ging es dem Autor um Ernstes – die Atmosphäre, die in allen sechs Träumen herrscht, beweist das –, doch die Interpretation nimmt selbst Details ernst, die für die Beweisführung gar nicht relevant sein dürften. Und damit nimmt die Beweisführung vielleicht gar nicht Eich ernst, sondern etwas anderes, von dem er selbst nicht wusste. Das mag es sein: Dass sie sich an Details festbeißt, die mit dem vorliegenden Tatbestand nichts zu tun haben. Vielleicht geht sie sogar so weit, den Tatbestand künstlich herbeizuführen? Doch würde das nicht bedeuten, dass sie den Text selbst schreibt und recht eigentlich die Tat erst begeht? In jedem Fall ist die Konsequenz, die sich aus der Unverhältnismäßigkeit des Anspruchs ergibt, das Nebensächliche zur Hauptsache zu machen, eine dramatische: Der Text von Eich weiß nicht, wie ihm geschieht. Er findet sich in den Beweismaterialien, die ihm vorgehalten werden, nicht wieder. Er sieht sich durch die Schwere der Anklage, die gegen ihn gerichtet ist, erdrückt. Er weiß, dass die Unverhältnismäßigkeit dessen, was der Interpret in Folge seiner Interpretation dem Text auferlegt – Steine über Steine –, ihn in gewisser Weise entlastet: Anklage und Bestrafung beziehen sich, wenn überhaupt, nur peripher auf ihn. Die Interpretation hat mit ihm nur mittelbar zu tun. Daraus ergibt sich, dass die Unverhältnismäßigkeit, die im Berg der über dem Text aufgehäuften Steine zu ihrem Symbol findet, gegen die Interpretation selbst zurückschlägt. Sie spricht sich, weil sie alles zu ernst nimmt, selbst ihr Urteil. Der Eindruck entsteht, dass sie es ist, die den ersten Stein wirft. Auf der anderen Seite ist die Problematik des Ernstes etwas, was der Interpretation voll bewusst ist. Sie weiß, dass sie unverhältnismäßig auf den Text reagiert. Ja mehr noch: Sie weiß, dass sie in gewisser Weise gar nicht auf den Text reagiert, sondern dass winzigste Anlässe zu einem Ausbruch führen, den die Interpretin selbst zu verantworten hätte. Diese Verantwortung wird übernommen. Zur Grundannahme der vorliegenden Analyse gehört es nämlich, dass das Buch in ,Wirklichkeit‘ gar keines über Günter Eich ist, sondern vielmehr eines über unterschiedliche Facetten der Gewalt in der deutschen (und europäischen) Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Es geht um Kolonialismus und Genozid, um Krieg und Vernichtung, um Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Die Träume sind nichts als der Auslöser für ganz Anderes. Das Buch beschäftigt sich mit vielen anderen Autorinnen und Autoren, mit historischen Zeugnissen und Dokumenten, die stets mehr Raum einnehmen als der literarische Ausgangstext selbst. Doch weil das so ist, rechtfertigt sich letzten Endes doch, warum die Analyse so unverhältnismäßig reagiert: Weil die Trilogie über Eich in Wirklichkeit nicht so sehr oder vielleicht auch gar nicht eine Trilogie über ihn ist, sondern eine über Kolonialismus und Genozid, Krieg und Vernichtung, ist der übertriebene Ernst keineswegs übertrieben, sondern stets noch zu schwach, unzureichend und keineswegs vermessen. Unverhältnismäßig ist zu reagieren, weil die historischen Ereignisse, an denen sich die Literatur und dann auch die Wissenschaft von ihr abarbeiten, alle bisherigen Verhältnisse gesprengt und zerstört haben. Die Analyse häuft Stein auf Stein, bis hin zum Moment, in dem der Text erdrückt wird, weil das, wovon zu sprechen ist, selbst so erdrückend und unverhältnismäßig ist. Die Verhältnismäßigkeit der Bestrafung kann nicht länger existieren, weil bestimmte Verbrechen die
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Idee von Bestrafung (als Bestrafbarkeit, als Möglichkeit, zu einer Antwort auf die Taten zu finden) selbst zunichte gemacht haben. Dass die Literatur diesen Umstand zu bedenken hat, das gehört zu den Grundüberzeugungen der vorliegenden Essays. Und weil Günter Eich diesen Umstand vielleicht nur in Ansätzen bedacht hat, ist dieses Buch dann doch auch ein Buch über ihn.2 Und wenn es auch unmöglich sein mag, dem, was dort geschehen ist, auf direkte Art (entschuldige das Wort) „gerecht zu werden“, indirekt werden wir dem doch dadurch „gerecht“, dass wir, worüber wir auch sprechen mögen, gewissermaßen immer abrutschen und dieses Geschehen mitmeinen oder immer bei dem Namen des berühmten Ortes landen. Alle Wege führen nach Auschwitz.3
METHODISCHE ANLEIHEN LITERARISCHPHILOSOPHISCHER ART Sozusagen „literarisch-philosophisch“ sieht sich das Buch in erster Linie drei Autoren verpflichtet. Die Arbeit ist, erstens, ohne das Vorbild Walter Benjamins nicht zu denken: Sein Passagen-Werk ermutigte meinen Versuch, Kapitel, die im engeren Sinne dem eichschen Hörspiel gelten, kantig (will heißen: in gewisser Weise übergangslos) neben Analysen zu stellen, die mit vollkommen anderen Texten befasst sind. Verbindungen werden im Einzelnen nicht immer ausgeführt, Textbrücken nur andeutungsweise angeboten. Ich vertraue demnach auf die gedankliche Teilnahme der Leserschaft und ihre Fähigkeit, selbst den historischen Funken hervorzubringen, indem sie die Blöcke des Textbaus kräftig gegeneinander schlägt. Es ist unübersehbar, dass mein Versuch, vor allen Dingen gelungene Textkanten hervorzubringen, erhebliche Schwierigkeiten für die Leserschaft mit sich bringt – die Kraft, aus der scheinbaren Unverbundenheit etwas zu machen, muss sie aufbringen. Doch gleichzeitig hoffe ich, dass die Materialien, die fast zitatartig nebeneinander gesetzt werden, ihre Zusammengehörigkeit erweisen: als benjaminscher Blitz, hin zu neuen und hoffentlich intensiven Erkenntnissen. Gebeten wird also um die Bereitschaft, mir auf einem gedanklichen Pfad zu folgen, der stets von Neuem „von einer Straße abzweigt und nicht mehr zurückkehrt.“4 Weil die Ausführlichkeit der Interpretation bestimmter Motive von Eich mit der Nichtigkeit der Anlässe wächst, ist eine wesentliche Unverhältnismäßigkeit gerade da zu erwarten, wo sie keinen Grund zu haben scheint.
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Mein Ziel folgt dem, was Rudolf Stichweh als Aufgabe der Wissenschaft beschreibt: das die Dinge (oder Texte) Fremd-werden-Lassen: „Die eigentliche wissenschaftliche Leistung ist, das als immer schon vertraut Erfahrene in den Modus der Fremdheit zu versetzen. Insofern könnte ein Wissenschaftler nichts Falscheres tun, als sich gegen den Vorwurf zu wehren, er sei ‚welt-fremd‘.“ Rudolf Stichweh: Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 2010, S. 85; künftig zitiert als: Stichweh: Fremde. Günther Anders: Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966. Nach „Holocaust“ 1979, München 1979, S. 108; künftig zitiert als: Anders: Hades. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 907; künftig zitiert als: Musil: Mann.
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Der zweiter Autor, dem ich mich verpflichtet fühle, ist Karl Kraus. Er hat gleich in zweierlei Hinsicht Spuren hinterlassen: Zum einen hat mich seine Kunst des Zitierens (die mitunter ohne jeglichen Kommentar auskommt) über Jahre hinweg begleitet. Zitieren ist eine Art, neue Lesbarkeiten herzustellen – durch bloße Wiederholung, die aber eben im Identischen durchaus nicht Identisches hervorbringt, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit erstmals zu angemessener (will heißen: übertriebener) Höhe steigert. Und zweitens muss Kraus aufgrund der Genauigkeit, mit der er einzelnen Worten, Formulierungen oder gar „nur“ der falsch gesetzten Interpunktion fremder Texte nachlauscht, als Autor der „Unverhältnismäßigkeit“ par excellence betrachtet werden. Von ihm habe ich auch, was man, eine musilsche Formulierung übernehmend, den „perforierte[n] Ernst“5 nennen könnte: ein Ernst, in den jederzeit Ironie einsickern kann. Auch ich möchte den „Körnerhaufen des Wissens“6 nicht nur ein wenig umgraben, sondern durch Übertreibungen, die mitunter durchaus Lachen auszulösen vermögen, Erkenntnismomente stiften. Als dritter Gewährsmann gilt mir ein weiterer Österreicher, nämlich der schon zitierte Robert Musil. Seine Suche nach größter Strenge gegenüber den eigenen Gefühlen – die berühmte „Genauigkeit der Seele“ – erscheint mir mit Blick auf die Katastrophen, die das 19. und mehr noch: das 20. Jahrhundert hervorgebracht haben, unabdingbar zu sein. In Anlehnung an Musils Forderung, Gefühle und mystische Erlebnisse, Ich-Wahrnehmung und das Verhältnis zur Natur, politische Konzeptionen und ihre Umsetzung in Sprache müssten auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden ihrer Zeit sein, werde ich versuchen, die Literatur mit dem, was man hier schon einmal – wenn auch nur versuchshalber – die „Wirklichkeit“ nennen könnte, in Beziehung zu setzen. Mein Ziel ist es, nichts leicht zu nehmen – es also auch der Literatur nicht leicht zu machen. „Genauigkeit der literarischen Imagination“ als Echo auf Musils „Genauigkeit der Seele“ soll mein Programm sein. In meinen Analysen wird der Literatur die Kraft zugetraut, sich mit der Wirklichkeit von Kolonialismus, Krieg und Genozid auf eine Weise auseinanderzusetzen, die an Unverhältnismäßigkeit dieser „Wirklichkeit“ nicht nachsteht. Doch wo diese Unverhältnismäßigkeit – die sehr verschiedene Formen annehmen kann – ausbleibt, da wird die „Wirklichkeit“ zur Kritik an der Literatur. Wichtige Anregungen sind, wie man sieht, von der Literatur ausgegangen. Doch dies ist keine Abwendung von spezifisch literaturwissenschaftlichen Methoden. Vielmehr fließt das, was ich bei Benjamin, Kraus und Musil gelernt habe und was sich durch die Lektüre von Charlotte Delbo, Imre Kertész, Hannah Arendt, Jorge Semprun, Ruth Klüger, Günther Anders, Peter Weiss, Jean Améry, David Rousset, Robert Antelme, Primo Levi und anderen mit den Jahren zu einer eigenen Methode gebündelt hat, in das, was mich an literaturwissenschaftlichen Vorbildern beeindruckt hat, ein. Meine Unverhältnismäßigkeiten sind ein Beitrag zur diskursanalytischen Untersuchung der Geschichte des Kolonialismus, der Shoah und des Kalten Krieges. Neu und anders ist nur, dass ich bei der Darstellung diskursiver Felder nicht im Gleichgewicht zu bleiben versuche, sondern ,tendenziös‘ verfahre. Damit will ich sagen, dass ich Diskurse, die der Literaturmarkt hervorgebracht hat, stets von Neuem zum Kippen bringe, und zwar durch die polemische Stoßrichtung, mit der ich 5 6
Ebd., S. 636. Ebd., S. 693.
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Vergleiche zu den Diskursen anderer Felder ziehe. Dieses „Kipp-Phänomen“ weist dann mitunter den ironischen Unterton auf, den man mit dem Begriff seit Wolfgang Iser verbindet. Die Ironie ist bei mir jedoch stets nur eine Art, zum Ernst der Katastrophen, um die es mir in meinem Buch geht, hinzuführen. Insofern ist die Unverhältnismäßigkeit auch aus dem Schreibstil, den ich seit meinen Arbeiten zum Zusammenhang von Komik und Gewalt zu entwickeln versuche, nicht wegzudenken.7
METHODISCHE ANLEIHEN KULTURWISSENSCHAFTLICHER ART In Bezug auf die heutige Forschungslandschaft versucht das Buch, methodisch an Ränder vorzustoßen. Das heißt hier vor allem: an die Ränder von Texten. Die Ausweitung des Textbegriffs, der sich seit dem linguistic turn durchgesetzt hat, hat dazu beigetragen, den kritischen Blick auf die ‚großen Erzählungen‘ und ‚Meisterparadigmen‘ zu schärfen, und hat zugleich gezeigt, dass „sprachliche Codierungen […] immer schon den eigenen Intentionen von Handelnden (als der vermeintlich eigenständigen inneren, mentalen Welt) vorgeordnet“ sind.8 Einerseits versteht sich mein Buch als Beitrag zur Exemplifizierung und Bestätigung dieser These. Es fühlt sich diskursanalytischen Methoden verpflichtet, steckt anhand unterschiedlicher Arten von Texten (nämlich Romanen, Gedichten, Songtexten, wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Veröffentlichungen, Werbung, Propagandaschriften, politischen Reden, Erzählungen, Theaterstücken, Hörspielen, Briefen, Ego-Dokumenten, Fotos und vielem mehr) den Raum ab, in dem Gewalt im Kolonialismus, im Nationalsozialismus und im Kalten Krieg diskutiert, verhandelt und – wichtiger noch! – sprachlich überhaupt erst hervorgebracht (also ‚produziert‘) wurde. Andererseits fühle ich mich jedoch ganz so wie die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick getrieben von einem Unbehagen gegenüber Konzeptionen, die die Herstellungsbedingungen von Texten weitgehend ausblenden und für die „nicht textualisierbaren Überschüsse des Kulturellen (Sinneswahrnehmungen9, Geräusche, Gerüche, Stimmen) sowie die erheblichen materiellen Anteile von Kultur“10 kein Gespür haben. Wenn die vorliegende Untersuchung als ‚kulturwissenschaftliche‘ rubriziert werden will, dann muss sie den Textbegriff differenzieren und sehen, wo man
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Vgl. dazu: Anne D. Peiter: Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah, Köln 2007; künftig zitiert als: Peiter: Komik. Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 35; künftig zitiert als: Bachmann-Medick: Cultural turns. Zum Zusammenhang von Sinneswahrnehmungen und Emotion siehe: Hans-Ulrich Wehler: „Emotionen in der Geschichte. Sind soziale Klassen auch emotionale Klassen?“, in: Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, hg. von Christof Dipper, Lutz Klinkhammer und Alexander Nützenadel, Berlin 2000, S. 461-473, besonders S. 265. Interessant scheint mir hier der Hinweis auf den Begriff „Affektspeicher“ zu sein, „die Gefühlserinnerungen aufbewahren und Emotionen immer aus Neue in Gang setzen können [...].“ Ebd., S. 465. Bachmann-Medick: Cultural turns, S. 35.
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– und damit bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt – an seine Ränder gerät. Bachtins dialogisches Prinzip wird gleichsam über die Texte hinaus verlängert, hinein in materiell-körperliche Welten und ‚Wirklichkeiten‘, zu denen in meinem Kontext zentral Gewalt ausübende – und erleidende – Menschen gehören. Denn dies ist das Zentrum meines Buches: Gewalt in ihren extremsten Formen, das Problem ihrer Darstellung und die schwierige Frage nach dem Zugang zu ihrer ‚Wirklichkeit‘. Die Gewalt, auf die ich mich beziehe, ist die, von der Enzo Traverso schreibt: D’une part, le caractère à la fois soudain et massif de la Shoah qui, en trois ans, a pulverisé une histoire séculaire d’émancipation, d’assimilation et d’intégration des juifs au sein des sociétés européennes, remet en cause les paradigmes de l’histoire structurale. D’autre part, en tant qu’aboutissement paroxystique (quoique non inéluctable) d’un ensemble de tendances remontant au XIXe siècle et accentuée par la Grande Guerre – antisémitisme, colonialisme, contrerévolution, massacre industriel –, l’extermination nazie exige une approche fondée sur l’analyse des temps longs.11 Auf der einen Seite stellt der ebenso plötzliche wie massive Charakter der Shoah, die in drei Jahren eine jahrhundertealte Geschichte der Emanzipation, Assimilation und Integration der Juden in die europäischen Gesellschaften vernichtete, die Paradigmen der Strukturgeschichte in Frage. Auf der anderen Seite macht die nazistische Vernichtungspolitik als paroxystisches (wenngleich keineswegs unumgängliches) Ergebnis eines Bündels von Tendenzen, die auf das 19. Jahrhundert zurückgehen und durch den Ersten Weltkrieg verstärkt worden sind – Antisemitismus, Kolonialismus, Gegenrevolution, industrielles Massaker –, eine Herangehensweise erforderlich, die sich auf die Analyse längerer Zeiträume bezieht. [Übersetzung A.P.]
Meine These besagt, dass diese Art von Gewalt – die Massenmorde der modernen, europäischen Geschichte – zu den „Überschüssen“ zählt, die stets von Neuem das Problem der ‚Vertextbarkeit‘ menschlicher Erfahrung aufwerfen. Die Untersuchung von ‚Codierungen der Gewalt‘ ist wichtig, doch darf darüber nicht in Vergessenheit geraten, dass die Gewaltopfer nicht so sehr mit der Frage befasst gewesen sind, welchem ‚Code‘ sie jeweils unterworfen wurden, d.h. wie diese beschaffen und durch das jeweilige gesellschaftlichspolitische System hervorgebracht worden waren, sondern dass dies der Fall war. Welt und Wirklichkeit war, was der Fall war: Verfolgung, Folter, Tod – die Vernichtung ganzer Kulturen und Völker. Weil die Tatsächlichkeit des erwähnten „das“ schwer zu definieren ist, sind meine Überlegungen einer methodischen Vielfalt verpflichtet. Diese scheint mir notwendig zu sein, weil das Problem der Gewalt, das mit Eichs Hörspiel zur Untersuchung steht, seinerseits so vielfältig ist. Das Hörspiel gewinnt sein Interesse überhaupt erst durch seine ‚Positionalität‘ gegenüber der Komplexität ganz unterschiedlicher, kultureller (und materieller) Hervorbringungen, also nicht allein durch das, was man früher noch als bloßen – hier extrem gewalttätigen – ‚Kon-Text‘ von Texten ansah. Anders gesagt: Texte stehen nicht einfach ‚über‘ ihren Kontexten, so dass diese zu einer Art sekundärem, gleichsam ‚dienendem‘ Erklärungsmaterial für Texte würden, sondern vielmehr bilden Texte und ‚Kontexte‘ komplexe, historische Gewebe. Die methodische 11
Enzo Traverso: L’histoire comme champ de bataille. Interpréter les violences du XXe siècle, Paris 2011, S. 11.
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Konsequenz: Ich übe mich in der Radikalisierung einer ‚klassischen‘ Methode, die als close reading bezeichnet wird und eigentlich an die Konzentration auf den Einzeltext gebunden zu sein pflegt. Bei mir wird jedoch dieses Lesen zu einem closest reading (mithin zu einem Übermaß an Genauigkeit) gemacht, und durch dieses entstehen die Schnittstellen zu Anderem, ‚Textfremdem‘. Durch die Entscheidung zugunsten eines Lesens, das Texte nicht nur misst und vermisst, sondern das selbst auf bewusst vermessene Weise vorgeht, entsteht nämlich zunehmende Distanz zu den Texten selbst. Unverhältnismäßiges Lesen ist vermessen (und doch angemessen), weil es mehr an den Grenzen von Texten interessiert ist, also an ihrer interpretativen Dezentrierung, und nicht mehr allein am Einzeltext. Ich mut-maße über Möglichkeiten des Lesens und Schreibens, weil hier Grenzen (z.B. Vor- und Darstellbarkeitsgrenzen) stets neu ausgemessen werden müssen. Das geschieht jedoch im Wesentlichen über die Analyse von sprachlichen Dokumenten, die gegeneinander gehalten und ineinander geschoben werden, um auf diese Weise reflexive Reibungsflächen und Annäherung an ‚Wirklichkeiten‘ hervorzubringen, die dann doch oft wiederum sprachliche sind. Wenn ich (und damit komme ich zu meiner dritten und vierten Methode) den Körpern so viel Aufmerksamkeit schenke, die da im 19. und 20. Jahrhundert zum Objekt der unterschiedlichsten Gewalt- und Tötungspraktiken gemacht worden sind, dann nehme ich zum einen ein zentrales Thema der kulturwissenschaftlichen Forschung und der gender studies auf, versuche zum anderen aber auch auszuloten, wie diese Körper zu dem werden, was Giorgio Agamben das „nackte Leben“ genannt hat.12 Ist bei den extremsten Formen von Gewalt nicht eine Grenze erreicht, wo an den kulturwissenschaftlichen Textbegriff neue, skeptische Kriterien angelegt werden müssen? Der sich auf Sprache gründende Konstruktivismus von ‚Wirklichkeit‘13 ist
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Aleida Assmann interpretiert diesen Begriff als die „grausame Hervorkehrung dieser Minimalstufe der Existenz“. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006, S. 111; künftig zitiert als: Assmann: Einführung. Bezug genommen wird auf: Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. Weiterhin einflussreich: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Siehe darin besonders den theoretischen Vorspann und die Unterscheidung der folgenden Konzepte: „Das mimetische Gedächtnis“ (vgl. S. 20), „Das Gedächtnis der Dinge“ (vgl. S. 20), „Das kommunikative Gedächtnis“ (vgl. S. 20-21), „Das kulturelle Gedächtnis“ (vgl. S. 21). Diese Konzepte sind für mein eigenes Nachdenken wichtig geworden. Marian Füssel und Tim Neu haben dafür eine gute Formulierung gefunden: „In Form von Diskursen erzeugt Sprache die Gegenstände der sozialen Wirklichkeit. Diskurse produzieren damit wahres Wissen, aber eben nicht, weil sie die Realität korrekt darstellen, sondern weil sie die Realität performativ herstellen […].“ Marian Füssel und Tim Neu: „Diskursforschung in der Geschichtswissenschaft“, in: Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Theorien, Methodolgien und Kontroversen, hg. von Johannes Angermüller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem, Bd. 1, Bielefeld 2014, S. 145-161, Zitat S. 150. Bezug genommen wird auf: Bublitz, Hannelore: „‚Geheime Raserei und Fieberstürme‘. Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie“, in: Martschukat,
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mit dafür verantwortlich, dass das Dasein der Opfer zu einem „nackten“ wird. (Rassistische Zuschreibungen, d.h. die ‚Rassifizierung‘ von Körpern sind ein Beispiel dafür.14) Zugleich gilt aber auch, dass die Opfer in dieser Nacktheit ganz zum Körper wurden, zu einer „wimmernde[n] Todesbeute“15, zur leidenden, kaum noch zum Schrei fähigen Kreatur, der jede Hilfserwartung, jedes „Weltvertrauen“ – und damit jede Hoffnung auf Verständigung mit dem Mitmenschen – ausgetrieben, aus dem Leib getrieben wurde. Auch um oft stumme, mehr noch: verstummte Körper geht es. Ich glaube, dass diese „Verfleischlichung des Menschen“16 der Ausgangspunkt sein muss für alles, was man heute über mit solchen Erfahrungen befasste Texte zu sagen hat. Es gibt kein Sprechen über die Wirklichkeit der Gewalt, die die Wirklichkeit ‚direkt‘ erreichen, sie sozusagen ‚unvermittelt‘ sein könnte. Und doch gibt es, so glaube ich, unterschiedliche Grade bei der Annäherung von Texten an die ‚Unverlierbarkeit‘ der Einsamkeit der Erfahrung: „Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen.“17 Natürlich muss versucht werden, darüber dann doch etwas zu sagen, z.B. literarisch, doch diese Versuche, die Erfahrungen von Opfern zu lesen und dann irgendwie doch, über die Erfahrungsgrenze hinweg, zu verstehen, heißt, sich nicht an bloße Textualisierungs-Spiele zu verlieren, sondern mit dem ganzen Ernst zu lesen, der auch die Zeugnisse vieler Gewaltopfer selbst kennzeichnet. Ich halte es mit Oliver Marchart: „Eine Cultural Studies-Analyse , die die Kategorie der Macht nicht in den Blick bekommt, ist keine.“18 In den Blick gerät hier notwendig, was Marcel Mauss als „Körpertechniken“ bezeichnet hat und hier als Methode zur Sicherung von Macht zu definieren wäre.19 Meine Lese-„Technik“ aber besteht darin, der Unverhältnismäßigkeit dieser Macht meine eigene, lesende Unverhältnismäßigkeit entgegen zu setzen.
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Jürgen (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/M. 2002, S. 29-41, besonders S. 36-38. Den Ausdruck übernehme ich von Oliver Marchart. Dieser argumentiert: „‚Rasse‘ ist ‚eine virtuelle Realität, der Bedeutung durch den Umstand gegeben wird, dass Rassismus andauert‘. Genau deshalb sollte man die Rede von ‚Rasse‘ aufgeben und besser von Rassifizierung als Prozess der Zuschreibung einer rassifizierten Identität durch rassistische Diskurse sprechen.“ Oliver Marchart: Cultural Studies, Konstanz 2008, S. 189-190; künftig zitiert als: Marchart: Cultural Studies. Jean Améry: „Tortur“, in: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (= Bd. 2 der Werkausgabe), Stuttgart 2002, S. 46-73, Zitat S. 78; künftig zitiert als: Améry: „Tortur“. Ebd., S. 74. Ebd. Marchart: Cultural Studies, S. 33. „I made, and went on making for several years, the fundamental mistake of thinking that there is technique only when there is an instrument. […] The body is man’s first and most natural instrument.“ Marcel Mauss: „Body techniques“, in: ders.: Sociology and Psychology. Essays (1950), London 1979, S. 95-119, Zitat S. 104; hier zitiert nach: Assmann: Einführung, S. 109. („Ich machte einen grundlegenden Fehler und wiederholte diesen über mehrere Jahre, weil ich dachte, dass Technik nur da existiert, wo es ein Werkzeug gibt. […] Der Körper ist des Menschen erstes und natürlichstes Werkzeug.“ [Übersetzung A.P.])
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Mein Buch ist sich dabei der Kanondebatten bewusst, durch die – zu recht! – die Vorherrschaft bestimmter Texte in Frage gestellt und die auf Macht basierenden Bedingungen ihres Autoritätsanspruches untersucht wurden. Zugleich betrachte ich kulturwissenschaftliche Annäherungen an die ‚Wirklichkeit‘ von Gewalt jedoch nicht als eine ‚demokratisierend-egalisierende‘ Einebnung von Unterschieden zwischen unterschiedlichen Texten oder, allgemeiner, zwischen kulturellen Äußerungsformen überhaupt. Meine Analysen versuchen auszuloten, wo die ‚Wirklichkeit‘ von Schmerz, Verfolgung und Tod im Text sozusagen nur Text ist (nämlich so etwas wie ein reines, ‚wirklichkeits‘-entleertes Spiel) – und wo ein Text mehr ist als dies. Ein eindeutiges Kriterium für den ‚Wirklichkeitsgehalt‘, dieses ‚Mehr‘ gibt es nicht.20 Dennoch kann gerade im Kontext von Krieg und Genozid auf die kritische Betrachtung von Kultur und Sprache nicht verzichtet werden. Die Kulturwissenschaft ist, wie Oliver Marchart zu recht betont hat, weniger durch ihre Untersuchungsgegenstände definiert, als vielmehr durch eine politische Haltung, eine Tendenz zur kritischen Analyse.21 Insofern ist es mir besonders in der Untersuchung von Science-Fiction-Romanen zum Atomkrieg ein Anliegen, die herrschaftsstabilisierende Funktion von Literatur anschaulich zu machen und damit ihre fehlende Kritikfähigkeit. Die diskursanalytische Ausfaltung des Themas „Bunker“, wie es in einer Reihe von Texten von westdeutschen und USamerikanischen AutorInnen des Kalten Krieges in Erscheinung tritt, entspricht keinem ‚Zur-Sprache-Kommen‘ von ‚wirklicher‘ Gewalt, sondern vielfach allein ihrer unkritischen Verschleierung. Literatur wird hier zur systemstabilisierenden Instanz, d.h. zu einem Produkt der ‚Kulturindustrie‘, das seine Verkaufbarkeit sichern will. Dagegen steht ein ernster, unspielerischer Textbegriff, der sich jedoch, weil mir das ‚unverhältnismäßige Lesen‘ in der Vermessenheit seines Anspruchs durchaus bewusst ist, selbst immer wieder in Frage stellen muss. Im Begriff des ‚Unverhältnismäßigen‘ ist dieser Selbstzweifel, ist diese Selbstkritik schon enthalten, denn es fragt sich ja, woher man als Interpret überhaupt das Recht nimmt zu quasi-juristischen ‚Urteilen‘. Und doch kann Literatur eben auch ein „epistemische[r Gegendiskurs zu herrschenden Wissensdispositiven“22 sein, und diese Literatur verdient besondere Beachtung, fordert uns auf, durch Lese und Nachlese ihr Widerstandspotential zu 20
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Texte sind nun einmal, wie Klaus-Michael Bogdal zu recht formuliert hat, „Zeichensysteme mit Mehrfachcodierung“ und bleiben damit Objekte einer prinzipiell unabschließbaren Lektüre. Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur, Heidelberg 2007, S. 13. Oliver Marchart geht „davon aus, dass die Cultural Studies sich nicht so sehr über einen bestimmten Gegenstandsbereich (wie z.B. Alltagskultur oder Medienkultur oder Massenkultur) bestimmen, sondern über ihre politische Perspektive. Durch das Prisma der Cultural Studies betrachtet, stellt sich Kultur als ein Feld von Machtbeziehungen dar, auf dem soziale Idenitäten wie Klasse, ‚Rasse‘, Geschlecht oder sexuelle Orientierung konfliktorisch artikuliert und zu breiteren hegemonialen Mustern verknüpft werden.“ Marchart: Cultural Studies, S. 16; Hervorhebung im Original. Alexander Preisinger, Pascale Delormas, Jan Standke: „Diskursforschung in der Literaturwissenschaft“, in: Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Theorien, Methodologien und Kontroversen, hg. von Johannes Angermüller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem, Bd. 1, Bielefeld 2014, S. 130-144, Zitat S. 132.
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stärken und zu würdigen. Insofern sind meine ‚Unverhältnismäßigkeiten‘ vor allem als Anregung zur Diskussion gedacht, als Position beziehendes Lesen, das mit und auf Widerspruch und Gegenlektüren zu der Meinen rechnet. Vielleicht ist es gerade die Stummheit vieler historischer Opfer, die die implizite Forderung enthält, die Beredtheit der Texte derjenigen, von denen Macht und Gewalt ausgingen, kritisch in Augenschein zu nehmen. Und damit kommt ein weiteres, methodisches Interesse meines Buches mit ins so gar nicht spielerische Spiel, nämlich die post-koloniale Diskurskritik. Diese verortet ihre Perspektive global, stellt Begriffe von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ in Frage und macht so Geschichten lesbar, die an die Ränder der Wahrnehmung, der Literatur, der Kultur, der Texte im weitesten Sinne geraten sind. Mein Interesse für die LastenträgerInnen im Kolonialismus gehört in diesen Kontext. Zwischenräume rücken ins ‚Zentrum‘, Unsichtbar-Gewordenes, Verstummtes – doch keineswegs ‚Peripheres‘. Ausgehend von intertextuellen Bezügen zwischen Eich und Joseph Conrad versuche ich, die Geschichte von ‚Transfers‘ auszuloten, die durch die Transportleistung der TrägerInnen zustande kamen, jedoch vollkommen aus der europäischen Historiographie verschwunden sind. Dieses postkoloniale Anliegen kann demnach von Fragen nach Erinnerung und Vergessen nicht getrennt werden. Meine Lektüren gelten dem Versuch, das Verschwinden (bzw., kritischer gesagt: die Verdeckung) der sehr wohl bekannten Akteure und Geschichten aus dem europäischen Horizont nachzuzeichnen und damit – vielleicht und sicher nur in Ansätzen – etwas wieder sichtbar zu machen, was (‚erinnerungspolitisch‘ bedingt?) der Verdrängung anheimgefallen ist. Die „mikropolitischen“ Handlungen des Alltagslebens besitzen eine „makropolitische“ Dimension, die uns, verstrickt in unsere alltäglichen Praktiken, weitgehend unbewusst bleibt. In gewisser Hinsicht schließen die Cultural Studies mit ihrer Aufklärungsarbeit an die Verunheimlichung des vermeintlich Heimeligen durch die Psychoanalyse an.23
Doch bevor man zu dieser ‚Verunheimlichung‘ der literarischen Darstellung des kolonialen Trägerwesens gelangt, muss seine ‚Wirklichkeit‘ erst einmal wieder ‚gedächtnisfähig‘ gemacht werden, muss ein Grund gelegt werden für die Trennung von ‚Heimisch-Anheimelndem‘ und ‚Fremd-Unheimlichem‘. Dazu Aleida Assmann: Nach Freud gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, etwas im Gedächtnis festzuhalten: durch die Frequenz der Wiederholung und durch Intensität eines Eindrucks. Diese beiden Verfahren lassen sich an zwei Bildern veranschaulichen: Pfad (oder bei Freud: „Bahn“) und Spur. Ein (Trampel-)Pfad ist nur solange erkennbar, wie er benutzt wird. Wenn nicht mehr auf ihm hin und her gelaufen wird, wächst Gras darüber und er ist vom Umfeld bald nicht mehr zu unterscheiden. Nichts anderes passiert, wenn wir etwas vergessen. Das bedeutet, dass bestimmte Neuronenverbindungen, die nicht mehr aktualisiert werden, abgebaut werden. Die Wiederholung und Wiederauffrischung entspricht einer dynamischen Speicherungstechnik, die Gravierung oder Einprägung einer statischen. Anders als der Pfad ist die Spur Abdruck einer einmaligen Bewegung. Unter besonderen Konservierungsbedingungen können Spuren sehr lange erhalten
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Marchart: Cultural Studies, S. 13.
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bleiben – ein Fußabdruck im nachträglich erhärteten Lehm zum Beispiel, ein im Holz eingebrannter Fleck, eine Narbe oder Tätowierung auf der Haut.24
Erstaunlich an der Geschichte des Trägerwesens ist, dass ganz konkret Pfade und Spuren vorlagen und eine ebenso komplexe wie weiträumige Infrastruktur und Ökonomie entstand, dass die TrägerInnen aber trotzdem von der europäischen Historiographie ‚vergessen‘ worden sind. Es gab Trägerpfade, Trägerwege, ja ganze Streckennetze und Stationen bzw. auf die Versorgung von Karawanen spezilialisierte Dörfer, die im Zuge der Professionalisierung des Trägerwesens zu ausgetretenen Wegen führten. Trotz der perfekten Sichtbarkeit dieser Wege hat sich auf Seiten derer, die das Tragen erzwangen, das Vergessen gegenüber der Erinnerung durchgesetzt. Die „Wiederauffrischung“ blieb aus und mit ihr die dauerhafte Speicherung. Für die Spur gilt Ähnliches. Spuren, hier verstanden als lebenslang nachwirkende Traumata, haben sich in diejenigen TrägerInnen eingebrannt, die aus dem Tragen nicht einen Beruf machen durften, sondern als Sklaven Verwendung fanden. Dass die erlittene Gewalt – z.B. die Amputation der rechten Hand bei Opfern der belgischen Kolonialgeschichte – dann wiederum keine Spur auf Seiten der jeweiligen Kolonialapparate hinterlassen hat, erklärt sich u.a. aus der steten Umkehr der Täter-Opfer-Konstellation. Die Europäer pflegten den Kolonialisierten die Gewalt zuzuschreiben, die sie selbst ausübten. Die ‚falsche Projektion‘ (Adorno/Horkheimer), die für das europäische Gedächtnis an die Kolonialzeit kennzeichnend ist, verbindet diese Gewaltgeschichte(n) mit den Gewaltgeschichte(n) aus der Zeit des Nationalsozialismus. Hier wie dort zielte die Verwischung von Spuren, das Zuwachsen einst ausgetrener Pfade zu einer Absicherung des Alltags derer, die die Macht inne hatten. Die Literatur hat zu diesem Prozess beigetragen. Weil dieses Vergessen bis ins Heute hineinreicht, ist Assmanns Gedächtnisparadigma für mich von entscheidender Bedeutung. Zu den thematischen Interessen des vorliegenden Buches gehört außerdem die stets von Neuem wiederkehrende Frage nach den Gegensätzen von ‚Alltäglichem‘ und ‚Unalltäglichem‘, ‚Normalität‘ und ‚Verbrechen‘. Diese Begriffe bilden den roten Faden, der sich durch alle drei Teile des Buches zieht. Damit verbunden ist eine weitere, methodische Entscheidung. Der Homo sentiens25, der sich seit Lucien Febvre Forschungen zu einem neuen Zweig der Historiographie entwickelt hat26, soll hier um eine kultur- und literaturwissenschaftliche 24 25
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Assmann: Einführung, S. 58-59. Jan Plamper: The history of emotions. An introduction, München 2012, S. 38; Hervorhebung im Original; künftig zitiert als: Plamper: History. Einflussreich auch sein Aufsatz: „Fear. Soldiers and emotion in early twentieth-century Russian military psychology“, in: Slavic Review 68, Nr. 2 (Sommer 2009), S. 259-283. Vgl. Lucien Febvre: „La sensibilité et l’histoire. Comment reconstituer la vie affective d’autrefois?“, in: Annales d’histoire sociale 3 (1941), p. 5-20. Einflussreich, auch für die deutsche Forschungslandschaft: Ute Frevert: „Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?“, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183-208. Barbara H. Rosenwein: „Worrying about emotions in history“, in: American Historical Review, Juni 2002, S. 821845. Vgl. auch: „Forum. History of emotions“, in: German History, Bd. 28, Nr. 1, S. 6780. In diesem Artikel werden mehrere einflussreiche ForscherInnen, die sich mit Gefühlen beschäftigen, befragt; unter ihnen auch Frevert.
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Perspektive ergänzt und auf fiktionale Texte ausgeweitet werden. Der Gedanke, der hinter diesem Interesse für Emotionen steht, ist zweifach motiviert. Punkt eins: Es ist erstaunlich, dass die Forschung zur Geschichte von Gefühlen zwar, dem Vorbild Reinhard Kosellecks folgend, sehr wohl Begriffsgeschichte betrieben hat27 (Koselleck selbst konnte die Gefühlsgeschichte daher keineswegs als revolutionär neu erscheinen), dass auch psychologische Ratgeber aller Art und eine Unzahl anderer Dokumente die Aufmerksamkeit der Historikerzunft auf sich gezogen haben28, dass aber bei all dem die Literatur im engeren Sinne als ‚Material‘ erstaunlich wenig Beachtung gefunden hat. Dabei bietet das ‚literarische Feld‘ (Pierre Bourdieu) doch einen besonders widerspruchs- und reichhaltigen Fundus, um der Wirkungsmacht dessen, was der Gefühlshistoriker William M. Reddy als sich verändernde, ‚emotionale Regime‘29 bezeichnet hat, auf die Spur zu kommen (und auch – siehe Assmann – auf dieser Spur zu bleiben). Ich setze bei meinem Interesse für Gefühle den Akzent jedoch nicht so sehr auf ihre jeweilige, kontextuell bedingte Ausformung und den Intensitätsgrad, den sie erreichen, sondern im Gegenteil gerade auf ihr Ausbleiben, auf ihre Unterdrückung. Gewaltregime können als solche nur Bestand haben, wenn sie zugleich auch zu ‚emotionalen Regimen‘ werden. Gefühlsregulierung ist für Diktaturen unabdingbare Voraussetzung ihres Bestandes. So stellt sich die Frage nach der Aufrechterhaltung bzw. Vorgaukelung von ‚Normalität‘ mitten in der Ausübung von extremster Gewalt. Anders formuliert: Wenn ein Regime sich halten will, muss es Angst vor Gewalt verbreiten und zugleich jeden Protest gegen dieselbe im Keim ersticken. Das gelingt am leichtesten, wenn, um mit Erving Goffman zu sprechen, im gesellschaftlichen Raum ‚Vorder- und Hinterbühnen‘ errichtet werden, auf denen die jeweiligen histo27
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Vgl. Reinhard Koselleck, mit Werner Conze und Otto Brunner: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 9 Bände, Stuttgart 1972-1997. Ich denke hier besonders an die Forschung zur Geschichte des Gefühls der Angst. Vgl. etwa: Joanna Bourke: Fear. A cultural history, London 2005. Darin besonders einschlägig Kapitel 8 (= „Civilians under attack“, S. 222-254) und Kapitel 9 (= „Nuclear threats“, S. 255-286). Allgemeiner: Florian Weber: „Von den klassischen Affektenlehren zur Neurowissenschaft und zurück. Wege der Emotionsforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften“, in: Neue politische Literatur 1 (2008), S. 21-42. Als der theoretisch und methodisch wichtigste Text von William M. Reddy kann gelten: The Navigation of Feeling. Cambridge 2001. Zu Reddys Forschung vgl. auch: Alexandra Przyrembel: „Sehnsucht nach Gefühlen. Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft“, in: L’Homme 16 (2005) Heft 2, S. 116-124, vgl. URL: https://doi.org/46c; abgerufen am 16.3.2018. Zu William M. Reddys Begriff der „Gefühlsnavigation“ bzw. des „Gefühlsmanagements“ vgl.: Daniela Saxer: „Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte“, in: Traverse 2007/2, S. 15-29, besonders S. 22. Drei der einflussreichsten Forscher haben sich 2010 auf eine Diskussion eingelassen, die dokumentiert ist in: Jan Plamer: „Wie schreibt man die Geschichte der Gefühle? William Reddy, Barbara Rosenwein und Peter Stearns im Gespräch mit Jan Plamper“, in: Werkstatt Geschichte, Heft 54, Essen 2010, S. 39-69. Ebenso, dieses Mal auf Englisch: Jan Plamper: „The history of emotions. An interview with William Reddy, Barbara Rosenwein, and Peter Stearns“, in: History and theory 49 (Mai 2010), S. 237-265. Vgl.
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rischen Akteure die ihnen zugeschriebenen Rolle spielen. Am Beispiel der nationalsozialistischen Konzentrationslager oder der Todeszüge, in denen die Deportationen vor sich gingen, lässt sich nachzeichnen, dass Anrainer und Zeugen oft sehr genau wussten, was sie wissen durften und was nicht, und dass sie ihren jeweiligen Gefühlshaushalt auch an diesen impliziten Erwartungen ausrichteten. Es geht also um das Ineinander zwischen äußerer und innerer Regulierung von Gefühlen, besonders von Gefühlen des Mitleids, die aus der Perspektive des Regimes den ‚Nachteil‘ hatten, in den Tätern Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Tuns aufkommen zu lassen. Die Umkehrung des Mitleids auf sich selbst, die Hannah Arendt als typisch himmlerische bzw., allgemeiner, SS-Technik der emotionalen Selbstdiziplinierung beschrieben hat, wurde hier wichtig. Weil Gefühle wesentlich von dem beeinflusst wurden, was sich den Blicken jeweils darbot, war das ‚Dritte Reich‘ auf eine regelrechte „Choreographie des Blicks“30 angewiesen, die sich am Beispiel der Lager Buchenwald und Mauthausen beispielhaft nachvollziehen lässt. Methodisch beschäftigt mich die Frage, in welchem Maß der Literatur Ein-Blicke in die Blicklosigkeit vieler Zeugen gelingt, d.h. ob sie kritisch umzugehen versteht mit dem Einverständnis, Blicke auf ‚Hinterbühnen‘ der Gewalt schlicht zu unterlassen. Insofern versteht sich das Buch auch als Beitrag zu den literarischen Vorstellungen von Raum, der hier definiert wird durch die Entgegensetzung des „Hiers“, in dem ‚Alltag‘ stattfinde, und dem „Dort“ der Tötungen, der ‚unvermischt‘, d.h. abgetrennt sei von ersterem. Die zweite Motivation für meine Beschäftigung mit der ‚Veralltäglichung‘ und ‚Verselbstverständlichung‘ von Gewalt auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft bzw. der Mächtigen liegt im Prinzip der Unverhältnismäßigkeit selbst. Es ist nicht zu übersehen, dass das Auswahlkriterium für die Texte so etwas wie die von Geschichte bewirkten Alpträume sind. Ich versuche, diese fruchtbar für meine Analysen werden zu lassen, indem ich, ‚künstlich‘ gleichsam, Schnitte und Textränder herstelle, durch die Texte und/oder ‚Wirklichkeiten‘ hart aneinander geraten. Im besten Fall kommen dadurch – wie oben weiter mit Blick auf Walter Benjamin ausgeführt – Momente blitzartiger Erkenntnis zustande, und diese gehen dann über die Subjektivität meiner Textauswahl hinaus, gewinnen so etwas wie ‚Evidenz‘. Der Rekurs auf Gefühle erlaubt es in jedem Fall, den Diskursbegriff neu zu überdenken und auszuweiten. Der Gefühlsforscher Jan Plamper hat zu bedenken gegeben, die Welt sei nicht nur durch Diskurse im engeren Sinne strukturiert. „It is also built through embodiment, gesture, facial expression, and feelings, that is, through nonlinguistic modes of communication that have their own logics.“31 („Sie wird auch durch Verkörperungen, Gesten, Gesichtsausdrücke und Gefühle gebildet, d.h. durch nichtsprachliche Arten der Kommunikationen, die ihrer eigenen Logik folgen.“ [Übersetzung A.P.]) Ich versuche, diese These ernst zu nehmen, d.h. zu einer Methodik zu finden, die sich in Anlehnung an die musilsche Formel von der „Genauigkeit der Seele“ als „Genauigkeit des Fühlens und Vorstellens“ bezeichnen ließe und die Komplexität der kulturellen Formen, in denen die ‚Wirklichkeit‘ in Erscheinung tritt, zu berücksichtigen versucht. 30 31
Philipp Fisher: The making and effacing of art. Modern American art in a culture of museums, Cambridge, Mass. 1997; hier zitiert nach: Assmann: Einführung, S. 78. Jan Plamper: The history of emotions. An introduction, München 2012, S. 297.
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Dieser Hinweis schließt erneut an den erweiterten (bzw. in Frage gestellten) Textbegriff an, von dem ich eingangs sprach. Einige große Kapitel meines Buches sind der Geschiche der Sinne gewidmet, genauer: der fehlenden Möglichkeit, Radioaktivität wahrzunehmen. Die neue Materialität dieses Segments von menschengemachter ‚Welt‘ bringt epistemologische Probleme hervor, die die Frage aufwerfen, wie die Literatur solcher neuen Gegebenheiten „Herr“ zu werden verstand, d.h. wie sie mit dem Problem der Abbildbarkeit der neuen, kriegsbedingten Gefahr umgegangen ist. Die Schwierigkeiten bei der ‚Vertextung‘ von Strahlung zeigen das Fortwirken traditioneller Erzählmuster, durch die der Ausbruch aus gegebenen Diskursmustern oft nicht gelungen ist. Das Problem der Vorstellbarkeit von Kriegen sowie die Gefahr der erwähnten ‚Veralltäglichung‘ geraten damit erneut ins Blickfeld. Es fragt sich, ob die Literatur nicht die Aufgabe zukäme, mittels der Phantasie die ‚Wahrnehmungsdefekte‘ auszugleichen, die für den Umgang mit so vielen modernen Erfindungen unhintergehbar vermacht sind. In diesem Kontext verdanke ich Wesentliches den Analysemethoden des Philosophen Günther Anders, den ich neben Exkursen zur Frankfurter Schule immer wieder zitieren werde. Er gehört zu den Philosophen und Kritikern des Kalten Krieges, die Diskursgrenzen bezüglich der Radioaktivität aufzudecken und gesellschaftlichen Debatten eine neue Richtung zu geben versuchten. Eine letzte Methode, die in meinem Buch Spuren hinterlassen hat, sind die HumanAnimal-Studies. Die Ausführlichkeit, mit der ich mich im dritten Teil mit den Termiten als den literarischen Repräsentanten der radioaktiven Verseuchung auseinandersetze, hat seinen Grund u.a. darin, dass mich die Dominanz verwundert, die in diesem Forschungsbereich den Säugetieren zukommt. Insekten sind hingegen merkwürdig unterbelichtet geblieben32, obwohl gerade ihnen bei der Regulierung bzw. Anheizung von Ängsten im Kontext von Kriegen eminente Bedeutung zukommt. Wenn meine Überlegungen zu Atomkriegs-Fiktionen immer wieder um Insekten kreisen, dann hat das damit zu tun, dass das Konzept der ‚Repräsentation‘ sie stärker einbeziehen sollte. Mit ‚Repräsentation‘ meine ich Darstellungen „mit Blick auf die jeweilig eingesetzten Medien und andererseits Inszenierung mit Blick auf selbstbewusste körper- und publikumsbezogene ‚performances‘.“33 In den Science-Fiction-Texten kommt beides zum Tragen – das Mediale und das Performative –, und so hoffe ich, mit meinem Streifzug durch die Geschichte der Repräsentation von Termiten einen allgemeineren Beitrag zu leisten für die Erforschung von Tier-Mensch-Beziehungen, die von eklatanter Ungleichheit – vor allen Dingen in Bezug auf die Größe – geprägt sind. Menschliches konnte aufgrund der kategorialen Andersartigkeit der tierischen Körpern sozusagen nicht auf ihr ‚Wesen‘ projiziert werden.34 Dass andererseits eine ebenso 32
33 34
Siehe z.B.: Gabriele Kompatscher, Reingard Spanning, Karin Schachinger: HumanAnimal Studies, Münster, New York 2017. Eine bewusste Abkehr von Säugetieren erfolgt in Mareike Vennens Buch Das Aquarium. Praktiken, Techniken und Medien der Wissensproduktion (1840-1910), das bald im Wallsteinverlag erscheinen wird. Assmann: Einführung, S. 117. Vgl. das Interview, das Gilles Deleuze in dem Dokumentfilm L’abécédaire unter dem Buchstaben A zum Thema ‚animaux‘ (= ‚Tiere‘) seiner Diskussionspartnerin Claire Parnet gegeben hat (Produktion: Pierre-André Boutang, Editions Montparnasse 2004). Spannend sind hier seine Überlegungen zu den Zecken und ihrer Fähigkeit, sich, einigen wenigen ‚Indizien‘ folgend, von oben auf Säugetiere herabfallen zu lassen.
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eklatante ‚Gleichheit‘ von Insekt und Mensch zur Debatte steht, und zwar bezüglich der Gewalt, die durch die ‚Effizienz‘ hochkomplexer, moderner Staaten hervorgebracht werden kann, ist evident. Ich hoffe, dass dieser kleine methodische Abriss einen ersten Einblick gibt in die Vielfalt von Fragen, die mich im Folgenden beschäftigen werden. Es sei darauf hingewiesen, dass jedem einzelnen Groß-Abschnitt ein eigenes Methoden-Kapitel vorangestellt ist, weil die drei Epochen, die hier behandelt werden sollen – Nationalsozialismus in Teil 1, Kolonialismus in Teil 2, der Kalte Krieg in Teil 3 –, mit spezifischen Schwierigkeiten verbunden sind. Insgesamt gilt, dass post-colonial studies, Diskursanalyse, kulturwissenschaftliche Methoden, Historiographie des Alltags, Überlegungen zu literarischen Raumkonzeptionen, Human-animal-Studies, Emotionengeschichte, closest reading und das Interesse für Intertextualität ineinander greifen und zugleich gebündelt werden von einem allgemeinen Anspruch auf ‚Unverhältnismäßigkeit‘, die hier thematisch auf alptraumhafte, ‚wirkliche‘ Geschichten bezogen wird.
INHALTLICHER ÜBERBLICK Um die Orientierung zu erleichtern, möchte ich den argumentativen Gang der Hauptkapitel in einem ersten Schritt ausführlich vorstellen. Diese Übersicht dient dazu, zwei unterschiedliche Arten des Zugangs zu meinem Buch zu ermöglichen: Denkbar ist, erstens, eine fortlaufende Lektüre aller Kapitel. Durch sie tritt die Vernetzung unterschiedlicher Gewaltgeschichten (nämlich von Kolonialismus, Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg) hervor. Da die Unverhältnismäßigkeit zugleich jedoch darin besteht, von – scheinbar unscheinbaren – Details auszugehen, d.h. Klein- und Kleinstmotive aus dem Textblock des eichschen Hörspiels herauszubrechen, um sie mit Lupe oder Mikroskop auf ihre Bestandteile hin zu untersuchen, ist, zweitens, eine abweichende Art von Lektüre denkbar: nämlich die Konzentration auf Bruchstücke, will heißen: auf Unterkapitel. Als eine Sammlung von – relativ selbständigen – „Versuchen“ gedacht, konstituiert sich das Buch aus einem Nebeneinander von Einzelanalysen und rechtfertigt eine solche, selektiv verfahrende Benutzung. Das Nebeneinander unterschiedlicher Gewaltgeschichten bleibt durch diese Art von Lektüre erfahrbar. Wenn jedoch ihr Ineinander ins Zentrum rücken soll, ist die erste Zugangsweise unverzichtbar, nämlich die Lektüre des gesamten Buches. Hier folgen, wie angekündigt, einige wenige Grundzüge. Kapitel 2 Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem „Ersten Traum“ aus Günter Eichs Hörspiel Träume. Er könnte als „Deportationstraum“ bezeichnet werden, denn die Szene spielt in einem Eisenbahnwaggon, in dem mehrere Generationen einer Familie seit offenbar vier Jahrzehnten eingesperrt sind – sich auf ein unbekanntes Ziel zubewegend. Die ebenso unheimliche wie endlose Gefangenschaft ihrer „Reise“ erklärt, warum sich nur die Ältesten Erinnerungen an die frühere Freiheit und ihren Alltag bewahrt haben. Alle anderen finden sich mit ihrer Situation ab. Als die Gefangenen in der Wand des
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Waggons ein Loch entdecken, wird endlich die Überprüfung der Erzählungen der Uralten über die Welt draußen möglich. Doch die Menschen, die außerhalb des Zuges umhergehen, werden als so riesenhaft und schrecklich wahrgenommen, dass auch die Uralten das Loch schnell wieder zu verschließen wünschen. Da ist es jedoch schon zu spät: Der Zug nimmt an Schnelligkeit zu, und diese Schnelligkeit führt, so wird atmosphärisch durch das Rattern der Räder deutlich, in eine tödliche Katastrophe. Was mich an diesem ersten Alptraum interessiert, ist die Frage, wie Eich die Zeiterfahrung von Menschen, die im Nationalsozialismus tatsächlich verfolgt und in Waggons deportiert worden sind, literarisch transponiert. Lebensgeschichtlich-autobiographische Zeugnisse von Überlebenden heranziehend, die aus politischen oder rassischen Gründen im ,Dritten Reich‘ in die „Laboratorien“35 der Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht worden waren, stelle ich die konkreten Bedingungen, die in den Deportationszügen herrschten, dem eichschen Text gegenüber. Der autobiographisch gefärbte Roman Le grand voyage des „Rotspaniers“ Jorge Semprun wird zum Ausgangspunkt vergleichender Analysen. In ihnen geht es um die Erfahrung der Endlosigkeit der „Reise“, d.h. um das Nichtvergehen von Zeit, die man mit David Rousset auch als „éternite immobile“36 („unbewegliche Ewigkeit“ [Übersetzung A.P.]) bezeichnen könnte. Während Eich mit dem – biblisch konnotierten – Hinweis auf einen vierzig Jahre währenden „Zug“ (verstanden als Parallele zum „Auszug aus Ägypten“) die Qual, der sich die Gefangenen ausgesetzt sahen, anschaulich zu machen versucht, also die lange Dauer zum Symbol der Endlosigkeit macht, konzentriert Semprun seine literarischen Bemühungen auf die Endlosigkeit des einzelnen Moments, des Hier und Jetzt. Bei ihm geht es also um das Aus-der-Zeit-geworfen-Sein, das an jeden einzelnen Augenblick gebunden war und die Zeitwahrnehmung vorwegnahm, die die Häftlinge, die den Transport (und die Selektionen auf der Rampe) überlebten, sodann weiter in den Lagern erfuhren. Die Untersuchung von Zeitdarstellungen bei Charlotte Delbo, Ruth Klüger, Eugen Kogon, Primo Levi, David Rousset u.a. dient mir dazu, die realen Deportationsbedingungen zu Eichs literarischer Fiktion ins Verhältnis zu setzen. Die Enge sowie der Wasser- und Nahrungsmittelmangel waren oft so furchtbar, dass bei bestimmten Transporten schon während der Reise ein Massensterben einsetzte. Die ,De-imperfektionierung‘ und ,De-futurisierung‘, die die Zeitwahrnehmung von Eichs Figurenensemble kennzeichnet, nahm sich in der Wirklichkeit also ungleich dramatischer aus. Eine Geschichte des Durstes ist zu schreiben, um die Zeitwahrnehmung der in den Waggons Eingesperrten wenigstens ansatzweise zu verstehen. In diesem Kontext stellt sich die Frage, welche Blicke nach draußen für die Deportierten konkret umsetzbar waren. Bei Eich entsteht der Eindruck, dass die Möglichkeit, aus dem plötzlich entstandenen Loch hinauszusehen, trotz aller Überraschung etwas Selbstverständliches war. In vielen Lebenszeugnissen von Überlebenden wird der Zugang zu den Luken, die in Güter- oder Viehwaggons den einzigen Zugang zur Welt draußen darstellten, jedoch als Privileg der Stärksten geschildert. Die Außenwelt blieb also der Mehrheit der Gefangenen während der Fahrt unzugänglich.
35 36
Ebd., S. 906. David Rousset: Les jours de notre mort, Paris 2012, S. 45; künftig zitiert als: Rousset: Jours.
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Das Motiv der Blicke nach draußen lässt die Frage ins Zentrum treten, welches Verhältnis die Gefangenen während ihres Transports (und danach, in den Lagern) überhaupt zur Außenwelt aufzubauen vermochten. Noch allgemeiner gesprochen: Das eichsche Hörspiel wirft das Problem des Blickwechsels zwischen Drinnen und Draußen, Zug und Welt, Deportation und Normalität auf. Die Erfahrung des Ausschlusses, des Abgeschnittenseins von allem, was zuvor ,normal‘ und ,Welt‘ gewesen war, verdichtet sich bei Semprun in der selbstbewussten These, das Drinnen gewählt zu haben. Im Gegensatz zur SS und zum übrigen Wachpersonal sei er durch sein politisches Engagement im eigentlichen Sinne „frei“ gewesen: „frei“ also gerade durch das „Drinnen“ der Gefangenschaft. Freiheit bedeutete für ihn, trotz der Gefangenschaft auf eine besondere Weise zum eigentlichen „Draußen“ – dem „Draußen der Freiheit“ – zu gehören. Diese paradoxe Umkehrung der realen Machtverhältnisse steht im diametralen Gegensatz zur Opferthese, die Eichs ersten Traum strukturiert. Bei ihm besteht das Schockierende gerade darin, dass die Figuren sich mit ihrer Situation abzufinden beginnen, d.h. den Kontrast von Drinnen und Draußen nicht mehr wahrnehmen. Einwilligung und Unterwerfung werden breit ausgemalt und zu einem regelrechten Skandalon gesteigert. Es kommt im Hörspiel wirklich und wahrhaftig zu einer Wahl von Unfreiheit und Gefangenschaft. Sempruns Freiheits-These steht zugleich aber auch im Gegensatz zur Selbstwahrnehmung einstiger Häftlinge, die – anders als er selbst – nicht als Mitglieder der Résistance verhaftet worden waren, sondern aus rassischen Gründen in die Deportation einbezogen wurden. Der grundlegende Unterschied, der zwischen beiden Opfergruppen bestand, wird exemplarisch deutlich in Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen. Der Protagonist, ein junger ungarischer Jude, stellt die Behauptung auf, „Heimweh nach Auschwitz“ zu empfinden. Das will heißen, dass die Bedrohung in Kertész’ Augen nicht allein darin bestand, mit Gewalt in den totalen Freiheitsverlust des „Drinnen“ gezwungen worden zu sein, sondern auch und nicht zuletzt in der fortdauernden Unfähigkeit der „Draußen-Gebliebenen“, das „Drinnen“ des Lagers als Teil ihres eigenen Alltags zu begreifen. Wenn das „Drinnen“ der einstigen Häftlinge auch nach der Befreiung nicht ins „Draußen“ der Mehrheitsgesellschaft einbezogen wurde, stellte sich Auschwitz als einziger, möglicher Ort dar, der das Wissen um das, was tatsächlich passiert war, verbürgte. „Im Anfang war das Wort, aber am Ende die Asche.“37 So ist das „Heimweh“ Ausdruck des Wunsches nach einem – zumindest nachträglichen – Ineinander von „Drinnen“ und „Draußen“, Wort und Asche. Aber dieses Ineinander ruht eben, anders als bei Semprun, nicht auf einer anfänglichen „Wahl“, sondern entspringt der Erfahrung, durch Auschwitz zum „nichtjüdischen Juden“ gemacht worden zu sein, d.h. keinerlei Wahl gehabt zu haben. Die totale Herrschaft hat die Begriffe von Verbrechen und Auszeichnung, von Schuld und Unschuld nicht, wie die uns bekannten Diktaturen oder Despotien, nach ihr genehmen Richtlinien „revolutioniert“ – sie hat sie einfach abgeschafft und an ihrer Stelle den in seiner ganzen Furcht-
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Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer, München, Wien 1986, S. 101; künftig zitiert als: Edvardson: Kind.
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barkeit noch kaum geahnten neuen Begriff der „Unerwünschten“ und „Lebensuntauglichen“ gesetzt.38
Das Verhältnis von „Drinnen“ und „Draußen“, ihr Voneinander-Abgeschlossensein während der Shoah selbst, stellte sich für die jüdischen Häftlinge aber noch aus anderen Gründen anders dar als für die politischen. Die Zuweisung des Judensterns verdichtete die vollkommene Wahl-Losigkeit, die ihre Situation kennzeichnete. Die „Freiheit des Drinnen“, die Semprun für sich in Anspruch nimmt, war für die meisten rassisch Verfolgten (insbesondere die Kinder, und zwar aufgrund ihrer besonders großen Wehrlosigkeit) nicht realisierbar. Ida Grinspan schreibt mit Blick auf Mitglieder der Résistance: „Je les enviais de s’être battues, d’avoir survécu par idéal, alors que moi j’avais été arrêtée pour rien, uniquement parce que j’étais née juive.“39 („Ich beneidete sie darum, gekämpft, aus einem Ideal heraus überlebt zu haben, während ich vollkommen grundlos verhaftet worden war, nur darum, weil ich als Jüdin geboren worden war.“ [Übersetzung A.P.]) Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die bei der Politik der Konzentration und räumlichen Zusammenfassung der Opfer der Judenstern spielte, stellt sich die Frage, inwieweit das Gelb des Löwenzahns, das sich bei Eich zum Symbol einstigen Glücks verdichtet, den historischen Realitäten, denen die jüdische Bevölkerung Europas durch die Farbe Gelb ausgesetzt war, standhält. Die Arbeiten Raul Hilbergs über den administrativen Vollzug der Deportation zeigen, dass der Judenstern von den meisten Betroffenen zu Recht als Höhepunkt einer sich schrittweise steigernden Ausgrenzung erlebt wurde. Die Auswirkungen, die die Kennzeichnungspflicht für das Leben der jüdischen Bevölkerung hatte, zeichne ich im Unterkapitel „Gelbe Blumen und gelber Stern“ nach. Victor Klemperers Tagebuch aus der Zeit des ,Dritten Reiches‘ verdeutlicht nicht nur die ungeheuren Vorteile, die sich für die Verfolger mit dem Judenstern verbanden – die Verbreitung von Angst und die Identifizierung der zu Deportierenden waren erheblich vereinfacht –, sondern auch und nicht zuletzt die Konsequenzen, die sich für die Verfolgten selbst aus ihrer Erkennbarkeit ergaben. Der Verlust jeglicher Unbefangenheit im öffentlichen Raum, den Klemperer in psychologischer Hinsicht für die Dresdener Juden konstatiert, verdeutlicht, dass die Ausgrenzung, die von Außen vorangetrieben wurde, durch eine Scheu der Verfolgten, das „Drinnen“ ihres Zuhauses zu verlassen, ergänzt wurde: Der Kontakt zwischen Juden und Nicht-Juden reduzierte sich weiter, das Gelb begleitete die Konzentration der Verfolgten, von der aus es dann nur noch ein Schritt zu den Deportationen selbst war. Das Sehnsüchtig-Poetische, das sich mit Eichs gelbem Blütenstern verbindet, wird durch die historische Realität, in der sich der Terror in das Leben der Menschen „hineinängstigte“40, problematisch. Doch nicht nur das Gelb verlor durch die nationalsozialistischen Kennzeichnungsmaßnahmen jegliche Unschuld. Auch die Farben Weiß und Blau wurden von den Na38
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Hannah Arendt: Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München, Zürich 2014, S. 989; künftig zitiert als: Arendt: Elemente. Ida Grinspan und Betrand Poirot-Delpech: J’ai pas pleuré, Paris 2003, S. 153; künftig zitiert als: Grinspan / Poiret-Delpech: Pleuré. Arendt: Elemente, S. 794.
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tionalsozialisten als Male der Ächtung eingeführt. Das Tagebuch Adam Czerniakows verzeichnet die Geschichte der Armbinden im Warschauer Ghetto, für die eben diese beiden Farben verpflichtend gemacht wurden. Die vollkommene Willkür, die sich in Geiselnahmen, Erschießungen und „Sühneleistungen“ spiegelt, mit denen Verstöße gegen die Kennzeichnungspflicht bestraft wurden, war derart furchtbar, dass Eichs Versuch, durch Rückgriff auf die Natur ein Gegengewicht zur Gewalt zu schaffen, die brechtsche Frage aktualisiert, ob das Sprechen über Bäume nicht fast schon ein Verbrechen sei. Als „angemessen“ kann vielleicht nur noch die furchtbare Komik gelten, mit der sowohl Klemperer als auch Czerniakow von der Bedrohung durch die Farben berichten: Gelb und andere Farben als Objekt eines Lachens, an dem man im Wortsinn starb. Darüber hinaus stellt sich das Problem, ob das Bild einer ganzen Familie, die bei Eich gefangen gehalten wird, nicht gleichfalls an den historischen Realitäten Europas im Zweiten Weltkrieg vorbeigeht. Das Beispiel Frankreichs zeigt, dass in einer bestimmten Phase bewusst die Trennung von jüdischen Eltern und ihren Kindern herbeigeführt wurde. So kam es, dass viele Babys und Kleinkinder den Weg in die Vernichtungslager allein – und überdies oft getrennt von Geschwistern – antraten. Das Zeugnis fremder Erwachsenen, die versuchten, sich der Kinder anzunehmen, bevor die eigentliche ,Reise‘ begann, vermittelt das unendliche Leid, zu dessen ,Schauplatz‘ bereits die französischen Lager wurden. Ähnlich furchtbar gestaltete sich das Schicksal vieler jüdischer Kinder aus Polen, wo die Trennung von Familien gleichfalls gang und gäbe war. Diese Tatsache fordert dazu auf, den elegischen Charakter des eichschen Löwenzahnmotivs zu weiteren historischen Entwicklungen ins Verhältnis zu setzen, die die nationalsozialistische Vernichtungspolitik kennzeichneten. Zu dem Industriekomplex Auschwitz gehörte ein Lager, über das relativ wenig bekannt ist. Es hieß Rajsko und diente als Forschungszentrum, in das vor allen Dingen französische Wissenschaftlerinnen verschleppt wurden. Sie sollten dort versuchen, den Kautschukgehalt der Kokh-Sagys-Pflanze – so der botanische Name einer bestimmten Art von Löwenzahn – zu steigern. Naturkautschuk war für die Kriegsführung der Deutschen von eminenter Bedeutung, weil die Bereifung von Automobilen nicht allein mit Synthesekautschuk zu bewerkstelligen war. Der Löwenzahn stellte also eine kriegswichtige Ressource dar und löste darum vor allen Dingen in der Sowjetunion einen Raubzug durch deutsche Forschungseinrichtungen aus. Wenn man die Zeugnisliteratur zu Rajsko in ihrer Gesamtheit betrachtet, wird jedoch deutlich, dass die Pflanze nur am Rande erwähnt wird. Dem regen Interesse, das Heinrich Himmlers gerade diesem Aspekt der „Erzeugungsschlacht“ entgegenbrachte, stand der Versuch der Häftlinge gegenüber, im „Schatten des Löwenzahns“ überlebbare Verhältnisse zu schaffen. Aufgrund der relativ guten hygienischen Lebensbedingungen erwies sich als Rajsko im Vergleich zu Auschwitz-Birkenau als Ort, in dem man größere Aussichten hatte, zu überleben. Das war jedoch nicht dem Löwenzahn selbst zu verdanken, sondern dem Freundschaftsnetz, das die dortigen Gefangenen aufzubauen verstanden. In meiner Analyse geht es darum, die Formen der Solidarität zu verstehen, die sich – stets bedroht von der Aussicht, im Fall von Krankheit oder Ungehorsam nach Birkenau zurückgeschickt zu werden – in Rajsko ausbildeten. Weil diejenigen, denen es gelungen war, dort Aufnahme zu finden, jedoch zuvor das eigentliche Zentrum der Vernichtung erlebt und dort Freunde und Verwandte verloren hatten, wird Rajsko in meiner Analyse
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nicht einfach zum Symbol von Hoffnung, Sabotage und Widerstand. Vielmehr versuche ich, zu zeigen, wie alles, was sich mit dem Löwenzahn verband, von Auschwitz her zu lesen ist. Der Löwenzahn von Rajsko kontrastiert also mit dem Löwenzahn der eichschen Träume, widerlegt das Hoffnungsvoll-Lichte, das ihm im Hörspiel zugeschrieben wird, als historisch naiv. Der Löwenzahn wird bei mir als Teil eines komplexen Wirtschafts- und Forschungsensembles gesehen und nicht als Hoffnungsträger gegen die Gewalt. Und damit bewegen wir uns auf das Ende des ersten Traumes zu. Bei Eich leitet die Zunahme der Fahrgeräusche über zu einer – ungenannten, d.h. unbestimmt bleibenden – Katastrophe. Mit dem – offenbar tödlichen – Ende des ersten Traumes erfolgt der Sprung hin zum kommentarartigen Zwischentext, in dem eine Sprecherstimme die Hörerschaft mahnt, sich nicht von dem Furchtbaren, das fern von ihr geschieht, abzuwenden. Inhaltlich ergibt sich durch die Nennung von Korea, Hiroshima und Nagasaki eine Verschiebung weg von der Thematik der Deportation, hin zur Gefahr der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit. Der auffallende Prädikatlosigkeit des ersten Traumes – nirgendwo ist explizit von jüdischen Gefangenen die Rede – steht die Hinwendung zu konkreten (wenn auch zugleich symbolisch aufgeladenen) Orten des Kalten Krieges gegenüber. In welchem Verhältnis stehen also bei Eich historische Konkretion und poetische Überhöhung hin zum Allgemeinen (fassbar vor allen Dingen in der Herzmetapher)? Ich gehe aus von Dan Diners These, etwas, was man, vermittelt durch eine Art „Anthropologisierung“, die „Entzeitlichung“ und „Enträumlichung“ der Shoah zu nennen hätte, ermögliche die Auflösung der Singularität von ‚Auschwitz‘ ins Ensemble einer allgemeinen (also vor allen Dingen deutschen, nicht-jüdischen) Katastrophe. Die Gleichsetzung, wenn nicht gar Aufrechnung, die das Nebeneinander von Genozid und Atomkrieg impliziert, scheint die Konsequenz des schwierigen Umgangs der Deutschen mit ihren Verbrechen zu sein. Die atomare Bedrohung wird bei Eich unter der Hand zum Sinnbild der Bedrohung durch die Schuld, die die Deutschen auf sich geladen hatten. Die Angst vor einem möglichen Atomkrieg impliziert eine Bestrafungserwartung, die in den 1950er Jahren nur mühsam ins kollektive Unbewusste abgedrängt wurde. Wenn diese These stimmte, dann wäre Eichs Angst vor der Bedrohung durch ein weltweites Hiroshima zumindest unterschwellig vernetzt mit den Bildern des vorhergehenden Deportationstraumes, für die nicht zufällig die Enthistorisierung und Vagheit sowie die Verallgemeinerung spezifischer Verbrechen – hier des Genozids – ins ,Allgemeinmenschliche‘ charakteristisch sind. In der „Zweiten Unverhältnismäßigkeit“ (so meine wiederkehrende Kapitelüberschrift) wird gezeigt, dass diese Tendenzen zwar einerseits ein spezifisches Phänomen der deutschen Literatur der späten 1940er und 1950er Jahre darstellen, dass jedoch andererseits ähnliche literarische Verfahren in den 1990er Jahren wieder auf dem – inzwischen vereinten – deutschen Buchmarkt auftauchen. Als geradezu paradigmatisches, da von der Literaturkritik hochgelobtes Werk kann Dieter Fortes Roman Das Haus auf meinen Schultern gelten, in dem der Zivilisationsbruch der Shoah, in Entsprechung zum vagen ‚Allgemeinmenschlichen‘ der eichschen Rhetorik, in der Überzeugung aufgehoben wird, Regungen des Mitleids gehörten ungebrochen zum emotionalen Haushalt ‚des‘ Menschen. Die Verkitschung der historischen Wirklichkeit, die vor allen Dingen in der jüdischen Figur von „Opa Winter“ greifbar wird, versuche ich mit Hilfe von Überlegungen Hannah Arendts, Hermann Brochs und Imre
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Kertész’ plausibel zu machen. Bei Forte funktioniert die Solidarität zwischen der Arbeiterschaft Düsseldorfs und der jüdischen Minderheit ganz ungebrochen, was angesichts des realen Schicksals der Düsseldorfer Juden, wie sie die historische Forschung rekonstruiert hat, irritierend wirkt. In dem Maße, in dem „Opa Winter“ die gesamte Palette ehrwürdiger Stereotypen zum „Juden“ in sich vereint, entwickelt sich die Figur seines deutschen (will heißen: nicht-jüdischen) Freundes, genannt „Herkules“ bzw. „Goliath“, zur klischeehaften Personifizierung alles ‚Guten‘. Die Anstrengung, die die gewaltsame Umschreibung von Geschichte, hin zu einer deutschen Unschuld, erfordert, zeigt sich jedoch in der Unstimmigkeit der Bilder, die Dieter Forte unter der Hand in den Text rutschen. „Goliath“ ist ursprünglich eben doch ein Gewalttäter, und es bedarf einiger Verrenkungen, um die unglückliche Namenswahl wieder von der „Bestrafungserwartung“ zu reinigen, die bei Forte nicht weniger am Wirken zu sein scheint als bei Eich. Die Tendenz, biblische Subtexte aufzurufen, um der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts literarisch beizukommen, findet sich in der Tat auch in Eichs Hörspiel wieder. Es ist nicht zuletzt das Motiv der 40jährigen Wüstenwanderung, das in diesem Kontext – parallel zu Fortes Goliath-Geschichte – relevant wird. Ausgehend von der Suche nach dem ‚Gelobten Land‘, wie sie in Elias Canettis Masse und Macht reflektiert und auf Ereignisse der ‚jüngsten Vergangenheit‘ bezogen wird, sowie unter Einbeziehung von Anspielungen auf die Juden der Antike, die Elie Wiesel in seine Autobiographie Tous les fleuves mènent à la mer aufnimmt, zeigt sich, dass bei Eich eine Art – pervertierter – göttlicher Instanz für die Nahrung sorgt, derer das FigurenEnsemble des ersten Traumes für ihr Überleben bedarf. Zwar ist das „Manna“ des Hörspiels verfault, doch wird das Thema des Verhungerns ausgespart: Regelmäßig wird von Ungenannten Brot durch eine Klappe ins Waggoninnere hineingereicht. Im Gespräch der „Uralten“ taucht zudem stets von Neuem ein – gleichfalls biblisch konnotierter – Wein auf. Dieser Fiktion vom ärmlichen, doch ausreichenden Versorgtsein stehen Texten entgegen, die sich gleichfalls dem Thema von Hunger, Wüste und Wasserlosigkeit widmen, jetzt jedoch mit der Absicht, die Differenz zwischen dem Aus-Zug aus Ägypten und dem Deportations-Zug hervorzuheben. Zu diesem Text-Ensemble gehört neben lebensgeschichtlichen Texten von Jack Werber, David Rousset und François Wetterwald erneut Sempruns Roman Le grand voyage, in dem der Rekurs auf die göttliche Vorsorge für die Menschen radikal umgekehrt und damit das Singuläre der nationalsozialistischen Deportationspolitik betont wird: Der Freund des Protagonisten stirbt, obwohl er paradiesartig erfrischende, d.h. durstlöschende Äpfel mit auf die „Reise“ genommen hat. Der deutsche Vernichtungsapparat lässt keinen Raum, so die implizite These, für biblische Bezüge. Die Schöpfungsgeschichte und ihre Äpfel sind ausgelöscht. Wichtig werden die Zeugnisse von Nicht-Juden, die quer durch Europa, nämlich überall da, wo es Eisenbahnstrecken und Bahnhöfe gab, beobachten konnten, welche Bedingungen in den Deportationszügen herrschten. Aus dem, was sie festhielten (und was von Überlebenden bestätigt wurde), geht hervor, dass nicht so sehr der Hunger für das Massensterben in den Zügen verantwortlich war, als vielmehr der Wassermangel. Es ist auffällig, dass dieser bei Eich vollkommen ausgespart bleibt, ja mehr noch: dass er durch die Erwähnung des Weingenusses beiseite geschoben wird. Ein Blick auf das Motiv des Durstes im Werk Charlotte Delbos verdeutlicht eindrucksvoll, dass die
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Auslassung dieses ‚Details‘ ein weiteres Indiz für die wesentliche Enthistorisierung darstellt, die für Eichs Hörspiel charakteristisch ist. Bei Delbo ist keine Erfahrung von Leid so zentral wie die des Verdurstens. Verschiedene Texte über die Qual, die mit dieser Form von Sterben verbunden war, helfen, ein neues Licht auf den ersten Traum zu werfen – und damit auch auf die „Unverhältnismäßigkeit“ dessen, was geschehen ist. Der Zugang zu diesen Realitäten ist vielen nicht-jüdischen Autoren lange verschlossen geblieben. Ein besonders sprechendes Beispiel für die blinden Stellen auf dem deutschen Literaturmarkt der Nachkriegsjahre bilden die Tagebuchaufzeichnungen, in denen Ernst Jünger den „Westfeldzug“ vom Frühjahr 1940 zu dokumentieren versucht. Hier wird das Thema des Durstes aus der Perspektive der Wehrmacht dargestellt, und zwar mit einem apologetischen Gestus, der über deutsche Plünderungen in französischen Kirchen und bei französischen Weinbauern geflissentlich hinwegsieht. Mehr noch: Die Plünderungen werden als Signum deutschen ‚Kriegertums‘ regelrecht glorifiziert. Argumentiert wird mit einem „germanischen Durst“, der erkläre, dass Krieg und Trunkenheit stets zusammen gehört hätten. Historische Kontinuitäten werden gestiftet, die den Zivilisationsbruch, der mit den Deportationen verbunden war, komplett ausblenden. Sobald man jedoch diese Rhetorik von Jüngers Text genauer in Augenschein nimmt, entsteht ein greller Kontrast zu dem, was Überlebende der Konzentrationslager von Durst und Verdursten zu berichten hatten. Es zeigt sich, dass die Trunkenheit der deutschen Besatzer und das Verdursten der Deportierten in Verbindung zueinander stehen, und zwar aufgrund der moralischen Blindheit der ersteren. Auch Eichs Versuch, mit seinem Hörspiel das Thema des Durstes zu thematisieren, gehört also in ein größeres diskursives Feld, dessen blinde Stellen ich aufzeigen möchte. Kapitel 3 Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem „zweiten Traum“ des eichschen Hörspiels, der auch unter dem Titel „Ritualmordtraum“ subsumiert werden könnte. Es handelt sich um die Geschichte eines kleinen, chinesischen Jungen, der von seinen Eltern an einen kranken Reichen verkauft wird. Schritt für Schritt wird deutlich, dass das Kind geschlachtet werden soll, damit der Kranke mit frischem Blut und Eingeweiden versorgt werden und gestärkt weiterleben kann. Am Ende wird das Opfer unter Vorspiegelung, es gebe eine Spielzeugeisenbahn, in die Küche gelockt und dort von der Haushälterin grausam zu Tode gebracht. Die Ambivalenz dieses Traumes, der bei seiner Premiere besonders starke Empörung hervorrief – zahlreiche, vom Norddeutschen Rundfunk aufgezeichnete Hörerkommentaren sind überliefert –, besteht aus heutiger Sicht in der Abwandlung der antijüdischen ‚Ritualmord‘-Legende, die im Mittelalter quer durch Europa zu immer neuen Prozessen gegen vermeintliche jüdische ‚Schlächter‘ führte. Dieser Motivkomplex überschneidet sich bei Eich, dem Sinologen, mit der Legende von der ‚gelben Gefahr‘ sowie mit der Angst vor der Bedrohung durch einen (ebenfalls kinderreichen, also demographisch erdrückenden) ‚jüdischen Bolschewismus‘. In einem ersten Schritt scheint sich die These aufzudrängen, das Material für Eichs zweiten Traum bilde eine Propaganda, die zum Kernbestand des nationalsozialistischen Gedankenguts gehörte. Doch auf den zweiten Blick verwischt sich dieser
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Eindruck. Zu deutlich sind die Übernahmen aus dem Wortschatz des ‚Dritten Reiches‘ (gesprochen wird von „Züchtung“, „Erstklassigkeit“ und „Reinheit“ des Blutes), als dass sie bei einem Autor wie Eich ohne jegliche Distanz zum Hitler-Regime gedacht werden können. Auf der anderen Seite erscheint jedoch die These denkbar, dass die unterschwellige „Bestrafungserwartung“ weiterwirkt, von der schon die Rede war. Nach Dan Diner pflegt sie sich in „einer ritualisierten Selbststilisierung“ der Deutschen „zum Opfer“ niederzuschlagen. Eindeutig ist die Zuordnung von Opfern und Tätern im zweiten Traum in der Tat nicht. Vielmehr verstärkt sich die Tendenz der Verwischung, die sich schon im ersten Traum andeutete: Was dort die Absurdität einer Art Einverständnis mit der eigenen Gefangenschaft war, wird hier zu einer brutalen Komplizenschaft der ‚Opfer‘ mit den Mördern selbst. Zwar ist das Kind unschuldig, doch seine Eltern sind als Verkäufer an dem Verbrechen des Menschenopfers nicht weniger beteiligt als der finanzkräftige Kranke und seine Frau. Das aber bedeutet, dass die chinesischen Eltern (die den jüdischen entsprächen?) ihr eigenes Kind opfern. Es wären also keineswegs die Nationalsozialisten, die die Schuld an der (millionenhaften) Tötung jüdischer Kinder trügen, sondern die Eltern (die eben die eigentlichen Täter wären) selbst. Während im ersten Traum fremde Kinder in den Tod geschickt worden wären, würden jetzt chinesisch-unbestimmte (also jüdische?) Kinder der Schlachtungsmedizin der eigenen Eltern unterworfen. Die Uneindeutigkeit der Vergleichsebenen – sind die Chinesen Juden oder NichtJuden? –, die den zweiten Traum charakterisiert, ist schwer aufzulösen. Was jedoch in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte des Hörspiels deutlich wird, ist, dass dem Publikum der Bezug auf die „jüngste Geschichte“ freigestellt wird. In dieser Hinsicht ist es unerlässlich, sich die Assoziationen anzusehen, die sich bei der Ursendung 1951 spontan beim Publikum einstellten. Es soll gefragt werden, ob die Idee omnipräsenter Feindschaft (Eltern sind Todfeinde ihrer eigenen Kinder) Ausdruck des Verschwindens eben dieser Feindschaft in der Abstraktion eines formelhaften Allgemeinen, also erneut einen Versuch zur Enthistorisierung darstellt? Oder ist gerade das Gegenteil der Fall? Der Kommentar der Sprecherstimme, die nach der Schlachtung zu Gehör gelangt, spricht unvermittelt von allem Tröstlichen, das ihr begegnet sei – Tröstlichem, das unter anderem der Blick aus Zugfenstern gewähre. (Züge – ob nun als bloße Spieloder benutzbare Fahrzeuge – stellen, wie man sieht, ein Motiv dar, das im Hörspiel mit geradezu obsessiver Häufigkeit auftritt.) Der Kontrast zu der Gewalt (nämlich der Schlachtung des Kindes), die sich eben vollzogen hat, ist derart stark, dass sich erneut die Frage stellt, in welchem Verhältnis im Nationalsozialismus die Begriffe von ‚Alltag‘ und ‚Verbrechen‘ zueinander standen. Betrachtete es Eich als seine Aufgabe, Gewalt in extremer Form darzustellen, um historische Wirklichkeit – schockartig – erfahrbar zu machen? Oder muss Texten, die auf krudeste Weise Gewalt darstellen, bescheinigt werden, dass sie den Aspekt der Alltäglichkeit der Gewalt vernachlässigten und daher paradoxerweise durch die Benennung der Gewalt zu ihrer Unsichtbarkeit (oder Verkitschung) beitrugen? Denn vorstellbar ist, dass die Wechselwirkung von Unbegreiflichem (der Gewalt) und Begreiflichem (dem Alltag, dessen Verschränkung mit der Gewalt in actu verdeckt zu bleiben pflegte) für die Literatur eine besonders schwierige Herausforderung darstellte, eine, die wenige Jahre nach Kriegsende kaum einzulösen war.
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Aus Tadeusz Borowskis Erzählung „Bitte, die Herrschaften zum Gas“ wie aus vielen Interviews, die der litauische Psychologe David Boder unmittelbar nach Kriegsende mit jüdischen Überlebenden geführt hat, geht das Bedürfnis dieser „Übriggebliebenen“ hervor, die ‚Alltäglichkeit‘ der Vernichtung begreiflich zu machen. Das ist beileibe nicht als Apologie zu verstehen, sondern im Gegenteil als Bedürfnis, das Ineinander von ‚Normalität‘ und ‚Verbrechen‘ hervorzuheben. Im Gegensatz dazu stellt sich Eichs zweiter Traum als vollkommen unalltäglich dar. Das eigentlich Verstörende des Nationalsozialismus bestand aber nicht allein darin, dass Wehrlose vollkommen grundlos mit Gewalt überzogen und auf industrielle Weise ermordet wurden, sondern auch in dem, was nach Beendigung der Diktatur folgte: Eine Gesellschaft, in der „die Sehnsucht nach dem Vertrauten“ die begangenen Gewalttaten überdeckte, sprang direkt in einen Nachkrieg hinein, in dem das Vertraute, Heimische keineswegs auf sein Unheimliches hin befragt wurde. Die Rettung von Alltag im Kontext von Krieg und Gewalt wirkte also ebenso wie die Verteidigung, „ganz normal“ gelebt zu haben, wie eine zusätzliche Potenzierung der Verbrechen. Da nun gerade der zweite Traum aufgrund des brutalen Mords, der sein Ende bildet, bei der zeitgenössischen Hörerschaft allgemeine Empörung hervorgerufen hat, stellt sich die Frage, ob hier existierende psychische Barrieren erfolgreich niedergerissen wurden und die ZuhörerInnen begannen, sich selbst unheimlich zu werden? Oder ist das Gegenteil der Fall, d.h. verstärkte die ungeschminkte Darstellung von Gewalt nur die Überzeugung, an dieser Art von Verbrechen keine Mitschuld zu tragen? Eine Analyse des semantischen Feldes, das die Anrufe des zeitgenössischen Publikums abstecken, zeigt, dass mitunter ganz selbstverständlich davon ausgegangen wurde, Eich habe einen von Juden begangenen ‚Ritualmord‘ gestalten wollen. Bei anderen HörerInnen dominierte die Angst vor einem Dritten Weltkrieg, der unterschwellig als Konsequenz des Genozids – also als Bestrafung der Deutschen durch die Juden – begriffen wurde. Die Tendenz, sich die Shoah vom Leibe zu halten, d.h. „Hier“ und „Dort“, „Alltag“ und „Verbrechen“ strikt voneinander zu trennen, führt zurück zu der Gestaltung von Räumen in Eichs Hörspiel insgesamt. Schon beim Deportationstraum war festzustellen, dass „Drinnen“ und „Draußen“, Waggoninneres und Außenwelt säuberlich voneinander geschieden auftraten. Der Alltag der Menschen „draußen“ schien von dem, was der deportierten Familie geschah, nicht tangiert zu werden – und umgekehrt. Im Ritualmordtraum geschieht nun Ähnliches, und zwar durch die „Unalltäglichkeit“ des Verbrechens, die beim westdeutschen Publikum offenbar zu psychischer Abwehr, d.h. zu der Behauptung führte, nicht einmal ansatzweise in diese Geschichte einbezogen zu sein. Doch wie gestalteten sich „Drinnen“ und „Draußen“ während der realen Verbrechen? Kontrastieren die historischen Erfahrungen mit der Tendenz des Hörspiels, die Durchlässigkeit von Räumen in den Hintergrund zu drängen? Das Kapitel, das unter dem Titel der „Dritten Unverhältnismäßigkeit“ steht, nimmt seinen Ausgang von dem frühen autobiographischen Text L’espèce humaine des Buchenwald-Überlebenden Robert Antelme. Für ihn ist die Reflexion über die Worte „ici“ und „là-bas“, „hier“ und „dort“, zentral. Während Eich in Bezug auf die Insassen des Deportationszuges aus dem ersten Traum ein schockierendes Einverständnis konstruiert – die meisten Deportierten erklären, ihre 40 Jahre dauernde Gefangenschaft sei keineswegs außergewöhnlich –, geht es Antelme in einem ersten Schritt um die Schwierigkeit auf Seiten der Gefangenen, ihr Einbezogensein ins „Hier“ von Zug und
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Lager anzuerkennen. Gestaltet wird in einem zweiten Schritt – ganz in Parallele zu Überlegungen Primo Levis – das ambivalente Schwanken zwischen träumerischer Flucht aus dem „Hier“ und der Unmöglichkeit, ein „Dort“ zu denken. Das „Dort“ Eichs ist im Deportationstraum nun aber von einem Bild bestimmt, das auf die Primärsozialisation von Kindern zu rekurrieren scheint: Die Menschen „draußen“, außerhalb des Waggons, werden als „Riesen“ wahrgenommen, sind fürchterlich aufgrund ihrer schier unfasslichen Größe. Ein Blick auf die komplexen organisatorischen Aufgaben, die bezüglich der Fahrpläne für die Deportationszüge zu „lösen“ waren, ergibt sich jedoch – ebenso wie in Levis Se quest’è un uomo –, dass das eichsche Riesen-Motiv auf eine problematische Infantilisierung der Gefangenen hinausläuft. Die Riesenhaftigkeit der – große Teile Europas umfassenden – Planung zum „Zugumlauf“ manifestierte sich nicht in der Größe einzelner ‚Monster‘, sondern im Zusammenwirken vieler banaler, d.h. kleiner Täter. Als weiterer Kontrast zwischen Eich und Überlebendenberichten kommt hinzu, dass die Möglichkeit eines Blickwechsels zwischen Opfer und Täter im Hörspiel nicht thematisch wird. Der Waggon ist derart gut abgedichtet, dass niemand hineinschauen kann. Bedeutender noch ist die Fiktion, dass die Gefangenen selbst lange nicht hinausschauen wollen und in einem zweiten Schritt gar das Loch wieder verschließen, das es ihnen plötzlich erlaubt, die Außenwelt in Augenschein zu nehmen. Die Aufzeichnungen eines deutschen Unteroffiziers namens Wilhelm Cornides aus dem Jahre 1942 zeigen, dass die Möglichkeit, Ein-Blick in das zu nehmen, was die Züge bedeuteten, durchaus existierte. Die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die sich mit den Wehrmachtsverbrechen beschäftigt, bestätigt ebenso wie Ruth Beckermanns Film Jenseits des Krieges den „Chiasmus der Blicke“, der die Shoah insgesamt begleitete. Seine literarische Gestaltung gelingt in Texten, die von Ruth Klüger über Christa Wolf bis zu Imre Kertész reichen. PhotographInnen wie Magarete Bourke-White haben mit den ersten Aufnahmen von den befreiten Konzentrationslagern ihrerseits dazu beigetragen, der Frage Kontur zu verleihen, ob der Blick der deutschen Anrainer wirklich zum ersten Mal in das „konzentrationäre Universum“ eindrang, als die Lager geöffnet wurden, oder ob nicht im Gegenteil die Unheimlichkeit ihrer Blicke – ganz in Entsprechung zu Freuds Theorie des Unheimlichen – in der Abwehr von durchaus Vertrautem, Heimischen bestand. Kapitel 4 Blicke stehen, so die Eingangsthese dieses Kapitels, auch im Zentrum des dritten Traumes, der sich als „Vertreibungstraum“ bezeichnen ließe. Mutter und Vater werden mit ihren Kindern von einem Feind des eigenen Hauses verjagt, ohne dass die Nachbarn bereit wären, ihnen dauerhaft Schutz zu gewähren. Im Gegenteil wird der Umstand, dass die kleine Tochter heimlich ihre Puppe mitgenommen hat, zum Vorwand genommen, jede Solidarität mit den Heimatlosen aufzukündigen. Die Stadt steht versteckt hinter den Gardinen ihrer Häuser und lässt die Familie allein – auf dem Weg einem unbekannten Exil zu. Wie schon die ersten beiden Träume enthält auch der dritte die Einladung an das Publikum, sich einbezogen zu fühlen in die Gruppe der Opfer (und nicht etwa der Täter). Als Motiv der eigenen Verfolgung vermutet die Familie nämlich, glücklich gewesen und deswegen vom „Feind“ „auserwählt“ worden zu sein. Die biblische Kon-
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zeption vom Volk Israel als dem „auserwählten“ Volk wird von Eich intertextuell aufgerufen und hin zu universeller Gültigkeit erweitert. All diejenigen, die sich als glücklich einschätzen, dürfen sich als Opfer fühlen: schuldfrei also. Kertész, Arendt und Bourke-White heben die Schwierigkeit hervor, dass die einstigen Verfolger sich in ihrer Mehrheit nicht als Verfolger erkannten und erkennen wollten. Noch steht, so ihre These, die Konfrontation mit der Unheimlichkeit des Blicks auf eine Welt der Gewalt aus, die als altvertraute plötzlich neu hervorzutreten hätte – nämlich als die Ihre, stets schon augen-fällige und zugleich doch nie gesehene. Im vierten Unverhältnismäßigkeitskapitel, das mit dem Titel „Fenster mit Gardinen“ überschrieben ist, geht es um eben diese Blickverweigerung gegenüber dem Offensichtlichen. So wie Eich Gardinen und zugezogene Fenster zum Symbol feiger Unterwerfung unter eine sich neu etablierende Macht verdichtet, thematisieren Eugen Kogon und Jorge Semprun Fenster von Anrainern, die direkte Blicke auf das Krematorium des Konzentrationslagers Buchenwald freigaben, doch ohne dass diese Sicht ein wirkliches Sehen ausgelöst hätte. Der Protagonist des Romans Le grand voyage, der unmittelbar nach seiner Befreiung in das obere Stockwerk einer Weimarerin eindringt, um zu sehen, was sie während vieler Jahre von seiner Realität hätte sehen können, wenn sie denn hingesehen hätte, führt den Beweis, dass das Bild des Krematoriums in der Rahmung des Fensters verschwunden war. Dieses war keine Öffnung hin nach Außen gewesen, sondern ein Verschluss. Der Fensterrahmen war allein dazu da gewesen, den Alltag eines Zuhauses zu umschließen, „Gemütlichkeit“ abzusichern. Die psychologische Einsicht Adornos, dass „falsche Projektion“ für die bystanders einen Mechanismus darstellte, der vor dem, was ins Auge fiel, schützte, erhärtet das Hörspiel, indem es die Opfer der Verfolgung zu den eigentlich Schuldigen erklärt. Die historische Emotionsforschung Ute Freverts stellt die Frage nach dem Verhältnis von Emotion und räumlicher Nähe, leitet hin zu der Wiederholung von Blicken, die in den Buchenwaldfotos von Bourke-White und den Aufnahmen Bergen-Belsens von Georges Rodger enthalten war. „Nicht deshalb, weil es Selbstbegegnung gibt, wird [die Störung des eigenen Ichs; A.P.] erfahren; umgekehrt tritt Selbstbegegnung nur deshalb ein, weil es Störung [nämlich durch die Bilder; A.P.] gibt.“41 Doch die Störung kann mitunter selbst durch die Wiederholung, die ex post von Außenstehenden gefordert wird – Nachfragen, Fotos –, nicht erreicht werden. So zeigt Claude Lanzmann in Shoah, wie die polnischen Anrainer unterschiedlicher Vernichtungslager ihm gegenüber die Geste des Halsabschneidens nachahmten, mit denen sie die ankommenden Juden einst vor dem, was ihnen bevorstand, gewarnt hätten. Die Geste von Sempruns Weimarerin, die sich unwillkürlich an den Hals fährt, als sie des Umstands inne wird, dass sie den Durst eines Überlebenden nach Blicken auf einstige, von Außen kommende Blicke stillen soll (er will sehen, was sie gesehen hat), wird bei den von Lanzmann Interviewten von keiner Einsicht begleitet. Die Juden bleiben für die polnischen Bauern, die von ihren Blicken auf die Vernichtung erzählen, die Repräsentanten von Reichtum und Macht. Ungehinderte Blicke auf die Gewalt und ihre implizite Rechtfertigung schließen sich nicht aus. Das gilt auch für Eleonore Gusenbauer, eine Anrainerin der Steinbrüche des Konzentrationslagers Mauthausen, die sich 1941 in einem Brief bei der örtlichen Polizei beschwerte, dass man ihr Tote und agonisierende Angeschossene halbtagelang als gar41
Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 91.
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dinenlose Fensterblicke zumute, obwohl sie gesundheitlich angegriffen sei. Sie empfahl, die Tötungen von nun an zu unterlassen oder sie da zu vollziehen, wo niemand sie sehen könne. Dieser unheimliche Brief tritt in direkte Parallele zum Selbstmitleid des chinesischen „Herrn“ bei Eich, der zwar im Wortsinn blut-hungrig ist, andererseits aber die Schreie des Kindes während der Schlachtung als unerträglich empfindet. Unter Einbeziehung der Arbeiten des Soziologen Renaud Dulong zu Zeugnis und Zeugenschaft versuche ich, die verstörende Mischung zu beschreiben, die sich bei Eleonore Gusenbauer zwischen empörtem Eingreifen – also Aktivität – und willentlicher „Passivisierung“ der eigenen Person ergab. Indem sie an die Polizei schrieb, lieferte sie ihren Blick – die Möglichkeit zum Blick – einer Macht aus, die zwar vielfach im Konflikt mit der SS lag, andererseits aber mit dazu beitragen konnte, ihr (der Zeugin nämlich) eben diesen Status (als Zeugin) zu nehmen, d.h. die Sichtbarkeit von Dingen (nämlich der Tötungen) zu modulieren – nicht aber die Wirklichkeit derselben. Erving Goffmans Versuch, die Interaktion zwischen Menschen unter Rückgriff auf Metaphern der Theaterwelt soziologisch zu beschreiben, erweist in diesem Kontext seine Fruchtbarkeit. „Vorder-“ und „Hinterbühnen“ dürften nicht nur als Rahmen verstanden werden, der von den SchauspielerInnen selbst für ihr Spiel arrangiert wird, sondern gäben auch den potentiellen Zuschauern vor, was sie sehen dürfen und was nicht. Das Interessante an der gewöhnlichen Reaktion des Publikums besteht darin, dass es den impliziten Vorgaben mit „Takt“ begegnet, d.h. in der Regel von selbst darauf verzichtet, Zeuge bestimmter Hergänge auf den „Hinterbühnen“ zu werden. Das Problem der Zeugenschaft – sei es nun bei Sempruns Weimarerin, bei Eichs Chinesen oder bei der Mauthausenerin Eleonore Gusenbauer – betrifft also keineswegs nur Räume, die unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel hermetisch gegen Blicke abgeschirmt worden waren, sondern auch die Blickverweigerung derer, die sich von den Hinterbühnen ausgeschlossen wussten – und sich aus diesem Wissen heraus entgegen aller Offensichtlichkeit und Zugänglichkeit der Hinterbühnen selbst ausschlossen: eine potenzierte Form von Blicklosigkeit. Im Hörspiel sind es die Kinder, die in Eichs drittem Traum die Hoffnung der verfolgten Erwachsenen für sinnlos erklären, durch Wohlverhalten werde man vielleicht doch noch die Blicke der Mehrheitsgesellschaft – und also ihre Solidarität – zurückgewinnen können. Ruth Klügers These, jüdische Kinder seien ihren Eltern an Wissen über den Grad der Verfolgung vielfach voraus gewesen, hätten Gefahren erkannt, die diesen aufgrund ihres Respekts für Hinterbühnen entgangen seien, scheint hier literarisch gestaltet zu werden. Die Puppe, die die kleine Tochter im Hörspiel heimlich mitgenommen hat, wird zum Symbol eines Widerstands, der schließlich auch den Eltern ein Umdenken ermöglicht – weg vom Gefühl, die Verfolgung selbst verursacht zu haben, also „schuldig“ zu sein. Die Frage, welche Rolle Puppen (und allgemeiner: Spielzeug) jenseits der literarischen Fiktion für deportierte, jüdische Kinder spielten, bevor sie in Auschwitz zu Tode gebracht wurden, erweist sich im Blick auf die umfangreiche Fotosammlung, die Serge Klarsfeld den Opfer-Listen seines Mémorial des enfants juifs de France beigegeben hat und hier paradigmatisch den Zugang zum Schicksal der Jüngsten ermöglichen sollen, als überaus schwierige. Die Alltäglichkeit der Fotos ist ebenso anrührend wie furchtbar. Gleiches gilt für die Intimität, die die abgebildeten Kinder zu ihren
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Puppen unterhalten. Anders als in Charlotte Delbos Auschwitz-Trilogie, in der Puppen anfänglich – ganz wie bei Eich – vor der Folie der Erlösungshoffnung dargestellt werden, die sich mit Jesu Geburt verbinde, müssen die Puppen bei Klarsfeld als „ermordete“ betrachtet werden. Wenn es Puppen gab, die „überlebten“, dann oft nur, weil sich – nach der Vergasung ihrer einstigen Besitzer – neue Besitzer für sie fanden. Delbo schildert einen solchen Besitzwechsel, und zwar im Rahmen eines in einem Auschwitzer Nebenlager organisierten Weihnachtsfestes, das plötzlich von der Erkenntnis überschattet wurde, dass Spielzeuggeschenke, die von Erwachsenen als Geste des Widerstands gegen die herrschende Gewalt ausgetauscht wurden, nur darum möglich geworden waren, weil die Kinder, die mit ihnen gespielt hatten, nicht mehr waren. Der Blick auf einzelne Kinder, die sich – noch Zuhause, doch bereits im Schatten des Genozids – mit ihren Puppen ablichten ließen, wird für mich zur historischen Folie, vor der Eichs Puppenmotiv betrachtet werden muss. Auch hier gilt, dass die Unverhältnismäßigkeit die einzige Möglichkeit darstellt, ein Verhältnis zu gewinnen zum Unfasslichen des Todes, den die Kinder starben. Hervorzuheben ist, dass die Zahl der getöteten Kinder auf 1,5 Millionen geschätzt wird. Das unterstreicht die Notwendigkeit, unverhältnismäßig zu lesen.
II. Der erste Traum: Zugreisen in die Vernichtung
ZEITEN UND ORTE longtemps c’est-à-dire des jours parce que notre cœur ne peut compter en semaines ni en mois, nous comptons en jours et chaque jour compte mille agonies et mille éternités.1 lange, d.h. über Tage, weil unser Herz nicht in Wochen oder Monaten zählen kann, zählen wir in Tagen, und jeder Tag zählt tausend Agonien und tausend Ewigkeiten. [Übersetzung A.P.]
Träume – so lautet der Titel des zwischen dem 7. und 31. August 1950 entstandenen, erstmals am 19.4.1951 vom NDR gesendeten Hörspiels, das zu den bekanntesten Texten Günter Eichs gehört.2 Weil der Rundfunk es bis heute stets von Neuem in seine Programme aufnimmt, bietet es Zugänge zur europäischen Gewaltgeschichte, dem „blutigen Narrenspiel“ des 19. und 20. Jahrhunderts.3 In der Tat gilt gerade diese „fun1
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Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra pas (= Bd. 1 der Trilogie Auschwitz et après), Paris 2001, S. 93; künftig zitiert als: Delbo: Auschwitz, Bd. 1. Die beiden anderen Bücher werden ebenfalls mit der jeweiligen Bandangabe zitiert werden. „Bei der Funkrezeption der ‚Träume‘ entstand die eigenartige Situation, dass das meistgespielte Hörspiel zugleich den Buchfassungen am weitesten hinterherhinkt. Zeitgenossenschaft, journalistische Anleihen, Schockabsicht: das wurde in diesem frühen Hörspiel noch am entschiedensten vertreten, ehe Eich seine ‚Träume‘ für die Buchfassung umarbeitete, sich nochmals um den schrecklichen zweiten Traum kümmerte und die reportageartig eingebrachte Wirklichkeit zwischen Hiroshima und Bikini-Atoll lyrisch ersetzte. Die Rezeption der ‚Träume‘ teilte sich deutlich in eine Buch- und in eine Hörspielrezeption – was bei textkundigen Eich-Hörern noch heute zu erheblichen Irritationen führen soll.“ Hans-Jürgen Krug: „Träume aus dem Radioarchiv. Anmerkungen zur funkischen Rezeption der Hörspiele Günter Eichs seit den achtziger Jahren“, in: ders.: Radiolandschaften. Beiträge zur Geschichte und Entwicklung des Hörfunks, Frankfurt/M. 2002, S. 31-43, Zitat S. 38. Arendt: Elemente, S. 303.
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kische“ Arbeit von Eich als ein Höhepunkt der deutschsprachigen Literatur der ersten Nachkriegsjahre. Es kristallisieren sich hier gesellschaftliche Debatten zu ganz verschiedenen Katastrophen. Eich versucht, ein Verhältnis zum Genozid an den europäischen Juden zu gewinnen; er entwirft einen Trauma-Traum zur Kolonialgeschichte; er erhebt seine Stimme gegen die Gefahr eines Atomkrieges, indem er explizit gegen die Bomben-‚Tests‘ von Bikini Stellung nimmt. Das Hörspiel ist also von Zeitbezügen gesättigt. Wichtig daran ist, dass sich unterschiedliche GewaltGeschichten überlagern, dass sie quer zueinander stehen, miteinander in einen traumatischen Dialog eintreten. Genau dieser Dialog ist es, der mich interessieren soll. Ausgangspunkt der folgenden Lektüren bildet die Buchfassung des Hörspiels, das fünf Träume umfasst, sowie die Inszenierung der genannten Ursendung, die heute online verfügbar ist. Sie thematisieren die verschlungenen Wege, die Genozid und Krieg, Herrenvolkmentalität und Imperialismus, heißen und Kalten Krieg miteinander verbinden. Entscheidend ist jedoch, dass die Interpretationen, die ich im Folgenden vorschlagen möchte, stets von Neuem von Eichs Wegsystem wegführen – hinein in die Unverhältnismäßigkeit, die als eigentliches Zentrum dieser Arbeit zu betrachten ist. Die Leserschaft ist also gebeten, den Versuch mitzutragen, die eichschen Träume weiterzuträumen, hin zur gänzlich unerträglichen „Mar“ einer Gewaltspirale, die das gesamte 20. Jahrhundert überschattet. Beginnen möchte ich mit der räumlichen und zeitlichen Einordnung des ersten Traumes. Mein Ziel ist es, die auffällige Exaktheit, die das Hörspiel bei der Nennung dieser Daten an den Tag legt, in Beziehung zu setzen zu Raum- und Zeiterfahrungen, wie sie in der Wirklichkeit erfahren wurden. Es wird also nur in einem ersten Schritt um das Hörspiel gehen. In einem zweiten Schritt werde ich autobiographische und im engeren Sinne „literarische“ Texte von Shoah-Überlebenden vorstellen, die alle mit der Frage des Verhältnisses von Raum und Zeit befasst sind und in vieler Hinsicht ein Gegengewicht zu Eich darstellen. Doch beginnen wir zunächst mit dem Hörspiel. Ein inhaltlicher Überblick soll den Einstieg erleichtern. Einem jeden Traum hat Eich eine kurze Einführung vorgeschaltet, in der die Person, die den Traum träumt, vorgestellt wird. Hier folgt die Einleitung zu Traum Nr. 1: In der Nacht vom 1. zum 2. August 1948 hatte der Schlossermeister Wilhelm Schulz aus Rügenwalde in Hinterpommern, jetzt Gütersloh in Westfalen, einen nicht sonderlich angenehmen Traum […]. 4
Eine zeitliche Verortung wird vorgenommen: Etwas mehr als drei Jahre sind seit dem „Nullpunkt“ der deutschen Geschichte5 (der durchaus nicht mit einer ‚Stunde Null‘ verwechselt werden darf) vergangen. Außerdem erfahren die HörerInnen, der Träumende habe seinen Traum nicht in Rügenwalde, die offenbar seine Heimatstadt war6, geträumt, sondern in „Gütersloh in Westfalen“. Die räumliche Verortung, die zu 4 5 6
Günter Eich: Träume, in: ders.: Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1991, S. 349-389, Zitat S. 351; künftig zitiert als: Eich: Träume. Arendt: Elemente, S. 630. Unheimlich ist es, was ein gewisser Carlheinz Rosenow 1980 in seiner „Chronik der Hansestadt Rügenwalde in Pommern“ in Bezug auf die Geschichte der dortigen, jüdischen
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Gemeinde als bewahrenswert festgehalten hat (vgl. die Seite http://www.ruegen walde.com/juedische_gemeinde.htm, abgerufen am 11.6.2016). Mir scheint es wichtig, die Verästelung, die sich von Eichs Rügenwalde bis in die Verästelungen des heutigen Selbstbildes dieser Stadt ergibt, nachzuvollziehen, denn sie enthält die vielen blinden Stellen, die die ‚jüdische Katastrophe‘ erst eigentlich erklären. Ich komme zu der erwähnten Internetseite, unterziehe dieser einer minutiösen Lektüre: Die Synagoge sei „etwa im Jahre 1935 an die Eisenwarenhandlung Schweder/Wollert verkauft“ worden. Warum und unter welchen Bedingungen, bleibt unerwähnt – was angesichts des Ungefähren der zeitlichen Einordnung kaum erstaunt. Weiter heißt es: „Der Friedhof der Gemeinde befand sich am Ortseingang von Russhagen und wurde im Jahre 1938 durch menschliche Unvernunft verwüstet […].“ Dem zeitlich Ungefähren folgt das Ungefähre bezüglich der Täter: Die Unvernunft hat agiert. Dann aber scheint die Vernunft zurückgekehrt zu sein: „Kurz darauf wurde der Friedhof für Besucher gesperrt, das Haupttor mit Kette und Schloss gesichert. Seither ruhten die Toten ungestört.“ Es ist, als habe die Sperrung dem Schutz des Friedhofs gedient: Rückkehr zur Normalität, nämlich zur Friedhofsruhe dank „Kette und Schloss“. Dass die Toten, die auf ihm begraben lagen, jedoch nur darum ungestört blieben, weil von nun an keine Bestattungen mehr auf ihm stattfanden, bleibt unerwähnt. Gestorben wurde woanders (nämlich hinter „Schloss und Gitter“, doch davon erfährt man nur Bruchstückhaftes: „[S]chon im Jahre 1938 – im Zusammenhang mit der berüchtigten ‚Reichskristallnacht‘ – wurde es auch dem letzten Mitglied der kleinen Gemeinde klar, dass trotz aller Treue zur Heimat die Flucht aus der Heimat die einzige Möglichkeit zum Überleben bot. Von da ab verschwanden immer mehr jüdische Familien aus Rügenwalde. Von einigen ist bekannt, dass sie sich unter Aufgabe ihrer letzten geringen Habe in das Ausland haben retten können. Der Verbleib vieler ist unbekannt, es ist jedoch anzunehmen, dass sie in einem der berüchtigten Vernichtungslager umgebracht wurden.“ Das Scharnier dieser Passage wird gebildet durch das Verb „verschwinden“. Die ihrer Heimat „treuen“, jüdischen Familien verschwanden nicht allein in den Vernichtungslagern, sondern auch im rettenden Ausland. Um zu unterstreichen, dass dieses dem ersten vorzuziehen war, scheint ein Adjektiv nötig zu sein: Wären die Vernichtungslager nicht ebenso „berüchtigt“ gewesen wie die ‚Reichskristallnacht‘, würde sich der Autor des Textes offenbar nicht vorstellen können, was das Wort „Vernichtung“ bedeutete. Ohnehin siegte die Idee einer Art „Auferstehung“ ohne große Umstände: „Als erste suchten und fanden“ – so heißt es gleich nach der namentlichen Aufzählung der Ermordeten – „wieder Kontakt zu ihren inzwischen ebenfalls vertriebenen Mitbürgern die Familien Aron, Kurt Cohn, Frau Anna Posner, geb. Baruch (U.S.A.), Frau Ruth Müller, geb. Meyersohn und einzige überlebende der Familie Meyersohn (Israel) und Frau Gerda Tuchler, geb. Rubensohn (Israel).“ Hier huscht die Katze aus dem Sack: Die Überlebenden mögen inzwischen über die halbe Welt verstreut sein – ihr Schicksal ist in jedem Fall mit dem der Nicht-Juden identisch, denn auch diese sind ja „inzwischen ebenfalls vertrieben[].“ Das „Auch“ impliziert, dass das, was der jüdischen Gemeinde geschah, eine Vertreibung war. Es kommt zu so etwas wie einem Gleichstand zwischen denjenigen, die – zwischenzeitlich – menschliche Unvernunft hatten walten lassen, und denjenigen, die Objekt dieser Unvernunft gewesen waren. Zum Gleichstand trägt bei, dass sich der „Kontakt“ zwischen beiden Gruppen, wie „berüchtigt“ die Vernichtung auch immer gewesen sein mag, schnell wieder hergestellt hat, und zwar dadurch, dass die Juden ihn – nämlich den Kontakt – „suchten und fanden“. Kontinuitäten also werden betont, und es scheint, dass zwar die Vertreibung der Nicht-Juden zu Kriegs-
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der zeitlichen hinzutritt, deutet an, dass der Träumende zu den Flüchtlingen gehörte, die im Frühjahr 1945 Pommern Richtung britische Besatzungszone verließen. Der Name des Mannes ist typenhaft: ein deutscher Dutzendname als Hinweis auf die Verallgemeinerbarkeit dessen, was Träumende in Deutschland beschäftigt – oder beschäftigen sollte?7 Der Traum selbst setzt ein mit Geräuschen: „Ein langsam fahrender Zug. Die Stimmen im Waggon.“8 Menschen also scheinen sich auf einer Reise zu befinden, und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, das wird durch die Art und Weise, in der sich die ersten beiden Sprecher aneinander wenden, sogleich erkennbar. URALTER Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten. Die Standuhr schlug vier. ENKEL Du erzählst immer dasselbe. Das ist langweilig, Großvater.9
Ein Waggon. Ein alter Mann und sein Enkel. Hinweise auf eine nächtliche Verhaftung – dies sind, in Verbindung mit der Information, dass es im Traum um nichts „sonderlich Angenehmes“ geht, Stichpunkte genug, um bei der Hörerschaft die Erwartung zu wecken, dass auch die Reise, auf der das Gespräch zwischen dem Mann und dem Kind seinen Anfang nimmt, keine normale Reise ist. Das Kind versucht zwar, das Ereignis, das den Großvater offenbar stets von Neuem beschäftigt, als langweilig vom Tisch zu wischen, doch gerade das despektierliche Redeverbot, das das Kind dem alten Mann erteilt, unterstreicht die Bedeutung der Antwort, nach der er sucht: „Aber wer war es, der uns holte?“10 Der genauen, zeitlichen Einordnung der nächtlichen Szene – „Die Standuhr schlug vier“ – korrespondiert die erwähnte zeitliche Einordnung des Traumes. Ein zeitliches Gerüst wird aufgebaut, das den Umstand, dass Unbekannte eine Gruppe von schlafenden Menschen aus den Betten holten, an die Wirklichkeit zurückbindet: Auch wenn die Stimmen nur Stimmen in einem Traum sind, der mit dem Aufwachen vergehen wird, konstruieren sie doch so etwas wie eine Tatsächlichkeit, und zwar von Ereignissen, deren zeitliche Einordnung zumindest als möglich erscheint. Die Verhaftung nämlich erfolgte nachts um vier Uhr, gerade als die Standuhr schlug, und im Jahr 1948 träumt ein Mann von denen, die von dieser Verhaftung – geträumt? real? – betroffen waren. Im Folgenden löst sich dieses angestrengte Bemühen um Exaktheit jedoch mehr und mehr auf, denn mit den Worten der Großmutter – bezeichnet als die „Uralte“11 – verstärken sich zunehmend die träumerisch-surrealen Elemente:
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ende ein Skandalon bleibt, die Toten des jüdischen Friedhofs von Rügenwalde in Pommern jedoch weiterhin „ungestört“ „ruhen“. Ruth Schmitt-Lederhaus weist darauf hin, dass „Hinterpommern“ im Sprachgebrauch der Generation von Eich den Sinn von „hinterwäldlerisch“ gehabt habe. Vgl. Ruth SchmittLederhaus: Günter Eichs „Träume“. Hörspiel und Rezeption, Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1989, S. 90; künftig zitiert als: Schmitt-Lederhaus: Träume. Eich: Träume, S. 352. Ebd. Ebd. Es gibt im ersten Traum zunächst keine Namen: Alle Figuren sind typenhaft, da nur durch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen gekennzeichnet. Erst später erfährt das Publikum
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Wie lange ist es her, dass wir unser Haus verlassen mussten? Keine Uhr, kein Kalender, – aber die Kinder sind inzwischen groß geworden, und die Enkel sind groß geworden, und wenn es etwas heller ist – URALTER Du meinst, wenn Tag draußen ist. URALTE – wenn es etwas heller ist und ich dein Gesicht sehen kann, lese ich aus den Falten, dass du ein alter Mann bist und ich eine alte Frau.12
Hier geht es nicht mehr um ein Ereignis, das einem klar definierten Moment zugeordnet werden kann, sondern um das, was auf die Verhaftung folgte und offenbar noch nicht beendet ist: um die Reise in einem Zug, in dem die Verhafteten und ihre Kinder und Kindeskinder eine vorerst unbestimmte Anzahl von Jahren verbracht haben. Weil „keine Uhr, kein Kalender“ zur Verfügung stehen, ist den Reisenden jedes Zeitgefühl verloren gegangen. Obwohl die alte Frau einen Begriff davon hat, dass es in einem fernen „Damals“ Möglichkeiten der Zeitmessung gab, zeigt sie sich im Heute unfähig, die – noch bestehende – Unterscheidung von Tag und Nacht für eben diese Zeitmessung zu nutzen. Anders als für ihren Mann ist Licht für sie einfach nur Licht und nicht die Ankündigung eines neuen Tages, Dunkelheit also umgekehrt nicht mehr Hinweis auf Nacht und damit Indiz für einen bestimmten naturgegebenen Rhythmus. Damit beschränkt sich die Erfahrung von Zeit auf die Veränderung, die sie am Körper ihres Mannes beobachtet. Er, der kraft seiner Erinnerung als einziger an den einstigen Zeitbegriffen festhält, wird selbst zur Uhr: Seine Falten verraten, dass er seit seiner Verhaftung Jahre in diesem Waggon zugebracht hat. Wenn man sich diese zeitliche Grundkonstellation, d.h. das Changieren des Hörspiels zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit vor Augen hält, dann stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich aus ihr für Eichs Auseinandersetzung mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung während des Krieges ergeben. Konnte man Anfang der 1950er Jahre Szenen unmotivierter Verhaftungen und endloser Zugfahren entwerfen, ohne dass die nationalsozialistischen Verbrechen assoziiert werden mussten?13 Konnten bedrückende Gespräche über die Zeitwahrnehmung mehrerer Generationen von Opfern erdacht werden, ohne zugleich nach dem Verhältnis der Tätergesellschaft zu ihrer allerjüngsten Vergangenheit zu fragen? Vor dem Hinter-
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den Namen des „Uralten“ – „Gustav“. Dieser Name bedeutet „Stab, Stütze“, zeigt also, dass er derjenige ist, der stärker als alle anderen an der ursprünglichen Definition dessen, was „wirkliches Leben“ sei, festhält. Ebd., S. 352. Von der Monotonie berichten viele Überlebende der Shoah, so z.B. Paul M. Neurath: „Entlassene Häftlinge sind meist vollkommen außerstande, die Monotonie des Lageralltags in Worte zu fassen. Wie soll man das Immergleiche eines Fünfzehnstundentages schildern, der im Wesentlichen aus nichts besteht als 120 Ladungen Kies, die man 100 Meter weit transportiert, oder 1500 Schaufeln Lehm, die man aus einem Schacht nach oben wirft? Wie soll man das ununterbrochene Gebrüll beschreiben, wenn das einzig Bemerkenswerte daran der Wechsel von ‚Fauler Sack, fauler’ zu ‚Faule Sau, faule‘, und vielleicht ‚Dreckige Judensau, dreckige‘ war; wenn sich jede dieser Varianten täglich rund dreihundert Mal wiederholte?“ Paul M. Neurath: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, Frankfurt/M. 2004, S. 171-172; künftig zitiert als: Neurath: Terror.
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grund der Nürnberger Prozesse erscheint es als plausibel, dass der erste Traum auch (und nicht zuletzt) die Beteiligung der Reichsbahn an der Vernichtung der europäischen Juden reflektiert.14 Diese Interpretation steht im Widerspruch zu der Hypothese, die gelegentlich in der Sekundärliteratur zu finden ist, von Eich werde die Flucht von Deutschen beschrieben, die gegen Ende des Krieges aus den ,Ostgebieten‘ Richtung Westen aufbrachen. Doch der Bezug auf die „Vertriebenen“ ist wenig einleuchtend. Ginge es um Vertreibungen, dann müssten Ziel und Ankunft des Zuges als positiv erscheinen, denn sie würden die Rettung vor ,dem Russen‘ verbürgen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Erreichung des Zieles ist identisch mit dem Tod der gesamten Familie. Auch unterschlagen die genannten Interpretationen die Tatsache, 14
Der Germanist Jürgen Joachimsthaler, der mit scharfer Kritik an Eich hervorgetreten ist, vertritt mit Blick auf die Einleitung zum ersten Traum hingegen die These, die Rede sei „nicht von deportierten Juden, sondern von nach Kriegsende aus ihrer Heimat vertriebenen Deutschen (und vergessen wir nicht, dass jenes Ferienhaus in Poberow, das Eich mit seiner Hörspielarbeit im ‚Dritten Reich‘ abarbeitete, ebenfalls in Pommern lag, Eich also mit zu den Verlierern der Grenzverschiebungen gehörte – und dass er in dem mehrfach überarbeiteten Gedicht ‚Oder, mein Fluss‘ [z.B. I, 209-212] den verlorenen Gebieten sehr wohl nachtrauerte.)“ Jürgen Joachimsthaler: „Günter Eich im bundesrepublikanischen Kontext“, in: Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991, hg. von Max Zybura unter Mitwirkung von Maizmierz Woycicki, Dresden 2002, S. 257-285, Zitat S. 263. Joachimsthaler geht augenscheinlich von der Idee aus, dass derjenige, der einen Traum träumt, zugleich immer auch im Zentrum desselben steht: Ein Nicht-Jude kann demnach nur von nicht-jüdischen Traumgestalten träumen. Doch wieso sollte das so sein? Besteht denn eine Trennung zwischen Juden und NichtJuden, die bis in die Träume hineinwirkte? – Anders liest sich die Interpretation von Glenn R. Cuomo: „In the first dream in ‚Träume‘ (‚dreams‘ by a German), there are obvious allusions to Gestapo terror, to deportation and extermination. One figure recalls how men in strange uniforms dragged him and his family out of bed in the middle of the night and sent them off in a locked freight car. Verses following this scene introduce a new concept, that of collective guilt: ‚Denke daran, dass du schuld bist an allem Entsetzlichen, / das sich fern von dir abspielt.‘ Eich’s allusions to the fascist period are more pronounced in the second version of ‚Träume‘, published in 1953, than they had been in the original broadcast. The verses he added to its conclusion evoke memoiries of the concentration camps and warn against the imminent revival of totalitarism […].“ Glenn R. Cuomo: Career at the cost of compromise. Günter Eich’s life and work in the years 1933-1945, Atlanta 1989, S. 5-6; künftig zitiert als: Cuomo: Career. („In dem ersten Traum der ‚Träume‘ (den ‚Träumen‘ eines Deutschen) gibt es ganz offensichtliche Anspielungen auf Gestapo-Terror, Deportation und Vernichtung. Eine Figur erinnert daran, wie Männer in merkwürdigen Uniformen ihn und seine Familie mitten in der Nacht aus den Betten gerissen hätten, um sie in einem geschlossenen Güterwaggon weg zu schicken. Die Verse, die auf diese Szene folgen, führen ein neues Konzept ein, nämlich das der Kollektivschuld: ‚Denke daran, dass du schuld bist an allem Entsetzlichen, / das sich fern von dir abspielt.‘ Eichs Anspielungen auf die faschistische Zeit sind in der zweiten Fassung der ‚Träume‘, die 1953 erschien, noch deutlicher als in der Ursendung. Die Verse, die er zu seiner Schlussfolgerung hinzufügte, evozieren Erinnerungen an die Konzentrationslager und warnen zugleich vor einer Renaissance des Totalitarismus, die unmittelbar bevorstehe […].“ [Übersetzung A.P.])
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dass im Hörspiel von einer nächtlichen Verhaftung die Rede ist. Diese ist schlicht unvereinbar mit dem Verlauf, den die Flucht der Deutschen aus den ‚Ostgebieten‘ nahm. Sie fürchteten, von den sowjetischen Truppen eingeholt zu werden, doch Verhaftungserfahrungen durch uniformierte Männer machten sie nicht. Die Autoritäten sorgten im Gegenteil oft dafür, dass die Zivilbevölkerung in ihren Häusern blieb. Fluchtvorbereitungen galten als ‚Wehrkraftzersetzung‘. Fest steht, jenseits der ungenauen Lektüre durch manche Interpreten, eines: Im Hörspiel wird eine Zugfahrt geschildert – eine Reise und ihre Auswirkungen auf die Zeitwahrnehmung der „Internationale der Generationen“15, die in den Zug gezwungen wurden. Was jedoch nicht geschildert wird, ist das Ende der Zugfahrt, ist die Ankunft. Eichs Hörspiel arbeitet mit Aussparungen. Es thematisiert den Weg auf den Schienen, hebt jedoch die Ankunft im Ungewissen der Vorstellung auf, dass die Reise zweck-, ziel- und zeitlos sei. Es wird nicht explizit gesagt, was die Auschwitz-Überlebende Eva Tichauer mit Blick auf die Rampe von Auschwitz in die Worte fasst: „Ce n’est pas une gare, mais notre terminus.“16 („Das ist kein Bahnhof, sondern unsere Endstation.“ [Übersetzung A.P.]) Oder, ähnlich, Charlotte Delbo: „Un bord de voie qui n’était pas une gare.“17 („Ein Rand am Schienenstrang, der kein Bahnhof war.“ [Übersetzung A.P.]) Auch der Weg in die Waggons hinein wird nur andeutungsweise zum Thema, nämlich durch die Frage nach den Verantwortlichen für die Verhaftung. Weil aber die Reise keine Veränderung mit sich bringt, ist sie in gewisser Weise keine Reise mehr. Reisen definieren sich im Normalfall durch einen Beginn und ein Ende (sie sind, um mit Christa Wolf zu sprechen, „paarig“)18 – doch in den Traumstrukturen, die Eich entwirft, überwiegt die Idee der Monotonie, die, zusammengefasst in der ersten Regieanweisung, für die gesamte Dauer der dann einsetzenden Gespräche bestimmend bleibt: „Ein langsam fahrender Zug.“ Das Hörspielskript verlangt also, dass die Gespräche durch das gleichmäßige Rattern des Zuges untermalt werden. Gezeigt werden soll, dass der Zug zwar von der Stelle kommt, doch ohne dass dies eine Veränderung für diejenigen mit sich brächte, die in ihm sitzen. (In der Inszenierung von Fritz Schröder-Jahn wird eben dieser Aspekt durch ein surrendes Geräusch unterstrichen, der den gesamten Traum über anhält. Es handelt sich um kein echtes Zugrollen, sondern ist eine Klangkomposition, die sich in ihrer Monotonie nur entfernt an „realen“ Geräuschen abarbeitet.) Bei aller äußeren, aufgezwungenen Bewegung sind die Zuginsassen zugleich der totalen Bewegungslosigkeit anheimgegeben. Dies gilt nicht nur für die alten Leute, sondern auch und gerade für ihre Kinder und Kindeskinder. Diese kennen allein die Bewegung eines Zuges, die keiner Bewegung mehr entspricht. Zeit, Dauer, Anfang und Ende sind als Begriffe, so die Fiktion des Hörspiels, für die Jüngsten nicht einmal in Ansätzen verständlich. 15 16 17 18
Günther Anders: Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, S. 95; künftig zitiert als: Anders: Endzeit. Eva Tichauer: J’étais le numéro 20832 à Auschwitz, Paris 1988, S. 53; künftig zitiert als: Tichauer: Numéro. Charlotte Delbo: Le convoi du 24 janvier, Paris 2013, S. 11; künftig zitiert als: Delbo: Convoi. Christa Wolf: Kindheitsmuster, Frankfurt/M. 1990, S. 70; künftig zitiert als: Wolf: Kindheitsmuster.
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„EIN LANGSAM FAHRENDER ZUG“ On ne compte pas le temps quand on est libre –, toute la journée nous comptions le temps jusqu’au soir.19 Man zählt nicht die Zeit, wenn man frei ist –, den ganzen Tag über zählten wir die Zeit bis zum Abend.
Wenn man davon ausgeht, dass Zuggeräusche eine „auditive Ikone“ des Holocaust darstellen (die, so ist hinzuzufügen, die Züge als visuelle Ikone verstärken), dann stellt sich die Frage, welche Rolle Züge überhaupt für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik spielten, vor welchem historischen Hintergrund Eich also seine literarische Traum-Welt zur Deportation entwickelte. Im Blick auf Raul Hilbergs Untersuchungen zur Rolle der Bürokratie für die Organisation der Verfolgung in ganz Europa muss betont werden, dass die jüdische Bevölkerung „nicht ohne die Mitarbeit der Reichsbahn [hätte] vernichtet werden können.“20 Das Bahnpersonal stand – über die Grenzen Deutschlands hinaus – vor komplexen Aufgaben. Zum regulären Personen- und Warenverkehr trat der massenhafte Transport von Soldaten und Waffen. Die Deportation der jüdischen Bevölkerung war zusätzlich zu ‚erledigen‘. Viele Überlebende berichteten nach 1945, dass die Züge immer wieder aufgehalten und auf Nebengleise – „binar[i] mort[i]“ („tote Gleise“ [Übersetzung A.P.]) im Wortsinn21 – geschoben worden seien. Selbst Transporte, die nur kurze Strecken zurückzulegen hatten, waren oft tagelang unterwegs. So zeigt beispielsweise der Fahrplan Bialystok-Auschwitz, dass für die Bewältigung dieser kurzen Strecke 23 Stunden erforderlich waren.22 In Lanzmanns Shoah berichten Überlebende aus dem weit entfernten Korfu von Deportationen, die zwei Wochen dauerten. Die Langsamkeit der Züge war kein Zufall. Sie verwies auf die organisatorischen Schwierigkeiten, die im Blick auf die Vernichtungspolitik zu überwinden waren. Zur Einsparung von Lokomotiven und zur Verringerung der Gesamttransportzahl verlängerte man die Züge und schöpfte das Fassungsvermögen der Wagen voll aus. Für die jüdischen Sonderzüge bedeutete diese Sparmaßnahme, dass die Norm von 1000 Deportierten pro Zug auf 2000 und bei kürzeren Strecken (innerhalb Polens) auf 5000 hinaufgeschraubt werden konnte. Vermutlich hatte eine Person ungefähr einen Viertel Quadratmeter Raum zur Verfügung. Durch das hohe Gewicht verlangsamte sich die Geschwindigkeit der Züge. Die Höchstgeschwindigkeit der Güterzüge lag jetzt bei etwa 65 km/h, die der Judenzüge bei etwa 50 km/h.23
Günter Eichs Regieanweisung „Ein langsam fahrender Zug“ erscheint vor dem Hintergrund dieser Informationen als zentral. Für die Deportierten war der Faktor Zeit bei
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Delbo: Auschwitz, Bd. 2, S. 29. Raul Hilberg: Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1981, S. 19; künftig zitiert als: Hilberg: Sonderzüge. Primo Levi: La Tregua, Turin 1997, S. 219; künftig zitiert als: Levi: Tregua. Hilberg: Sonderzüge, S. 80-81. Ebd.
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dieser Reise „entre deux mondes“24 („zwischen zwei Welten“ [Übersetzung A.P.]) von eminenter Bedeutung. Wie viel Zeit für die Zurücklegung einer bestimmten Strecke benötigt wurde, wie „langsam“ der Zug war, war eine Überlebensfrage. Ob der Zug langsamer oder schneller fuhr, hatte direkten Einfluss darauf, wie viele Menschen überhaupt lebend den Zielort erreichten. Während das Bahnpersonal sich lediglich für die Frage interessierte, wie Umleitungsstrecken effizient genutzt und der Stau von Zügen im Schienennetz vermieden werden könnten, war die normale Wahrnehmung von Zeit für die Deportierten vollkommen ausgehebelt. Für sie wurde die „Reise“ schon vor der Ankunft in den Vernichtungslagern zu einer Bedrohung ihres Lebens. Dass die Langsamkeit der Transporte in vielen Zügen ein Massensterben implizierte, steht mit dem Zeugnis von Überlebenden in Zusammenhang, das Gefühl habe sich ihrer bemächtigt, die Zeit selbst sei zum Stillstand gekommen. David Rousset schreibt: „Le glissement enroué des portes. Stupide stupéfaction, celle du rat surpris dans la boîte. […] Les égoismes ne peuvent rien construire dans un wagon avec cent hommes, à moins de tuer.“25 („Das verrostete Gleitgeräusch der Türen. Dumme Verblüffung – die der überraschten Ratte, die in eine Falle gegangen ist. […] Die Egoismen können in einem Waggon mit hundert Menschen nichts aufbauen, es sei denn sie töten.“ [Übersetzung A.P.]) Das Bahnpersonal draußen verfuhr indes mit der Kälte technischen Sachverstands. Es war keineswegs nötig, den Deportationszügen Vorrang vor anderen Zügen einzuräumen. Anders als die Züge für Soldaten konnte man sie, wenn nötig, warten lassen. Dem Gefühl auf Seiten der Deportierten, dass die Zeit aufgehört habe zu vergehen, standen also die Überlegungen der Organisatoren des Personenverkehrs gegenüber, für die die Aufrechterhaltung des Funktionierens des Gesamtsystems wie selbstverständlich vor den Fahrzeiten der Einzelzüge rangierte. „Ein langsam fahrender Zug“ war für sie dennoch ein Zug, der fuhr – wenn auch langsam. Für diejenigen, die, oft ohne ausreichende Nahrung und – schlimmer noch – ohne Wasser, in den Waggons eingekeilt waren, war ein „langsam fahrender Zug“ hingegen ein Zug, der den Transport zu einer Zeit des Todes machte. Und so ist mit Hilberg festzuhalten: „Trotz aller Probleme und Verzögerungen blieb in der ganzen Zeit kein einziger Jude wegen Transportschwierigkeiten am Leben.“26 Vor dem Hintergrund dieser letztlich eben doch furchtbar effizienten und zugleich unbeteiligten Organisation der Vernichtung ist Günther Anders zuzustimmen, der dafür plädiert, den Ausdrücken „Fernsprecher“ und „Fernschreiber“ den Ausdruck „Fernmörder“ (bzw. „Fernmord“) nachzubilden: Was entscheidend war, war die Bürokratisierung der Vernichtungspolitik, die ganz woanders (will heißen: nicht am Tatort) und zudem auf einer anderen Zeitebene stattfand.27
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Rousset: Jours, S. 22. Ebd., S. 22-23. Ebd., S. 89. Günther Anders: Der Mann auf der Brücke, München 1963, S. 142; künftig zitiert als: Anders: Mann.
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ERSTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: DIE ZEIT ALS TORTUR Vierzig Jahre und eine Nacht dites-nous par exemple comment se passait une journée c’est si long une journée que vous n’auriez pas la patience et quand nous répondons vous ne savez pas comment passait une journée et vous croyez que nous ne savons pas répondre.28 sagt uns zum Beispiel wie ein Tag ablief ein Tag ist so lang dass ihr nicht die Geduld hättet und wenn wir antworten wisst ihr nicht wie ein Tag ablief und ihr glaubt dass wir nicht zu antworten verstehen. [Übersetzung A.P.]
Jorge Semprun, der im September 1943 verhaftet und anschließend nach Buchenwald deportiert wurde, gestaltet in seinem Roman Le grand voyage – Die große Reise – eben dieses Nicht-Vergehen von Zeit als Begegnung mit dem Tod. Eine vergleichende Analyse zwischen seiner Gestaltung von Zeit und der von Eich soll im Folgenden versucht werden. Sie soll dazu dienen, den Zeitstrukturen des Hörspiels ein genaueres Profil zu geben. Ich lade also dazu ein, einen Umweg, hinein in einen ganz anderen Text, hinein in die Verarbeitungsversuche eines Überlebenden des „konzentrationären Universums“, mitzumachen, um sodann, in einem zweiten Schritt, zu Eichs Text zurückzukehren. Es wird um die Herstellung von Kontrasten gehen, um den Versuch, die Zeitwahrnehmung, wie sie Sempruns autobiographisch gefärbter Text gestaltet, zu vergleichen mit dem Zeit-Traum(a) Eichs. Beginnen möchte ich mit den zwei Hauptgestalten von Sempruns Roman. Mit Blick auf einem Freund, der den fiktiven, doch autobiographisch grundierten IchErzähler auf der „Reise“ begleitet, heißt es: Je ne dirai pas au gars de Semur que toutes les nuits finissent, car il en arrivera à me taper dessus. D’ailleurs, ce ne serait pas vrai. A ce moment précis, cette nuit n’en finira pas. A ce moment précis, cette quatrième nuit de voyage n’en finira pas.29 Ich würde dem Typen aus Semur nicht sagen, dass alle Nächte einmal enden, denn es würde dazu führen, dass er mir eine langt. Übrigens wäre es nicht wahr. In eben diesem Moment wird diese Nacht nicht enden. In eben diesem Moment wird diese vierte Nacht der Reise nicht enden. [Übersetzung A.P.]30
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Delbo: Auschwitz, Bd. 3, S. 77. Jorge Semprun: Le grand voyage, Paris 2011, S. 86; künftig zitiert als: Semprun: Voyage. Abelle Christaller unterdrückt bei seiner Übersetzung das Futur, das für die paradoxe Zeitwahrnehmung des Textes so entscheidend ist: „In diesem Augenblick hört diese Nacht nicht mehr auf. In diesem Augenblick hört die vierte Nacht dieser Reise nicht mehr auf.“
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Im Vergleich dazu wird im Hörspiel von der ältesten Generation die Vermutung angestellt, dass seit dem Beginn der Reise vierzig Jahre vergangen sind. URALTER Es sind sicher an die vierzig Jahre her. URALTE Ja, so lange ungefähr.31
Bei Semprun dauert die Fahrt hingegen lediglich vier Tage und fünf Nächte. Doch darf das Wort „lediglich“ verwendet werden? Ist nicht im Gegenteil davon auszugehen, dass Sempruns Fahrt länger dauert als vierzig Jahre? Die Fahrt dauert, so sein Argument, weil sie nie enden wird. Sie wird im vollen Wortsinn endlos, weil es kein Maß mehr für den Begriff von Dauer gibt. Die Zeit erscheint als still gestellte. Zeit und Tod fallen zusammen.32 Dass die Zeit nicht mehr „vorankommt“, verweist auf die Maßlosigkeit der Qual, die von denjenigen erlebt wird, die die Reise zu überdauern versuchen.33 In der Tat waren die Zustände in manchen Waggons derart katastrophal, dass es beim Eintreffen der Züge kaum Überlebende gab.34 Besonders die Enge erwies sich als unerträglich. Die Waggons hätten, so Rousset, den Anblick „d’un métro aux heures
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Jorge Semprun: Die große Reise, Frankfurt/M. 1994, S. 84; künftig zitiert als: Semprun: Reise. Ich glaube, dass meine Übersetzung hier genauer ist. Eich: Träume, S. 353. „Die ‚Anonymität‘ der endlosen Zeit war also ein weiterer Faktor, der zur Zerstörung der Persönlichkeit beitrug, während die Möglichkeit, die Zeit einzuteilen, sich stärkend auswirkte; denn sie ließ Raum für Initiative und Planung, z.B. Einteilung des Kräftehaushaltes.“ Bruno Bettelheim: „Das Schicksal der Helden“, in: Stimmen aus Buchenwald, hg. von Holm Kirsten und Wulf Kirsten, Göttingen 2003, S. 93-97, Zitat S. 94; künftig zitiert als: Bettelheim: „Schicksal“. Für die Zeitwahrnehmung in den Lagern galt – „natürlich“ – das gleiche: „Unter den Häftlingen kursiert der Spruch: ‚Zwei Wünsche hat der Mensch im Konzentrationslager: vormittags, dass es bald Mittag wird, und nachmittags, dass es bald Abend wird.‘“ Neurath: Terror, S. 57. Saul Friedländer berichtet von Massakern in Iasi, die durch die dann einsetzenden Transporte gewissermaßen fortgesetzt wurden. Jetzt töteten allerdings nicht mehr die Mörder direkt, sondern es töteten die Züge: „Das früheste großangelegte Massaker an rumänischen Juden fand vor der Wiederbesetzung der ‚verlorenen Provinzen‘ (Bessarabiens und der nördlichen Bukowina) im eigentlichen Rumänien, besonders in Iasi, der Hauptstadt des einstigen Fürstentums Moldau, statt. Am 26. Juni 1941 begannen als ‚Vergeltung‘ für zwei sowjetische Luftangriffe und ‚zwecks Niederschlagung eines jüdischen Aufstands‘ die Tötungen; organisiert waren sie von rumänischen und deutschen Abwehroffizieren sowie von einheimischen Polizeieinheiten. Nachdem in der Stadt Tausende von Juden ermordet worden waren, pferchte man weitere Tausende von ihnen in die hermetisch verschlossenen Waggons zweier Güterzüge, die auf eine mehrtägige ziellose Fahrt geschickt wurden. In dem ersten Zug erstickten und verdursteten 1400 Juden; im zweiten fand man 1194 Leichen. Die genaue Zahl der Opfer des Pogroms von Iasi ist noch strittig, aber sie lag möglicherweise über 10.000.“ Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2 (= 1939-1945), München 2006, S. 253; künftig zitiert als: Friedländer: Vernichtung. Vgl. zu diesem Massensterben auch die Fotos auf den nächsten Seiten.
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d’affluence“ (d.h. „einer Metro zur Stoßzeit“ [Übersetzung A.P.].) geboten.35 Zu Anfang hätten alle hier Eingesperrten nur ein Gefühl gehabt: „L’idée saisissante, encore incroyable, que des jours vont passer ainsi.“36 („Die erschütternde Idee, die noch ganz unfassbar erschien, dass Tage und Tage auf diese Weise vergehn würden.“ [Übersetzung A.P.]) Semprun hält fest, welcher Anblick sich bot, wenn diese Tage vorüber waren: J’ai vu arriver les trains des Juifs, les transports des Juifs évacués des camps de Pologne. Ils étaient près de deux cents dans chaque wagon cadenassé, près de quatre-vingts de plus que nous. Cette nuit-là, à côté du gars de Semur, je n’ai pas essayé d’imaginer ce que cela pouvait représenter, d’être deux cents dans un wagon comme le nôtre. Après, oui, quand on a vu arriver les trains des Juifs de Pologne, j’ai essayé d’imaginer. Et ça a été un rude hiver, cet hiver de l’année suivante. Les Juifs de Pologne ont voyagé six jours, huit jours, dix jours parfois, dans le froid de ce rude hiver. Sans manger, bien entendu, sans boire. A l’arrivée, quand on tirait les portes coulissantes, personne ne bougeait. Il fallait écarter la masse gelée des cadavres, des Juifs de Pologne morts debout, gelés debout, ils tombaient comme des quilles sur le quai de la gare du camp, pour trouver quelques survivants. Car il y avait des survivants.37 Ich habe Züge mit Juden ankommen sehen, die Transporte mit Juden, die aus den polnischen Lagern evakuiert worden waren. In jedem Waggon waren fast zweihundert eingepfercht, fast achtzig mehr als bei uns. In jener Nacht, neben dem Typen aus Semur, habe ich nicht versucht, mir vorzustellen, was das bedeuten mochte, zweihundert zu sein in einem Waggon wie dem unseren. Später, als wir die Züge mit den Juden aus Polen ankommen sahen, ja, da habe ich versucht, mir das vorzustellen. Und es war ein harter Winter, der Winter des darauffolgenden Jahres. Die Juden aus Polen sind sechs Tage auf Reisen gewesen, sieben Tage, mitunter zehn Tage, in der Kälte dieses strengen Winters. Ohne zu essen natürlich, und ohne zu trinken. Bei der Ankunft zog man die Schiebetüren auf, niemand bewegte sich. Man musste die vor Kälte starrende Masse der Kadaver auseinander schieben, Juden aus Polen, die stehend gestorben, stehend zusammengefroren waren, um auf dem Bahnsteig des Lagers einige Kegel zu finden, um einige Überlebende zu finden. Denn es gab Überlebende. [Übersetzung A.P.]
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Rousset: Jours, S. 23. Ebd., S. 23. Semprun: Voyage, S. 116.
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Abb. 1: Deportationszug in Bulgarien38
Semprun nennt genaue Zahlen. Er selbst war vier Tage und fünf Nächte unterwegs. Andere Züge, in denen die jüdische Bevölkerung fortgeschafft wurde, waren sechs Tage unterwegs, wenn nicht gar acht oder zehn. Wenn bei einer Reise von fünf Tagen Dauer die Qual als endlos wahrgenommen wurde, ist nicht auszudenken, so Sempruns Argumentation, was Zeit bei einer Reise von sechs, acht oder zehn Tagen Dauer bedeutete.39 Rudolf Vrba, ein slowakischer Jude, der lange an der Rampe tätig war, 38 39
Quelle: Archiv: Yad Vashem Photo Archive; Land: Bulgarien; Bildnummer: 91GO5. Genaue Zahlen haben auch die Täter selbst aufgeführt. So berichtete der Polizeileutnant Karl „am 13. April 1943 über einen Transport von Skopje (Mazedonien) nach Treblinka: „Am 29.III. 1943 um 6 Uhr begann im dortigen ehemaligen Tabaklager das Einladen von 2404 Juden in Güterwagen. Es wurde um 12 Uhr beendet, und um 12,30 folgte die Abfahrt. Der Transportzug fuhr über albanisches Gebiet. […] Am 5.IV. 1943 wurde um 7 Uhr das Endziel Treblinka (Lager) erreicht. Am gleichen Tag von 9 bis 11 Uhr wurde der Zug ausgeladen. […] Besondere Ereignisse: Während der Fahrt starben 5 Juden, und zwar in der Nacht des 30.III. 1943 eine 76jährige alte Frau, in der Nacht des 31.III. 1943 ein 85jähriger alter Mann, am 3.IV. 1943 eine 94jährige alte Frau und ein sechs Monate altes Kind, und am 4.VI 1943 eine 99jährige alte Frau. […] Transportbestand: aufgenommen 2404 Personen, Abgang 5 Personen, in Treblinka abgeliefert 2399 Personen.“ Friedländer: Vernichtung, S. 521. Friedländer bezieht diesen Bericht aus: Yitzhak Arad: Belzec, Sobibor, Treblinka, Bloomington 1999, S. 145. – Primo Levi berichtet, dass er nach seiner Befreiung mit Menschen vollgestopfte Züge gesehen und benutzt habe. Dennoch seien diese mit dem, was er selbst während der Deportation erlebt hatte, nicht vergleichbar gewesen: „I vagoni erano sessanta: vagoni merci, piuttosto sgangherati, in sosta sul binario morto. […] [E]ravamo millequattrocento, vale a dire da venti a venticinque uomini per vagone, il che, alla luce delle nostre molte esperienze ferroviarie precedenti, voleva dire un viaggiare comodo e riposante.“ Levi: Tregua, S. 219. („Sechzig Waggons gab es,
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bevor ihm die Flucht aus Auschwitz gelang, gibt Aufschluss darüber, was beim Eintreffen der Züge geschah: dass nämlich, um mit Rousset zu sprechen, die Zeit als Tortur erfunden worden sei. „Une bien belle découverte.“40 („Eine wirklich schöne Erfindung.“ [Übersetzung A.P.]) Hermann Langbein resümiert: Die Behandlung der Ankömmlinge durch die SS war unterschiedlich. Es kam darauf an, in welchem Zustand der Transport in Auschwitz ankam. Es hing aber auch von der Laune der beteiligten SS-Leute ab. Traf ein Transport ein, bei dem unterwegs schon zirka zehn bis fünfzehn Prozent der Häftlinge gestorben war, dann gab es nicht mehr viel zu verheimlichen. Man konnte dann den Neuangekommenen nicht mehr mit Höflichkeit imponieren. Infolgedessen ging die SS gegen solche Leute brutal vor. Gewann die SS den Eindruck, dass die Neuangekommenen noch nicht ahnten, was sie in Auschwitz erwartete, so ging man relativ höflich vor.41
Diese Beobachtungen zeigen das ganze Ausmaß an Gewalt, das schon vor dem Eintreffen der Züge in den Konzentrationslagern herrschte. So ist denn kaum überraschend, dass sich das Nachdenken über das Aus-der-Zeit-geworfen-Sein wie ein roter Faden durch die Zeugnisse von Überlebenden der Shoah zieht. Ruth Klüger, die als Kind von Theresienstadt Richtung Auschwitz weiterdeportiert wurde, konstatiert wie in Anlehnung an Sempruns Romantitel Le grand voyage: „[D]iese Fahrt war die längste je.“42 Zalmen Gradowski, Mitglied des Auschwitzer Sonderkommandos, betont seinerseits: On dirait que le voyage dure depuis une éternité. C’est que nous sommes montés dans l’éternel train juif errant à la disposition des peuples et nous devons y monter ou en descendre suivant leur bon vouloir et leur degré de compréhension.43 Man würde sagen, dass die Reise schon eine Ewigkeit andauert. Denn wir sind in den ewigen Zug des ewigen Juden gestiegen, der den Völkern zur Verfügung steht, und wir müssen in ihn ein- oder aus ihm aussteigen, je nach ihrem guten Willen und ihrem Maß an Verständnis. [Übersetzung aus dem Französischen A.P.]) 44
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44
ziemlich klapprige Güterwaggons, die auf einem Abstellgleis warteten. Wir waren tausendvierhundert, d.h. zwanzig bis fünfundzwanzig Menschen pro Waggon, was vor dem Hintergrund unserer vielen, zuvor gemachten Erfahrungen mit der Eisenbahn eine bequeme und erholsame Reise bedeutete.“ [Übersetzung A.P.]) Rousset: Jours, S. 146. Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz, München 1999, S. 177; Hervorhebungen A.P.; künftig zitiert als: Langbein: Menschen. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1999, S. 109; künftig zitiert als: Klüger: weiter leben. Zalmen Gradowski: Notes, in: Des voix sous la cendre. Manuscrits des Sonderkommandos d’Auschwitz-Birkenau, Paris 2005, S. 27-72, Zitat S. 40; künftig zitiert als: Gradowski: Notes. Der französische Ausdruck „juif errant“ entspricht im Deutschen dem „ewigen Juden“. Doch bei dieser Übersetzung kommt die Idee des „Herumirrens“ nicht zum Ausdruck, die im Verb „errer“ enthalten ist.
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Und an anderer Stelle: „Chaque seconde est une éternité, chaque seconde un pas de plus vers la mort.“45 („Jede Sekunde ist eine Ewigkeit, jede Sekunde ist ein weiterer Schritt Richtung Tod.“ [Übersetzung A.P.]) Erneut David Rousset: „Impossible de compter les heures, de mesurer le temps.“46 („Unmöglich, die Stunden zu zählen, die Zeit zu messen.“ [Übersetzung A.P.])47 Charlotte Delbo, die als französische Widerstandskämpferin verschleppt wurde („Activités anti-allemandes“ [= „antideutsche Aktivitäten“; Übersetzung A.P.] stand auf der Liste des SS-Mannes, der sie in Empfang nahm48), berichtet mit Blick auf das Zeugnis mehrerer Mitgefangenen, welche Zustände in dem „Evakuierungs“-Zug herrschten, der gegen Kriegsende Häftlinge aus der Salzmine Beendorf wegbrachte. Les détenues sont entassées dans des wagons de marchandises, des wagons ouverts, sauf celui où étaient Poupette, Cécile, Gilberte, Carmen et Lulu. Alors que dans les autres wagons, il y avait jusqu’à deux cent quarante individus, le leur n’en contenait que cent dix, plus trois SS d’escorte. D’emblée, elles comprennent que, pour ne pas périr pendant le voyage, il faut imposer une règle impitoyable, se diviser exactement – cinquante-cinq de chaque côté –, s’allonger à tour de rôle. L’ordre est strict: cinq femmes se couchent à un bout du wagon pendant une heure; vingt sont assises, emboîtées les unes dans les autres, jambes écartés, comme des guillemets, pendant une heure; les autres restent debout, serrées. Elles changent leurs places à tour de rôle. Grâce à quoi elles sont toutes arrivées vivantes. Dans les autres wagons il en allait autrement: les kapos, 45 46 47
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Ebd., S. 45. Rousset: Jours, S. 37. Vgl. auch das folgende Foto: Pogrom von Iaşi, Rumänien. Entstehungsdatum: 1.7.1941. Foto eines unbekannten Journalisten. Serviciul Roman de Informatii; vgl.: http://en.wiki pedia.org/wiki/File:%D7%A4%D7%95%D7%92%D7%A8%D7%95%D7%9D_%D7%9 9%D7%90%D7%A9%D7%99_5.jpg; abgerufen am 20.03.2016. Delbo: Convoi, S. 13. – Vgl. auch: Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 160. – Der französische Soziologe Michael Pollack hebt die Einzigartigkeit des literarischen Projekts der Autorin hervor: „Son premier livre, Aucun de nous ne reviendra, écrit en 1946, mais publié seulement en 1965, se distingue de tous les autres récits publiés dans l’immédiat après-guerre et annonce son approche littéraire. Déjà le titre, qui est aussi la conclusion (‚Aucun de nous ne reviendra, aucun de nous n’aurait dû revenir‘), établit le lien entre morts et vivants: les survivants, sauvés par la fin de la guerre et des camps, ne sont coupés des morts que par les quelques jours ou les quelques semaines séparant le moment de la libération de celui, tout proche, de l’anéantissement inscrit dans la logique du camp […].“ Michael Pollak: L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale, Paris 1990, S. 256; künftig zitiert als: Pollack: Expérience. („Ihr erstes Buch, Niemand von uns wird zurückkehren, das 1946 geschrieben, doch erst 1965 veröffentlicht wurde, unterscheidet sich von allen übrigen Werken, die unmittelbar nach dem Krieg erschienen und kündet bereits die literarische Annäherung an die Thematik an. Bereits der Titel, der zugleich einer Zusammenfassung gleichkommt (‚Niemand von uns wird zurückkehren, niemand von uns hätte zurückkehren dürfen‘), stellt die Verbindung zwischen Toten und Lebenden her: Die Überlebenden, denen das Ende des Krieges das Leben rettete, sind von den Toten nur durch die wenigen Tage oder Wochen geschieden, die die Befreiung von dem nahen Moment der Vernichtung trennte, die in die Logik des Lagers eingeschrieben war […].“ [Übersetzung A.P.])
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des prisonnières de droit commun, roulaient les détenus les plus mal en point dans une couverture, s’asseyaient sur elles, les étouffaient; il n’y avait plus qu’à secouer la couverture pardessus les ridelles pour faire de la place.49 Die Gefangenen sind in Güterwaggons zusammengepfercht, die Waggons offen, bis auf denjenigen, in dem Poupette, Cécile, Gilberte, Carmen und Lulu waren. Während sich in den anderen Waggons bis zu zweihundertvierzig Personen befanden, enthielt der Ihre nur hundertzehn, plus drei SS-Männer als Eskorte. Die Frauen verstanden sofort, dass man, wenn sie während der Reise nicht sterben wollten, eine unerbittliche Regel aufstellen musste, und zwar, sich genau aufzuteilen – fünfundfünfzig auf jeder Seite – und sich umschichtig hinzulegen. Die Ordnung ist streng: fünf Frauen strecken sich während einer Stunde im hinteren Teil des Wagens aus, zwanzig sitzen, ineinandergeschachtelt, während einer Stunde, die Beine auseinandergeklappt, wie Anführungszeichen; die anderen stehen, eng aneinandergepresst. Sie tauschen umschichtig ihre Plätze. Auf diese Weise sind alle lebend angekommen. In den anderen Waggons war dies anders: Die Kapos, inhaftierte Verbrecherinnen, rollten die schwächsten Gefangenen in einer Decke ein, setzten sich auf sie und erstickten sie; dann musste man nur noch die Decke über die Seitenwand decken, um Platz zu schaffen. [Übersetzung A.P.]
Doch nicht in allen Zügen waren Solidarität und Selbstdiziplin so groß, als dass eine solche Regelung hätte umgesetzt werden können. Rousset betont, oft sei das Misstrauen schon zu stark gewesen. „Comment déterminer les délais, puisqu’il n’y a pas de montre, ni aucun moyen de mesurer objectivement le temps?“ („Wie sollte man die einzuhaltenden Zeiten festlegen, da es doch weder eine Uhr noch sonst ein Mittel zur objektiven Zeitmessung gab?“ [Übersetzung A.P.]) Das, was Delbo berichtet, war also eine seltene Ausnahme. Im Übrigen war der Verlust der bis dahin gültigen Zeitwahrnehmung nicht auf die Züge beschränkt. Delbo insistiert in Bezug auf das, was sie nach ihrer Ankunft in Auschwitz erfahren hatte: „Il n’en finit pas, ce matin.“50 („Dieser Morgen, er endet nicht.“ [Übersetzung A.P.]) Und Jack Werber: „My life in Buchenwald was an eternity.“51 („Mein Leben in Buchenwald war eine Ewigkeit.“ [Übersetzung A.P.]) Auch Primo Levi kehrt in seinem Buch Se questo è un uomo stets von Neuem auf die neue Zeitwahrnehmung der Deportierten zurück: „Sapete come si dice ‚mai‘ nel gergo del campo? ‚Morgen früh‘, domani mattina.“52 („Wisst Ihr, wie man im Jargon des Lagers ‚niemals‘ sagt? ‚Morgen früh‘, Morgen früh.“ [Übersetzung A.P.]) Und weiter führt Levi aus: Anche oggi, anche questo oggi che stamattina pareva invincibile ed eterno, l’abbiamo perforato attraverso tutti i suoi minuti; adesso giace conchiuso ed è subito dimenticato, già non è più un
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Delbo: Convoi, S. 26-27. Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 160. Jack Werber: Saving Children. Diary of a Buchenwald Survivor and Rescuer, New Brunswick, London 1996, S. 3; künftig zitiert als: Werber: Children. Primo Levi: Se questo è un uomo, Turin 2005, S. 119; künftig zitiert als: Levi: Uomo. (Kursiv gedruckte Worte im Original in Deutsch).
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giorno, non ha lasciato traccia nella memoria di nessuno. Lo sappiamo, che domani sarà come oggi […]. Ma chi mai potrebbe seriamente pensare a domani?53 Auch heute, auch dieses Heute, das heute früh noch als unbesiegbar und ewig erschien, haben wir durch alle seine Minuten durchstoßen; jetzt ruht es abgeschlossen und ist sofort vergessen, schon ist es nicht mehr ein Tag, er hat bei niemandem eine Spur im Gedächtnis hinterlassen. Wir wissen, dass morgen so sein wird wie heute. […] Aber wer könnte ernsthaft an morgen denken? [Übersetzung A.P.]
Eugen Kogon betont seinerseits, dass der durch die Reise vorweggenommene, sich in den Lagern fortsetzende Zeitbegriff zu den ersten „Lektionen“ zählte, die den Neuankömmlingen erteilt wurden: „Die alten Konzentrationäre übergossen jeden Neuankömmling, der an die ‚kurze Frist‘ glaubte, mit Hohn und Spott. ‚Na ja‘, hieß es, ‚es sind nur die ersten fünfzehn Jahre, dann legt sich der Schmerz.‘“54 Primo Levi berichtet in ähnlichem Kontext, doch mit Blick auf Monowitz, von Auseinandersetzungen zwischen ‚kleinen‘ und ‚großen Nummern‘: … E fino a quando? Ma gli anziani ridono a questa domanda: a questa domanda si riconoscono i nuovi arrivati. Ridono e non rispondono: per loro, da mesi, da anni, il problema del futuro remoto è impallidito, ha perso ogni acutezza, di fronte ai ben più urgenti e concreti problemi del futuro prossimo […]. 55 … Und bis wann? Doch die Alten lachen über diese Frage: An dieser Frage erkennt man die Neuankömmlinge. Sie lachen und geben keine Antwort: Seit Monaten, seit Jahren ist für sie das Problem der fernen Zukunft verblasst, es hat im Angesicht der sehr viel dringlicheren und konkreteren Probleme der unmittelbaren Zukunft jede Schärfe verloren. [Übersetzung A.P.]
Der Verlust der Zukunft sei unmittelbarer Ausdruck der allgegenwärtigen Gewalt gewesen: [L]’esperienza ci aveva già dimostrato, infinite volte la vanità di ogni previsione: a che scopo travagliarsi per prevedere l’avvenire, quando nessun nostro atto, nessuna nostra parola lo avrebbe potuto minimamente influenzare? Eravamo dei vecchi Häftlinge: la nostra saggezza era il „non cercar di capire“, non rappresentarsi il futuro, non tormentarsi sul come e sul quando tutto sarebbe finito: non porre e non porsi domande.56 Die Erfahrung hatte uns schon unendlich oft gezeigt, dass jede Voraussicht eitel war: Wozu sollte man sich das Gehirn zermartern, um die Zukunft vorauszusehen, wenn keine unserer Taten, keines unserer Worte diese im Geringsten beeinflussen konnte? Wir waren alte Häftlinge [im Original auf Deutsch; A.P.]: Unsere Weisheit bestand im „Nicht versuchen, zu verstehen“, nicht
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Ebd. Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 302; künftig zitiert als: Kogon: SS-Staat. Levi: Uomo, S. 31. Ebd., S. 104.
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sich die Zukunft vorstellen, nicht sich sorgen, wie und wann alles enden würde: Keine Fragen stellen, auch sich selbst nicht. [Übersetzung A.P.]
Wenn wir von den hier vorgestellten Zitaten und ihrem Insistieren auf dem Aspekt der Ewigkeit der Qual erneut auf Eichs Hörspiel blicken, ergibt sich zunächst der Eindruck, die Lakonie, mit der bei Kogon wie bei Levi die Beschäftigung mit der Zukunft verabschiedet wird, entspreche ganz der Lakonie des Hinweises „Ein langsam fahrender Zug“. Und doch: Vermittelt die gleich darauf folgende Erwähnung einer Dauer von vierzig Jahren wirklich ein Gefühl davon, dass keine andere Fahrt länger sein könnte als eben diese eine, die die „längste je“ ist, weil in „eben in diesem Moment“ die Nacht „nicht enden wird“? Ist das Futur, dessen Semprun sich bedient, in den vierzig Jahren fassbar? Was war „Zeit“ in den Zügen? Gab es sie überhaupt noch? Kehren wir zum Ich-Erzähler in Le grand voyage zurück. Er vertritt implizit die These, dass die Zeit im Zug überhaupt aufgehört habe. Warum schreibt er aber nicht, dass in eben diesem Moment die Nacht nicht vergehe? Warum besteht er stattdessen darauf, dass die Nacht nicht vergehen wird? Der Satz, der die totale Gegenwart von Qual und Sterben zu vermitteln versucht, verweist auf eine Zeit, die noch nicht da ist, noch in der Zukunft liegt. Aber der Zugang zu eben dieser Zukunft ist abgeschnitten. Man kann im Jetzt nicht sagen, dass die Zeit vergehen wird und es irgendwann danach eine Zeit geben wird, in der die Nacht vergangen sein wird, weil in eben dieser Nacht die Qual so groß ist, dass jeder Hinweis auf ihren künftigen Eintritt in die Gegenwart und sodann Vergangenheit als Verhöhnung der Gequälten erscheinen müsste. Charlotte Delbo versucht, genau diese Erfahrung in Worte zu fassen – doch dieses Mal bezogen auf den Tag, nicht auf die Nacht: C’est le jour pour jusqu’à la fin du jour. La faim. La fièvre. La soif. C’est le jour pour jusqu’au soir. Les reins sont un bloc de douleur. C’est le jour pour jusqu’à la nuit. […] C’est le jour pour toute une éternité.57 Das ist der Tag bis zum Ende des Tages. Der Hunger. Das Fieber. Der Durst. Das ist der Tag bis zum Abend. Die Nieren sind ein schmerzender Block. Das ist der Tag bis zur Nacht. […] Das ist der Tag für eine ganze Ewigkeit. [Übersetzung A.P.]
Für den Tag gilt also das Gleiche wie für die Nacht, nämlich, um mit Paul Celan zu sprechen: „die Nacht ist die Nacht, sie beginnt mit dem Morgen“58: Nacht als Ausdruck tödlicher Bedrohung. Ein Satz, der nun wie bei Semprun das Futur verwendet und seine Möglichkeit zugleich radikal, d.h. ein für alle Mal, in Abrede stellt, ist ein Satz, der zwar wohl die Notwendigkeit der vollendeten Zukunft, die auf die Zukunft folgt, 57 58
Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 79. Paul Celan: Mohn und Gedächtnis, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt/M. 2000, S. 32; künftig zitiert als: Celan: Mohn.
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unterstreicht, zugleich aber die Zukunft voll in die Hoffnungslosigkeit des konkreten Momentes im Hier und Jetzt hineinnimmt. „La matinée s’écoule – du temps en dehors du temps“, so Delbo. („Der Vormittag geht vorüber – Zeit außerhalb der Zeit.“ [Übersetzung A.P.])59 Und erneut Primo Levi, dieses Mal mit Bezug auf den quälenden Hunger: Eccomi dunque sul fondo. A dare un colpo di spugna al passato e al futuro si impara assai presto, se il bisogno preme. Dopo quindici giorni dall’ingresso, già ho la fame regolamentare, la fame cronica sconosciuta agli uomini liberi, che fa sognare di notte e siede in tutte le membra dei nostri corpi […].60 So bin ich also ganz unten angekommen. Die Vergangenheit und die Zukunft mit einem Schwamm wegzuwischen, lernt man ziemlich schnell, wenn die Notwendigkeit auf einem lastet. Zwei Wochen nach meiner Einlieferung habe ich bereits den regulären Hunger, den chronischen Hunger, von dem die freien Menschen keinen Begriff haben, der einen in der Nacht bis in die Träume hinein verfolgt und in allen Gliedern unserer Körper sitzt. [Übersetzung A.P.]
Während von den Überlebenden das Nichtvergehen des einzelnen Augenblicks und damit die Unfassbarkeit von Dauer schlechthin betont wird, herrscht bei Eich die Monotonie der langen Dauer vor. Seine Figuren werden überwältigt von der Erkenntnis, dass Jahrzehnte, fast unbemerkt, verflossen sind: De-imperfektionierung und Defuturisierung ihres gesamten Lebens. Die Konsequenz ist eindeutig: Die Deportierten sitzen im wahrsten Sinne des Wortes in einer „‚Zeitzelle‘, die ‚praesens‘ heißt.“61 Kann aber die Absurdität des Eingeschlossenseins in einen Raum, in dem jahrzehntelang nichts geschieht – wenn nicht das eine: dass sich nämlich der Raum in der Zeit bewegt –, kann dies, so erneut meine Frage, einen Begriff vermitteln vom qualvollen Eingeschlossensein, der bei den Deportierten in der Wirklichkeit „nur“ wenige Tage dauerte? Anders gesagt: Können die vier Jahrzehnte in Eichs Literarisierung von Wirklichkeit in ein Verhältnis zur totalen Dauer der wenigen Tage in der Wirklichkeit gesetzt werden? Lässt sich die Maßlosigkeit realer Qual und Zeit im Übermaß eines vierzigjährigen Nichts ermessen? Oder geht bei Eich der Aspekt rasanter Veränderungen verloren, der im Beharren des nichtvergehenden Jetzt enthalten war? Denn auch dies geht aus Berichten von Überlebenden hervor: „Trois jours, cela paraît un siècle, et pourtant les changements que l’on constate sur ses camarades de voyage semblent se réaliser à une vitesse prodigieuse…“62 („Drei Tage scheinen ein Jahrhundert zu sein, und dennoch scheinen sich die Veränderungen, die man bei seinen 59
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Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 53. Und als Versuch, dies zu erklären, noch einmal, in anderem Kontext: „La porte est ouverte aux étoiles. Chaque matin il n’a jamais fait aussi froid. Chaque matin on a l’impression que si on l’a supporté jusqu’ici, maintenant c’est trop, on ne peut plus.“ Ebd., S. 102. („Die Tür öffnet sich den Sternen. An jedem Morgen ist es noch nie so kalt gewesen. An jedem Morgen hat man den Eindruck, dass es, wenn man es bisher ausgehalten hat, jetzt zu viel ist, man nicht mehr kann.“ [Übersetzung A.P.]) Levi: Uomo, S. 31. Anders: Endzeit, S. 120. François Wetterwald: Les morts inutiles. Un chirurgien français en camp nazi, Paris 2009, S. 21; künftig zitiert als: Wetterwald: Morts.
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Reisegefährten feststellt, mit rasender Geschwindigkeit zu vollziehen…“ [Übersetzung A.P.]) Diese vielen Fragen sind im Folgenden weiterzuverfolgen. Es geht mir darum, dieses „Detail“ auszuleuchten, immer tiefer, mit geradezu obsessiver Genauigkeit in es einzudringen. Denn fest steht schon hier: Die Züge enthielten bereits die Vernichtungslogik der Lager. Die Zeitwahrnehmung von Deportierten literarisch – in einem Hörspiel nämlich – gestalten und fassbar machen zu wollen, stellte also eine ungeheuer große und schwierige Aufgabe dar. Das Detail ist kein Detail. Als nur scheinbar „nebensächlicher“, gleichsam „vorbereitender“ Aspekt der „Verschickung“ ist er auf die richtige Größe zu bringen: durch Vergrößerung, d.h. eine Art von blow up. Und mein Gerät, um dies zu leisten, heißt erneut: Eichs Text durch die Unverhältnismäßigkeit der Zeugnisliteratur zu lesen. Cent hommes, c’est une incroyable variété de douleurs dans les bras, dans le dos, dans les jambes, dans les pieds; un besoin exagéré de se mouvoir, des élancements dans les cuisses, une talure prolongée et douloureuse au bas des reins. Le tout vous assaille brusquement. Par le diable, si l’imagination ne sait comment se repaître!63 Hundert Menschen, das ist eine unglaubliche Vielfalt von Schmerzen in den Armen, im Rücken, in den Beinen, in den Füßen; ein übertriebenes Bedürfnis, sich zu bewegen, stechende Schmerzen in den Schenkeln, ein anhaltender und schmerzender Druck in der Gegend der Nieren. Das alles springt dich ganz plötzlich an. Zum Teufel, wenn die Vorstellung nicht weiß, wie sie damit umgehen soll! [Übersetzung A.P.]
Abb. 2: Einheimische bei der Beseitigung der Körper des „Todeszugs“ von Iaşi-Clarasi, 1. Juli 194164
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Rousset: Jours, S. 23. Quelle: Yad Vashem Photo Archive. Zusatzinformationen: Im Bahnhof von Targu-Frumos wurden insgesamt 654 Körper vom Zug aus zum jüdischen Friedhof gebracht. Dort erfolgte die Einäscherung. Ort: Calarasi, Rumänien. Bildnummer: 90GO8.
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Die Wirklichkeit der Lukenblicke Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.65
Wenden wir uns erneut Eichs Text und dem Zusammenhang von Vorstellbarkeit und Zeit zu, doch versuchen wir, noch genauer zu sein bei dieser unverhältnismäßigen Lektüre. Eichs Figuren haben ebenso wenig ein Verhältnis zur Zukunft wie die Sempruns. Sie alle sind der totalen Gegenwart verfallen. Doch bei Eich kommt noch etwas anderes hinzu. Je jünger im Hörspiel die Figuren sind, desto stärker verweigern sie sich dem Bezug zur Vergangenheit. Die Zeit hier und jetzt ist eingeschlossen von beiden Seiten. Dass die Dinge früher anders gewesen sein oder in Zukunft wieder anders werden könnten, wird von den meisten Mitgliedern der dritten Generation für unmöglich erklärt. URALTE Kannst du dich erinnern: Es gab etwas, was wir Himmel nannten und Bäume. URALTER Hinter unserm Haus stieg der Weg etwas an bis zum Waldrand. Auf den Wiesen blühte im April der Löwenzahn. URALTE Löwenzahn, – was du für merkwürdige Wörter gebrauchst! […] URALTE Wie hieß die Blume, von der du vorhin sprachst, die gelbe? URALTER Löwenzahn. URALTE Löwenzahn, ja, ich erinnere mich. Ein Kind beginnt zu weinen. URALTE Was hat die Kleine? FRAU Was hast du, Frieda? KIND Sie sprechen immer von gelben Blumen. ENKEL Sie sprechen immer von Sachen, die es nicht gibt. KIND Ich möchte gern eine gelbe Blume haben. ENKEL Das kommt von deinem Gerede, Großvater. Das Kind will eine gelbe Blume haben. Niemand von uns weiß, was da ist. FRAU Es gibt keine gelben Blumen, mein Kind. KIND Aber sie erzählen es immer. FRAU Das sind Märchen, mein Kind. KIND Märchen? FRAU Märchen sind nicht wahr. URALTER Das solltest du dem Kind nicht sagen. Es ist doch wahr. ENKEL Dann zeig sie her, die gelbe Blume! URALTER Ich kann sie nicht zeigen, das weißt du. ENKEL Es ist also Lüge. URALTER Muss es deswegen Lüge sein?
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Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, Berlin 2016, S. 77; künftig zitiert als: Arendt: Böse.
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ENKEL Nicht nur die Kinder, uns alle machst du verrückt mit deinen Erzählungen. Wir wollen diese Märchen nicht kennen, wollen nicht wissen, was du dir Tag und Nacht zusammenträumst. URALTER Es ist nicht geträumt. Es ist das Leben, das ich früher geführt habe.66
Unterschiedliche Dokumente aus der Zeit des ‚Dritten Reiches‘ geben Auskunft darüber, dass die meisten Deportationen in Vieh- bzw. Güterwaggons erfolgten. Diese waren im besten Fall mit schmalen Luken ausgestattet, und zwar weit oben, knapp unter der Decke. Im Regelfall waren die Luken derart schmal, dass ein Entkommen aus ihnen unmöglich war. Um zu verhindern, dass überhaupt der Versuch zu einer Flucht unternommen wurde, wurden die Luken vielfach mit Stacheldraht überzogen. Abb. 3: Deportationszug67
Das hier eingefügte Foto zeigt, dass es nur wenigen (manchmal sogar nur einer einzigen Person) möglich war, aus dieser Luke nach draußen zu blicken. Für die These, dass Eichs Hörspiel sich mit den Deportationszügen auseinandersetzt, spricht also nicht allein die Erwähnung willkürlicher Verhaftungen, sondern auch die Abgeschlossenheit der Deportierten von der Außenwelt. Der Versuch des nationalsozialistischen Wachpersonals, Kontaktaufnahmen zwischen Drinnen und Draußen zu unterbinden, schlägt sich bei Eich in der Idee nieder, die Kinder (die im Zug geboren worden sein müssen) hätten noch nie Bäume, Himmel oder Löwenzahn gesehen.68 Ihr 66 67
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Eich: Träume, S. 353-354. Quelle: Bundesarchiv (Bild 183-68431-0005 / CC-BY-SA). Lizenztyp: Creative Commons CC-BY-SA 3.0. Das Foto stammt aus: Tadeusz Mazur, Jerzy Tomaszewski, Stanisław Wrzos-Glinka: 1939-1945 Cierpienie i walka narodu polskiego. Zdjecia – Dokumenty, Warschau 1958. Deutsche Übersetzung: Tadeusz Mazur, Jerzy Tomaszewski, Stanisław Wrzos-Glinka: 1939-1945 Die Leiden und der Kampf des polnischen Volkes, hg. vom Hauptverband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie in Warschau, Warschau 1958. Vgl. http://www.bpb.de/cache/images/8/152888-3x2-galerie.jpg?A91AA; abgerufen am 15.11.2016. In der historischen Forschung hat es Versuche gegeben, die Alltagswelt verfolgter, jüdischer Kinder zu beschreiben. Und zu dieser Untersuchung gehörte natürlich auch die Frage nach den Spielmöglichkeiten der Jüngsten. „Children’s ‚new‘ games accurately
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merkwürdiger Begriff von Zeit erklärte sich also auch aus dieser Abgeschlossenheit. In der Tat: Wer einmal in einem Deportationszug eingesperrt war, hatte nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit, die vorbeiziehenden Städte und Landschaften zu beobachten. Ruth Klüger berichtet, in ihrem Zug seien die Plätze in der Nähe der Luken sofort von den Stärksten eingenommen worden: Die Türen waren hermetisch geschlossen, Luft kam durch ein kleines Viereck von einem Fenster. Es kann sein, dass es am anderen Ende des Waggons ein zweites solches Fenster gab, aber dort war Gepäck angehäuft. In Filmen oder Büchern über solche Transporte, die ja seither relativ häufig fiktionalisiert worden sind, steht der Held nachdenklich am Fenster oder vielmehr an der Luke oder hebt ein Kind zur Luke, oder einer, der draußen ist, sieht den einen Häftling an der Luke stehen. Aber in Wirklichkeit konnte nur einer da stehen, und der hat seinen Platz nicht so leicht aufgegeben und war von vornherein einer mit Ellenbogen.69
Auch Rousset betont, der Kampf um die besten Plätze habe sofort nach Besteigen des Zuges begonnen: „Cohue tourbillonnante vers les angles, s’écrasant le long des parois pour avoir un appui au dos, près des étroites ouvertures aux volets mobiles pour un peu d’air.“70 („Ein wimmelnder Menschenhaufen, der zu den Ecken drängt, sich an den Wänden entlang drückt, um eine Stütze im Rücken zu haben oder ein bisschen Luft in der Nähe der schmalen Öffnungen mit den beweglichen Klappen.“ [Übersetzung A.P.]) Der entscheidende Unterschied zwischen der realen Situation, wie Klüger und Rousset sie schildern, und ihrer literarischen Verarbeitung besteht darin, dass die Möglichkeit, hinauszuschauen (und in der Nähe der Luftzufuhr zu sein), im ersten Fall als Vorteil galt, während sie im zweiten Fall, der Fiktion also, von den meisten Figuren abgewehrt wird. Das weinende Kind in Eichs Hörspiel wünscht sich zwar, zu erfahren, was Löwenzahn sei, doch die Erwachsenen lehnen die Möglichkeit vehement ab, dem Kind durch einen Blick nach draußen zu zeigen, wie er aussieht. Ihre Behauptung, der Löwenzahn sei ein Märchen, wirkt auf die Hörer des Hörspiels verstörend, weil damit die Verhafteten im Inneren des Waggons zu Komplizen derer werden, die sie verhaftet haben: Sie werden nicht nur durch Gewalt daran gehindert, nach draußen zu blicken,
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depicted the dramas and tragedies of ghetto life. Many Jewish youngsters had never known a park or a playground, had never owned a doll or stuffed animal, had never frolicked amid trees and […] meadows.“ Patricia Heberer: Children during the Holocaust (= Documenting Life and Destruction. Holocaust Sources in context), hg. vom United States Holocaust Memorial Museum und dem Center for Advanced Holocaust Studies, Maryland 2011, S. 299, künftig zitiert als: Heberer: Children. („Die ‚neuen‘ Spiele von Kindern stellten die Dramen und Tragödien des Ghettolebens dar. Viele junge Juden hatten keine Ahnung, was ein Park oder ein Spielplatz war, hatten niemals eine Puppe oder ein Stofftier besessen, hatten niemals zwischen Bäumen und […] Wiesen herumgetobt.“ [Übersetzung A.P.]) – Vgl. auch: Inge Deutschkron: Denn ihrer war die Hölle. Kinder in Ghettos und Lagern, Köln 1965, besonders S. 52-55 (Zeugnis von Hanna Hoffmann-Fischel [ca. 1960] über Spiele von Kindern im Lager.) Außerdem: George Eisen: Children and Play in the Holocaust. Games among the Shadows, Amherst 1988. Klüger: weiter leben, S. 109. Rousset: Jours, S. 23.
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sondern erklären sich gewissermaßen einverstanden damit, dass es die Außenwelt nicht gibt. Es geht bei Eich also nicht so sehr um die Unmöglichkeit, nach draußen zu sehen (etwa weil die Luken zu klein wären), sondern vielmehr um die Forderung der Erwachsenen, alles, was draußen existiert, aus dem Waggon auszuschließen. Die Aggressivität, die sich gegen die beiden „Uralten“ wendet, hat ihren Grund augenscheinlich in der Angst, die Welt draußen könne die Welt drinnen, im Waggon, in Gefahr bringen. Die literarische Verfremdung der Wahrnehmung des Verhältnisses von Drinnen und Draußen, wie wir sie aus autobiographischen Zeugnissen von Überlebenden kennen, besteht also darin, dass das Begehren sich nicht nach dem Draußen richtet, sondern im Gegenteil dem Drinnen – und damit dem Eingeschlossensein – gilt. Bäume, Himmel und Löwenzahn sind für die Erwachsenen nicht länger etwas, was in seiner Alltäglichkeit schön ist, sondern etwas, was den Alltag, wie er ihnen aufgezwungen wurde, in Gefahr zu bringen droht. In dem Maße, in dem die Unmöglichkeit, nach draußen zu sehen, als Alltag akzeptiert wird, verliert das Draußen die Qualität, Wirklichkeit zu sein. Das aber bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Gefangenen nicht einfach nur darum gefangen sind, weil es jemanden gab, der sie gefangen und eingesperrt hätte. Vielmehr sind die Gefangenen drinnen, weil sie selbst die Möglichkeit eines Draußen nicht anerkennen wollen.71
ZWEITE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: DRINNEN UND DRAUSSEN Freiheit der Gefangenschaft Interview mit Maria Mlawska, geboren 1935: „Die Eltern gingen zu den Deutschen arbeiten, bevor sie fortgingen, versteckten sie mich in einem Korb mit schmutziger Wäsche, der in einer dunklen Kammer stand, und meinen jüngeren Bruder versteckten sie in der Speisekammer unter einem Regal. Danach schlossen sie die Tür ab.“72
Die Idee, Eichs Gefangene seien drinnen, weil sie das Draußen nicht mehr anzuerkennen vermögen, ist jedoch nur eine Lesart unter anderen. Die Frage von Drinnen und Draußen kann auch unter einer ganz anderen Perspektive betrachtet werden. Andere Wahrnehmungsweisen, literarische Gestaltungsversuche und biographische
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Gilt also, was Paul Martin Neurath mit Blick auf den einzelnen Gefangenen in Dachau und Buchenwald schrieb? Dass nämlich seine „neue Welt“ beginnt, „einen ‚Sinn‘ zu ergeben“, „allmählich und ohne dass er es richtig merkt“? Neurath: Terror, S. 35. Interview mit Maria Mlawska vom 11. März 1946. Zu finden ist es in: Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948, hg. von Feliks Tych, Alfons Kenkmann, Elisabeth Kohlhaas, Andreas Eberhardt, Berlin 2008, S. 209-210, Zitat S. 209; künftig zitiert als: Tych u.a.: Kinder. Auch weitere Zitate werde ich unter dieser Kurzform anführen.
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Erlebnisse sollen im Folgenden zu Eichs Text in Beziehung gesetzt werden, und zwar erneut kontrastierend. Die Idee, diejenigen, die „drinnen“ waren, hätten das Draußen selbst verabschiedet, hätten sich selbst ihrer Freiheit begeben, wird von vielen AutorInnen vehement abgewehrt. Jorge Semprun gehört zu ihnen. Freilich: Semprun schreibt als nichtjüdischer „Rotspanier“, d.h. als Verteidiger der Republik und damit als politisch Verfolgter. Doch auch er gehörte zu den Deportierten, auch er hat, wie wir gesehen haben, das Nicht-Vergehen von Zeit in den Zügen erlebt und erlitten. Seiner autobiographischen Verarbeitung dieser Fahrt ist jedoch eine radikale Umkehrung zu entnehmen, die auf die Frage, was Drinnen und Draußen überhaupt bedeuteten, ein neues Licht wirft. Semprun berichtet, ein deutscher Soldat habe zu ihm, dem Gefangenen, Kontakt aufgenommen, und zwar augenscheinlich aus einer kritischen Distanz zum Nationalsozialismus heraus. In einer Mischung aus quasi-theatraler, d.h. dialogischer Inszenierung dieser Begegnung und philosophischer Reflexion über ihre politischen Implikationen versucht der Autor der Großen Reise, diesen seinen Austausch mit dem Deutschen in Literatur zu überführen. Hören wir die Fragen, mit denen Sempruns alter ego im Text konfrontiert wird, und hören wir seine innere Stimme, die auf diese Fragen antwortet: Warum sind Sie verhaftet? demande le soldat. C’est une question pertinente, il faut dire. C’est la question qui, en ce moment précis, va plus loin que toute autre question possible. Pourquoi suisje arrêté? Répondre à cette question, c’est non seulement dire qui je suis, mais aussi qui sont tous ceux qui en ce moment se font arrêter. C’est une question qui va nous projeter du particulier au général, avec une grande facilité. Pourquoi suis-je arrêté, c’est-à-dire, pourquoi sommes-nous arrêtés, pourquoi arrête-t-on, en général?73 Warum sind Sie verhaftet? fragt der Soldat. Das ist eine treffende Frage, muss man sagen. Das ist die Frage, die in gerade diesem Moment mehr umfasst als alle anderen, möglichen Fragen. Warum bin ich verhaftet? Auf diese Frage zu antworten, heißt nicht nur, zu sagen, wer ich bin, sondern auch, wer all diejenigen sind, die in diesem Moment verhaftet werden. Es ist eine Frage, die uns schnurstracks vom Besonderen ins Allgemeine führt, und zwar mit großer Leichtigkeit. Warum bin ich verhaftet, d.h. warum sind wir verhaftet, warum verhaftet man ganz allgemein? [Übersetzung A.P.]
Es geht für Semprun nicht allein um eine Frage, die sich an ihn als Einzelnen richtete. Mit der Frage nach seiner Verhaftung und Gefangenschaft wird mit einem Schlage auch die Frage aufgeworfen, was ihn mit Anderen, die bereits verhaftet sind oder gerade verhaftet werden, verbindet. Und noch allgemeiner: Es geht um die Gründe für die Wirkungsmacht von Gewalt gegen eine als Feinde klassifizierte Gruppen von Menschen. En questionnant le pourquoi de mon arrestation, on tombera sur l’autre face de la question. Car je suis arrêté, parce qu’on m’a arrêté, parce qu’il y a ceux qui arrêtent et ceux qui sont arrêtés. En me demandant: pourquoi êtes-vous arrêté? il demande aussi, et dans le même mouvement:
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Semprun: Voyage, S. 50.
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pourquoi suis-je là, à vous garder? Pourquoi ai-je l’ordre de tirer sur vous, si vous tentez de fuir? Qui suis-je, en somme? Voilà ce qu’il demande, ce soldat allemand.74 Indem man nach dem Grund meiner Verhaftung fragt, steht man vor der Kehrseite der Frage. Denn ich bin verhaftet, weil man mich verhaftet hat, weil es diejenigen gibt, die verhaften, und diejenigen, die verhaftet werden. Indem er fragt: Warum sind Sie verhaftet?, fragt er auch und im gleichen Zuge: Warum bin ich da, um Sie zu bewachen? Warum habe ich den Befehl, auf Sie zu schießen, wenn Sie zu fliehen versuchen? Wer bin ich eigentlich? Das ist es, was mich dieser deutsche Soldat fragt. [Übersetzung A.P.]
Der fiktive Ich-Erzähler begnügt sich nicht damit, die Frage des deutschen Soldaten als Frage zu beantworten. Vielmehr geht es ihm darum, dem Fragenden zu zeigen, dass die Frage sich in Wirklichkeit an ihn, den Soldaten selbst, richtet. Da die Möglichkeit, eine Frage an jemanden zu richten, hier, wenn auch ungewollt, ein bestimmtes Machtund zugleich auch Zeit-Gefälle impliziert – der eine fragt, der andere antwortet, und zwar notgedrungen im Rahmen dieser Frage –, stellt die Weiterentwicklung der Frage und damit die Einbeziehung des Soldaten in die Reflexion, wer sie beide – Opfer und Täter – eigentlich seien, eine Form des Widerstands dar: Semprun wehrt sich gegen die Anbiederung von Seiten des Deutschen. Auch wenn unverkennbar ist, dass der Soldat seine Frage in der Absicht stellt, die Geschichte seines Gegenübers – seine Vergangenheit und Gegenwart – zu verstehen, ist für den Ich-Erzähler nicht zu übersehen, dass seine, d.h. des Soldaten, Solidarität nicht weit genug reicht. So sehr sich der Deutsche auch bemühen mag, zu ergründen, warum der Gefangenen „drinnen“ ist, so sehr bedauert er, dass der Soldat nicht auf die Frage verfallen ist, warum er selbst bei dieser „gigantesca esperienza biologica e sociale“75 (bei diesem „gigantischen biologischen und sozialen Experiment“ [Übersetzung A.P.]) draußen ist und bleibt. Je tenais simplement à dire qu’à cette question du soldat allemand d’Auxerre: warum sind Sie verhaftet? il n’y a qu’une réponse possible. Je suis emprisonné parce que je suis un homme libre, parce que je me suis vu dans la nécessité d’exercer ma liberté, que j’ai assumé cette nécessité. De la même façon, à la question que j’ai posée à la sentinelle allemande, ce jour d’octobre: warum sind Sie hier? et qui se trouve être une question bien plus grave, à cette question il n’y a non plus qu’une réponse possible. Il est ici parce qu’il n’est pas ailleurs, parce qu’il n’a pas senti la nécessité d’être ailleurs. Parce qu’il n’est pas libre.76 Es war mir einfach ein Anliegen, zu sagen, dass es auf die Frage des deutschen Soldaten von Auxerre Warum sind Sie verhaftet? nur eine mögliche Antwort gibt. Ich bin gefangen, weil ich ein freier Mensch bin, weil ich mich vor der Notwendigkeit sah, meine Freiheit auszuüben, weil ich diese Notwendigkeit angenommen habe. Und ebenso gibt es nur eine einzige Antwort auf die Frage, die ich dem deutschen Wachtposten gestellt habe, an jenem Oktobertag: Warum sind Sie hier?, und die sich als eine sehr viel schwerwiegendere Frage erweist. Er ist hier, weil er nicht woanders ist, weil er nicht die Notwendigkeit empfunden hat, woanders zu sein. Weil er nicht frei ist. [Übersetzung A.P.] 74 75 76
Ebd., S. 50-51. Levi: Uomo, S. 79. Semprun: Voyage, S. 54.
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Aus dieser Reflexion spricht das Selbstbewusstsein, mit dem der Gefangene seinen Status als Gefangener für selbstgewählt erklärt. Freiheit ist nicht auf Seiten derjenigen, die anderen die Freiheit nehmen. Freiheit im wahren Sinne des Wortes kann es nur auf Seiten derjenigen geben, die das Risiko eingegangen sind, sie zu verlieren. In Gefangenschaft und Deportation, im „Drinnen-Sein“ wird also Freiheit voll erlebt. Nicht draußen sein zu können, bedeutet, mit anderen Worten, seiner Freiheit für immer gewiss zu sein. Freiheit ist nur drinnen, in Lager und Zug, nicht aber draußen, wo nur derjenige bleibt, der sich dem Zwang unterworfen hat, anderen das Draußen zu verwehren. „[M]oi, j’étais de mon côté, lui ne savait pas de quel côté il était.“77 („[I]ch selbst war auf meiner Seite, er wusste nicht, auf welcher Seite er war.“ [Übersetzung A.P.]). Ergibt sich daraus die Schlussfolgerung, die Hannah Arendt schon 1951 in ihrem Buch über den totalen Staat gezogen hat? Sie vertritt, darin dann aber um eine Nuance skeptischer als Semprun, die These, dass unter Bedingungen totalitären Terrors die Konzentrationslager häufig den einzigen Platz darstellten, wo es noch einen freien Meinungsaustausch und freie Diskussion gab; das machte sie nicht zu „Inseln der Freiheit“, sondern der Narrenfreiheit […]. 78
Dieser Gedanke ist in der Tat bedenkenswert, doch droht er missverständlich zu werden, wenn man ihn nicht weiter nuanciert. Ich schlage vor, das selbstbewusste Bestehen kommunistischer Gefangener auf dem Fortbestehen ihrer Freiheit zu Eich in Beziehung zu setzen und in einem zweiten Schritt den Freiheitsbegriff jüdischer Deportationsopfer kontrastierend in den Blick zu nehmen. Zunächst also zu den Gefangenen mit marxistischem Hintergrund. Eine ähnliche Argumentation wie Semprun scheint Charlotte Delbo zu verfolgen, die, ausgehend vom Zeugnis einer überlebenden Mitgefangenen, die Begegnung zwischen Häftlingen des Lagers Zazel bei Hamburg und den wacheführenden Feldgendarmen schildert: „Ceux-ci viennent les voir aux barbelés et répètent: ‚Ce n’est pas nous. Pas notre faute. Nous sommes des gendarmes, pas des SS.‘“79 („Diese kommen, um sie zu sehen, an den Stacheldraht und wiederholen: ‚Das sind nicht wir. Es ist nicht unsere Schuld. Wir sind Gendarmen, keine SS-Männer.‘“ [Übersetzung A.P.]) Und doch sind auch sie es, die das Lager aufrechterhalten, auch sie sind unfrei im semprunschen Sinne. Wenn man nun auf Eichs Hörspiel blickt, ist festzustellen, dass an keiner Stelle gesagt wird, die Gefangenen im Zug seien Juden. Aus diesem Grunde kann versuchshalber die Frage von „Drinnen“ und „Draußen“ mit dem Freiheitsbegriff von Semprun verbunden werden. Ließe sich nicht denken, dass die Alltäglichkeit, die für Eichs Figuren der Waggon gewonnen hat, mit eben diesem selbstbewussten Stoizismus zu tun hat, der aus den Worten des semprunschen Ich-Erzählers spricht? Gewiss, das Eingeschlossensein in einem fensterlosen Waggon ist nichts Gewöhnliches, doch könnte die Bereitschaft, das Drinnen schlicht als solches zu akzeptieren, ähnlich wie bei Sempruns „Rotspanier“ als Ausdruck der Bereitschaft gewertet werden, die Komplizenschaft, die mit dem Draußen-Bleiben notwendig verbunden war, abzuwehren. Die Forderung, nicht nach draußen zu sehen, wäre damit gerade nicht ein Zeichen von 77 78 79
Ebd., S. 56. Arendt: Elemente, S. 613. Delbo: Convoi, S. 27.
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Einverständnis mit denjenigen, die die Gefangenen ins Innere des Zuges befördert haben. Vielmehr wäre das Gegenteil wahr. Die Gefangenen erkennten an, dass sie drinnen sind und nicht hinaussehen können, weil das Draußen gleichzusetzen ist mit der Versuchung, sich die Befreiung vom Drinnen mit der Beteiligung an der Gewalt gegen andere zu erkaufen. Nicht nach draußen zu sehen, könnte also bedeuten, den anderen, draußen, die Verantwortung für die Tatsache zu überlassen, dass Drinnen und Draußen in einem Akt der Gewalt strikt voneinander geschieden wurden. So kritisch der Soldat, von dessen Frage in Le grand voyage erzählt wird, auch gegenüber dem Nationalsozialismus eingestellt sein mag, so schwach ist er doch, sobald es um die Frage nach den Konsequenzen geht, die im Blick auf seine eigene Rolle aus der Unterscheidung von Drinnen und Draußen gezogen werden müssten. Charlotte Delbo lässt eines der vielen Ichs, die im dritten Band ihrer Trilogie Auschwitz et après zu hören sind, eine Position beziehen, die zunächst wie die Übersteigerung der Bereitschaft Sempruns wirkt, das Furchtbare, das geschieht, als freie Wahl anzunehmen: Dans l’un des billets que nous avons jetés du wagon pendant le voyage, ces billets à nos parents que les cheminots ont trouvés sur le ballast et qu’ils ont mis à la poste, dans l’un de ces billets j’écrivais: „Je suis déportée. C’est le plus beau jour de ma vie.“80 Auf einem der Blätter, die wir während der Reise aus dem Waggon geworfen haben, auf diesen Blättern an unsere Eltern, die die Eisenbahner auf dem Bahndamm gefunden und zur Post gebracht haben, auf einem dieser Blätter schrieb ich: „Ich bin deportiert worden. Dies ist der schönste Tag meines Lebens.“ [Übersetzung A.P.]
Doch gleich darauf folgt der Kommentar, und zwar vom gleichen Ich formuliert: „J’étais folle, folle. L’héroïne avec son auréole, le martyr qui marche à la mort chantant.“81 („Ich war verrückt, verrückt. Die Heldin mit ihrem Heiligenschein, die Märtyrerin, die singend in den Tod geht.“ [Übersetzung A.P.]) Die klare Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen, auf der das Selbstbild von Sempruns alter ego beruhte – er war drinnen, frei, weil er das Risiko eingegangen war, in dieses Drinnen gezwungen zu werden – bricht bei Delbo auf. Das, was dem Ich in ihrem Roman widerfährt, übersteigt alles, was sie sich bei ihrer Wahl hatte vorstellen können. Das eigene Schicksal als frei gewähltes zu akzeptieren, wird unmöglich, weil die Wahl in einer Welt stattgefunden hatte, in der dieses Ausmaß von Leiden nicht antizipierbar gewesen war.82 80 81 82
Delbo: Auschwitz, Bd. 3, S. 52. Ebd. Dennoch ist Delbos Hinweis auf die heroische Attitude, die ihr anfänglich noch möglich zu sein schien, für die Erinnerungskulturen nach 1945 von entscheidender Bedeutung. Sie sah sich in einer Traditionslinie, die wesentlich vom Spanischen Bürgerkrieg bestimmt war. Dazu Diner: „Der Spanische Bürgerkrieg war über lange Dauer die politische Gedächtnisikone des 20. Jahrhunderts, zumindest auf der Linken, aber auch weit über sie hinaus. Später wurde er zunehmend vom Holocaust überwölbt. Dabei standen beide zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignisse keineswegs in politischer Konkurrenz zueinander. Eigentlich waren sie dazu auserkoren, Bündnispartner im Gedächtnis zu sein. So erschien
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Bei Eich sind es jedoch gerade die Menschen drinnen, die die Augen vor der Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen verschließen. Es ist durchaus nicht nur so, dass sie den Anblick von Löwenzahn abwehren, weil sie das Drinnen in voller Freiheit als ihren Ort gewählt hätten. Vielmehr verteidigen sie sozusagen blind die Idee der Unmöglichkeit der Existenz eines Draußen: ENKEL Wir wissen nicht davon [gemeint ist: von einem anderen Raum; A.P.] und wollen keine Phantasien darüber hören. Das hier ist unsere Welt, in der leben wir. Sie besteht aus vier Wänden und Dunkelheit und rollt irgendwohin. Ich bin sicher, dass draußen nichts anderes ist als die gleichen dunklen Räume, die sich durch die Finsternis bewegen.83
Die Wirklichkeit aber bestand, historisch gesehen, darin, dass Sempruns deutscher Soldat nicht in einen Zug gesperrt wurde, in dem Zeit und Tod als Aufhebung jeder Bewegung zusammenfielen, sondern dass er, trotz aller kritischen Distanz, sich weiter des Draußen erfreute. Anders gesagt: Der Enkel täuscht sich, wenn er annimmt, das Dunkel, das er selber kennt, sei für das Drinnen wie das Draußen alltäglich. Dadurch, dass er von der Welt, die er nicht kennt, nichts wissen will, büßt seine Gefangenschaft im Drinnen die Qualität der Freiheit ein. Freiheit gibt es nur unter der Voraussetzung, dass das Risiko, sich nicht mehr draußen bewegen zu dürfen, bewusst eingegangen wurde. Weil aber das Kind gar nicht wahrnimmt, dass das Leben anderswo „ganz normal“ weitergeht, wird es im doppelten Sinne zum Opfer: Zum einen, weil es drinnen ist statt draußen, und zum anderen, weil es nicht sehen will, dass sich andere die Möglichkeit, draußen zu bleiben, mit dem Dunkel des Drinnen der Gefangenen erkauft haben.
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es auch im frühen Verständnis von der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Für diese war der Spanische Bürgerkrieg nicht nur Vorbote des Kommenden, sondern auch sein Exerzierfeld. Und doch war eine untergründige, eine gleichsam anthropologisch angelegte Rivalität zu spüren. Es war die Rivalität zwischen dem Tod aus politischer Gegnerschaft und dem Tod der grundlosen Vernichtung wegen. Es war die Rivalität zwischen Buchenwald und Birkenau.“ Dan Diner: Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München 2010, S. 181; künftig zitiert als: Diner: Zeitenschwelle. Eich: Träume, S. 355.
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Abb. 4: Ein Deportationszug bei der Abfahrt, bewacht von ungarischer Gendarmerie84
Anders gewendet: Der Junge kann zu keiner kritischen Frage an die Menschen draußen finden, weil er sich die Normalität des Dunklen von draußen aufzwingen lässt, statt sie zu wählen. Er ist also zu jung, um in sich bei der „Wiederholung des einst renommierten Wortes ‚normal‘ eine feine, doch penetrante Übelkeit“ wahrzunehmen – als Zeichen dafür, dass „die Anpassungsbereitschaft des Körpers an eine Art von Dauervergiftung ganz plötzlich nachgelassen“ hat.85
WAHL-LOSIGKEIT UND „HEIMWEH NACH AUSCHWITZ“ Wie die Faust des erwachenden Deutschland einmal auf diesen Rassenunrat niedergesaust ist, so wird auch einmal die Faust des erwachenden Europa auf ihn niedersausen.86
Ich komme nun zum zweiten Aspekt meiner Überlegungen. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass Sempruns Freiheitsbegriff nicht schlicht für alle Deportierten gleichermaßen gelten konnte. Die Wahl der totalen Unfreiheit als Ausdruck größter Freiheit war nur denkbar für diejenigen, die ein Alter erreicht hatten, in dem eine solche Entscheidung getroffen werden konnte. Man könnte also argumentieren, der Enkel müsse seinen Blick auf das Drinnen beschränken, weil er noch nicht reif genug dafür ist, zugleich die Existenz der Möglichkeit des Draußen auszuhalten. Zu der altersmäßigen Einschränkung des semprunschen Freiheitsbegriffs tritt eine zweite, womöglich noch wichtigere hinzu: Semprun spricht, wie erwähnt, aus der Perspektive eines Mannes, der politischen Widerstand geleistet hatte – doch die Figuren bei Eich
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Quelle: Yad Vashem Photo Archive; Herkunft: Grosz Laslo, Ort: Soltvadkert, Ungarn; Name des Übermittlers des Fotos: Grosz Laslo; Archivnummer: 1359/4. Das genaue Jahr ist unbekannt. Wolf: Kindheitsmuster, S. 191. Joseph Goebbels: Die Zeit ohne Beispiel. Reden und Aufsätze aus den Jahren 1939/40/41, München 1941, S. 526-527; zitiert nach: Friedländer: Vernichtung, S. 233.
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könnten (auch wenn das Adjektiv „jüdisch“ nirgends fällt) durchaus als Menschen gelesen werden, die aus rassischen Gründen verfolgt werden. Immerhin sind sie vollkommen grundlos verhaftet worden (was dann übrigens erneut gegen die Interpretation spricht, es handle sich im ersten Traum um deutsche, will sagen: „arische“ Vertriebene.) Die rassisch motivierte Verfolgung aber unterscheidet sich von der politisch motivierten, deren Opfer zum Beispiel Kommunisten und Sozialdemokraten wurden, grundlegend. In vieler Hinsicht veranschaulichte Auschwitz den Unterschied zwischen dem Konzentrationslagersystem im allgemeinen und dem Vernichtungssystem in seiner spezifisch antijüdischen Dimension. […] Der nichtjüdische Häftling konnte überleben, sofern er etwas Glück hatte und von seiner nationalen oder politischen Gruppe eine gewisse Unterstützung erhielt. Der Jude hingegen hatte letztlich kein Mittel gegen den Tod und blieb in der Regel absolut schutzlos. 87
Jemand, der sich aus politischen Gründen dafür entschied, Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten, hatte die Möglichkeit gehabt, eine Wahl zu treffen. Statt das Risiko einzugehen, nach „Drinnen“ befördert zu werden, hätte er sich für die Unfreiheit entscheiden können, mitzumachen, d.h. unbehelligt draußen zu bleiben. „Worauf es ankommt, ist, dass bei den Verbrechern und den Politischen die Zerstörung der juristischen Person nicht voll gelingen kann, weil sie wissen, warum sie dort sind“, argumentiert auch Hannah Arendt.88 Charlotte Delbo spricht ihrerseits davon, dass so etwas wie „Sinn“ für sie erhalten blieb – eben weil die Deportation die Antwort auf ihre Teilnahme an einem Kampf war: Quand j’ai vu ce que j’ai vu souffrir comme j’ai vu souffrir mourir comme j’ai vu mourir j’ai su que rien rien n’était trop dans cette lutte.89
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Friedländer: Vernichtung, S. 536. – Sonia Combe betont in Bezug auf den Unterschied zwischen Nicht-Juden und Juden – hier am Beispiel Frankreichs –, „que, si le taux de survie des déportés français dans les camps de concentration a été de près de 60%, le taux de survie des Juifs déportés de France (en tant que Juifs) dans les camps d’extermination a été de 3%. Ces chiffres sont ceux établis par la Fondation pour la mémoire de la déportation (www.fmd.asso.fr).“ (Abgerufen am 10.06.2016.) Sonia Combe: Une vie contre une autre. Echange de victime et modalités de survie dans le camp de Buchenwald, Paris 2014, S. 36, Anmerkung 2; künftig zitiert als: Combe: Vie. (Combe weist darauf hin, „dass die Überlebensrate der französischen Deportierten in den Konzentrationslagern bei nahezu 60%, die Rate der aus Frankreich (als Juden) deportierten Juden hingegen bei 3% lag. Diese Zahlen wurden von der Stiftung für die Erinnerung an die Deportation (www.fmd.asso.fr) veröffentlicht.“ [Übersetzung A.P.]) Arendt: Elemente, S. 924. Delbo: Auschwitz, Bd. 2, S. 36.
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Als ich gesehen habe was ich gesehen habe leiden wie ich leiden gesehen habe sterben wie ich sterben gesehen habe habe ich gewusst dass nichts nichts zu viel war in diesem Kampf. [Übersetzung A.P.]
Ähnliche Akzente setzt die Historikerin Sonia Combe: Contrairement aux autres groupes persécutés, la plupart des résistants, communistes et autres, avaient analysé la montée du nazisme et son idéologie; ils comprenaient les raisons pour lesquelles ils avaient été arrêtés: ils avaient lutté. A défaut d’une justice, il y avait une logique. En outre, les politiques savaient s’organiser contre l’adversaire, c’étaient des militants qui repoussaient l’individualisme (la „solution individuelle“). Enfin […], certains d’entre eux avaient acquis une pratique de la violence physique, que ce soit en Allemagne pendant la montée du nazisme ou en Espagne pour ceux qui avaient été dans les Brigades internationales pendant la guerre civile, entre 1936 et 1939. La sociologue Maja Suderland a montré que même dans les situations extrêmes se perpétuait ce qu’elle appelle „les bases structurelles d’inscription de l’individu dans la société“. Conserver son sentiment d’appartenance à son sexe, sa classe ou son groupe ethnique aurait participé des facteurs de survie en camp de concentration. La base à partir de laquelle la solidarité pouvait s’exercer était préservée.90 Im Gegensatz zu anderen, verfolgten Gruppen hatten die meisten Widerstandskämpfer, Kommunisten und andere mehr den Aufstieg des Nazismus und seiner Ideologie analysiert; sie verstanden die Gründe, die zu ihrer Verhaftung geführt hatten: sie hatten gekämpft. Wenn es auch keine Gerechtigkeit gab, so doch wenigstens eine Logik. Außerdem wussten die politisch Engagierten, wie man sich gegen den Feind zu organisieren hatte. Es handelte sich um Aktivisten, die klar gegen den Individualismus (die „individuelle Lösung“) Stellung bezogen. Schließlich hatten einige von ihnen praktische Erfahrungen mit physischer Gewalt erworben, ob dies nur beim Aufstieg des Nazismus in Deutschland gewesen war oder in Spanien im Falle derjenigen, die sich zwischen 1936 und 1939 in den Internationalen Brigaden am Bürgerkrieg beteiligt hatten. Die Soziologin Maja Suderland hat gezeigt, dass sogar in Extremsituationen das fortleben kann, was man „die strukturelle Basis der Einschreibung des Individuums in die Gesellschaft“ genannt hat. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu seinem Geschlecht, seiner Klasse oder seiner ethnischen Gruppe zu bewahren, sei einer der Faktoren gewesen, die für das Überleben im Konzentrationslager entscheidend gewesen seien. Die Basis, von der man ausging, um Solidarität praktisch umzusetzen, war erhalten geblieben. [Übersetzung A.P.]
Für die jüdische Bevölkerung stellte sich die Situation anders dar. Für sie gab es von vornherein nur das Drinnen. Sie war von jeder Wahl abgeschnitten. Ihr war die Identität ein für alle Mal von Außen zugeschrieben: ihre bloße Herkunft entsprach einem Todesurteil.91 Diese Konstellation – der vollkommen grundlos verordnete Tod 90 91
Combe: Vie, S. 114. Die These, die Adorno und Horkheimer in diesem Kontext vertreten, scheint aus diesem Grunde problematisch. Oder vorsichtiger: Sie bedarf der gleichen Nuancierung, wie sie
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im Gegensatz zu einem Tod, der auf die Ausschaltung von politisch motiviertem Widerstand zielte – schrieb sich nach der Befreiung der Lager in den Erinnerungskulturen verschiedener Länder, nicht zuletzt Frankreichs, fort: Tatsächlich hält der Eindruck vor, lange bevor dem Holocaust dieser Name angetragen wurde, hätten die Gedächtnisbilder des Spanischen Bürgerkrieges nicht unwesentlich dazu beigetragen, die von Auschwitz zu verdecken. Das war kein mutwilliges Unterfangen, sondern allein schon der einsichtigen Tatsache geschuldet, dass der heroische Antifaschismus – vom Ausgang des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg der sowjetischen Waffen beflügelt – noch über eine lange Zeit nach seiner historischen Widerlegung lärmend von sich zu berichten wusste. Auschwitz hingegen fehlte die Kraft eines angemessen zu berichtenden Narrativs. Die Geschichte der Vernichtung konnte, durfte allenfalls erzählt werden, wenn sie sich der politischen Semantiken des sich siegreich dünkenden Antifaschismus bediente. Kurz: Wenn sie sich ihr unterwarf. Und die vordergründige Ikone des mit dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs auftrumpfenden Antifaschismus war der Spanische Bürgerkrieg.92
Um nun erneut auf die Bebilderung zu kommen, die Eich in Bezug auf die Deportationszüge, d.h. die Vernichtung als Gegen-wart entwickelt, könnte man argumentieren, die Heftigkeit, mit der der Enkel seine Welt als die einzig mögliche verteidige, sei nicht Beweis für seinen Mangel an Sinn für die Realität, sondern im Gegenteil Beweis für seinen Realismus. In der Tat gab es nur die Dunkelheit. Anzunehmen, dass die Dunkelheit auch draußen herrschte, wäre dann nur Ausfluss der Erfahrung, dass sich die Welt durch die Zuschreibung einer festen Identität überall, auch über den Waggon hinaus, verfinstert hat. So plausibel diese Gedankenfolge auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so sehr widerspricht ihr die weitere Entwicklung des Hörspiels. Es bleibt nämlich nicht dabei, dass der Junge das Draußen nicht sehen will, weil er davon ausgeht, dass es dieses Draußen nicht gibt. Vielmehr bricht es unverhofft in den Waggon ein: KIND Da, schaue doch, da, am Boden! ENKEL Ein glühender, glänzender Stab. Aber – man kann ihn nicht anfassen. Er besteht aus nichts. URALTER Ein Lichtstrahl. Irgendwo hat sich ein Loch in der Wand gebildet, und ein Sonnenstrahl fällt herein. FRAU Ein Sonnenstrahl, was ist das?
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auch das obige Zitat von Hannah Arendt einfordert. Adorno und Horkheimer schreiben: „Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch.“ Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 192; künftig zitiert als Adorno / Horkheimer: Dialektik. – Gilt nicht eher Ruth Klügers Frage, in welchem Moment das Ende Freiheit erreicht werde? Ihr Text kreist um das Problem, wann die „Null“ der Freiheit erlebt werde. „Immer denk ich, in der Gaskammer ist Null, wenn man auf die Kinder tritt, überwältigt von der eigenen Todesnot. Ob das stimmt?“ Klüger: weiter leben, S. 136. Diner: Zeitenschwelle, S. 181-182.
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URALTER Glaubt ihr mir jetzt, dass draußen etwas anderes ist als hier? URALTE Wenn ein Loch in der Wand ist, müsste man hinausschauen können.93
Das Drinnen wird porös, doch nicht aufgrund konkreter Versuche, Blicke nach draußen zu ermöglichen, wie sie zum Beispiel im Transport, den Charlotte Delbo erlebte, in die Tat umgesetzt wurden.94 Das Drinnen wird auch nicht porös aufgrund der Erzählungen des Großvaters aus vergangenen Zeiten, sondern vielmehr aufgrund realer Anschauungen. Diese scheinen in einem ersten Schritt nicht handgreiflicher zu sein als die Erinnerungen. Auch Licht lässt sich nicht berühren. Doch mit der Idee, dass nun Blicke nach draußen geworfen werden können, wird zum ersten Mal ein realer Vergleich zwischen dem Leben hier und dem Leben dort möglich. Die Wirklichkeit muss erfahren werden, um an sie zu glauben – das bloße Zeugnis dessen, der die Wirklichkeit erlebt hat, reicht nicht aus, um die Zweifel zu zerstreuen. ENKEL Gut, ich schaue hinaus. URALTE Was siehst du? ENKEL Ich sehe Dinge, die ich nicht verstehe. FRAU Beschreib sie. ENKEL Ich weiß nicht, welche Wörter dazu gehören. FRAU Warum schaust du nicht weiter hinaus? ENKEL Nein, ich habe Angst. FRAU Ist nicht gut, was du siehst? ENKEL Es ist fürchterlich. URALTER Weil es neu ist. ENKEL Wir wollen das Loch verschließen. URALTER Wie? Wollt ihr die Welt nicht sehen, wie sie wirklich ist? ENKEL Nein, ich habe Angst.95
Der Überlebende Imre Kertész lässt den Protagonisten in seinem Roman eines Schicksallosen einen Satz sagen, der im Kontext dieser erneuten Verweigerung, das Draußen 93 94
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Eich: Träume, S. 355-356. Vgl. dazu das folgende Zeugnis: „Avec une lime à ongles, ou un canif, nous avons fait sauter des nœuds du bois. A tour de rôle, nous collions un œil au trou pour lire les noms des gares. Aux ralentissements, nous savions que nous approchions d’un aiguillage, d’un triage où il faudrait attendre et vite nous préparions des billets que nous glissions sous les portes, en les lestant de pièces de monnaie tant que nous en avons eu, pour les timbres. […] Le lundi, nous nous relayions toujours au trou.“ Delbo: Convoi, S. 10-11. („Mit einer Nagelfeile oder einem Taschenmesser haben wir die Astansätze aus dem Holz herausgesprengt. Umschichtig hefteten wir die Augen an das Loch, um die Namen der Bahnhöfe zu lesen. Wenn der Zug langsamer fuhr, wussten wir, dass wir uns einer Weiche oder einem Rangierbahnhof näherten, wo man ein wenig warten musste, und schnell bereiteten wir kleine Briefe vor, die wir unter den Türen durchschoben. Die Briefe hatten wir, solange wir noch Geld hatten, mit einer Münze für die Briefmarken beschwert. […] Am Montag haben wir uns immer noch am Loch abgelöst.“ [Übersetzung A.P.] Eich: Träume, S. 356.
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an sich heranzulassen, von Bedeutung ist. Als die Figur des Jungen, der zunächst in Auschwitz, dann in Buchenwald gefangen gehalten war, im Jahre 1945 befreit wird und in seine Heimatstadt Budapest zurückkehren kann, äußert er einem Nicht-Juden gegenüber, der ihm zum schnellen Vergessen rät, den Satz, er empfinde „Heimweh nach Auschwitz“. Man könnte versuchen, die Weigerung des Enkels bei Eich in Beziehung zu diesem Festhalten an Auschwitz zu setzen. Hält der Enkel, darin dem Protagonisten bei Kertész vergleichbar, den Deportationszug für seine „Heimat“? Eichs Text impliziert, dass die Angst vor allem, was nicht der Zug ist, zu übermächtig sei. Doch in Wirklichkeit erfährt man aus allen Texten, in denen Überlebende Zeugnis abgelegt haben, von der Übermacht der Angst im Drinnen selbst. Draußen zu sein musste folglich das Gegenteil dieser Angst sein. Klüger schreibt: „In Auschwitz bin ich Appell gestanden und hab Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon.“96 Über ihre Flucht hinein ins Draußen hingegen betont sie, dass das Dasein federleicht wurde, wo es gestern noch bleiern gewesen war, da denkt man nicht, jetzt kann dich einer wegblasen, sondern man denkt, dass man fliegt. Es war da ein Wohlgefühl, als sei endlich eingetroffen, worauf ich, seit ich denken konnte, gewartet hatte.97
Wie kann es nun sein, dass dem Enkel der Ausblick nach draußen nicht als Möglichkeit erscheint, angstfreie Räume und das mit ihnen verbundene „Wohlgefühl“ zu erreichen? Kertész‘ Figur vertritt mit ihrem „Heimweh“ die Position, dass die Naivität, mit der sich die Draußen-Gebliebenen des Heimisch-Vertrauten erfreut hätten, von den Überlebenden in der Tat als Bedrohung wahrgenommen wurde. So zu tun, als sei nur das Draußen Heimat, impliziert nämlich, dass die Draußen-Gebliebenen nicht bereit sind, die Konsequenzen zu bedenken, die sich aus der Existenz des Drinnen auch und gerade für ihr Draußen ergeben. Auf dem „Heimweh nach Auschwitz“ zu bestehen, bedeutet, dass die Angst, die notwendig das Drinnen beherrschte, auch im Draußen nicht überwunden ist – schlicht weil diejenigen, die gefahrlos ihren Alltag gelebt haben, gar nicht ermessen, aus welchem Universum die Überlebenden zurückgekehrt sind.98 Cordelia Edvardson berichtet, wie sie genau gegen diese Normalisierungs-
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Klüger: weiter leben, S. 119. Ebd., S. 172-173. Der französische Arzt François Wetterwald schreibt: „Vous avez traversé au départ un Paris insoucieux, vaquant à ses affaires ! Et si vous étiez revenus, vous auriez revu un Paris insoucieux, vaquant à ses affaires – toujours les affaires!“ Wetterwald: Morts. Teilweiser Wiederabdruck auf der Internetseite der Amicale de Mauthausen. Déportés, familles et amis. Vgl. file:///C:/Users/Anne%20Peiter/Downloads/MAUTHAUSEN%20326.pdf, S. 20, zweite Spalte; abgerufen am 12.11.2016. („Ihr habt bei Eurer Abfahrt ein sorgloses Paris durchquert, beschäftigt mit seinen Geschäften! Und wenn Ihr zurückgekehrt wäret, hättet Ihr erneut ein sorgloses Paris gesehen, beschäftigt mit seinen Geschäften – immer mit Geschäften!“ [Übersetzung A.P.]) – „Die Not der Flüchtlinge ist einfach unerträglich“, schrieb Ringelblum im Januar 1942. „Sie erfrieren, weil sie keine Kohlen haben. Während des Monats sind im Zentrum in der Stawki-Straße 9 von über 1000 Flüchtlingen 22 Prozent gestorben. […] Die Zahl der Erfrorenen nimmt täglich zu; das ist buchstäblich etwas Alltägliches.“ Zitiert nach: Friedländer: Vernichtung, S. 418. Friedländer bezieht sich auf:
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versuche revoltiert habe, und zwar während eines Weihnachtsfestes, zu dem man sie nach ihrer Befreiung in Schweden eingeladen habe: Dann macht die große, mütterlich vollbusige Grau H. einen tapferen Versuch, das Mädchen mit einzubeziehen. „Aber fühlst du dich denn nicht wohl bei uns, Kleine?“ flehte (?), drohte (?) sie. „Jetzt hast du es doch hinter dir, jetzt musst du all das Schreckliche, was passiert ist, vergessen! Bald bist du wieder ganz gesund, und dann wird alles anders, glaub mir!“ Hinter sich haben, vergessen, gesund sein – das Mädchen spürte, wie sich Verzweiflung, Wut und Hass in ihrer Kehle zu einer glühenden Feuerkugel zusammenballten. Noch fehlten ihr die Worte, aber hätte sie sie gehabt, dann hätte sie geschrien: „Ich will es aber nicht hinter mir haben, will aber nicht gesund werden, will aber nicht vergessen! Ihr wollt immer nur ‚einen Strich durch alles machen‘, wie es so schön und bequem heißt. Ihr wollt mir meine Angst wegnehmen, sie verleugnen und ausstreichen und euch vor meiner Wut schützen, aber dann streicht ihr auch mich aus, ‚ausradieren‘ nannten es die Deutschen, dann verleugnet ihr auch mich, denn all dies bin ich. […]“ 99
Edvardsons lakonische Schlussfolgerung lautet, „das Mädchen“ (ihr alter ego nämlich) habe soviel mehr gewusst, „mehr, als diese Menschen hier je begreifen würden.“100 Ist es vielleicht dieses Wissen, dieses „Wissen von Drinnen“, das bei Eich gestaltet wird? Läuft sein Text darauf zu?
GELBE BLUMEN UND GELBER STERN Drei Tage lang saß ich unter gelben Blumen, wo ein Himbeerstrauch wuchs. An dem Strauch waren genau 10 Himbeeren. Davon habe ich drei Tage lang gelebt.101
Bei genauer Textlektüre wird deutlich, dass bei Eich keine wirkliche Begegnung zwischen Draußen und Drinnen geschildert wird, sondern nur ein flüchtiger Blick. Das Ganze wird auf eine surreale Ebene gehoben, hat mit der Frage, wie die Überlebenden aus Auschwitz, diesem „sogno mostruoso“102 („monströsem Traum“ [Übersetzung A.P.]), in die Gesellschaften zurückkehrten, in denen die Täter weiterhin frei – im Sinne von straffrei – herumliefen, nur mittelbar zu tun. Es erscheint als geboten, den spezifischen Bildern und Metaphern nachzulauschen, die bei Eich in den Gesprächen zwischen den drei Generationen auftauchen. Von „Himmel“ war die Rede gewesen, von „Bäumen“ und „Löwenzahn“, und jetzt auch vom „Lichtstrahl“, der nicht nur im
Emanuel Ringelblum: Notes from the Warsaw Ghetto. The Journal of Emmanuel Ringelblum, hg. von Jacob Sloan, New York 1974, S. 251. 99 Edvardson: Kind, S. 105-106. 100 Ebd., S. 107. 101 Interview mit Lea Goldberg (geboren 1929), in: Tych u.a.: Kinder, S. 125-128, Zitat S. 126. 102 Primo Levi: „Anhang“, in: ders.: Uomo, S. 157-178, Zitat S. 158.
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konkreten Sinne als Helligkeit begriffen103, sondern auch als Metapher für Hoffnung verstanden werden muss. Verweigert sich der Junge gerade dieser? Der Großvater mag die Weigerung, weiter hinauszublicken, nicht hinnehmen. URALTE Was siehst du? URALTER Das ist die Welt draußen. Sie fährt vorbei. URALTE Siehst du den Himmel, siehst du Bäume? URALTER Ich sehe den Löwenzahn, die Wiesen sind gelb davon. Da sind Berge und Wälder, – mein Gott! ENKEL Kannst du das ertragen zu sehen? URALTER Aber – zögernd – aber etwas ist anders. FRAU Warum siehst du nicht mehr hinaus? URALTER Die Menschen sind anders. URALTE Was ist mit den Menschen? URALTER Vielleicht täusche ich mich. Sieh du hinaus! URALTE Ja. Pause URALTER Was siehst du? URALTE erschrocken: Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten. URALTER Siehst du es auch? URALTE Nein, ich will nicht mehr hinaussehen. Flüsternd: Es sind Riesen, sie sind so groß wie die Bäume. Ich habe Angst. URALTER Wir wollen das Loch verschließen. ENKEL Ja, wir wollen es verschließen. So.104
Hier scheint sich der Kreis zu Kertész in der Tat zu schließen. Auch Eichs Figuren könnte man eine Form von „Heimweh“ zuschreiben. Was sie in Angst und Schrecken versetzt, ist nicht allein der Umstand, dass die Gegenstände draußen ihnen fremd geworden sind, sondern vor allen Dingen, dass die Wiederaufnahme eines „normalen“ Kontaktes zu Menschen, die im höchsten Grade bedrohlich geworden sind, als Ding der Unmöglichkeit erscheint. Die Hoffnungslosigkeit, die aus dem Wunsch des Enkels geschlossen werden konnte, im Dunkeln des Waggons bleiben zu dürfen, wäre also in Wirklichkeit vor allen eine Hoffnungslosigkeit, die sich auf die Veränderbarkeit derer richtet, die draußen „normal“, d.h. in den Schablonen der Diktatur weitergelebt haben. Das Problem des eichschen Textes besteht jedoch in den gewählten Metaphern. Der gelb leuchtende Löwenzahn scheint zum Gegengewicht gegen den gelben Stern werden zu sollen – gegen diesen Stern, der die Scheidung der Juden von den NichtJuden auf eine neue Stufe hob, indem er die Aufgabe erleichterte, die so Gezeichneten
103 Sabine Doran weist darauf hin, dass Gelb „[t]he nearest color to light“ sei. Sabine Doran: The Culture of Yellow or, The Visual Politics of Late Modernity, New York, London, New Delhi, Sydney 2013, S. 168; künftig zitiert als: Doran: Yellow. (Auf Deutsch müsste man sagen: die Farbe, „die dem Licht am nächsten steht.“ [Übersetzung A.P.]) 104 Eich: Träume, S. 356-357.
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für die Deportationen zusammenzutreiben.105 Es stellt sich die Frage, inwieweit es in Eichs „Blütenlese“ wirklich um die Analyse von Unrecht geht und der Löwenzahn Vehikel dieser Kritik ist? Auf der Figurenebene spricht nicht ein Vertreter der Täter vom Leuchten seiner gelben Farbe, sondern Kinder und Erwachsene, die zu den Opfern gehören. Insofern könnte man argumentieren, dass eine Farbe, die zur Stigmatisierung und Ausgrenzung der jüdischen Minderheit aus der Gesellschaft genutzt wurde, positiv umgedeutet werden soll. Es scheint fast um so etwas wie eine Neuerfindung von Novalis „blauer Blume“ – „Apotheose der Poesie im allegorisch symbolischen Sinnbild“106 – und um die Fortschreibung einer literarischen Tradition zu gehen, in der die Farbe Blau sich schrittweise in Gelb verwandelt hatte.
105 Es fragt sich, ob es in Eichs Werk wirklich zu der Zäsur gekommen ist, die viele Interpreten mit Kriegsende und Gefangenschaft verbinden. Vielleicht ist die Kritik, die Glenn R. Cuomo als einer der ersten an der eichschen Produktion im Nationalsozialismus vortrug, bis in die 1950er Jahre hinein zu verlängern? „Only after being confronted with the war and with his own induction into the military service, did Eich begin to reconsider his aloofness from contemporary events; and even then this reaction was limited. While his war poems […] show some form of a response to the ‚terrors of the times‘, they also show how reluctant Eich was to depart completely from his repertoire of themes and symbols from the Naturlyrik tradition. By continuing to focus on the consequences of human alienation, he cautiously avoided the political issues behind the war, to say nothing of any criticism of the Hitler regime. To be sure, the universal sense of despair conveyed in many of these verses cannot be construed as patriotic enthusiasm for the Reich. But neither do the poems articulate an oppositional stance that in any way anticipates his provocative works from the postwar years. On the contrary, in their emphasis of the subject’s passivity in the face of some outside, omnipotent force, Eich’s Third Reich poems virtually provide a philosophical rationalization for tacit acquiescence to the status quo under Nazism.“ Cuomo: Career, S. 134-135. („Erst nachdem er mit dem Krieg und mit seiner eigenen Einberufung als Soldat konfrontiert war, begann Eich, seine Zurückhaltung gegenüber den Ereignissen seiner Zeit zu überdenken; und selbst da war seine Reaktion verhalten. Während seine im Krieg verfassten Gedichte eine Art von Antwort auf den ‚Terror der Zeit‘ darstellen, verdeutlichen sie zugleich doch auch, wie widerwillig Eich reagierte, als es darum ging, sich komplett von seinem Themen- und Symbolfundus, der in der Tradition der Naturlyrik stand, zu trennen. Dadurch, dass er sich weiterhin auf die Konsequenzen menschlicher Entfremdung konzentrierte, vermied er sorgfältig die politischen Themen, die hinter dem Krieg aufschienen. Das heißt, dass er sich jeder Kritik am Hitler-Regime enthielt. Es steht fest, dass der universelle Sinn der Verzweiflung, den die Gedichte zum Ausdruck bringen, nicht als patriotische Begeisterung für das Reich verstanden werden kann. Doch die Gedichte übermitteln auch keine oppositionelle Haltung, die in irgendeiner Form Eichs provokative Arbeiten aus den Nachkriegsjahren vorwegnehmen würde. Im Gegenteil liefern seine Gedichte aus dem ‚Dritten Reich‘ aufgrund der Emphase, mit der sie die Passivität des Einzelnen im Angesicht einer äußeren, allmächtigen Kraft betonen, eine philosophische Rationalisierung der unausgesprochenen Duldung des Status Quo unter dem Nazismus.“ [Übersetzung A.P.]) 106 Sabine Doran: Gelbe Momente. Ästhetische Materialität in Hofmannsthal und der Avantgarde, Berlin 2004, S. 168. (URL: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/
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Joyce stellt gleich auf den ersten Seiten von Ulysses – der Protagonist Bloom ist daselbst Verkörperung einer Blume – den Vater Novalis vor. Anstelle der blauen figuriert jedoch eine gelbe Blume als Leitmotiv innerhalb der Odyssee. Die blaue Blume nimmt dabei nicht erst bei Joyce eine Gelbfärbung an; der Farbwechsel hat sich spätestens bei Heine vollzogen, der von der „Blume der Passion“ spricht, die er als „die schwefelgelbe“ ausweist. Die „schwefelgelbe Blume des Leidens“ verwandelt sich bei Heine in das Bildnis der Geliebten, mit der der tote Dichter noch einmal ein Zwiegespräch führt.107
Den Farbwechsel hatte Hans Henny Jahnn in Perrudja, und zwar in Nachfolge zu Heine, in den 1920er Jahren mit exemplarischer Radikalität bestätigt: Die Sätze „Ich bin eine gelbe Blume auf einer großen Wiese. Ich stinke. Gelb, gelb, gelb“108 werden bei Jahnn zu einem Leitmotiv. Mit dem „Farbwechsel von der blauen zur gelben Blume“ geht also, so Dorans Interpretation, der „formale[] Wechsel von der poetischen zur prosaischen Form einher.“109 Dafür ein paradigmatisches Zitat: Und von oben, aus dem Körperstumpf, tropfte es, quoll aus dem Halse weißes Blut, nach in das Loch, erst wenig, wie einem Gelähmten, dem der Speichel aus dem Mundwinkel läuft, dann in dickem Strom, rann schleimig, mit gelbem Schaum auf Herrn Michael zu, der vergeblich zu entfliehen suchte, nach rechts hüpfte, nach links hüpfte, der drüber wegspringen wollte, gegen dessen Füße es schon anbrandete.110
Doch gilt dieser Paradigmenwechsel auch für Eich? Bleibt hier die durch die jüdischen Verfolgungserfahrungen des 19. und 20. Jahrhundert gelb gewordene blaue Blume prosaisch? Oder wird sie im Gegenteil erneut poetisiert? Wirkt die Anspielung auf das Gelb der Blume letztlich nicht doch so, als hoffe Eich darauf, bestimmte Bereiche der Wirklichkeit – hier die Natur – ließen sich, trotz allem, als intakt bewahren? Kein „Goldenes Zeitalter“, kein uneingeschränktes Leuchten, doch immerhin Reminiszenzen an eine bescheidenere, weniger glänzende Spielart des Verlorenen? Löwenzahn ist keine Nutzpflanze.111 Er wächst, wie er will, anspruchslos, ist also in gewisser Weise Inbegriff des Prosaischen. Beim Lesen des Hörspiels entsteht durch
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MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_000000001579/05_chapter4.pdf?hosts; abgerufen am 2.2.2016; künftig zitiert als: Doran: Momente. Ebd. – Vgl. in diesem Kontext: Heinrich Heine: „An die Mouche“, in: ders.: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1992, Bd. 3/1, S. 394. Hans Henny Jahnn: Perrudja. Zitiert bei: Doran: Momente, Kapitel 4, S. 164. Vgl. http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS_derivate_0000 00001579/05_chapter4.pdf?hosts; abgerufen am 11.6.2016. Doran: Momente, S. 173. Alfred Döblin: „Die Ermordung einer Butterblume“, in: Der Sturm, Bd. 1, Nummer 28, 8. September 1910, zu finden auf: http://bluemountain.princeton.edu/bluemtn/cgi-bin/ bluemtn?a=d&d=bmtnabg19100908-01.2.4&e=-------en-20--1--txt-txIN-------; abgerufen am 11.6.2016. Schmitt-Lederhaus weist darauf hin, der Löwenzahn gelte auch als Orakelpflanze. SchmittLederhaus: Träume, S. 102.
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die Betonung der Schönheit von etwas Alltäglichem dennoch der Eindruck, dass der Text nicht voll ermisst, welche Lebenswirklichkeit mit der Farbe Gelb für die Verfolgten verbunden war. Was bedeutete Gelb, konkret gesprochen? Muss Eichs Gelb vor dem Hintergrund des Umstands, dass der Stern ein „emblem of dehumanization and oppression“112 („ein Emblem von Entmenschlichung und Unterdrückung“ [Übersetzung A.P.]) geworden war, trotz allem noch als zu poetisch gelten?
DRITTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: LÖWENZAHNSTERNE Blüten-Nachlese Können wir die erforderlichen Albträume herstellen?113
Ich schlage vor, eine Reihe von Dokumenten und Texten zum Vergleich heranzuziehen, die ein neues Licht auf das eichsche Hörspiel werfen. Auf diese Weise wird dann auch deutlich werden, dass der Freiheitsbegriff, den Semprun vorgetragen hatte, für die jüdischen Verfolgten keine Gültigkeit besitzen konnte. Beginnen möchte ich mit einer Fotografie. Sie stammt aus dem Jahre 1942. Zu sehen ist ein holländisches Hochzeitspaar, das auf seinen besten Kleidern den obligatorischen Judenstern trägt.114 Diese Aufnahme beweist, wie stark die bürokratischen Maßnahmen zur Absonderung der jüdischen Bevölkerung in den Alltag der Betroffenen eingriffen. Selbst ein Ereignis wie eine Hochzeit war ein Fest im Zeichen des gelben Sterns und das Fest zugleich ein Zeichen der Überlappung von tödlicher Bedrohung und Alltag. In Hinblick auf die Verordnung, die die direkte, physische (nicht allein auf ihre Ausweispapiere bezogene) Kennzeichnung der Juden zum Inhalt hatte, muss der Aspekt administrativer Kälte und Genauigkeit betont werden, mit denen bis ins letzte Detail hinein die Beschaffenheit des Sterns festgelegt wurde. In ihrer am 1. September 1941 verabschiedeten Endfassung sah die Verordnung vor, dass alle Juden über sechs Jahre in der Öffentlichkeit einen Judenstern zu tragen hatten. Dieser Stern sollte etwa handtellergroß sein; in der Mitte des schwarzumrandeten gelben Grunds hatte in schwarzen Buchstaben das Wort „Jude“ zu stehen. Der Träger hatte den Stern auf der linken Seite seiner Kleidung fest anzubringen. Juden in privilegierter Mischehe wurden von der Maßnahme ausgenommen. Die Sterne wurden von der Berliner Fahnenfabrik Geitel & Co. hergestellt und unverzüglich ausgeliefert.115
Raul Hilberg hebt hervor, dass an der Verordnung zum Davidstern ihre Ausführlichkeit auffalle. 112 Doran: Yellow, S. 159. 113 Günther Anders: Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen, Berlin 1987, S. 133; künftig zitiert als: Anders: Interviews. 114 Vgl. für dieses Foto: U.S. Holocaust Memorial Museum. Vgl. Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust, Frankfurt/M., Fischer Taschenbuch Verlag, 2001, S. 17. 115 Hilberg: Quellen, S. 17.
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Doch gab es Details, die in der Verordnung nicht geregelt waren: die Produktion und die Verteilung der Sterne, die Bezahlung, in welcher Weise sie auf der Kleidung befestigt sein mussten, die Frage, ob sie auch von Juden getragen werden mussten, die in geschlossenen Räumen für sich abgetrennt arbeiteten, oder von Juden bestimmter ausländischer Nationalitäten.116
Die Ausfertigung der Sterne war mit einer Belehrung über weitere Verbote und Einschränkungen, dieses Mal bezüglich der Bewegungsfreiheit der Gekennzeichneten, verbunden: Die Juden mussten die Sterne bei ihren Gemeindebüros abholen. Beim Empfang unterzeichneten sie gewöhnlich eine Quittung, die auch die Anerkennung der entsprechenden Regelungen beinhaltete: „Ich bestätige hierdurch den Empfang von 1 Judenstern“, erklärte Gustav Israel Hamel aus Baden-Baden am 20. September. „Mir sind die gesetzlichen Bestimmungen über das Tragen des Judensterns, das Verbot des Tragens von Orden, Ehrenzeichen und sonstigen Abzeichen bekannt. Auch weiß ich, dass ich meinen Wohnort nicht verlassen darf, ohne eine schriftliche Erlaubnis der Ortspolizeibehörde bei mir zu führen. Ich verpflichte mich, das Kennzeichen sorgfältig und pfleglich zu behandeln und bei seinem Aufnähen auf das Kleidungsstück den über das Kennzeichen hinausragenden Stoffrand umzuschlagen.“117
Aus den hier zitierten Regelungen ist zu schließen, dass die Verordnung über den Stern sich sofort mit weiteren Maßnahmen verband. Diese Beobachtung impliziert eine Erkenntnis, deren Bedeutung schwerlich überschätzt werden kann. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen einem Pogrom und einem Vernichtungsprozess. Ein Pogrom führt lediglich zu Personen- und Sachschäden, verlangt keine Folgeschritte. Dagegen tritt eine einem Vernichtungsprozess zugehörende Maßnahme niemals allein auf. Sie muss nicht immer Schaden anrichten, doch sie hat stets Konsequenzen. Jeder Schritt in einem Vernichtungsprozess enthält den Keim eines weiteren Schrittes.118
Der gelbe Stern des eichschen Löwenzahns wächst auf dem Boden einer Wiese. Der gelbe Stern, mit dem die Juden gekennzeichnet wurden, wuchs hingegen auf dem Boden der Gesellschaft. Eichs Löwenzahn wächst so lange, bis sein Wachstum abgeschlossen ist. Die Geschichte des Judensterns hingegen kam zu keinem Ende: Ein Schritt folgte dem nächsten. Bei Eich wandert das Gelb aus der von Menschen gemachten Welt der Dinge hinaus, um ein Ding für sich zu werden: draußen. In der Wirklichkeit wanderte das Gelb in das Leben der Verfolgten hinein, ergriff Besitz von ihnen.119 Der Davidstern, so Sabine Doran in ihrem Buch zur Farbe Gelb, sei das „sign 116 Friedländer: Vernichtung, Bd. 2, S. 280. 117 Ebd. – Friedländer bezieht sich auf: Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945, hg. von Paul Sauer, 2 Bde, hier Bd. 2, Stuttgart 1966, S. 214. 118 Hilberg: Vernichtung, S. 57. 119 Saul Friedländer fasst die Reaktionen, die das Regime selbst verzeichnete, folgendermaßen zusammen: „Änderte die Einführung des Sterns etwas an diesen Einstellungen [d.h. der Nicht-Juden gegen die Juden; A.P.]? Einem SD-Bericht aus Westfalen vom 26. September [1941; A.P.] zufolge wurde die neue Maßnahme oft mit Befriedigung begrüßt; Kritik richtete sich eher gegen das Vorhandensein von Ausnahmen. Warum brauchten die jüdischen
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of a common fate“ („das Zeichen eines gemeinsamen Schicksals“ [Übersetzung A.P.]) gewesen: „all who wear it are litteraly marked for death.“120 („Alle, die ihn tragen, sind im Wortsinn für den Tod gezeichnet.“ [Übersetzung A.P.]) In das, was Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften noch im ironischen Ton als eine „Moral des nächsten Schrittes“121 bezeichnen konnte, ist also im Nationalsozialismus der furchtbarste Ernst eingebrochen: „Nie ist das, was man tut, entscheidend, sondern immer erst das, was man danach tut!“122 Diese musilsche Paradoxie enthält eine Wahrheit: dass mit dem nächsten Schritt stets auch Abstand genommen werden kann oder könnte vom vorangehenden, ersten. Dass Richtungswechsel und Korrekturen möglich sind. Nur beschreibt dies nicht, was geschah. In Wirklichkeit entwickelte der erste Schritt eine Dynamik, die die Richtung des zweiten gleich vorgab. Die „Moral des ersten“ war beim Judenstern auch schon die „Moral des zweiten und dritten“. Sehen wir uns nach den ersten Beispielen an, welche Spuren diese Schritte im Leben der Verfolgten noch hinterließen, um zum Stern des Löwenzahns ein neues Verhältnis zu gewinnen – und damit auch zum diskutierten Freiheitsbegriff. Der Dresdner Romanistikprofessor Victor Klemperer berichtet in seinem Tagebuch, wie seine Nachbarn, er selbst und seine ‚arische‘ Frau, Eva Klemperer, im September 1941 auf die Einführung des Judensterns reagiert hätten – die vollkommene Umwälzung ihres Alltagslebens reflektierend: Frau Kreidl sen. war in Tränen, Frau Voss hatte einen Herzanfall. Friedheim sagte, dies sei der bisher schlimmste Schlag, schlimmer als die Vermögensabgabe. Ich selber fühle mich zerschlagen, finde keine Fassung. Eva, jetzt gut zu Fuß, will mir alle Besorgungen abnehmen, ich will das Haus nur bei Dunkelheit auf ein paar Minuten verlassen.123
120 121 122 123
Ehefrauen von ‚Ariern‘ das Abzeichen nicht zu tragen? Wie es hieß, gab es jetzt ‚arische Juden‘ und ‚nichtarische Juden‘ … Ein SD-Bericht vom Vortrag (aus derselben Gegend) verzeichnete die allgemeine Ansicht, die Juden sollten den Stern wegen der besseren Sichtbarkeit auch auf dem Rücken der Kleidung tragen: Das würde diejenigen, die sich immer noch in Deutschland aufhielten, dazu zwingen zu ‚verschwinden‘“. Friedländer: Vernichtung, S. 281. Er bezieht sich auf: Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten, hg. von Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel, Düsseldorf 2004; künftig zitiert als Kulka / Jäckel: Stimmungsberichte. Das erste Zitat steht in diesem Buch auf S. 458, das zweite auf S. 456-457. – Wichtig ist auch das, was sich für die Verfolgten selbst aus dem Judenstern ergab: „Kurz nach der Einführung des Judensterns teilte ihr [der Konvertitin Cordelia Evardson; A.P.] die Leiterin der Berliner Zweigstelle des Vereins Katholischer Mädchen, dem sie angehörte, mit, ‚falls man entdecke, dass man Mitglieder habe, die den Judenstern tragen, würden die Behörden den Verein auflösen, also sei es wohl das beste, das Mädchen komme nicht mehr zu den Versammlungen‘. Und ohne sich über die Ironie im klaren zu sein, fügte die Leiterin hinzu: ‚Du kennst doch unsere Losung: Einer für alle und alle für einen.‘“ Friedländer: Vernichtung, S. 327. Friedländer bezieht sich hier auf: Edvardson: Kind, S. 54-55. Doran: Yellow, S. 159. Musil: Mann, S. 740. Ebd., S. 735. Victor Klemperer: Tagebücher 1933-1945, Berlin 1999, hier Eintrag vom 15. September 1941, S. 159; künftig zitiert als Klemperer: Tagebücher (+ Datums- sowie Seitenangabe).
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Zwei Tage nach diesem Eintrag, in dem das Problem des Einkaufs im Zentrum steht, notiert Klemperer weiter: Tägliches Ereignis im Judenhaus: Frau Kreidl sen. bei uns in Tränen, sie wolle nicht mehr leben. Muss getröstet werden. Herzanfall Kätchen Saras. Muss getröstet werden. Ähnliche Szenen zwischen Eva und mir. Bei wechselnden Rollen. Der Tröstende sagt immer, was er selber nicht glaubt, und richtet sich an den eigenen Worten auf. Für ein paar Stunden. Seit dem Davidstern, der Freitag, den 19.9. aufgehen soll, ist es ganz schlimm. Umschichtige Haltung aller, mich einbegriffen: Proprio und stolz werde ich ausgehen – ich schließe mich ein und verlasse das Haus nicht mehr.124
Und am 20. September 1941: Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir. Auch Evas Nerven zu Ende. […] Ich sagte mir, ich müsse mich verhalten wie nach einem Autounfall: gleich wieder ans Steuer! Gestern nur bei völliger Dunkelheit nach dem Abendessen ein paar Schritte mit Eva.125
Die Dunkelheit ist vor allen Dingen draußen: Der Jude Klemperer scheut das Licht, weil dieses dem Stern zum Leuchten brächte, d.h. ihn für alle sichtbar machen würde. Anders bei Eich. Bei ihm ist es gerade die Sichtbarkeit, die Helle, die vom „Uralten“ als anziehend empfunden wird. Und die Helle ist eben vor allen Dingen draußen. Ins Innere des Waggons dringt nur ein einziger Strahl. Sabine Doran beschreibt mit Blick auf die Shoah einen deutlichen Wandel des Wechselspiels von lichtem Gelb und Dunkelheit. Yellow’s indirect referentiality (its negative presentation) is a sign of its dual meaning having reached an extreme point, the point at which any redemptive significance of the color is rendered moot. The color closest to light, yellow is irremediably transformed in the literary works into a color of darkness, or the negativ of color itself.126 Die indirekte Referenzialität von Gelb (seine negative Darstellung) ist Zeichen für seine Doppeldeutigkeit, die ihren Extrempunkt erreicht hat, nämlich den Punkt, an dem jede erlösende Bedeutung der Farbe hinfällig gemacht wird. Die Farbe, die dem Licht am nähesten steht – Gelb –, wird in literarischen Texten unwiderruflich in eine Farbe der Dunkelheit verwandelt oder ist das Negativ von Farbe überhaupt. [Übersetzung A.P.]
Die zitierten Ausschnitte aus Klemperers Tagebuch bestätigen, dass die Farbe Gelb vom Dunkel des alltäglichen Terrors gegen die Juden nicht getrennt werden kann. Der Romanistikprofessor berichtet, von einer Bekannten stamme „das schlichteste, umfassendste Wort zum Stern: Ich habe mich seitdem nie unbefangen auf der Straße bewegt.“127 Cordelia Edvardson musste, sobald der Stern verpflichtend gemacht wor124 125 126 127
Ebd., Eintrag vom 17. September 1941, S. 164. Ebd., Eintrag vom 20. September 1941, S. 167. Doran: Yellow, S. 159. Klemperer: Tagebücher, Eintrag vom 4. Oktober 1941, S. 173.
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den war, ihr Zuhause „endgültig verlassen. Sie sieht ein, dass sie für die ganze Familie zu einer tödlichen Bedrohung geworden ist, das Kuckucksjunge muss aus dem Nest geworfen werden.“128 Auch Raul Hilberg sieht die wichtigste Konsequenz nicht allein in den Möglichkeiten, die sich für Gestapo und SS bezüglich der Überwachung der jüdischen Bevölkerung ergaben – Edvardson spricht von der Vereinfachung der Aufgabe, die „Ernte einzusammeln“129 –, sondern vor allen Dingen in der Wirkung des gelben Sterns auf die Juden selbst: Der Träger des Judensterns war exponiert; er hatte ständig das Gefühl, von allen Seiten angestarrt zu werden. Es war ihm, als habe sich die ganze Bevölkerung in Polizeikräfte verwandelt, die ihn observierten und sein Tun überwachten. Unter solchen Umständen konnte sich kein Jude widersetzen, verstecken oder gar zur Flucht entschließen, ohne sich zuvor des sichtbaren Abzeichens, des entlarvenden Zweitnamens oder der verräterischen Lebensmittelkarten, Ausweispapiere und Personaldokumente entledigt zu haben. Doch die Entfernung dieser Ächtungsmale war gefährlich, da das Opfer erkannt und denunziert werden konnte. Nur wenige Juden gingen das Wagnis ein. Die überwältigende Mehrheit trug den Stern und besiegelte damit ihr Schicksal.130
Wenn man sich diesen Zusammenhang zwischen Kenntlichmachung der Juden und ihrer Vernichtung (also die verschiedenen, aufeinander folgenden Schritte) vor Augen hält, dann wird vielleicht das Unbehagen verständlich, das Eichs konventioneller, nicht hinreichend „prosaischer“ Gebrauch der Blumenmetapher auslöst. Vor dem Hintergrund einer Verordnung, der zufolge die Jüdischen Gemeinden für zehn Pfennig pro Stück den gelben Stern zum Verkauf anzubieten hatten, auf dass sodann das Geld zurückfließe in die Kassen des Deutschen Reiches, wirkt der Löwenzahn, als habe er die gesellschaftlichen Realitäten gar nicht wahrgenommen. In der Sehnsucht des „Uralten“ nach seinem Anblick ist nichts zu spüren von den Modalitäten, unter denen das Gelb vermarktet wurde. Die Jüdischen Gemeinden mussten selbst den Verkauf des Sterns vermitteln. Doch es bestand nicht die Absicht, dass die Einnahmen ihnen selbst zukamen. Ruth Klüger betont: Die Nazis haben sich für alles bezahlen lassen, und dieser kommerzielle Zynismus steht in enger Verbindung mit den Untugenden, die sie den Juden nachsagten. Wo ein unsauberer Profit zu machen war, und sei er auch noch so kleinlich, wie die 10 Pfennige pro Judenstern, haben die Nazis einkassiert.131
Bei Eich ist der Löwenzahn aus der Sphäre des Geldes hinaus genommen. Er leuchtet, unabhängig davon, dass die gelbe Farbe sich in den Phantasmen der Nationalsozialisten stets von Neuem mit dem Stereotyp des leuchtenden Goldes verband, auf das sich, so die Behauptung, seit jeher das Begehren der Juden richte. Der leuchtende Löwenzahn ist kein Gold. Im Gegenteil erscheint er als Symbol der einfachen Freuden des Alltags, der Leichtigkeit fliegender Samen, der Schönheit von Pflanzen jenseits gärtnerischer Eingriffe. In der Wirklichkeit konnte die Frage, ob sich die Verfolgten 128 129 130 131
Edvardson: Kind, S. 55-56. Ebd., S. 56. Hilberg: Vernichtung, S. 188-189. Klüger: weiter leben, S. 50.
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dem Voranschreiten des Gelbes hinreichend bewusst waren oder nicht, ob sie also zu antizipieren verstanden, was die Machthaber in Fortschreibung der Verordnung zum Judenstern neu erfinden würden, zu einer Frage des Überlebens werden.132 Farbauslegungen: Gelb, Blau und Weiß Zu den Folterungen gehörte, dass man besonders orthodoxen Juden „Judensterne in die Stirn“ schnitt.133 Ab und zu, wenn einige Schulkinder vorbeigehen, fliegen ein paar antisemitische Redensarten zu uns herüber. Manchmal singen sie auch das Spottlied „Es leuchten die Sterne“.134
Der Verlust der Unbefangenheit auf Seiten der „sterntragenden“ Bevölkerung war jedoch nur ein Aspekt der tiefgreifenden Veränderungen, die sich in ihrem Leben ergaben. Victor Klemperer berichtet, darüber hinausgehend, von einem Mord, der die Dresdner Juden vor eine neue Definition des Begriffs „öffentlicher Raum“ gestellt
132 Elisabeth Langgässer, die Mutter der bereits erwähnten Cordelia Edvardson, versuchte, ihre Tochter zu retten, indem sie ihr durch Adoption – antizipierende Reaktion auf die umgebende Gefahr – spanische Eltern verschaffte. Mit dem Erwerb der neuen Nationalität stand ihr im Prinzip das Recht zu, den Judenstern abzulegen. Doch die „Gnadenfrist“ dauerte nicht lange. Edvardson, die „nicht-jüdische Jüdin“, berichtet von einer Vorladung zur Gestapo, die sie schon bald nach der Befreiung vom Stern erreicht habe. Ihr wurde gesagt: „‚[W]ir haben hier ein Dokument ausgefertigt, das wir Sie zu unterzeichnen bitten.‘ Das Dokument entpuppte sich als eine im Namen des Mädchens ausgestellte Erklärung, dass sie die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiere, somit die deutsche neben der spanischen behalte, und sich ferner den Gesetzen einschließlich der Rassengesetze nebst Anwendung auf ihre Person füge. Dies schließe das Tragen des Judensterns und einen eventuellen künftigen ‚Abtransport‘ in den Osten ein. Unsicher sah die Tochter die Mutter an, und ihr Blick traf auf eine weiße Maske, worin der allzu rote Mund wie eine Wunde glühte. Von der Mutter war im Augenblick keine Unterstützung zu erwarten, das wurde dem Mädchen sofort klar. Große Angst überkam sie, doch wie immer kam ihr der Trotz zur Hilfe. O nein, so leicht würde das nicht gehen, nein, nicht wieder den Judenstern, ‚Abtransport in den Osten‘ klang zwar auch nicht gut, aber mit dem Judenstern hatte sie Erfahrung. […] ‚Ich bitte darum, meine Botschaft anrufen zu dürfen‘, teilte sie dem Beamten mit und fand es klinge erwachsen und beeindruckend, schließlich hatte er sie ja gesiezt. Hinter den Brillengläsern blitzte es auf, und der Schnurrbart zuckte wie von unterdrücktem Lachen […]. ‚Aber‘, und dies klang wie ein Peitschenhieb, ‚aber wenn Sie nicht auf der Stelle unterzeichnen, dann müssen wir Ihre Mutter belangen!‘ […] Niemand sagte etwas, nichts brauchte gesagt zu werden, es gab keine Wahl, hatte nie eine gegeben […].“ Edvardson: Kind, S. 190. – Vgl. auch: http://wwwalt.phil-fak.uni-duesseldorf.de/germ2/ verboten/ver/ langgaesser_cordelia.html; abgerufen am 19.02.2017. 133 Friedländer: Vernichtung, S. 53. 134 Katz: Erinnerungen, S. 19.
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habe. Diese Definition war von lebenswichtiger Bedeutung, denn wie schon erwähnt, legte die weitere Ausarbeitung der Verordnung fest, in welchen Räumen die „immer weniger Werdenden“135 der Kennzeichnungspflicht unterlagen und in welchen nicht. 23. Oktober 1942: Eine Frau von Gestapo überrascht, wie sie ohne Stern zur Müllgrube ihres Haus geht, also nicht auf die Straße. Geschlagen, bis sie blutig zusammenbricht. Sie soll unterschreiben, dass sie sich durch einen Sturz verletzt habe. Weigert sich, kommt daraufhin ins KZ, wo sie gestorben wird.136
Das Passiv, das – grammatisch nicht korrekt – diese Zusammenfassung beschließt, bringt in lakonischer Verkürzung den Mechanismus der Schuldabwehr zum Ausdruck, der für viele Täter charakteristisch war. Ein Opfer, das für ein Verbrechen, das keines war, ins Konzentrationslager gebracht worden war, starb nicht, weil es zu Tode gebracht worden wäre, sondern weil es selbst – natürlich also – gestorben war. Hannah Arendt spricht denn auch von der „Methode, den zu Ermordenden als einen Sterbenden hinzustellen“.137 Die Frau, die, der Verordnung folgend, zwischen privatem und öffentlichem Raum unterschieden hatte, hatte offenbar darauf vertraut, dass sie, nämlich die Verordnung, eine zwar zutiefst ungerechtfertigte und ungerechte, zugleich aber irgendwie doch „verlässliche“ Grundlage für den Umgang mit der Farbe Gelb bot. Die Ausweitung des Begriffs „öffentlicher Raum“138 und die damit einhergehende extreme Gewalt aber zeigen, dass die unausgesetzten „Schritte“, die Hilberg eindringlich als Charakteristikum der bürokratisierten Vernichtungspolitik des ‚Dritten Reiches‘ beschrieben hat, auf reiner Willkür beruhten.139 Die Verordnung zum Judenstern war nicht dazu da, dem Gelb einen festen Platz anzuweisen, sondern, ausgehend von scheinbarer Genauigkeit, die Handhabe für das zu gewinnen, was den Tätern in der Willkür ihrer Macht gerade einfiel. Vorgegeben war nur eine vage Richtung. Sie war aber klar genug, um den Tätern freie Hand für alle möglichen Auslegungen zu lassen. Und durch diese Auslegungen konnte sich das Gelb als Terrorinstrument (und nicht etwa als Löwenzahn) immer weiter verselbständigen.
135 136 137 138
Edvardson: Kind, S. 59. Klemperer: Tagebücher, S. 260. Arendt: Elemente, S. 742. Friedländer klärt das damals herrschende Verständnis dieses Begriffes: „So wurde jeder Ort [als öffentlicher Ort; A.P.] definiert, an dem man Menschen begegnen konnte, die nicht zum Familienkreis gehörten.“ Friedländer: Vernichtung, S. 279-280. Friedländer nimmt Bezug auf: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung von gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien. Inhalt und Bedeutung, hg. von Joseph Walk, Heidelberg 1981, S. 347. 139 Zum Aspekt der Willkür sind bei Neurath die folgenden, interessanten Überlegungen zu lesen: „Im Konzentrationslager bedeuten die meisten Regeln nichts außer einer vage kanalisierten Willkür, und Strafe nichts außer organisierter Misshandlung.“ Neurath: Terror, S. 135. „Wo Willkür ein Ziel an sich ist, sind Regeln für das Verfahren, das zur Bestrafung führt, überflüssig. So weit überhaupt eine Art Verfahrensordnung zu beobachten ist, sind es Rituale, die sich aus Gründen der Zweckmäßigkeit oder aus schierer Gewohnheit entwickelt haben.“ Ebd.
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Wenn ich anfangs sagte, dass das Gelb in der Wirklichkeit keineswegs auf das Draußen beschränkt war, dann ist das wörtlich zu verstehen. Victor Klemperer schreibt: 27. Oktober 1942: [A]lle Welt wird in jeder Hinsicht immer ängstlicher. So hieß es neulich: nicht ohne Stern zur Müllgrube! Und heute: nicht ohne Stern im Hause – die kommende Auktion zieht ja Arier her, und wenn die Gestapo es so auslegen will, dann hat man sich eben sternlos am „öffentlichen Orte“ gezeigt. Also hat Eva eben einen Stern auf das Hausjackett genäht.140
Das Furchtbare an diesem Eintrag besteht darin, dass sich die Opfer durch die Willkür gezwungen sahen, sich selbst an der Auslegung der Verordnung – und damit in gewisser Weise an den Schritten – zu beteiligen. Sie versuchten nämlich, ihren Verfolgern einen Schritt voraus zu sein und so mögliche Neuerungen (und damit Gefahren) zu antizipieren. Es war offensichtlich, dass es gegen die Willkür keinen Schutz gab, und doch bot die Verordnung keine andere Möglichkeit, der Willkür zu entgehen, als diese, entgegen ihrem Charakter, zu etwas Berechenbarem zu machen. Dass aber der Versuch gelingen würde, zu antizipieren, welche Wirkung die „seelischen Induktionsströme“141 des Sterns auf Seiten der Täter haben würden, daran zweifelte Klemperer tagtäglich. Genau diese Unsicherheit war wiederum im Sinne der Täter. Durch die Verbreitung von Angst wurde die Beherrschung der Unterworfenen erleichtert. Die Bewegung, in die die Verordnung durch die Auslegung geriet, brachte Spekulationen aller Art hervor, an der sich eben auch die Opfer beteiligten. Durch diese Spekulationen über die Steigerung und Ausweitung der Gewalt, zu der es vielleicht noch kommen würde, gerieten die Opfer immer stärker in die Logik der Antizipation hinein. Nicht nur das Gelb breitete sich aus, sondern im gleichen Maße auch die Angst, der Grad ihrer Anpassung könne nicht ausreichend sein, um dem kollektiven Morden zu entgehen. Obwohl Eich die Ambivalenz der Farbe Gelb hervorzuheben versuchte – für die eine Figur leuchtet sie verheißungsvoll, für die andere ist sie angstauslösend –, wird die Farbe insgesamt doch idealisiert. Die Komplexität der Beschleunigung, die aus der Tatsache resultierte, dass die „Vernichtungsmaschine […] ein Aggregat“ war, wird im Hörspiel nicht erfasst: „[K]eine Behörde wurde allein mit der gesamten Operation betraut. […] Die Vernichtungsmaschine war ein weitläufiger, mannigfaltiger und vor allem dezentralisierter Apparat.“142 Aus dieser Dezentralisierung resultierte, dass nicht allein die Farbe Gelb zur Stigmatisierung eingesetzt wurde, sondern die Palette von Farben insgesamt ihre „Unschuld“ verlor. Die Schritte waren farblich unterlegt. Der erste betraf die Farbe Gelb, der zweite weitete die Farbpalette aus. Auch wenn, wie Sabine Doran zeigen konnte, die Farbe Gelb eine besonders enge Verbindung unterhält zu Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsversuchen143, so ist doch festzustellen, dass die ,Endlösung‘ nicht nur sie erfasst und verändert hat, sondern auch andere, vielleicht sogar alle Farben. Um dies zu zeigen, d.h. die Analyse über den Löwenzahn hinaus zu erweitern, möchte ich weitere Zeugnisse aus der Shoah hinzu140 141 142 143
Klemperer: Tagebücher, S. 263. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 194 Hilberg: Vernichtung, S. 58. Vgl. zur „Gelben Gefahr“: Doran: Yellow, Kapitel 5, Abschnitt „Staging the ‚yellow peril’: Richard Wagner and Wilhelm II“.
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ziehen, die ebenfalls die Konsequenzen bedenken, die sich aus dem Judenstern für den Alltag der Betroffenen ergaben. Gelb und Stern werden zu einer Art erweiterten Geschichte zum Erkenntniswert von Farben überhaupt. Beginnen wir mit einer grundsätzlichen Beobachtung aus Dorans Stern-Kapitel: Der Stern was not coded as yellow or as a specific color (it often appears in blue, in fact). Thus in the yellow patch or badge (the „yellow star“) that Jews were forced to wear after 1941, the Nazis sought to pervert a symbol that the Jews had choosen for themselves, as if, in retrospect, this original choice had been an act of self-stigmatism. Michael Taussig has called this propaganda mechanism a form of „mimetic excess“, in which a racial Other or imagined savagery is simulated „in order to destroy it.“144 war nicht als gelber oder als Träger einer besonderen Farbe kodiert (in der Tat erscheint er oft in Blau). Mit dem gelben Aufnäher oder der gelben Binde (dem „gelben Stern“), die die Juden ab 1941 zu tragen hatten, versuchten die Nazis, ein Symbol auf perverse Weise umzuinterpretieren, das die Juden sich selbst ausgesucht hatten, so als ob die ursprüngliche Wahl, im Nachhinein betrachtet, ein Akt der Selbststigmatisierung gewesen wäre. Michael Taussig hat diesen Propagandamechanismus als eine Art von „mimetischem Übermaß“ bezeichnet, in der ein rassisch Anderer oder ein imaginiertes Barbarentum mit dem Ziel simuliert wird, „sie zerstören zu können.“ [Übersetzung A.P.]
Abb. 5: Polen, Warschauer Ghetto. – Jüdische Frauen und Männer bei der Arbeit in einer Schneiderei an Nähmaschinen, Mai 1941145
144 Ebd., S. 160, und zwar mit Bezug auf: Michael Taussig: Mimesis and alterity. A particular history of the senses, New York 1993, S. 80. 145 Quelle: Fotograf: Ludwig Knobloch. Lizenztyp: Creative Commons CC-BY-SA 3.0. Quelle: Bundesarchiv (Bild 101I-134-0769-33). PK 689. Vgl.: https://www.bild. bundesarchiv.de/cross-search/search/_1458537059/?search[view]=detail&search[focus] =47; abgerufen am 3.12.2016, sowie: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Bundes archiv_Bild_101I-134-0769-33,_Polen,_Ghetto_Warschau,_N%C3%A4herei.jpg, abgerufen am 3.12.2016.
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Der Vorsitzende des Judenrates des Warschauer Ghettos, Adam Czerniakow, notierte am 1. Dezember 1939, dem Tag, an dem den polnischen Juden die Kennzeichnung – also die „künstlich gesteigerte Sichtbarkeit“ der Juden146 – zur Pflicht gemacht wurde, in sein Tagebuch: „N[iunja] [Czerniakows Frau; A.P.] musste mit der Armbinde ausgehen. Ich konnte mich noch nicht dazu überwinden.“147 Czerniakow reagierte also ganz ähnlich wie Klemperer: den Davidstern als Stigma empfindend, das sein und das Leben der Menschen im größten Ghetto Europas direkt bedrohte. (Auf einer Fläche von 3,1 Quadratkilometern lebten 1941 450.000 Jüdinnen und Juden zusammengedrängt, was einer Dichte von 146.580 Menschen pro Quadratkilometer entsprach.) Der Unterschied gegenüber den Regelungen, die in Deutschland galten, betraf jedoch die Gestaltung der Kennzeichnung – die Farbpalette erweiterte sich. Das, was Hilberg „Schritte“ nennt, ging weiter: Vom 1. Dezember [1939; A.P.] an mussten die Juden des Generalgouvernements im Alter von über zehn Jahren eine weiße Binde mit einem blauen Davidstern am rechten Arm tragen. Und wenn auch die Definition des „Juden“ de facto seit Beginn der deutschen Besetzung Polens den Nürnberger Gesetzen folgte, wurde dieses Vorgehen formell erst Ende 1939 im Warthegau und dann, am 27. Juli 1940, in Franks Reich [gemeint ist Hans Frank; A.P.] verfügt.148
Zwei Tage nach dem zitierten Eintrag des Vorsitzenden des Judenrates in Warschau obsiegte bei ihm das Bewusstsein, dass er durch seine öffentliche Funktion eine besondere Verantwortung trug. Diese Verantwortung aber implizierte für Czerniakow, dass er seinen persönlichen Ängsten nicht nachgeben, sondern seine Anstrengung auf die Vermeidung von Konflikten zwischen den deutschen Besatzern auf der einen und den Mitgliedern seiner Gemeinde auf der anderen Seite zu richten hatte: Morgens zu Fuß mit der Armbinde durch die Stadt. Angesichts der Gerüchte über einen Aufschub des Armbindentragens ist die Demonstration notwendig. Zu diesem Zwecke ging ich auch eigens in eine Konditorei hinein. In den Häusern der Gemeinde brachte ich Plakate über die Tragepflicht an. Auch in die 70 Küchen schickte ich Plakate.149
Im Laufe des darauffolgenden Monats erwies sich, dass Czerniakows Befürchtungen bezüglich der Bestrafung im Fall der Nichtbeachtung der Verordnung berechtigt waren. Immer wieder kam es zu Verhaftungen von Jüdinnen und Juden, weil sie keine Armbinde getragen hatten. Und immer wieder betraf die Bestrafung nicht allein diejenigen, die von der Gestapo oder SS aufgegriffen wurden. Vielmehr weitete sich 146 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 194 147 Adam Czerniakow: Das Tagebuch des Adam Czerniakow. Im Warschauer Ghetto 19391942, hier Eintrag vom 1. Dezember 1939, München 1986, S. 22; künftig zitiert als: Czerniakow: Tagebuch (+ Datum des Eintrags). Zu Czerniakow vgl. auch: Annette Wieviorka: L’ère du témoin, Paris 1998, S. 35-41; künftig zitiert als: Wieviorka: Témoin. 148 Friedländer: Vernichtung, S. 64; Hervorhebung A.P. – Vgl. auch: Faschismus, Ghetto, Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs, hg. von Tatiana Berenstein, Arthur Eisenbach, Bernard Mark und Adam Rutkowski, Frankfurt/M. 1960, S. 55 + Anmerkung. 149 Czerniakow: Tagebuch, Eintrag vom 3. Dezember 1939, S. 22.
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die Bestrafung durch hohe Geldforderungen aus zu einer Bedrohung für alle, besonders aber für die Vertreter der Jüdischen Gemeinde selbst. Im Tagebuch von Czerniakow heißt es: „Morgens SS. Danach Gemeinde – eine Forderung über 2000 Zł pro Person, für das Nichttragen der Armbinde von 20 Juden, andernfalls wird das Ratsm[itglied] Rosenthal verhaftet.“150 Das Wichtige in Bezug auf die erwähnten „Schritte“ besteht darin, dass das Eingehen auf die Forderungen keineswegs die Sicherheit für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde erhöhte. Vielmehr zeigten schon diese ersten Verhaftungsfälle, dass die Willkür der Nationalsozialisten hier auf ähnliche Weise griff wie bei der Verhaftung der Frau, die ohne Stern ihren Müll aus dem Haus getragen hatte. Was totalitäre Führer, Hannah Arendt zufolge, auszeichnet, ist nämlich die unbeirrbare Sicherheit, mit der sie sich aus bestehenden Ideologien die Elemente heraussuchen, die sich für die Etablierung einer den Tatsachen entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt eignen. […] Die Organisation der totalitären Bewegung entspricht aufs genaueste dieser in der Propaganda erreichten Stimmigkeit einer fiktiven Welt.151
Der summarische Umgang mit der jüdischen Bevölkerung Warschaus und die Erfindung von Welt lassen sich in Czerniakows Tagebuch aus dem Umstand schließen, dass die Zahl derer, die es freizukaufen galt, mitunter schwankte – ebenso wie der Grund der Anklage, der in Wirklichkeit offenbar gar nicht existierte. „Rosenthal hat die Sache mit 1000 Zł geregelt, denn es waren nur 10 ohne Armbinden, und eigentlich hatten sie die Armbinden.“152 Der Hinweis – „und eigentlich hatten sie die Armbinden“ – wirkt nur so lange kryptisch, wie man davon ausgeht, dass die Verhaftung wegen eines Verstoßes gegen die Kennzeichnungspflicht erfolgte, d.h. eine Verhaftung war, die tatsächlich so etwas wie eine (wenn auch perverse) ‚juristische‘ Grundlage hatte. In Wirklichkeit scheint aber die Frage, ob die Jüdinnen und Juden als solche erkennbar gewesen seien, nur einen Vorwand für die Verbreitung von Terror gewesen zu sein. Die „totalitäre[] Verachtung für Fakten und Realitäten“153, die Hannah Arendt so eindrücklich hervorgehoben hat, wird hier erneut exemplifiziert.
150 151 152 153
Ebd., Eintrag vom 13. Januar 1940, S. 32. Arendt: Elemente, S. 763-764. Czerniakow: Tagebuch, Eintrag vom 13. Januar 1940, S. 32-33. Arendt: Elemente, S. 643.
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Abb. 6: Polen, Warschauer Ghetto, ca. Mai 1941. Jude bei Arbeit in einer Schlosserei, Feilen eines Werkstücks154
Die SS nahm sich das Recht, sich über jede Übereinkunft, was die Einhaltung von Regeln bedeute, hinwegzusetzen. Sie nutzte die Regeln, um vollkommen regellos und willkürlich Angst zu verbreiten. Czerniakow sah sich im Folgenden außerstande, in diesem Kontext seine Arbeit weiterzuführen. Er, der in einem ersten Schritt die Durchsetzung der Armbinden mit betrieben und damit auf eine gewisse, wenn auch asymmetrisch aufgebaute ‚Verständigung‘ mit der SS hingearbeitet hatte, sah, wie weitere Verhaftungen systematisch zur Knebelung der Gemeindeverwaltung genutzt wurden: Gleichzeitig fordert uns die Polizei zur Zahlung von 6100 Zł für 61 Juden und Jüdinnen auf, die man ohne Armbinde gefasst hat. Aufgrund dieser Erlebnisse wandte ich mich an die SS, damit sie mich vom Amt des Vorsitzenden dispensiert, weil ich unter diesen anormalen Umständen die Gemeinde nicht leiten kann. Ich bekam zur Antwort, man rate mir, das nicht zu tun.155
Dieses Beispiel zeigt, dass die Kennzeichnung der Juden Czerniakow jeden Spielraum nahm. Was die Regeln und die Wirklichkeit seien, das bestimmte die SS. Ob etwas ‚normal‘ sei oder nicht, darüber hatte allein sie zu befinden. Die von ihr geschaffene Unmöglichkeit, die herrschenden Regeln zu respektieren, enthob die Jüdische Gemeinde dennoch nicht der Pflicht, die Regellosigkeit der Regeln als Normalität, d.h. als verlässliche Basis für das Verhalten ihrer Mitglieder zu behandeln. In jedem Fall mit den Regeln in Konflikt geraten zu müssen, weil die Wirklichkeit des Satzes „und eigentlich hatten sie die Armbinden“ durch das Wort „eigentlich“ das Recht verlor, Wirklichkeit zu bleiben, bedeutete, dass „eigentlich“ (im ursprünglichen Sinne verstanden) alles von den Nationalsozialisten zu erwarten war. 154 Quelle: Fotograf: Ludwig Knobloch. Propagandakompanien der Wehrmacht – Heer und Luftwaffe (Bild 101 I); PK 689; Bundesarchiv (Bild 101I-134-0769-09). Lizenztyp: Creative Commons CC-BY-SA 3.0. Vgl.: https://www.bild.bundesarchiv.de/cross-search/ search/_1458536929/?search[view]=detail&search[focus]=1; sowie : https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_101I-134-0769-09, _Polen,_Ghetto_Warschau,_Schlosserei.jpg; abgerufen am 12.12.2016. 155 Czerniakow: Tagebuch, Eintrag vom 26. Januar 1940, S. 36.
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Sobald die Lügen der Propaganda sich in einer „lebendigen Organisation“ verkörpert haben, können sie nicht mehr eliminiert werden, ohne das ganze Gebäude der Organisation selbst zu gefährden. […] Die Nazis handelten wirklich so, als ob die Welt von Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um gerettet zu werden.156
Das Berührende des Tagebuchs von Czerniakow besteht darin, dass er dennoch immer wieder darum versuchte, das „Eigentliche“, das das, was der Jüdischen Gemeinde widerfuhr, für unwirklich erklärte, zurückzudrängen, d.h. sich um die Anpassung an ständig fluktuierende Unterdrückungsmaßnahmen zu bemühen. Abb. 7: Warteschlange, Polen, Warschauer Ghetto157
Zum Schluss blieb Czerniakow angesichts der Festlegung, die Identität der Juden sei, was die SS bestimme, und ebenso die Wirklichkeit der verordneten Farben (gelbe wie blaue Blumen), nurmehr ein Ausweg: eine Komik, die keineswegs zum Lachen war. Wegen der Armbindenverordnung sei, so Czerniakow, ein regelrechtes Gewerbe entstanden. „([…] Armbinden aus Leinen, Zelluloid, Gummi und Kunstseide). Heute habe ich einen Polizisten gesehen, der wegen fehlender Armbinde am Arm – einen Armbindenverkäufer abführte.“158 Ähnlich bitter ist der folgende Wortwechsel, der Czerniakow offenbar dazu diente, im Kontakt mit dem Wahnsinn einer Gewalt, die keine Grenzen kannte, nicht den Verstand zu verlieren: „Jemand wendet sich an einen Juden mit Armbinde: Herr Oberleutnant. Ich bin kein Oberleutnant. Sind Sie wohl, denn Sie haben einen Stern.“159 156 Arendt: Elemente, S. 764. 157 Quelle: Polen, Warschauer Ghetto. – Straßenszene, wartende Menschen auf Gehsteig vor einem Gebäude, Mai 1941; PK 689. Fotograf: Ludwig Knobloch. Bundesarchiv (Bild 101I-134-0766-06). Lizenztyp: Creative Commons CC-BY-SA 3.0. Vgl. https://www. bild.bundesarchiv.de/cross-search/search/_1458537059/?search[view]=detail&search[fo cus]=50; abgerufen am 12.12.2016, sowie: http://upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/7/7c/Bundesarchiv_Bild_101I-134-0766-06,_Polen,_Ghetto_Warschau,_Stra% C3%9Fenszene.jpg; abgerufen am 12.12.2016. 158 Czerniakow: Tagebuch, Eintrag vom 1. Februar 1940, S. 38. 159 Ebd., Eintrag vom 4. Februar 1940, S. 39.
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Das letzte Beispiel führt uns wieder zurück zu Klemperer, genauer zur Frage, was denn „öffentlicher“ und „privater Raum“ in einem Unrechtsstaat wie dem ‚Dritten Reich‘ bedeuteten – und damit auch die Farbe Gelb. Ein Jude, im Gefängnis gefragt, warum er keine Armbinde trage, antwortete, man sei – laut Vorschrift – nicht verpflichtet, die Armbinde zu Hause zu tragen, und da er sich im Gefängnis wie zu Hause fühle, trage er die Armbinde nicht.160
Wenn man diese historischen Beispiele in ihrer Gesamtheit Revue passieren lässt, gewinnt man den Eindruck, dass die Metapher des Löwenzahns der Wirklichkeit nicht Stand hält: Die Schönheit seines leuchtenden Gelb vermag als Hoffnungsträger kein Gegengewicht zu dem zu sein, was den Verfolgten in Europa geschah. Gelb war dem Schritt zugeordnet, der weitere Schritte nach sich zog – und nicht einer Blume.161 Musils „Moral des nächsten Schrittes“ war eine des Massenmords. Darüber hinaus zeigt sich, dass der erste und der zweite Traum nicht allein durch das Motiv des Zuges miteinander verbunden sind. Wie noch zu zeigen sein wird, kommt außerdem der „farbliche Untergrund“, der beiden Träumen gemeinsam ist, hinzu. Das Phantasma der „Gelben Gefahr“, China als Schauplatz einer beispiellosen Gewalt, der „gelbe Stern“, die Juden und der Löwenzahn gehören unmittelbar zusammen.
160 Ebd., Eintrag vom 12. Juli 1940, S. 93. 161 Thomas Buergenthal, ein Überlebender von Auschwitz, erinnert sich an seine Wahrnehmung von Natur in Auschwitz. Seine Hinweise stellen ein weiteres Gegenargument zum Löwenzahn dar: „Einmal besuchte ich viele Jahrzehnte nach dem Krieg Auschwitz im Sommer. Auf dem Lagergelände von Birkenau sah ich Vögel und blühende Blumen. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich in Auschwitz nie zuvor Vögel gesehen hatte. Der Rauch muss sie vertrieben haben. Ebensowenig kann ich mich an Gras oder an Bäume erinnern.“ Thomas Buergenthal: Ein Glückskind. Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein neues Leben fand, Bonn 2007 (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), S. 95; künftig zitiert als: Buergenthal: Glückskind.
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KINDER UND IHRE ELTERN, ELTERN UND IHRE KINDER Toutes les paroles sont depuis longtemps flétries Tous les mots sont depuis longtemps décolorés Graminée – ombelle – source – une grappe de lilas – l’ondée – toutes les images sont depuis longtemps livides.162 Alle Ausdrücke sind schon lange verwelkt Alle Wörter sind seit langem ohne Farbe. Süßgras – Dolde – Quelle – ein Bund von Flieder – die Regenflut – alle Bilder sind schon lange leichenblass. [Übersetzung A.P.]
Drei Generationen, die vierzig Jahre lang gemeinsam in einem Zug sitzen, bilden die Ausgangsidee des eichschen Hörspiels. Die Alten sind gefangen, ebenso ihre Kinder und Kindeskinder. Diese Konstellation impliziert, dass die Familien zusammengeblieben sind: Der Urgroßvater spricht mit seinem Urenkel, die Mutter mit ihrem Kind. Bei allen internen Konflikten stiftet die Reise eine Art gemeinsamer Erfahrung. Der Waggon ist für alle der gleiche. In Wirklichkeit war dieses Zusammenbleiben von Familien in den Deportationszügen aber durchaus keine Selbstverständlichkeit. Nicht nur kam es immer wieder zu Verhaftungen, von denen nur einige wenige Mitglieder einer Familie betroffen waren – was die Deportation in unterschiedlichen Zügen implizierte. Vielmehr wurde in bestimmten Ländern selbst in Fällen, wo die örtliche Polizei oder die Gestapo der gesamten Familie habhaft geworden war, die Entscheidung getroffen, Kinder und Eltern vor der Abfahrt der Züge systematisch voneinander zu trennen. Ein Beispiel für diese Deportationspolitik bietet Frankreich.
162 Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 180-181.
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VIERTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: „DIE INTERNATIONALE DER GENERATIONEN“ Kinder als Opfer der Deportation Kälte wie noch nie ist eingedrungen. Fliegende Kommandos kamen über das Meer.163
Abb. 8: Régine Ajdelson, neun Tage vor ihrer Verhaftung. Sie wurde getrennt von ihrer Mutter deportiert164
Zunächst war nicht klar, ob die jüdischen Kinder in die Deportationen einbezogen werden sollten oder nicht. Dass die französischen Verantwortlichen sich dafür einsetzten, hatte mehrere Gründe: Erstens hatte die französische Polizei im Kontext der „rafle du Vélodrome d’Hiver“ (= „Razzia des Wintervelodroms“) nicht die von den Deutschen verlangte Anzahl von Jüdinnen und Juden verhaften können. Die Kinder mit einzubeziehen, bot die Möglichkeit, die Gesamtzahl zu erhöhen, d.h. die Züge besser zu „füllen“.165 Zweitens wollten die französischen Behörden den Entschei163 Ingeborg Bachmann: „Lieder auf der Flucht“, in: dies.: Anrufung des großen Bären. Gedichte, München, Zürich 1989, S. 71-79, Zitat S. 72; künftig zitiert als: Bachmann: „Flucht“. 164 Quelle: Serge Klarsfeld: Mémorial pour les enfants juifs déportés de France, Paris 2001, S. 434. – Zur Einschätzung der erinnerungspolitischen Bedeutung dieses Buches vgl. auch: Wieviorka: Témoin, S. 50-52. 165 „Den Aufzeichnungen Danneckers zufolge erklärte Bousquet, ‚sowohl Staatschef Marschall Pétain als auch Präsident Laval hätten sich bei dem kürzlich stattgefundenen
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dungsträgern in Berlin zeigen, dass ein französischer Widerstand gegen die Einbeziehung der Kinder in die Deportationen nicht zu befürchten war, das Problem ihrer Versorgung, Unterbringung, Erziehung sowie ihres juristischen Status, das sich aus der Entscheidung ergeben hätte, nur Erwachsene zu deportieren, also nicht bestand. Hinzu kam für den Kreis um Leguay, der in der besetzten Zone für den Chef der Polizei von Vichy arbeitete, die Befürchtung, im Fall einer deutschen Niederlage könnten die Kinder, wenn man sie in Frankreich beließ, Rechenschaft bezüglich des Schicksals ihrer Eltern verlangen. Es war Leguay selbst, der sich für die Trennung der Kinder von ihren Eltern einsetzte: „Les enfants ne doivent pas partir dans les mêmes convois que les parents; ils seront gardés dans un camp à Pithiviers, soit à Beaune-la-Rolande.“166 („Die Kinder dürfen nicht mit den gleichen Zügen wegfahren wie ihre Eltern; sie werden entweder im Lager von Pithiviers oder in dem von Beaune-la-Rolande festgehalten.“ [Übersetzung A.P.]) Seine größte Sorge galt jedoch der schon erwähnten Frage, ob die optimale Ausnutzung des Transportraumes, den die Güterzüge boten, gewährleistet werden konnte oder nicht. Abb. 9: Von Francine Beirach, vier Jahre alt, fehlt in den Deportationslisten jede Spur. Sie wurde vermutlich allein deportiert167
Ministerrat einverstanden erklärt, dass zunächst [dans un premier temps; A.P.] alle im besetzten und unbesetzten Gebiet vorhandenen staatenlosen Juden abgeschoben würden.‘ Französische Polizeitruppen würden die Juden in beiden Zonen festnehmen. Dabei sollten alle ‚staatenlosen‘ Juden (d.h. diejenigen, die früher die deutsche, polnische, tschechoslowakische, russische, litauische, lettische oder esthnische Staatsangehörigkeit besessen hatten) deportiert werden; darüber hinaus hatte Laval, wie Dannecker am 6. Juli [1942; A.P.] in einem Gespräch mit Eichmann berichtete, von sich aus auch den Vorschlag gemacht, Kinder im Alter von unter 16 Jahren aus der unbesetzten Zone abzutransportieren.“ Friedländer: Vernichtung, S. 406. 166 Klarsfeld: Mémorial, S. 59. 167 Quelle: Ebd., S. 471.
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Ein anonymer Augenzeuge berichtete am 15. August 1942 von dem, was er als Folge dieser politischen Entscheidung im Lager von Pithiviers erlebt hatte: Juste au moment de mon arrivée, on expédiait les enfants qui sont restés sans leurs parents (mille environ) et les mères qui n’ont pas encore été déportées (250 environ). Ils sont acheminés vers Drancy. C’était un tableau effroyable et je dois avouer ma faiblesse: je n’ai pu retenir mes larmes. On a envoyé d’ici [vers Auschwitz; S.K.] 3200 adultes en trois échelons: les enfants jusqu’à 14 ans ne sont pas partis, c’est-à-dire de 2 jusqu’à 14 ans. Ils sont restés au camp. Les pères, les mères, les enfants partent donc chacun à part, comme si on visait exprès de partager les familles. Les trois départs ont eu lieu le 2, le 5 et le 8 août. Il est impossible de vous décrire les conditions dans lesquelles ces déportations ont eu lieu. […] On a arraché les enfants aux mères et tout ce que vous pouvez imaginer à ce sujet sera en-dessous de la vérité…168 Genau im Moment meiner Ankunft wurden die Kinder, die ohne ihre Eltern zurückgeblieben waren (etwa tausend) und die Mütter, die noch nicht deportiert worden waren (etwa 250), abtransportiert. Man hat sie nach Drancy geschickt. Ein schreckliches Bild bot sich dar, und ich muss meine Schwäche eingestehen: Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Man hat von hier in drei Schüben 3200 Erwachsene [Richtung Auschwitz; S.K.] verschickt: Die Kinder bis 14 Jahren sind nicht mitgefahren, d.h. die 2 bis 14jährigen. Sie sind im Lager geblieben. Väter, Mütter und Kinder brechen also alle getrennt auf, so als verfolge man bewusst das Ziel, die Familienmitglieder voneinander zu trennen. Die drei Transporte fanden am 2., am 5. und am 8. August statt. Es ist unmöglich, Ihnen die Bedingungen zu schildern, unter denen diese Deportationen vor sich gingen. […] Man hat die Kinder ihren Müttern entrissen, und alles, was Sie sich in Bezug auf diese Szenen vorstellen können, muss weit hinter der Wahrheit zurückbleiben… [Übersetzung A.P.]
Alice Courouble, eine Nicht-Jüdin, die nach Drancy gebracht worden war, weil sie, um gegen die Einführung des Judensterns zu protestieren, diesen auf ihre Kleidung geheftet hatte, berichtet von den Jüngsten unter den gefangenen Kindern: Les tout petits de deux ou trois ans sont étalés comme des jeunes chats et leurs petites jambes écartées ou levées laissent voir de pauvres fonds de culottes noircis à force de s’asseoir par terre. Ils sont lamentablement sales. On les a bien douchés en arrivant, mais il aurait fallu pouvoir lessiver chemises et culottes. Comme tous souffrent de diarrhée, tout ce qu’ils portent a été souillé. Ils dorment enlacés, de petits bonhommes de trois ans protégeant de plus petits. […] La montée s’effectue dans le fracas des moteurs et, sous les feux tournants des projecteurs qui nous aveuglent, les enfants traînent des paquets plus gros qu’eux-mêmes. […] L’aube est venue, puis le jour. Par 50, on entasse les enfants, les baluchons sur les plates-formes. On commence à voir clair, et c’est plus affreux encore.169 Die ganz Kleinen, die zwei oder drei Jahre alt sind, sind hingestreckt wie kleine Katzen, und ihre kleinen, auseinandergespreizten oder hochgestellten Beinchen lassen die armen Unterseiten ihrer Unterhosen sehen, die vom Sitzen auf der Erde ganz schwarz geworden sind. Sie sind furchtbar schmutzig. Man hat sie bei der Ankunft geduscht, doch man hätte die Möglichkeit haben müssen, 168 Ebd., S. 62-63. 169 Ebd., S. 68.
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die Hemden und Unterhosen zu waschen. Da alle an Durchfall leiden, ist alles, was sie tragen, vollkommen verdreckt. Sie schlafen einander umklammernd, kleine Kinder von drei Jahren beschützen dabei die allerkleinsten. […] Der Aufbruch findet beim Krach der Motoren und unter dem sich drehenden Licht der Scheinwerfer statt, die uns blenden. Die Kinder tragen Pakete, die größer sind als sie selbst. […] Der Morgen bricht an, dann der Tag. Zu jeweils 50 drängt man die Kinder und Bündel auf der Plattform zusammen. Man beginnt, deutlicher zu sehen, und alles ist dadurch nur noch furchtbarer. [Übersetzung A.P.]
Kinder, die dem Babyalter noch ganz nah waren, wurden ohne die Begleitung ihrer Eltern „Richtung Osten“ verschickt. Zur Furchtbarkeit der Transporte kam die Trennung von ihren Eltern.170 Abb. 10: Betty Ascher, geboren 1937, wurde 1944 getrennt von ihren Eltern deportiert171
170 Dass hier nicht nur die Trennung von den Müttern erwähnt werden darf, sondern ebenso die von den Vätern, geht aus dem folgenden Bericht eines Überlebenden hervor. Betont wird, wie der Vater sich geopfert habe, um es nicht zur Trennung von seinem Sohn kommen zu lassen: „Dann war ich zwei Jahre zu Hause und im Jahre ’40 kam für uns der erste Schlag, weil man hat mit dem ersten Transport meinen Bruder geschickt, der damals 17 Jahre zählte und das war für uns schrecklich. Und mein Papa wollte nicht, dass er alleine ins Lager geht und er hat sich freiwillig gemeldet als 56-jähriger Mann. Und es hat nicht geholfen, dass meine Mutti ihn gebeten hat und ich ihn gebeten habe, er soll nicht von uns weg fahren, es wird für uns viel schwerer. Er hat gesagt, er lässt das Kind alleine nicht ins Lager zu den Deutschen. Er muss weg fahren. Und so hat man ihn angenommen, sehr gerne haben die Deutschen es gemacht. Und so ist mein Papa im Jahre ’40 ins Lager weg gefahren.“ Interview mit Fela Lichtheim, in: David P. Broder: Die Toten habe ich nicht befragt, Heidelberg 2012, S. 239-282, Zitat S. 246; künftig zitiert als: Broder: Die Toten. 171 Klarsfeld: Mémorial, S. 453.
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Manchmal wurden Familienmitglieder an einem Tag auseinandergerissen, manchmal sukzessive. Und bei Eich? Im ersten Traum sind die Familien intakt. Eltern, Großeltern, Kinder und Kindeskinder sind im Zug vereint. In der Wirklichkeit machte die Gewalt auch vor der Zusammengehörigkeit von Eltern und Kindern keinen Halt, und zwar durchaus nicht nur in Frankreich.172 So berichtet die jüdische Überlebende Paula
172 Ein weiteres, bewegendes Beispiel ist ebenfalls durch David Boder überliefert worden, der unmittelbar nach Kriegsende eine nach Frankreich emigrierte Jüdin aus Polen, Mutter von vier Kindern, interviewte. Diese wurde nacheinander von ihren beiden ältesten Töchtern getrennt: „DR. BODER: Wann haben sie Ihre Tochter weggeschickt? FRAU FREICH: Meine Tochter wurde mit dem zweiten Transport weggeschickt. Alleinstehende Frauen und junge Mädchen. Ich stehe um ein oder zwei Uhr nachts auf und erfahre, dass morgen ein Transport stattfinden wird. Und ich sage, ‚Ach! Wer weiß, ob wir nicht schon mit diesem Transport gehen werden’? Und ich höre, dass sie alleinstehende Männer und junge Mädchen und Frauen ohne Kinder für diesen Transport aufrufen. Frauen mit Kindern blieben bis zum dritten Transport. Und sie rufen auch den kleinen Namen meiner Tochter auf. Mara Freich – dem Untergang geweiht. Sie muss gehen.“ Interview mit Fania Freich, in: Broder: Die Toten, S. 89-123, Zitat S. 107. Und weiter: „Und aus der Entfernung, mit der Hand winkend, ‚Au revoir, Maman. Sei stark. Ich bin bereits geopfert. Schau zu, dass Du Dich und die beiden Kleinen rettest. Ich opfere mich.‘ Und so verschwand sie mit ihrem Koffer und ihrem Bündel von dem Platz, und bis zum heutigen Tag habe ich mein Kind nicht wieder gesehen. Bereits vier dunkle Jahre – (Eine lange Pause).“ Ebd., S. 108-109. In Bezug auf die nachfolgende Trennung von der zweiten Tochter berichtet die Mutter: „Es verging ein Tag und, siehe da, ich erhielt einen Brief, und der Brief war von meinem Kind. Sie hatte es geschafft, sich ein Stück Papier und einen Bleistift zu besorgen, und als sie sie zur Deportation in den Zug steckten, schaffte sie es, einige Worte an ihre Mutter zu schreiben, an ihre Mutter. Sie wusste, dass wir alle noch zu Hause waren. Und sie schreibt: ‚Meine lieben Eltern, wir werden abgeschoben en direction inconnu‘. Wissen Sie, was das heißt? Wir werden abgeschoben und unser Ziel ist unbekannt, inconnu. ‚Wir werden wie Vieh in verschlossenen Waggons transportiert. Wir haben kein Essen und auch nichts zu trinken. Wir haben gar nichts. Aber unsere Moral ist gut und wir sind stark. Ich bin bei bester Gesundheit. Weine nicht, Mutter, und sag den Kindern, sie sollen auch nicht weinen. Ich bin jung und werde das durchstehen. Ich bin jung und ich hoffe, dass wir uns wiedersehen. Ich küsse Dich. Pass auf, dass Du nicht den Deutschen in die Hände fällst. Versteckt Euch. Verschwindet aus Paris. Versteckt Euch in einem Dorf. Versteckt Euch, sonst fangen Sie Euch, wie sie auch mich gefangen haben. Und ich hoffe, wir werden uns wiedersehen, und ich werde das durchstehen, weil ich jung bin‘. Und bis heute habe ich mein Kind nicht wieder gesehen. Vier finstere Jahre sind vergangen, und ich weiß nicht, wo ihre sterblichen Überreste ruhen.“ Ebd., S. 113. „DR. BODER: Wer hat Ihnen den Brief gebracht? FRAU FREICH: Der Briefträger brachte ihn mir. Sie warf den Brief aus dem fahrenden Zug, und die Leute, die an den Gleisen arbeiten, fanden den Brief und warfen ihn in den Postkasten. Und der Brief wurde zugestellt. Ich hatte den Brief, aber es gab ständig Razzien der Deutschen. Sie durchsuchten die Häuser immer nach verschiedenen Unterlagen. Mein Mann sagte, ‚Ich habe Angst, so einen Brief zu behalten. Wir können alle getötet werden für solch einen Brief. Sobald sie im Zug sind, dürfen sie nämlich nichts mehr schreiben‘. Deshalb hat mein Mann den Brief genommen und verbrannt. Es war die erste und letzte Nachricht
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Biren in Claude Lanzmanns Film „Les quatre sœurs“ von einer nahen Freundin, die sich im Ghetto Lodz geweigert habe, ihre Tochter allein “auf Reisen” zu schicken. Der SS-Mann habe auf diese Weierung unmittelbar reagiert: Die Mutter wurde vor den Augen des eigenen Kindes und anderer, zusammengetriebener Ghettobewohner erschossen. Die Tochter wurde entsprechend den Modalitäten deportiert, die die SS es befohlen hatte: allein, ohne die Mutter.173 Cordelia Edvardson, die zum Zeitpunkt ihrer Deportation bereits fünfzehn Jahre alt war, berichtet, wie schwer das Allein-deportiertWerden für sie gewesen sei. Kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz habe sie einen Fund gemacht: [A]uf dem reingefegten Fußboden der Baracke entdeckte das Mädchen ein Stück Papier. Mechanisch bückte sie sich, nahm es und drehte es um. Es war das Bild ihrer Mutter, die Fotografie der Mutter, die das Mädchen bis hierher begleitet hatte. Ihre schöne Mutter, die sie mit einem Blick voll hilfloser Liebe und Schmerz ansah. Da weinte das Mädchen, wie sie noch nie geweint hatte und nie wieder weinen sollte; nicht so.174 von meiner Tochter, auf Deutsch geschrieben. Sie schrieb wunderbares Deutsch.“ Ebd., S. 114. 173 Vgl. Claude Lanzmann: Les quatre sœurs, Kapitel “Baluty. Paula Biren”, Synecdoche, Arte France, 2017; künftig zitiert als : Lanzmann: Sœurs. 174 Edvardson: Kind, S. 88. – Ein Manuskript, das aus der Feder eines Mitglieds des Sonderkommandos stammt, beschreibt, was nach der Ankunft mit zwei elternlosen Geschwistern geschah: „C’était à la fin de l’hiver 1943. On avait amené un convoi d’enfants seuls, arrachés à leur mère au foyer, dans des voitures circulant de maison en maison, pendant que le père était au travail à Sîlauliaj (Lituanie) de Kovno. Le chef du Kommando avait envoyé des hommes dans le local de déshabillage pour dévêtir les petits enfants. Une fillette de huit ans était en train de déshabiller son petit frère d’un an. Un homme du Kommando s’approche pour le faire. La fillette l’interpelle: ‚Va-t-en, assassin juif! Ne mets pas ta main qui a trempé dans du sang juif sur mon joli petit frère! C’est moi à présent sa bonne maman. C’est dans mes bras qu’il mourra avec moi.‘ […] C’était au début de 1943.“ Lejb Langfus: Notes, in: Des voix sous la cendre. Manuscrits des Sonderkommandos d’Auschwitz-Birkenau, Paris 2005, S. 73-90, Zitat S. 77. („Es geschah gegen Ende des Winters 1943. Man hatte einen Transport mit Kindern herbeigebracht, die allein kamen, nachdem sie Zuhause von ihrer Mutter getrennt worden waren. Ihr Transport erfolgte in Autos, die von Haus zu Haus fuhren, während der Vater in Sîlauliaj von Kovno bei der Arbeit war. Der Chef des Kommandos hatte die Männer in den Entkleidungsraum geschickt, um die kleinen Kinder auszuziehen. Ein Mann des Kommandos nähert sich, um diese Aufgabe zu erledigen. Das kleine Mädchen fährt ihn an: ‚Hau ab, jüdischer Mörder! Rühr mit Deinen Händen, die in jüdisches Blut getaucht sind, nicht an meinen schönen, kleinen Bruder! Ich bin jetzt seine liebe Mama. In meinen Armen wird er zusammen mit mir sterben.‘ […] Das war Anfang 1943.“ [Übersetzung aus dem Französischen A.P.]) – Zalmen Lewental, ein zweiter Augenzeuge der Vorgänge in den Gaskammern, berichtet, was den Kindern geschah. Doch auch sein Text ist Fragment. Zalmen Lewental: Notes, in: Des voix sous la cendre. Manuscrits des Sonderkommandos d’Auschwitz-Birkenau, Paris 2005, S. 91-128, Zitat S. 92; künftig zitiert als: Lewental: Notes. Zu den wenigen überlebenden Kindern aus Auschwitz-Birkenau gehört Thomas Buergenthal, geboren 1934, der sich erinnert, wie in Kielce seine beiden Stiefgeschwister von seinen Eltern getrennt und
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Erneut: Bei Eich sind die Familien intakt. Doch vielleicht ist es gerade richtig, dass die Literatur ihren Anspruch, Wirklichkeit zu ,erreichen‘, zurücknimmt? Ließ sich Eich von diesen Überlegungen leiten? Oder verdeutlicht die Zeugenschaft derer, die die jüdischen Kinder in den letzten Tagen vor ihrer Deportation aus Frankreich zu begleiten versuchten, im Gegenteil die Notwendigkeit, Sprache und Schreiben an dieser Zeugenschaft zu messen?175 Diese Frage kann erst mit Blick auf das gesamte Hörspiel beantwortet werden. Im Ohr bleibt, was Anna Kovitzka, eine Überlebende aus Polen, mit Blick auf ihr Baby berichtet, das sie zu retten versucht hatte, indem sie es auf der Straße aussetzte, das aber kurz vor Kriegsende ermordet wurde: Ich ging ins Haus, und ich sagte: „Panuvka, mein Kind ist weg. Wie leer sich meine Hände anfühlen.“ Dann sagte sie: „Sechsundzwanzig Stunden hast du gelitten, um sie zur Welt zu bringen, und jetzt wirst du leiden, so lange du lebst.“176
ermordet wurden. Hier kam es also gar nicht erst zur „Reise“. „Um uns herum wurden überall Kinder aus den Armen ihrer Eltern gerissen. Als die Soldaten Zarenka und Ucek sahen, versuchten sie, sie meiner Mutter zu entwinden. Die beiden Kinder schrien, und meine Mutter versuchte, sie festzuhalten, doch einer der Soldaten fing an, sie zu schlagen, und sie musste sie loslassen. Dann fiel der Blick eines Soldaten auf mich, und er versuchte, auch mich wegzuzerren. Mein Vater lockerte seinen Griff nicht und trat zwischen die Reihen. Als der Soldat den Arm hob, um auch ihn zu schlagen, brüllte mein Vater etwas, und der Mann hielt inne. Ohne meine Hand loszulassen, ging mein Vater auf den Stadtkommandanten zu. Bevor er irgendetwas sagen konnte, sah ich zu dem Kommandanten auf und sagte (ich weiß nicht, ob und warum mein Vater mir das eingegeben hatte): ‚Herr Hauptmann, ich kann arbeiten!‘ Er sah mich kurz an und sagte: ‚Na, das werden wir bald sehen.‘ Dann winkte er meinen Vater und mich zurück in die Reihe, in der wir gestanden hatten. Wir erfuhren später, dass Ucek und Zarenka mit etwa dreißig anderen Kindern zusammen zunächst in einem Haus in der Nähe eingesperrt wurden. Von dort wurden sie am späten Nachmittag zum jüdischen Friedhof gebracht und ermordet. Offenbar benutzten die Soldaten Handgranaten, um sie zu töten; wenigstens hörten wir das. Heute steht auf diesem Friedhof in Kielce ein Denkmal, errichtet zum Gedenken an die Kinder, die an jenem schrecklichen Tag 1943 ermordet wurden, unter ihnen mein kleiner Bruder und meine Schwester. Das waren sie inzwischen, und das werden sie immer sein, solange ich lebe. Im Lauf der Jahre ist es mir gelungen, so manches grauenvolle Ereignis aus jener Zeit aus meinem Gedächtnis zu tilgen, doch niemals war ich auch nur einen Augenblick in der Lage, den Tag zu vergessen, als Ucek und Zarenka von uns fortgerissen wurden.“ Buergenthal: Glückskind, S. 72-73. 175 Friedländer: Vernichtung, S. 443. Friedländer bezieht sich mit dem ersten Zitat auf: Michael Marrus und Robert O. Paxton: Vichy France and the Jews, New York 1995, S. 255; mit Zitat 2 auf: Serge Klarsfeld: Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, Nördlingen 1989, S. 432; mit Zitat 3 auf ebd., S. 432f. 176 Interview mit Anna Kovitzka, in: Broder: Toten, S. 23-46, Zitat S. 30.
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Abb. 11: Rosette und Samuel Krzuk, wurden zusammen mit ihrer Mutter, getrennt vom Vater, deportiert177
FÜNFTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: KAUTSCHUK UND GENOZID Kriegswichtige Milch Des Volkes Nährstand, seid belehrt, ist darum aller Ehren wert, und Hermann Göring sagt‘ es schon, er ist das erste Bataillon im Kampf für den Vierjahresplan, der uns beschirmt vor Hass und Wahn!178
Die Unverhältnismäßigkeit, die im Folgenden entwickelt werden soll, geht von einem einzigen Wort aus – doch wie zu zeigen sein wird, ist dieses Wort von größter Bedeutung. Noch einmal steht im Zentrum: der Löwenzahn. Denn welche Bedeutung bekommt dieser, wenn man außer der Kennzeichnungspflicht auch die Trennung der 177 Klarsfeld: Mémorial, S. 805. 178 Neelsen: Landarbeitsfiebel, S. 4; zitiert nach: Susanne Heim: Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933-1945, Göttingen 2003, S. 97; künftig zitiert als: Heim: Kautschuk.
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Kinder von ihren Eltern in die Geschichte der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik mit einbezieht? Welche Rolle spielte er – dieses Mal als wirkliche Pflanze – im Vernichtungsapparat? Wenden wir uns noch einmal den bereits bekannten Textauszügen zu. Im ersten Traum von Günter Eichs Hörspiel heißt es: URALTER Hinter unserm Haus stieg der Weg etwas an bis zum Waldrand. Auf den Wiesen blühte im April der Löwenzahn. URALTE Löwenzahn, – was du für merkwürdige Wörter gebrauchst! URALTER Löwenzahn, erinnere dich doch, eine gelbe Blume, die Wiesen waren gelb davon, in den Stengelwänden war ein milchiger weißer Saft. Wenn er abgeblüht war, saßen wollige weiße Kugeln auf den Stengeln, und der gefiederte Same flog davon, wenn man hineinblies. URALTE Ich hatte das ganz vergessen, aber jetzt erinnere ich mich.179
Historisch bedeutungsvoll an dieser Passage ist Eichs Hinweis auf den „milchige[n] weiße[n] Saft“. Er war es, der frühzeitig das Interesse sowjetischer Pflanzengenetiker weckte. Von diesen wurde im Bereich der Pflanzenzucht Pionierarbeit geleistet. Es gelang der Nachweis, dass in der Kok-Saghys-Pflanze (so der offizielle botanische Name) Kautschuk enthalten ist. Man konnte also hoffen, mit Hilfe dieser „Milch“ mittelfristig von der überseeischen Kautschukproduktion (Brasilien, Afrika, Asien) unabhängig zu werden. Schon in den 1920er Jahren versuchten die Wissenschaftler, durch systematische Züchtung die Kautschukmenge im Löwenzahn-„Saft“ zu erhöhen und so die in Aussicht stehenden wirtschaftlichen Erträge zu verbessern. Umfangreiche Experimente biochemischer wie fortpflanzungstechnischer Art, wie sie vor allen Dingen von dem berühmten russischen Pflanzengenetiker Nikolai Ivanovic Vavilov (einem Namensvetter des eichschen Ivan Ivanowitch) entwickelt wurden, erklären, warum beim Angriff, den das nationalsozialistische Deutschland im Sommer 1941 gegen den ‚bolschewistischen Todfeind‘ begann, die einzigartige Bank von Samen und Pflanzen sowie die innovative Forschungsliteratur zum Kok-Saghys, die zum Institut in Detskoje Selo gehörten, in den Einzugs- und Machtbereich der Wehrmacht gerieten.180 Was mit Kunstschätzen und Kulturgut aller Art zu geschehen pflegte, geschah auch mit der potentiellen Importsubstitution der Kok-Saghys: Alles, was für ihre weitere Erforschung von Interesse sein konnte – Samen, Jungpflanzen, Laborgeräte, Aufzeichnungen zu den bisherigen Experimenten etc. –, wurde von eigens entsandten Wissenschaftlern systematisch gesichtet und fortgeschafft. Dabei kam es zu einer scharfen Konkurrenz: Unterschiedliche Institute und Forschungs179 Eich: Träume, S. 353. 180 „Vavilov und seine Kollegen hatten über Jahrzehnte auf Expeditionen in alle Welt systematisch verschiedene Varietäten der wichtigsten Nutzpflanzen gesammelt. Dieses Material, zu dem die deutschen Züchtungsforscher nun Zugang erhielten, war für sie, wie Hertzsch 1942 schrieb, ‚deshalb so wertvoll, weil die deutschen wissenschaftlichen Pflanzenzuchtstationen für ihre Kreuzungsarbeiten möglichst alle Formen einer Pflanzenart haben müssen, die es überhaupt gibt‘. Man habe daher ‚alles daran gesetzt […], um die großen Sortimente sicherzustellen, […] weil die deutschen Institute seit sehr langer Zeit auf dieses [Material] gehofft haben, aber [es] von den Sowjets nicht einmal im Austauschwege herausgegeben wurde‘“. Heim: Kautschuk, S. 46.
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einrichtungen aus Deutschland machten einander die ‚Funde‘ streitig. „In der Regel bedeutete der Wettlauf aller an den Raubaktionen beteiligten Organisationen […] die überstürzte Beschlagnahmung von Kulturgut.“181 Doch die Deutschen eigneten sich nicht nur den Zugang zum sowjetischen knowhow und die Ergebnisse der bisherigen züchterischen Bemühungen an. Vielmehr verband sich das Projekt, die Forschung zur Herstellung von Synthesekautschuk durch ein Programm zur Herstellung von Naturkautschuk zu ergänzen, mit der teils freiwilligen, teils gewaltsam erzwungenen „Verpflanzung“ sowjetischer Wissenschaftler in neue Forschungsstätten. Diese Einrichtungen befanden sich zum Teil in Deutschland selbst, zum Teil wurden sie in Konzentrations- und Vernichtungslagern neu geschaffen. Den Hintergrund für diese auf Zwangsarbeit beruhende „Personalpolitik“ bildeten kriegsbedingte Schwierigkeiten, die umso gefährlicher für die deutsche „Erzeugungsschlacht“ wurden, je aussichtsloser sich die militärische Situation des ‚Dritten Reiches‘ darstellte. Vor allem die Einberufungen zur Wehrmacht rissen erhebliche Lücken in die Personaldecke der Kaiser-Wilhelm-Institute, die nur schwer bzw. kaum zu kompensieren waren. Der bis 1933 selbstverständlichen und auch danach noch verbreiteten Beschäftigung von ausländischen Wissenschaftlern im Interesse eines internationalen Austauschs stand mit Kriegsbeginn zunehmend der Faktor „Spionagegefahr“ entgegen, da ein erheblicher Teil der Forschungen als kriegswichtig galt. Gleichzeitig eröffneten sich in den besetzten Gebieten, vor allem im Osten, ungeahnte Möglichkeiten zur „Übernahme“ von Wissenschaftlern.182
In der Tat nahm im Zuge der Akquirierung neuen, z.T. hochqualifizierten Personals „die bis dahin nur in bescheidenem Umfang betriebene Forschung zur Züchtung von nicht-tropischen Kautschukpflanzen […] nach der Besetzung weiter Teile der Sowjetunion einen bemerkenswerten Aufschwung“.183 Die Tatsache, dass trotz aller Anstrengung in der Buna-Produktion Pflanzenkautschuk insbesondere für die Reifenherstellung unverzichtbar blieb, verlieh dem Vorhaben [Kautschuk auf der 181 Gabriele Freitag und Andreas Grenzer: „Der Umgang mit sowjetischem Kulturgut während des Zweiten Weltkriegs. Ein Aspekt nationalsozialistischer Besatzungspolitik“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45, Heft 2 (1997), S. 262; zitiert nach: Heim: Kautschuk, S. 234; künftig zitiert als: Freitag / Grenzer: „Umgang“. 182 Bernhard Strebel und Jens-Christian Wagner: Zwangsarbeit für Forschungseinrichtungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1939-1945. Ein Überblick, Berlin 2003, S. 7; künftig zitiert als: Strebel / Wagner: Zwangsarbeit. – Weiter führen die beiden Historiker aus: „Hintergrund der Beschäftigung von wissenschaftlichen Zwangsarbeitern war, wie in anderen Bereichen auch, der im Laufe des Krieges immer stärker zunehmende Arbeitskräftemangel. Bis Mitte 1941 waren 330 Mitarbeiter der KWG [gemeint ist die KaiserWilhelm-Gesellschaft; A.P.] zur Wehrmacht eingezogen worden, das waren 31%. Im April 1942 war ihr Anteil auf 40% gestiegen. Ähnlich wie die Industrie sah sich die KWG damit einer Entwicklung gegenüber, die gegensätzlich zu ihrem steigenden Personalbedarf verlief, da es nicht nur um den Erhalt des Status quo ging, sondern auch um den Fortgang der in nicht unerheblicher Zahl hinzugekommenen Projekte und Institute.“ Ebd., S. 48-49. 183 Heim: Kautschuk, S. 17.
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Basis nicht-tropischer Pflanzen in den von Deutschland besetzten Gebieten zu gewinnen; A.P.] seine besondere Bedeutung, ging es doch darum, einen strategischen Engpass der Rohstoffversorgung zu überwinden. Getragen wurde das Projekt von einem Netzwerk von Einrichtungen, in dem neben der SS das Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung eine zentrale Position einnahm. Dieser Forschungsverbund griff in hohem Maße auf das Zwangsinstrumentarium des NS-Staates zurück – von der Okkupation der Anbaugebiete bis hin zur Forschung im Konzentrationslager.184
Es ist dieser Einsatz von ausländischen Wissenschaftlern in Züchtungslabors, der Eichs „milchige[n] Saft“ historisch ins rechte Licht rückt. Vor dem Hintergrund des Raubs von Forschungsressourcen stellt sich die Frage, welche Arbeits- und Lebenswirklichkeiten der deutsche Gummi-Hunger für die deportierten Forscher sowie andere, in der Pflanzenzucht des Auschwitzer Nebenlagers Rajsko beschäftigte Häftlinge hervorbrachte. Bezogen auf das eichsche Hörspiel ist, mit anderen Worten, zu zeigen, dass der Löwenzahn keineswegs aus der Gewaltgeschichte des europäischen Imperialismus (z.B. im Kongo im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und – auf neue, technisch modernisierte, zum Vernichtungskrieg sich steigernde Weise – in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs) heraus-, sondern im Gegenteil mitten in sie hineinführt. Der Löwenzahn ist kein Gegenbild zur Gewalt, kein Symbol für das ganz „Andere“ von Krieg und Vernichtung.185 Die elegischen Erinnerungen des „Uralten“ an 184 Ebd., S. 21. – Das Schicksal Vavilovs gehört in diesen Kontext. Der Botaniker Fritz von Wettstein argumentierte, „dass mit der Verhaftung Vavilovs durch die sowjetische Geheimpolizei auch dessen Organisation, die einzige, die wirklich im großen Stil Kulturpflanzenforschung betrieben habe, zerstört sei und über die Institute der Krieg ‚hinwegrollt‘. Deswegen müsse, so appellierte er an die KWG [d.h. die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft; A.P.], jetzt von deutscher Seite dringend die Führung auf diesem Gebiet übernommen werden. Das Material, das ‚eine unerschöpfliche Quelle für immer neue Züchtungsaufgaben‘ darstelle, sei unbedingt zu sichern. […] Vavilov selbst war 1941 wegen angeblicher Spionage, Sabotage und Unterstützung von Volksfeinden verhaftet worden. Er verhungerte 1943 im Gefängnis von Saratow. Dennoch waren die Bestände der sowjetischen Institute im Jahr 1941 in erster Linie durch den – im übrigen ja von den Deutschen begonnenen – Krieg in Gefahr, und nicht, wie Wettstein unterstellte, weil mit der Erhebung des Lyssenkoismus zur Staatsdoktrin und der Verhaftung Vavilovs auch dessen Institute verwaist oder gar von sowjetischer Seite aus zerstört worden wären. Im Gegenteil: Als deutsche Truppen auf Leningrad vorrückten, wurden die wichtigsten Sammlungen aus dem Zentralinstitut in Detskoje Selo in das belagerte Leningrad gebracht – unter Mithilfe der Roten Armee. Von den sowjetischen Wissenschaftlern, die die Sammlungen dort weiter gepflegt und vor der Vernichtung bewahrt haben, sollen einige verhungert sein, ohne das Wildpflanzensaatgut anzutasten, das für sie ganz persönlich die Folgen der von den Deutschen gegen Leningrad verhängten Hungerblockade vielleicht etwas hätte mildern können.“ Ebd., S. 220-221. 185 Christian Mähr, der ein eher heiteres Buch über verschiedene „Substanzen, die die Welt veränderten“ geschrieben hat, fühlt sich verpflichtet, sich für sein Kapitel zum Gummi zu entschuldigen: „Dass es so relativ düster wurde, war nicht beabsichtigt; es liegt auch nicht in der Natur des Gummis, sondern an seiner Geschichte, mit der sich sehr hübsch die Ge-
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den Löwenzahn der Friedenszeit sowie sein sehnsüchtiger Blick durch die Fensterluken des Deportationszuges, wie das Hörspiel sie inszeniert, müssen in Beziehung gesetzt werden zu dem Status, der dem Löwenzahn als kriegswichtiger, ökonomischer Ressource zukam. Die „wollige[n] weiße[n] Kugeln auf den Stengeln“ waren nicht zweckfrei, keineswegs Gegenstand kindlich-unschuldiger Spiele („der gefiederte Same flog davon, wenn man hineinblies“), sondern vielmehr Ziel intensiver forscherischer Bemühungen, denen kriegsentscheidende Bedeutung zugesprochen wurde. Der Samen flog nicht frei davon, sondern im Gegenteil wurde er in Kästen eingefangen, um ihn weiterzüchten, genetisch verändern und optimal nutzen zu können. Am Löwenzahnsamen erwies sich, dass der Raub eine „Geste der Unterwerfung“, „Zeichen wehrhafter Überlegenheit“ sowie ein „ideologisches Kampfmittel in einem intendierten Vernichtungskrieg“ war.186 In Bezug auf die Verbindung, die zwischen Löwenzahn und Vernichtungspolitik bestand, muss besonders an das Schicksal der mit der Naturkautschukherstellung befassten Häftlinge in Raisko – vornehmlich Frauen – erinnert werden. Die Analyse lebensgeschichtlicher Zeugnisse von Überlebenden soll im Folgenden die unverhältnismäßige Fortschreibung des eichschen Löwenzahnmotivs ermöglichen, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Der Löwenzahn weist sowohl chronologisch zurück (nämlich in die belgische Kolonialgeschichte des späten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), als auch auf das voraus, was nach der Deportation Juden und politischen Gegnern in den nationalsozialistischen Lagern geschah. Mit anderen Worten: Der Löwenzahn könnte uns in die Geschichte des Freistaates Kongo unter Leopold II. und die von ihm betriebene Kautschukpolitik führen. (Und diese ist wichtig, weil Eichs vierter Traum im Kongo spielen wird.) Der Hauptakzent soll hier jedoch erst einmal auf die neuen Formen der Gummiherstellung gelegt werden, wie sie von SS, IG Farben, deutschen Forschungsinstituten und hochrangigen Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft vor allen Dingen in Monowitz und Rajsko ausprobiert wurden. In jedem Fall erweist sich der Löwenzahn als geradezu paradigmatisches Beispiel für die Zusammengehörigkeit der eichschen Träume. So wie die Motive, die der Kongo-Traum entwickelt, angesichts der historischen Realität die Unverhältnismäßigkeit einer anderen Art von Lektüre geradezu herausfordern, so kann auch das Löwenzahnmotiv aus dem Deportationstraum von der Realität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht losgelöst werden. Mit dieser Interpretation kommt dann auch notwendig der Umgang mit dem Nationalsozialismus durch die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft wieder ins Spiel. Nach Kriegsende versuchten die Spezialisten für genetische und züchterische Fragen, von der Verantwortung, die mit ihrem Zugriff auf Pflanzen (und folglich Menschen) verbunden gewesen war, abzulenken. Doch dies war nur ein weiterer Beweis für die politische und ökonomische Bedeutung, die der Züchtungsforschung zum Löwenzahn in Wirklichkeit zugewiesen worden war. schichte einer Schwäche des Menschen illustrieren lässt: seiner Gier.“ Mit dem Hinweis auf die Gier ist jedoch die wirkliche Dimension der „Düsterheit“ noch nicht einmal ansatzweise erfasst – und dies obwohl der Autor sowohl Leopolds II. als auch Hitlers Interesse am Kautschuk erwähnt. Vgl. Christian Mähr: Von Alkohol bis Zucker. Zwölf Substanzen, die die Welt veränderten, Köln 2010, S. 167. 186 Freitag / Grenzer: „Umgang“, S. 237.
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Der Doppel- bzw. Dreifachcharakter der Pflanzen als Forschungsgegenstand, als Rohstoff und als strategische Ressource ermöglicht den Wissenschaftlern ein Changieren zwischen diesen Feldern. Während sie sich im Krieg die politische und militärische Macht z.B. im Rahmen einer Besatzungsherrschaft zunutze machen, um Zugriff auf interessantes Züchtungsmaterial zu erhalten, legitimierten sie dessen Aneignung bald mit dem nationalen Interesse, bald mit der Sorge um das kollektive Erbe der Menschheit oder mit dem uneigennützigen Erkenntnisstreben der Wissenschaft. Vom Interesse der Forscher an wissenschaftlichen Ressourcen als Bausteine für die eigene Karriere ist nicht die Rede. Und auch die Tatsache, dass im „Ernährungskrieg“ die Verfügungsgewalt über pflanzengenetische Ressourcen schnell zur Überlebensfrage, also zum zentralen kriegsstrategischen Problem werden konnte, bleibt unerwähnt.187
Das Vorhaben, nach Verbesserung ihrer genetischen Eigenschaften Kok-SaghysPflanzen in großem Maßstab in der Ukraine anzubauen, verband sich mit der bewussten Inkaufnahme von Hunger bei der dortigen Bevölkerung. Das Leiden und Sterben in den Konzentrationslagern wurde also begleitet von dem Leiden und Sterben jener Menschen, die zwar nicht deportiert worden waren, sich jedoch durch Zwangsarbeit und Mangel an Nahrung einem Massensterben preisgegeben sahen. Während die wissenschaftlich qualifizierten Häftlinge, die aufgrund ihrer Spezialisierung für die Deutschen wenigstens für eine bestimmte Zeit interessant (und also lebens-erhaltenswert) waren, einer Optimierung des Löwenzahnkautschuks zuarbeiten mussten, sollten die ukrainischen Frauen und Kinder seine billige Herstellung im großen Maßstab 187 Heim: Kautschuk, S. 225. – Vor dem Hintergrund der Schuldabwehr, die nach dem Krieg begann, ist die Analyse, die die Historikerin Susanne Heim der Sprache der Wissenschaftler im Krieg widmet, von besonderem Interesse. „Wettsteins Rede [gemeint ist der schon erwähnte Botaniker; A.P.] vom ‚übernommenen Material‘ klingt, als seien den Deutschen beim Einmarsch in die Sowjetunion Pflanzensammlungen oder ganze Institute übergeben worden. Das mag sogar in manchen Fällen zutreffen, wobei diese ‚Übergabe‘ in den besetzten Gebieten angesichts der Präsenz deutscher Truppen nicht als freiwillig bezeichnet werden kann. Gebräuchlicher als der vage, zurückhaltende Ausdruck ‚übernehmen‘ war unter den deutschen Wissenschaftlern der Begriff der ‚Sicherung‘ in bezug auf die russischen Forschungsressourcen, wobei jedoch in der Regel nicht erwähnt wurde, wovor oder für wen das Material gesichert werden sollte. Entsprechendes gilt für die emphatische Rede von der ‚Rettung‘. Die Gefahren, vor denen das Material gerettet werden sollte, waren der Krieg, begriffen als Quasi-Naturkatastrophe […]. Die Wissenschaftler, die auf ihren Reisen durch die besetzten Gebiete von einem Forschungsinstitut zum nächsten Uniform, militärische Titel und Waffen trugen, schrieben sich selbst mittels Formulierungen wie ‚Sicherung‘ oder ‚Rettung‘ eine Beschützerrolle zu, obwohl sie de facto Teil der Besatzungsarmee waren. Während sie im Krieg die sowjetischen Forschungsressourcen für die deutsche Ernährungswirtschaft oder aber für ihre eigenen Institute ‚sicherten‘, beriefen sie sich später darauf, ein kollektives Erbe der Menschheit geschützt zu haben.“ Ebd., S. 223-224. – Heims Buch ist besonders wichtig, und zwar aufgrund der beeindruckenden Menge der erforschten Dokumente und der ebenso synthetischen wie präzisen Zusammenschau von Politik, Ökonomie, Wissenschaft und nationalsozialistischer Propaganda, die in die landwirtschaftliche Forschung der Kaiser-Wilhelm-Institute hineinspielten. Heim ist überdies eine der wenigen Spezialistinnen, die sich mit der Geschichte des Lagers Rajsko beschäftigt hat.
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sicherstellen.188 Diese Pläne konnten nicht zu Ende geführt werden, da die militärischen Ereignisse sie obsolet machten. Doch fest steht, dass der Löwenzahn als Symbol für Frieden und Freiheit von der Wirklichkeit überrollt und zerstört worden ist.189 Eine Frage der Wahrnehmung Die Einführung einer neuen Kulturpflanze ist immer eine Frage der geeigneten Rasse der betreffenden Art und damit ein Problem der Züchtung.190
Im Folgenden möchte ich die Wahrnehmung des Löwenzahns aus der Perspektive der mit ihnen beschäftigten Häftlinge darstellen. Zurückgegriffen werden soll auf unterschiedliche Textquellen: Für das Lager Rajsko, das nur wenige Kilometer vom Stammlager Auschwitz entfernt war und organisatorisch zu diesem gehörte, liegt, erstens, eine Sammlung von Interviews vor, die Lore Shelley, selbst Überlebende der Shoah, zu Beginn der 1990er Jahre mit Chemikerinnen, Biologinnen und Gärtnerinnen führen konnte, die dort bis zu ihrer ‚Evakuierung‘ mit der Löwenzahnzucht beschäftigt gewesen waren.191 Diese Interviews überschneiden sich mit lebensgeschichtlichen Texten, die die schon mehrfach zitierte Charlotte Delbo nach ihrer eigenen Rückkehr über sämtliche Frauen – insgesamt 230 – zusammengetragen hat, die mit ihr zusammen am gleichen Tag von Romainville aus nach Auschwitz deportiert worden waren. Diese Frauen fasst
188 Allgemein ist in diesem Kontext festzuhalten: „Die vor allem in den neunziger Jahren vermehrten Forschungen haben gezeigt, dass es kaum einen Bereich der deutschen Gesellschaft gab, in dem nicht – wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß – auf Formen der Zwangsarbeit zurückgegriffen wurde. Das Spektrum reicht von staatlichen Einrichungen, wie beispielsweise dem Volkswagenwerk und den Hermann-Göring-Werken, über führende Industriekonzerne, wie die IG Farben, Daimler-Benz oder Siemens, und landwirtschaftliche Betriebe bis hin zu kleinen Handwerksbetrieben, kirchlichen und kommunalen Einrichtungen sowie privaten Haushalten.“ Strebel / Wagner: Zwangsarbeit, S. 12. 189 „Im August 1944 befanden sich etwa 5,7 Millionen ausländische Zivilarbeiter und knapp 2 Millionen Kriegsgefangene im Reichsgebiet. Damit waren ein Viertel aller Beschäftigten in der deutschen Wirtschaft im letzten Kriegsjahr Ausländer. In einigen Wirtschaftssektoren, wie der rüstungswichtigen Industrie und der Landwirtschaft, betrug ihr Anteil sogar ein Drittel.“ Ebd., S. 11. 190 W. Rudorf: „Die politischen Aufgaben der deutschen Pflanzenzüchtung“, in: Ackerbau und Landbaupolitik. Beiträge zur politischen Grundlegung der Landbauwissenschaft, hg. von Konrad Meyer (= Schriftenreihe zu „Odal“, Monatsschrift für Blut und Boden), Heft 6, Goslar o.J., S. 12; künftig zitiert als: Rudorf: „Aufgaben“. (Der Verlag nennt sich „Blut und Boden Verlag G.m.b.H.“.) 191 Interessant wäre es für mich gewesen, als akustische Quelle das Interview mit Claudette Bloch-Kennedy hinzuzunehmen, das im Rahmen des Londoner National Sound Archive aufgezeichnet wurde (C410/027/01-05). Leider ist dieses Interview online jedoch nicht verfügbar gewesen.
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Delbo zusammen in dem Begriff des „convoi“, des „Transports“ vom 24. Januar 1943, der zugleich den Titel ihres Buches bildet. Nachdem dieser Zug Birkenau erreicht hatte, wurden einige wenige Frauen – darunter zwei renommierte Chemikerinnen von der Sorbonne – für die Labors von Rajsko ‚selektiert‘. Diese zweite Quelle stellt auf der einen Seite den Versuch dar, eine historisch präzise Übersicht über die verschiedenen Lebenswege (und das massenhafte Sterben) dieser (zum überwiegenden Teil französischen) Frauen zu schreiben. Auf der anderen Seite ergibt sich aus der Komposition der kurzen, alphabetisch geordneten Skizzen jedoch auch der Anschluss an Delbos literarische Texte im eigentlichen Sinne, die in ihrer polyphonen und multiperspektivischen Anlage ebenfalls die Erfahrungen von Mitgefangenen thematisieren. Auch meine dritte Quelle changiert zwischen Finden und Erfinden, d.h. der Benutzung historischer bzw. lebensgeschichtlicher Zeugnisse und ihrer literarisch-fiktiven Verarbeitung. Es handelt sich um Peter Weiss‘ Theaterstück Die Ermittlung, in dem Eichs Löwenzahn ebenfalls eine Rolle spielt, und zwar für die Geschichte der 23jährigen Gefangenen Lili Tofler, die, nachdem sie von Rajsko aus brieflich Kontakt zu einem Mitgefangenen aufgenommen hatte, in die Politische Abteilung von Birkenau gebracht und dort ermordet wurde. Wie bekannt, arbeitet sich Peter Weiss an den Protokollen und Zeitungsberichten ab, die die Frankfurter Auschwitz-Prozesse der Jahre 1963-1965 begleiteten, so dass in meinem Kontext die Vernehmungsprotokolle, die sich in den Prozessakten zu Lili Tofler finden, als vierte Quelle relevant werden. Der fünfte Text ist die spät erschienene Autobiograpie Eva Tischauers, einer deutschen Jüdin, die als Jugendliche mit ihrer Familie nach Frankreich emigriert war, bevor sie – inzwischen Medizinstudentin – von den deutschen Truppen eingeholt und nach Auschwitz deportiert wurde. Auch sie war in Rajsko, dem Lager also, das trotz seiner Überschaubarkeit als Hochburg der Löwenzahnforschung galt und unter Heinrich Himmlers besonderem ‚Schutz‘ stand. Einige wenige Fotos, die aus Rajsko überliefert sind, runden meine Materialbasis zum Löwenzahn alias Kok-Saghys, der natürlichen Kautschukquelle, ab. Mit Blick auf die komplexe Bedeutung, die dem Gummi in ökonomischer und militärischer Hinsicht zukam, ist es darüber hinaus notwendig, neben dem Bemühen der SS, Naturkautschuk herzustellen, auch die ebenso immensen wie ergebnislosen Anstrengungen im Hinterkopf zu behalten, die sich in einem weiteren, sehr viel größeren Nebenlager von Auschwitz, nämlich in Monowitz, auf die Produktion von Synthese-Kautschuk richteten. Der Umstand, dass Löwenzahn für das synthetisch erzeugte Gummi eine technisch notwendige Ergänzung hätte sein können und umgekehrt der Synthesekautschuk die für das Militär erforderlichen Mengen hätten liefern sollen, erklärt, dass auch Primo Levis autobiographischem Buch Se questo è un uomo, in dem die lebensrettende Prüfung beschrieben wird, in der der Autor dem SS-Mann Dr. Pannwitz seine Qualifikation als Chemiker beweisen musste, in den Textkorpus hätte einbezogen werden können. Da es sich jedoch um eine Kautschukherstellung handelte, die unabhängig war vom Löwenzahn, möchte ich an dieser Stelle nur daran erinnern, dass Natur- und Synthesekautschuk für die Herstellung bestimmter Produkte gleichermaßen nötig waren, also zusammen gehörten. Levis Erfahrungen in Monowitz ergänzen zwar die Berichte der Frauen, die in Rajsko hatten Zwangsarbeit leisten müssen, doch im Folgenden steht allein der Löwenzahn im Zentrum.
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Leben im Schatten des Löwenzahns [D]ie Kautschukgedanken sind zähe, man wird sie nicht los. 192
Wenn man die autobiographischen Zeugnisse der Überlebenden von Rajsko in ihrer Gesamtheit in den Blick nimmt, fällt auf, dass das, was den Nationalsozialisten als zentral galt, für die Gefangenen vollkommen nebensächlich war. So wie Primo Levi kaum etwas von Buna erzählt, erzählen die Chemikerinnen, die in Rajsko gewesen sind, so gut wie nichts vom Löwenzahn. Und doch waren sie den ganzen Tag mit dem einen oder anderen befasst. In Wirklichkeit ist es aber natürlich so, dass Menschen, die man zur Arbeit zwingt, derselben nur erzwungenes Interesse entgegen bringen. Sklavenarbeit ist, ökonomisch betrachtet, vielfach ‚unproduktiv‘. Was nun die Nationalsozialisten anbelangt, so schufen sie einen komplexen Organisationsrahmen, um schnelle Fortschritte in Forschung und Produktion sicherzustellen. Die bereits angesprochenen Forschungen über die in geringen Mengen kautschukhaltige KokSagys-Pflanze am KWI für Züchtungsforschung erfolgten im Rahmen der nationalsozialistischen Autarkiebestrebungen und sollten dazu dienen, den kriegsbedingt gestiegenen Bedarf an Gummi (insbesondere für Reifen) durch synthetischen Kautschuk (Buna) zu decken, auch wenn dieser noch durch Naturkautschuk angereichert werden musste. Anfang 1943 übertrug Hitler Himmler die Verantwortung für die Forcierung der Produktion von Pflanzenkautschuk. Im weiteren Verlauf wurden die Versuche verstärkt, die Züchtung, den Anbau und die Verarbeitung von Kok-Sagys zu intensivieren und auszudehnen und vor allem einheitlich zu lenken. Sie mündeten in der Ernennung Himmlers zum „Sonderbeauftragten für Pflanzenkautschuk“ Anfang Juli 1943. Unter der Ägide der SS arbeiteten fortan neben Vertretern der chemischen Industrie, der Deutschen Arbeitsfront (DAF), des Bevollmächtigten für das Kraftfahrwesen, des Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der chemischen Erzeugung, des Reichsernährungsministeriums und des Reichsnährstandes Mitarbeiter des KWI für Züchtungsforschung und des KWI für Chemie an diesem Projekt. Wissenschaftler beider Kaiser-Wilhelm-Institute nahmen – ebenso wie Mitarbeiter der landwirtschaftlichen Abteilung im KZ Auschwitz, wo in vielerlei Hinsicht die Fäden zusammenliefen – an allen maßgeblichen Arbeitsbesprechungen teil.193
Kurze biographische Skizzen über siebzehn Französinnen, die in die Forschungsgruppe von Rajsko aufgenommen und also Teil des beschriebenen Netzwerkes von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurden, finden sich in Charlotte Delbos Buch Le convoi du 24 janvier. Einige von ihnen waren hochqualifiziert: Marie-Elisa Nordmann, Hélène Solomon, Madeleine Dehavassine waren Chemikerinnen, Madeleine Dissoubray Botanikerin. Zu den anderen gehörten neben Charlotte Delbo selbst weitere Frauen, von denen ich Georges/Jeanne Tevenin und ihre Schwester Lucienne Thevenin besonders hervorheben möchte. Sie sind die einzigen Schwestern dieses Transports, die beide das Lager überlebten. Andere waren bereits für Raisko ,selek-
192 Ilja Ehrenburg: Das Leben der Autos, Berlin 1930, S. 115; künftig zitiert als: Ehrenburg: Autos. 193 Strebel / Wagner: Zwangsarbeit, S. 56.
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tiert‘ worden, konnten jedoch (meist aufgrund von Krankheit) nicht zu ihrem Kommando stoßen. (Dies traf auf Vittoria Daubeuf und Alice Loeb zu. Letztere war Chemikerin und hatte in einer Apotheke gearbeitet.) Delbo integriert alle Frauen, die in Rajsko tätig waren oder auf Rajsko gehofft hatten, in die alphabetische Anlage ihres Buches, in dem, wie schon erwähnt, insgesamt 230 Frauen vorgestellt werden. Bereits diese Konzeption – Namen und Leben ziehen, beginnend mit dem Buchstaben A, an der Leserschaft vorbei – deutet darauf hin, dass die Reihenfolge der Deportierten nicht inhaltlich motiviert ist (zum Beispiel durch Freundschaften zwischen einzelnen Frauen), sondern dem Zufallsprinzip folgt. Gleichzeitig erweist sich die Anordnung dann aber doch als gleichsam ‚notwendig‘, denn die Zahl der Frauen schon aus diesem einen Zug ist derart groß, dass auf andere Weise die gezielte Suche nach Namen schwierig wäre. Das Buch hat also auch den Charakter eines Nachschlagewerkes: gleichsam ein Who-is-Who des Deportationszuges vom 24. Januar 1943. Die Präsentation, die Delbo den einzelnen Frauen widmet, verstärkt diesen Eindruck. Nach kurzen Hinweisen auf Herkunft und Kindheit sowie auf das Leben vor der Verhaftung setzt Delbo einen Schnitt: Abgesetzt durch eine Leerzeile nennt Delbo in Kursivschrift die Nummer, die der jeweiligen Frau in Birkenau eintätowiert wurde. Marie-Elisa Nordmann zum Beispiel hieß und war „31687“, Madeleine Debroussay „31660“, Hélène Salomon „31684“. Auf diese Zäsur der Auslöschung der Namen (die die prospektive physische Auslöschung der Person darstellte) lässt Delbo alles folgen, was über das Leben der Frauen bis zu ihrem gewaltsamen Tod bzw. bis zu ihrer Befreiung bekannt ist. Die Überlebenden bildeten eine Minderheit: 49 Frauen kehrten zurück. Delbo betont in ihrer Vorrede, dass diese Zahl der Überlebenden jedoch weit über dem Durchschnitt lag, der für Auschwitz galt. Das hatte mehrere Gründe: Erstens bildeten politische Häftlinge im Transport vom 24. Januar 1943 die Mehrheit. Der Soziologe Michael Pollack weist darauf hin, dass dieser Frauentransport der einzige war, der, von Frankreich aufbrechend, unter dem Label „politisch“ geführt wurde.194 Den Statistiken, die Delbo im Anhang ihres Buches anführt, ist die politische Zugehörigkeit der Frauen zu entnehmen. Die Mehrheit – 119 – verstand sich als kommunistisch. Nur 31 Frauen waren verhaftet worden, ohne an Widerstandsaktionen beteiligt gewesen zu sein.195 Man könnte ihre Einbeziehung in den Transport als das unter deutscher Besatzung herrschende ‚normale Maß‘ juristischer ‚Fehlentscheidungen‘ bezeichnen, wenn es denn so etwas wie wirkliche, juristische Entscheidungen über wirklich begangene Verbrechen gegeben hätte. Anders als Transporte, die als ‚jüdisch‘ klassifiziert worden waren, fand bei Ankunft des Transports vom 24. Januar 1943 an der Rampe keine Eingangs-‚Selektion‘ statt.196
194 Pollack: Expérience, S. 287. 195 Ebd., S. 294. Vgl. Statistik mit dem Titel „Appartenance politique et activité dans la Résistance“ (= „Politische Zugehörigkeit und Beteiligung am Widerstand“ [Übersetzung A.P.]). 196 Charlotte Delbo betont den Unterschied, der schon in diesem ersten Augenblick zwischen den Überlebenschancen jüdischer Transporte und den anderen bestand, die als „politisch“ klassifiziert waren: „La différence était grande, dès l’arrivée. A la descente du train, pour les convois de juifs, il y avait le tri.“ Delbo: Convoi, S. 16. („Der Unterschied war groß,
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Einmal im Lager angekommen, waren die Überlebenschancen von Häftlingen, die aus politischen Gründen deportiert worden waren, aufgrund der Auschwitz-internen Hierarchie weit größer als die von Jüdinnen und Juden. Jüdinnen waren am 24. Januar – im Gegensatz zu anderen Zügen – zahlenmäßig wenig repräsentiert. Einigen gelang es, ihre jüdische Identität zu verbergen. Die Zahl von 49 Überlebenden erklärt sich wesentlich aus der besseren Behandlung, die Nicht-Juden in Auschwitz erfuhren. Ein weiterer Grund für die ‚hohe‘ Überlebensrate lag in dem Umstand, dass aus nicht vollständig geklärten Umständen die meisten Frauen 1943 in Quarantäne kamen, um von dort aus nach Ravensbrück weitertransportiert zu werden. Die Quarantäne, die mehrere Monate andauerte, entsprach, der Formulierung Delbos zufolge, einer „Begnadigung“.197 Auch sie war im höchsten Maße außergewöhnlich. Ein weiterer Grund für den Ausnahmecharakter des Transports vom 24. Januar liegt in der Tatsache, dass einige Deportierte sich bereits von verschiedenen Widerstandsgruppen her kannten oder in Romainville Zeit gehabt hatten, sich kennenzulernen. In Birkenau vermochten sie, ein auf Freundschaft und Solidarität beruhendes Netzwerk aufrechtzuerhalten, das den einzelnen einen gewissen Schutz bot. Si notre convoi a eu un si grand nombre de survivants – oui, pour Birkenau, en 1943, cinquantesept sur deux cent trente après six mois, c’est exceptionnel, unique dans l’histoire du camp – c’est que nous nous connaissions déjà, que nous formions, à l’intérieur d’un grand groupe compact, de petits groupes étroitement liés (nous avions passé des semaines, parfois des mois ensemble à Romainville), que nous nous aidions de toutes les manières, souvent bien humbles: se donner le bras pour marcher, se frotter mutuellement le dos pendant l’appel, et aussi que nous parlions. La parole était défense, réconfort, espoir. En parlant de ce que nous étions avant, de notre vie, nous continuions cet avant, nous gardions notre réalité. Chacune des revenantes sait que, sans les autres, elle ne serait pas revenue.198 Wenn es in unserem Transport so eine hohe Zahl von Überlebenden gegeben hat – ja, siebenundfünfzig von zweihundertdreißig innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten ist ganz und gar ungewöhnlich, ja einzigartig in der Geschichte des Lagers –, dann lag das daran, dass wir uns schon kannten, dass wir innerhalb einer größeren, kompakten Gruppe viele kleine Gruppen bildeten, die eng miteinander zusammenhingen (wir hatten Wochen, manchmal sogar Monate in Romainville miteinander verbracht), dass wir einander auf alle nur denkbare Weise halfen. Die Hilfe war oft ganz bescheiden: sich beim Laufen den Arm geben, sich gegenseitig während des und zwar schon bei der Ankunft. Gleich nachdem die Gefangenen aus dem Zug ausgestiegen waren, gab es bei jüdischen Transporten eine ‚Selektion‘.“ [Übersetzung A.P.]) 197 Vgl. ebd., S. 18. – „Certains ont cru que Berlin avait cédé à une émission de Fernand Grenier, à Radio-Londres.“ („Einige glaubten, dass Berlin auf eine Sendung hin nachgegeben habe, die Fernand Grenier für Radio London initiiert hatte.“ [Übersetzung A.P.]) Doch diese Interpretation scheint Delbo wenig wahrscheinlich zu sein, weil die Quarantäne schon vor der Sendung begann. Man habe auch auf die Wirkung verwiesen, die eine Nummer der Zeitschrift Etoiles hatte, in der beschrieben wurde, wie bestimmte Frauen, die am 24. Januar 1943 deportiert worden waren, in Auschwitz leben mussten. Eine weitere Hypothese betrifft eine Aktion des Roten Kreuzes. Delbo hält die Auflösung der Frage für unmöglich. 198 Ebd., S. 17.
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Appells den Rücken reiben, und dann natürlich auch: miteinander sprechen. Worte waren Verteidigung, Halt, Hoffnung. Indem wir darüber sprachen, was wir vorher gewesen waren, wie unser Leben ausgesehen hatte, setzten wir dieses Vorher fort, bewahrten wir uns unsere Wirklichkeit. Alle, die zurückgekommen sind, wissen, dass sie ohne die anderen nicht zurückgekommen wären. [Übersetzung A.P.]
Michael Pollack hält die gegenseitige Solidarität ebenfalls für wichtig, hebt aber stärker als Delbo die Bedeutung von Symbolfiguren hervor. Tout indique qu’en commun avec quelques Françaises déportées avant elles, telle Claudette Bloch, elles avaient formé l’ossature d’un réseau sur la base de l’appartenance nationale. Ainsi Louise Alcan, Maria-Elisa Nordmann et Danièle Casanova apparaissent également dans d’autres récits, soit comme symboles de l’espoir, soit comme celles qui réussiront, avec l’aide de doctoresses françaises ou de la légendaire Mala, à „placer“ des Françaises à Rajsko ou dans d’autres endroits relativement protégés.199 Alles weist darauf hin, dass sie, ebenso wie einige Französinnen, die vor ihnen deportiert worden waren (wie zum Beispiel Claudette Bloch), die tragenden Pfeiler eines Netzwerkes bildeten, das die gemeinsame nationale Zugehörigkeit zur Grundlage hatte. So tauchen Louise Alcan, MariaElisa Nordmann und Danièle Casanova auch in anderen Berichten wieder auf, und zwar entweder als Symbol der Hoffnung oder aber als Figuren, denen es gelungen sei, mit Hilfe französischer Ärztinnen sowie der legendären Mala gefangenen Französinnen einen „Platz“ in Rajsko oder an anderen, relativ geschützten Orten zu verschaffen. [Übersetzung A.P.]
Hermann Langbein, der ebenfalls in Auschwitz inhaftiert war, fasst die Wirkung der gegenseitigen Hilfe in prozentuale Angaben: Der Unterschied ist eindeutig: Von den im April 1942 deportierten Juden sind innerhalb der ersten vier Monate 93,6 Prozent gestorben, von den im Januar 1943 deportierten französischen ‚Arierinnen‘ waren nach mehr als sechs Monaten 24,8 Prozent am Leben.200
Der bei Delbo erwähnten Quarantänebaracke ging für viele Frauen „des 24. Januar“ ein Aufenthalt im Nebenlager Rajsko voraus, in dem die Wahrscheinlichkeit, zu überleben, ungleich höher war als in Birkenau. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen bei der Löwenzahnzucht stellten also ein weiteres, entscheidendes Element für die ,hohe‘ Überlebensrate dar. Wie die Frauen in Rajsko lebten, wird im Folgenden genauer dargestellt werden. Ziel- und Ausgangspunkt bleibt hierbei stets der eichsche Löwenzahn, der sozusagen den Boden darstellte, auf dem sich der Versuch, zu überleben, vollzog.
199 Pollack: Expérience, S. 287. 200 Langbein: Menschen, S. 90.
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Die Einzelnen und die Vielen Souvent il cueillait une fleur et murmurait: „Quelle beauté! quelle simplicité!“ Il se sentait ému même par les herbes folles.201 Oft pflückte er eine Blume und murmelte: „Welch’ Schönheit, welche Einfachheit!“ Er fühlte sich sogar von Unkraut gerührt. [Übersetzung A.P.]
Delbos Buch hat nicht allein den Charakter eines Personenlexikons, sondern stellt auch, wie die Autorin im Klappentext sagt, eine Art „échantillon sociologique“, eine „soziologische Mustersammlung“ dar. Die Leserschaft kann sich einer einzelnen Frau zuwenden, versuchen, sich, ausgehend von den vorliegenden, meist ebenso bruchstückhaften wie nüchternen Daten, ihr Leben zu vergegenwärtigen (und es so zu verlebendigen); doch sie kann ihre Aufmerksamkeit auch auf Regelmäßigkeiten und schichten- bzw. berufsspezifische Wiederholungen richten, also eine soziologische Annäherung an die Lebenswege versuchen. Delbo ist der Überzeugung, dass ihr Buch „donne une image de tous les convois de déportés, montre tous les aspects de la lutte clandestine et de l’occupation, toutes les souffrances de la déportation“.202 (Ihr Buch „vermittelt einen Eindruck von allen Deportationszügen, zeigt alle Aspekte des Kampfes im Untergrund und des Lebens unter der Besatzung, alle Leiden der Deportation.“ [Übersetzung A.P.]) Delbos Hinweis auf die Repräsentativität und Verallgemeinerbarkeit dessen, was ihr Buch verdichtet, ist von größter Bedeutung: Die einzelne ist die einzelne und soll durch die Aufnahme in das Buch auch als solche erinnert werden. Sie ist zugleich aber auch Teil eines über die Individuen hinausweisenden Ganzen – nämlich des Deportationszuges vom 24. Januar –, der seinerseits Teil eines noch größeren Komplexes, gleichsam des „ganzen Ganzen“ (der nationalsozialistischen Politik von Deportation und Vernichtung überhaupt) ist. Die Annäherung an Marie-Elisa Nordmann, Hélène Solomon, Madeleine Dissoubray und alle anderen Raisko-Häftlinge ist integriert in dieses Changieren zwischen Kleinem und Großen, zwischen Auftauchen aus der riesigen Zahl von Opfern und Eintauchen in sie.203
201 Aharon Appelfeld: Tsili, Paris 2004 (hebräische EA 1983), S. 74. 202 Delbo: Convoi, Klappentext. 203 In ähnlichem Kontext schreibt Michael Pollack: „La reconstruction des biographies de ses camarades du convoi du 24 janvier 1943 compose une galerie de portraits qui fait apparaître toute la diversité des situations, au camp et après. Or c’est le désespoir lui-même qui doit être transmis dans sa diversité, car restituer la pluralité de voix est ce qui permet aussi d’exprimer la voix éclatée de chaque rescapée prise individuellement, qui ne cesse de se comparer aux autres, à ses compagnes dans le camp et à son entourage, dont elle est toujours séparée à cause de son expérience et de son souvenir.“ Pollack: Expérience, S. 257. („Die Rekonstruktion der Biographien ihrer Kameradinnen, die zum Transport vom 24. Januar 1943 gehörten, bildet eine Porträtgalerie, die die ganze Vielfalt an Situationen im Lager selbst und danach aufscheinen lässt. Es ist gerade die Hoffnungslosigkeit, die in
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In gewisser Weise erfährt das Buch als Ganzes eine ähnliche Bewegung: So wie die einzelnen, bei Delbo erwähnten Frauen Teil eines größeren Ganzen, nämlich des Buches Le convoi du 24 janvier sind, ist wiederum Le convoi du 24 janvier so etwas wie ein Buchindividuum, das sich als Teil im großen Ganzen des Erinnerungsraumes begreift, in dem weit mehr Opfern zu gedenken ist, als Delbo in ihr Erinnerungsbuch aufnimmt (und aufnehmen kann). Le convoi du 24 janvier unternimmt also den Versuch, Fasslichkeit und Unfassbarkeit zueinander ins Verhältnis zu setzen. Fasslich ist – vielleicht und vielleicht auch nur in besonderen Augenblicken – das Leben weniger einzelner. Unfasslich ist die Zahl von ca. 1,1 Million in Auschwitz getöteten Menschen. Delbos Buch hat demgegenüber fast „menschliche“ Dimensionen: 230 Frauen bilden ein irgendwie noch überschaubares Ensemble. Aber die Erfahrung, die man als LeserIn beim Lesen macht, zeigt, dass eigentlich auch dieses Buchindividuum schon zu groß ist und dass das Irgendwie zu einem unlösbaren Wie wird: Je weiter die Lektüre voranschreitet, desto mehr verwirren sich die Namen, desto stärker fließen die Lebensund Leidenswege der einzelnen Frauen ineinander. Die Beschäftigung mit Le convoi du 24 janvier erfordert demnach stets von Neuem ein Innehalten, um die einzelne Frau in der dann eben doch unübersehbar werdenden Folge von stets neuen Toden und Qualen fassbar zu halten. Zugleich gilt aber auch der dialektische Umschlag: Dem Gefühl, aus der Lektüre des Buches mit einem allgemeinen Bild von Birkenau und Raisko hervorzugehen, die einzelne aber bereits wieder an dieses große Allgemeine verloren zu haben, steht die Notwendigkeit gegenüber, weit mehr fassen zu müssen als nur die einzelne, also doch über sie hinauszugehen. Nicht nur das große Ganze zu lesen, schafft also das Gefühl von Unfassbarkeit – nämlich durch den Verlust der einzelnen –, sondern umgekehrt auch die Konzentration auf die einzelne, die die Existenz des großen Ganzen zu verdrängen droht. Die siebzehn Frauen „im Schatten des Löwenzahns“ zu lesen, bedeutet insofern eine Herausforderung, als die Beschäftigung mit ihrem Leben vor dem Hintergrund und in der Text-Nachbarschaft der vielen anderen Leben erfolgt, die auch Gegenstand der Untersuchung hätten sein können: Alphabetisch direkt vor Madeleine Dissoubray steht die 1899 geborene, im Widerstand tätige Briefträgerin Rachel Deniau, über deren Leben in Birkenau fast nichts zu berichten ist – zu kurz war ihr Leben hier, um sich den anderen einzuprägen: „Auschwitz N°31773. Elle est morte au revier de Birkenau, deux jours après y être entrée, au début de mars 1943.“ („Auschwitz Nr. 31773. Sie ist im Revier von Auschwitz gestorben, zwei Tage, nachdem sie dort aufgenommen worden war, und zwar Anfang März 1943.“ [Übersetzung A.P.]) Nach Madeleine Dissoubray folgt Madeleine Doiret, über deren Aktivitäten und Überleben dann wieder sehr viel zu berichten ist – so wie im Übrigen über ihre gesamte Familie. Es kommt also zu einer ebenso bedrückenden wie komplexen Leseerfahrung: Das Alphabet reißt einen förmlich in sich hinein, vor- und rückwärts, in so etwas wie eine stete Erweiterung, weil neben den 230 Frauen des 24. Januar dann auch die vielen Eltern, Ehemänner und Kinder auftauchen, die oft ein ebenso dramatisches Schicksal hatten wie ihren vielfältigen Erscheinungsformen vermittelt werden muss, denn die Wiedergabe der Vielfalt der Stimmen erlaubt es, die berstende Stimme jeder einzelnen Überlebenden auszudrücken, die sich unablässig mit den anderen vergleicht: mit ihren Kameradinnen aus dem Lager und mit ihrer Familie, von der sie aufgrund ihrer Erfahrungen und Erinnerungen stets getrennt ist.“ [Übersetzung A.P.])
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die deportierten Frauen selbst. Schon im August 1943 heißt es mit Blick auf den Transport vom 24. Januar in dem Flugblatt Nummer 10 der Widerstandsorganisation Les étoiles: „26 de ces 100 femmes sont veuvees d’otages.“204 („26 dieser 100 Frauen sind Witwen von Geiselopfern.“ [Übersetzung A.P.]) Auch viele Partner wurden also zu Opfern der deutschen Besatzer. Und auch wenn sich diese Opfer nicht einfügen in die „Ordnung“ des Alphabets, sind auch sie Teil desselben. Namensverflechtungen Der Staat als Raubtier.205
Trotz des Komplexität dieses erweiterten „Löwenzahn-Alphabets“ begegnet die Leserschaft von Delbos Buch nur siebzehn „Privilegierten“, die unter den – relativ – guten Arbeitsbedingungen von Rajsko mit dem „milchigen Saft“ befasst waren. Wie spielte sich nun ihr Leben im Zuge der Deportation ab? Delbo fasst die Stationen einer ersten Frau, Marie-Elisa Nordmann, wie folgt zusammen: Auschwitz N°31687. A Birkenau, Marie-Elisa a d’abord travaillé aux briques et aux démolitions. Elle est entrée au revier le 28 février 1943 (bronchite, dysenterie) puis elle a travaillé pendant quelques jours au Canada avec Madeleine Dechavasinne. Auparavant, elle avait posé sa candidature pour le laboratoire de Raisko, et grâce à Claudette Bloch, elle y a été affectée. Le 21 mars 1943, elle quitte Birkenau pour loger au Stabsgebaude , avec le personnel du laboratoire. Elle a le typhus peu de temps après mais réussit à n’être pas être renvoyée au revier de Birkenau. Trois mois plus tard, l’équipe scientifique s’installe à Raisko. Marie-Elisa a travaillé plus d’un an au koksaghiz.206 Auschwitz-Nummer 31687. In Birkenau ist Marie-Elisa zunächst bei den Backsteinen und bei Abbrucharbeiten tätig gewesen. Sie kommt am 28. Februar 1943 ins Revier (Bronchitis, Ruhr), bevor sie zusammen mit Madeleine Dechavasinne während einiger Tage in Kanada arbeitet. Zuvor hatte sie sich bereits für das Laboratorium in Rajsko beworben, und dank Claudette Bloch wird sie auch dort aufgenommen. Am 21. März 1943 verlässt sie Birkenau, um gemeinsam mit dem Personal des Labors im Stabsgebäude untergebracht zu werden. Kurze Zeit darauf bekommt sie Typhus, doch es gelingt ihr, nicht ins Revier nach Birkenau zurückgeschickt zu werden. Drei Monate später siedelt sich das wissenschaftliche Team in Rajsko an. Marie-Elisa hat mehr als ein Jahr im Bereich der Kok-Saghiz gearbeitet. [Übersetzung A.P.]
In einem ins Englische übertragenen Interview mit Lore Shelley, die gleichfalls eine Auschwitz-Überlebende war, erfährt man Genaueres über Nordmanns Leben:
204 Delbo: Convoi, S. 295. 205 Robert Musil: „Das Ende des Krieges“, in: ders.: Prosa und Stücke, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Stücke, Kritik, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 1340-1345, Zitat S. 1341. 206 Delbo: Convoi, S. 213.
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I was able to study at the university and obtained a Ph.D. in chemistry. In 1942 I was employed by the National Center for Scientific Research, working in the field of physical chemistry. I was divorced and lived together with my six year-old son as well as with my mother, wo had been widowed in 1937. Already in September 1940, I had started to fight the occupation. […] I was arrested at my home on May 16, 1942 by special gendarmes […]. I was caught in the same trap in which Politzer, Solomon and their group had been taken during the months of February and March. […] As a civilian hostage, my mother should had been released after four weeks (a rule which was rarely followed, but it was still the rule). The Germans discovered that she was Jewish and she was therefore transported to Drancy. After a few days in Auschwitz I realized what happened to old Jewish women upon arrival… straight to the gas chamber from the ramp. I arrived at Birkenau in January 1943 with the only transport of French „Aryan“ women. Fortunately, I was using my maiden name since my divorce. The SS never suspected „Nordmann“ could be a Jewish name and in France, neither my mother, my brother or myself were registered as Jews.207 Ich konnte an der Universität studieren und schloss mit einem Doktortitel in Chemie ab. 1942 war ich im Nationalen Forschungszentrum angestellt, wo ich im Bereich der physikalischen Chemie arbeitete. Ich war geschieden und lebte mit meinem sechsjährigen Sohn und mit meiner Mutter zusammen, die 1939 Witwe geworden war. Schon im September 40 hatte ich begonnen, mich am Kampf gegen die Besatzung zu beteiligen […]. Ich wurde am 16. Mai 1942 Zuhause von einer Sondereinheit Gendarmen verhaftet […]. Ich bin in die gleiche Falle gegangen wie Politzer, Solomon und ihre Gruppe in den Monaten Februar und März. […] Als zivile Geisel hätte meine Mutter nach vier Wochen freigelassen werden müssen (das war eine Regel, die nur selten befolgt wurde, doch es war trotzdem eine Regel). Die Deutschen entdeckten, dass sie Jüdin war, und deportieren sie daher nach Drancy. Nachdem ich einige Tage in Auschwitz hinter mir hatte, begriff ich, was mit alten, jüdischen Frauen bei ihrer Ankunft geschah… von der Rampe direkt in die Gaskammer. Ich kam im Januar 1943 mit dem einzigen Transport von „arischen“ Französinnen in Birkenau an. Zu meinem Glück hatte ich seit meiner Scheidung meinen Mädchenname benutzt. Die SS schöpfte keinen Augenblick lang den Verdacht, dass „Nordmann“ ein jüdischer Name sein könne, und in Frankreich waren weder meine Mutter, noch mein Bruder, noch ich selbst als Juden registriert gewesen. [Übersetzung A.P.]
Während Delbo die Bedeutung der Hilfe betont, die die Chemikerin Claudette Bloch Marie-Elisa Nordmann gewährte, hebt Nordmann selbst den Schutz hervor, der von ihrem Mädchenname ausging. Anders als bei anderen Frauen ihres Transports erscheint als Überschrift zu ihrer von Delbo verfassten Kurzbiographie allein dieser eine Name – und nicht auch der Familienname des Mannes, den sie vor ihrer Scheidung getragen haben muss. Die Namen anderer von Delbo beschriebener Frauen zielen hingegen darauf, die Komplexheit ihrer sozialen Bindungen zu veranschaulichen. So lesen wir etwa: „Adrienne HARDENBERG, née Coston (‚Linotte‘)“208 oder „Yvonne NOUTARI, née Moudoulaud (‚Yvonne de Bordeaux‘)“209. Auf den Vornamen und 207 Beitrag von Marie-Elisa Cohen, in: Criminal experiments on human beings in Auschwitz and war research laboratoiries. Twenty women prisoner’s accounts, hg. von Lore Shelley, San Francisco 1991, S. 175-183, Zitat S. 175-176. 208 Delbo: Convoi, S. 138. 209 Ebd., S. 216.
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den im Zuge der Verehelichung angenommenen Nachnamen folgen hier der Mädchenname sowie der im Lager gebrauchte Spitzname (also ein Name, der Ausdruck der freundschaftlichen Verbundenheit der Frauen war). Dass Nordmann aus dem Schema heraustritt, das Delbo ansonsten strikt durchhält, könnte mit der lebensrettenden Wirkung zu tun haben, die von seinen ,nordischen‘ Assoziationen ausging. Vielleicht wollte Marie-Elisa in Delbos Buch nur diesen Namen überleben lassen, weil umgekehrt er, nämlich der Name, sie hatte überleben lassen: der täuschend echte, ,arische‘ Name als Rettungssymbol über die Befreiung hinaus. Zugleich präsentiert sich der Name jedoch in seiner ganzen Ambivalenz, denn obwohl Marie-Elisas Mutter denselben Familiennamen getragen haben muss wie ihre Tochter, hatte der Name sie nicht retten können. Die Deutschen entdeckten, was sich hinter seiner ,arisch-nordischen‘ Fassade verbarg: die ,Wahrheit‘, das die Trägerin des Namens der nationalsozialistischen Ideologie zufolge im Gegensatz zu allem ,Nordischen‘ stand. Mit der Entscheidung Marie-Elisas, bei Delbo allein im Gewand des Familiennamens „Nordmann“ aufzutreten, verbindet sich also auch die Erinnerung an die Ermordung der Mutter, der die lebensrettende Täuschung nicht gelungen war. Und doch hatte auch die Mutter zur Rettung des Namens beigetragen: Der Umstand, dass sie der Versuchung zur ,Legalität‘, die darin bestanden hatte, sich registrieren zu lassen, ebenso widerstanden hatte wie ihr Sohn und ihre Tochter, bildete die Grundlage für das Überleben des Namens in Gestalt der Tochter. Denn offenbar war es den nationalsozialistischen Schergen aufgrund der Unvollständigkeit ihrer Register nicht gelungen, nachträglich die Verbindung zwischen Marie-Elisa und ihrer Mutter herzustellen, so dass die Tochter trotz der ,Enttarnung‘ letzterer weiterhin als Arierin galt. Hinzu kam der Vorname Marie, der eindeutig christlich konnotiert ist und als eine Art Verstärker der Echtheit des Nachnamens gewirkt haben muss. Dass die unterschiedliche Einordnung der beiden Nordmann-Frauen – die Mutter als Jüdin, die Tochter als Arierin – dennoch als Fehler hätte erkannt werden können, geht aus den Informationen hervor, die Charlotte Delbo bezüglich der Mutter in die Kurzbiographie Marie-Elisas integriert: Un billet écrit sur du papier à cigarette, dans un colis, lui [gemeint ist Marie-Elisa; A.P.] apprend que sa mère, qui était demeurée chez elle, alors que, juive, elle aurait dû se sauver (mais quoi? devait-elle abandonner son petit-fils, abandonner sa fille, et l’amie de sa fille, France, à qui elle portait des colis à la Santé?), sa mère a été arrêtée par la Gestapo le 7 août comme otage civil et sous les coups elle a révélé qu’elle était juive.210 Eine Nachricht, die auf Zigarettenpapier geschrieben worden war, informierte sie [gemeint ist Marie-Elisa; A.P.] darüber, dass ihre Mutter, die Zuhause geblieben war, obwohl sie als Jüdin hätte fliehen müssen (doch wie das? Sollte sie etwa ihren Enkel, ihre Tochter sowie France, die Freunin ihrer Tochter, allein lassen, denen sie Pakete ins Gefängnis „La santé“ brachte?) – dass also ihre Mutter am 7. August von der Gestapo als zivile Geisel verhaftet worden sei und unter den Schlägen gestanden habe, dass sie Jüdin war. [Übersetzung A.P.]
Das „Glück“ für die Tochter bestand also darin, dass trotz der Paketübergabe, die die Mutter übernommen hatte, ihre verwandtschaftliche Verbindung und damit die 210 Ebd., S. 213.
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Überprüfung der Echtheit des „Nordmann“ nicht weiterverfolgt wurden. Der Mutter wurde es umgekehrt zum Verhängnis, durch die Berufung auf denselben Nachnamen ihre Berechtigung zur Übergabe von Paketen nachgewiesen, sich zugleich aber auch als mögliche Geisel exponiert zu haben. Die Konsequenz wird bei Delbo in äußerster Lakonie mitgeteilt: „Les Allemands ont découvert qu’elle était juive. Juive: Drancy.“211 („Die Deutschen entdeckten, dass sie Jüdin war. Jüdin: Drancy.“ [Übersetzung A.P.]) Was aus dieser Mikroanalyse des identischen Namens von Mutter und Tochter hervorgeht, ist also dreierlei: Erstens wird deutlich, wie identische Namen zur Bezeichnung für das gleiche Stück Weg werden, den die Frauen zurückzulegen haben (Deportation Richtung Auschwitz) – doch nur, um sich an der Rampe zu trennen, d.h. sozusagen zu zwei verschiedenen Namen zu werden: die Tochter geht ins Lager (als Nummer), die Mutter ins Gas (namen- und nummernlos); die eine Nordmann ist nordisch, die andere jüdisch; die eine soll für die Löwenzahnforschung erhalten, die andere, da ‚alt‘, getötet werden. Zweitens vermittelt Delbo durch die alphabetische Anordnung der Kurzbiographien, dass die erzählten Geschichten auch ganz anders akzentuiert erzählt werden könnten – zum Beispiel durch die Hervorhebung anderer Namen, der Namen der „Nebenfiguren“, wie hier der Mutter, die erst gar nicht bis zum Löwenzahn vordrang. Drittens ergibt sich aus der Weglassung des Ehenamens von Marie-Elisa, dass auch ihr Nachkriegsleben die Namensspur der Verfolgung trägt: Nach ihrer Befreiung aus Mauthausen, wohin sie, einen ,Umweg‘ über Ravensbrück nehmend, gekommen war, verheiratete sie sich ein zweites Mal, doch erneut, ohne ihren neuen Namen in Delbos Buch aufzunehmen. Dieser Umstand ist bemerkenswert, denn in der Vorrede zu ihrem Buch dankt die Autorin allen, die ihr bei den Recherchen geholfen haben. Nordmann gehörte offenbar zu denjenigen, die dem Buchprojekt Delbos besonders eng verbunden waren. Es ist also davon auszugehen, dass sie selbst die Entscheidung traf, unter welchem Namen sie darin erscheinen würde. Delbo lässt die Interviewte, die im Text jetzt nur noch mit ihrem Vornamen bezeichnet wird, in freundschaftlicher Verbindung zur Autorin erscheint, selbst zu Worte kommen. Et au retour? „J’ai pu me remettre à travailler relativement tôt, en octobre 1945, et je me suis rééquilibrée assez vite, d’autant que je me suis remariée en 1948 et que j’ai eu trois enfants ce qui, malgré la fatigue, a quand même été un facteur de rajeunissement“, dit-elle. Elle ajoute: „Mais j’ai eu un mal terrible à reprendre la recherche. Après six ans au Commissariat à l’énergie atomique où je dirigeais le service de documentation, j’ai réintégré l’enseignement. Je n’ai republié de travaux scientifiques qu’en 1960. L’asthénie, qui n’empêche pas un travail de classement, gêne le travail créateur. […]“ Son seul frère, professeur, organisateur des F.F.I. dans le Morbihan et les Côtes-du-Nord, arrêté à Rennes en avril 1944, a été déporté à Neuengamme par l’avant-dernier convoi qui est parti de Compiègne. Il est mort du typhus à Bergen-Belsen le 1er mai 1945, quinze jours après que les Anglais avaient libéré le camp. Marie-Elisa a reçu la Légion d’honneur en 1968.212
211 Ebd. 212 Ebd., S. 214.
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Und nach der Rückkehr? „Ich habe schon ziemlich früh wieder mit der Arbeit beginnen können, nämlich im Oktober 1945, und ich habe auch ziemlich bald mein altes Gleichgewicht wiedergefunden, zumal ich 1948 ein zweites Mal geheiratet und drei Kinder bekommen habe, was trotz aller Anstrengung doch ein Faktor war, der mich jünger gemacht hat“, sagt sie. Sie fügt hinzu: „Doch ich habe schreckliche Schwierigkeiten gehabt, die Forschung wieder aufzunehmen. Nach sechs Jahre in der Kommission für Atomenergie, wo ich das Dokumentationszentrum leitete, bin ich in die Lehre zurückgekehrt. Ich habe erst 1960 wieder mit dem wissenschaftlichen Publizieren begonnen. Kraftlosigkeit hindert einen nicht an einer ordnenden Tätigkeit, doch sie hemmt die kreative Arbeit. […]“ Ihr einziger Bruder, Gymnasiallehrer und Organisator der F.F.I. in Morbihan und an der Nordküste, wurde im April 1944 in Rennes verhaftet und von Compiègne aus mit dem vorletzten Transport nach Neuengamme deportiert. Er starb am 1. Mai 1945 in Bergen-Belsen an Typhus, zwei Wochen nachdem die Engländer das Lager befreit hatten. MarieElisa ist 1968 mit der Ehrenlegion ausgezeichnet worden. [Übersetzung A.P.]
Wie aus diesem Abschluss der Kurzbiographie hervorgeht, bedeutet die Auslöschung des Kerns der Herkunftsfamilie (der Vater stirbt 1937 eines natürlichen Todes, Mutter und Bruder durch Gewalt), dass Marie-Elisa zur einzigen Trägerin des Namens wird, der sie alle verbunden hatte, ihr gemeinsamer Name gewesen war. Die alphabetische Stelle, die sie sich selbst in Delbos Buch zuweist (N für „Nordmann“ und nicht C für „Cohen“, den Namen ihres zweiten Mannes), nimmt sich aus wie ein Beharren auf dem Ausnahmecharakter der Rettung. Gegenüber der Aufgabe, mit dem Namen Nordmann nicht nur für sich selbst einzustehen, sondern auch für die Toten der eigenen, ersten Familie, tritt der Name, der sie mit den im Nachkrieg geborenen Kindern und dem neuen Partner (als erneutem ‚Namensgeber‘) verbindet, zurück. Die Geschichte, die Delbo erzählt, steht unter dem Titel Le convoi du 24 janvier, und das bedeutet, dass das Leben der Namen danach unhintergehbar im Licht der Deportation und der in ihr untergegangenen Namen erscheint. Adorno und Horkheimer weisen darauf hin, dass der Familienname, „anstatt Warenzeichen zu sein, den Träger durch Beziehung auf die eigene Vorgeschichte individualisier[e]“.213 Das scheint MarieElisas Ziel zu sein, doch nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch in Bezug auf die Toten desselben Familiennamens. Und doch: Das Danach sprengt den Rahmen des Namens Nordmann. Der Sohn aus erster Ehe nämlich ist durch die Schwägerin gerettet worden, die zwar durch ihre Heirat auch zu einer Nordmann geworden ist, jedoch durch ihren Mädchennamen wiederum neue Kreise zu neuen Geschichten und Schicksalen öffnet. Marie-Elisa Nordmann gibt gegenüber Lore Shelley zu Protokoll: „I arrived in Paris on the evening of April 30, 1945, and was reunited with my son, whom my sister-in-law in Rennes (Bretagne) had brought up.“214 („Ich kam am Abend des 30. April 1945 in Paris an und war wieder zusammen mit meinem Sohn, den meine Schwägerin in Rennes (Bretagne) großgezogen hatte.“ [Übersetzung A.P.]) Alle Überlebenden leben mit den Namen der Toten, Namen, die zugleich die Ihren sind. Im Überleben des Nachnamens „Nordmann“ durch diejenigen, die als Frauen durch den Nachnamen stets im Verhältnis zu Männern gestanden hatten, zeigt sich, welche Nordmanns nicht überlebt haben: der Mann bzw. Bruder (als ‚Namensgeber‘) – und die Mutter (als eine der Frauen, die 213 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 174. 214 Beitrag von Marie-Elisa Cohen, in: Shelley: Experiments, S.175-183, Zitat S. 184.
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Namen ‚übernommen‘, ‚angenommen‘ haben). In der Möglichkeit Marie-Elisas, auf Delbos Fragen zu antworten, reflektiert sich die Aufgabe, zugleich, wörtlich verstanden, im Namen der Toten zu sprechen. Die Kürze der Formel, mit der Delbo den Tod der Mutter andeutet, zeigt ihr Verstummen: „Juive: Drancy.“ Charlotte Delbos Namens-Alphabet ist also nicht nur in der Hinsicht ein Auschnitt (und damit unvollständig), dass Marie-Elisa auch ganz anders heißen könnte (z.B. Cohen), sondern auch darum, weil sie selbst bereits andere Namen ist: Marie-Elisa ist auch ihr Sohn, ist auch ihr Bruder, ihre Mutter, ihr Vater.215 Namensverflechtung in all ihrer Unabsehbarkeit, weit über den kleinen Schatten des rettenden Löwenzahns hinaus. Spitznamen ohne Anführungszeichen Mein Amt war, die Zeit in Anführungszeichen zu setzen, in Druck und Klammern sich verzerren zu lassen, wissend, daß ihr Unsäglichstes nur von ihr selbst gesagt werden konnte. Nicht auszusprechen, nachzusprechen, was ist. Nachzumachen, was scheint. Zu zitieren und zu photographieren.216
Delbo lässt diese vielen anderen Namen einfließen, erweitert und sprengt das Alphabet ihres Buches durch Anspielungen auf weitere Biographien – doch zugleich versucht sie, die Namen der Frauen, die im selben Zug deportiert worden waren wie sie selbst, zu stabilisieren, ihre Stärke und Unabhängigkeit im Lager-Kosmos zu zeigen, indem sie bereits in die Überschriften die jeweiligen Spitznamen aufnimmt. Marie-Elisa Nordmann hatte keinen, doch für andere Frauen war er wichtig. Spitznamen markierten ihre Selbstbehauptung gegenüber der von den Nationalsozialisten praktizierten Degradierung zu Nummern: Die Intimität von Freundschaften, die in der Erfindung und Verwendung neuer Namen Wort und Wirklichkeit wurde, verstand sich als zu bewahrendes Fundament ihrer eigentlichen Identität. Das Absehen von Nach- und offiziellem Vornamen, das sich in vielen Kurzbiographien abzeichnet, impliziert die Aufstellung eines Alphabets im Alphabet: In den Lebensbeschreibungen dominieren Spitznamen als Verdichtung von Delbos Verbundenheit mit den einstigen Mitgefangenen. Für die Herstellung von Übersichtlichkeit und Nüchternheit, wie sie den Stil des Buches Le Convoi du 24 janvier bestimmen, hat sich Delbo für die alphabetische Anordnung der Nachnamen entschieden – doch in den Lebensbeschreibungen weicht Delbo vom „offiziellen Alphabet“ ab, hin zu einem regelrechten Freundschaftsalphabet. In anderen Texten, die man im engeren Sinne als ihre literarischen zu bezeichnen hätte, ist dieses das einzig existierende. Dies wird deutlich durch das völlig freie, d.h. alphabetisch ungeordnete
215 Weitere biographische Informationen über Marie-Elisa Nordmann und ihre Verwandten finden sich auf der Internetseite: „Mémoire vive des convois des 45000 et 31000 d’Auschwitz-Birkenau.“ Vgl.: http://www.memoirevive.org/marie-elisa-nordmannepouse-cohen-31687/; abgerufen am 23.8.2016. 216 Karl Kraus: Die Fackel, Nr. 400-403, Wien 1914, S. 46; künftig zitiert als: Kraus: Fackel. Das Heft stammt vom Sommer 1914.
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Nacheinander von Vor- und Spitznamen, und zwar in den Kapitelüberschriften (die auf Nachnamen verzichten). Auf der einen Seite ist der Ton der Auschwitz-Trilogie damit wesentlich vom Convoi-Buch unterschieden: So gibt es etwa in Band drei (Mesure de nos jours) nur das durch Freundschaftsbande entstandene Alphabet. Es folgen aufeinander Kapitel mit den Titeln: „Gilberte“, „Mado“, „Poupette“, „Marie-Louise“, „Ida“, dann (unterbrochen vom Kapitel „Un an et un jour“) „Loulou“, erneut „Poupette“, „La mort de Germaine“, „Jacques“ (als einziger Männername), „Denise“, „Gaby“, „Louise“, „Marceline“, um schließlich zu enden mit „L’enterrement“ und „Françoise“. Auf der anderen Seite gilt bezüglich des Stils jedoch auch das Gegenteil: Die Spitznamen im Convoi-Buch sind wie Rufe, durch die der Ton intimer Verbundenheit, der von den Deportierten gepflegt wurde, in die Sachlichkeit des soziologischen Anspruchs getragen wird. Die Auschwitz-Trilogie und das Convoi-Buch sind einander ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Alle Texte von Delbo bilden gleichsam einen einzigen, zusammenhängenden Großtext. Die Nahtstellen zwischen den stärker ‚literarischen‘ auf der einen Seite und dem ‚dokumentarischem‘ des Convoi-Buches auf der anderen stellen stets von Neuem die Vor- und Spitznamen dar. Durch sie ergeht die Aufforderung, in Ergänzung zu den Informationen, die 1965 auf weitgehend sachliche Weise im Convoi-Buch mitgeteilt wurden, die Selbstaussagen ausgewählter Frauen zu lesen, wie sie Delbo sechs Jahre später im dritten Band Mesure de nos jours literarisch verdichtete. Aber über das ,rein Dokumentarische‘ geht eben auch schon das Convoi-Buch hinaus, weil Delbo durch die Hinweise auf die Spitznamen der Mitgefangenen sich selbst in ihrer Subjektivität, nämlich als Freundin, mit ins Spiel bringt. Schwestern Lehrt uns nicht unser Leben, dass die Grausamkeit der Menschheit in dem Maße zunimmt, als die Grausamkeit des einzelnen Menschen abgenommen hat?217
Delbo präsentiert ihrer Leserschaft in Le Convoi du 24 janvier zwei Schwestern, die auch in der Auschwitz-Trilogie immer wieder auftauchen. Der Text zu ihrem Leben ist überschrieben mit „Lucienne THEVENIN, née Serre (‚Lulu‘) et sa soeur Jeanne SERRE (‚Carmen‘)“. („Lucienne THEVENIN, geborene Serre (‚Lulu‘) und ihre Schwester Jeanne SERRE (‚Carmen‘).“ [Übersetzung A.P.]) Durch ihre Nachnamen treten diese beiden Frauen auseinander: Die eine definiert sich über den durch Heirat angenommenen, die andere durch ihren Mädchennamen. Doch zugleich schließen sie sich auch zusammen, nämlich in einer familien- und namenübergreifenden Solidarität, als deren Symbol ihre Spitznamen stehen. Les deux sœurs sont arrêtées en même temps, le 19 juin 1942, avenue Trudaine, à Paris, chez des résistants […]. C’est là [chez la police; A.P.] qu’un agent baptise Jeanne „Carmen“ et c’est sous
217 Robert Musil: „Grausamkeit“, in: ders.: Prosa und Stücke, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Stücke, Kritik, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 820.
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ce nom qu’elle a été populaire pendant toute la déportation. Plus que sous le nom de Renée Lymber, une identité d’emprunt sous laquelle elle a été inscrite dans tous les camps, car la police n’a jamais découvert son vrai nom. Pendant longtemps, personne n’a su que Lulu et Carmen étaient les deux sœurs.218 Die Schwestern wurden beide am 19. Juni 1942 in der Avenue Trudaine in Paris bei Mitgliedern des Widerstands verhaftet […]. Dort [nämlich bei der Polizei; A.P.] ist Jeanne von einem Polizisten „Carmen“ getauft worden, und unter diesem Namen ist sie während der gesamten Zeit der Deportation beliebt gewesen. Das war bei diesem Namen viel stärker der Fall als bei dem Namen Renée Lymber, einer fiktiven Identität, unter der sie sich in allen Lagern hatte registrieren lassen, denn die Polizei hat ihren echten Namen nie entdeckt. Lange wusste niemand, dass Lulu und Carmen Schwestern waren. [Übersetzung A.P.]
„Angenommene“ und wirkliche Identität stehen gegeneinander und erweisen sich doch als zusammengehörig (niemand entdeckt, wer Jeanne ist, wer die Namen in sich vereint). Ebenso stehen die auf Macht beruhende (offenbar aufgezwungene) Zuweisung eines neuen Vornamens, der nicht der Ihre ist („Carmen“), und die freiwillige Wahl desselben gegeneinander, paradoxerweise aber begleitet von dem Umstand, dass auch sie, nämlich die beiden Namen, zusammengehören: Jeanne wird unter dem Namen Carmen in Auschwitz bekannt und geschätzt. Dieser Vorname war jedoch, bevor er zum Spitznamen (d.h. zu etwas Positivem, Freundschaftlichem) avancierte, ein mit Polizeigewalt assoziierter. Und doch scheint „Jeanne“ alias „Renée“ alias „Carmen“ ein großes Maß an Kreativität aufgebracht zu haben, um das, was ihr durch die äußeren Umstände zugeschrieben worden war, zu etwas Eigenem zu machen: Sie wird ,wirklich‘ Carmen (eine Carmen ganz ohne Anführungszeichen), über die Polizei hinaus oder genauer: paradoxerweise in zustimmendem Widerspruch zur Polizei, und das, nachdem sie zuvor (zum Bespiel für ihre Schwester Lucienne) einzig und allein Jeanne gewesen war. Auch „Lucienne“ ist nicht einfach nur Lucienne, sondern zugleich (und vielleicht sogar mehr noch) „Lulu“, d.h. die Verdopplung der Anfangssilbe ihres ursprünglichen Namens. Während Lulu sich (wie die Silbe) verdoppelt (sie ist Lucienne und Lulu), verdreifacht sich Jeanne (sie ist außerdem „Carmen“ und „Renée“). Dieser Umgang mit Namen – jeder Name, gleich welchen Ursprungs, wird, nach Beseitigung der Anführungszeichen, angenommen und, je nach Umständen, für die eigene Identität genutzt – verrät, wie beweglich die beiden Schwestern auf das Schicksal reagierten, das sie erlitten: Beide befreiten sich durch die Aneignung neuer Namen vom Status als bloße Opfer. Es scheint also das Gegenteil von dem zu gelten, was Adorno wie folgt formuliert hat: Je weniger die Satzzeichen, isoliert genommen, Bedeutung oder Ausdruck tragen, je mehr sie in der Sprache den Gegenpol zu den Namen ausmachen, desto entschiedener gewinnt ein jegliches unter ihnen seinen physiognomischen Stellenwert.219
218 Delbo: Convoi, S. 278-279. 219 Theodor W. Adorno: „Satzzeichen“, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1974, S. 106-113, Zitat S. 106; künftig zitiert als: Adorno: „Satzzeichen“.
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Doch liegt hier die Rückgewinnung der eigenen, menschlichen Physiognomie nicht gerade in der Aufhebung des Gegensatzes von Name und Zeichen? Offenbar aus der Angst heraus, durch das Bekanntwerden ihrer nahen Verwandtschaft Nachteile zu erleiden oder sich gegenseitig in Gefahr zu bringen, verbergen sich die beiden Schwestern hinter der Verschiedenheit ihrer Nachnamen, doch nur um in Wirklichkeit umso enger und besser zusammenhalten zu können (beiden gelingt es, im rettenden Raisko aufgenommen zu werden). Ähnliches gilt für den angenommenen Namen: „Renée Lymber“ gelingt es, Renée Lymber (ohne Anführungszeichen) zu bleiben, obwohl sie „in Wirklichkeit“ (mit Anführungszeichen) (oder in Wirklichkeit, nämlich ohne Anführungszeichen?) Jeanne Serre (oder auch Carmen) ist. Es zeigt sich, dass die Entscheidung, die verwandtschaftliche Beziehung zu „Lulu“ (die inzwischen durch die Freundschaft zu Delbo und anderen Häftlingen im vollen Sinne zu Lulu geworden ist) nicht zuzugeben, auch dem Schutz dieses falschen Namens dient: Eine „Renée Lymber“ als wirkliche Renée Lymber kann nicht die Schwester einer Lucienne Serre sein, auch dann nicht, wenn Lucienne Serre in den Listen von Auschwitz als Lucienne Thevenin geführt werden sollte. Es ist kein Zufall, dass diese selbstgewählte Aneignung neuer Namen und der Wechsel zwischen alten und neuen, ‚frei gewählten‘ und ‚aufgezwungenen‘, sich auch in der Haltung ausdrückte, die die beiden Schwestern nach ihrer Befreiung an den Tag legten: Sie hoben hervor, dass ihre Familien (wie auch sie selbst, nämlich durch Raijsko) „Glück“ gehabt hätten, außergewöhnliches Glück: Elles disent: notre famille a eu de la chance. Leur mère, arrêtée en septembre 1940 par les policiers français, remise à la Gestapo, emprisonnée à la Santé puis au Cherche-Midi, a été libérée en janvier 1941. Leur frère, Louis, déporté à Mauthausen, est rentré. Leur jeune sœur, Christiane, arrêtée au début de 1944 (à quatorze ans) par les miliciens de Sabiani à Marseille, a été relâchée grâce à une caution en argent qu’ont versée ses employeurs. Leur maison de Marseille a été bombardée, mais aucun des leurs n’a été touché. Georges Thévenin, le mari de Lulu, s’est blessé une jambe en tentant de s’évader (il était prisonnier de guerre en Allemagne), mais il est entier. Une chance extraordinaire.220 Sie sagen: Unsere Familie hat Glück gehabt. Ihre Mutter, die im September 1940 von der französischen Polizei verhaftet, an die Gestapo ausgeliefert und in der „Santé“, dann im Gefängnis der „Cherche-midi“ inhaftiert worden war, wurde im Januar 1941 freigelassen. Ihr Bruder Louis, der nach Mauthausen deportiert wurde, ist zurückgekehrt. Ihre jüngere Schwester Christiane, die im Alter von vierzehn Jahren von Milizen Sabianis in Marseille verhaftet wurde, ist dank der Zahlung einer Kaution durch ihre Arbeitgeber wieder freigekommen. Ihr Haus in Marseille wurde bombardiert, doch niemand aus der Familie wurde verwundet. Georges Thévénin, Lulus Mann, wurde bei einem Fluchtversuch am Bein verletzt (er war Kriegsgefangener in Deutschland), doch er ist heil und ganz. Ein ganz unglaubliches Glück. [Übersetzung A.P.]
Diese Liste wirkt, als verdichte sich aller Schrecken von Krieg und Verfolgung in dieser einen Familie: Verhaftung selbst der Jüngsten, Deportation, Bombardierung. Betroffen sind alle Generationen, alle Geschwister, beide Geschlechter. Doch ganz in Parallele zu der Feststellung, dass der Transport vom 24. Januar mit seinen 230 Frauen 220 Delbo: Convoi, S. 277.
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ein „unerhörtes Glück“ gehabt habe (weil nämlich, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, neunundvierzig von ihnen zurückkehrten), darf der Hinweis auf das Glück der Familie, zu der Lulu und Carmen gehören, nicht als Verkennung der Wirklichkeit gelten. Wirklichkeit bedeutet: Es ist furchtbar, im Alter von vierzehn verhaftet zu werden, es ist furchtbar, sein Haus zu verlieren, deportiert oder verletzt oder zum Kriegsgefangenen gemacht zu werden. So wie von 230 deportierten Frauen 181 nicht zurückgekehrt, so ist auch die Familie von Lulu und Carmen nicht unbeschädigt aus dem Krieg hervorgegangen. Doch der Blick auf andere Familienschicksale erklärt, warum diese Beschädigung für Lulu und Carmen „nicht zählt“: Weil eben anderes – die Rettung des ‚nackten Lebens‘ (Giorgio Agamben) – so viel mehr zählt. Lulu und Carmen verstehen es, ihren Namen kein zu großes Gewicht beizumessen, weil sie ermessen, was „das nackte Leben“ bedeutet. Von ihrem Leben in Auschwitz und Rajsko schreibt Delbo: Les deux sœurs ne se sont jamais quittées. Elles se tenaient toujours par le bras pour être sûres d’être prises ensemble. Pour quoi que ce soit. Elles sont les deux seules sœurs qui soient revenues. Pour les autres, ou bien les deux ont disparu (les Richter, Noémie Durand et Rachel Fernandez, Charlotte Douillot et Henriette l’Huillier) ou bien une seule (Alizon, Tamisé, GiliPica). Elles sont entrées au revier ensemble, le 26 avril 1943, quand elles ont eu le typhus – mais Lulu, déchirée, a dû en sortir avant Carmen –, sont allées ensemble à Raisko, ont été transférées à Ravensbrück le 7 janvier 1944, ont été prises pour Beendorf, la mine de sel, le 9 août 1944, ont été évacuées en avril 1945, sont finalement arrivées en Suède […], et ont été rapatriées, Lulu le 23 juin 1945, Carmen le 28.221 Sie haben sich nie voneinander getrennt. Sie hielten sich stets am Arm, um sicher zu sein, gemeinsam verhaftet zu werden – mit welchem Ausgang auch immer. Sie sind die einzigen Schwestern, die beide zurückgekehrt sind. Bei anderen Geschwisterpaaren sind entweder beide gestorben (die Schwestern Richter, Noémie Durand und Rachel Fernandez, Charlotte Douillot und Henriette l’Huillier) oder eine (Alizon, Tamisé, Gili-Pica). Als sie Typhus hatten, sind sie am 26. April 1943 zusammen im Revier aufgenommen worden. Doch Lulu, die ganz verzweifelt darüber war, ist schon vor Carmen entlassen worden. Sie sind auch zusammen nach Rajsko gegangen, sind am 7. Januar 1945 zusammen nach Ravensbrück überstellt, am 9. August 1944 für die Salzmine von Beendorf ausgesucht und im April 1945 evakuiert worden, bevor sie schließlich nach Schweden kamen. Lulu ist am 23., Carmen am 28. Juni 1945 nach Frankreich zurückgekehrt. [Übersetzung A.P.]
Das Zusammensein ist stärker als die Momente der Trennung; diese treten in der Liste zurück. Die erste Trennung ist eine durch die Umstände erzwungene (den Schwestern gelingt es nicht, das „Revier“, d.h. die Krankenbaracke, zur gleichen Zeit zu verlassen), die zweite eine gefahrlose, weil es endlich zurück nach Frankreich geht. Wie sehr aber im „Glück“, fast immer zusammengeblieben zu sein, Qual und Tod enthalten sind, ergibt sich aus der ‚Logik‘ der nationalsozialistischen Vernichtungspläne.
221 Ebd., S. 279.
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„Reisen“ als Anführungszeichen In sprachzerfallnen Zeiten im sichern Satzbau wohnen: dies letzte Glück bestreiten noch Interpunktionen.222
Besonders furchtbar waren die Umstände, die bei der Fahrt zurück „Richtung Westen“ herrschten. Das folgende Zitat ist bereits vom Anfang meiner Analysen her bekannt. Es geht um die Zustände, die in den vollkommen überfüllten Waggons des zur ‚Evakuierung‘ eingesetzten Güterzugs herrschten. Unter denen, die von Rajsko Richtung Westen gebracht wurden, waren die Frauen, die Delbo der Leserschaft in ihrem Convoi-Buch unter den Namen „Poupette“, „Cécile“, „Gilberte“, „Carmen“ und „Lulu“ vorstellt. D’emblée, elles comprennent que, pour ne pas périr pendant le voyage, il faut imposer une règle impitoyable, se diviser exactement – cinquante-cinq de chaque côté –, s’allonger à tour de rôle. L’ordre est strict: cinq femmes se couchent à un bout du wagon pendant une heure; vingt sont assises, emboîtées les unes dans les autres, jambes écartés, comme des guillemets, pendant une heure; les autres restent debout, serrées. Elles changent leurs places à tour de rôle. Grâce à quoi elles sont toutes arrivées vivantes.223 Die Frauen verstanden sofort, dass man, wenn sie nicht während der „Reise“ sterben wollten, eine unerbittliche Regel aufstellen musste, und zwar, sich genau aufzuteilen – fünfundfünfzig auf jeder Seite –, sich umschichtig hinzulegen. Die Ordnung ist streng: fünf Frauen strecken sich während einer Stunde im hinteren Teil des Wagens aus, zwanzig sitzen, ineinandergeschachtelt, während einer Stunde, die Beine auseinandergeklappt, wie Anführungszeichen; die anderen stehen, eng aneinandergepresst. Sie tauschen umschichtig ihre Rollen. Auf diese Weise sind alle lebend angekommen.[Übersetzung A.P.]
Diese ‚Reise‘ haben Carmen und Lulu, die Inhaberinnen von Namen in Anführungszeichen, im wahrsten Sinne des Wortes als Anführungszeichen erlitten: ineinandergeschachtelt, Körper an Körper, zusammen mit weiteren Frauen, hundertacht an der Zahl. Der Vergleich zwischen den zusammengedrängten, menschlichen Leibern auf der einen Seite und den Anführungszeichen auf der anderen zeigt, dass die Wirklichkeit nicht wirklicher hätte sein können: unausdenkliche Qual und Erschöpfung. Ein größerer Kontrast zum Versuch, die Wirklichkeit durch die Aneignung von Namen in Anführungseichen ihrerseits in Anführungszeichen zu setzen, war kaum denkbar.224
222 Karl Kraus: Gedichte, Frankfurt/M. 1987, S. 75 – Das Gedicht erschien erstmals in der Fackel, Nr. 443/444, S. 5-6. 223 Delbo: Convoi, S. 26; Kursivschrift im Original. 224 In einem Band mit dem Titel Poétiques de l’amitiés / Poetiken der Freundschaft in Deutschland und Frankreich, der voraussichtlich 2018 unter der Herausgeberschaft von Katja Schubert und Judith Kasper erscheinen wird, habe ich bereits versucht, die Umstände
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Wie ich in meinem Buch Komik und Gewalt gezeigt habe, ist die Verwendung von Anführungszeichen ein auffälliges Kennzeichen der Sprache im Nationalsozialismus gewesen. Wie schon Victor Klemperer lange vor der bedingungslosen Kapitulation des ‚Dritten Reiches‘ erkannte, war ihre inflationäre Verwendung ein Hinweis auf das Freund-Feind-Schema, das wesentlich zur nationalsozialistischen Ideologie gehörte: Menschen wurden systematisch verunglimpft, Aussagen oder Identitäten in Zweifel gezogen, als Feinde aufgebaut, indem man Anführungszeichen verwendete.225 Die „LTI“ bediene sich bis zum Überdruss dessen, was ich die ironischen Anführungszeichen nennen möchte. Das einfache und primäre Anführungszeichen bedeutet nichts anderes als die wörtliche Wiedergabe dieser ‚Evakuierung‘ sowie die Rolle, die Freundschaften dabei spielten, zu analysieren. Das vorliegende Kapitel ist eine Fortführung und Erweiterung dieses Artikels. Sein Titel lautet: „Sich gegenseitig beim Namen rufen. Frauenfreundschaften im Auschwitzer Nebenlager Rajsko.“ Ein weiterer Artikel ist erschienen unter dem Titel „‚Mir geht es immer gut.‘ Frauenfreundschaften im Pflanzenzuchtkommando des Auschwitzer Nebenlagers Rajsko“, und zwar in der Kritischen Ausgabe Nr. 30 (2016). Vgl.: https://networks.hnet.org/node/79435/discussions/125607/zs-kritische-ausgabe-nr-30-2016-freundschaft; abgerufen am 7.3.2016. 225 „Man sollte annehmen, daß die LTI, da sie doch im Kern rhetorisch ist und sich immer wieder an das Gefühl wendet, ähnlich wie der Sturm und Drang dem Ausrufezeichen ergeben sein müßte. Das ist kaum auffällig; im Gegenteil, sie scheint mir ziemlich sparsam mit diesem Zeichen umzugehen. Es ist, als forme sie alles mit solcher Selbstverständlichkeit zu Anruf und Ausruf, daß sie dafür kein besonderes Interpunktionszeichen nötig habe — denn wo sind die schlichten Aussagen, von denen sich der Ausruf abheben müßte?“ Victor Klemperer: LTI. Aus dem Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1998, S. 96; Hervorhebung A.P.; künftig zitiert als: Klemperer: LTI. – Vgl. dazu auch das folgende Zitat, das die Kritik Klemperers illustrieren hilft: „Schon in der Sprachanwendung tut sich ein Unterschied gegenüber der früheren Zeit kund: dem mündlichen Sprachgebrauch wurde wieder sein natürliches Recht zuteil. An erster Stelle steht die Kampfrede; in ihr warb, stritt, rang der einzelne als Persönlichkeit für sein Ziel. […] In Sprechchören und Kampfliedern der Gemeinschaft tat sich der neue heldische und zugleich volksverbundene Geist kund, der in der sprachlichen Form ein durchaus männliches Gepräge trägt. […] Wo blieb die einstmals erhabne, später so übel niedergezogene ‚parlamentarische Redeweise’? Statt ihrer herrscht heute straffer Befehl, bündige Anordnung, bestimmte Verfügung. […] Mit Befriedigung bemerkt man in der Gestaltung der Wortform den deutlichen Willen, möglichst aus arteigenem Sprachgute zu schöpfen.“ Viktor Rehtmeyer: „Völkische Erneuerung und Sprachgestaltung“, in: Muttersprache. Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins 50 (1935), H. 9, Sp. 297-301; Hervorhebung A.P. – Den gleichen Tenor findet man bei: Linden, Walther: „Was heißt ‚Sprache unsrer Zeit‘?“, in: Muttersprache. Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins 51 (1936), H. 7/8, Sp. 277-281: „Einer der wichtigsten Punkte aber ist, daß diese neue ‚Sprache unsrer Zeit‘, die den eigensten Kräften ewigen Deutschtums zum Durchbruch verhelfen und das Arteigene so willenskräftig herausgestalten will, wie es seit langem nicht der Fall war, daß sie eine gesprochene und nicht eine geschriebene Sprache ist […]. Das Ende der Überfremdung wäre zugleich das Ende des papierenen Zeitalters unsrer Sprachgeschichte.“
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dessen, was ein anderer gesagt oder geschrieben hat. Das ironische Anführungszeichen beschränkt sich nicht auf solch neutrales Zitieren, sondern setzt Zweifel in die Wahrheit des Zitierten, erklärt von sich aus den mitgeteilten Ausspruch für Lüge.226
Zur Verdeutlichung führt der Dresdener Romanistikprofessor das folgende Beispiel an: „Chamberlain und Churchill und Roosevelt sind immer nur ‚Staatsmänner’ in ironischen Anführungszeichen, Einstein ist ein ‚Forscher‘, Rathenau ein ‚Deutscher‘ und Heine ein ‚deutscher Dichter‘.“227 Dieses Interpunktionszeichen muss, (im Wortsinn) „zu Ende gedacht“, als Verdichtung tödlicher Ironie verstanden werden. Es ist der österreichische Satiriker Karl Kraus, der schon 1933/34 erfasst und in seinem eindrucksvollen Text Dritte Walpurgisnacht gezeigt hat, dass die Tödlichkeit vollkommen unmetaphorisch zu verstehen war: Verunglimpfungen hatten schon zu diesem frühen Zeitpunkt, nämlich bereits in der Stabilisierungsphase der Diktatur, Morde zur Folge. In Bezug auf den von den Nationalsozialisten konstruierten ‚Tatbestand‘ der so genannten ‚Rassenschande‘ schreibt er, die Täter direkt zitierend (also das fremde Zitat durch seinen eigenen Kommentar einrahmend): Statt eine weitere Ohrfeige für mieses Deutsch zu empfangen, muß der Rassenwart mit Überraschung feststellen, daß es immer noch deutsche Mädchen gibt, die sich nicht schämen, sich öffentlich mit Juden zu zeigen.
Er muß sie deshalb als „Damen“ nicht nur zwischen ironische Anführungszeichen setzen, sondern mit Namen und Adresse in die Zeitung; auch erfolgt „Zwangsstellung durch SA. und SS.“228
Die Verbindung, die zwischen Verunglimpfung, „Rassenschande“ und Tötung besteht, scheint mir die ganze Gefährlichkeit der Anführungszeichen zu zeigen. Da das Mädchen, das sich bei seiner Partnerwahl über die rassistischen Kategorien der „Vollblutgemeinschaft“ (DWN, S. 223) hinwegsetzt, als „Dame“ verhöhnt, d.h. in Anführungszeichen gefangen wird, ist auch der nächste Schritt nicht überraschend: Ihre Identität und Adresse werden in der Zeitung öffentlich gemacht. Die Anführungszeichen, die das Mädchen umschließen, laden zur Gewalt ein und geben dem lüsternen „Rassenzuhälter“ (DWN, S. 224) alle notwendigen Informationen, um seines Opfers habhaft zu werden. Die Ironisierung führt zur Dehumanisierung der Deutschen ohne „Rassestolz“ (DWN, S. 222) und erklärt diese für vogelfrei. Die Stellung, die die Anführungszeichen dem Mädchen gegenüber beziehen, hängt mit der „Zwangsstellung durch SA. und SS.“ unmittelbar zusammen, denn die Sprache erklärt deutlich, dass eine mögliche körperliche Gewalt straflos bleiben wird. In dieser Hinsicht stellt die These, die Anführungszeichen seien ein Tötungsinstrument, keine Übertreibung dar.229 226 Klemperer: LTI, S. 97. 227 Ebd. 228 Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht, Frankfurt/M. 2001, S. 220; künftig zitiert als: Kraus: Walpurgisnacht. 229 Peiter: Komik, S. 176. (Die Abkürzung „DWN“ steht für „Dritte Walpurgisnacht“.) – Die Historikerin Alexandra Przyrembel beschäftigt sich in ihrer kenntnisreichen Studie „Rassenschande“. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus (Göttingen 2003; künftig zitiert als: Przyrembel: Rassenschande) mit einem Brief, den der Freiburger Oberstaatsanwalt von einer Frau bekam, die mit ihrem jüdischen Partner vor
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Alexandra Przyrembel, die die lange Vorgeschichte und nationalsozialistische Praxis von „Prangerumzügen“ und Strafverfolgung von ‚Rasseschändern‘ rekonstruiert hat, weist in die gleiche Richtung: Während der Stürmer in seinen stark stilisierten Karikaturen ein wenn auch stereotypes, so doch „abstraktes“ Bild vom Juden zeichnete, wurden die rassenanthropologischen Kategorien nun auf leibhaftige Personen projiziert. Neben der Verschriftlichung der öffentlichen Denunziation im Rahmen von besonders zu diesem Zweck eingerichteten Kolumnen wie „An den Pranger“, in denen die bestehenden Beziehungen der „artvergessenen“ Frauen und ihrer jüdischen Partner aufgeführt wurden, oder den nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze veröffentlichten Namenslisten von (ausschließlich jüdischen) „Rassenschändern“ war gerade der Einsatz „authentischer“ Photographien ein besonders diffamierendes Instrument der öffentlichen Stigmatisierung.230
Und damit sind wir zurück bei Carmen und Lulu. Vor dem Hintergrund der von Kraus analysierten Vorgänge lässt sich die Kraft ermessen, die die beiden Frauen zeigten (und zwar zusammen mit all diejenigen, die mit ihnen ‚reisten‘), als sie, obwohl sie selbst als Anführungszeichen (und nur als diese) ‚reisten‘, sich selbst Regeln gaben.231 Da, wo, wirklicher als wirklich, alle Regeln durchbrochen worden waren (die Nationalsozialisten zwängten in einen Waggons so viele Personen wie möglich), gelang es ihnen, dennoch Regeln durchzusetzen, in die Regellosigkeit und Unmöglichkeit von Regeln hinein: die Anführungszeichen als einzig mögliche Rettung aus dieser Wirklichkeit. Aber der Rettungsversuch durch Anführungszeichen bedeutete keineswegs, dass die Wirklichkeit in den Waggons eine angebliche (und nicht etwa eine wirkliche) gewesen wäre. Im Gegenteil verbürgte gerade das Anführungszeichenhafte der Haltung, die die Deportierten umschichtig einnehmen mussten, die Tatsache, dass das hier – die Gefahr, erdrückt zu werden und selbst andere zu erdrücken – eigentlich, nämlich am eigenen Körper, also als wirklich wirklich erlebt wurde. Dans les autres wagons il en allait autrement: les kapos, des prisonnières de droit commun, roulaient les détenus les plus mal en point dans une couverture, s’asseyaient sur elles, les étouffaient; il n’y avait plus qu’à secouer la couverture par-dessus les ridelles pour faire de la place.232 dem Freiburger Landgericht einen Prozess wegen ‚Rassenschande‘ und die Berichterstattung der Zeitung Der Alemanne erlitten hatte: „Wenn Sie diesen Brief in Händen halten, dann lebe ich nicht mehr. Ich wurde zu schwer getroffen durch die schändliche Anklage im Alemannen. Wenn ich freiwillig in den Tod gehe, dann ist nur dieses Blatt daran schuld. Gesetze haben Max R[…] verurteilt zu langer Haft, Gesetze, die mit dem Herzen des Menschen gar nicht in Einklang stehen. – Wir kannten uns vor den Gesetzen. Ob man damit unser Volk retten kann, das mag wohl eigenes Ermessen sein. – Ich habe Max R[…] als Mensch geliebt. Ob er Jude oder Christ war, war mir in diesem Moment völlig egal.“ Bericht der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Karlsruhe an das Geheime Staatspolizeiamt vom 12.5.1937 über die Selbsttötung der Margarete D[…]; zitiert nach Przyrembel: Rassenschande, S. 194. 230 Ebd., S. 191-192. 231 Kraus schreibt ja über eine frühe Phase der Verfolgung, also noch nicht über die exterminatorische Politik im eigentlichen Sinne. 232 Delbo: Convoi, S. 26-27.
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In den anderen Waggons war dies anders: Die Kapos, inhaftierte Verbrecherinnen, rollten die schwächsten Gefangenen in einer Decke ein, setzten sich auf sie und erstickten sie; dann musste man nur noch die Decke über der Klappe auskippen, um Platz zu schaffen. [Übersetzung A.P.]
Das also war die Regel: ein Massensterben. Die Regel der Anführungszeichen war Wirklichkeit, so wie der (vermutlich ohne das Einverständnis der Betroffenen) zugewiesene Name Carmen ein Name in Anführungszeichen: „Carmen“. Aber die Kraft dieses Namens, den Jeanne sich zu Eigen gemacht hatte – Carmen ohne Anführungszeichen –, bestand eben darin, dass er der Name war, der ihre Verbundenheit mit den Mitgefangenen enthielt, also zu ihrem eigentlichen Namen geworden war: über ihre Person weit hinausweisend. Diese Integration der anderen in die eigene Person, ihres freundschaftlichen Blicks, der sich im Spitznamen aussprach, wurde sodann zur Voraussetzung für das, was den Frauen in der Enge des Zuges gelang: diese Wirklichkeit als Wirklichkeit zu erkennen und gewissermaßen auch anzuerkennen, um sie, obwohl ungestaltbar, dann doch zu gestalten – gegen die Regellosigkeit die einzig denkbare Regel setzend, die noch die Chance des Überlebens enthalten mochte: selbst zum Anführungszeichen werdend. Anders gesagt: In der Dimension der Freundschaft und gegenseitigen Unterstützung, die die Neuinterpretation und positive Aneignung oktroyierter Namen ermöglichte, war die kollektive Fähigkeit angelegt, die Wirklichkeit im Zug, obwohl unerträglich, ein wenig erträglicher zu machen, oder vorsichtiger: überlebbar. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch? Sie [die Nationalsozialisten; A.P.] fühlen die Vergewaltigung, wenn man ihnen Handlungen zutraut, die sie begehen. Solche Handlungen pflegen sie dann als „angeblich“ zu bezeichnen, eine kurze, aber gute Formel des Entschlusses, sich auf so etwas gar nicht einzulassen, bezogen von der Unanfechtbarkeit einer Staatsmoral, die sich auf die Angeberei dessen gründet, was nicht geschehen ist.233
Das „Glück“, von dem in Bezug auf die gesamte Familie Lulus und Carmens die Rede gewesen war, bestand darin, dass die Frauen gemeinsam die Kraft gefunden hatten, sich selbst eine Regel zu setzen, nämlich die Regel der Anführungszeichen. Die Rettung konnte nur gelingen, wenn alle – ohne Ausnahme – bereit und diszipliniert genug waren, um das vitale Bedürfnis nach Raum, Luft und Schlaf unter Kontrolle zu halten und so aus der Einsicht, dass den anderen Frauen die Erfüllung des vitalen Bedürfnisses nach Raum, Luft und Schlaf ebenso versagt war wie einem selbst, die einzig denkbaren praktischen Konsequenzen zu ziehen. Wer in Bezug auf den eigenen Namen eingeübt hatte, nur einen minimalen Spielraum für Entscheidungen zu haben – hier zum Beispiel die Entscheidung, wirklich, wie von der Polizei verfügt, Carmen zu werden –, konnte, in Ruth Klügers Sinne, „frei“ handeln:
233
Kraus: Walpurgisnacht, S. 185.
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Vielleicht sollten wir Freiheit schlicht als das nicht Voraussagbare definieren. […] Und deshalb meine ich, es kann die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft und in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglichkeiten auf fast Null reduziert sind. […] In einem Rattenloch, wo die Menschenliebe das Unwahrscheinlichste ist, wo die Leute die Zähne blecken und wo alle Zeichen in Richtung Selbstbewahrung deuten, und wo dennoch ein Vakuum bleibt, kann die Freiheit als das Verblüffende eintreten. […] Und so könnte man etwa sagen, dass gerade in diesem perversen Auschwitz das Gute schlechthin als Möglichkeit bestand, als ein Sprung über das Vorgegebene hinaus.234
Klüger geht davon aus, dass Freiheit sich da erweist, wo sich ihre Räume absolut verengt haben. Es ist dabei keine geringfügige Einschränkung von Freiheit gemeint, sondern eine totale: ein Verlust als Voraussetzung wirklicher Freiheit (ganz ohne Anführungszeichen). Auf die Frauen in dem oben geschilderten Zug bezogen, würde das bedeuten, dass die Frauen in der totalen Enge des Raums, in dem ihnen sogar die Freiheit minimalster Bewegungen genommen war, zu einem erstaunlich großen Maß an Freiheit fanden, nämlich zu der Freiheit, sich selbst, obwohl bereits an jeder Bewegung gehindert, noch mehr an Bewegung zu hindern: zu Anführungszeichen in absoluter Bewegungslosigkeit werdend. Natürlich war diese Bewegungslosigkeit zugleich auch (und vor allen Dingen) das Höchstmaß an Zwang, Unfreiheit und Gewalt, aber dass es doch so etwas wie Stärke durch Freundschaft gab, und zwar durch die Gemeinsamkeit eines furchtbar schweren und schwer durchzuhaltenden Entschlusses, ist festzuhalten. Nur muss sich die These von aus größter Unfreiheit geborener Freiheit bewusst bleiben, dass sie in gefährliche Nähe zum viel missbrauchten Zitat aus Hölderlins Patmos-Gesang gerät: „Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Günther Anders warnt vor dem „Verharmlosungsbetrug“, der darin liegt, die Gefahren, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, zu „solennisieren“. Man stelle sich vor, […] die Nazis hätten diese Worte [von Hölderlin; A.P.] als Inschrift auf dem Auschwitzportal verwendet – der Zynismus dieser Feierlichkeit springt in die Augen. […] Menschen, die Geschichte ernst nehmen, die zum Beispiel das Heraufkommen des Nationalsozialismus mit offenen Augen miterlebt haben, die empfinden es als skrupellos und demagogisch, wenn man ihnen den Glauben an automatische Selbstheilung katastrophenhafter Situationen einzureden wagt.235
Es soll also keineswegs der Weg der Anderschen „Solonnifikatoren“, neuer Löwenzahn-Verteidiger beschritten werden. Ebensowenig eine Verwandlung des „Furchtbare[n] in etwas Majestätisches“236, keine Glorifizierung des ‚Positivem‘, das in einem Zug entstanden wäre, in dem Menschen massenhaft erstickten oder zu Tode gedrückt wurden. Das einzige, was ich mit den Hinweisen auf die Stärke, die in den Anführungszeichen steckt, zeigen möchte, ist, dass es falsch wäre, den Opfern des „konzentrationären Universums“ gänzlich die Fähigkeit zum Handeln und damit den Willen abzusprechen, Subjekte ihrer Geschichte zu bleiben. Die Analyse des Umgangs mit Namen soll zeigen, dass es in Rajsko Frauen gab, die – bedingt durch die vergleichsweise 234 Klüger: weiter leben, S. 135-136. 235 Anders: Endzeit, S. 129. 236 Ebd.
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guten hygienischen Bedingungen und durch die Möglichkeit, Nahrung aus den zu Rajsko gehörenden Gemüsegärten zu stehlen – rein physisch in der Lage waren, sich gegen die abschüssige Bahn zum ‚Muselmann‘ zu stemmen und im Namen ein Stück von sich (und also auch von Solidarität mit den anderen) zu bewahren. Der eichsche Löwenzahn bot einen gewissen Spielraum, die eigene Identität und mit ihr die Kraft zur Freundschaft zu wahren – wenn auch nicht auf die einfache, gleichsam selbstverständliche Weise, wie das Hörspiel sie inszeniert. Hören wir noch einmal Delbo, und zwar mit dem schon zitierten Hinweis, die Frauen ihres Transports hätten sich in kleinen Gruppen organisiert, was die Möglichkeit schuf, que nous nous aidions de toutes les manières, souvent bien humbles: se donner le bras pour marcher, se frotter mutuellement le dos pendant l’appel, et aussi que nous parlions. La parole était défense, réconfort, espoir. En parlant de ce que nous étions avant, de notre vie, nous continuions cet avant, nous gardions notre réalité. Chacune des revenantes sait que, sans les autres, elle ne serait pas revenue.237 dass wir einander auf alle nur denkbare Weise halfen. Die Hilfe war oft ganz bescheiden: sich beim Laufen den Arm geben, sich gegenseitig während des Appells den Rücken reiben, und dann natürlich auch: miteinander sprechen. Worte waren Verteidigung, Halt, Hoffnung. Indem wir darüber sprachen, was wir vorher gewesen waren, wie unser Leben ausgesehen hatte, setzten wir dieses Vorher fort, bewahrten wir uns unsere Wirklichkeit. Alle, die zurückgekommen sind, wissen, dass sie ohne die anderen nicht zurückgekommen wären. [Übersetzung A.P.]
Das ist es, was ich meine: ein „großer“, da größten Einschränkungen unterliegender (und also eigentlich „kleiner“) Freundschaftsbegriff: sich den Arm geben, sich warm reiben, miteinander sprechen und, als ergänzendes Element: die anderen bei ihren Namen rufen, der eben auch ein von Nähe, Intimität und Zuneigung zeugender Spitzname sein konnte. Mutterschwester und Schwesterkind Zweifellos ist es möglich, Menschen unter Bedingungen zu stellen, die sie dehumanisieren […]; aber das heißt nicht, dass sie vertieren […]; das deutlichste Zeichen der Entmenschlichung ist gerade das Ausbleiben aller Reaktionen.238
Wie bereits erwähnt, gab es unter den französischen Deportierten des 24. Januar noch weitere Schwesterpaare, unter ihnen „Gilberte TAMISE et sa soeur Andrée“, wie Delbo in ihrem Convoi-Buch schreibt. Das Beispiel der beiden zeigt, dass Delbo die alphabetische Anordnung in bestimmten Fällen bewusst durchbricht. Da diese beiden Schwestern denselben Nachnamen tragen, wäre eigentlich zu erwarten gewesen, dass Andrée (die den Alphabetanfang repräsentiert) vor Gilberte rangieren würde. Delbo
237 Delbo: Convoi, S. 17. 238 Arendt: Macht, S. 64.
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aber kehrt diese Reihenfolge um. Und in der Tat begreift man als LeserIn schnell, dass dies durch das Verhältnis der beiden gerechtfertigt ist. Gilberte, née le 3 février 1912, avait à peine plus de dix ans lorsque sa mère est morte, laissant un bébé de sept mois: Andrée. Gilberte a été la grande sœur et la petite mère. Elle a quitté l’école Jules-Ferry de Caudénage pour rester auprès de sa sœur et s’occuper du ménage. Elle a eu des leçons chez elle jusqu’au brevet élémentaire […]. 239 Gilberte, die am 3. Februar 1912 zur Welt kam, war gerade einmal zehn Jahre alt, als ihre Mutter starb und ein sieben Monate altes Baby zurückließ: Andrée. Gilbert ist die große Schwester und kleine Mutter gewesen. Sie ist von der Schule Jules-Ferry in Caudénage abgegangen, um bei ihrer Schwester zu bleiben und den Haushalt zu versorgen. Bis zur mittleren Reife hat sie Hausunterricht bekommen. [Übersetzung A.P.]
Während zwischen Carmen und Lulu ein Verhältnis der Gleichrangigkeit besteht, wächst hier der älteren Schwester von Beginn an eine größere Verantwortung zu: Gilberte sorgt für Andrée. Gleichzeitig gilt aber auch, dass Andrée so wichtig für Gilberte ist, dass umgekehrt Gilberte nicht ohne Andrée sein kann. Durch ihr bloßes Dasein sorgt also auch Andrée für Gilberte. Zu entnehmen ist dies der Tatsache, dass beide, ganz in Parallele zu Carmen und Lulu, alle Wege gemeinsam gingen. Gilberte et Andrée ont été arrêtées chez elles, le 3 avril 1942, par la police de Poinsot. Des étudiants avaient été arrêtés quelques jours plus tôt. Alertées, elles auraient dû fuir. Mais leur père était interné au camp de Mérignac. Peut-on laisser un prisonnier qui a besoin de vivres, de soutien? Peut-on laisser son père sur qui peuvent s’exercer des représailles?240 Gilberte und Andrée sind am 3. April 1942 in ihrer Wohnung durch die Polizei von Poinsot verhaftet worden. Einige Tage zuvor war es zur Verhaftung von Studenten gekommen. Sie hätten nach diesem Warnsignal fliehen sollen. Doch ihr Vater war im Lager von Mérignac interniert. Konnte man einen Gefangenen allein lassen, der auf Nahrung und Unterstützung angewiesen war? Kann man seinen Vater verlassen, gegen den sich Repressalien richten können? [Übersetzung A.P.]
Gilberte und Andrée wurden also gemeinsam verhaftet. Ihr Zusammenhalt erwies sich als ebenso stark und selbstverständlich wie der von Carmen und Lulu. Andrée Tamisé est morte le 8 mars 1943. Elle était déjà affaiblie par la dysenterie quand elle a eu une congestion pulmonaire. Pourtant elle voulait tenir, ne pas quitter sa sœur, ne pas aller au revier. Au bras de Gilberte, elle se traînait vers les marais, vers les briquets, vers le sable. Elle respirait de plus en plus difficilement. Un jour, elle a dit à Gilberte : „Je ne peux plus te suivre“. Après l’appel, elle a voulu se mettre dans la colonne de celles qui entraient au revier. Des Polizeis l’ont refoulée : il y avait trop de malades ce jour-là. Elle a été rouée de coups et renvoyée au block. Les commandos de travail étaient déjà partis. Elle a essayé de se cacher dans le block, d’y attendre le retour de Gilberte. Une stupova l’a découverte, l’a traînée dehors, l’a battue. Le 239 Delbo: Convoi, S. 275. 240 Ebd.
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soir, Gilberte a trouvé Andrée sale, couverte de boue, bleue de coups, épuisée. Andrée est morte dans la nuit, près de sa sœur qui, le matin – le matin, c’était la nuit noire, le réveil était à trois heures – le matin, en sortant pour l’appel, a porté Andrée dehors, l’a déposée le long du mur du block, dans la boue. Tendrement. Et Gilberte est allée à l’appel. 241 Andrée Tamisé ist am 8. März 1943 gestorben. Sie war durch die Ruhr bereits geschwächt, als sie eine Lungenstauung bekam. Dennoch wollte sie durchhalten, ihre Schwester nicht verlassen, nicht ins Revier gehen. Auf den Arm von Gilberte gestützt hat sie sich durch den Sumpf geschleppt, zur Backsteinherstellung, zum Sand. Das Atmen fiel ihr von Mal zu Mal schwerer. Eines Tages hat sie zu Gilberte gesagt: „Ich kann Dir nicht mehr folgen.“ Nach dem Appell wollte sie sich in die Schlange derjenigen stellen, die ins Revier gingen. Doch die Polizei hat sie zurückgewiesen: An diesem Tag gab es zu viele Kranke. Sie ist mit Schlägen überzogen und in den Block zurückgeschickt worden. Das Arbeitskommando war bereits aufgebrochen. Sie hat versucht, sich im Block zu verstecken, um dort auf Gilbertes Rückkehr zu warten. Eine Stupova hat sie entdeckt, nach draußen geschleppt und geschlagen. Am Abend hat Gilbert Andrée gefunden, verdreckt, mit Schlamm überzogen, blau geschlagen, vollkommen erschöpft. Andrée ist in der Nacht neben ihrer Schwester gestorben. Am Morgen – der Morgen, das war finsterste Nacht, denn das Wecken erfolgte um drei Uhr in der Früh –, am Morgen hat Andrée sie auf dem Weg zum Apell hinausgetragen und an der Mauer des Blocks in den Schlamm gelegt. Mit aller Zärtlichkeit. Und dann ist Gilberte zum Appell gegangen. [Übersetzung A.P.]
Das, was Gilberte durch den Tod der Schwester geschehen war, wurde von ihr selbst am klarsten benannt. Rückblickend sagte sie in einem Interview für Delbos ConvoiBuch: „Je suis revenue malade, très longue à me remettre de la perte de ma sœur. J’avais perdu ma sœur et mon enfant.“242 („Ich bin krank zurück gekommen, habe lange gebraucht, um den Schmerz über den Verlust meiner Schwester zu überwinden. Ich hatte meine Schwester und mein Kind verloren.“ [Übersetzung A.P.]) Es ist diese Trauer, dieser Verlust, der zu bedenken ist, wenn man Gilbertes dann folgende, an Rajsko und den Löwenzahn gebundene Geschichte liest. Wie schon mehrfach erwähnt, war Rajsko mit Birkenau nicht vergleichbar. Doch ging der Weg der Frauen eben nicht direkt nach Rajsko, sondern sie alle machten zuvor die Erfahrung von Birkenau: Gilberte hatte dort ihre tote Schwester, ihr totes Kind, „mit aller Zärtlichkeit“ in den Schlamm gelegt. Rajsko war also nicht einfach eine Rettung aus Birkenau hinaus, sondern Birkenau folgte ihr nach Rajsko nach: als ständige Präsenz der Abwesenheit der Schwester, des Kindes. „Gilberte Tamisé a tenu à Birkenau malgré la mort de sa sœur qui l’a laissée égarée, absente d’elle-même. Ses camarades ne la quittaient pas un instant. Elle a tenu. En juillet 1943, elle était à Raisko.“243 („Gilberte Tamisé hat in Birkenau trotz des Todes ihrer Schwester, durch den sie vollkommen verloren und abwesend von sich selbst war, durchgehalten. Ihre Kameradinnen haben sie nicht einen Augenblick lang allein gelassen. Sie hat durchgehalten. Im Juli 1943 war sie in Rajsko.“ [Übersetzung und Hervorhebung A.P.]) Die Abwesenheit der Schwester, des Kindes Andrée scheint sich direkt in
241 Ebd. 242 Ebd., S. 277. 243 Ebd., S. 276; Hervorhebungen A.P.
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Gilbertes „Abwesenheit von sich selbst“ ausgedrückt zu haben: Zeichen dafür, dass mit Andrée ein Teil ihrer selbst gestorben und in Birkenau geblieben war. Lili Tofler In dem „ex uno homine“, in der Tatsache, dass die Pluralität sekundär ist, liegt die Garantie der „Menschlichkeit“.244
Auch Peter Weiss hebt die Zusammengehörigkeit von Birkenau und Rajsko in seinem „Oratorium“ Die Ermittlung hervor. Der „Gesang vom Ende der Lili Tofler“ hat den Widerstand einer jungen Slowakin zum Gegenstand, der es gelungen war, in Rajsko aufgenommen zu werden. Ein Brief, den sie an einen Mitgefangenen schrieb, wurde entdeckt und Tofler daraufhin gefoltert. Als sie den Namen des Adressaten nicht preisgeben wollte, wurde sie erschossen. Auch für sie war Rajsko also kein Ort, den man von Auschwitz-Birkenau hätte trennen dürfen. Sie hielt die Verbindung zu Gefangenen aus dem anderen Lager aufrecht und bezahlte dafür mit dem Tode. Mit Blick auf die Vernetzung von Auschwitz und Rajsko hat die Zeugin Raya Kagan während der Frankfurter Auschwitz-Prozesse berichtet, Tofler habe Angst gehabt, dass es ihr in ihrer ersten Arbeitsstelle, der Politischen Abteilung, schlecht ergehen werde. Darum habe sie sich bemüht, in ein anderes Kommando zu kommen. Und es ist ihr gelungen, und sie wurde nach Rajsko verschickt. Herbst 43 kam plötzlich eine Kollegin von uns – von der Politischen Abteilung, von der Kommandantur – und hat uns mit Angst erzählt, daß etwas Schreckliches vorgekommen ist. Im Gang in der Kommandantur wurde ein Brief vorgefunden, und der Brief war an einen Polen. Und jetzt sucht man, wer den Brief geschrieben hat. Also Wosnitza hat uns Papier gegeben und unsere… Vorsitzender Richter: Handschrift. Zeugin Raya Kagan: Handschrift Vorsitzender Richter [unterbricht]: Geprüft. Zeugin Raya Kagan: Und es waren auch solche Naiven [unter] uns, die dachten, daß er sich eine Schreiberin aussuchen will. In Wahrheit wollte er wissen, ob es jemand von unserem Kommando war. Vorsitzender Richter: Ja. Zeugin Raya Kagan: Dann später hat sich herausgestellt, daß es Lilli Tofler war. Diesen Brief habe ich alleine gelesen, weil ich doch als erste die Akten bekommen habe. Und in diesen Akten war der Brief vorhanden. Und der Brief war ganz… Vorsitzender Richter: Was stand denn in dem Brief? Zeugin Raya Kagan: Also sie schrieb an einen Polen: „Lieber Janek, ich bin beunruhigt, weil ich dich nicht an der gewöhnlichen Stelle gesehen habe, ob dir nichts zugestoßen ist. Im Lager gehen verschiedene Gerüchte herum.“ Und dann dieser Satz: „Nachdem ich so viel hier erlebt habe,
244 Hannah Arendt: Denktagebuch 1950-1973, hier Bd. 1, München, Berlin 2002, S. 70; Hervorhebung durch Hannah Arendt; künftig zitiert als: Arendt: Denktagebuch.
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wie könnte ich noch weiter in der Freiheit leben.“ So was, „erlebt und gesehen“. Also das war für den Kommandanten zuviel, und er wollte ein Exempel statuieren. Vorsitzender Richter: Der Kommandant? Zeugin Raya Kagan: So hat man uns gesagt. Vorsitzender Richter: Ja. Zeugin Raya Kagan: Aber die Sache hat der Boger bearbeitet und nicht der Kommandant. Und es lag in der Macht von Boger, alles, was ihm [beliebte], zu tun in dieser Hinsicht. Er konnte die Sache auch klein machen, weil sie eben klein war. Aber sie wurde erschossen.245
Bogers Verteidiger Hans Schallock versuchte, die Anklage, Boger sei verantwortlich für Lili Toflers Tod, zu widerlegen. Doch seine Argumente zeigen, wie sehr er selbst der nationalsozialistischen Ideologie verhaftet blieb. Dass dem Adressaten des Briefes in Auschwitz nichts passiert war, galt ihm als Beweis für die Unglaubwürdigkeit der Aussagen zum Tod Toflers. Außerdem glaubte Schallock, dass der Politischen Abteilung insgesamt Unrecht getan werde, weil die Leichtfertigkeit von Todesurteilen als die vorherrschende Praxis von Auschwitz ausgegeben werde. Die Tatsache, dass Lili Tofler von Rajsko zurück nach Auschwitz gebracht wurde, galt ihm hingegen als Zeichen dafür, dass es einen schwerwiegenden Grund – also wohl doch: ein Verbrechen Toflers – gegeben haben müsse. Dieses Argument enthält implizit wiederum die These, dass Toflers Ermordnung nicht ohne Grund erfolgte. Hören wir Schallock: Der Zeuge Gabis war derjenige, an den Lilli Tofler – ein junges Mädchen, das vorher in der Politischen Abteilung, später in Rajsko in der Landwirtschaftlichen Abteilung tätig war – einen Brief gesendet haben soll. Dieser Brief soll von Grabner persönlich gefunden worden sein, und zwar in einem Kranz. Der Brief soll nicht mehr als ein Liebesbrief gewesen sein und völlig harmlos. Nun, das ist alles möglich, aber nicht wahrscheinlich. Denn der Fall Lilli Tofler wurde als schwerwiegend angesehen. Der Zeuge Caesar, der Leiter der Landwirtschaft in Rajsko, hat sich bei der Politischen Abteilung erkundigt, und man gab ihm keine genaue Auskunft, sondern sagte, es sei nichts zu machen. Nun ist es ja nicht so, daß grundsätzlich nur leichtfertig und um zu töten bei der Politischen Abteilung gegen Leute vorgegangen wurde. Das ist hier von vielen der Eindruck. Und es mag auch sein, daß in einem oder in dem anderen Fall Leichtfertigkeit vorlag. Aber hier bei dem Fall Tofler, in den sich also der damalige Sturmbannführer Caesar selbst hineingehängt hatte und der keine Auskunft darüber kriegte, scheint es doch schwieriger zu liegen. Dann kommt noch etwas Merkwürdiges hinzu. Ausgerechnet dem Adressaten dieses Briefes, dem Zeugen Gabis, ist gar nichts passiert. Der ist hier als Zeuge vernommen [+ worden]. Er war natürlich im Bunker und ist vernommen worden, aber passiert ist ihm nichts.246 245 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, „Strafsache gegen Mulka u.a.“, 4 Ks 2/63, Landgericht Frankfurt am Main, 72. Verhandlungstag, 31.7.1964, Vernehmung der Zeugin Raya Kagan. Das Verhandlungsprotokoll ist zu finden auf der folgenden Internetseite des FritzBauer-Instituts: http://www.auschwitz-prozess.de/index.php?show=Kagan-Raya; abgerufen am 9.3.2017. 246 Plädoyer des Verteidigers Schallock für Boger, 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, „Strafsache gegen Mulka u.a.“, 4 Ks 2/63, Landgericht Frankfurt am Mai, 163. Verhandlungstag, 31.5.1965. Zu finden ist das Protokoll auf der folgenden Seite des Fritz-Bauer-Instituts: http://www.auschwitz-prozess.de/index.php?show=RA-Schallock_Plaedoyer_fuer_Boger abgerufen am 9.3.2017.
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Das Schockierende der Verteidigungsstrategie besteht aus heutiger Sicht darin, dass die Verteidigung in einen Angriff auf die Überlebenden überging. Die Mordmaschinerie als solche wurde verharmlost, der Rang Joachim Caesars genutzt, um zu beweisen, dass es mit der Behandlung Toflers irgendwie seine Richtigkeit gehabt haben müsse. Peter Weiss hat während eines Podiumsgesprächs hervorgehoben, dass ihm in seiner literarischen Darstellung der Tötungsprozesse eines wichtig gewesen sei: dass hier eine Frau ist, die ein Gesicht, eine ganz bestimmte Persönlichkeit hat, die dieser großen Maschinerei […] gegenübergestellt wird und von dieser unmenschlichen Kraft zermahlen wird. Im Schlusswort dieses Gesangs sagt die Zeugin auf die Frage, was sie von Lili Tofler wisse: Ich weiß nichts von ihr, aber immer wenn ich sie traf, sagte sie mir, mir geht es immer gut. Das ist für mich der Herzpunkt des Stückes, denn hier soll gezeigt werden, dass es in dieser totalen Erniedrigung des Menschen Einzelnen möglich ist, eine menschliche Würde zu wahren.247
So wie bei Charlotte Delbo begegnet der Leserschaft also auch bei Weiss das Insistieren auf der Individualität und Stärke bestimmter Gefangenen. Doch wird Rajsko damit nicht aus dem Vernichtungsprozess hinausgenommen. Auschwitz und Rajsko bleiben eins. Freundschaften, die tragen „Handle so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“ Maxime des Generalgouverneurs im besetzten Polen, Hans Frank.248
Diese unentrinnbare Zusammengehörigkeit musste auch eine weitere Löwenzahnspezialistin erfahren, für die dem ‚rettenden‘ Rajsko die Ermordung ihres noch ganz jungen Kindes – eines Babys – vorausging. Die Geschichte der Mutter ist nicht durch sie selbst überliefert, sondern wird berichtet von Eva Tichauer, einer Deutschen, die mit ihren Eltern nach Frankreich emigriert war und aufgrund ihrer Zweisprachigkeit so etwas wie eine Scharnierfunktion zwischen verschiedenen Solidaritätsgruppen in Rajsko innegehabt zu haben scheint. Sie schreibt stellenweise im Präsenz, so als erlebe sie die Geschichte der Freundin im Jetzt:
247 „Auschwitz auf dem Theater? Ein Podiumsgespräch im Württembergischen Staatstheater Stuttgart am 24. Oktober 1965 aus Anlass der Erstaufführng der ‚Ermittlung‘, in: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel, Hanno Loewy, Frankfurt/M., New York 1998, S. 71-98, Zitat S. 86; künftig zitiert als: Weiss: „Auschwitz“. 248 Zitiert nach: Norbert Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter, Frankfurt/M. 1989, S. 493. Das Zitat habe ich gefunden bei: Andrea Allerkamp: „‚Träume von Nationen sind gefährlich.‘ Zur Rolle der psychischen Ökonomie in Elias’ ‚Studien über die Deutschen‘“, in: Norbert Elias. Etudes sur les Allemands. Lectures d’une œuvre, hg. von Françoise Lartillot, Paris 2009, S. 173-190, Zitat S. 185.
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Sonia a besoin de notre aide et protection. Elle est arrivée à Birkenau avec son mari et son bébé dans les bras. Comme à l’accoutumée elle a été immédiatement séparée de son mari. Puis elle a répondu au SS chargé du tri qu’elle était chimiste, et son bébé lui a été arraché. On a besoin de chimistes, non de bébés.249 Sonia braucht unsere Hilfe und unseren Schutz. Sie ist in Birkenau zusammen mit ihrem Mann eingetroffen, ihr Baby im Arm. Wie üblich ist sie sofort von ihrem Mann getrennt worden. Dann hat sie dem SS-Mann, der für das Aussortieren zuständig war, geantwortet, dass sie Chemikerin sei, und das Baby ist ihr entrissen worden. Man braucht Chemikerinnen, nicht Babies. [Übersetzung A.P.]
Die Mutter erlebt nicht nur, dass ihr Baby ermordet wird, sondern vielmehr: dass ihr Baby ermordet wird, weil sie selbst nicht ermordet wird. Das Sterben des Babys ist nicht losgelöst von ihrem Recht, zu leben, sondern erlebt wird, dass so etwas wie eine kausale Verbindung zwischen beidem besteht: Das Leben der Mutter, so scheint es, ruft die Ermordung des Kindes hervor. Es ist damit, als wäre sie selbst für seinen Tod verantwortlich und nicht etwa die SS, denn sie, die Mutter, ist es ja, die auf die Frage des SS-Mannes mit dem Hinweis auf ihren Beruf antwortet und damit ihre Nützlichkeit (und also ihr Recht auf ein Weiter-Leben im Sinne von „Noch-nicht-ermordetWerden“) beweist. Dass in Wirklichkeit das Baby ‚natürlich‘ auch ohne das Nochnicht-ermordet-Werden der Mutter ermordet worden wäre, steht nicht in Frage, doch ist unverkennbar, dass der Mutter, weil sie nützlich ist, das ‚Recht‘ abgesprochen wird, zusammen mit ihrem Kind ermordet zu werden. Weil der Mutter die ‚Wahl‘ zwischen Leben und Tod genommen wird, das Leben, begleitet von der Ermordung ihres Kindes, ihr aufgezwungen wird, ist Rajsko mit seinem Löwenzahn eben keineswegs ein Ort der Rettung, sondern gleichsam der Grund für den Tod des Kindes. Denn wäre die Mutter in ihrer Funktion als Chemikerin für Rajsko nicht von einem gewissen ‚Wert‘ gewesen, wäre das Baby (wie alle anderen Babies und Kinder) als wert-, da funktionslos (also als Baby) ermordet worden und nicht, darüber hinausgehend, als Baby einer Mutter, die für die Nationalsozialisten einen gewissen Wert hatte. Tichauer berichtet, dass die Mutter alles tat, um die Trennung von ihrem Baby zu verhindern. Elle s’est défendue bec et ongles contre ce déchirement et a reçu de nombreux coup de gourdin, sur la tête aussi. Ce traumatisme crânien a provoqué des lésions heureusement réversibles avec le temps, qui ont déclenché de violentes crises d’épilepsie, fréquentes au début. Les SS n’ont jamais rien su. La solidarité de toutes et dans des conditions différentes, a toujours permis de la soustraire à un regard ennemi.250 Sie hat sich mit aller Kraft gegen dieses Auseinander-gerrissen-Werden gewehrt und mehrere Schläge mit dem Knüppel bekommen, auch auf den Kopf. Das Schädeltrauma hat Blutungen hervorgerufen, die sich mit der Zeit glücklicherweise als reversibel erwiesen. Doch riefen sie heftige und zu Anfang häufig auftretende Anfälle von Epilepsie hervor. Die SS-Männer haben davon nichts erfahren. Die Solidarität aller hat es unter ganz verschiedenen Bedingungen erlaubt, sie dem feindlichen Blick zu entziehen. [Übersetzung A.P.] 249 Tichauer: Numéro, S. 104-105. 250 Ebd.
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Was die Rajskoer Freundschaften für die Mutter gewesen sein müssen, wird hier fassbar. Die Anfälle, unter denen sie in Folge der Gehirnblutungen leidet, sind, obwohl es sich um innere Blutungen handelt, in gewisser Weise nur die Oberfläche der Verletzungen, die sie erlitten hat. Da der Kampf mit der SS der Rettung des Kindes, und wenn nicht der Rettung des Kindes, so doch der ‚Rettung‘ des Rechts, mit ihm zusammenzubleiben, gegolten hatte, ist das Leben nach dem Kampf in gewisser Weise identisch mit dem Tod des Kindes. Die Solidarität der Freundinnen verfolgt daher nicht allein das Ziel, vor der SS zu verbergen, wie schwer die Verletzungen sind, unter denen Sonia leidet. Vielmehr bezieht sich die Hilfe auch und vor allen Dingen auf den Ursprung dieser Verletzungen, nämlich auf die Trennung von ihrem Baby, die die Mutter hatte verhindern wollen. Die SS hat nicht nur nichts von der Epilepsie erfahren, sondern ihrem Blick ist auch die Tatsache entzogen worden, dass die Mutter weiterhin bei ihrem Baby auf der Rampe war. Rajsko und Birkenau dürfen also nicht voneinander getrennt oder gar als einander entgegengesetzte Universen beschrieben werden. Im Gegenteil gilt, dass die Schwierigkeit für viele der gefangenen Chemikerinnen, Botanikerinnen, Pharmazeutinnen und Photographinnen darin bestand, dass die Rettung wie eine Schuld lastete: die Schuld, dass nur sie es unter den Schutz des Löwenzahns geschafft hatten und nicht auch die vielen anderen: die Schwester Andrée, das Kind Andrée, das ermordete Baby. Die Rajskoer Freundschaften entstanden folglich nicht nur darum, weil die Gefangenen, physisch wie psychisch, stark genug waren, um auf intensive Weise miteinander in Kontakt zu treten, sondern auch, weil es gerade die relative Erträglichkeit, die ‚Überlebbarkeit‘ von Rajsko war, die so vollkommen unerträglich war. Eine Mutter in ihrer Mitte zu wissen, die nach Ermordung ihres Kindes keine Mutter mehr war, sondern nur noch Funktionen als Chemikerin hatte, muss für die anderen Gefangenen ein wichtiger Grund gewesen sein, die Kraft zur Freundschaft aufzubringen. Wer, wie Eva Tichauer, die Vorgeschichte Sonias kannte, muss verstanden haben, dass Hilfe, die in Rajsko gewährt wurde, in Wirklichkeit eine Hilfe für das Zuvor darstellte. In Wirklichkeit wurde also nicht der epileptischen Chemikerin Sonia geholfen, sondern der Mutter, die auf der Rampe um ihr Kind gekämpft hatte, bevor sie der Übermacht der SS erlag. In gewisser Weise geht es also, wenn die anderen Frauen Sonia helfen, um eine Fortsetzung des Kampfes um das Kind. Dieses ist tot, doch indem die Mutter – im Wortsinn – vom Kollektiv der Frauen getragen wird, zeigt dieses, dass der Zusammenhang der inneren Blutungen und der Trauer der Mutter präsent gehalten wird. Für alle gilt, was Eva Tichauer für sich selbst feststellt: „Il est impossible de pleurer en barbarie.“251 („Es ist unmöglich, in der Barbarei zu weinen.“ [Übersetzung A.P.]) Und weil dem so ist, wird die andere getragen, die auch nicht weinen darf. Tichauer berichtet: Le bâtiment „Laboratoire“ est naturellement prêt avant le reste de notre camp „Raisko“. En conséquence nous partons tous les matins du Stabsgebäude, comme l’ensemble des commandos extérieurs, en rangs par cinq, Kapo en tête, encadrées par nos gardes SS et leurs chiens. Ils aiment bien nous entendre chanter le long du chemin. Hélène est notre boute-en-train. Je marche au
251 Ebd., S. 56.
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centre. Sonia est entre nous. Lorsqu’une crise d’épilepsie survient en route, nous l’empoignons solidement sous les aisselles et la traînons avec nous.252 Das Gebäude „Labor“ ist natürlich vor dem Rest unseres Lagers „Rajsko“ fertig. Daher brechen wir jeden Morgen vom Stabsgebäude aus auf, so wie sämtliche Außenkommandos, in Fünferreihen, den Kapo an der Spitze, eingerahmt von unseren SS-Wächtern und ihren Hunden. Sie hören uns auf dem Weg gern singen. Hélène ist unsere Stimmungskanone. Ich marschiere in der Mitte. Sonia ist mitten unter uns. Wenn plötzlich ein epileptischer Anfall auftritt, packen wir sie fest unter den Achseln und schleppen sie mit uns. [Übersetzung A.P.]
Die Beschränkung auf den Vornamen verbindet Eva Tichauers Darstellungsweise mit der von Charlotte Delbo. Sonia ist selbstverständlich nur Sonia, weil sie „mitten unter uns“ ist, als eine, die getragen werden muss. Was dieses Tragen bedeutet haben muss, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Rajsko zwar nur wenige Kilometer von Birkenau entfernt lag, diese Distanz jedoch täglich, bei jeder Witterung und mit schlechtestem Schuhwerk von den hungernden Frauen zurückgelegt werden musste. Trotz der Schwierigkeit, unter diesen Bedingungen Solidarität zu üben, scheint sich das Adverb, das Tichauer zur Beschreibung des Tragens benutzt, mit geradezu herrischer Notwendigkeit aufgedrängt zu haben: „solidement“, „solide“ oder auch „fest“. Der Griff ist „solide“, weil die Solidarität mit der verwaisten Mutter es sein soll. Man marschiert ordentlich, um sicherzustellen, dass der Ausbruch der Anfälle, der von Seiten Sonias diese Ordnung zu durchbrechen droht, nicht ins Blickfeld der Wachmannschaften gerät. Der Widerstand gegen das, was die nationalsozialistische ‚Ordnung‘ hervorbringt (nämlich die gewaltsame Trennung eines Babys von seiner Mutter), besteht in der Solidarität und Freundschaft von Frauen, die paradoxerweise alles tun, um die erwartete Ordnung aufrechtzuerhalten. Ihr Widerstand gegen die Ordnung ist ihre Aufrechterhaltung und ‚freiwillige‘, ‚selbstdisziplinierte‘ Herstellung. Dass aber die Ordnung eigentlich nur die Unordnung verbirgt, die in der Aufrechterhaltung von Solidarität mitten in der Gewalt besteht, entgeht der SS. Alle Frauen richten sich nach den Wünschen der SS, um auf diese Weise Sonia unbemerkt tragen zu können. Alors nous entonnons de préférence les deux chansons, qui mettent nos gardes de bonne humeur. Ils aiment entendre La Madelon et Kalinka. Marchant avec entrain, ils sont à cent lieues de nos angoisses. Et nous avons la chance que Sonia ne se morde pas la langue, et que la crise se termine toujours avant notre arrivée. Quand nous habiterons à Raisko il sera plus facile de la cacher au moment des crises.253 So stimmen wir am liebsten die zwei Lieder an, die unsere Wächter in gute Laune versetzen. Sie hören gern La Madelon und Kalinka. Während wir schwungvoll marschieren, sind sie hundert Meilen von unseren Ängsten entfernt. Und wir haben Glück, dass Sonia sich nicht in die Zunge beißt und die Krise stets vor unserer Ankunft beendet ist. Wenn wir in Raijso leben, wird es einfacher sein, sie während des Moments, in dem ihre Krise ausbricht, zu verstecken. [Übersetzung A.P.] 252 Ebd., S. 108; Hervorhebungen A.P. 253 Ebd.
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Das Bild, das Tichauer für das Verhältnis zwischen den Frauen auf der einen und den SS-Männern auf der anderen Seite findet, drückt aus, was auch für die Ordnung von Marsch und Gesang gilt: Die SS-Männer, die direkt neben den Frauen gehen, sind in Wirklichkeit weit weg von ihnen. Die gute Laune der Wachmannschaften steht im Kontrast zu den Ängsten, die diejenigen empfinden, die mit ihrem Gesang die gute Laune hervorbringen. Das, was die Schwestern Thévenin als „Glück“ bezeichnen, findet sich hier wieder: Ein „Glück“ ist es, von gut gelaunten Mördern bewacht zu werden, weil ihre gute Laune sie blind macht für die Ängste, die inzwischen die Frauen um ihre epileptische Freundin empfinden. Personal- als Freundschaftspolitik [D]ie ganz große Gemeinheit entsteht heutzutage nicht dadurch, dass man sie tut, sondern dadurch, dass man sie gewähren lässt. Sie wächst ins Leere.254
Dass die Solidarität, die im „soliden“ Griff der Freundinnen ihren Ausdruck fand, nicht allein eine punktuelle Entscheidung war, sondern vielmehr das Ergebnis einer regelrechten Widerstands- und Rettungspolitik, verdeutlicht das Interview, das die am 25. Juni 1942 deportierte Claudette Bloch-Kennedy, eine promovierte Chemikerin, in den 1990er Jahren der bereits erwähnten Überlebenden Lore Shelley gab. Bloch-Kennedy gehörte zum prestigreichen Centre national de la recherche (CNRS) und war zugleich Mitarbeiterin Prof. Prenants, der einen Lehrstuhl an der Sorbonne innehatte. Über die Vorgeschichte ihrer Solidaritätsaktionen berichtet sie: During the day we still worked at Rajsko, digging, carrying wooden trays of soil… until one day Caesar arrived with a microsope! He didn’t know what to do with it but had thought it would look good to have a scientific instrument. Such a familiar object filled me with contradictory feelings, but I had been in camp long enough not to be sentimental, and to think instead of what advantage could be gained from this new acquisition. To impress Caesar, I showed him a drop of dirty water under the microscope; placing his eye clumsily on the ocular he marveled at the sight of the corpuscles floating in the water. I explained then that we could find which koksaghyz plants were the richest in latex by making sections of the sterns, and then we could cultivate the seeds of these high-yielding plants and only those.255 Tagsüber arbeiteten wir noch immer in Rajsko, grabend, Erde auf Holzbrettern tragend… bis eines Tages Caesar mit einem Mikroskop ankam! Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte, dachte aber, dass es gut aussehen würden, solch ein wissenschaftliches Instrument zu haben. Dieser vertraute Gegenstand löste in mir widersprüchliche Gefühle aus, doch ich war lange genug im Lager gewesen, um nicht sentimental zu sein und statt dessen darüber nachzudenken,
254 Musil: Mann, S. 356. 255 Beitrag von Claudette Kennedy, in: Criminal Experiments on Human Beings in Auschwitz and War Research Laboratoiries. Twenty Women Prisoner’s Accounts, hg. von Lore Shelley, San Francisco 1991, S. 153-174, Zitat S. 162; künftig zitiert als: Kennedy: Laboratoiries.
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welche Vorteile aus dieser neuen Anschaffung gezogen werden könnten. Um Caesar zu beeindrucken, zeigte ich ihm unter dem Mikroskop einen Tropfen dreckigen Wassers. Indem er sein Auge ungeschickt gegen das Okular presste und den Anblick der kleinen Körper bewunderte, die im Wasser herumschwammen, erklärte ich ihm, dass wir herausfinden konnten, welche Kok-Saghys-Pflanzen den meisten Latex enthielten, und zwar indem wir Schnitte der Halme herstellten. Danach könnten wir die Samen der ergiebigsten Pflanzen kultivieren und nur diese. [Übersetzung A.P.]
Bloch-Kennedy, die in Auschwitz zur Nummer 7963 gemacht worden ist, erinnert hier daran, mit welchem Selbstbewusstsein sie aus der von den Nationalsozialisten zugewiesenen Rolle herausgetreten war, um wieder das zu werden, was sie war: eine hochqualifizierte Wissenschaftlerin. Sobald Joachim Caesar, der SS-Mann, ihre Fähigkeiten anzuerkennen begann, nutzte Bloch-Kennedy dies für sich und die anderen Gefangenen: Up till then we had simply been planting the specimens received from the Ukraine, and each successive generation was thinner and thinner, and poorer and poorer in latex. (No wonder… Ukrainian soil is basic and Silesian acid.) I said I would need a razor, glass microscope slides, and some elder pith. To my surprise, some of these requests were granted. The next day I was taken to „Canada“, the name given to the place where all possessions of the new arrivals were brought and sorted… […]. It was an extraordinary sight. Hardened as I was, I stood there stupefied, forgetting why I was there. After recovering my wits, I mentioned my request and was quickly provided with a razor. In front of all these riches of which we were utterly deprived, I should have liked to take something of everything, but I was warned that I would be searched at the gate and I had to be content with a piece of soap, which even by itself was a treasure!256 Bis dahin hatten wir einfach nur Proben angepflanzt, die wir aus der Ukraine erhalten hatten, und jede Pflanzengeneration, die auf die vorhergehende folgte, wurde schwächer und schwächer, und ärmer und ärmer an Latex. (Das war auch kein Wunder… Ukrainischer Boden ist basisch und schlesischer sauer.) Ich sagte, dass ich ein Rasiermesser, einen Mikroskop-Glasträger und etwas älteres Pflanzenmark brauchen würde. Zu meiner großen Überraschung wurde einigen dieser Wünsche stattgegeben. Am nächsten Tag wurde ich nach „Kanada“ gebracht. Das war der Name des Ortes, an den all die Besitztümer der Neuankömmliche gebracht wurden, um dort sortiert zu werden… […]. Es war ein außerordentlicher Anblick. So verhärtet, wie ich war, stand ich dort ganz verblüfft und vergaß den Grund meines Kommens. Nachdem ich meine Geistesgegenwart zurückgewonnen hatte, brachte ich mein Anliegen vor und wurde schnell mit einem Rasiermesser ausgestattet. Im Angesicht all dieser Reichtümer, die uns komplett vorenthalten wurden, hätte ich gern etwas von allem mitgenommen, doch man warnte mich, dass ich am Tor durchsucht werden würde. So musste ich mich damit zufrieden geben, ein Stück Seife einzustecken, das jedoch an sich schon einen wahren Schatz darstellte! [Übersetzung A.P.]
Die Erweiterung der zur Verfügung stehenden Werkzeuge und Objekte, die das Löwenzahnlabor schrittweise ‚professionalisierten‘, zielten jedoch nach übereinstimmendem Zeugnis mehrerer Überlebender keineswegs auf die Verbesserung der technischen Ausstattung und also der Forschung, sondern vielmehr auf die Möglichkeit, weitere Frauen aus Birkenau herauszuholen. Bloch-Kenndey nahm dabei insofern 256 Ebd.
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eine Schlüsselstellung ein, als sie von ihren Kenntnissen her ihrem ‚Chef‘ Caesar weit überlegen war und Einfluss auf dessen Pläne für das Züchtungslabor zu nehmen verstand. Dem Ziel, möglichst viele Frauen in den ‚Genuss‘ der besseren Lebensbedingungen von Rajsko zu bringen, arbeitete sie zu, indem sie so tat, als sei sie daran interessiert, den Kautschukertrag des Löwenzahns zu erhöhen. Die Verbesserungsvorschläge, die sie einbrachte und umsetzte, richteten sich in Wirklichkeit aber gar nicht auf diesen, sondern auf die Psychologie Caesars. On my return to Rajsko I proceeded to make a section of a tomato leaf. As stain, I used red ink, and to clarify the section I used the crystals of potassium chloride which served as disinfectant in the latrines. Some glass slides had been provided with the microscope, so I was able to show Caesar under the microscope a bit of tissue colored red in various parts. He was full of admiration and called the NCO in charge of the gardeners to admire this wonder. This won me a bit of respect from this gentlemen who until then looked on me with suspicion because I was not sufficiently submissive.257 Gleich im Anschluss an meine Rückkehr nach Rajsko ging ich daran, ein Tomatenblatt in Schichten zu zerlegen. Als Färbemittel nutzte ich rote Tinte, und um die Schnittpräparate aufzuhellen, griff ich auf Kaliumchloridkristalle zurück, die in den Latrinen für die Desinfektion verwendet wurden. Einige Glasplättchen waren mir zusammen mit dem Mikroskop zur Verfügung gestellt worden, so dass ich Caesar unter dem Mikroskop ein wenig Gewebe zeigen konnte, das an verschiedenen Stellen rot eingefärbt war. Er war voller Bewunderung und rief den Unteroffizier herbei, der die Gärtner beaufsichtigte, damit er dieses Wunder bestaune. Das verschaffte mir ein wenig Respekt von Seiten dieses Ehrenmannes, der mich bis dahin stets misstrauisch beäugt hatte, weil ich nicht unterwürfig genug war. [Übersetzung A.P.]
Danach setzte Bloch-Kennedys eigentliche ‚Personal-‘ bzw. ‚Freundschaftspolitik‘ ein: After this easy success my secret preoccupation became the finding of as many requirements as possible for gardeners or scientific specialists, for whom I invented special qualifications. It was not always easy and sometimes dangerous.258 Nach diesem leicht errungenen Sieg bestand mein geheimer Plan darin, einen so großen Bedarf für Gärtner und wissenschaftliche Spezialisten zu finden wie möglich. Für diese erfand ich besondere Qualifikationen. Es war nicht immer einfach und manchmal gefährlich. [Übersetzung A.P.]
Die Erfindung von Personalbedarf für das Löwenzahnlabor und die zu ihm gehörigen Felder zeigt, mit welchem Mut Bloch-Kennedy das Solidaritätsnetz nach Birkenau auszuweiten verstand. Die Sabotage, die von den Frauen in einem zweiten Schritt in Gang gesetzt wurde, zeichnete sich hier bereits ab. Schon die Erfindung von Qualifikationen, um die Lebensbedingungen von Häftlingen und nicht etwa die des Löwenzahns verbessern, stellte einen Akt verborgenen Widerstands dar. Aus der 257 Ebd., S. 162-163. 258 Ebd., S. 163; Hervorhebung A.P.
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Perspektive der Nationalsozialisten betrachtet, waren funktionierende Freundschaften ein Akt der Sabotage. Denn Herrschaft in den Konzentrationslagern beruhte auf der Atomisierung der Gefangenen und der systematischen Verhinderung gegenseitiger Hilfeleistung. Marie-Elisa Nordmann, die wir bereits kennen gelernt haben, gehört zu den Frauen, die Claudette Bloch-Kennedy ihr Überleben verdanken. Delbo betont eigens, dass sie „grâce à Claudette Bloch“, also dank ihres Eingreifens, in Rajsko aufgenommen worden sei.259 Auch Simone Floersheim (geborene Franck) betrachtet sie als die Mitgefangene, die ihr das Leben gerettet hat. Floersheim-Francks Erinnerungen an Kennedy-Bloch zeugen von tiefer Zuneigung: She was only ten years older than I. But the trials she had endured, and which I had escaped except for the last six months, gave her maturity, wereas I, in spite of my 23 years, still remained a little girl. She had an instantaneous affection for me which I returned, attempting to replace the mother whom I had recently lost. She interrogated me as to my itinerary, posing profound questions and pondering a lot.260 Sie war nur zehn Jahre älter als ich. Doch die schweren Prüfungen, die sie durchgemacht hatte und denen ich selbst, abgesehen von den letzten sechs Monaten, entgangen war, gaben ihr Reife, während ich trotz meiner dreiundzwanzig Jahre noch immer ein kleines Mädchen war. Sie schloss mich spontan ins Herz, was ich erwiderte. Sie versuchte, mir die Mutter zu ersetzen, die ich erst kurz zuvor verloren hatte. Sie befragte mich nach meinem Werdegang, indem sie mir tiefsinnige Fragen stellte und viel nachdachte. [Übersetzung A.P.]
Obwohl Delbos Convoi-Buch allein den Frauen gilt, die am 24. Januar 1943 deportiert wurden, widmet die Autorin der Mitgefangenen Claudette Bloch-Kennedy, die nicht zu diesem Transport gehört hatte, einen bewundernden Abschnitt. Delbos Respekt für sie ist kein Zufall. Bloch-Kennedy gewann für viele Frauen, die nach ihr in Auschwitz eintrafen, eine derart große Bedeutung, dass ihr Name gleichsam zum Zentrum des Solidaritätsnetzes von Rajsko wurde. Das, was Simone Floersheim-Franck mit dem Hinweis auf Kennedy-Blochs Reife andeutet, war bereits an ihrer Tätowierung abzulesen: „7963“ stellte eine extrem ‚kleine‘ Nummer dar. Die anderen Frauen verstanden diese zu lesen. Delbo schreibt: „[N]ous lui avons dit: ‚Claudette, tu relèves de l’archéologie‘.“261 („Wir haben zu ihr gesagt: ‚Claudette, du bist ein Stück Archäologie.‘“ [Übersetzung A.P.]) Die Autorität und Verantwortung, die Bloch-Kennedy aufgrund ihrer langen Leidensgeschichte zuwuchs, erklärte sich also daraus, dass sie, unabhängig von ihrem wirklichen Alter, eine der ältesten, wenn nicht gar die älteste Gefangene überhaupt war. „Elle est sans doute la seule rescapée d’Auschwitz qui ait un tatouage à quatre chiffres.“262, vermutet Delbo. („Sie ist zweifelsohne die einzige Auschwitz-Überlebende, die eine Tätowierung mit vier Ziffern hat.“ [Übersetzung 259 Delbo: Convoi, S. 213. 260 Beitrag von Simone Floersheim, in: Criminal Experiments on Human Beings in Auschwitz and War Research Laboratoiries. Twenty Women Prisoner’s Accounts, hg. von Lore Shelley, San Francisco 1991 S. 185-203, Zitat S. 194-195; künftig zitiert als: Floersheim: Experiments. 261 Delbo: Convoi, S. 213. 262 Ebd.
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A.P.]) Ihr Mann war vor ihrem Eintreffen in Auschwitz ums Leben gekommen. „Il était l’un des mille savants, artistes, intellectuels juifs arrêtés le 13 décembre 1941, déportés de Compiègne le 27 mars 1942.“263 („Er war einer der tausend jüdischen Gelehrten, Künstler, Intellektuellen, die am 13. Dezember 1941 verhaftet und am 27. März 1942 von Compiègne aus deportiert worden waren.“ [Übersetzung A.P.]) Kennedy-Bloch erschien also darum als Ausnahmegestalt, weil sie trotz ihrer eigenen Verluste die Kraft aufbrachte, anderen systematisch zu helfen. Simone FloersheimFranck drückt ihre Dankbarkeit aus, indem sie alles, was über die Rajskoer Arbeit im einzelnen zu berichten sei, zur Domäne ihrer Retterin und anderer, wirklich qualifizierter Frauen erklärt. Sie selbst, die offenbar Inhaberin einer der von Bloch-Kennedy „erfundenen“ Posten war, beschränkt sich darauf, die schwierige Position zu beleuchten, die ihre Freundin in Rajsko hatte. I am not going to talk much about Rajsko, about the work we were supposed to do, but did not. The real scientists will do this better. They had explained the work in Rajsko superficially to me, about the research of dandelion roots which should furnish latex for the caoutchouc the Germans needed very badly toward the end of the war. I was not impassioned by the scientific aspect of the problem and did not want through assiduous and diligent work to prolong, even for a few minutes, this infamous war. How much trouble we caused Claudette, who was responsible for our work, or rather our non-work, and had to listen to often well-deserved reproaches.264 Ich werde nicht viel über Rajsko erzählen, über die Arbeit, die wir hätten erledigen sollen und in Wirklichkeit nicht erledigten. Die echten Wissenschaftlerinnen können besser davon berichten. Sie hatten mir die Arbeit in Rajsko oberflächlich erklärt, nämlich die Forschung über Löwenzahnwurzeln, die den Latex für den Kautschuk liefern sollten, den die Deutschen gegen Ende des Krieges so dringend benötigten. Ich war vom wissenschaftlichen Aspekt des Problems keineswegs begeistert und wollte durch gewissenhafte und emsige Arbeit diesen berüchtigten Krieg nicht verlängern, auch nicht um wenige Minuten. Wie viel Sorgen haben wir Claudette bereitet, die für unsere Arbeit bzw. genauer: unsere Nicht-Arbeit verantwortlich war, und wie oft mussten wir uns ihre berechtigten Vorwürfe anhören. [Übersetzung A.P.]
Bloch-Kennedy zeichnete aufgrund ihrer Funktion als Leiterin des Programms zur Löwenzahnzucht verantwortlich für den wissenschaftlich-ökonomischen Ertrag, war also direkter von der Kontrolle der SS-Männer betroffen als die wenig (oder nur scheinbar) qualifizierten Mitgefangenen. Die Schwierigkeit ihrer Situation bestand darin, dass sie zwar systematisch Freundschaftspolitik (und also Widerstand) betreiben konnte, auf der anderen Seite jedoch sicherstellen musste, dass der Handlungsspielraum, den sie sich mit taktischem Geschick erkämpft hatte, durch den Anschein von Wohlverhalten (der an den aus dem Löwenzahn gewonnenen Kautschukerträgen und wissenschaftlichen Neuentdeckungen abzulesen war) geschützt wurde. Unterwerfung und Autonomie bedingten einander gegenseitig, und Kennedy-Blochs sah sich vor der Notwendigkeit, beide ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen. Die Selbstkritik, die Floersheim-Franck an sich übt, bezieht sich darauf, dieses Problem der Balance in Rajsko nicht hinreichend reflektiert zu haben. 263 Ebd. 264 Floersheim: Experiments, S. 194-195.
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Insgesamt ist festzuhalten, dass die Vergrößerung des Pflanzenzuchtkommandos ihrerseits zu einer Vergrößerung des Solidar- und Freundschaftsverbandes von Rajsko führte, und zwar über die Grenze des nationalen Zugehörigkeit, ja sogar über die Grenze dieses Außenlagers hinaus. Die Stärke der Frauen, die darin zum Ausdruck kam, ist jedoch keineswegs als Verteidigung des eichschen Löwenzahns misszuverstehen. Die Vernichtung blieb die Regel. Der Einzelnen gelang es nur in wenigen Ausnahmefällen, dem Tötungsapparat zu entkommen. Die meisten wurden von seiner „unmenschlichen Kraft zermahlen“.265
„DAS ROLLEN DER RÄDER BESCHLEUNIGT SICH“ Wem trinken wir Träume noch zu, als dem langsamen Rad?266
Nachdem uns ein zweiter Exkurs in die Geschichte des Löwenzahns hineingeführt hat, möchte ich jetzt das Ende des ersten Traumes analysieren und sodann zu dem Zwischentext überleiten, der den ersten mit dem zweiten Traum verbindet. Wie wir gesehen hatten, nimmt Günter Eich die Deportation in die Gegenwart hinein. Die Gespräche, die sich zwischen seinen Figuren entspinnen, finden im Hier und Jetzt der Radiosendung statt. Zwar wird dem Traum ein Datum zugeordnet, doch das bedeutet nicht, dass der Traum einer Zeit angehörte, die verflossen ist. Im Gegenteil soll er etwas aussagen über die Gegenwart in ihrer Auseinandersetzung mit einem Ereignis, das, um eine Formulierung von Ernst Nolte in einen angemessenen Kontext zu überführen, nicht „vergehen will“.267 Das Andauern des Transports von Menschen, die vollkommen unschuldig sind, nimmt sich aus wie die Aufforderung, einzuschreiten. Das Ziel der Deportation ist noch nicht erreicht. Es besteht noch die Möglichkeit, am Gang der Dinge etwas zu ändern. Vierzig Jahre sind vergangen, doch jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um zu verhindern, dass sich die Unmenschlichkeit, derer die Deportierten plötzlich inne werden, hin zum Mord steigert. Und doch passiert, was, von irgendwoher gelenkt, passieren sollte.
265 Weiss: „Auschwitz“, S. 86. 266 Celan: Mohn, S. 125. 267 Ernst Nolte: „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juni 1986; vgl. auf der Internetseite, die den Titel „100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ trägt: http://www.1000dokumente.de/index.html/index.html?c=dokument_de&dokument=0080 _nol&object=context&l=de; abgerufen am 16.1.2016.
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URALTE Der Gedanke an die gelben Blumen macht mich frösteln. URALTER An was können wir jetzt noch denken? URALTE Die Erinnerungen machen mir Angst. ENKEL Sei still! Merkt ihr nichts? Pause FRAU Was? Das Kind fängt an zu weinen.268
Das Weinen des Kindes nimmt die Klimax der Bedrohung vorweg. Diese bleibt bis zum Ende unbestimmt, wird allein erfahrbar auf der Ebene der Geräusche. Die Regieanweisung, in der es zu Anfang geheißen hatte „Ein langsam fahrender Zug“, tritt jetzt in ihrer ganzen Bedeutung hervor. URALTE Was hast Du, Frieda? ENKEL Merkt ihr es nicht? Etwas hat sich verändert. URALTER Ja, die Welt draußen. ENKEL Nein, hier bei uns. Pause, während der man deutlich das Rollen der Räder hört. FRAU Warum hast du geweint, mein Kind? KIND Ich weiß nicht. ENKEL Etwas hat sich verändert. Das Kind hat es gemerkt. URALTE Ich weiß, was es ist. Spürt ihr es nicht? FRAU flüsternd: Wir fahren schneller. URALTE Ja, wir fahren schneller. Pause Das Rollen der Räder beschleunigt sich etwas.269
Es ist, als reagiere der Zug auf die Gespräche der Menschen, die sich von der Dunkelheit ab- und dem Lichtstrahl zugewendet haben. Die Maschine hat Bewusstsein, scheint den Rückbezug auf die Vergangenheit als Bedrohung wahrzunehmen. Eich unternimmt augenscheinlich den Versuch, komplexe, bürokratische Vorgänge, die die Deportationen vorzubereiten halfen, in eine akustisch wahrnehmbare Atmosphäre – einen tragischen Grundakkord – zu übersetzen. Dass dieser eine Zug schneller fährt, scheint als Metapher für den Umstand zu dienen, dass die gesamten, mit den Deportationen befassten Ämter an Effizienz gewannen. Die Züge rollten schneller, weil die Vernichtung ins Rollen gekommen war. Die Räder des Zuges beschleunigten sich, weil die Räder der Bürokratie besser ineinander griffen. Mitunter lief alles wie geschmiert – und zwar sowohl auf der abstrakt-planerischen Ebene der Verwaltung wie auf der konkreten, in der Züge dem „nastro vertiginoso dei binari“, dem „schwindelerregenden Band der Gleise“ folgten.270
268 Eich: Träume, S. 357. 269 Ebd. 270 Levi: Tregua, S. 219.
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Abb. 12: Juden beim Einstieg in einen Deportationszug, 1942271
Die Figuren des Hörspiels beginnen folglich, darüber zu spekulieren, was das Geräusch der Beschleunigung zu bedeuten habe. URALTER Was kann das bedeuten? FRAU Ich weiß nicht was, aber bestimmt nichts Gutes. URALTER Ihr müsst herausfinden, ob die Geschwindigkeit nun so bleibt. ENKEL Oder? URALTER Oder ob sie noch größer wird. URALTE Horcht! Pause Das Rollen der Räder beschleunigt sich weiter. URALTER flüsternd: Es wird immer schneller. FRAU Ja, es wird immer schneller. Das Rollen der Räder beschleunigt sich und wird lauter. URALTER Ich glaube, es geschieht ein Unglück. Hilft uns denn niemand? ENKEL Wer? Das Zuggeräusch schwillt zu höchster Lautstärke an, entfernt sich dann in großer Geschwindigkeit und verklingt immer ferner.272
Das „Verklingen“ der Zuggeräusche bedeutet, dass keine Möglichkeit mehr zum Eingreifen besteht. Der Schrei des Uralten „Hilft uns denn niemand?“ ist ein Schrei im Jetzt, wendet sich direkt an diejenigen, die das Hörspiel hören. Das Medium des Radios aber bringt es mit sich, dass keine Antwort erfolgen kann. Das Hörspiel geht seinen Gang, der Zug folgt unbeirrt seinem Weg. Und weil die Hörerschaft, obwohl 271 Quelle: Ort: Zilin, Slovakia; Archiv: Yad Vashem Photo Archive; Ort: Zilina, Tschechoslowakei; Archivnummer: 81EO5. 272 Eich: Träume, S. 367-358.
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Adressat des Hilfeschreis, nichts tun kann, muss sie umso stärker empfinden, dass die Antwort, die der Enkel dem Uralten erteilt, entschieden nach Widerspruch verlangt. Rhetorisch gesehen ist die Frage „Wer?“ keine Frage, sondern eine Feststellung: Im Angesichts des Unglücks, das den im Zug Gefangenen droht, kann die Antwort nur „Niemand“ lauten: Es ist keine Hilfe zu erwarten. Weil aber die „höchste Lautstärke“ als Ausdruck höchster Geschwindigkeit und damit höchster Gefahr die Hörerschaft auf geradezu physische Weise in das Geschehen hineinzieht273, enthält das Hörspiel dann doch die Aufforderung, einzugreifen. Die Schutzlosigkeit und Verzweiflung der Figuren kommen einer Handlungsanweisung gleich. Das Medium Radio reicht über sich selbst hinaus. Eichs Text versteht sich als engagierter. Die Botschaft, die auf der Ebene der Figuren vermittelt wird, erfährt Verstärkung und Objektivierung durch die Stimme eines Sprechers, der sich, sobald der Zug verschwunden ist, zu Wort meldet. Er führt die verzweifelte Frage, die auf keine Antwort mehr hofft, fort, indem er sich mit direkten Handlungsanweisungen an die Hörerschaft wendet. Denke daran, dass der Mensch des Menschen Feind ist Und dass er sinnt auf Vernichtung.274
Die vierzig Jahre sind abgeschlossen: Der Zug hat den Raum dessen, was noch bezeugt werden kann, verlassen. Das, was als Katastrophe vorausgeahnt wurde, ist eingetreten. Der Sprecher kann jetzt nur noch in Verallgemeinerungen Stellung zu dem beziehen, was soeben geschehen ist. Die Menschen, deren Verzweiflung sich im Zug derartig gesteigert hatte, dass die Hörerschaft mit ihnen fühlen musste, sind verschwunden. Der Sprecher zieht die Konsequenz aus der Tatsache, dass die Hörerschaft den Zug nicht aufgehalten hat. Er erteilt Warnungen, und zwar ebenso im Blick auf die Gegenwart wie auf die Zukunft. Die Erkenntnis „homine hominem lupus“ bleibt aktuell. Das Präsens wird gebraucht („er sinnt auf Vernichtung“), doch dieses Präsens hat zugleich einen futurischen Index.
273 Auch im akustischen Bereich gilt ganz allgemein: „Plötzliche Veränderungen […] ziehen unwillkürliche Aufmerksamkeit auf sich.“ Das gilt hier für den unerwarteten Umschlag, der sich in Bezug auf die Schnelligkeit und damit den Klang des Zuges ergibt. Vgl. Barbara Flückiger: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg 2001, S. 86; künftig zitiert als: Flückiger: Sound Design. 274 Eich: Träume, S. 358.
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ORTE AM RANDE DER VERNICHTUNG [D]ie Entfernung eines Täters von dem, der das Opfer faktisch getötet hat, oder seine Nähe zu ihm, hat als Maß für seine Verantwortung keine Bedeutung. Ganz im Gegenteil nimmt diese Verantwortung im allgemeinen zu, je weiter wir uns von demjenigen entfernen, der das tödliche Werkzeug mit seinen eigenen Händen benutzt hat.275
Ein Ergebnis der bisherigen Analyse bestand darin, dass der erste Traum das NichtVergehen von Zeit in Szene zu setzen versucht. Doch die Zeit kommt in dem Maße wieder in Bewegung, in dem die Katastrophe ihrem Höhepunkt zustrebt. Der Zug bewegt sich schneller und schneller. „Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt“276, könnte man mit Robert Musil sagen. Im Hörspiel zeigt sich aber, dass diese Bewegung des Rollens nicht von Dauer ist. Das, was kein Ende nehmen zu können schien, endet schließlich doch: Der Zug bewegt sich, doch indem er sich bewegt, entzieht er sich zugleich jedem Zugriff, vollendet, zeugenlos, was nun niemand mehr aufhalten kann. Und mit diesem Ende des Traumes, der so etwas wie das Ende einer unlösbaren Situation (also eine ‚Endlösung‘?) impliziert, steht die Hörerschaft mit einem Male vor der Frage, welche Konsequenzen sie aus dieser ihrer Schuld zu ziehen habe, die eben darin besteht, nicht eingegriffen zu haben. Der mehrfach wiederholte Imperativ, mit dem sich die Stimme des Sprechers zu Wort meldet („Denke daran“, „denke daran“), vermittelt den Eindruck, dass von Eich vehement die Forderung vertreten wird, aus der unterlassenen Hilfeleistung in der Vergangenheit eine aktive Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Als Leserschaft ist man also gehalten, nach dem tödlichen Abschluss des ersten Traums einen Sprung in eine neue Zeit mit zu machen. Folglich soll es bei mir im Folgenden um das Ineinander von Shoah und Nachkrieg gehen. Der Nachkrieg war dabei in gewisser Weise gleich ein neuer Krieg: der Kalte nämlich. Die Frage wird lauten, auf welche Weise Eich die Geschichte der Deportation mit diesem vernetzt. Bedenkt man den historischen Kontext, in dem das Hörspiel entstand – die Erstsendung datiert aus dem Jahre 1951 –, dann muss das, was der Sprecher abschließend sagt, in Bezug zur drohenden Gefahr eines Atomkrieges gesetzt werden. Nachdem die Stimme des Sprechers, die sich abschließend zu Wort meldet, Bilder von Menschen in der Natur aufgerufen und zugleich unterstrichen hat, dass der Mahnung „denke daran“ auch in den unschuldigen Momenten alltäglichen Glücks Rechnung getragen werden müsse, tauchen plötzlich genaue Ortsnamen auf:
275 Aus dem Urteil gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, zitiert nach: Hans Magnus Enzensberger: Reflexionen vor einem Glaskasten, in: ders.: Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt/M. 1964, S. 7-40, Zitat S. 35; künftig zitiert als: Enzensberger: Glaskasten. 276 Musil: Mann S. 445.
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Denke daran: Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, aber in deinem Herzen. Denke daran, dass du schuld bist an allem Entsetzlichen, das sich fern von dir abspielt –277
Mit Korea und Bikini aktualisiert sich die Bedeutung des Wortes „Vernichtung“.278 „Vernichtung“, das ist nicht nur, was das „konzentrationäre Universum“ als Ziel verfolgte, sondern auch das, was die Stimme des Sprechers als Bedrohung für die ganze Welt wahrnimmt: Während du den Wein schmeckst in den Kellern von Randersacker oder Orangen pflückst in den Gärten von Alicante, während du einschläfst im Hotel Miramar nahe dem Strand von Taormina, oder am Allerseelentage eine Kerze entzündest auf dem Friedhof von Feuchtwangen, während du als Fischer das Netz aufholst über der Doggerbank, oder in Detroit eine Schraube vom Fließband nimmst, während du Pflanzen setzt in den Reis-Terrassen von Szetschuan, auf dem Maultier über die Anden reitest, – denke daran!279
Die Namen von acht Orten fallen, die sich quer über die Welt (genauer: über Europa, Asien, Nord- und Südamerika) verteilen. Mehrere Orte umreißen (mehr oder weniger vage) den Platz, an dem bestimmte Arbeitsprozesse vor sich gehen (die „Gärten von Alicante“, die „Doggerbank“, mit der eine als Fischfanggebiet bekannte Untiefe in der Nordsee gemeint ist, eine Fabrik in „Detroit“, Reis-Terrassen in China). Ein anderer Ort gilt als touristische Sehenswürdigkeit („Taormina“), wieder ein anderer führt in die deutsche Literaturgeschichte hinein: Szetschuan ist nicht nur ein realer, sondern auch und vor allen Dingen der Ort des brechtschen Theaterstücks, das in Form einer Parabel die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen thematisiert. Der Eindruck, dass die Verhältnisse in Deutschland von anderen Gegenden der Erde gespiegelt werden sollen (so wie dies auch der Fall in Brechts Szetschuan ist), wird verstärkt durch eine überproportional häufige Nennung deutscher Ortsnamen: Randersacker und Feuchtwangen sind Städtchen im unterfränkischen Landkreis Würzburg bzw. im mittelfränkischen Landkreis Ansbach, die bereits erwähnte Sandbank gilt als eine der Grenzen der großen Deutschen Bucht. Die beiden Kleinstädte sind nicht tou-
277 Eich: Träume, S. 358-359. 278 Diese Wahrnehmung teilt auch Thomas Mann. Vgl. den Tagebucheintrag vom 29.6.1946, in dem es heißt: „Grauen vor den Veranstaltungen zu den frevelhaften Bikini-Atom-Experimenten. Ein furchtbares Exempel soll statuiert werden. Man wird die Explosion der Bombe broadcasten.“ Ders.: Tagebücher 28.5.1946-31.12.1948, hg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1989, S. 15; hier zitiert nach: Helga Raulff: Strahlungen. Atom und Literatur, Marbacher Magazin 123/124, Marbach 2008, S. 48; künftig zitiert als: Raulff: Strahlungen. 279 Eich: Träume, S. 358, Hervorhebung der Ortsnamen von A.P.
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ristische, sondern alltägliche Orte. Der Name „Randersacker“ ruft seinerseits Assoziationen des Ländlichen wach: Befindet man sich am Rande eines Ackers? In der Tat ist die kleine Ortschaft bis heute bekannt für ihren Weinanbau. Der Keller, von dem im Hörspiel die Rede ist, könnte sich auf die Deusterkeller beziehen, „ein ausgedehntes System von Kellergewölben“, das im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker genutzt wurde.280 Das Fest Allerseelen, das von Eich in Bezug auf den Friedhof der Gemeinde Feuchtwangen erwähnt wird, „steht theologisch in enger Verbindung mit der Lehre vom Fegefeuer (Reinigungsort, Purgatorium) als Ort der Läuterung der Verstorbenen […].“281 Es handelt sich um einen Tag, an dem bis heute das Gedenken an die Kriegsgefallenen einen zentralen Platz einnimmt. Der Friedhof von Feuchtwangen ist ansonsten aber keiner, der historisch besonders bemerkenswert wäre. Vielmehr gewinnt man bei der Durchsicht der von Eich ausgewählten Namen den Eindruck, dass es dem Autor um den Aspekt der Alltäglichkeit dieser Orte geht. Jeder also soll sich angesprochen fühlen, auch wenn er – wie in Randersacker – sich am Rande des Geschehens, der großen historischen Entwicklungen glaubt. Es gibt gleichsam keine Ränder, sondern alle sind unterschiedslos in die Mahnung „Denke daran!“ einbezogen. Denkbar nämlich ist geworden, dass „Bikinipilze am Rhein“282 wachsen könnten. Eich mahnt, darin wie Günther Anders einen Appell an seine Leser- bzw. Hörerschaft richtend, alle stünden gleichermaßen am Rande der Vernichtung. Wenn es heute überhaupt noch etwas Exotisches gibt, dann allein unsere Vorzeit: Die nicht mehr erreichbare Küste des vor-atomaren Zeitalters, die ist wirklich exotisch geworden. Wir aber: jedes Individuum und jedes Land, leben als Raum- und Zeitgenossen in der mörderischsten Nachbarschaft jedes anderen Individuums und jedes anderen Landes; und jeder morgige Tag lebt in der mörderischsten Nachbarschaft jedes jeweils heutigen Tages.283
Günther Anders ist denn auch der Überzeugung, das Wort „Landschaft“ greife nicht mehr – nur noch das Wort „Erdschaft“.284 Dafür gebe es zwei Gründe: 1. „Da der Effekt der ‚Waffen‘, also der angeblichen ‚Mittel‘, jedes mögliche Ziel auslöschen würde, gibt es kein Ziel, das du als Rechtfertigungsgrund für den Einsatz von Atomwaffen, einschließlich jener Einsätze, die du ‚tests‘ nennst, darstellen oder propagieren darfst.“ Oder: 2. „Da die Effekte deiner Handlung (wieder einschließlich der ‚tests‘), wo immer und wann immer du sie durchführst, jeden erreichen, schädigen oder vernichten könnten, wo immer und wann immer er leben mag, hast du jeden (nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich) „Fernsten“ als deinen Nachbarn anzusehen und zu behandeln.“285 280 Vgl.: http://burgruinen.blogspot.com/2011/06/das-deusterschloss-in-kitzingen-und-was. html; abgerufen am 12. Dezember 2013. 281 Vgl. den Wikipedia-Eintrag zum Stichwort „Allerseelen“, abgerufen am 12. Dezember 2013. 282 Im Spiegel vom 15.9.1949, in den Leserbriefspalten derselben Zeitschrift vom 13.10.1949 sowie wie in der Süddeutsche Zeitung vom 21.9.1949 („Atombombe auf Bonn“) erscheint die Idee von „Bikini am Rhein“ jedoch als Symbol der kommunistischen Bedrohung. 283 Anders: Mann, S. 18. 284 Ebd., S. 7. 285 Ebd., S. 26-27.
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Bei Eich wird die Hörerschaft durch die abschließende Erwähnung von „Korea und Bikini“ eindeutig auf Zentren der Bedrohung durch ein atomares Inferno verwiesen: Sie stehen nicht nur am Rande der Vernichtung, sondern sie sind deren Orte.286 Der Koreakrieg begann 1950, begleitete also Eichs Arbeitsprozess an diesem Hörspiel.287 Die Gefahr, dass die amerikanische Regierung unter dem Einfluss des US-amerikanische Generals McArthur Atombomben gegen China zum Einsatz kommen könnten, war real. Vorschlägen, die in diese Richtung gingen, wurde zwar nicht stattgegeben, doch führte der Krieg, der als Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Supermächten in Erscheinung trat, zu einer Verfestigung der Fronten des Kalten Krieges. Brachte die sowjetische Atombombe vom Spätsommer 1949 den Amerikanern das Ende ihres Monopols schockartig zu Bewusstsein, so führte der Korea-Krieg kurze Zeit später endgültig zu der Erkenntnis, dass die vorhandenen Atomwaffen weder Kriege verhindern konnten noch von Wert für die direkte Verteidigung waren. Amerikas bisherige Strategie der „Atomic Air Retaliation“ als Balance zur konventionellen Stärke der Sowjetunion musste nach der russischen Atomexplosion neu überdacht werden.288
An den Konsequenzen in Korea – nicht zuletzt für die Zivilbevölkerung – änderte diese Konstellation der einstweiligen ‚Machtbalance‘ nichts: So schleppte sich der „begrenzte“ Krieg in Korea trotz vielfacher Gelegenheiten zum Friedensschluss über zweieinhalb Jahre fort, ohne dass noch objektiv gesagt werden konnte, mit welcher Zielsetzung er eigentlich geführt wurde. Erst am 26. Juli 1953 wurde der Waffen-
286 Eine ähnliche Kritik trägt Jürgen Joachimsthaler vor: „Merkwürdig ist nur, dass mit Korea und Bikini Orte genannt werden, die eher mit US-amerikanischen Kriegen und Verbrechen in Verbindung zu setzen sind als mit der damals jüngsten deutschen Vergangenheit. Außerdem werden diese Orte auch noch entkonkretisiert zu einer Art psychisch-moralischer Symbole, die im ‚Herzen‘ des Hörers, also wohl in jedem Menschen gleichermaßen als dessen Mitschuld ‚an allem Entsetzlichen‘ verankert seien, ‚das sich fern von dir abspielt‘. Eine merkwürdige Art von Schuldverständnis, das die ironische Wendung, ‚dass nach den großen Zerstörungen / jedermann beweisen wird, dass er unschuldig war‘ dadurch unterläuft, dass Schuld nicht mehr als individuelle zu behandeln ist, sondern als unausweichliches Gattungsschicksal […].“ Jürgen Joachimsthaler: „Eich im bundesrepublikanischen Kontext“, in: Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991, hg. von Marek Zybura: Dresden 2002, S. 255-286, Zitat S. 265-266. 287 „Im gleichen Maße, wie der Koreakrieg als Katalysator des Kalten Krieges wirkte, war er zunächst einmal selbst ein Produkt des Kalten Krieges. So, wie er sich abspielte, hatte ihn keiner der Beteiligten gewollt, und ohne den allgemeinen Spannungszustand, in dem sich Ost und West bereits befanden, bliebe sein Verlauf völlig unverständlich.“ Wilfried Lohe: Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955, München 2002, S. 266; künftig zitiert als: Lohe: Teilung. 288 Ilona Stölken-Fitschen: Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995, S. 65; künftig zitiert als: Stölken-Fitschen: Atombombe.
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stillstand unterzeichnet – unter Bedingungen, die den Status quo ante nur minimal zugunsten Rhees [des Präsidenten Südkoreas; A.P.] verbesserten.289
Was das Bikini-Atoll anbelangt, so wurde es bereits im Jahre 1946 als Testgebiet für Versuche mit Kernwaffen benutzt. Weitere Versuche fanden statt, nachdem Eich sein Hörspiel abgeschlossen hatte. Aber allein schon die Tests des Jahres 1946 reichten aus, um die Inselgruppe zum Symbol für die Möglichkeit der Zerstörung von Fauna, Flora und Mensch im globalen Maßstab zu machen. Die wissenschaftliche Erprobung der neuen Waffe und ihres beispiellosen Zerstörungspotentials verwies außerdem zurück auf das Schicksal der japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, deren Bevölkerung im August 1945 zu Opfern des ersten Kriegseinsatzes von Atombomben geworden war. Die Angelpunkte, an denen Eich seinen Text in dessen zeithistorischem Kontext fixiert, sind also alles andere als vage. Die Liste von gleichsam wahllosen-gewählten Orten (von Randersacker bis zu den Anden) entsprach der Botschaft, alle sollten „daran denken“. Hier blieb der Text noch im Allgemeinen. Die Namen Korea und Bikini aber stehen für etwas Konkretes: die Angst vor dem atomaren Tod, der sich als tatsächlich umsetzbar erwiesen hatte – und sich erneut als umsetzbar erweisen konnte: Auf die Deutschen wirkte der Krieg in dem geteilten ostasiatischen Land wie das Vorspiel zu einem Dritten Weltkrieg. Die Parallelität war evident: Konnte nicht Deutschland schon morgen „ein zweites Korea“ (H.-P. Schwarz) sein?290
Der Rheinische Merkur schrieb am 1.7.1950, in die gleiche Richtung weisend: Noch scheinen wir nicht betroffen zu sein […]. Aber ein dumpfes Gefühl bedrückt uns: das Furchtbare ist uns plötzlich wieder näher gerückt, und der Funke von Korea kann zu einer Explosion führen, die eine entsetzliche Kettenreaktion auslöst. Denn mitten durch Korea geht die Trennungslinie zwischen dem Terror und der Freiheit, zwischen dem Bolschewismus und dem Westen – wie bei uns in Deutschland. Wir sind nur eine andere Stelle der gleichen Front.291 289 Lohe: Teilung, S. 272. – In Bezug auf die psychologische Situation in Deutschland schreibt Stölken-Fitschen: „Radiostationen unterbrachen ihre laufenden Sendungen, um ihren Hörern zu verkünden, Truman habe den Abwurf der Atombombe in Korea oder der Mandschurei genehmigt.“ Stölken-Fitschen: Atombombe, S. 77; mit Bezug auf: Neue Züricher Zeitung vom 2.12.1950 („Eine Falschmeldung der amerikanischen Presse – Korrespondentenbericht aus Washington“). – „Für Aufregung hatte ja gerade die unzutreffende Bemerkung Trumans gesorgt, dass der militärische Oberbefehlshaber über den Einsatz der Waffen zu entscheiden habe. Angesichts des eigenmächtigen Vorgehens Mac Arthurs in Korea und seiner markigen Forderungen nach einem Einsatz von Atombomben auf China schien die Erregung nur allzu berechtigt. Das Weiße Haus dementierte aber sofort und stellte klar, dass nur der Präsident den Einsatz der Atombombe zu verfügen hätte.“ Ebd.; mit Bezug auf: Die Welt vom 6.12.1950 {„Die Sache mit der Atombombe“}). 290 Stölken-Fitschen: Atombombe, S. 75; mit Bezug auf: Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957, Stuttgart, Wiesbaden 1981, S. 104. 291 Zitiert nach: Stölken-Fitschen: Atombombe, S. 76; mit Bezug auf: Rheinischer Merkur vom 1.7.1950 („Machtprobe in Ostasien“). – Ähnliche Aussagen finden sich in: Christ und Welt vom 20.7.1950 („Kommt der Krieg nach Deutschland?“).
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Das Verhalten der (West-)Deutschen zeigte, wie dieses Gefühl, „an der gleichen Front“ zu stehen, ein allgemeines war: Die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs auf deutschem Boden führte zu panischen Hamsterkäufen, und aus dem Gefühl der Bedrohung heraus zu einem stärkeren Verlangen nach Sicherheit, das freilich keineswegs, wie die spätere „Ohne-Mich-Bewegung“ der gegen die „Wieder“aufrüstung Protestierenden noch verdeutlichen sollte, eine allgemeine Verteidigungsbereitschaft des deutschen Volkes umfasste.292
Es ist wichtig, diesen historischen Hintergrund des eichschen Hörspiels zu bedenken, denn wie schon angedeutet, wirft er die Frage auf, in welchem Verhältnis die nationalsozialistische Judenvernichtung und die Möglichkeit eines Atomkriegs zueinander stehen. Wie verhalten sich die Erinnerung an den Holocaust und die neuen Ängste zueinander? Welche Verbindungen bestehen? Welche Abgrenzungen? Diese Fragen sollen mich im Folgenden weiter beschäftigen.
DAS MENETEKEL DER NUKLEAREN SELBSTVERNICHTUNG […] ganz ein Körper, auf dem die Geschichte und nicht die eigene, ausgetragen wird […]. Ins Wachen geholt, ins Begreifen, was doch niemand begreift.293
Das Erstaunliche in der Entwicklung der Argumentation des Hörspiels besteht darin, dass etwas stattfindet, was man nur als „Sprung“ bezeichnen kann. In einem ersten Schritt fällt der Begriff der „Vernichtung“, der, weil er unmittelbar anschließt an den Hilfeschrei und das darauf folgende „Verklingen“ der Zuggeräusche, rhetorisch als Kommentar zum eben Gehörten interpretiert werden muss. Die „Vernichtung“ entspricht offenbar dem Schicksal, das den Insassen des Zuges zugedacht ist. Im Folgenden löst sich die Sprecherstimme jedoch von dieser Katastrophe, um den Akzent auf die Schrecken, die im Jetzt drohen, zu legen. Dass der Zug sich „in großer Geschwindigkeit“ „entfernt“ und „immer ferner“ „verklingt“, bedeutet, dass die „Vernichtung“ dieser Menschen der Vergangenheit zuzuordnen ist. Doch die „Vernichtung“ geht weiter. „Der heutige Tag ist, wie jeder Tag, auch die Spitze eines Zeitdreiecks, dessen zwei Seiten zu zwei anderen – zu beliebig vielen andern – Daten führen.“294 Nicht allein das ‚Eingedenken‘ ist also wichtig, sondern auch (und offenbar sogar in stärkerem Maße?) das „Denke daran!“ als eine Forderung, die die Notwendigkeit des Bezugs zur Gegenwart stark macht. Es stellt sich also die Frage, ob Eichs Hörspiel nicht eingeordnet werden muss in eine Tendenz des kollektiven Gedächtnisses, wie sie, Dan Diner zufolge, in den 1950er Jahren in Deutschland vorherrschte: 292 Stölken-Fitschen: Atombombe, S. 76. 293 Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte, Frankfurt/ M. 1998, S. 60; künftig zitiert als: Bachmann: Unveröffentlichte Gedichte. 294 Wolf: Kindheitsmuster, S. 382-383.
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Abgesehen von der Vermutung eines die Wahrnehmung verzögernden tiefenpsychologischen Traumas könnte der Dispens der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden nicht zuletzt auf das Phänomen des Kalten Krieges zurückzuführen sein. Immerhin stand die Welt damals jahrzehntelang an der Schwelle ihrer nuklearen Selbstvernichtung. Angesichts der als wahrscheinlich erachteten Apokalypse der Gattung wurden die signifikanten Konturen des nur wenige Jahre zuvor exekutierten ultimativen Genozids verdeckt. Wenn überhaupt, so fand Auschwitz allenfalls mit Hiroshima, dem Menetekel der nuklearen Selbstvernichtung der Menschheit, sekundär Erwähnung.295
In der Tat: Auch wenn die fiktiv-surreale Zugfahrt des eichschen Hörspiels eine literarische Gestaltung der Deportation der jüdischen Bevölkerung Europas in die nationalsozialistischen Vernichtungslager ist, ist diese Zugfahrt zugleich eine, die unmittelbar fortgesetzt wird. Die „Vernichtung“ als Ende und Ziel der Reise erweitert sich zu einer weltweiten Bedrohung – dieses Mal durch die Atombombe. Die Vernichtung der Deportierten wird literarisch gekoppelt an die Vernichtung, die in Hiroshima und Nagasaki in die Tat umgesetzt, in Korea und Bikini mit Blick auf eine Ausweitung der Tötungsmacht ‚verfeinert‘ wurde. Die Allgemeinheit der Orte, denen die Verpflichtung, „daran zu denken“, auferlegt wird, entspricht der Allgemeinheit der Bedrohung durch die Atombombe, vor der man sich auch am „Rande“ des Geschehens (in „Randersacker“ etwa) nicht sicher glauben darf. Wenn man diesen Argumentationsstrang zurückwendet auf das Geschehen im Zug, um das es ja ‚eigentlich‘ erst zu gehen schien, dann bedeutet das, dass die „Vernichtung“296 der Juden in den Gesamtkontext der Möglichkeit der Selbstauslöschung der Menschheit eingefügt wird. So gewinnt man, zurückblickend auf den ersten Traum, den Eindruck, dass sich die merkwürdige Prädikatlosigkeit (nirgends ist von ‚Juden‘ die Rede) keinem Zufall verdankt. Der Holocaust ist kein historisches Ereignis, das es nach Eichs Überzeugung in seinem spezifischen Kontext zu analysieren gälte, sondern vielmehr ein Symbol für etwas, das über dieses Ereignis ‚hinausgeht‘: „das Menetekel der nuklearen Selbstvernichtung der Menschheit“. Dan Diners Hinweis, der Genozid an den Juden Europas habe in den ersten Jahren, die auf die Kapitulation Deutschlands folgten, nur „sekundär Erwähnung“ gefunden, beschreibt Eichs Text exakt. In der Tat: Die kommentierende Stimme des Sprechers setzt Akzente – und verschiebt sie zugleich.
295 Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse, Göttingen 2007, S. 10. 296 Der Begriff wird in Anführungszeichen gesetzt, um zu zeigen, dass er aus Eichs Text stammt, nicht um seinen Wirklichkeitsgehalt in Bezug auf die Politik der Nationalsozialisten in Frage zu stellen.
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VAGHEIT VERSUS KONKRETHEIT Er nannte, um es genauer zu sagen, einfach die Dinge beim Namen, zum Glück aber selten die Leute, so dass sich nie jemand im besondere betroffen fühlen musste.297
Zu beobachten ist, dass das Hörspiel zwischen zwei Polen schwankt: Auf der einen Seite steht die Erzeugung einer drohenden Atmosphäre im Vordergrund – ohne Bindung an eine genau benennbare Gefahr. (Beim „Denke daran!“ wird aus diesem Grunde anfangs nicht spezifiziert, woran man überhaupt denken solle.) Der zweite Pol kristallisiert sich erst gegen Ende der Passage, die der Stimme des Sprechers zuzuordnen ist, heraus: Korea und Bikini sind, wie gezeigt, als Symbole einer als „wahrscheinlich erachteten Apokalypse der Gattung“ zu verstehen. Insgesamt steckt der Text also voller Widersprüche: Passagen von großer Allgemeinheit und Anspielungen auf konkrete Entwicklungen treten nebeneinander, ebenso eine Stimmung von vager Unheimlichkeit und die präzise Erwähnung der Atombomben, die die gesamte Menschheit bedrohten. Die Spannung von Vagheit und Allgemeinheit zieht sich bis in einzelne Formulierungen hinein, nicht zuletzt in die bereits zitierten Verse: Denke daran: Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, aber in deinem Herzen.298
Auf der einen Seite sind dies die Verse, in denen die Anspielungen auf den zeithistorischen Kontext von größerer Präzision sind als die sonstigen, von der Sprecherstimme vorgetragenen Kommentare zum ersten Traum. (Korea und Bikini sind, wie gezeigt, mit spezifischen Ängsten aufgeladene Ortsnamen, und dies aus gutem, d.h. historisch nachvollziehbarem Grund.) Auf der anderen Seite ist für die Verse aber auch das genaue Gegenteil von Genauigkeit charakteristisch. Denn den beiden Ortsnamen werden durch den Hinweis, sie lägen „nirgendwo auf der Landkarte“, in ihrem Wirklichkeitsgehalt zurückgenommen, noch bevor ihr Name überhaupt gefallen ist: Die Verneinung geht ihrer Erwähnung voraus. Dadurch wird der Akzent auf das „Nirgendwo“ gelegt. Zusammenfassend muss festgehalten werden: Der Bezug auf den Kalten Krieg ist zwar konkret ausgewiesen („Korea und Bikini“), doch auf der anderen Seite gilt ebenso, dass der Text im gleichen Atem davon davor warnt, die Konkretheit konkret zu lesen. Wirklich ist, so die rhetorische Wendung, nur das „Herz“, nicht also der reale Raum. Das „Herz“ aber ist wiederum eine Metapher, die im höchsten Sinne mit Bedeutung aufgeladen und zugleich vage ist. Die starke Aufladung erklärt sich durch die unübersehbare Verwendung des Wortes quer durch die Literatur-, Kunst-, Medizin-
297 Ingeborg Bachmann: „Unter Mördern und Irren“, in: dies.: Werke, Bd. 2, München, Zürich 1993, S.159-186, Zitat S. 164; künftig zitiert als: Bachmann: „Mörder“. 298 Eich: Träume, S. 358-359.
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und Religionsgeschichte. Seine Vagheit verweist auf eine anthropologische Interpretation des Menschen, nicht auf eine historische. ,Des‘ Menschen Herz ist ein Kollektivsingular – will heißen: Metapher für ,den‘ Menschen überhaupt und nicht Synonom für historisch in ganz spezifische Entscheidungssituationen gestellte Menschen. Hannah Arendt warnt, dass es den „Menschen überhaupt“ in Wirklichkeit gar nicht gebe, „da wir ja ‚Menschen‘ nur in der Form von Männern und Frauen kennen, also der Begriff des Menschen, wenn er politisch brauchbar gefasst sein soll, die Pluralität der Menschen stets in sich einschließen muss“.299 Es scheint, dass diese Warnung Eichs Text voll trifft. Als Vertreter eines Ansatzes, der wie Arendt der Position des Hörspiels diametral entgegengesetzt ist, kann außerdem Dan Diner gelten. Er formuliert weitere Fragen, die im Kontext der Frage nach der grammatischen Verwendung von Singular und Plural von Bedeutung sind: Was hat es mit dem Ereignis des Holocaust auf sich? Welche Bedeutung kommt ihm zu? Bleibt es profanen historischen Erklärungen entzogen? Ist das Geschehen womöglich singulär, gleichsam aus seiner geschichtlichen Verankerung gerissen? […] Ist seine Epistemik universell? Welche Nachfragen treffen seinen Kern, welche führen an ihm vorbei? Wie verhält es sich mit der dem Ereignis inhärenten Spannung zwischen der spezifischen, vornehmlich von Juden gemachten Erfahrung und seiner umfassenderen, seiner menschheitlichen Geltung?300
Das „Herz“ ist in der Tat dazu angetan, all die Bilder, die zuvor von der Zugfahrt entworfen worden waren, aus der „geschichtlichen Verankerung“ zu reißen. Wenn Bikini und Korea in ,des‘ Menschen Herzen liegen, dann doch wohl auch der Zug? Bedeutet dieser Umstand allein, dass die räumliche Distanz zwischen dem Ereignis (zum Beispiel den Bombardements in Korea) und seiner Wahrnehmung anderswo (zum Beispiel in Deutschland) überwunden werden soll? Dass also, wie am Ende der Vorrede zu den Träumen bedeutet wird, die Gleichgültigkeit zu verurteilen ist, denn „[a]lles, was geschieht, geht dich an“301? Aber was ist wiederum dieses „Alles“? Doch wohl die universelle Epistemik, von der Diner spricht? Dieses Universelle aber bezöge sich auf den Holocaust wie auf Korea, auf Auschwitz wie auf Bikini? Wenn man die Herz-Metapher und den Verweis auf das „Alles“ zusammendenkt, entsteht der Eindruck, dass die Verantwortung, die ,dem‘ Menschen zugemutet wird, nicht nur ins Allgemeine weist, sondern geradezu in dieses hinein wuchert. Was aber zu einer großen, geradezu welt-umfassenden Forderung gerinnt (zur Pflicht nämlich, sich von allem Unrecht, das geschieht, betroffen und mit allen Opfern zu fühlen), unterliegt einer Gefahr: Das „Alles“ wird zum „Nichts“, so wie „Bikini und Korea“ zum „Nirgendwo“. Allgegenwart bedeutet nicht etwa Teilnahme am Menschheitsgeschehen überhaupt, sondern Entlastung bezüglich einer möglichen Mittäterschaft. Damit verbindet sich in einem weiteren Schritt die Frage nach Universalität bzw. Singularität der Shoah mit den Debatten um die „Kollektivschuld“, die nicht zuletzt die Jahre bestimmten, in denen Eichs Hörspiel entstand. Diner gehört zu denjenigen, die die Fortschreibung dieses Gedankenstrangs – die „Kollektivschuld“ wird 299 Arendt: Elemente, S. 604. 300 Diner: Gedächtnisse, S. 13. 301 Eich: Träume, S. 351.
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durch einen Perspektivwechsel (hin zum Blick auf die Opfer) überführt in die Überzeugung, die Shoah sei im Kern von universaler Bedeutung – einer scharfen Kritik unterziehen.302 Er tritt für eine historisch genaue Analyse dessen ein, was geschehen ist, und damit gegen das, was er, wie bereits erwähnt, die „Anthropologisierung“ der Shoah nennt: Das Bild vom Holocaust zieht eine universale Moral nach sich, in der die unterschiedlichen, auf verschiedenen historischen Zeitstufen angesiedelten Vergangenheiten sich wie in einer Art egalisierender Gleichzeitigkeit begegnen. Bei dieser Begegnung handelt es sich um ein Phänomen der Entzeitlichung und jener Anthropologisierung von Leid, vorbei an den Maßgaben der historischen Urteilskraft.303
Bei Eich entspricht die Entzeitlichung wiederum einem Phänomen, das man wohl, parallel dazu, „Enträumlichung“ zu nennen hätte. Zur Entzeitlichung gehört, dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, die als (mehr oder weniger deutliche) Folie für die Zugszenen des Hörspiels dient, ins Bild eines vierzigjährigen Leidens ausgedehnt wird. Vierzig Jahre aber sind nicht als konkrete zu verstehen, sondern werden gleichfalls zur Metapher.304 Ähnliches gilt für den Raum. Das Leid der Insassen des Zuges wird, weil es mit dem Leid der Koreaner sowie dem der Einwohner des Bikini-Atolls in eins gesetzt 302 Auf überzeugende Weise hat bereits Günther Anders die Benutzung des Wortes „Kollektivschuld“ kritisiert: „[D]ie monopolistischen Konservatoren des Wortes sind nicht die Beschuldigenden, sondern die Schuldigen gewesen, und sind das auch heute noch. In keiner Zeitung taucht es mit solcher Zähigkeit, um nicht zu sagen: Anhänglichkeit, auf wie in der ‚Deutschen National- und Soldatenzeitung‘. Hätte nicht irgendein philosophischer Analphabet in Washington das Wort geprägt, die Exnazis hätten es erfinden müssen. Denn sie brauchen es. Sie verwendeten es, um es – als sinnlos abzustreiten, um sich über es zu entrüsten und um sich durch ihre Entrüstung ins Recht zu setzen. Ihr Argument lautet: ‚Da es keine Kollektivschuld gibt, sind wir kollektiv nicht schuld, kann keiner von uns schuldig sein.‘ Kurz: Durch Betonung der Nichtgeltung des Wortes beweisen sie, und nicht nur anderen, sondern auch sich selbst, die eigene Nichtschuld. (Paradoxerweise haben gerade sie den Begriff der Kollektivschuld von jeher verwendet: denn der Antisemitismus ist die Urform der Kollektivschuldthese, da er die Schuld aller Juden, Juden (bzw. Judasse) zu sein, immer unterstellt hat. – Nun freilich sind sie, da sie sich als pauschal Angeklagte fühlen, aufs selbstgerechteste über das (wie sie zu sagen wagen) ‚unchristliche Wiederaufrühren der alten Märchen’ empört. Und fühlen sich gerade durch dieses Wieder-Akutwerden in der Rechtmäßigkeit ihres Kollektivhasses bestätigt. ‚Dass die Juden aus Auschwitz nicht verzeihen können, beweist wie fundamental sie sich von uns Christen unterscheiden. Wir haben die Sache längst schon vergessen!‘ (Fehlt nur, dass sie sagen: ‚Wir haben sie ihnen längst schon verziehen!‘) Je gellender die Empörung über den Ausdruck, um so berechtigter unser Verdacht, dass der Schreiende etwas zu überschreien hat. Qui conteste, s’accuse.“ Anders: Hades, S. 196-197. 303 Diner: Gedächtnisse, S. 38. 304 Vor allen Dingen zu einer Metapher, die sich auf die vierzigjährige Wanderung bezieht, bei der Moses sein Volk auf der Suche nach dem gelobten Land durch die Wüste führte. Auf diesen Aspekt wird zurückzukommen sein.
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wird, ortlos. Die Orte, an denen gelitten wurde, müssen nicht mehr begangen, die Suche nach Spuren darf abgebrochen werden – denn im „Herzen“ ist ja all dies bereits enthalten. In der Tat: Die Zugfahrt wird erfahrbar durch Dialoge, die im Präsens erscheinen. Ebenso gilt: Bikini und Korea sind nichts Vergangenes, sondern werden ins Jetzt hineingenommen. Die „egalisierende Gleichzeitigkeit“ wird damit zum Grundprinzip des eichschen Hörspiels. Zwischen der Vernichtung an den europäischen Juden und dem drohenden Tod der Menschheit durch einen ‚Dritten Weltkrieg‘ gibt es, weder räumlich noch zeitlich, Unterschiede – sie sind beide ein Menetekel, das in das vermeintlich konstante, da über das Geschichtliche hinausweisende und zugleich weltumspannende (also ortlose) „Herz“ verlegt werden könnte.305 Mit Hannah Arendt fragt sich aber, ob nicht, „wo alle schuldig sind“, keiner es ist? Gilt nicht der Satz: „[G]egen die Entdeckung der wirklich Schuldigen oder Verantwortlichen, die Missstände abstellen könnten, gibt es keinen besseren Schutz als kollektive Schuldbekenntnisse“?306
ZU HERZEN GEHEND Umsonst malst Du Herzen ans Fenster: Der Herzog der Stille Wirbt unten im Schloss Soldaten.307
Weil das Wort „Herz“ in Eichs Hörspiel von so zentraler Bedeutung ist, möchte ich es im Folgenden etwas genauer in Augenschein nehmen. Christa Wolf stellt in ihrem Roman Kindheitsmuster die These auf, das Herz sei in der nationalsozialistischen Gesellschaft nicht der Tabuisierung unterworfen worden, die in Bezug auf andere Körperteile zu beobachten gewesen sei. Ja mehr noch: „Das Herz war einer der wenigen versteckten Körperteile, dessen Entdeckung nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich gefördert wurde. Es hatte einen unanstößigen Namen, nach Herzenslust konnte man ihn aufsagen, sogar singen. Vor allem aber: Es war abbildbar.“308 Hinweise auf das „Herz“ finden sich in Eichs Hörspiel mehrfach. Hat dieser Umstand mit Wolfs Beobachtungen bezüglich der von ihr erlebten Erziehungsmaximen zu tun? Im Anschluss an den dritten Traum heißt es: Es gibt […] Landkarten, auf denen die Seen blau eingezeichnet sind Und die Wälder grün, – es ist leicht, sich zurechtzufinden auf der Erde.
305 Ralph Giordano spitzt die Interpretation der psychologischen Gründe, die das Interesse, das viele Deutsche nach 1945 in Bezug auf andere Gewalttaten zeigten, zu, indem er behauptet: „Massaker, anderswo begangen, entsetzen nicht mehr, sie trösten.“ Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987, S. 34; künftig zitiert als: Giordano: Zweite Schuld. 306 Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1995. S. 65; künftig zitiert als: Arendt: Macht. 307 Celan: Mohn, S. 13. 308 Wolf: Kindheitsmuster, S. 103.
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Aber du, der du neben mir gehst, wie verborgen Ist mir die Landschaft deines Herzens!309
Die Möglichkeit des „Sichzurechtfindens“ und die „Verborgenheit“ werden als Kontraste betrachtet. Das bedeutet, dass die Zugänglichkeit von „Welt“ durch ihre Aufzeichnung und Kartographierung gesichert, dass aber zugleich die Zugänglichkeit des Mitmenschen (gefasst ins Bild seines „Herzens“) schwierig ist. Karten werden in klischeehafter Einfachheit präsentiert (Seen sind „blau“, Wälder „grün“). Das Herz hingegen wird als überaus komplex begriffen. An ihm hängt, so wird impliziert, das Überleben der Menschheit. Die Buchfassung des Hörspiels endet mit den berühmten letzten Versen, die folgendermaßen lauten: „Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund! Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt.“ Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, dass Eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!310
In Bezug auf diese Verse stellt sich die Frage, ob die Kritik an der fehlenden Genauigkeit der literarischen Bilder, am Unhistorischen des gesamten Gestus des Textes nicht doch zu weit führt? Geht es Eich nicht schlicht um ein Plädoyer für den Widerstand gegen die Macht an verschiedenen Orten, die Herzmetapher als Ausdruck der Überzeugung, dass von ihm aus die unerwarteten „Lieder“, also widerständige Literatur, ihren Ausgang nehmen? Oder anders gefasst: Gefühle von Angst und Mitleid als Grundlage eines Eingreifens in Geschichte? Kehrt diese in den Text zurück? Leitet der „Strom in den Umzäunungen“, leiten die „Posten“, die „aufgestellt“ sind, doch wieder zu den Szenen im Zuginneren (und damit zur Judenvernichtung – und damit zum Fühlen mit den Opfern deutscher Gewalt) über?311 Oder handelt es sich bei dem Kommentator, der die Träume zu beschließen pflegt, um Worte eines bloßen „Mitleidsprotz[es]“?312 309 Eich: Träume, S. 370. 310 Ebd., S. 384; Hervorhebungen A.P. 311 Über diese Opfer schreibt Josef Zlkowicz: „The ghetto hearts, however, have ossified. They wish to break but cannot. This may be the cruelest curse of all.“ Josef Zlkowicz: In Those Terrible Days. Writings from the Lodz Ghetto, hg. von Michal Unger, Jerusalem, Yad Vashem 2002, S. 265-267; hier zitiert nach: Patricia Heberer: Children, S. 303. („Die Ghetto-Herzen hingegen sind erstarrt. Sie wollen brechen, doch können’s nicht. Dies mag der unmenschlichste Fluch überhaupt sein.“ [Übersetzung A.P.]) 312 Elias Canetti: Aufzeichnungen 1973-1984, Frankfurt/M. 2002, S. 43. – Günter Eich hat die Verse, die den Hinweis auf das „Öl im Getriebe“ enthalten, selbst auf das Heftigste kritisiert: „Leider Gottes finde ich die Zeilen, die Sie hier eben vorgelesen haben, gar nicht so
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Die Stimme, die im obigen Zitat spricht, ist nicht des Sprechers Stimme. Die Anführungszeichen, die der Frage „Ah, du schläfst schon?“ vorgeschaltet sind, bedeuten offenbar, dass hier einer der „Ordner der Welt“ sich höhnisch an Ahnungslose wendet, die die Gefahr, in der sie schweben, nicht wahrnehmen. Damit sind dann aber „Strom“ und „Umzäunung“ wiederum nicht spezifische Elemente des „konzentrationären Universums“, sondern Unterdrückungsmethoden, die der angesprochenen Hörerschaft drohen. Die Angst vor der „Vernichtung“ verschiebt sich von den Opfergruppen, denen sie wirklich und wahrhaftig widerfuhr, hin zum Menschen schlechthin, dem sie zwar noch nicht widerfuhr, aber zumindest widerfahren könnte. So stellt sich aber die Frage, ob nicht in letzter Konsequenz das gesamte Hörspiel dazu angetan ist, die „egalisierende Gleichzeitigkeit“, von der Diner gesprochen hatte, zu überführen in eine Egalisierung von (zumeist jüdischen) Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auf der einen und der Tätergesellschaft auf der anderen Seite, die mehrheitlich Eichs Publikum bildete. Egalisierung würde dann in die Nähe einer gewissen Arithmetik der Gleichsetzung führen. Weil den Mitgliedern der Tätergesellschaft etwas geschehen könnte, was vom Effekt her dem entspräche, was den Shoah-Opfern bereits geschehen ist (der Kollektivtod nämlich), stehen sich Opfer und Täter nicht mehr als zwei getrennte Gruppen gegenüber. Vielmehr bewegen sie sich – so die Perspektive des Hörspiels – in gewisser Weise im gleichen Raum: in dem der Vernichtung. Gemeint ist mit dieser Gleichsetzung und Egalisierung jedoch keineswegs die „negative Symbiose“, die Dan Diner als „traurige List“ der Geschichte bezeichnet hat: „[F]ür beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit – ob sie es wollen oder nicht.“313 Bei Eich wird vielmehr die „Symbiose“ durch den Bezug auf die Vergleichbarkeit des schon Erlittenen oder noch zu Erleidenden zu einer positiven. Zugespitzt formuliert: Die bloße Möglichkeit, dass das nukleare Inferno das „Herz“ Europas (Deutschland nämlich) treffen könne, legitimiert die Abwendung von der jüngsten deutschen Geschichte, die in Wirklichkeit aber die Geschichte einer furchtbaren Katastrophe für die jüdischen Gemeinden (weit über dieses Deutschland-„Herz“ hinaus) war. Man gewinnt aus der historischen Distanz heraus den Eindruck, dass der Kalte Krieg, so real er auch war, durch die unmittelbare Vorgeschichte (die der Befreiung der Konzentrationslager) in Deutschland eine ganz besondere Färbung annahm. Die atomare Bedrohung war gleichsam nicht nur sie selbst, sondern darüber hinaus auch eine Bedrohung durch die Schuld, die die Deutschen selbst auf sich geladen hatten.
besonders. Dieses Bild aus dem Autoleben – das finde ich eigentlich entsetzlich. ‚Sand im Getriebe‘ und ‚Öl‘, das klingt alles so nach Esso und Shell.“ Günter Eich: (1970), in: ders.: Werke 4, Frankfurt/M. 1991, S. 519-529, Zitat S. 525-526. 313 Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, zu finden auf der Internetseite: http://www.trend.infopartisan.net/trd1000/t371000.htm; abgerufen am 12.6.2016; künftig zitiert als: Diner: Symbiose. In der Buchausgabe befindet sich das Zitat auf S. 185.
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‚ES‘ SPRICHT Auschwitz ist passiert. Es ist geschehen; Es in einem emphatischen psychoanalytischen Sinne. Auschwitz ist […] in zweifacher Weise Teil des Unbewussten: als Unbewusstes, das sich in der kollektiven Tat realisierte, und als fortwirkendes kollektives Schuldgefühl wegen der Tat.314
Wenn man Diner in Bezug auf die These einer möglicherweise „blinde[n] Selbstradikalisierung des Systems“ der Vernichtung zustimmt, dann ergeben sich daraus Konsequenzen, die für die historische Einordnung des eichschen Hörspiels von großer Bedeutung sind. Wenn nämlich die Täterschaft der Täter in der Tat einem ‚Es‘ geschuldet war, in dem die individuelle Schuld dauerhaft ins Unbewusste abgedrängt blieb, dann war zu erwarten, dass diese Haltung auch dann noch weiterwirkte, als die Tat als Tat schließlich beschrieben und dadurch als strafwürdig erkannt werden konnte. Das ‚Es‘ der Tat wirkte weiter im ‚Es‘ einer Abwehr, die zwar irgendwie Bestrafung erwartete, sich diese Bestrafungserwartung aber nie voll bewusst machte. Dan Diner schreibt dazu: „In Momenten realer oder phantasierter politischer Krise kann die verdrängte bzw. verleugnete Angst und Bestrafungserwartung Auschwitz‘ wegen produktiv aufbrechen […].“315 Hat Eichs Blick auf die Bombe in genau dieser Bestrafungserwartung ihren Grund? Die historische Entwicklung hin zum Blocksystem und zu zwei voneinander geschiedenen deutschen Staaten konnten eine solche Erwartung hinreichend legitimieren: Die Teilung Deutschlands war die Konsequenz des Zweiten Weltkrieges. Und weil die Shoah im Schatten dieses Krieges geschah, gehörte auch sie zum Schuldkomplex, der die Erwartung hervorbrachte, die Opfer würden irgendwann rächend in Erscheinung treten. Aus Berichten, die schon im ‚Dritten Reich‘ selbst über die Stimmung der Bevölkerung zusammengestellt wurden, ergibt sich, dass das Verschwinden der Juden in Zusammenhang gebracht wurde mit den Luftangriffen, die auf deutsche Städte erfolgten. So spricht ein SD-Bericht aus Ochsenfurt bei Würzburg vom 3. August 1943 von dem weitverbreiteten Gerücht, „dass Würzburg nicht durch feindliche Flieger angegriffen würde, da in Würzburg keine Synagoge gebrannt habe. Andere erzählen wiederum, dass nunmehr auch die Flieger nach Würzburg kämen, da vor kurzer Zeit der letzte Jude Würzburg verlassen habe. Dieser habe vor seinem Abtransport erklärt, dass nun auch Würzburg Luftangriffe bekommen werde.“316
314 Ebd., S. 188. 315 Ebd. – Dass so etwas wie Bestrafungserwartung (die ja eine Art von Angst vor Vergeltung ist) sich schon früh in Deutschland ausbreitete, wussten die Träger des Regimes selbst. „Diverse vertrauliche Stimmungsberichte (die entweder vom SD oder von örtlichen Behörden stammen) vermitteln den Eindruck, dass die Bevölkerung generell zunehmende Feindschaft gegenüber den Juden entwickelte. Gelegentlich werden darin auch Akte der Freundlichkeit erwähnt oder manchmal eine verbreitete Furcht vor Vergeltung.“ Friedländer: Vernichtung, S. 79. 316 Ebd., S. 542. – Friedländer nimmt Bezug auf: Kulka / Jäckel: Stimmungsberichte, S. 503.
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Ein Beispiel wie dieses, das noch aus der Kriegszeit selbst stammt, ist interessant, weil es Mechanismen veranschaulicht, die im Nachkrieg weiterwirkten, doch klar nicht artikuliert werden konnten. Diner führt zur Veranschaulichung für „das Problem von Angstphantasien und Realangst“ nach 1945 den Alptraum eines 28jährigen, sich in psychoanalytischer Behandlung befindenden Patienten an, der in den Kontext der atomaren Bedrohung einzuordnen sei. Hier folgen die wichtigsten Elemente dieser „Mar“: Es war kurz oder nach einem Atomschlag. Ich war in einem Bunker, entschloss mich aber herauszugehen, obwohl ich nicht sicher wusste, ob draußen alles verstrahlt wäre und es mein sicheres Ende sein würde. Ich gehe durch leergefegte Straßen und komme schließlich zu der Lagerhalle, an der sich eine Rampe befand, wo Lastwagen beladen werden konnten. Im Innern der Lagerhalle sehe ich, dass dort Goldbarren gelagert sind, es steht auch an der Tür, dass hier mit Gold gehandelt wird. In mir entsteht ein Gefühl der Faszination und des Angezogenseins. Im gleichen Augenblick weiß ich aber, dass ich dort nicht sein dürfte, weil es ein Sperrgebiet ist.317
Dieser Traum werde nun zwar, so Diner, vom Analytiker an prominenter Stelle, nämlich gleich zu Anfang, zitiert, dann aber nicht weiter aufgegriffen. Erst gegen Ende werde der Traum so interpretiert, dass „die thematisierte Angst für real“ erklärt werde: Die Therapie des Patienten, von dem der anfänglich genannte Traum stammt, zeigt sehr bald nach diesem Traum eine bemerkenswerte Veränderung. Obwohl, oder ich möchte lieber sagen, gerade weil ich seine Angstphantasien über die militärische und ökologische Situation unserer Welt ernst nahm.318
Diner greift nun diese Interpretation auf, um den Kommentar des Psychoanalytikers seinerseits einer Kritik zu unterziehen: Die aufdringlichen Bilder vom umzäunten Lager, der Rampe, dem Gold und die dabei vom Patienten geäußerten ambivalenten Empfinden werden nicht einmal tentativ auf Auschwitz, auf die Präsenz der Vergangenheit zurückgeführt. Die Hermetik der Abwehr ist perfekt.319
Die Verdrängung findet also auf Seiten des Analytikers statt. Der Patient thematisiert im Traum seine Bestrafungserwartung, doch sein Analytiker interpretiert ihm diese weg, indem er die Traumbilder trotz ihrer Aufdringlichkeit zu reinen Produkten realitätsgebundener (d.h. auf die Gegenwart bezogener) Angst erklärt. Gilt dies vielleicht auch für die Träume Eichs? Wie gestaltet er das Verhältnis zwischen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auf der einen und der Gefahr einer atomaren Vernichtung auf der anderen Seite? Gibt es andere Texte, die uns helfen können, die von Eich benutzte Herzmetapher auszuloten? Wie funktioniert die Rhetorik von Texten, die sich der nationalsozialistischen Gewalt gegen die Juden Europas, gleichfalls von (oder vom) „Herzen“ kommend, zu nähern versuchen? Schließlich: Was geschieht – „erinnerungspolitisch“ gesprochen – durch Texte, die bei dem Versuch, fremdes und 317 Diner: Symbiose, S. 189. 318 Ebd. 319 Ebd.
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eigenes Leid – z.B. Judenvernichtung und Kalten Krieg, Judenvernichtung und alliiertes area bombing – ins Verhältnis zueinander zu setzen, die „herzliche“ Dimension, d.h. bestimmte Gefühlswelten, privilegieren?
SECHSTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: EINE FRAGE DES MITLEIDS Angeborene Regungen Der gewinnt. Der verliert nicht. Der tritt nicht ans Fenster.320
Die zweite „Unverhältnismäßigkeit“, die vor dem Hintergrund dieser Fragen folgen soll, nimmt den Umweg über einen lange nach dem Hörspiel entstandenen Text, der jedoch strukturell die eichschen Argumentationsmuster aufnimmt. Es handelt sich um Dieter Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern.321 Betrachten wir, das Herzmotiv im weitesten Sinne im Hinterkopf behaltend, die folgende Passage: In dem KZ waren Deutsche, Russen, Ukrainer, Polen, Tschechen, Slowaken, Jugoslawen, Niederländer, Belgier, Franzosen, Norweger, Dänen, Ungarn, Italiener, Österreicher. Die Menschen des Quartiers lebten mit ihnen zusammen, Haus an Haus, Wand an Wand, viele Tausende waren in Kriegsgefangenenlagern, Zwangsarbeitslagern, KZ-Außenlagern untergebracht, in Fabrikhallen, Schulen, Gaststätten, getrennt nach Nationalität, nach Mann und Frau, und mittendrin die Menschen des Quartiers. Der Mensch ist geboren, um mitzuleiden und anderen Menschen zu helfen, in einem System, das diese menschlichen Regungen mit dem Tode bestrafte, sie ein für allemal unterdrücken wollte, wurde diese dem Menschen angeborene Regung zur hohen Kunst entwickelt.322
Dieter Forte beginnt mit einer langen Liste von Nationen. Sie soll beweisen, dass die Menschen, die nach Düsseldorf verschleppt worden waren, aus den unterschiedlichsten Ländern kamen. Zusammengehalten wird diese Liste von einer Art Klammer: Der Hinweis auf die Deutschen steht ganz am Anfang, der auf österreichische Gefangene an letzter Stelle. Das „Eigene“ rahmt das „Fremde“ gleichsam ein. Zugleich bringt es die Rahmung mit sich, dass die Deutschen und Österreicher als 320 Celan: Mohn, S. 29. 321 Einige der hier folgenden Überlegungen habe ich bereits in einem Artikel veröffentlicht, der 2007 erschien. Das Kapitel zum „Herzen“ ist hier eine Weiterführung und Vertiefung dessen, was ich damals zu entwickeln versucht habe. Vgl. Anne D. Peiter: „‚Erlebte Vorstellungen‘ versus ‚den Vorstellungen abgezogene Begriffe‘. Überlegungen zum ShoahKitsch“, in: Nachbilder des Holocaust, hg. von Inge Stephan und Alexandra Tacke, Köln 2007, S. 66-76. 322 Dieter Forte: Das Haus auf meinen Schultern, Frankfurt/M. 2002, S. 488-489; künftig zitiert als: Forte: Haus.
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besonders exponiert erscheinen: Weil sie die ersten und letzten sind, die genannt werden, behält man sie leichter in Erinnerung als die anderen. Es ist daher, als ergehe durch Fortes Text die implizite Forderung, ihre Gefangenschaft dürfe auf keinen Fall in Vergessenheit geraten. Diese Vorstellung leitet über zu der Behauptung, die Inhaftierten hätten in den gleichen Räumen gelebt wie die deutsche, nicht-jüdische, freie Bevölkerung der Stadt. Wand an Wand habe sich zwischen ihnen ein nachbarschaftlich-herzliches Verhältnis ergeben. Mitleid und Solidarität hätten überwogen, nicht etwa Gleichgültigkeit oder Gewalt. Das aber bedeutet, dass in gewisser Weise in den exponierten Gefangenen aus Deutschland und Österreich die ‚normalen‘ Deutschen und Österreicher mitgemeint sind. Es besteht quasi kein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen und ihren Herzen. Auf der anderen Seite räumt der Text zumindest implizit ein, dass die verschiedenen Lager Schrecken bedeuteten: Immerhin gibt er zu, dass Grund zum Mitleid mit den Gefangenen bestand. Andererseits wird ihre Situation durch den Hinweis beiseite geschoben, die Diktatur habe, obwohl sie das Mitleid mit der Todesstrafe bedroht habe, „diese Regung“ des Herzens nicht zu beseitigen, die Diktatur-Schablonen nicht durchzusetzen vermocht. Schon das Demonstrativpronomen „diese“ (das dem Hinweis auf die „menschliche Regung“ vorausgeht), suggeriert, die ungebrochene Stärke des Mitleids sei evident gewesen. In ihrem Buch Eichmann in Jerusalem geht Hannah Arendt davon aus, dass das Mitleid eine unwillkürliche Reaktion darstelle und zum psychischen Haushalt eines jeden normalen Menschen gehöre. Auf den ersten Blick scheinen also Arendt und Forte dem gleichen Menschenbild verhaftet zu sein. Auf den zweiten fallen jedoch die Unterschiede ins Auge. Arendt schreibt im Blick auf die Einsatzgruppen der WaffenSS, ihre Mitglieder seien „aus der SS-Intelligenz mit besonderer Berücksichtigung promovierte Akademiker“ ausgewählt worden. Man hatte es also mit normalen Menschen zu tun, und das Problem war nicht so sehr, wie man mit ihrem „normalen Gewissen“ fertigwerden könne als wie man sie von den Reaktionen eines gleichsam animalischen Mitleids „befreien“ konnte, das normale Menschen beim Anblick physischer Leiden nahezu unwillkürlich befällt. Der von Himmler […] angewandte Trick war sehr einfach und durchaus wirksam; er bestand darin, dies Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich selbst zu richten. So dass die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muss ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten, wie schwer lastet die Aufgabe auf meinen Schultern!323
Die Unterschiede liegen klar zutage: Bei Forte ist nicht von Kontexten die Rede, in denen offen Gewalt ausgeübt worden wäre, bis hin zur Tötung. Doch die Unterschiede zu Arendt wirken selbst da fort, wo Übereinstimmung zwischen beiden zu herrschen scheint. Beide gehen von der These aus, das Gefühl des Mitleids lasse sich nicht so einfach ausschalten. Während Forte jedoch den äußeren Druck – die Todesstrafe nämlich – hervorhebt, auf dass sich der Sieg der Menschlichkeit „des“ Menschen (der, wie von Kertész impliziert, in Großbuchstaben zu schreiben wäre) umso strahlender vom dunklen Hintergrund der Diktatur abhebe, geht Arendt den umgekehrten Weg: 323 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München 2011, S. 204-205; künftig zitiert als: Arendt: Eichmann.
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Sie setzt das Mitleid als das Normale, um zu zeigen, dass mit Hilfe dieses Gefühls die Täter die Normalität ihrer Selbstwahrnehmung aufrechterhalten konnten. Zwar war das Mitleid verschoben auf sich selbst, doch hatten sie es in gewissem Sinne nicht verloren. Die „hohe Kunst“ besteht nicht wie bei Forte darin, sich gegen die äußeren Zwänge zur Wehr zu setzen, sondern gegen die inneren. In dem Maße, in dem dieser Mechanismus „erfolgreich“ eingesetzt wurde, erwies sich ein ganzes Menschenbild als illusorisch. Bei Forte hingegen werden Hilfsbereitschaft und Mitleid als „natürlich“ betrachtet. Er sieht ab vom Freund-Feind-Schema und stellt die Gleichung auf: „Feind = Freund“. Seine Absichten sind die besten. Doch unter der Hand gerät ihm die Aufhebung der Trennung zu ihrer Perpetuierung. Hermann Broch schreibt in diesem Kontext: „Das Wesen des Kitsches ist die Verwechslung der ethischen mit der ästhetischen Kategorie, er will nicht ‚gut‘, sondern ‚schön‘ arbeiten, es kommt ihm auf den schönen Effekt an.“324 Und hier hat es „natürlich“ einen schönen Effekt, wenn behauptet wird, der Mensch sei, Diktatur hin, Diktatur her, dazu geboren, anderen zu helfen.325 Im Folgenden exemplifiziert Forte diese Hilfsbereitschaft an einem Juden, der in seiner „historisch eingekerbten Schutzbedürftigkeit“326 gemeinsam mit seinem deutschen Beschützer Schritt für Schritt mythische Qualitäten gewinnt. Alle kannten Opa Winter, und alle wussten, dass er Jude war. Er trug keinen gelben Stern auf seiner Kleidung, weil er das nicht wollte und weil das im Quartier auch nicht nötig war. Er besaß gefälschte Papiere, keiner fragte ihn danach. Er wohnte weiter im Quartier, sicher wie in Abrahams Schoß, auch als die Juden der Stadt in langen Zügen vom Schlachthof abtransportiert 324 Hermann Broch: Das Böse im Wertsystem der Kunst, in: ders.: Schriften zur Literaturtheorie, Bd. 9.2, Frankfurt/M. 1975, S. 119-157, Zitat S. 150. 325 Im Kontrast zu Fortes Weltsicht stehen Sätze wie die von Bruno Bettelheim: „Es war kein Zweifel, dass er im Bunker erwürgt worden war. Das war durchaus nicht unerwartet, im Gegenteil, es war ‚völlig in der Ordnung.‘“ Bettelheim: „Schicksal“, S. 97. – In ihrer Erzählung Unter Mördern und Irren wendet sich Ingeborg Bachmann gegen die Auffassung, aus dem Genozid an den europäischen Juden seien „Einsichten“ zu gewinnen – etwa die Einsicht in die Notwendigkeit von Menschlichkeit: „Juden sind gemordet worden, weil sie Juden waren, nur Opfer sind sie gewesen, so viele Opfer, aber doch wohl nicht, damit man heute endlich draufkommt, schon den Kindern zu sagen, dass sie Menschen sind? Etwas spät, findest du nicht? Nein, das versteht eben niemand, dass die Opfer zu nichts sind! Genau das versteht niemand und darum beleidigt es auch niemand, dass diese Opfer auch noch für Einsichten herhalten müssen. Es bedarf doch dieser Einsichten gar nicht. Wer weiß denn hier nicht, dass man nicht töten soll?! Das ist doch schon zweitausend Jahre bekannt. Ist darüber noch ein Wort zu verlieren?“ Bachmann: „Mörder“, S. 177. – Volker Hage äußerte sich als Rezensent des Spiegels hingegen voller Lob über gerade diese Passage des Romans, in dem das KZ erwähnt wird: Forte sei „übrigens auch wacher Beobachter anderer mörderischer Vorgänge [und nicht nur des Bombenkriegs; A.P.]: Ein KZ-Außenlager befindet sich mitten im Viertel, und vor aller Augen werden die Häftlinge, bewacht und drangsaliert, nach den Bombardements zu Aufräumarbeiten und zum Bergen der Leichen eingesetzt.“ Volker Hage: „Kälte und Hunger hören nie auf“, in: Der Spiegel vom 2.11.1998, zu finden auf: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d8029164.html; abgerufen am 16.1.2016. 326 Diner: Zeitenschwelle, S. 93.
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wurden. Er sagte: „Die kriegen mich nicht“, zog mit seiner Karre durchs Quartier, und weil er keine Lebensmittelkarten bekam, beschäftigten ihn die Menschen mit vielen kleinen Aufträgen, die sie ihm gut bezahlten, damit er nicht hungern musste, und Opa Winter zwinkerte mit den Augen, lächelte unter seinem Altmännerschnurrbart und sagte: „Wird schon alles gut werden.“327
Die Widersprüchlichkeit der mythischen Dimension des Textes ist auf mehreren Ebenen zu fassen. Opa Winter ist Jude, doch er trägt keinen Stern. Wie oben gezeigt ist diese Kennzeichnung, bei Androhung schwerster Strafen, Pflicht für alle Juden, doch die Befolgung der Anordnung ist im Quartier „nicht nötig“. „Alle“ wissen, dass Opa Winter Jude ist, doch die einschlägigen NS-Institutionen – zum Beispiel die Gestapo – wissen nicht das Geringste. Die Juden der Stadt werden in langen Zügen aus der Stadt deportiert, doch Opa Winter ist eben hier „sicher wie in Abrahams Schoß“.328 Er ist „sicher wie in Abrahams Schoß“, doch um „gefälschte Papiere“ kommt er nicht herum. „Alle“ kennen ihn, doch die Papiere erlauben es ihm, unerkannt mit seiner Karre im Viertel herumzuziehen. Er hat sich, eben dank dieser Papiere, eine neue Identität zugelegt, doch an Lebensmittelkarten kann er nicht gelangen. Lebensmittelkarten werden ausgegeben, weil Nahrung knapp ist, doch „die Menschen“ scheinen über sie in solchem Überfluss zu verfügen, dass sie sie problemlos mit dem Verfolgten teilen können. Die Aufträge, die er von den Nicht-Juden bekommt, sind klein, doch die Bezahlung ist gut. Der Abtransport der jüdischen Bevölkerung folgt vom „Schlachthof“ aus, doch dieser einzelne Verschonte lächelt bei den Worten: „Wird schon alles gut werden.“ All diese Widersprüche folgen dem gleichen Raster: Die Gefahr, in der die vertraulich als „Opa Winter“ bezeichnete Figur schwebt, soll plausibel gemacht werden (Kennzeichnungspflicht, Entzug der Lebensmittelkarten, Bedrohung durch Deportation), doch dient diese Plausibilität vor allem, wenn nicht gar: ausschließlich dazu, durch die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Nicht-Juden mit dem Juden solidarisch erklärt hätten, einen „schönen Effekt“ im Jetzt und Hier hervorzubringen. So entsteht der Eindruck, dass die Gefahr nicht so sehr diesen Juden bedrohte (denn er wohnte ja „sicher wie in Abrahams Schoß“), als vielmehr diejenigen, die wussten, wer er war und sich trotzdem auf seine Seite stellten. „Schön“ (d.h. „Herz erwärmend“, „zu Herzen gehend“) daran ist, dass die Selbstverständlichkeit, mit der das „Mitleid“ zur „hohen Kunst“ entwickelt wird, so gar nicht selbstverständlich ist.329 Denn: Die „Juden 327 Forte: Haus, S. 508. Kurioserweise hat auch Günter Eich den Namen „Winter“ zu seinem Pseudonym gemacht: Georg Winter. 328 In Wirklichkeit ist dokumentiert, dass viele Deutsche dem Abstransport der einheimischen Juden zusahen. Vgl. die Beispiele, die Saul Friedländer zusammengestellt hat. Friedländer: Vernichtung, S. 335. 329 Die gleiche Beobachtung gilt für die „Befreiungsaktionen“, von denen Eugen Kogon mit Blick auf Buchenwald berichtet: „Der Gauleiter von Franken und Herausgeber der ‚Stürmer‘, Herr Streicher, pflegte alljährlich zu Weihnachten die Freilassung von zwei Dutzend Kommunisten aus dem KL Dachau zu erwirken, die er dann als ‚wieder aufgenommene Volksgenossen‘ feierlich in Nürnberg öffentlich abspeisen ließ. Das widerlichsentimentale und verlogene Propagandabedürfnis der Nationalsozialisten benutzte angeblich bekehrte KP-Leute sozusagen als Christbaumschmuck für die braune Volksgemeinschaft.“ Kogon: SS-Staat, S. 304.
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der Stadt“ wurden „in langen Zügen vom Schlachthof abtransportiert“, und die Gefahr erschien also durchaus als reale. Aber mit der Realität hat Fortes Text nicht viel zu tun, zumindest nicht mit der Realität von Leiden, die nicht die Leiden des Autors waren. Dieter Forte, Jahrgang 1935, erlebte und erlitt die Bombardierungen durch die alliierten Flugzeuge als ein Trauma, das ihn sein Leben lang begleitete. Die Geschichte von „Opa Winter“ nimmt sich im Kontext seines Versuchs, das Leben der deutschen Zivilbevölkerung im zerstörten Ruhrgebiet anschaulich zu machen, aus, als wolle, als müsse er daneben beweisen, dass ihm die Schrecken, die anderen Menschen widerfuhren, nicht vollkommen aus dem Blick geraten sind. Doch dieser Blick verschließt sich dem, was historisch über die Vorgänge in Düsseldorf – der Stadt, in der Fortes Geschichte spielt – bekannt ist.330 „Auf dem Wege vom Schlachthof zur Verladerampe hatte ein männlicher Jude versucht, Selbstmord durch Überfahren mittels Straßenbahn zu verüben“, schrieb Schupo-Hauptmann Paul Salitter in seinem Bericht über den Transport von 1007 Juden, die am 11. Dezember [1941; A.P.] von Düsseldorf nach Riga deportiert wurden und für die er verantwortlich war. „Ebenfalls hatte sich“, fuhr er fort, „eine ältere Jüdin unbemerkt von der Verladerampe, es regnete und war sehr dunkel, entfernt, sich in ein nahe liegendes Haus geflüchtet, entkleidet und auf ein Klosett gesetzt. Eine Putzfrau hatte sie jedoch bemerkt, so dass auch sie dem Transport wieder zugeführt werden konnte.“331
Dieser Bericht zeigt Unterschiedliches. Erstens: Bei diesem einen Transport wurden 1007 Juden aus Düsseldorf, der Stadt „Opa Winters“, deportiert. Die Regel war also die Deportation und nicht Abrahams Schoß. Zweitens: Der Weg bis zum Schlachthof war kein unblutiger.332 Der versuchte Selbstmord, den der Schupo-Hauptmann erwähnt, fand mitten in der Stadt statt. Drittens: Der Fluchtversuch einer älteren Jüdin wurde von der Bevölkerung nicht gedeckt. Die Solidarität der Unterschichten mit den Juden, die Dieter Forte in seinem Roman demonstrieren will, war keine durchgängige: Die Putzfrau sorgte dafür, dass die Geflohene wieder eingefangen und deportiert werden konnte. Doch das eigentliche Thema bleibt für Forte der Luftkrieg, und so erklärt sich die beschwichtigende Geste, mit der die Geschichte von „Opa Winter“ ihren Fortgang nimmt: Opa Winter wohnte, auch das wussten alle, beim Herkules, der eine Wirtschaft betrieb und im Quartier als der stärkste Mann der Welt bezeichnet wurde. […] Herkules war Opa Winters bester 330 Zur literarischen Würdigung des Werks von Dieter Forte siehe: Jürgen Ritte: Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Dieter Forte, Walter Kempowski und W.G. Sebald, Berlin, 2009. 331 Hier greift Eichs Kritik: „Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und als Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.“ Eich: Gesammelte Werke, Bd. IV, Frankfurt/M. 1991, S. 454; Hervorhebung A.P. 332 Friedländer: Vernichtung, S. 337. Friedländer nimmt Bezug auf: Yuri Slezkine: The Jewish Century, Princeton 2004, S. 221 (eben dort findet sich das Zitat 1), S. 245 (und auf dieser Seite das Zitat 2).
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Freund. Wenn die zwei durchs Quartier gingen, konnte sich jeder die Geschichte von David und Goliath vorstellen, nur dass David und Goliath hier Freunde waren.333
Das sind alles „schöne“ Szenen. Doch müsste nicht mit Hannah Arendt gefragt werden, was, entgegen dieser Fiktion, ‚authentische‘ Zeugnisse zur nationalsozialistischen Judenverfolgung auszeichnet? Gilt nicht das Folgende? „Je echter diese Zeugnisse sind, desto kommunikationsloser sind sie, desto klagloser berichten sie, was sich menschlicher Fassungkraft und menschlicher Erfahrung entzieht“?334 Dieter Forte fabuliert, kommuniziert, will Fassbarkeit herstellen und der Leserschaft ans „Herz“ greifen. Darin liegt, so mein Urteil, die literarische Schwäche dieser Textpassage. Biblische Mythen im Widerstreit Hurlements des enfants que l’on étouffe. Silence des cendres épandues sur une plaine.335 Die Schreie von Kindern, die man erstickt. Schweigen der Asche, verteilt über eine Ebene. [Übersetzung A.P.]
Von dem Bedürfnis Fortes, die Verfolgung der Juden plausibel zu machen und ihr zugleich doch – und zwar zugunsten der Mehrheitsgesellschaft – einen „schönen Effekt“ abzugewinnen, ist die Rede gewesen. In der soeben zitierten Passage zu David, Goliath und Herkules tritt nun das mythische Element, das zur Überhöhung der Wirklichkeit (und damit im Blick auf den „schönen Effekt“) eingesetzt wird, ganz ungeschminkt hervor. Dem Verfolgten „Opa Winter“ tritt ein „Herkules“ zur Seite. Einerseits ist dieser „Herkules“ ein ganz alltäglicher Wirt in einem ganz alltäglichen Wirtshaus – andererseits ist er seinem antiken Vorbild ebenbürtig, denn auch ihn zeichnet körperliche Kraft im Superlativ aus. Strukturelle Voraussetzungen der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung verschwinden: Der Nationalsozialismus mit seinem Ansinnen, alle Juden, ausnahmslos, der ‚Endlösung‘ zuzuführen, kann offenbar durch die bloße Muskelkraft eines Einzelnen besiegt werden. Doch unter der Hand gerät der Text, von Dieter Forte unbemerkt, erneut in die bereits beobachtete Widersprüchlichkeit hinein. Erneut entsteht sie im Zuge des Bemühens, sich von der Konkretheit des Wirklichen abzulösen und an ihre Stelle mythisch-märchenhafte Elemente ins literarische Spiel zu bringen: Der deutsche Wirt, der hier mit „Opa Winter“ durchs Viertel geht, ist nicht nur ein „Herkules“, sondern zugleich auch ein „Goliath“. Das verbindende Element zwischen beiden Vorbildern liegt in ihrer Körperkraft. Das Bild aber, Goliath werde von einem sehr viel kleineren und schwächeren David begleitet, gerät mit sich selbst in Zwist. Dem biblischen Text zufolge ist David nämlich ein Junge, fast ein Kind noch – während der Verfolgte bei Forte nicht allein durch seinen Namen (er
333 Forte: Haus, S. 508-509. 334 Arendt: Elemente, S. 909. 335 Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris 1978, S. 205; künftig zitiert als: Antelme: Espèce.
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ist ein Opa und im „Winter“ seiner Lebenszeit angekommen) als alt ausgewiesen wird, sondern auch von seinem Körper her: Es heißt ausdrücklich, er habe einen „Altmännerschnurrbart“. Die Stärke von Herkules-Goliath deutet hingegen darauf hin, dass er weit jünger ist als „Opa Winter“. Auch er hat also Anteil an der Umkehrung der Konstellation, von der die Bibel ausgeht. David-Winter ist zu alt, Herkules-Goliath zu jung. Doch diese Unstimmigkeit des Bildes ist erst der Anfang. Wichtiger noch als die Frage des Alters ist das Verhältnis, das zwischen beiden Figuren besteht. Im Widerspruch zu allen Zweifeln, allen gescheiterten Versuche durch erwachsene, starke Männer besiegt in der Bibel der Schwache, ein Kind nämlich, denjenigen, der die Stärke im Superlativ repräsentiert. Doch bei Forte soll die Frage, wer siegen werde, gerade abgewiesen werden. Ihn interessiert allein die freundschaftliche Verbundenheit der beiden Figuren, nicht etwa ihr Gegeneinander. Da die Essenz der ursprünglichen Geschichte von David und Goliath aber darin besteht, dass Juden und Philister in einem tödlichen Kampf miteinander liegen, sieht Forte sich gezwungen, zu versichern, dass sein Goliath keineswegs böse, sondern im Gegenteil Davids bester Freund sei. Die Genese des Textes und der Assoziationen, die ihn tragen, lassen sich also bruchlos nachvollziehen: Forte führt den Namen „Herkules“ (und mit ihm die Idee der Stärke) ein, assoziiert mit ihm eine weitere starke Figur – den Riesen Goliath –, wird dann aber der Tatsache inne, dass sein Goliath, in Parallele zum biblischen, als Inkarnation eines neuen Bösen erscheinen könnte, was wiederum die Ausmalung aller guten Taten nötig macht, die der neue Goliath für sich in Anspruch nehmen kann, um nicht mehr als Goliath im ursprünglichen Sinne gelten zu müssen: Opa Winter wohnte im Haus des Herkules in einer Dachwohnung. Wenn die SA erschien, und das tat sie oft, um Opa Winter abzuholen, stand sie zunächst einmal vor dem stärksten Mann der Welt, der sie vor die Tür setzte. Und wenn sie doch die Treppe hochliefen, weil es viele waren, mehr, als auch ein Herkules festhalten konnte, drückte er auf eine Klingel. Opa Winter wusste bescheid, sprang aus dem Fenster und tanzte leicht und klein, wie er war, über die Dachrinnen ins Nachbarhaus. Sie bekamen ihn nie. Als es kaum noch etwas zu essen gab, fuhr Opa Winter mit seinem gefälschten Ausweis über die Rheinbrücke an allen Kontrollpunkten vorbei ins Linksrheinische, ließ sich dort seine kleinen Reparaturen mit Speck, Brot, Kartoffeln und Butter bezahlen, und verteilte diese Schätze an die Menschen im Quartier, so dass ein höflicher, gutmütiger Jude mitten im Krieg viele Menschen vor dem Verhungern rette. „Es wird schon alles gut“, sagte er.336
Zu den guten Taten des neuen Goliath gehören die Bereitstellung einer Wohnung für den verfolgten jüdischen Freund und die furchtlose Bekämpfung der SA. Doch Goliath heißt Goliath, und irgendwie schimmert aufgrund dieses Namens eine Idee durch den Text, die sonst nirgendwo offen eingestanden werden kann: Es ist, als sei der Opa (verstanden als David-Figur) in Wirklichkeit doch stärker, als alle annehmen. Die anderen Juden der Stadt sind deportiert worden – er nicht. Die Gefahr durch anrückende SA-Männer ist immens – seine (an Chaplin gemahnende) Flucht über’s Dach ein Tanz voller Leichtigkeit. Die Deutschen beginnen zu hungern – er verfügt über „Speck, Brot, Kartoffeln und Butter“. Die „gefälschten Papiere“ schienen der Angst geschuldet zu sein, deportiert zu werden – doch in Wirklichkeit erlauben sie die Reise 336 Forte: Haus, S. 510.
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„über die Rheinbrücke an allen Kontrollpunkten vorbei ins Linksrheinische“. Das, was die Reaktion auf eine Bedrohung gewesen zu sein schien – die Fälschung –, wird zu einem Vorteil. Der verfolgte Jude hat Papiere, die ihm die Bewegung überallhin erlauben, die armen Deutschen nicht. Fasst man die Tendenz all dieser Elemente zusammen, dann ergibt sich der Eindruck, dass die Figur des Juden schrittweise abrückt von ihrer anfänglichen Schwäche und Hilfsbedürftigkeit und dafür geradezu aufrückt in eine beherrschende Stellung: „Opa Winter“ als König David, der „Schätze an die Menschen im Quartier“ zu verteilen hat. Von der Königsidee aber ist es nicht mehr weit zu der Vorstellung, dass in diesem einen Geretteten die gesamte Judenschaft gerettet worden sei. Es ist, als wöge die zurückgewonnene Stärke dieses kleinen Juden mit seinen „kleinen Reparaturen“ den Umstand auf, dass alle übrigen vom „Schlachthof“ aus von den Deutschen in den Tod geschickt wurden. „‚Es wird schon alles gut‘, sagte er.“ Der „schöne Effekt“ besteht darin, dass man von den Deportierten nichts Konkretes erfährt, das ganze Geschehen im Anonymen versinkt337, während hingegen „Opa Winter“ Kontur gewinnt: eine schöne, weil siegreich-heile, optimistische Kontur. „‚Es wird schon alles gut‘, sagte er.“ Dieser Satz aber macht in Wirklichkeit deutlich, wie plausibel die folgende These Adornos und Horkheimers ist: Der häufig dem Emigranten [und ebenso den Shoah-Überlebenden; A.P.] zunächst erteilte wohlmeinend-drohende Rat, alles Gewesene zu vergessen, weil es ja doch nicht transferiert werden könne, und unter Abschreibung seiner Vorzeit ohne weitere Umstände ein neues Leben zu beginnen, möchte dem als gespenstisch empfundenen Eindringling nur mit einem Gewaltspruch antun, was man längst sich selber anzutun gelernt hat. Man verdrängt die Geschichte bei sich und anderen, aus Angst, dass sie einen an den Zerfall der eigenen Existenz gemahnen könne, der selber weitgehend im Verdrängen der Geschichte besteht. […] Darum wird Trauer mehr als alles andere verschandelt, bewusst zur gesellschaftlichen Formalität gemacht […]. 338
Kontur gewinnen vor dem Hintergrund dieses Habitus der Nachkriegs-Deutschen die Bildhaushalte, aus denen sich Fortes Text speist. „Opa Winter“ „zwinkert“ mit den Augen, er hat einen Bart, er ist „klein“, er bewegt sich tänzerisch-tänzelnd (also doch offenbar: mit Anklängen an feminine Bewegungsmuster), er ist „höflich“, zugleich aber auch gerissen: Immerhin versteht er es, sich reichlich mit Nahrung zu versorgen, während alle anderen hungern. Außerdem erkennt er Grenzen nicht an: Ihm steht, wie schon gesehen, das Gebiet des „Linksrheinischen“ offen – eine Form von Internationalismus, ausgewiesen durch Papiere, denen keine feste Zugehörigkeit zu den Deutschen entspricht. Man kann nicht umhin, in diesen Beschreibungsmustern die Klischees vom körperlich schwachen, seinen Vorteil nutzenden, nicht als „richtiger“ Mann anzusprechenden, vaterlandslosen Juden wiederzufinden. Stefan Braese urteilt mit berechtigter Schärfe: „[D]ie Darstellung der einzigen im Roman gestalteten jüdischen Figur reproduziert umrißgenau jenes Stereotyp des Juden, das vom Roman der 337 Anonymität spielte in der Tat eine wichtige Rolle – doch in anderer Hinsicht als Forte meint: „Für die Häftlinge sind die Wachen ein großer Rudel Tiere, ohne jede Individualität. […] Schließlich erinnert man sich auch nicht an jeden Hund, der einen auf der Straße anbellt, aber bestimmt an den, der einen gebissen hat.“ Neurath: Terror, S. 120. 338 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 226.
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westdeutschen Nachkriegsliteratur ausgeprägt worden war.“339 Das ursprüngliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen der jüdischen Figur und den Nicht-Juden kehrt sich folglich um: Der Jude ist nicht länger auf die wohlwollenden „Arier“ angewiesen, sondern umgekehrt die verarmten ‚Arier‘ auf die „Gutmütigkeit“ ‚des‘ Juden. Er ist es, der gleichsam zur Seite der Sieger gehört. Der eigentliche Protagonist des Buches – Fortes alter ego, ein kleiner Junge, ein Deutscher – fühlt sich hingegen als Überlebender im eigentlichen Sinne. Opa Winter, der Jude also, hat hingegen nicht überlebt. Das aber soll nicht heißen, dass er zu Tode gekommen sei, sondern vielmehr, dass sein Leben während der Diktatur selbst nie wirklich in Gefahr gewesen ist – immerhin lebte er ja von jeher „in Abrahams Schoß“. Daraus ist zu schließen, dass allein dem Kind, das zur deutschen Tätergesellschaft gehört, das Adjektiv ‚überlebend‘ zuerkannt werden kann. „Die Bombardierung durch die Alliierten wird erlebt in der Position eines doppelten Opfers“340 kommentiert Stefan Braese: als Opfer der Nazis und als Opfer des alliierten area bombings. Zurückblickend auf die ersten Auszüge aus Fortes Romantrilogie erschließt sich also, warum der Text so rasch über die Deportationszüge, die das Ruhrgebiet ‚judenrein‘ machen sollten, hinweggleitet – warum es also nicht zu „so etwas wie eine[r] berechtigte[n] voluptas oculorum“ kommt, für die Günther Anders plädiert: „eine dem Schmerz und der Empörung entstammende Neugier“.341 Die Opferkonkurrenz zwischen den Juden, die von der Deportation, und den Nicht-Juden, die von den Bomben bedroht sind, führt ins Zentrum des Erfolgs, den Dieter Forte mit seinem Romanwerk in den späten 1990er Jahren, also nach der „Zeitenschmelze“342, die 1989 begonnen hatte, feiern konnte.343 Ein Artikel, den Niklas Bender am 24.10.2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte, veranschaulicht exemplarisch die politischen Tendenzen, die sich dabei abzeichneten: eine Art Aufatmen, sich in einer Konstellation zu behaupten, die als ‚Opferkonkurrenz‘ wahrgenommen wurde. Angestrebt wurde eine Position, in der das eigene Leid (das der Deutschen unter den alliierten Bomben) losgelöst werden durfte von den Ursachen dieser Bomben. Bender bescheinigt Dieter Forte eine beispielhafte Verbindung von Ästhetik und Ethik: Ohne an Strenge in der moralischen Befragung nachzulassen, gelingt es Forte, die ästhetische und existentielle Dimension des Luftkriegserlebnisses zu vertiefen. Die von Sebald angestoßene Debatte verliert ihre Abstraktion, die dadurch entstehen mußte, daß ein nicht unmittelbar Betroffener die Unverhältnismäßigkeit der historischen Fakten und einige wenige Augenzeugenberichte mit einer literarischen Wand des Schweigens konfrontierte. Forte entwickelt aus der 339 Stefan Braese: „Bombenkrieg und literarische Gegenwart. Zu W.G. Sebald und Dieter Forte“, in: http://www.his- online.de/fileadmin/verlag/leseproben/9783936096002.pdf; S. 15, abgerufen am 16.1.2016; künftig zitiert als: Braese: „Bombenkrieg“. 340 Braeses interessanter und äußerst kritischer Artikel wurde eben schon genannt. Vgl. ebd., S. 15. 341 Anders: Mann, S. 89; Hervorhebungen A.P. 342 Der Ausdruck stammt von: Diner: Zeitenschwelle, S. 158. 343 Vgl. z.B. die Rezensionen von: Lothar Müller: „‚Ausgebombt.‘ Dieter Fortes ‚Schweigen oder Sprechen‘“, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.11.2002, zu finden auf: http://www.buecher.de/shop/lyrik—theater/schweigen-oder-sprechen/forte-dieter/ products_products/detail/prod_id/10632790/; abgerufen am 16.1.2016.
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Sicht des erlebenden Kindes und des Schriftstellers zugleich in besonderer Art und Weise eine der großen Fragen des zwanzigsten Jahrhunderts, die nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Seine Bemühungen könnten nicht zuletzt dazu dienen, die gerade im angloamerikanischen Raum geführte Diskussion um Trauma und Modernität zu erweitern, die sich bisher bevorzugt um den Ersten Weltkrieg und die Opfer des Holocaust drehte.344
Der letzte Satz muss besonders hervorgehoben werden: Bender plädiert implizit dafür, bestimmte „Themen“ als hinreichend erforscht zu den Akten zu legen, um jetzt den eigenen Traumata auf den Grund zu gehen. Doch wird dadurch nicht die Tendenz perpetuiert, vor der schon Giordano warnte? In seinem Buch zur „zweiten Schuld“ hatte er darauf hingewiesen, die „eigenen Leiden“ würden vielfach „aus dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung isoliert.“345 Stefan Braese ist hier mit seiner Kritik wiederum besonders hellsichtig und überzeugend: Unschuld oder mangelhafte Schuldfähigkeit des Kindes ist im Roman so vollständig durch Widerstand und Opferstatus substituiert, zugleich so vollständig ausgedehnt auf das deutsche Kollektiv, daß die historischen Subjekte des Nationalsozialismus nahezu unsichtbar bleiben, zumindest nicht mit im Keller zu sitzen scheinen.346
Die historische Wirklichkeit gerate dadurch aus dem Blick: „Die Bombardierten erlebten sich als Opfer; aber die Mehrheit von ihnen waren keine Antifaschisten, doppelte Opfer, sondern ahnte, daß diesen Bomben etwas wie eine Täterschaft vorangegangen war.“347 Diese Feststellung führt uns zurück zu „Abrahams Schoß“. Ausgehend von der Idee des Schutzes erweist sich die Unstimmigkeit des Bildes von David und Goliath, die ich im Detail nachzuvollziehen versuchte, schließlich doch als stimmig: Unterschwellig angetrieben von der Idee, es müsse, politisch korrekt, zugegeben werden, die Deutschen hätten sich in ihrer Mehrheit als böse Goliathe erwiesen, erklärt Forte einen Deutschen zum „stärksten Mann der Welt“. Das Umschlagen zurück ins Gegenteil erfolgt jedoch mit Leichtigkeit: Goliath muss den SA-Männern weichen, wird dadurch also vom bösen zum guten Starken. Und was David anbelangt, so erweist er sich folgerichtig als König der Juden und damit auch als König, der an die hungernden Deutschen „Schätze“ auszugeben hat – als Sieger. Der Satz „Es wird schon alles gut“ erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Parodie von Versuchen, den Genozid „schönzureden“, sondern als ernstgemeint.348 Für „Opa Winter“ wird ja wirklich „alles
344 Niklas Bender: „Hinter der Sprache das Grauen“. Luftkrieg und Literatur: Dieter Forte antwortet auf W.G. Sebald“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.10.2002, online zu finden auf: http://www.buecher.de/shop/lyrik—theater/schweigen-oder-sprechen/fortedieter/products_products/detail/prod_id/10632790/, abgerufen am 16.1.2016. 345 Giordano: Zweite Schuld, S. 37. 346 Braese: „Bombenkrieg“, S. 17. 347 Ebd., S. 21. 348 Es ist daher sehr die Frage, wie die Rezensentin Sabine Doehring zu folgender Einschätzung kommen konnte: „Forte gelingt die schwierige Aufgabe, von den fast endlosen Bombennächten mit bedrückender Genauigkeit zu erzählen und gleichzeitig Pathos und Sentimentalität zu vermeiden.“ Sabine Doering: „Am seidenen Faden gestrickt. Eine
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gut“: Er isst „Speck, Brot, Kartoffeln und Butter“. Alle mythischen Elemente erscheinen mithin als Vorbereitung dieses letzten, abschließenden: des Mythos nämlich, die Juden hätten eine Realität erlebt, die trotz aller Furchtbarkeit einen optimistischen Blick in eine Zukunft erlaubte: eben eine mit „Speck, Brot, Kartoffeln und Butter“. „Es wird schon alles gut“. Was ist darauf zu erwidern? Primo Levi schreibt: „Oggi penso che, se non altro per il fatto che un Auschwitz è esisto, nessuno dovrebbe ai nostri giorni parlare di Provvidenza […].“349 („Heute denke ich, dass, und zwar allein schon aufgrund der Tatsache, dass es ein Auschwitz gegeben hat, in unseren Tagen niemand mehr von Vorsehung sprechen sollte.“ [Übersetzung A.P.]) Doch eine solche „Vorsehung“ scheint „Opa Winter“ geschützt zu haben. Stefan Braese spricht daher von einem „tiefgreifende[n] erinnerungskulturelle[n] Defekt“ in Fortes Roman.350 Gerda Kaltwasser fügt hinzu: „Wir, Fortes deutsche Zeitgenossen, kommen in diesem Roman zu gut weg.“ Und weiter: „Wie gut uns das tut.“351 Eine weitere Antwort auf das „Herz Erwärmende“ von Fortes Text besteht in der Konkretion und Nüchternheit, mit der sich Ausschnitte aus der Geschichte Düsseldorfs Heimat finden. Dieter Fortes Romantrilogie“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.11.1999, online zu finden auf URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezensionbelletristik-am-seidenen-faden-gestrickt-11308487-p2.html?printPagedArticle=true#page Index_2; abgerufen am 16.1.2016. „In dieser Schilderung [der eigenen Erfahrungen; A.P.] vermag das Erzähl-Ich des Jungen deutlich mehr Stringenz als Organon der Wahrnehmung zu entwickeln als in den Erzählungen über das Widerstandsprofil des ‚Quartiers‘, gar der Episoden um ‚Opa Winter’. Selbstzeugnisse des Autors legen ein besonderes Maß an Authentizität gerade dieser Partien nahe. Die Kennung des Romans besteht jedoch gerade nicht in einem zu mutmaßenden Grad von Authentizität der Passagen über die Bombennächte – sondern in ihrer disparaten Stellung zum übrigen Erzählkosmos. Auch wenn der Erlebniskern der Schilderung lesbar ist, ja, identifizierbar scheint als die Schilderung eines Kindes – das heißt eines Subjekts, an das Fragen nach moralischer, sozialer, gar juristischer Schuld sinnvoll nicht oder nur äußerst eingeschränkt gerichtet werden könnten –, ist diese Rede eingesetzt als Ausdruck einer Figurengruppe, deren nachhaltig demonstrierter Opferstatus gerade diese Fragen nach Schuld von vornherein abwehren bzw. negativ beantworten können soll.“ Braese: „Bombenkrieg“, S. 17. 349 Levi: Uomo, S. 140. 350 Braese: „Bombenkrieg“, S. 22. An anderer Stelle heißt es weiter: „Die farbige und detailgenaue Schilderung des ‚Quartiers‘ und die Unschärfe im Blick auf jene Subjekte, in denen das, was geschah, seinen wenn auch scheinbar oft nur passiven Halt fand, wird flankiert von Sequenzen, in denen nachdrücklich ein kollektiver Opferstatus ausgeschrieben wird. Dem kollektiven Subjekt des Romans: der Familie des Ich-Erzählers, der Bewohnerschaft des ‚Quartiers‘, mochte – als explizit gekennzeichneten Mitgliedern eines antifaschistischen Widerstands – im Blick manchen Lesers dieser Status ohnehin schon zugewachsen sein. Doch es ist gerade nicht nur dieses spezifische Subjekt, dem das Attribut des Opfers zuteil wird. Meist ausgehend von Erfahrungen und Erlebnissen der Familienmitglieder, werden die Zuschreibungen zusehends ausgedehnt.“ Braese: „Bombenkrieg“, S. 14. Ich stimme auch dieser Kritik von Braese an Forte uneingeschränkt zu. 351 Gerda Kaltwasser: „Übersonnte Wirklichkeit“, in: Rheinische Post vom 30. September 1995, zitiert nach: Braese: „Bombenkrieg“, S. 22.
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rekonstruieren lassen, der Stadt also, die, wie schon erwähnt, im Zentrum seines Romans steht: Für den Transport von 70 Juden aus Wuppertal nach Derendorf sollten ein Vierachswagen oder zwei Zweiachswagen an den Personenzug Pz286 angehängt werden, der in Steinbeck um 14:39 Uhr abfuhr und um 15:20 Uhr in Düsseldorf ankam. Die 100 Juden aus Mönchen-Gladbach sollten in zwei Wagen transportiert werden, die an den Personenzug Pz2303 angehängt wurden, der Mönchen-Gladbach um 14:39 Uhr verließ und in Düsseldorf um 15:29 Uhr eintraf. Für die 145 Juden aus Krefeld sollte der Personenzug, der Krefeld um 15:46 Uhr verließ und um 17:19 Uhr in Düsseldorf ankam, zwei zusätzliche Vierachswagen für Passagiere und einen Güterwaggon angehängt bekommen. Der Güterwaggon musste beim Güterbahnhof Krefeld mit Bestimmungsort Izbica angefordert werden. Die Bahnverwaltung in Essen teilte einen Sonderzug Da152 mit Personenwagen zu, an den für Gepäck zwei Güterwaggons angehängt werden sollten. Die Wagen mussten in Essen mit Bestimmungsort Izbica angefordert werden. Die Güterwaggons sollten zum Schlachthausbahnhof dirigiert werden, während der Sonderzug Da152 sowie die Wagen aus Wuppertal, Krefeld und Mönchen-Gladbach zum Bahnsteig Tussmannstadt geleitet wurden…352
Diese Beschreibung zeigt, wie komplex die organisatorischen Aufgaben waren, die schon in Bezug auf diesen einen Zug zu bewältigen waren. Ankunfts- und Abfahrtszeiten mussten aufeinander abgestimmt, Waggons für verschiedene Bahnhöfe bereitgestellt und für einen angemessenen Transport der begleitenden Wachmannschaften (die – selbstverständlich – in Personen- und nicht in Güterwagen reisten) gesorgt werden. Außerdem wollte die Zusammenführung der Waggons, die Juden aus umliegenden Städten nach Düsseldorf brachten, organisiert sein. Die Arbeit des Bahnpersonals erweist sich also als große, auf Effizienz bedachte Maschinerie – und wieder einmal nicht als „Abrahams Schoß“. Die Fachsprache der Bahn verstärkt diese Feststellung. Die Bezeichnung „Da“ (in Da 152) war wahrscheinlich, so die Vermutung Saul Friedländers, eine Abkürzung für „Durchgangsaussiedler-(Zug)“. Es gab also Sprachregelungen, die dazu beitrugen, dass das Schicksal, das den Deportierten zugedacht war, nicht in den Vordergrund trat. Aus der Tatsache, dass die Menschen „von dem angeblich Wirklichen daran gehindert“ wurden, „das wirklich Wirkliche in Evidenz zu halten“353, ergibt sich eine ethische Forderung: „Die moralische Bedingung der Wahrheit ist heute die Vorstellung.“354 Aber genau die fehlt bei Forte in entscheidenden Bereichen. 352 Friedländer: Vernichtung, S. 518-519; Hervorhebung A.P. Friedländer nimmt Bezug auf: Archives of the Holocaust. An international collection of selected documents, hg. von Henry Friedländer und Sybil Milton, 22 Bde, hier Bd. 20, doc. 7, New York 1993, S. 1718. Vgl. auch Götz Aly: Im Tunnel. Das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943, Frankfurt/M. 2004, S. 317. 353 Anders: Mann, S. 81. 354 Ebd., S. 82. – Vor einem ähnlichen Hintergrund schreibt die Protagonistin in Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster – offenbar mit Wendung an sich selbst: „Mit einmal ist dir das Interesse dafür abhanden gekommen, zu beschreiben, wie einige Leute – Deutsche – das Ende des Krieges erlebten haben.“ Wolf: Kindheitsmuster, S. 386. – Merkwürdig unklar ist Fortes Position auch in der folgenden Passage, die einem Spiegel-Artikel entnommen
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Sie fehlt zugleich auch einer Publikation, für die die Bundeszentrale für politische Bildung verantwortlich zeichnet: Sie gab 2007 eine Autobiographie eines AuschwitzÜberlebenden heraus, der als Kind mehrere Lager und einen Todesmarsch überlebt hatte.355 Der Titel dieses in den vorherigen Kapiteln meines Buches bereits mehrfach zitierten Erinnerungstextes entspricht der erinnerungspolitischen Maxime, die auch Forte leitet, nämlich das Furchtbarste zu einer abenteuerlichen Geschichte mit happyend umzubiegen: „Ein Glückskind. Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein neues Leben fand.“ Das Sentimentalisch-Verkitschende dieses Titels bedarf keines Kommentars. Doch lohnt es, sich den Kontrast vor Augen zu halten, der zwischen dem „Glücks“-Begriff des Titels und dem „Glücks“-Begriff, wie er von Thomas Buergenthal, dem Überlebenden, selbst vertreten wird, entsteht: Jahre später, wenn mich die Leute fragten, wie es in Auschwitz gewesen sei, sagte ich immer, dass ich Glück gehabt hatte, dass man mich in Auschwitz hineinließ. Diese Antwort rief unweigerlich einen entsetzten Gesichtsausdruck hervor. Doch ich meinte es ernst. […] Wahrscheinlich verzichteten die zuständigen SS-Leute darauf [nämlich auf die Selektion an der Rampe; A.P.], weil sie annahmen, dass Kinder und andere nicht arbeitsfähige Personen im Arbeitslager bereits aussortiert worden waren. Wenn es eine Selektion gegeben hätte, wäre ich ermordet worden, bevor ich das Lager hätte erreichen können.356
Dieter Forte steht also mit seiner Glücksbotschaft von „Abrahams Schoß“ nicht allein da. Und damit bin ich erneut bei Günter Eich. Das Bedürfnis, mit Hilfe mythischist und sich mit Sebalds Lufkriegsbuch auseinandersetzt: „Sebalds Arbeit hat in ihrem Ton sehr viel von einem gütigen professoralen Bemühen. Alles kommt aus unendlicher Distanz. Das liest sich denn oft so: ‚Die Fähigkeit der Menschen zu vergessen … wurde selten auf eine bessere Probe gestellt als damals in Deutschland. Man entschließt sich, zunächst aus reiner Panik, weiterzumachen, als wäre nichts gewesen.‘ Als hätte man sich in der Stunde Null in Ruhe zusammengesetzt, alle Aspekte der Katastrophe gewissenhaft durchdiskutiert, und nach reiflicher Überlegung und Abwägung der eigenen Schuld und der Schuld der alliierten Bomberverbände sich doch ‚entschlossen’ weiterzumachen! Als hätte man ‚in der Panik’ auch nur eine Sekunde lang eine Wahl gehabt und nicht das nächste Brett aus den Trümmern gerissen, weil sonst ein anderer sich damit ein wärmendes Feuer entzündet hätte. Man handelte, wie der Körper es einem sagte, in einer Art von Lebensautomatismus, in dieser Steinzeit fiel kein Satz über Schuld und Unschuld, Sinn oder Unsinn, Tod oder Leben, es mußte nichts gesagt werden, allen – soweit meine Erinnerung – war klar, was geschehen war und warum es geschehen war, und wenn Ausländer es zum erstenmal sahen und schockiert herumstanden und von Hölle sprachen und entsetzt waren – wir waren es gewohnt, wir lebten da.“ Dieter Forte: „Menschen werden zu Herdentieren. Dieter Forte über W.G. Sebalds ‚Luftkrieg‘-Thesen und eigene Erinnerungen an die Bomben“, in: Der Spiegel vom 5.4.1999; zu finden auf: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d10933003.html; abgerufen am 16.1.2016. 355 Cordelia Edvardson schreibt in Bezug auf diese Transporte, sie seien „von anderen später die ‚Todesmärsche‘ genannt“ worden; „die, welche dabei waren, nannten sie nicht so, damals nicht, sie starben nur.“ Edvardson: Kind, S. 33. 356 Buergenthal: Glückskind, S. 83.
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biblischer Elemente die Wirklichkeit der Geschichte extremer Gewalt darstellbar zu machen, findet sich auch bei ihm, wenngleich zurückhaltender. URALTER Was siehst du? URALTE erschrocken: Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten. URALTER Siehst du es auch? URALTE Nein, ich will nicht mehr hinaussehen. Flüsternd: Es sind Riesen, sie sind so groß wie die Bäume. Ich habe Angst.357
Als herkules- bzw. (treffender) goliathartig werden auch hier die Machthaber wahrgenommen: als Riesen. Allerdings werden sie, anders als Fortes Figur, eindeutig als böse ausgewiesen. Doch ist damit auch eine Reflexion der Rolle der Deutschen impliziert? Gelingt es Eich, die gar zu leichtfertige Verwendung des Wortes „Herz“ zu durchbrechen? Gehen wir einen Schritt weiter und sehen wir uns die mythische Dimension des Hörspiels genauer an. Vierzig Jahre in der Wüste Ein Mithäftling fragte mich an einem der ersten Tage: „Wissen Sie noch, wie wir damals diese Pyramiden gebaut haben?“358
Die Geschichtsidee der Nationalsozialisten war eine millenarische: Der Begriff des ‚Tausendjährigen Reiches‘ stellte die Säkularisierung einer mittelalterlichen Konzeption dar, die es wiederzufinden und in eine großartige, da hegemoniale Zukunft hinein zu verlängern gelte. Diese ebenso beängstigende wie abstrakt wirkende Vorliebe für große und größte Zahlen wirft die Frage auf, ob in Eichs Hörspiel nicht ein Gedanke verarbeitet wird, der in der Tat (wie ein kaum hörbares, da bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Echo biblischer Texte) auf die Politik der Deportation der jüdischen Bevölkerung Europas einwirkte. Die Überzeugung der Nationalsozialisten, die Juden seien ein Volk, das nur zum Schein Wurzeln in den verschiedenen Ländern geschlagen habe, diente als Argument für die Deportation: Wer keine Fähigkeit zum Heimisch-Sein hatte – die ‚Wurzellosen‘ –, sollte zum ‚Weiterziehen‘ gezwungen werden (der Zug zog, und in ihm die Menschen). Wer aufgrund ‚rassischer Eigenschaften‘ das ‚Tausendjährige Reich‘ nicht als Heilsversprechen, sondern nur als Bedrohung wahrnehmen konnte, sollte das Heil seines ‚Gelobten Landes‘ anderswo suchen. Das Bemühen der im Vernichtungsapparat tätigen Personen, die Fiktion aufrechtzuerhalten, Ziel der Deportationen sei es, die Juden in fernen Landstrichen anzusiedeln, wo sie eine neue, ihnen ‚gemäßere Heimat‘ finden würden, könnte vor dem Hintergrund der biblischen Wüstenwanderung interpretiert werden. Es ist, als hätten sich die Herrenmenschen mit ihrer „Niemandsherrschaft“ (so Hannah Arendts Ausdruck für eine Tyrannis, „der man keine Rechenschaft abfordern kann, […] da es hier tatsächlich Niemanden mehr gibt, den man zur 357 Eich: Träume, S. 357. 358 Neurath: Terror, S. 22.
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Verantwortung ziehen kann“359) selbst zum Herrgott aufgeworfen. Eine Entscheidung, die in alttestamentarischen Zeiten in Gottes Hand lag, fiel im Nationalsozialismus den Eichmännern hinter ihren Schreibtischen zu: Die Juden waren auf eine Wanderung zu schicken – in die Wüste. Während aber Jahwe den Verlust der Heimat mit dem Versprechen begleitete, das Gelobte Land warte auf sie, boten die nationalsozialistischen Schergen eine perverse Neuinterpretation des biblischen Textes. Für sie ersetzte die Bewegung weg aus dem Bekannten, hinein in den Tod, die göttliche Dialektik, derzufolge der Verlust der Heimat die Hoffnung auf ein besseres Leben enthalten hatte. Weil die Nationalsozialisten in Millenien dachten, konnte die alttestamentarische Beschreibung der vierzigjährigen Wanderung und Qual des Volkes Israel zu einem impliziten (beileibe nicht bewussten!) Bestandteil ihres eigenen Denkens werden. Es versteht sich, dass dieser Anschluss an die biblische Geschichte auf charakteristische Weise pervertiert wurde: Im Verlaufe des Jahres 1941 wurde immer klarer, dass die „Reise“ für die Juden mit dem Tod enden sollte. Was aber gleichsam eine (perverse) Verbindung zur Wüstenwanderung herstellte, war ihre Unausweichlichkeit. So wie im Alten Testament sollte die Wanderung alle Juden – Frauen wie Männer, Kinder wie alte Leute – einbeziehen. Die Selbstvergottung, die sich in der Anmaßung der Nationalsozialisten aussprach, selbst über den ‚Auszug‘ der Juden zu verfügen, erfährt die vielleicht hellste Beleuchtung, wenn man die Verwunderung einbezieht, die eine jüdische Überlebende aus Polen – die (wie alle anderen Überlebenden) in Wirklichkeit „eigentlich ein[e] übrig Gebliebene“360 war – kurz nach Kriegsende in einem Interview mit David Boder äußerte. Und so sahen wir zwei Transporte kommen und gehen. Tote Menschen in Waggons gepfercht und deportiert. Warum mussten sie sie nach Deutschland deportieren? Um sie zu begraben? Sie könnten sie hier begraben. Tote, junge erschöpfte Skelette.361
Der Umstand, dass, entgegen jedem ökonomischen Kalkül362, niemand vom ‚Zug durch die Wüste‘ ausgenommen wurde, verschaffte den Tätern augenscheinlich das 359 360 361 362
Arendt: Macht, S. 39-40. Diner: Zeitenschwelle, S. 175. Interview mit Fania Freich, in: Broder: Die Toten, S. 89-123, Zitat S. 119. Vielleicht war aber auch ein ökonomisches Kalkül vorhanden? François Wetterwald berichtet mit Blick auf Ebensee, eines der Nebenlager von Mauthausen: „Il faut désigner les hommes d’un ‚transport‘. Il faut choisir les cinq cents hommes les plus faibles et les plus malades du camp pour les renvoyer à Mauthausen. Ils seront remplacés, nombre par nombre, immédiatement, par des hommes en meilleur état qui doivent arriver demain. Tant que le four crématoire n’est pas terminé, il est plus facile de faire voyager, en wagons de marchandises, le bétail sur pied, faible certes, mais qui pourra toujours faire le chemin qui le sépare du four crématoire tout seul, que de transporter en camion cinq cents cadavres. Tout, on le voit, se résume dans ce cas à un simple problème de transport.“ Wetterwald: Morts, S. 50. („Männer sind für einen ‚Transport‘ zu benennen. Ausgewählt werden müssen die fünfhundert schwächsten und am schwersten erkrankten Männer des Lagers, damit man sie nach Mauthausen zurückschicken kann. Einer nach dem anderen werden sie umgehend von Männern in besserem Zustand ersetzt, die morgen ankommen sollen. Solange der Ofen des Krematoriums nicht fertig ist, ist es einfacher, das lebende Schlachtvieh in
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Gefühl, selbst an die Stelle Gottes getreten zu sein. Es war, als erfüllten sie Prophezeiungen, deren Urheber sie zugleich waren. Die Juden seien nicht lebensfähig, also würden sie sterben. Die Juden wünschten, die Wanderung, die seit der Antike nur scheinbar zu einem Abschluss gefunden habe, fortzusetzen (der Versuch, ins Exil zu entkommen, als eine von ihnen getroffene ‚Wahl‘) – also würden sie erfahren, wohin man sie fuhr. Die Juden vertrauten auf das Versprechen der göttlichen Macht, also würden sie sehen, wer nun der Herr war, der Macht über sie hatte. Die Auserwähltheit gehöre untrennbar zum Auszug des Volkes Israel, also werde auch jetzt ausgewählt – auf der Rampe. Primo Levi notiert in Bezug auf die furchtbaren Geschichten, die sich die jüdischen Häftlinge aus allen Teilen Europas in den Lagern gegenseitig erzählten, sie seien einfach gewesen, „semplice, incomprensibili come le storie della Bibbia. Ma non sono anch’esse storie di una nuova Bibbia?“363 Bei Eich hat sich der Rekurs auf große, „runde“ Zahlen, wie sie sich sowohl im alttestamentarischen Text als auch – auf perverse Weise säkularisiert – im ‚Dritten Reich‘ finden, literarisch niedergeschlagen. „40 Jahre“ werden auch bei ihm als Zeit-Raum angegeben, der die Reisenden einschloss. Es sind die Ältesten, diejenigen also, die am weitesten zurückblicken können, die die Hypothese der symbolischen Zahl aufstellen:
Güterwaggons auf die Reise zu schicken, schwach zwar, doch stark genug, um den Weg, der sie vom Ofen des Krematoriums trennt, allein zurückzulegen – einfacher, als in einem Lastwagen fünfhundert Kadaver zu transportieren. Wie man sieht, lässt sich alles in einem schlichten Transportproblem zusammenfassen.“ [Übersetzung A.P.]) – Die Vorbereitung derer, die nicht mehr rechtzeitig, d.h. lebendig verschickt werden konnten, sei folgendermaßen vor sich gegangen: „Et tant que le four ne sera pas construit, deux fois par semaine, on prépare, sous nos fenêtres, en plein jour, devant tous les malades, les expéditions à Mauthausen. De grandes caisses arrivent de la menuiserie. On y tasse à coups de talons deux ou trois corps, un couvercle à claire-voie est fixé par quelques clous, et il n’y a plus qu’attendre les camions qui viendront prendre leur chargement le lendemain matin. Je me rappelle que, deux jours après mon arrivée à Ebensee, le soir, en revenant du bloc des contagieux, j’ai rencontré une pile de ces grandes caisses sur le bord du chemin; je ne savais pas ce que c’était et me suis penché sur une fente qui bâillait entre des planches rugueuses de sapin. Alors j’ai vu, j’ai vu deux yeux grands ouverts qui luisaient dans l’ombre et qui semblaient me regarder avec reproche.“ Ebd., S. 40. („Und solange der Ofen nicht gebaut ist, bereitet man zweimal pro Woche unter unseren Fenstern, am hellichten Tag, vor allen Kranken, die Sendung nach Mauthausen vor. Große Kisten kommen aus der Tischlerei. Mit Fußtritten quetscht man zwei oder drei Körper hinein, ein Deckel mit Drahtgeflecht wird mit einigen Nägeln festgemacht, und jetzt muss man nur noch auf die Lastwagen warten, die am nächsten Morgen kommen, um ihre Ladung abzuholen. Ich erinnere mich, dass ich zwei Tage nach meiner Ankunft in Ebensee am Abend, als ich gerade vom Block der Patienten mit ansteckenden Krankheiten zurückkam, am Rande der Straße auf eine Reihe dieser großen Kisten gestoßen bin; ich wusste nicht, was das war, und habe mich über einen Spalt gebeugt, der mir zwischen den rohen Brettern aus Tannenholz entgegengähnte. Dann habe ich gesehen, ich habe zwei weit geöffnete Augen gesehen, die in der Dunkelheit glänzten und mich vorwurfsvoll anzublicken schienen.“ [Übersetzung A.P.]) 363 Auf Deutsch: „[E]infach, unverständlich wie die Geschichten der Bibel. Aber sind diese nicht auch Geschichten einer neuen Bibel?“ [Übersetzung A.P.] Levi: Uomo, S. 59.
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URALTER Es sind sicher an die vierzig Jahre her. URALTE Ja, so lange ungefähr.364
Langsamkeit, Dauer und Geduld werden hier implizit zu den Attributen der Eingeschlossenen erklärt, die im Zentrum des ersten Traumes stehen. Es ist daher kein Zufall, wenn auch Elias Canetti in seiner poetischen Anthropologie Masse und Macht die Wanderung des Volkes Israel unter einer Überschrift diskutiert, die die Länge der Reise und das immer neue Bemühen, geduldig zu bleiben, betont: „Langsamkeit oder die Ferne des Ziels“ heißt das Kapitel. In ihm steht zu lesen: Die langsame Masse hat die Form eines Zuges. Sie kann von Anfang an aus allen bestehen, die zu ihr gehören, wie beim Auszug der Kinder Israel aus Ägypten. Ihr Ziel ist das Gelobte Land, und sie sind eine Masse, solange sie an dieses Ziel glauben. Die Geschichte ihrer Wanderung ist die Geschichte dieses Glaubens. Oft sind die Schwierigkeiten so groß, dass sie zu zweifeln beginnen. Sie hungern oder dürsten, und sobald sie murren, sind sie von Zerfall bedroht. Immer wieder bemüht sich der Mann, der sie anführt, ihren Glauben zu retablieren. Immer wieder gelingt es ihm, und wenn nicht ihm, so gelingt es den Feinden, von denen sie sich bedroht fühlen. Die Geschichte der Wanderung, die sich über vierzig Jahre erstreckt, enthält viele Einzelbildungen von Massen rascher und akuter Natur […]. Aber sie sind alle der umfassenden Vorstellung einer einzigen, langsamen Masse zugeordnet, die sich auf ihr gelobtes Ziel hinbewegt, das Land, das ihnen verheißen wurde. Die Erwachsenen unter ihnen werden alt und sterben ab, Junge werden geboren und werden groß, aber auch wenn die Individuen alle andere sind, der Zug als ganzer bleibt derselbe. Es fließen ihnen keine neuen Gruppen zu. Von Anfang an ist bestimmt, wer zu ihnen gehört und ein Anrecht auf das verheißene Land hat. Da diese Masse nicht sprunghaft wachsen kann, bleibt es während ihrer ganzen Wanderung die eine kardinale Frage: Wie macht sie es, dass sie nicht zerfällt?365
Viele Motive, die Canetti, von der biblischen Geschichte ausgehend, herausschält, trifft man auch bei Eich wieder: die Dauer der Reise; die leitende Position des Uralten als eines zweiten Moses; die Anfechtungen, denen er durch den Ungehorsam seiner Leute ausgesetzt ist; die Einbeziehung verschiedener Generationen in die Wanderung; die Idee der Zusammengehörigkeit derjenigen, die zum Zug (im doppelten Sinne des Wortes) gehören; die Langsamkeit der Bewegung aller („Ein langsam fahrender Zug“366); die durch die Auserwähltheit bedingte Unmöglichkeit, neue Menschen von außen in die bestehende Masse aufzunehmen; die ‚Auserwähltheit‘ der Juden; die Gefahr eines Zerfalls von Innen her. Dieser letzte Aspekt ist von besonderer Bedeutung, denn fast gewinnt man den Eindruck, als beginne der Zug in dem Augenblick schneller zu werden, in dem der Blick nach draußen freiwillig verschlossen und also die Hoffnung auf das Gelobte Land, das es nach Überwindung aller Gefahren geben muss, aufgegeben worden ist. Damit wären die Eingeschlossenen gleichsam selbst verantwortlich dafür, dass sich die Hoffnung nicht erfüllt, die Wirklichkeit des Gelobten Landes ihnen also verschlossen bleibt. Sie hätten die Kraft verloren, 364 Eich: Träume, S. 353. 365 Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/M. 2001, S. 43; künftig zitiert als: Canetti: Macht. 366 Eich: Träume, S. 352; Hervorhebung A.P.
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weiterhin auf Gott zu vertrauen. Sie hätten sich gegen die Tradition gestellt, die Moses durch die Wüstenwanderung dauerhaft in die jüdische Identität eingeschrieben hatte. Dass gerade orthodoxe Juden, die ab 1933 unter die totale Herrschaft der Deutschen geraten waren, bereit waren, ihr Schicksal in einer Kontinuität mit der alttestamentarischen Wüstenwanderung zu sehen, betont Elie Wiesel, der 1944 zusammen mit seiner Familie aus Szeget deportiert wurde. Für ihn gilt emphatisch die canettische These, die Geschichte der Wanderung der Juden sei die Geschichte des Glaubens an das Gelobte Land. C’est fou comme on s’habitue vite à tout. Y pensant aujourd’hui, j’ai du mal à l’admettre. Quelques heures après avoir respiré l’air nauséabond et suffocant du wagon, voilà que nous nous sentons chez nous. „Chez nous“, c’est le bout de plancher sur lequel je suis assis. Je songe aux exilés juifs de l’antiquité et du Moyen Age; je suis leur frère. […] Si l’on nous avait dit que ce voyage durerait des semaines ou même des années, nous aurions tous répondu: plaise à Dieu qu’il en soit ainsi. Car rien n’est pire que l’inconnu. Pourtant, notre destination est inconnue. On nous l’a assez répété. Je m’accroche à la notion que, pour Dieu, rien n’est inconnu, tandis que pour l’homme rien n’est connu.367 Es ist verrückt, wie schnell man sich an alles gewöhnt. Wenn ich heute daran zurückdenke, gebe ich’s nur ungern zu. Einige Stunden, nachdem wir zum ersten Mal die Übelkeit erregende und stickige Luft des Waggons eingeatmet haben, fühlen wir uns schon Zuhause. „Zuhause“ – das ist der Holzboden, auf dem ich sitze. Ich denke an die jüdischen Exilierten der Antike und des Mittelalters; ich bin ihr Bruder. […] Wenn man uns gesagt hätte, dass diese Reise Wochen oder gar Jahre dauern würde, hätten wir alle geantwortet: Möge es Gott gefallen, dass dem so ist. Denn nichts ist furchtbarer als das Unbekannte. Dabei ist unser Zielort unbekannt. Man hat uns das immer wieder gesagt. Ich aber halte mich an den Gedanken, dass für Gott nichts unbekannt ist, während für den Menschen nichts bekannt ist. [Übersetzung A.P.]
Betont wird hier ebenso wie bei Eich und Canetti, dass die Dauer der ‚Reise‘ das Vertrauen der ‚Ziehenden‘ nicht grundlegend in Frage zu stellen vermochte. Wiesels Text impliziert, dass er im Deportationszug mit Leichtigkeit die Jahrhunderte, die ihn vom Zug ins Gelobte Land trennten, überwunden habe – nämlich im Gefühl, den Juden der Antike ein „Bruder“ zu sein. „Vergesst niemals, dass ihr mit Augen seht und mit Ohren hört, die Jahrtausende älter sind als die unserer Mitmenschen“ empfahl nach Josef Katz’ Erinnerungen auch Leo Baeck den TeilnehmerInnen seiner Seminare.368 Eichs Deportierte sind seit vierzig Jahren unterwegs. Auch ihre Haltung ist insgesamt vertrauensvoll. Anfechtungen durch Zweifel werden kollektiv bekämpft und gedämpft. „Schaut euch um: keine Spur von eurer Welt“369, sagt der Enkel und meint damit, dass man sich abzufinden habe mit den wüstenartigen Verhältnissen, die die Reise mit sich bringe. Wiesel argumentiert, ganz in Parallele zu dieser fiktionalen Ausgestaltung, psychologisch wären er und die Seinen zu einem jahrelangen, geduldigen
367 Elie Wiesel: Tous les fleuves vont à la mer, Paris 1996, S.107; Hervorhebungen A.P.; künftig zitiert als: Wiesel: Fleuves. 368 Josef Katz: Erinnerungen eines Überlebenden, Kiel 1988, S. 20; künftig zitiert als: Katz: Erinnerungen. 369 Eich: Träume, S. 355.
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Ausharren bereit gewesen, nämlich aufgrund des tiefen Vertrauens, das sie zu Gott gehabt hätten. Der Zweifel, ob nicht die Unbekanntheit des Reisezieles zu Widerstand oder Flucht hätte Anlass geben müssen, sei gleichfalls durch ihr Gottvertrauen außer Kraft gesetzt worden: Auch wenn das Land, in das man fuhr, ein unbekanntes war, eines, von dem man nichts wusste, musste es doch in dem, was Gott kannte und wusste, aufgehoben sein – und in diesem Wissen die Menschen, die sich auf dieses Land zubewegten: Geborgenheit im Vertrauen auf den Zug als „Zuhause“. Das biblische Gegengewicht dazu setzt Rousset mit Blick auf die zynische Gleichgültigkeit eines SSMannes: Des cris partent des wagons. - A boire! A boire! Il répond en français: - Un peu de patience, vous êtes arrivés. C’est bientôt fini. Il s’en va. Encore une fois le désert.370 Schreie aus den Waggons. - Gebt uns zu trinken! zu trinken! Er antwortet auf Französisch. - Noch ein wenig Geduld, Ihr seid angekommen. Es ist bald vorbei. Er geht weg. Abermals die Wüste. [Übersetzung und Hervorhebung A.P.]
Nimmt man alle zitierten Zeugnisse in den Blick, so erscheint das Motiv von ‚Zug‘ und ‚Aus-Zug‘ in Darstellungen der Deportationserfahrung als regelrechter Topos, der eine zusätzliche, nämlich historisch auf die Bücher Moses bezogene Erklärung dafür enthält, dass Züge nach der Shoah zu einer sowohl literarischen als auch visuellen Ikone haben werden können. Die alttestamentarische Geschichte erweist sich als Folie, vor der – mitunter übereinstimmend, mitunter auf kantige Weise kontrastierend – die moderne Gewalt reflektiert wird. Über den Aspekt der langen Dauer und der Wüste hinaus gibt es jedoch noch weitere Elemente, die die mythische Dimension des eichschen Textes an alttestamentarische sowie zeitgenössische Texte zurückbinden. Und um eines dieser Elemente soll es im Folgenden gehen: In den Kontext des Vertrauens zu Gott gehört das Verhältnis der Juden zur Nahrung, oder, allgemeiner, zur Versorgung mit dem zum physischen Überleben Nötigen. Wenden wir uns diesem Aspekt zu, und zwar erneut unter Hinzuziehung von Zeugnissen aus der Shoah, durch die das eichsche Hörspiel erst die volle, historische Tiefenschärfe gewinnt. Diese zu erreichen, scheint mir sehr wichtig, um die musilsche „Genauigkeit der Seele“ (bzw. Vorstellungskraft) zu gewinnen, die dem Leichtfertig-Sentimentalen des „Herzens“ – der „Honigfalle“ der Gefühle – entgegensteht. Anders gesagt: Die biblischen Motive, die sich bei Forte als Grundlage für die Verkitschung erwiesen hatten, scheinen mir eine Gefahr auch für den eichschen Text darzustellen. Seine Anspielungen auf das Alte Testament genauer unter die Lupe zu nehmen, bedeutet hingegen, mit den methodischen Forderungen ernst zu machen, die am Mann ohne Eigenschaften beeindrucken: nicht nur streng denken, sondern auch und zuallererst: streng fühlen – nämlich in steter Auseinandersetzung mit dem, was wirklich war.
370 Rousset: Jours, S. 45.
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SIEBTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: HUNGER UND DURST Göttliches Manna Keiner darf hungern und frieren; wer’s doch tut, kommt ins Konzentrationslager.371
Noch einmal will ich also fragen: Welche Rolle spielen Nahrung (und Trinken) in Eichs Träumen? Welche Anspielungen auf die Bibel liegen vor? Und wie gestaltet sich das Verhältnis zur historischen Wirklichkeit, die den – dieses Mal modernen – Hintergrund für die Handlung bildet? Der erste Eindruck ist der folgende: Es ist, als gebe es im eichschen Zug das gleiche göttliche Manna wie während der Wüstenwanderung unter Moses – wenn auch in Form verschimmelten Brotes (und nicht etwa göttlicher Labsal): URALTE Und dieser schwache Lichtschein, woher kommt er? ENKEL Durch die Klappe, durch die man uns das Brot hereinschiebt. URALTER Das schimmelige Brot. ENKEL Brot ist immer schimmelig. URALTER Weil du kein anderes kennst.372
Auch wenn die Nahrung von schlechter Qualität ist, ist bei Eich nirgendwo davon die Rede, dass die Eingeschlossenen unter Hunger oder Durst leiden würden. Obwohl sie von jedem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten sind, scheinen sie während eines Zeitraums von vier Jahrzehnten auf wundersame Weise versorgt worden zu sein: unzureichend und genusslos zwar, doch so, dass das Weiterleben möglich war. In dieser Hinsicht tut sich eine weitere Parallele zu Wiesel auf. Anders als in Deportationsberichten, die von assimilierten Juden stammen, tritt bei ihm die dramatische Versorgungslage in den Zügen nur in Ansätzen hervor. Auch bei ihm ist es, als bringe der unerschütterliche Glaube das Manna hervor. Die relativ ‚günstigen‘ Bedingungen, unter denen seine Deportation vor sich ging, hatten sicher auch mit dem relativ ‚guten‘ Gesamtbefinden der (sehr spät deportierten) ungarischen Juden zu tun. Hinzu kommt, dass die Reise zu den relativ ‚kurzen‘ gehörte. Aber das Wichtigste stellte dann doch die durch ihr Gottvertrauen bedingte Leidensfähigkeit dar, die Wiesel und seine Gemeinde zeigten. La faim, la soif, la chaleur, l’odeur fétide, les hurlements hystériques d’une femme devenue folle: nous sommes prêts à tout supporter, à tout subir. D’autant que, très vite, une vie sociale „normale“ et structurée s’est installée dans le wagon. Les familles restent unies: solidaires, généreuses, elles partagent œufs durs, gâteaux secs et fruits; respectent les règles strictement fixées pour boire l’eau, permettent à chacun de s’approcher des lucarnes ou du seau hygiénique protégé par des couvertures. Les passagers se sont adaptés avec une rapidité déconcertante. Matin et soir,
371 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 158. 372 Eich: Träume, S. 354-355.
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nous disons nos prières en commun. […] Une phrase du Zohar me hante: lorsque le peuple d’Israël partit en exil, Dieu l’y accompagna. Et maintenant? me demandé-je. Jusqu’où Dieu nous suivra-t-il?373 Der Hunger, der Durst, die Hitze, der furchtbare Gestank, die hysterischen Schreie einer Frau, die verrückt geworden ist: Wir sind bereit, alles auszuhalten, alles zu erleiden. Und dies umso mehr, als sich im Waggon sehr schnell wieder ein „normales“ und strukturiertes soziales Leben bildet. Die Familien bleiben beieinander: Ebenso solidarisch wie großzügig teilen sie harte Eier, trockenen Kuchen und Obst miteinander; respektieren die strikten Regeln, die in Bezug auf das Trinken von Wasser aufgestellt worden sind und einem jedem den Zugang zu den Luken oder zum Kloeimer erlauben, der mit Decken abgedeckt ist. Die Reisenden haben sich mit irritierender Schnelligkeit angepasst. Am Abend und am Morgen sprechen wir gemeinsam unsere Gebete. […] Ein Satz aus dem Zohar treibt mich um: Als das Volk Israel ins Exil ging, begleitete es Gott dorthin. Und jetzt?, frage ich mich. Bis zu welchem Punkt wird Gott uns folgen? [Übersetzung A.P.]
Die Gebete der Eingeschlossenen haben nach Wiesels Zeugnis Wirkung gezeigt: Die Überzeugung, Gott sei im Zug anwesend, habe dazu beigetragen, trotz der furchtbaren Bedingungen so etwas wie „Normalität“ wiederherzustellen. Die Überwindung von Hunger und Durst, die relative Beiläufigkeit, mit der – im Vergleich zu anderen Berichten von Überlebenden374 – auf dieses Thema eingegangen wird, stehen in Bezug zu dem, was in Canettis Interpretation des Auszugs aus Ägypten als „umfassende[] Vorstellung einer einzigen, langsamen Masse“ bezeichnet worden ist, „die sich auf ihr 373 Wiesel: Fleuves, S. 109. 374 Paul Martin Neurath z.B. hebt hervor, dass seine Mitgefangenen ebenso wie er selbst die absolute Unvergleichlichkeit der Deportation bezeugen müssen – und dies trotz der relativ kurzen Strecke, die Wien von Dachau trennt, und trotz der bequemen Sitze, die den Deportierten zugewiesen wurden: „[W]ir sind uns alle einig – nichts ist mit der Nacht im Zug von Wien nach Dachau vergleichbar.“ Neurath: Terror, S. 364. Die Reise sei auf folgende Weise vor sich gegangen: „Nach dem letzten Mann trat ein SS-Mann in die Tür, in voller Montur mit Stahlhelm, Gewehr und Bajonett. Er kommandierte: Gerade sitzen! Augen auf! Mund zu! Hände auf die Knie! Dies tun! Jenes tun! Nicht bewegen, oder ihr werdet erschossen! Nicht aus dem Fenster schauen, oder ihr werdet erschossen! Mund zu, oder ihr werdet erschossen! Dies nicht tun! Jenes nicht tun! Ihr werdet erschossen! Ihr werdet erschossen! Dies tun! Jenes tun! Ihr werdet erschossen! Dies nicht tun! Ihr werdet erschossen! Und jeder von uns tat gehorsam, was befohlen wurde. In diesem Augenblick verwandelt sich der Mensch in uns in einen Automaten, der Befehle ausführte. Ich erinnere mich, dass ich mir sagte: ‚Wenn sie uns alle umbringen wollen, warum sollten sie uns dann in einen Zug setzen?‘“ Ebd., S. 365-366. Und weiter: „Wir hörten, wie der Befehl durchgegeben wurde: ‚Nicht einschlafen lassen.‘ Man befahl uns, dem Mann gegenüber in die Augen zu schauen. Die ganze Nacht lang schaute ich Dr. Bick in die Augen. Wenn es so aussah, als würde ich einschlafen, schob er sachte seinen Fuß gegen meinen, und ich erwies ihm den gleichen Dienst.“ Ebd., S. 366. Der Grund für den Terror sei ein ganz praktischer gewesen: Die Lagerleitung habe schlicht festgestellt, „dass sie sich ein Gutteil der anfänglichen Abrichtungsprozedur ersparen konnte, wenn sie den Terror im Zug verschärfte.“ Ebd., S. 369.
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gelobtes Ziel hinbewegt“375: Man hält aus, hinüber zu Gott, das Exil auf sich nehmend, wie Gott, zusammen mit Gott. Nun steht jedoch dem Zeugnis Wiesels bezüglich des Mangels und seiner literarischen Gestaltung durch Eich eine lange Reihe anderer Texte entgegen, die alle implizit das Thema der Wüste (d.h. Wasserlosigkeit) wiederaufgreifen, jedoch die grundlegende Differenz zwischen dem Aus-Zug aus Ägypten und dem DeportationsZug der Deutschen betonen. Während sich für Eich die unmenschliche Behandlung in der mangelhaften Qualität des Brotes verdichtet, die seine Figuren von einer anonymen (also unsichtbaren? also gottgleichen?) Instanz gereicht bekämen, betonen die Überlebenden mit Blick auf die Züge376 fast unisono das Vorherrschen des Durstes. Zwar wird auch das Brot zum Thema377, doch die größte Qual ging, besonders in Transporten, die im Sommer stattfanden, vom Durst aus. „The following day we arrived at Weimar, Germany, where we waited in the cars for ten hours without food or water“, schreibt zum Beispiel Jack Werber, ein deportierter Jude.378 („Am nächsten Tag kamen wir in Weimar, Deutschland, an und warteten in den Wagen ohne Essen und Wasser, zehn Stunden lang.“ [Übersetzung A.P.]) Der schon mehrfach erwähnte Arzt François Wetterwald fügt mit Blick auf die „Evakuierungs“-Transporte, die gegen Kriegsende zurück Richtung Westen führten, hinzu: Mille huit cents Juifs arrivent aujourd’hui dans notre camp, évacués de Groß-Rosen, devant l’avance russe. Ils ont été précédés par deux bennes qui sont venues déverser devant la porte du Revier une centaine de cadavres. Le voyage a duré près de trois semaines. La longue colonne est là; ils ont l’air harassés. On les entasse dans un espace découvert qui est situé entre le bloc des contagieux et le four crématoire. Ils y resteront jusqu’au lendemain. On les voit se jeter à terre et manger la neige, comme cela, à même le sol, tellement ils sont torturés par la soif. Mais on ne leur donnera ni à manger ni à boire, et la neige tombe dru, cette nuit-là. Le lendemain, je vais les voir. Ils ont déjà évacué l’endroit où ils ont passé la nuit, se dirigeant vers les douches. Il y a plus de deux cents corps étendus, à moitié recouverts de neige.379 Tausendachthundert Juden treffen heute im Zuge ihrer Evakuierung vor den vorrückenden Russen, aus Groß-Rosen kommend, in unserem Lager ein. Ihnen vorausgeschickt wurden zwei Förderwagen, die vor der Tür des Reviers [d.h. der Krankenbaracke; A.P.] etwa hundert Kadaver ausgeschüttet haben. Die Reise hat fast drei Wochen gedauert. Die lange Kolonne ist da; die 375 Canetti: Macht, S. 43. 376 Die Einschätzung der Situation in den Lagern ist weniger eindeutig. Mit Blick auf sie wird die Unerträglichkeit des Hungers, das Verrücktwerden durch ihn zu einem Hauptthema. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Durst nicht hinzutreten konnte. Wie noch zu zeigen sein wird, war zum Beispiel in Buchenwald und Auschwitz die Wasserversorgung ein Problem, das nie wirklich gelöst wurde. 377 In vergleichbarem Kontext schreibt Delbo: „La quantité de vivres ne permettait pas de prévoir la durée du voyage.“ Delbo: Convoi, S. 9. („Die Menge der Vorräte erlaubt es nicht, die mögliche Länge der Reise abzuschätzen.“ [Übersetzung A.P.]) – „Einer erinnert uns, dass heute Jom Kippur ist. ‚Für uns ist jeden Tag Jom Kippur‘, meint ein anderer lakonisch“. Katz: Erinnerungen, S. 75. 378 Werber: Children, S. 32. 379 Wetterwald: Morts, S. 67.
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Menschen sehen abgehetzt aus. Man hat sie an einem Ort unter freiem Himmel zusammengepfercht, der zwischen dem Block für die Kranken mit ansteckenden Krankheiten und dem Ofen des Krematoriums liegt. Dort werden sie bis morgen bleiben. Man sieht, wie sie sich auf die Erde werfen und Schnee essen, einfach so, und die Erde gleich mit, derart peinigt sie der Durst. Doch man wird ihnen weder zu essen noch zu trinken geben, und dichter Schnee fällt in dieser Nacht. Am nächsten Morgen gehe ich los, um nach ihnen zu sehen. Sie haben den Platz bereits geräumt, an dem sie die Nacht verbracht haben, und bewegen sich hin zu den Duschen. Es gibt mehr als zweihundert hingestreckte Körper, die halb mit Schnee bedeckt sind. [Übersetzung A.P.]
Josef Katz wurde nicht nur mit Zügen, sondern auch mit einem Kahn ‚evakuiert‘. Auch hier, umgeben vom Wasser der Flüsse und Kanäle, wurde Durst als Mittel der Zermürbung eingesetzt: „Einer liegt in einer Ecke und schreit ohne Unterbrechnung nach Wasser. ‚Ein Tröpfchen Wasser, bitte, warum gebt ihr mir denn kein Wasser?‘ Er scheint schon irre zu sprechen.“380 Es sind eben solche Zeugnisse, in denen extreme Not – die Not von Verdurstenden – zum Thema wird, die wie ein Aufruf wirken, heute die Geschichte ihrer literarischen Darstellung kritisch in Augenschein zu nehmen. Zu dieser Geschichte gehören paradoxerweise die Texte, die die Not nur indirekt ren. Indem Figuren entworfen werden, die, umgeben von Verdurstenden, gerade nicht verdursten, soll die Auseinandersetzung mit dem Durst erfahrbar gemacht werden. Zu den Texten über die Deportation, in denen der Durst über den Umweg seiner Löschung dargestellt wird, gehört Jorge Sempruns Roman Le grand voyage, der jetzt – in Ergänzung zu der Durstlosigkeit der eichschen Figuren – ins Zentrum rücken soll. Paradiesische Äpfel ricco di una nuova richezza, il treno alle mie spalle 381 bereichert durch einen neuen Reichtum, den Zug im Rücken [Übersetzung A.P.]
Jorge Semprun nimmt, anders als Wetterwald und Katz, nicht die Außenperspektive ein, sondern wagt den Versuch, ein literarisches Ich sprechen zu lassen. So legt er seinem Protagonisten in dem Roman Le grand voyage Worte der Bewunderung für einen Mitreisenden in den Mund, der als einziger verstanden habe, dass der Durst der eigentliche Feind der Deportierten sein werde: Il a dû préparer son voyage comme on prépare une expédition polaire. Il a pensé à tout, le gars. La plupart des types avaient camouflé dans leurs poches des bouts de saucisson, du pain, des biscuits. C’est de la folie, disait le gars de Semur. Le plus grave n’allait pas être la faim, disaitil, mais bien la soif. Or, le saucisson, les biscuits secs, toutes ces nourritures solides et consistantes que les autres avaient camouflées ne feraient qu’aiguiser leur soif. On pouvait bien rester quelques jours sans manger, puisque de toute façon, on allait être immobile. C’était la soif, le
380 Katz: Erinnerungen, S. 201. 381 Levi: Tregua, S. 227.
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plus grave. Il avait donc camouflé dans ses poches quelques petites pommes croquantes et juteuses […]. 382 Er muss seine Reise vorbereitet haben, wie man eine Polarexpedition vorbereitet. An alles hat er gedacht, dieser Kerl. Die meisten anderen Leute hatten in ihren Taschen Wurstzipfel, Brot und Kekse versteckt. Das sei der reine Wahnsinn, sagte der Typ aus Semur. Das Schlimmste werde nicht der Hunger sein, sagte er, sondern vielmehr der Durst. Nun, die Wurst, die trockenen Kekse, diese ganze feste und harte Nahrung, die die anderen versteckt hatten, würden den Durst nur noch verschlimmern. Man könne gut ein paar Tage ohne Essen auskommen, denn wir würden uns ja ohnehin nicht bewegen. Der Durst aber, das sei das Schlimmste. Er hatte daher in seinen Taschen einige feste, saftige Äpfel verborgen […]. [Übersetzung A.P.]
Semprun, der Marxist Semprun, führt hier die Wüste als Wüste vor. Indem sein Protagonist durch die Umsicht des äpfelbewehrten Freundes kaum unter Durst leiden muss – die Äpfel seien fest und saftig –, argumentiert der Autor implizit, wie sehr umgekehrt die anderen Deportierten gelitten haben müssen. Die Leserschaft steht vor einer Darstellung des Leids, die ex negativo erfolgt: der Zug als generelle Unvorhersehbarkeit der Wüste. (Denn unvorhersehbar war, dass die Organisatoren der Deportation sich noch nicht einmal die Mühe machen würden, genug Wasser bereitzustellen – Wasser, das doch weit weniger kostete als Nahrung und gleichzeitig so viel unmittelbarer ein Faktor des Überlebens darstellte als diese.) Die paradiesartige Oase, die die Äpfel repräsentieren, wirken wie ein ferner Nachhall der Schöpfungsgeschichte. Der „Typ aus Semur“ bleibt im ‚Paradies‘ der Durstlosigkeit, vermag das Leiden am Zug durch die Wüste zu umgehen, weil er das Wissen der Äpfel schon erlangt, bevor er im Zug überhaupt die Erfahrung der Notwendigkeit dieses Wissens gemacht hat. Anders gesagt: Er bleibt (anders als im biblischen Schöpfungsmythos) im ‚Paradies‘ nicht etwa, obwohl er Äpfel hat, sondern weil er Äpfel hat. Er kann den Zug aushalten, weil er der Wüste um sich herum den Wüstencharakter nimmt: Äpfel essend, Äpfel teilend mit einem Adam, der in der Unschuld des Unwissens den Zug ganz unvorbereitet treten hat: mit dem alter ego Sempruns, dem Ich-Erzähler, dessen Stimme wir eben gehört haben. Dass aber auch das klarste, quasi-göttliche Wissen, das Wissen der Äpfel nämlich, letztlich keinen Bezug mehr zu den biblischen Geschichten erlaubt, geht aus der Säkularisierung der Vermittlungs-Objekte des Wissens einher, die der „Typ aus Semur“ auf seine „Expedition“ mitnimmt. Er führt nämlich nicht nur Äpfel bei sich, sondern auch un tube de dentifrice. Les pommes, c’était simple, n’importe qui y aurait pensé, à partir de cette donnée initiale de la soif comme ennemi principale. Mais le dentifrice, c’était un trait de génie. On étendait sur ses lèvres une mince couche de dentifrice et quand on respirait, la bouche se remplissait d’une fraîcheur mentholée bien agréable.383 eine Tube mit Zahnpasta. Das mit den Äpfeln, das war einfach, jeder hätte auf diese Idee kommen können, wenn er von der Grundannahme ausgegangen wäre, dass der Durst der Hauptfeind sein würde. Doch die Zahnpasta, das war wahrhaftig ein Geniestreich. Man bestrich seine Lippen mit 382 Semprun: Voyage, S. 65-66. 383 Ebd., S. 66.
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einer dünnen Schicht von Zahnpasta, und beim Atmen füllte sich der Mund mit herrlich frischem Pfefferminzgeschmack. [Übersetzung A.P.]384
Während das Motiv der Äpfel (ebenso wie das der Wüste oder das der jahrzehntelangen Wanderung) in einen ahistorischen, mythischen Raum führen, wird man durch die Erwähnung der Zahnpasta entschieden in die Moderne zurück katapultiert. Der Durst des Zuges ist wirklich und wahrhaftig ein Durst der Jetzt-Zeit – und nicht, wie Eichs Text suggerieren könnte, ein zeitenthobener. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass selbst das überlegene, fast gottgleiche Wissen, das bei Semprun in der Mitnahme der Äpfel beschlossen liegt, das Überleben nicht garantieren kann: Am Ende des Romans stirbt der „Typ aus Semur“ an Entkräftung – oder ist es der Durst, der ihn unmittelbar vor der Ankunft zusammenbrechen lässt? In jedem Fall wird alles vorherige Wissen von der Wirklichkeit des Zuges überrollt: „Les pommes sont finies depuis longtemps, car il les a partagées avec moi.“385 („Die Äpfel sind schon lange ausgegangen, denn er hat sie mit mir geteilt.“ [Übersetzung A.P.]) Was in der Bibel zu einem geteilten Wissen wird (Adam und Eva greifen zu den Früchten des verbotenen Baumes), wird bei Semprun zu einem geteilten Leid: Das Wissen ist erworben, doch nutzlos, und auch die Äpfel verhindern das Verdursten letztlich nicht. Wissen ist Tod, ganz wie in der Bibel. Doch auch das Nicht-Wissen derjenigen, die nicht zum Apfel gegriffen haben, ist Tod – jede Erlösungshoffnung ist dahin. So trifft sich die Illusionslosigkeit des semprunschen Textes erneut mit der Lakonie, die aus Hilbergs historischer Forschung spricht: Der Wasservorrat in den verplombten Wagen war häufig nicht ausreichend für diese langen Strecken, und kein Bild hat sich so unauslöschlich im Gedächtnis der deutschen Zeugen eingegraben wie das der Mütter, die bei Zughalten ihre vom Durst gezeichneten Kinder in die Höhe reckten.386
Zu eben diesen deutschen Zeugnissen, die beschreiben, was bei Eich nur ansatzweise erscheint – die Wüste, von der jedoch bei ihm nirgends gesagt wird, dass es kein 384 Die Übersetzung „mit herrlich frischem Pfefferminzgeschmack“ übernehme ich der Übersetzung von Abelle Christaller, in: Semprun: Reise, S. 64. 385 Semprun: Voyage, S. 66. 386 Hilberg: Sonderzüge, S. 81. Vgl. dazu auch das Zeugnis Alter Feinsilbers: „On nous a distribué 2,5 kg de pain et environ 250 grammes de saucisson par personne; cela devait nous suffire pour tout le voyage qui devait durer environ douze jours. Pendant le voyage, nous n’avons rien reçu à boire. Cependant, notre transport est arrivé à Auschwitz à peu près cinq jours plus tard. Quand nous sommes arrivés, beaucoup de personnes étaient mortes, suite aux conditions de voyage difficiles.“ Alter Feinsilber: „Les survivants des Sonderkommandos au procès de Cracovie en 1946“, in: Des voix sous la cendre. Manuscrits des Sonderkommandos d’Auschwitz-Birkenau, Paris 2005, S. 183-238, Zitat S. 222223. („Man hat bei uns pro Person 2,5 kg Brot und etwa 250 Gramm Wurst verteilt; das sollte für die gesamte Reise, die etwa zwölf Tage dauern sollte, reichen. Während der Reise haben wir nichts zum Trinken bekommen. Doch etwa fünf Tage später ist unser Transport in Auschwitz angekommen. Als wir eintrafen, waren viele Menschen wegen der schwierigen Reisebedingungen gestorben.“ [Übersetzung A.P.])
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Wasser in ihr gäbe –, gehört der folgende Bericht, der von Außen auf den Durst sieht, doch mit dem gleichen, klaren Wissen, das den „Typen aus Semur“ auszeichnet: Es war an einem Sonntagnachmittag gegen 13.30 Uhr. Von Sawada aus war uns ein Judentransport gemeldet worden. Auf unserer Station in Zwierzynieg nahmen die Lokomotiven stets Wasser. Dies geschah auch bei dem erwähnten Zug. Aus dem haltenden Zug zwängte sich ein kleines jüdisches Mädchen heraus, das ich auf zehn bis zwölf Jahre schätzte. Es kam zu mir und hielt einen Fünfmarkschein in Händen, mit dem es um Wasser bat. Es sprach von einem Löffel Wasser. Ich gab meinem polnischen Stationsleiter Anweisung, er möge mein Wasserglas nehmen und dem Mädchen Wasser reichen. Dem Mädchen sagte ich, dass es das Geld wegstecken solle. Während das Mädchen noch trank, erschien überraschend hinter mir der Transportführer der SS. […] Mit der Reitpeitsche schlug er zunächst dem Mädchen das Wasserglas aus der Hand, um dann weitere Schläge dem Kind zu versetzen. Aus dem Zug zwängte sich der Vater des Mädchens heraus, der auf den Knien den SS-Führer um Gnade für sein Kind bat. Der SS-Führer zog seine Pistole und tötete den Vater durch Genickschuss. Das Mädchen wurde in den Waggon geworfen. Das gleiche geschah mit dem Toten. Der SS-Führer beschimpfte mich als Judenknecht; ich sei nicht würdig, deutscher Beamter zu sein; im übrigen habe die Angelegenheit noch für mich Folgen.387
Durst und Mord, ‚Zug durch die Wüste‘ und ‚Todeszug‘ sind hier unmittelbar miteinander verbunden. Keine Klappe, wie Eich sie noch imaginieren konnte, öffnet sich zur Versorgung der Deportierten. Die Bitte um das Selbstverständlichste führt zu extremster Gewalt, die verzweifelte, helfende Geste – und noch dazu die gegenüber dem eigenen Kind – zur Tötung des Vaters. – Ein anderer Augenzeuge berichtet, wieder mit Blick auf die Schwächsten, Schutzlosen – gleichsam die Enkel aus Eichs Zug: Auf dem Weg nach Belzec erleben die Juden viele schreckliche Dinge. Sie sind sich über das, was mit ihnen geschehen wird, im klaren. Manche versuchen, sich zu wehren. Auf dem Bahnhof in Szczebrzeszyn gab eine junge Frau einen Goldring fort, um ein Glas Wasser für ihr sterbendes Kind zu bekommen. In Lublin haben Leute mit angesehen, wie kleine Kinder aus den Fenstern rasender Züge geworfen wurden.388
Historische Zeugnisse dieser Art liegen in großer Zahl vor. Sie beweisen, dass der Durst im Kontext der Verschleppung in die Lager systematisch als Folterinstrument eingesetzt wurde – mit all den Konsequenzen, die sich in Bezug auf die Einhaltung von Normen und Regeln im Zug (dem Ort der „Transition“389) ergaben: „De tous les patients efforts poursuivis pendant des siècles et des siècles par les philosophes et les prêtres pour essayer d’élever l’homme au-dessus de lui-même, en deux jours, il ne
387 Aus: Dok. Samml. ZStL, Aktenzeichen 206 AR-Z 15/63, Bd. 1, Bl. 109 ff. (-8 AR-Z 268/59, S. 2819). Hier zitiert nach: Adalbert Rückerl: „Vorwort“, in: Hilberg: Sonderzüge, S. 11-15, Zitat S. 11. 388 Friedländer: Vernichtung, S. 386; mit Bezug auf: Zygmunt Klukowski: Diary from the years of occupation 1939-1945, hg. von Andrew Klukowski und Helen Klukowski May, Urbana, IL 1993; Klukowski: Diary. Klukowski war ein polnischer Krankenhausdirektor. 389 Wetterwald: Morts, S. 21.
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reste plus rien“390, schreibt François Wetterwald. („Von allen geduldigen Bemühungen, die über Jahrhunderte und Jahrhunderte von Philosophen und Priestern unternommen wurden, um den Menschen über sich selbst hinauszuheben, bleibt nach zwei Tagen nichts mehr übrig.“ [Übersetzung A.P.]) Und weiter: „[I]ls tueraient si le voyage durait davantage.“391 („Sie würden töten, wenn die Reise noch länger dauerte.“ [Übersetzung A.P.]) Durch Durst hervorgerufene Gewalt und die menschliche Geste, trotz des eigenen Durstes wenigstens dem Durst der Kinder abhelfen zu wollen, greifen ineinander – alle herkömmlichen Kategorien von dem, was „Leid“ heißt, zerstörend. David Rousset betont: „Tout est ligué: fatigue, faim, soif. Un besoin féroce d’espace. Peu importe si l’autre crie.“392 („Alles hat sich miteinander verbündet: Erschöpfung, Hunger, Durst. Ein wildes Bedürfnis nach Platz. Ganz egal, wenn der andere schreit.“ [Übersetzung A.P.]) Auch Zalmen Gradowski, dessen fragmentarischer Text „aus der Asche“ uns schon begegnet ist, betont den Kontrollverlust, der in den Waggons auftreten konnte: Vois, mon ami, comme tous ont maintenant perdu tout sentiment humain. Chacun ne songe qu’à une seule chose: où se trouver un morceau de pain pour calmer la faim, où trouver un peu d’eau pour calmer la soif. Vois comme les chanceux debout près des fenêtres tirent la langue et lèchent les vitres embuées de rosée. Ils veulent rafraîchir, ne serait-ce que par la seule [idée] d’humidité, leur cœur épuisé et affaibli. On entend les lamentations des petits enfants qui crient: „Maman, donne un peu d’eau, une goutte au moins. Tu entends, maman, donne-moi au moins une miette de pain. Je tombe, je m’évanouis, je n’ai pas de forces.“ Les mamans les réconfortent: „Tout de suite, mon enfant, je vais t’en trouver.“ Il arrive aussi parfois que certains chanceux possèdent encore quelques provisions. Ils en cèdent parcimonieusement à ceux qui sont près de défaillir. Mais la grande majorité est entièrement épuisée par la faim. Et les enfants sont impatients et ne veulent plus attendre plus longtemps, ils réclament de plus belle le pain et l’eau promis. Les mères sont complètement abattues à la vue des souffrances de leurs enfants et elles n’ont d’autres ressources de crier. De peur, les enfants se taisent et se blottissent, les yeux emplis de larmes, contre le sein maternel qui déborde de douleur. Les grands, qui ne souffrent pas moins que les enfants, se consolent à l’idée que les autorités leurs fourniront certainement à la prochaine halte à manger et à boire. Elles ne déplaceraient tout de même pas tout un peuple qui doit constituer une masse de travailleurs pour le laisser mourir de faim et de soif.393 Mein Freund, sieh nur, wie alle jedes menschliche Gefühl verloren haben. Jeder denkt nur an eine einzige Sache: wo er ein Stück Brot finden kann, um seinen Hunger, oder ein wenig Wasser, um seinen Durst zu stillen. Sieh, wie die, die das Glück haben, sich in der Nähe der Fenster zu befinden, die Zunge ausstrecken und die Scheiben ablecken, auf denen sich Tau niedergeschlagen hat. Sie wollen ihr erschöpftes und kraftloses Herz erfrischen, und sei es auch nur durch die bloße [Idee] von Feuchtigkeit. Man hört die Klagen der kleinen Kinder, die schreien: „Mama, gib mir ein bisschen Wasser, einen Tropfen wenigstens. Hörst Du, Mama, gib mir wenigstens einen Krümel Brot. Ich falle, gleich werde ich ohnmächtig, ich habe keine Kraft.“ Die Mütter 390 391 392 393
Ebd. Ebd. Rousset: Jours, S. 41-42. Zalmen Gradowski: Notes, S. 47-48. – Vgl. dort auch alle weiteren Ausführungen zum Durst, vor allen Dingen S. 48-52.
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richten sie auf: „Gleich, gleich, mein Kind, ich werde etwas für Dich finden.“ Es kommt auch vor, dass einige, denen das Glück hold ist, noch ein paar Vorräte haben. Sie geben mit großer Sparsamkeit denjenigen davon ab, die kurz davor sind, umzufallen. Doch die große Masse ist vom Hunger vollkommen erschöpft. Und die Kinder sind ungeduldig und wollen nicht länger warten; sie fordern lauthals das versprochene Brot und Wasser. Die Mütter sind durch den Anblick der Qual ihrer Kinder vollkommen verzweifelt. Sie wissen sich nicht anders zu helfen, als zu schreien. Die Kinder verstummen, weil sie Angst haben, und drücken sich, die Augen voller Tränen, gegen die mütterliche Brust, die vor Schmerz überquillt. Die Großen leiden nicht weniger als die Kinder. Sie trösten sich mit dem Gedanken, dass die Autoritäten ihnen beim nächsten Halt sicher zu essen und zu trinken geben werden. Sie werden doch nicht ein ganzes Volk verpflanzen, das die Masse der Arbeiter darstellt, um dieses Volk an Hunger und Durst sterben zu lassen. [Übersetzung aus dem Französischen A.P.]
Doch entgegen diesen Hoffnungen bedeutete der Durst wirklich Tod: [--] Des [Polonais] qui se trouvaient là [--] demandaient de l’argent [--] Bien entendu, nous n’avons pas lésiné, nous avons tout donné pour acheter un peu d’eau, mais, malheureusement, les Polonais ont [--] ne pas laisser sortir [--]. En un mot, ils avaient tout reçu de nous [--] une mère avec cinq enfants [sont morts?] et de toute [la] famille n’est [resté] en vie que le père qui pleurait sans larmes.394 [--] Die [Polen], die sich dort befanden [--] wollten Geld [--]. Selbstverständlich haben wir nicht geknausert, wir haben alles gegeben, um ein wenig Wasser zu kaufen, doch unglücklicherweise haben die Polen [--] nicht herauslassen [--]. Kurz gesagt, sie haben von uns alles bekommen [--] eine Mutter mit fünf Kinder [ist gestorben?] und von [der] ganzen Familie ist nur der Vater am Leben geblieben, der ohne Tränen geweint hat. [Übersetzung aus dem Französischen A.P.]
David Rousset bezeichnet den Durst seinerseits als „Arbeit“: „La soif nous travaille déjà.“ („Der Durst bearbeitet uns schon jetzt.“ [Übersetzung A.P.]) – Kehren wir zum Hörspiel zurück. Anders als in den zitierten Berichten existiert bei Eich nicht die Entgegensetzung von Wasser und Wasserlosigkeit, d.h. Trinken und Verdursten, sondern nur die von Wasser und Wein. Die Erwähnung von Wein aber führt wiederum in die biblische Sprache und Vorstellungswelt hinein. Es ist, als ob die eigentliche Qual der Deportation darin bestünde, von allen Genüssen abgeschnitten zu sein, die das Leben schön und angenehm machen. ENKEL Gleichgültig, ob es stimmt oder nicht, meinst du, wir werden glücklicher davon, wenn du uns erzählst, dass es einmal schöner war und dass es irgendwo schöner ist als bei uns? Dass es etwas geben soll, was du gelbe Blume nennst, […] und dass du etwas getrunken hast, was du Wein nennst? Alles Wörter, Wörter – was sollen wir damit?395
Aus diesen ebenso anklägerischen wie defensiven Worten des Enkels spricht der Wille, auf jeden Genuss Verzicht zu tun. Der Jüngste findet sich damit ab, nur Wasser trinken zu können. Der Großvater hingegen ist so von dem Gedanken besessen, dass 394 Lewental: Notes, S. 93. 395 Eich: Träume, S. 354.
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Brot und Wasser Gefängniskost darstellten, dass er das Wort „Wasser“ noch nicht einmal in den Mund nimmt. Sein Insistieren auf gutem „Brot“ und „Wein“ bindet seine Interpretation der Dinge an die reiche Palette biblischer Motive zurück, die das eichsche Hörspiel stets von Neuem aufruft. Implizit argumentiert das Hörspiel, das Skandalon der Deportation bestehe darin, dass die Verfolgten einer jahrzehntelangen Freud- und Genusslosigkeit unterworfen wurden. Doch die oben zitierten Augenzeugenberichte, die uns ein Wissen über den tatsächlichen Verlauf der Deportationen vermitteln, enthalten die Forderung, andere Formen der literarischen Transposition in Augenschein zu nehmen, um aus dem Kontrast heraus besser zu verstehen, warum zu Beginn der 1950er Jahre bestimmte Umstände der Deportationen – hier der Durst – noch als nebensächliches Detail angesehen werden konnten. Brot und Wein esperienza presente, come ferite ogni giorno riaperte396 gegenwärtige Erfahrung, wie Wunden, die sich jeden Tag neu öffnen [Übersetzung A.P.]
Sehen wir uns an, wie es um den Kenntnisstand zum Durst bestellt war. Das Hörspiel vermittelt den Eindruck, dass Eich sehr wohl eine – wenngleich allgemeine – Vorstellung von dem hatte, was den Deportierten passiert war. Dass er zum Bild eines vierzigjährigen ‚Auszugs‘ der Verfolgten, also zur Andeutung einer Wüste kommt, beweist augenscheinlich, dass er vom Durst der Deportierten gehört hat. Doch wird die Erfahrung des Verdurstens, das Verrücktwerden am Durst, das Sterben an ihm („[E]ine junge Frau [gab] einen Goldring fort, um ein Glas Wasser für ihr sterbendes Kind zu bekommen“) allein in das mythische Bild der Wüste eingespeist, nämlich als ein biblische Assoziationen weckendes Motiv – und nicht etwa als die Notwendigkeit, konkret zu gestalten, was in den Zügen wirklich geschah. Weil aber wiederum die Konkretheit dieses Details (das jedoch weit mehr ist als ein Detail, nämlich eine Überlebensfrage) hinter einem Wort- und Ideenfeld verschwindet, das von „Brot“ und „Wein“ bestimmt wird, gerät aus dem Blick, dass die Frage, ob die Deportierten je wieder würden Wein trinken dürfen, vollkommen jenseits ihrer Sorgen lag. Für sie ging es darum, zu trinken, und trinken, das konnte, wie Charlotte Delbo in einem eindrucksvollen Kapitel mit dem Titel „Boire“ – „Trinken“ – zeigt, zu einer Besessenheit werden. Von den Mitgefangenen berichtet sie: Elles croyaient que j’étais devenue folle. Je n’entendais rien, je ne voyais rien. Elles croyaient même que j’étais devenue aveugle. J’ai mis longtemps à leur expliquer plus tard que je n’étais pas aveugle mais que je ne voyais rien. Tous mes sens étaient abolis par la soif.397 Sie dachten, ich sei verrückt geworden. Ich hörte nichts, ich sah nichts. Sie dachten sogar, ich sei blind geworden. Ich habe viel Zeit gebraucht, um ihnen im nachhinein zu erklären, dass ich
396 Levi: Uomo, S. 104. 397 Delbo: Auschwitz, Bd. 2, S. 43.
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nicht blind war, sondern dass ich nichts sah. Alle meine Sinne waren durch den Durst außer Kraft gesetzt. [Übersetzung A.P.]
Die Dramatik des Durstes wird noch da spürbar, wo es um die endlich erreichte Möglichkeit des Trinkens geht – eine wilde, eine schier grenzenlose Hingabe an das Wasser, die jenseits der gemeinen Vorstellungskraft liegt. Delbo schreibt: Je buvais sans penser, à rien, sans penser au risque de devoir m’arrêter, d’être battue, si une kapo survenait. Je buvais. Carmen, qui faisait le guet, a dit: „Assez, maintenant.“ J’avais bu la moitié du seau. J’ai fait une petite pause, sans lâcher le seau que je tenais embrassé. „Viens, a dit Carmen, c’est assez.“ Sans répondre – j’aurais pu faire un geste, un mouvement – sans bouger, j’ai replongé la tête dans le seau. J’ai bu et bu encore. Comme un cheval, non comme un chien. Un chien lape d’une langue agile. Il creuse sa langue en cuillère pour transporter le liquide. Un cheval boit. L’eau diminuait. […] Je ne pouvais pas bouger tant mon ventre était lourd. Il était comme quelque chose d’indépendant, un poids ou un paquet, qui aurait été accroché à mon squelette.398 Ich trank, ohne zu denken, an nichts, ohne an das Risiko zu denken, aufhören zu müssen oder geschlagen zu werden, wenn eine Kapo auftauchen würde. Carmen, die Wache schob, sagte: „Genug jetzt.“ Ich hatte den halben Eimer ausgetrunken. Ich habe eine kleine Pause gemacht, ohne vom Eimer zu lassen, den ich umarmt hielt. „Komm“, sagte Carmen, „jetzt ist’s genug.“ Ohne zu antworten – ich hätte ja eine Geste, eine Bewegung machen können –, ohne mich von der Stelle zu rühren, steckte ich meinen Kopf wieder in den Eimer. Ich trank und trank immer weiter. Wie ein Pferd, nicht wie ein Hund. Ein Hund schlürft mit beweglicher Zunge. Er rundet seine Zunge zu einem Löffel, um die Flüssigkeit aufzunehmen. Ein Pferd trinkt. Das Wasser nahm ab. […] Ich konnte mich nicht bewegen, so schwer war mein Bauch. Er war wie etwas Unabhängiges, ein Gewicht oder Paket, das an meinem Skelett festgemacht war. [Übersetzung A.P.]
Und schließlich, nach diesem Trank in der Wüste, machte sich die Wirkung des Wassers bemerkbar – des Wassers, nicht des Weines: eine Art von Trunkenheit, die dem Gefühl galt, zu leben, mit einem neuen Leben zu beginnen: Mon ventre était énorme. Et tout à coup, j’ai senti la vie revenir en moi. C’était comme si je reprenais conscience de mon sang qui circulait, de mes poumons qui respiraient, de mon cœur qui battait. J’étais en vie. La salive revenait dans ma bouche. La brûlure à mes paupières se calmait. […] Mes oreilles entendaient de nouveau. Je vivais.399 Mein Bauch war riesig. Und plötzlich spürte ich, wie das Leben in mich zurückkehrte. Es war, als ob ich das Bewusstsein für mein zirkulierendes Blut zurückgewänne, für meine Lungen, die atmeten, für mein Herz, das schlug. Ich war am Leben. Die Spucke kehrte in meinen Mund zurück. Das Brennen meiner Lider ließ nach. […] Meine Ohren hörten wieder. Ich lebte. [Übersetzung A.P.]
398 Ebd., S. 47. 399 Ebd., S. 48.
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Wenn man diese dramatische Rückkehr zu sich selbst in Beziehung zur Klage um den Wein setzt, ergibt sich erneut ein Kontrast, der weit über den hier unternommenen Versuch einer Mikroanalyse von Motiven hinausgeht. Die Mikroanalyse ist eine Makroanalyse: In der Frage des Durstes ist die Tatsächlichkeit dessen enthalten, was das junge Mädchen erlebte, das um einen „Löffel Wasser“ bat. Die Tatsächlichkeit verdurstender Säuglinge. Wein und Brot sind hingegen Versatzstücke einer Märtyrergeschichte, die christlich konnotiert ist. Für Delbo ist es folglich undenkbar, das Leben mit dem Motiv des Weines zu verbinden. Das Neue Testament stellt keine geeignete Folie mehr dar („Trinkt, dies ist mein Blut, vergossen zur Vergebung der Sünden“). Die Leserschaft wird nicht zum Zeugen des Märtyrertums einer neuen Christusgestalt, sondern erfährt, dass Wasser Leben bedeutet, Wasser, das die Verdurstende trinkt wie ein Pferd, Wasser, das mehr ist, als die normale Sprache auszudrücken vermag. Aucune ne dit: „J’ai faim. J’ai soif. J’ai froid.“ Transportées d’un autre monde, nous sommes d’un coup soumises à la respiration d’une autre vie, à la mort vivante, dans la glace, dans la lumière, dans le silence.400 Keine sagt: „Ich habe Hunger. Ich habe Durst. Mir ist kalt.“ In eine andere Welt verfrachtet, sind wir dem Atem eines anderen Lebens unterworfen, dem lebendigen Tod, im Eis, im Licht, in der Stille. [Übersetzung A.P.]
Die extreme Aufladung des Wortes „Durst“ habe denn auch, so Delbo, im Leben nach der Befreiung weitergewirkt – als Grund für das Nebeneinander zweier Bedeutungen, die sich an das gleiche Wort geheftet hätten: Le mot aussi s’est dédoublé. Soif est redevenue un mot d’usage courant. Par contre, si je rêve de la soif dont j’ai souffert à Birkenau, je revois celle que j’étais, hagarde, perdant la raison, titubante; je ressens physiquement cette vraie soif et c’est un cauchemar atroce.401 Auch das Wort hat sich verdoppelt. Durst ist wieder ein Wort der Alltagssprache geworden. Doch wenn ich von dem Durst träume, den ich in Birkenau erlitten habe, sehe ich wieder diejenige vor mir, die ich war, verängstigt, den Verstand verlierend, taumelnd; ich spüre körperlich den wahren Durst wieder, und das ist ein furchtbarer Alptraum. [Übersetzung A.P.]
Bei Eich ist von dieser Verdopplung nichts zu spüren, nicht in Bezug auf den Hunger und ebenso wenig in Bezug auf den Durst.402 Der Durst mag Durst sein, nicht jedoch das, was Delbo den „wahren Durst“, den Durst eines „furchtbaren Alptraums“ nennt. 400 Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 55. 401 Charlotte Delbo: La mémoire du jour, Paris 1991, S. 14. – Vgl. dazu: Anne Martine Parent: „Transmettre malgré tout. Ratages et faillites de la transmission chez Charlotte Delbo“, in URL: https://www.erudit.org/revue/pr/2009/v37/n2/038456ar.pdf; abgerufen am 8.9.2016. 402 In Wirklichkeit wurde nicht Brot durch Klappen geschoben. Vielmehr wurde der totale Mangel, dem die Deportierten im Zug ausgesetzt waren, in Geschäfte umgesetzt. „La soif nous étreint. Combien de temps sommes-nous restés ainsi, perdus dans un rêve incertain? Quelques images le traversent; un être blême derrière la fenêtre du bâtiment devant lequel
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Während durch archäologische Forschungen gezeigt werden konnte, welche Route die Juden unter Moses in welchen Jahren beschrieben haben, ist der eichsche Text ganz anders einzuschätzen. In ihm sind die vierzig Jahre ganz und gar mythische. Folglich verweist auch der Zug im Hörspiel nicht allein auf die konkreten Todeszüge, die im Zweiten Weltkrieg neben den normalen Personen- und Güterzügen sowie den militärischen Transporten herliefen. Vielmehr gewinnt der Zug schrittweise eine abstrakte Dimension, die ihn herausnimmt aus dem realen Zeitverlauf sowie aus den realen Räumen, die er durchquerte. Der Zug soll zum Bild für die Schrecken der Gewalt schlechthin werden. Doch dadurch verschwinden zugleich alle realen Erfahrungen, die Menschen (im Plural) während dieser Fahrten machen mussten.403 Als überzeugend erweist sich Hannah Arendts These, das Böse habe „sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. […] Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen.“404
nous stationnons; crâne rasé, visage simiesque, il montre une bouteille d’eau et fait signe avec les doigts qu’il la donnera contre une montre. D’aucuns se laissent tenter. Des SS passent entre nos rangs, un jeune officier, notamment, beau, fin, élégant, racé, qui semble à peine nous voir et jette de temps à autre, d’un air suprêmement nonchalant, son dogue sur un groupe ou sur un autre.“ Wetterwald: Morts, S. 23-24. („Der Durst hält uns umklammert. Wie lange sind wir so geblieben, an einen unbestimmten Traum verloren? Einige Bilder durchqueren ihn; ein leichenblasses Wesen hinter dem Fenster des Gebäudes, vor dem wir stehen; rasierter Schädel, affenartiges Gesicht, zeigt es uns eine Wasserflasche und macht mit den Fingern Zeichen, dass es sie uns im Tausch gegen eine Uhr geben würde. Keiner von uns lässt sich in Versuchung führen. SS-Männer gehen zwischen unseren Reihen hindurch, besonders ein junger Offizier, schön, feingliedrig, elegant, rassig, der uns kaum zu sehen scheint und von Zeit zu Zeit, mit einem äußerst nonchalanten Gesichtsausdruck, seine Dogge auf die eine oder die andere Gruppe hetzt.“ [Übersetzung A.P.]) 403 Wenn wie bei Thomas Buergenthal von „Brot-Wundern“ die Rede ist, dann stets unter Betonung, dass sie quer zu allen sonstigen Erfahrungen standen. Von seiner ‚Evakuierung‘ aus Auschwitz berichtet Buergenthal: „Der Zug fuhr in langsamem Tempo und mit häufigen Aufenthalten durch die Tschechoslowakei, als wir Leute auf den Brücken stehen sahen, unter denen wir hindurchfuhren. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Sie winkten und riefen uns etwas zu, und dann begannen Brotlaibe in unseren Waggon zu fallen. […] Ohne dieses tschechoslowakische Brot hätten wir nicht überlebt. Ich habe nie erfahren, wie es zu dieser wunderbaren Aktion gekommen ist und wer sie organisierte, doch solange ich lebe, werde ich diese Engel – so kamen mir die Menschen auf der Brücke vor – nicht vergessen, die uns wie vom Himmel herab mit Brot versorgten.“ Buergenthal: Glückskind, S. 114-115. 404 Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 4.3.1951, in: Hannah Arendt / Karl Jaspers: Briefwechsel 1926-1969, München 2001, S. 202; künftig zitiert als: Arendt / Jaspers: Briefwechsel.
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ACHTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: LEER ODER ENTLEERT? Schönste Anrechte Dann löst sich alles auf nur in Gewalt, Gewalt in Willkür, Willkür in Begier; Und die Begier, ein allgemeiner Wolf, Zwiefältig stark durch Willkür und Gewalt, Muss dann die Welt als Beute an sich reißen Und sie zuletzt verschlingen.405
Die Zeugnisse, in denen Überlebende zu übermitteln versuchten, was Durst für sie bedeutet hatte, sind derart spröde, dass eine bestimmte Art der Rezpetion sich aufdrängt: man hört sie an. Kommentare werden gleichsam überflüssig und sind es doch nicht. Geschrieben werden muss nur mit Strenge und Zurückhaltung, als Zeichen des Versuchs, sich den Zeugnissen und ihrer Schwierigkeit, aus dem Wissen um die „Verdoppelung“ der Sprache heraus das Erfahrene zu vermitteln, gefühlsmäßig gewachsen zu zeigen. Anders verhält es sich, sobald ein ehemaliger Wehrmachtssoldat wie Ernst Jünger zum gleichen Thema zu fabulieren beginnt. Hier fordert jedes einzelne Wort eine Analyse heraus, und die Notwendigkeit der Kritik ist, entgegen dem Titel dieses Kapitels, keineswegs unverhältnismäßig: Das Maß ist vielmehr vorgegeben durch das Unmaß der Erfahrungen, die soeben, monoton aneinandergereiht, Thema war: der Durst als Folterinstrument. Lesen wir also genau (und unter Rückgriff auf Ironie), wie Jünger Durst erlebte, was es für ihn bedeutete, sich im Krieg etwas zum Trinken zu suchen. Lesen wir einige ausgewählte Passagen, um zugleich auch ein kritischen Verhältnis zur Sekundärliteratur zu gewinnen. Viele Interpreten scheinen sich nämlich gänzlich an Jüngers Texte zu verlieren, d.h. die Fähigkeit einzubüßen, die größeren historischen Kontexte mitzubedenken, die den Hintergrund zu ihrer Entstehung bilden. Die Unverhältnismäßigkeit, mit der ich Eich begegne, ist also fortzusetzen in der Unverhältnismäßigkeit, die auch Jünger (und zwar in weit größerem Maße) herausfordert. Die Leserschaft ist eingeladen, die Bereitschaft zu einem Sprung in ein ganz anderes Werk aufzubringen, und zwar mit dem Ziel, sodann zum Ausgangspunkt – nämlich dem eichschen Hörspiel – zurückzukehren. Im Auge zu behalten ist schon jetzt, dass es weiterhin um eine Geschichte des Durstes geht, jetzt jedoch betrachtet aus der Perspektive deutscher Soldaten, die im Mai und Juni 1940 an der Eroberung der Beneluxländer sowie Frankreichs beteiligt waren. Kontraste werden entstehen zwischen dem, was Durst in den Deportationszügen bedeutete, und dem Begriff, den die Wehrmacht vom Trinken entwickelte – Kontraste, die helfen, dann auch das Hörspiel und die Abwesenheit des Themas „Durst“ genauer auszuleuchten. Mit 405 William Shakespeare: Troilus and Cressida, erster Aufzug, dritte Szene, übersetzt von A.W. Schlegel und Ludwig Tieck, Berlin 1840, XI. Band, S. 154. Vgl. URL http://www.zeno.org/Literatur/M/Shakespeare,+William/Kom%C3%B6dien/Troilus+und +Cressida/Erster+Aufzug/Dritte+Szene; abgerufen am 10.6.2016.
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anderen Worten: Es geht erneut um die Frage, inwieweit der Durst der Deportierten in die literarische Imagination von Nicht-Juden eingedrungen ist. Ernst Jünger beschreibt in seinem Tagebuch Gärten und Straßen den Vormarsch der deutschen Truppen durch die neutralen Benelux-Staaten und die anschließende Eroberung Frankreichs. Die letzte Nacht in Deutschland verbrachte er selbst in Welschbillig, einer kleinen Stadt in der Nähe der luxemburgischen Grenze. Ich wurde hier in einem Hause, das auf römischen Grundmauern steht, bei einem Bauern einquartiert. Nachdem ich ein wenig geschlafen hatte, schickte mein Wirt mir durch Rehm [Jüngers „Ordonnanz“; A.P.] eine Schüssel voll Bratkartoffeln mit eingemachtem Rindfleisch, die zur Sättigung von drei Holzfällern genügt hätte.406
Bauern und Holzfäller sind für Jünger offenbar Berufskategorien, für die aufgrund der schweren körperlichen Arbeit, die sie verrichten, ein besonderer Appetit kennzeichnend ist. Der Umstand, dass von ihm selbst, dem Soldaten, ein ähnlicher Appetit erwartet wird, stellt ihn den ersteren gleich. Zugleich verbindet sich die Frage des Appetits mit dem Haus, in dem ihm Unterkunft gewährt wird: Die römischen Grundmauern sind gleichsam ebenso ursprünglich wie der Appetit, der hier von jeher herrschte, ebenso ursprünglich auch wie das Soldatentum, zu dem Jünger sich zählt: Das Verhältnis des Quartierwirts zum Soldaten ist ein besonderes, insofern es, ähnlich dem heiligen Asylrecht, noch zu den Formen der uralten Gastfreundschaft zu rechnen ist, die man ohne Beziehung auf das Individuum gewährt. Der Krieger hat das Anrecht, in jedem Haus zu Gast zu sein, und dieses Vorrecht zählt zu den schönsten, die ihm sein Stand gewährt. Er teilt es einzig mit dem Verfolgten, dem Leidenden.407
Der Soldat erfährt eine Behandlung, die ihn in Jüngers Augen einbettet in ein zeitliches Kontinuum. Jünger ist „Krieger“, und aufgenommen und verpflegt werde er als eben dieser, jetzt wie zu allen Zeiten. Die Überwindung des Individuellen geht, so implizit Jüngers Argumentation, mit der Überwindung alles Geschichtlichen Hand in Hand. Er selbst ist ein Soldat des Jahres 1940, aber durch den Appetit, den man ihm zutraut, wird er zugleich auch zum Germanen, der im Kampf gegen archaische Völkerschaften oder die Römer begriffen ist. Kriege und Zeiten, Bratkartoffeln von damals und heute werden in einen Topf geworfen. Gegessen wird mit Appetit, und zwar ebenso in dem von Hitler befohlenen Westfeldzug wie einst, in grauer Vorzeit. Aufgrund des Vorrechts des „Kriegers“, das Haus seines unbekannten Gastgebers mit gesundem Appetit zu betreten, werde nun aber, so Jünger, die Erfahrung von etwas „Heiligem“ gemacht – jenseits des Skandalons, dass jetzt und hier, klar datierbar, ein Überfall im Gang ist, dem nichts heilig ist. Die Tatsache, dass Länder betroffen sind, die aufgrund ihrer Neutralität nach modernem Rechtsverständnis vom Krieg ausgenommen werden müssten, bleibt unerwähnt. Das „uralte Gastrecht“ überdeckt das moderne Völkerrecht, so wie das „zeitlos Heilige“ die unheilige Gegenwart oder das eingemachte Rindfleisch die technischen Unterschiede bezüglich der Kampfmittel, die 406 Ernst Jünger: Gärten und Straßen (Band 2 der Sämtlichen Werke, = Tagebücher II), Eintrag vom 22. Mai 1940, Stuttgart 1979, S. 139-140; künftig zitiert als: Jünger: Gärten. 407 Ebd., S. 140.
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zwischen den von Germanen geführten Kriegen und den Kriegen eines ,Dritten Reiches‘ bestehen. Entscheidend ist für Jünger nicht so sehr der Blick auf das Spezifische seiner Zeit und seines Krieges, sondern, qua Verallgemeinerung, die Überhöhung von Erfahrungen, durch die er den „Ballast“ der modernen Zivilisation von sich zu werfen glaubt. Pikant an dem Appetit ist – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Hunger und Durst in den Zügen, die Thema gewesen sind – der Umstand, dass zwei weitere Konzepte in eins gesetzt werden, nämlich das Konzept von „Soldat“ und „Verfolgtem“. Auf den ersten Blick scheint sich Jünger an das griechische Wort xenos anzulehnen, das durch Bedeutungsvielfalt charakterisiert ist: Es konnte sowohl ‚Gast‘ und ‚Fremder‘ als auch, in einer späteren Zeit, ‚Söldner‘ meinen. Der griechischen Antike war der Gedanke vertraut, dass jemand, der schutzbedürftig war, Anspruch auf Gastfreundschaft hatte. Jüngers Reflexionen über Soldaten und Verfolgte datieren jedoch vom 22. Mai 1940 und nicht aus der Zeit griechischer Stadtstaaten, und damit stellt sich die Frage, wie, keine zwei Wochen nach dem Ende des so genannten ‚Sitzkrieges‘, die Realität von Kampfhandlungen aussah, an denen Jünger selbst teilnahm. Die Massenflucht, die aufgrund der sich nähernden deutschen Truppen zunächst in den Beneluxstaaten, dann in Frankreich einsetzte, betraf im Mai 1940, so wird heute geschätzt, 2 Millionen Belgier, Holländer und Luxemburger, außerdem 2 Millionen Franzosen aus den nördlichen Départements. Insgesamt verließen aufgrund des Vorrückens der deutschen Truppen etwa 10 Millionen Franzosen ihr Zuhause. Ausgestattet mit geringster Habe, aus der Luft bedroht durch die ‚Stukas‘ der deutschen Luftwaffe, unternahm damit etwa ein Viertel der französischen Bevölkerung den verzweifelten Versuch, sich im Süden des Landes in Sicherheit zu bringen. Die Wirklichkeit der Flucht hatte jedoch mit Sicherheit nicht das Geringste zu tun: Französische Zivilisten und französische Soldaten versperrten sich gegenseitig die Wege. Besonders beim Aufbruch aus Paris herrschte eine Massenpanik, in deren Verlauf viele Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Die Folgen der Panik konnte Jünger selbst in Augenschein nehmen. In seinem Tagebuch Gärten und Straßen spielt folglich auch in diesem Kontext die Nahrung eine große Rolle. Fünf Tage nach dem oben zitierten Eintrag, nämlich am 27. Mai 1940, notiert er über das französische Dorf Boulzicourt: Weiter durch diese erstaunlichen Landschaften. In den Dörfern und Städten rauchte kein Herd, kreuzte kein Kind, kein lebendes Wesen unsere Bahn. Oft drückte ich mein Gesicht gegen die Fensterscheiben und sah dann in den Zimmern gedeckte Tafeln mit Tellern und Gläsern, doch keine Gäste – das Bild jäh unterbrochener Mahlzeiten.408
Der Kontrast zwischen Jüngers Erfahrung auf deutschem Boden einerseits und jetzt, als Besatzer, ist gewaltig. Das Gastrecht scheint nur solange gewährt zu werden, wie der fremde Soldat der eigene, deutsche, so fremd also doch nicht ist. Die Bratkartoffeln können nur mit jemandem geteilt werden, der dafür sorgt, dass von der Verfolgung andere als man selbst betroffen sind. Diejenigen aber, die unter dem Krieg leiden, entziehen sich dem Blick der potentiellen „Gäste“. Das Gastrecht kann sich an ihnen nicht bewähren. Die französischen Dörfer und Städte, in denen Jünger durch die 408 Ebd.
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Fenster blickt, sind leer. Weil die Flüchtlinge von den Deutschen wegstreben, kann sich das germanische Gastrecht an ihnen nicht bewähren. Der Umstandslosigkeit, mit der Jünger zuvor Soldaten und Verfolgte in eins gesetzt hatte, steht also die Tatsache gegenüber, dass die bedrohte Zivilbevölkerung nicht die geringste Neigung zeigt, Mahlzeiten mit den Deutschen zu teilen. Der ‚hostis‘ ist im Mai 1940, entgegen der berühmten Mehrschichtigkeit des lateinischen Begriffes, klar als Feind definiert, und nur als solcher. Jüngers apologetisch-ahistorischer Gestus, mit dem die Vergleichbarkeit von Asylrecht des Verfolgten und Gastrecht des „Kriegers“ postuliert wird, führt dazu, dass er sich der eigenen Rolle als gewaltsamer Besatzer nicht bewusst zu werden vermag. In den Kirchen standen noch die silbernen und goldenen Geräte auf den Altären, und in den Palästen schien das Leben entschlafen wie in Dornröschens Schloss – tot, tot, tot. Sehr merkwürdig war, dass in den Orten lange Reihen von Stühlen den Bordstein säumten, vom einfachen Küchenschemel bis zum prunkvollen Sessel in Rot und Gold – aber alle leer, als säßen Geister darauf.409
Zwar verlässt Jünger die römische Antike, doch die Überblendung der eigenen Zeit durch die mythische Zeitlosigkeit der Märchenwelt eines Dornröschen folgt dem schon bekannten argumentativen Schema: Jünger rühmt zwar die soldatische Tat, doch er sieht sich nicht gern als Täter. Seine Position ist die des kultivierten Beobachters, der in „erstaunlichen Landschaften“ fremdartige Bilder goutiert. Dass er selbst an einem historischen Prozess beteiligt ist, der die Bewohner von Dörfern wie Städten, Kirchen wie Palästen zu Fremden macht, wird nicht zum Thema. Der Tod ist kein wirklicher. Das Leben ist nur „entschlafen“. Die Möglichkeit einer dornröschenhaften Rückkehr zum Leben ist damit für die Opfer gegeben. Bei genauerem Hinsehen aber will das Dornröschen-Motiv nicht recht greifen. Der Märchenschlaf setzt die Präsenz des Hofstaates voraus. Dieser erstarrt im Schlaf, bleibt also da, wo er von jeher gelebt hat. In Nordfrankreich hingegen sind Herde wie Altäre, Stühle wie Schemel gänzlich verlassen. Das zeigt, dass die einstigen Bewohner nicht des Erwachens harren, um zu alter Beweglichkeit zurückzufinden. Sie sind vielmehr ganz im Gegenteil dabei, sich durch Bewegung Tod und drohender Gefahr zu entziehen. So können also nur die Bilder der Häuser, die sich Jünger darbieten, mit dem Adjektiv „tot“ bzw. „bewegungslos“ belegt werden, ganz und gar nicht aber ihre Bewohner. Und doch hat es in anderer Hinsicht mit diesem Adjektiv seine Richtigkeit. Der Tod des Dornröschens ist durch zeitliche Befristung ausgezeichnet, und damit spricht sich in Jüngers Vergleich implizit der Versuch aus, sich selbst zu beruhigen. Der verstörenden Leere wird die Aussicht entgegengehalten, dass das Leben in die „Zimmer mit den gedeckten Tafeln“ zurückkehren und die Mahlzeit (als Signum der erfolgten „Auferstehung“) wieder aufgenommen werden wird. Das wird dann eine Mahlzeit Zuhause sein. Die Frage, wie es auf der Flucht um die Nahrung der „Leidenden“, „Asylsuchenden“ bestellt sein mag, bleibt ausgeblendet. Das „uralte Gastrecht“ ist schwer in Einklang zu bringen mit einer Fluchtbewegung, die quantitativ zu den größten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zählt. 409 Ebd., S. 146-147 (= Eintrag 27. Mai 1940).
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Übrigens fragte ich den einzigen Einwohner, den ich antraf, nach den Vorgängen – er erzählte mir, dass Militär mit Lastwagen erschienen sei, zur Durchführung der Räumung binnen kürzester Frist. Der Maire sei betrunken gewesen und die Unordnung außerordentlich. Das tröstete mich ein wenig, denn ich erkannte, dass die Bilder, die mich bedrückten, in der Natur der Sache liegen und nicht auf uns allein zurückzuführen sind.410
Der Hinweis auf die „Natur der Sache“ bietet trotz seiner Vagheit einen wichtigen Ansatzpunkt zum Verständnis dessen, was Jünger in psychologischer Hinsicht bewegt: Ein Gefühl der „Bedrückung“ ergreift ihn angesichts der Leere, die ihm allerorten begegnet. Um diesem Gefühl zu entkommen, muss das Unheimliche, das darin besteht, sich überall an gedeckte und zugleich doch leere Tische setzen zu können, normalisiert werden. Jünger behauptet daher, dass die „Bilder“ nicht allein „auf uns“ zurückzuführen seien. Das „Uns“, in dem die „Wehrmacht“ zusammengefasst wird, muss in Distanz gerückt werden. Die Erkenntnis, Rädchen im Getriebe einer großen Maschinerie zu sein, die von den Angegriffenen als äußerste Bedrohung wahrgenommen wird, stört die vorherige Behauptung vom Recht, das Asylsuchende und „Krieger“ miteinander verbände. Impliziert wird zugleich, dass das Bedrückende weniger stark ausgeprägt gewesen wäre, hätten die Franzosen denn die Fähigkeit gezeigt, die Räumung fristgerecht und „ordentlich“ in Gang zu setzen. Die Verantwortung liegt also nicht so sehr bei den Angreifern, als vielmehr bei den Angegriffenen: Die „Natur der Sache“ scheint sich dadurch zu definieren, dass der Bürgermeister im Angesicht „deutscher Ordnung“ in die Trunkenheit flieht, statt sich seiner Verantwortung zu stellen. Im Übrigen existiert das Gastrecht nur, wenn ein Gastgeber da ist, der es gewährt. Es ist also nicht so sehr entscheidend, ob ein Mahl zur Verfügung steht, sondern vielmehr, ob es jemanden gibt, der es dem Gast geben will, oder ob im Gegenteil der Gast sich Mahl und Gastrecht allein zuschreibt – und nimmt. Aus heutiger Perspektive besteht das Verstörende an der Situation im Nordfrankreich des Mai 1940, die nach Jüngers Beschreibung ganz auf den Empfang weiterer Esser ausgerichtet zu sein scheint, paradoxerweise darin, dass kein Gastgeber dem Soldaten die Nahrung verweigerte. Gerade da, wo die „Krieger“ sich alles nehmen konnten, was sie wollten, erwies sich die Vorstellung, die „Krieger“ aller Zeiten hätten das Vorrecht, „in jedem Haus zu Gast zu sein“, als illusorisch. Die Verfügbarkeit der Häuser wie der Nahrung zeigt, dass das vermeintlich „Heilige“ dem Bedürfnis Jüngers entsprang, die konkreten Realitäten, an deren Herbeiführung er beteiligt war, zu fliehen. Nicht nur die Franzosen flohen, sondern auch er, doch anders als jene ohne Einwirkung von Gewalt. Das eigentliche Ziel Jüngers ist es, das „Bedrückende“ zu beseitigen, und das gelingt durch die Herstellung weiterer Parallelen zur antiken Welt. „Die Dinge sind so beschaffen, dass aus dem Haus, das aufgegeben wird, der Nomos verschwindet; die Laren und Penaten bleiben nicht zurück.“411 Statt der Geister, die auf den leeren Stühlen vermutet wurden, ist jetzt von Schutzgeistern die Rede, die nach Vorstellung der Römer mit fort zogen, sobald eine Familie ihren Haushalt verließ. Für unheimlich erklärt also Jünger nicht, dass ganze Städte unmittelbar vor der Ankunft der deutschen 410 Ebd., S. 147 (= Eintrag 27. Mai 1940). – Vgl. dazu auch URL: http://strahlungen2010. blogspot.com/2009/07/boulzicourt-27-mai-1940.html; abgerufen am 3.12.2016. 411 Jünger: Gärten, S. 147 (= Eintrag 27. Mai 1940).
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Truppen die Flucht ergriffen, sondern vielmehr, dass Geister (die überdies unsichtbar sind) die Orte verlassen haben. Die Leere bedrückt, anders gesagt, nicht darum, weil keine Menschen mehr da sind, sondern weil etwas Unsichtbares nicht mehr da ist. Noch einmal: Es bedrückt das Verschwinden dessen, was niemals sichtbar war und als Reales erst von Jünger aus der Antike in die Moderne hineinkatapultiert werden muss. Und doch ist dieses Verschwinden sichtbar: Mit den Schutzgeistern haben die Häuser, so die notwendige Schlussfolgerung, ihren Schutz verloren. Ob die Suche nach „Trost“, die Jünger zuvor erwähnt, darin besteht, dass auch Laren und Penaten sich jetzt auf den verstopften Straßen vorwärts quälen, bleibt dahingestellt. Entscheidend ist, dass die Schutzgeister nicht die Familien trösten, sondern den „Krieger“ Jünger, der den Blick in die verlassenen Häuser sonst weiter als trostlos hätte empfinden müssen. Penaten und Laren sind also nicht etwa Schutzgeister von Schutzabkommen, sondern schützen die „Krieger“ davor, der trostlosen Wirklichkeit ins Auge sehen zu müssen, dass ganze Länder sich ihnen schutzlos ausgeliefert fühlen. Die römischen Schutzgeister sind damit Vehikel einer Entlastungsstrategie, trösten nicht die Leidenden, sondern erneut die Täter. Auf Schutz und Trost ist angewiesen, wer anderen Angst einflößt. Der befremdliche Anblick von Häusern, in denen kein Gastgeber im Begriff ist, Kartoffeln zu braten, ist schlimmer als die Vertreibung ihrer Bewohner. Die getäuschte Erwartung, Menschen anzutreffen, ist für Jünger ein ästhetisches Skandalon – die Todesangst, die die anrückenden deutschen Truppen bei der Zivilbevölkerung auslösen, ein bloß existentielles. Beitreiben und Gerechtigkeit Hier gab man den Juden Wasser. – Lanzmann: Wo gab man ihnen Wasser? – Bauer: Hier. Wenn die Transporte hier ankamen. – Lanzmann: Wer gab ihnen Wasser? – Bauer: Wir Polen. Da war ein kleiner Brunnen, man nahm eine Flasche… – Lanzmann: War das nicht gefährlich? – Bauer: Es war sehr gefährlich. Man konnte getötet werden, wenn man ihnen Wasser gab. Aber wir haben es trotzdem getan.412
Mit der Verkehrung der Rollen im Krieg, die eben beschrieben wurde, sind wir nur noch einen Schritt von einer Denkfigur entfernt, die der Satiriker Karl Kraus schon im Ersten Weltkrieg als die „verfolgende Unschuld“ und Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, in Anlehnung an Kraus’ Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, als „falsche Projektion“ bezeichnet haben. „Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.“413 Jünger beschuldigt die französischen Familien implizit, ihm durch ihre Flucht den Anblick von unabgeräumten Tellern und Gläsern und damit die Rolle des Täters zugemutet zu haben. Plötzlich kann er sich nicht mehr unschuldig des „Vorrechts“ auf
412 Claude Lanzmann: Shoah, 1985, hier DVD 1, 1:01:20. 413 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 196.
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Bratkartoffeln und eingelegtes Rindfleisch erfreuen, sondern muss das Bild der leeren Städte zu seiner eigenen militärischen Präsenz in Verbindung setzen. Dass sein Blick von den Menschen weg- und zu den römischen Schutzgeistern hinschwenkt, ist augenscheinlich Ausdruck seines Bedürfnisses, sein angeschlagenes Vertrauen in die Zeitlosigkeit und damit Notwendigkeit des Krieges zurückzugewinnen. Karl Kraus formuliert diesen psychologischen Mechanismus zur Abwehr von Verantwortung so: „Man weiß von nichts und redet von etwas anderm; man hat nichts getan, aber der andre ist schuld; es ist nichts geschehn und er hat es getan […].“414 Wie tief Jünger aber in Wirklichkeit von der Massenflucht in Frankreich beeindruckt ist, zeigt sich darin, dass er die Argumentationskette um ein weiteres Glied erweitert, indem er in der Verlassenheit noch einen weiteren tröstlichen Aspekt findet: „Auf alle Fälle lernt man aus solchem Anblick die mächtige, fast unsichtbare Arbeit würdigen, die durch die Familie geleistet wird.“415 Diese Argumentation scheint folgende Schritte vorauszusetzen: Menschen nehmen Mühe auf sich, um der eigenen Familie ein Zuhause zu geben. Wie wertvoll dies ist, gerate leicht in Vergessenheit. In dem Moment aber, in dem der Krieg alles zerstört, kehrt die Erinnerung daran machtvoll zurück. Den Verlust der Selbstverständlichkeit, ein Zuhause zu haben, betrachtet Jünger als positiv. Das Unsichtbare wird sichtbar – dank der Zerstörung. Das Alltägliche avanciert zum Exzeptionellen. Der Schutz, ein Zuhause zu haben, ist eine Ausnahme und nicht länger die Regel, kurz: Die Saturiertheit, gegen die sich Jüngers antibürgerliches Ressentiment wendet, werde endlich überwunden. Krieg und Flucht eröffnen, folgt man Jüngers Argumentation, Wege zum „Wesentlichen“, zum „Nemos“ im Sinne von „Gesetz“. Nicht leicht einzuordnen ist an Jüngers Lobgesang auf die Familie allerdings das Adjektiv „unsichtbar“. Warum qualifiziert er die von ihr geleistete Arbeit als etwas, was man nicht sehen kann? Sind die Ergebnisse der Arbeit nicht konkrete? Bedeutet Arbeit nicht: Ein Haus wird gebaut, das Essen gekocht, der Tisch gedeckt? Es ergibt sich der Eindruck, dass Jünger vor der Schwierigkeit steht, mehrere Argumente miteinander verbinden zu müssen: erstens das Argument, das „Bedrückende“ der leeren Häuser liege „in der Natur der Sache“ (und nicht an den Deutschen); zweitens das Argument, das „Bedrückende“ erkläre sich durch den Auszug von Penaten und Laren (und nicht der Bewohner); und drittens und letztens das Argument, so bedrückend sei die Leere schließlich doch nicht, da man ja immerhin die „fast unsichtbare Arbeit“ der Familie „würdigen“ lerne. Das Adjektiv „unsichtbar“ stellt sich als ein Wort dar, durch das eine semantische Brücke zwischen dem zweiten und dem dritten Argument geschlagen werden kann. Laren und Penaten sind (als Geister der Verstorbenen) unsichtbar. Das entspricht den religiösen Vorstellungen der römischen Antike. Wenn nun aber auch von der Arbeit behauptet wird, sie sei nicht zu sehen, dann ergibt sich der Eindruck, dass das, was der Ursprung von Jüngers Unbehagen war, sich trotz aller Bemühungen nicht zurückdrängen lässt. Vielmehr kreist er um diesen Ursprung, kehrt stets von Neuem (jedoch ohne sich dessen bewusst zu sein) zu ihm zurück. Der Ursprung aber ist: Es ist kein einziger Mensch zu sehen. Eine Eigenschaft, die vom Wesen her nur den römischen Schutzgeistern zukommt – Unsichtbarkeit –, wird auf die Menschen übertragen und so der Umstand, dass die Deutschen die gesamte Zivilbe414 Kraus: Walpurgisnacht, S. 186-187. 415 Jünger: Gärten, S. 146-147 (Eintrag vom 27. Mai 1940).
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völkerung vertrieben haben, in den Bereich der Mythologie überführt. Auf diese Weise stellt Jünger unterschwellig die Behauptung auf, das Verschwinden der Menschen sei in Wirklichkeit nicht durch konkrete historische Vorgänge zu erklären. Menschen, deren Arbeit nur „fast sichtbar“ ist, werden selbst schemen- (d.h. laren-)haft. Damit wird der Leserschaft suggeriert, dass die Flucht der Menschen sich in schwer fassbaren, mythologischen Sphären abspielt. Die Konsequenzen des Krieges sind zwar konkret greifbar – Tische sind gedeckt worden, doch Zeit zum Essen blieb nicht mehr, Essen wurde aufgetragen, doch niemand konnte es mehr zu sich nehmen –, aber letztlich liegt es, psychologisch gesehen, in der „Natur der Sache“, dass Jünger das Konkrete nicht gern als solches bedenkt. Die Tatsache, dass der Beginn des Krieges gegen Frankreich eine „Reise“ durch menschenleere Räume ist, bleibt Thema, und das, obwohl (oder vielmehr: weil) Jünger alles daran setzt, die Räume wieder zu füllen: mit Schutzgeistern, Werten, Versatzstücken von Bildungswissen über andere Zeiten. Dafür ein weiteres Beispiel, das uns zum Thema des Durstes zurückführt: In der Kirche, die verlassen steht. Doch läutete der Aumônier, der zurückgeblieben ist. In der Sakristei ein kleines Lager von Abendmahlswein. Indessen schien es, dass durstige Gemüter ihn der kanonischen Vorschrift: „Vinum sacramentale debet esse de gemine vitis et non corruptum“ gerecht gefunden hatten, denn die Flaschen lagen geleert am Boden verstreut.416
Mit soldatischem ‚Humor‘ zitiert Jünger aus dem Codex Iuris Canonici des Jahres 1917, doch ihm entgeht, dass sich gleich zwei Fehler eingeschlichen haben: In Wirklichkeit müsste es heißen „Vinum debet esse naturale de geminine vitis et non corruptum.“417 Dem kanonischen Recht zufolge muss der Wein naturrein und aus Weintrauben gewonnen sein. Außerdem darf er nicht verdorben sein. Der Protestant Jünger (der erst im hohen Alter zum Katholizismus konvertieren wird) leitet aus dieser Vorschrift ab, dass die Plünderung der französischen Kirchen durch die deutschen Soldaten legitim ist. Das Sakrament des Abendmahles, das für katholische Gläubige von zentraler Bedeutung ist, tritt gegenüber der unbekümmerten Lust der „durstige[n]“ deutschen „Gemüter“ in den Hintergrund. Dass Jünger dem Eindringen der deutschen Soldaten in die Sakristei seine Zustimmung erteilt, wird sprachlich unterstrichen. In der Formulierung, die Deutschen hätten den Wein der Vorschrift „gerecht“ gefunden, mischen sich offenbar zwei Redewendungen. Die erste wäre die Wendung „etwas wird einer Sache gerecht“ – in diesem Falle wären das die Soldaten, die dem kanonischen Recht folgten, ihm gerecht würden –; die zweite besagt, „etwas sei gerecht“ – nämlich in diesem Fall die Skrupellosigkeit, mit der sich die Soldaten über die Heiligkeit des Abendmahls hinwegsetzen. Dadurch, dass das Ich des Textes behauptet, das, wovon es spreche, habe keine ernste Bedeutung, lädt es die Leserschaft dazu ein, es doch selbst auch nicht so genau nehmen zu wollen. Die Plünderung der französischen Kirche ist ein Scherz, der durch den „Durst“ von „Gemütern“, die es offenbar auch im Krieg ganz gemütlich meinen, hinreichend legitimiert ist.418 416 Ebd., S. 153 (= Eintrag vom 2. Juni 1940). 417 Can 924 §3. 418 Als Sakrament bezeichnet man „in der christlichen Theologie einen Ritus, der als sichtbares Zeichen beziehungsweise als sichtbare Handlung eine unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtige […].“ (Wikipedia: Artikel ‚Sakrament‘, abgerufen am 5.
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Jünger wählt also aus dem historischen Vorrat an Ideen und Motiven mit Vorliebe aus, was seine eigene Position stärkt: Die „Heiligkeit“ eines Gastrechts, die er als vermeintlich universellen Wert verkündet, wiegt schwerer als die Heiligkeit eines religiösen Ritus, dem Jünger selbst sich nicht verbunden fühlt. „Heilig“ ist nur, was ihm selbst „heilig“ ist. Aus dem Blick gerät die Einsicht „Das Nichtwissenwollen“ – hier in Bezug auf das Heilige der anderen – „ist selbst schon das Unheil.“419 Ein letztes Beispiel soll zeigen, mit welcher Regelmäßigkeit der Rekurs auf die Vergangenheit – und besonders gern auf die „germanische“ – von Jünger als Entlastungsstrategie eingesetzt wird. Erneut wird der Durst zum Thema: Durch Bouillon, das eine alte Bergfestung überragt. Inmitten der Stadt zertrümmerte Häuser, niedergeworfene Straßenzüge, besonders rings um die alte Brücke in ihrem Kern. Leute kamen mit Weinflaschen vorbei; ich entsandte Rehm mit dem Fahrrade, um die Quelle aufzuspüren; er kam mit einigen Bouteillen Burgunder zurück. Wie er erzählte, war er in einem Heeresmagazin gewesen, in dessen Keller eine stark angeheiterte Gesellschaft zusammensaß. Überhaupt ist die Vormarschstraße von Sekt-, Bordeaux- und Burgunderflaschen gesäumt. Ich zählte wenigstens eine auf den Schritt, abgesehen von den Lagerplätzen, die aussahen, als ob es Flaschen geregnet hätte. Das gehört ja wohl bei einem Feldzug in Frankreich zur Überlieferung. Jeder Einmarsch germanischer Heere ist von einem Tieftrunk begleitet, wie ihn die Götter der Edda taten und dem kein Vorrat gewachsen ist.420
Hier zeichnet sich eine Widersprüchlichkeit ab, die auch in den Forschungskontroversen zu Jüngers Werk wiederkehrt: Auf der einen Seite erscheint Jünger als aufmerksamer Beobachter, der gewillt zu sein scheint, Zerstörungen ohne Beschönigungen in den Blick zu nehmen – im Fall von Bouillon etwa den Umstand, dass das Stadtzentrum durch Kämpfe schwer gelitten hat. Auf der anderen Seite kamoufliert diese Präzision jedoch das Vorherrschen einer Vagheit, durch die jede Reflexion über die eigene Täterschaft immer wieder abgewehrt wird. Solange der Wein aus einer „Quelle“ sprudelt oder vom Himmel „regnet“, erscheint er als ebenso unversiegliche wie natürliche Ressource und nicht etwa als das Produkt der Arbeit eines Landes, für dessen Bauern der Wein eine ökonomische Bedeutung ersten Ranges besitzt. Solange „Leute“ mit Weinflaschen „vorbeikommen“, muss nicht zugegeben werden, dass die „Leute“ nicht einfach irgendwelche Passanten unbestimmter Herkunft sind, sondern November 2012). Erneut spielt also das Unsichtbare eine Rolle für die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich. In dem Moment, in dem für die deutschen Soldaten sogar die Präsenz des Geistlichen keine Schranke bedeutet und sie ungehemmt beginnen, den Abendmahlswein auszutrinken, setzen sie sich darüber hinweg, dass es Dinge gibt, die als Zeichen für etwas stehen, was dem katholischen Gläubigen sonst nicht sichtbar würde: das Zeichen der verborgenen Heilswirklichkeit Gottes. In der Tat: Der Nomos ist verschwunden, betrachtet als gesellschaftlich-ethische Norm, die über die Zeiten hinweg Gültigkeit besitzt. An die Stelle der Norm, dass die Gebräuche von Religionsgemeinschaften, zu denen man selbst nicht gehört, zu respektieren seien, ist ein männerbündlerisches Besäufnis getreten. 419 Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit, München 1962, S. 24; künftig zitiert als: Jaspers: Atombombe. 420 Jünger: Gärten, S. 144-145 (= Eintrag vom 26. Mai 1940).
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vielmehr deutsche Soldaten, die in die Stadt eingedrungen sind. Solange behauptet wird, „jeder Einmarsch“ der Deutschen müsse von einem „Tieftrunk“ begleitet sein, kann die genaue Benennung dessen, was die Wehrmacht tut, umgangen werden: Sie plündert. Denn mögen auch die „Götter der Edda“ das Vorbild für den „Trunk“ abgeben, dem sich die „Leute“, die in Wirklichkeit Deutsche sind, gerade hingeben, so besteht doch kein Zweifel darüber, dass die „Heere“, die hier agieren, weder Heere der Edda noch allgemein „germanische Heere“ und schon gar nicht die germanischen Götter selbst sind, sondern schlicht die Wehrmacht, die ihre „durstigen Gemüter“ bereits anderswo mit Wein zu löschen versucht hatte: einem Wein nämlich, der in Erinnerung an die Leiden des Gottessohnes hätte getrunken werden sollen. Die Götter der Edda werden also, da sie als rhetorisches Versatzstück zur Glorifizierung der trunkenen Sieghaftigkeit der Deutschen besser geeignet sind, implizit gegen den Christengott ausgespielt. Jünger plädiert erneut für eine Logik, der zufolge das Recht auf Seiten des Stärkeren ist. Entscheidend ist, dass „Sekt-, Bordeaux- und Burgunderflaschen“ nicht schlicht vom Himmel, sondern dass sie, geleert, deutschen Soldaten aus den Händen fallen. Die Konsequenz von Jüngers Verharmlosungsstrategie besteht in der Ersetzung des Wortes „Plünderung“ durch das Wort „Beitreiben“. Was das Beitreiben anbetrifft, so gibt es darin ganz bestimmte Grenzen, die ich den Männern deutlich zu machen suche. So darf der Soldat einen Löffel an sich nehmen, wenn ihm der eigene verloren ging – unter Umständen auch einen silbernen, wenn er gerade darauf stößt, doch keinesfalls dann, wenn ein Blechlöffel daneben liegt.421
Wenn man nun das – übrigens ungebräuchliche und daher bedenkenswerte – Wort „Beitreiben“ von der Frage, womit die deutschen Soldaten in diesem Krieg Mahlzeiten (und den Krieg) auszulöffeln haben, auf die Frage überträgt, womit sie ihren Durst löschen sollen, dann wird deutlich, dass Jüngers Versuch fehlgeschlagen ist, dem „Beitreiben“ „ganz bestimmte Grenzen“ zu setzen. Weil die Soldaten, Jünger zufolge, von einem silbernen Löffel abzusehen haben, sobald ein anderer, blecherner daneben liegt, müsste, so die logische Schlussfolgerung, auf Sekt, Bordeaux und Burgunder verzichtet werden, wenn Wasser zur Verfügung steht. Denn eine Wasserquelle würde den Durst stillen, ohne den Franzosen Schaden zuzufügen. Dass es mit der Grenzziehung bezüglich des „Beitreibens“ Schwierigkeiten gibt, muss Jünger indirekt zugeben, denn am 30. Juni 1940 notiert er, er habe den Vormittag „mit einem ‚Tatbericht gegen Unbekannt‘“ verbracht. Diese Arbeit erscheint ihm jedoch als eine „pour le Roi de Prusse“ – d.h. er betrachtet sie als ganz und gar zwecklos. Mit Übergriffen muss in allen Heeren gerechnet werden; das ist unbedeutend, wenn nur das Maß der Ehre nie verlorengeht. Dasselbe gilt für das Einzelleben, gilt für uns alle: der Mensch kann fehlen, wenn nur der Keim, die Zelle des gerechten Lebens, in ihm erhalten bleibt. Dann heilt er sich aus sich heraus.422
421 Ebd., S. 159 (= Eintrag vom 8. Juni 1940). 422 Ebd., S. 197 (= Eintrag vom 30. Juni 1940).
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Einerseits tritt Jünger als Gentlemen-Krieger auf, der auch in verlassenen Häusern nie einen Silberlöffel stehlen würde, andererseits tut er massive Plünderungen von Seiten der Deutschen als Bagatelle ab. Das gilt für Plünderungen anderer Soldaten ebenso wie für Plünderungen, an denen er selbst aktiv beteiligt ist. Die Edda bettet das Verhalten der Deutschen in scheinbar zeitlose Traditionen ein; die Vermeidung des Wortes „Plünderung“ macht aus dem Eindringen in die französischen Weinlager eine rechtmäßige Aktion zur Versorgung der eigenen Soldaten; der Hinweis auf das „Maß der Ehre“ schließlich verbindet sich mit dem Argument, in allen Heeren (warum also nicht auch im eigenen) sei mit solchen „Übergriffen“ zu rechnen. Dass sich die „Zelle des gerechten Lebens“ bei den „Germanen“ jetzt wie einst stets „erhält“, unterliegt für Jünger keinem Zweifel. Im Grimmschen Wörterbuch findet sich zu dem Wort „beitreiben“ nur ein kurzer Eintrag: „das vieh, die rinder, schafe beitreiben, eintreiben; schulden, steuern beitreiben; alles wurde von den armen leuten unbarmherzig beigetrieben.“423 Die Anwendung des Verbs „beitreiben“ scheint im Kontext der Löffelfrage unangemessen zu sein. Zu bedenken ist die Semantik des Grundverbs. Treiben „bedeutet (transitiv) eine intensive tätigkeit, durch die in irgendeiner weise die bewegung eines objects bewirkt wird, und zwar in der richtung vom subject fort.“424 Die Soldaten nehmen nun aber nicht einen Löffel, um ihn von sich fort zu weisen, sondern im Gegenteil, um ihn sich (und zwar essend) zuzuführen, an sich zu nehmen. Außerdem ist das Gewicht eines Löffels, und sei er auch aus Silber, ein so geringes, dass von einer „intensiven Tätigkeit“, die nötig wäre, um ihn in Bewegung zu setzen, keine Rede sein kann. Es fragt sich folglich, wie Jünger gerade auf dieses Wort verfallen konnte. Eine Erklärung könnte der intransitive Gebrauch sein, den das Verb bietet. Treiben beziehe sich, so das Grimmsche Wörterbuch, „in weitestem umfange auf dinge […], die von unpers. kräften (wind und wasser) bewegt werden“.425 Gerade dieser Aspekt des Unpersönlichen ist auch für Jünger von Bedeutung. Die deutschen Soldaten erweisen sich als Kräfte, die, darin Wind und Wasser vergleichbar, Dinge bewegen, doch fern ab von persönlichen Bereicherungstrieben. Eine anonyme Kraft ist am Wirken, jenseits aller persönlichen Verantwortung. Und daher kann die Aufgabe, gerade diese persönliche Verantwortung von ganz konkreten „Preußen“ festzustellen, als eine Arbeit „pour le roi de Prusse“ gelten. Hinzu kommt, dass das Verb ein Bild hervorruft, dem zufolge nicht allein Gegenstände (seien es nun Löffel oder Flaschen) neuen Besitzern „zugetrieben“ werden, sondern auch die Soldaten der Wehrmacht selbst sich getrieben fühlen. Die Anonymität wird zu einer allgemeinen. Der Krieg erfasst alles. Niemand kann für Plünderungen mehr zur Verantwortung gezogen werden, weil auch die Plünderer selbst vom Sturm des Krieges erfasst, von ihm vorwärts getrieben werden.
423 Vgl. den online-Artikel des Deutschen Wörterbuchs von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GB033 61#XGB03361; abgerufen am 19.1.2016. 424 Ebd., Stichwort „treiben“. Vgl. URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB& mode=Vernetzung&lemid=GT09506#XGT09506; abgerufen am 19.1.2016. 425 Ebd.
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Schon die Menge der Flaschen, die den Rand der „Vormarschstraße“ „säumen“, erweist jedoch die Behauptung, hier sei etwas Anonymes am Werk, als euphemistische. Die deutschen Soldaten haben nicht einfach gegen, sondern im Gegenteil entschieden über den Durst getrunken. Die Konsequenzen der Maßlosigkeit, der Jüngers Ideen vom „Maß“ der Ehre offensichtlich Hohn spricht, werden nicht zugegeben. Von der „Gesellschaft“, die im Keller zusammengesessen habe, heißt es nur, sie sei „angeheitert“ gewesen. Der Bürgermeister war von Jünger hingegen missbilligend als „betrunken“ und damit als unfähig zur Schaffung von Ordnung bezeichnet worden. Im Blick auf die Deutschen scheint er im Gegensatz dazu den Aspekt der „Heiterkeit“ und damit implizit die sich abzeichnende „Siegerfreude“ hervorheben zu wollen. „Maßlosigkeit“ kommt nur dem Gegner zu; auf deutscher Seite sind allein „Heiterkeit“ und „Gemütlichkeit“ (nicht zuletzt beim Genuss von Abendmahlswein) zu verzeichnen. Dass das Angeheitert-Sein ein „starkes“ und also in Wirklichkeit dem Betrunken-Sein des französischen Bürgermeisters vergleichbar ist, gehört zu den vielen blinden Stellen von Jüngers Imagination zu dem, was „quälender Durst“ im Zweiten Weltkrieg bedeuten konnte. Das, was zuvor sichtbar gewesen war – die Leere der nordfranzösischen Dörfer und Städte –, verschwindet in Jüngers Text Schritt für Schritt. An die Stelle der Leere treten die Fülle französischer Weinkeller und die Völle kollektiver Besäufnisse. In dem Maße, in dem die Deutschen, siegesgewiss und göttergleich, die Flaschen zu leeren beginnen, wird die durch Flucht bewirkte Leere der nordfranzösischen Dörfer und Städte aushaltbar. Jetzt sind es nicht mehr vorrangig Stühle aller Art – „vom einfachen Küchenschemel bis zum prunkvollen Sessel in Rot und Gold“ –, deren Existenz man neben den Straßen zur Kenntnis zu nehmen hätte, sondern Flaschen aller Art. Diese Flaschen sind zwar ebenso leer wie die Stühle, doch geht nur von den letzteren etwas Unheimliches aus. Sobald „auf jeden Schritt“ „wenigstens“ eine Flasche kommt, hat die Trunkenheit die erwünschte Wirkung gezeigt. Das „Gastrecht“ erweist sich erneut als simples: Dem Soldaten steht in der Tat „das Anrecht“ zu, „in jedem Haus zu Gast zu sein“. „Dieses Vorrecht zählt zu den schönsten, die ihm sein Stand gewährt“, weil niemand da ist, den unschönen Versuch zu machen, es ihm zu verweigern. Plünderer, die weit über die Versuchung eines bereitliegenden Silberlöffels hinaus- und in Keller mit kostbarsten Weinen hineingehen, können sich in dem Maße als „Gäste“ fühlen, in dem die Leere der nordfranzösischen Städte und Dörfer die Gefahr still-ergebener Zeugenschaft, wenn nicht gar konkreter Gegenwehr zum Verschwinden bringt. Das „Beitreiben“ von Alkohol lässt die Vertreibung der Bevölkerung vergessen. Das „StarkAngeheitert-Sein“ wird zum Mittel, das Unheimliche leerer Stuhlreihen nicht mehr sehen zu müssen. Das eigene „Maß der Ehre“ scheint gewahrt, wo der fremde Bürgermeister durch seine maßlose Trunkenheit Chaos und Angst der Zivilbevölkerung erklären hilft. Was im Grimmschen Wörterbuch hinsichtlich des Wortes „treiben“ vermerkt ist, gewinnt Aktualität: „die bedeutung ‚vorwärts-, fortjagen‘ von menschen oder tieren durch eine überlegene gewalt […] verliert in abgeleitetem gebrauch die kraft der unmittelbarkeit […] und wird unter starkem zurücktreten der raumvorstellung im metaph. gebrauch zu ‚veranlassen‘, adducere […], und ‚leiten‘, ‚ducere‘“.426 In der Tat: Die Deutschen haben die Franzosen nur „veranlasst“, ihre Wohnungen zu verlassen, nicht aber eine regelrechte Vertreibung in Gang gesetzt. 426 Ebd.
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Im Übrigen betrachtet Jünger es im Blick auf ferne Vergangenheiten ohnehin als erwiesen, dass „kein Vorrat“ dem „Tieftrunk“ „germanischer Heere“ je gewachsen gewesen sei. Die französischen Weinkeller stehen vollkommen ausgeplündert da, nicht weil sich die „germanischen Heere“ über jedes „Maß von Ehre“ hinaus dem „Tieftrunk“ hingegeben hätten. Vielmehr argumentiert Jünger, es sei ohnehin kein „Vorrat“ denkbar, der sich dem „Durst“ der einmarschierenden „Gemüter“ „gewachsen“ zeigen könne. Die „Germanen“ sind in ihrem Bedürfnis nach „Angeheitert-Sein“ stärker als selbst der größte denkbare Reichtum französischer Weinbauern. Im Kampf zwischen der Stärke französischer Vorratshaltung und der Stärke „germanischen“ „Durst[es]“ erweist sich letzterer notwendig als überlegen. Der „Tieftrunk“ ist eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Die „Germanen“ trinken gegen das Gefühl kultureller Unterlegenheit an. Dieses spricht sich bei Jünger auf erstaunlich offene Weise aus: Wir sind wahrhaft die Sansculotten, die Sieger, wenn auch nicht ohne Hosen, so doch mit Hosen aus Holzfasern, und sehen halb mit Staunen, was es noch in der Welt an Schätzen gibt – wie etwa den Keller meines unbekannten Wirtes mit einer Sammlung von Burgunderweinen, die in Regalen und Gestellen bis hoch hinauf die Mauern deckt.427
Das Wort „Sansculotte“ wird hier als Synonym für eine Person zu verwenden, für die die Unkenntnis verfeinerter Genüsse charakteristisch ist. Jünger selbst begreift sich im Angesicht der „Schätze“, die er bei seinem „Wirt“ vorgefunden habe, erneut als „Germane“, doch jetzt in der Bedeutung von „Barbar“. Er gehört zwar zu den „Siegern“, doch sein „Staunen“ beweist, dass die Franzosen ihm in puncto Weinkultur überlegen sind. Dass dieses Eingeständnis jedoch schnell wieder ad acta gelegt wird, veranschaulichen die dann folgenden Sätze: Es wäre ohne Zweifel töricht, so gute Dinge nicht zu nutzen; wir hielten daher gestern selbdritt bei Kerzenschimmer eine Weinprobe ab, bei der ein milder Vougeot den ersten und ein Chambertin den zweiten Preis erhielt. Sehr stark war auch ein Beaune von 1934 mit der schönen Devise: „J’aime à vieillir“.428
An der Beschreibung dieser Weinprobe fällt auf, dass Jünger, der eben noch von seinem „Staunen“ sprach, jetzt als Mitglied eines kleinen, „bei Kerzenschimmer“ sich zusammenfindenden Kreises von Kennern auftritt, die genug wissen, um die Güte edler Tropfen einschätzen und schließlich den besten prämieren zu können. Vom „Sansculotten“ rückt Jünger also schnell wieder auf zur Elite einer Kennerschaft, die eben doch nicht allein den Franzosen vorbehalten ist. Zwei Argumentationsstränge kreuzen sich: Zum einen sagt Jünger, dass die Stärke des eigenen Heeres durch die Stärke (d.h. Quantität) des Durstes bewiesen werde, mit dem sich die deutschen Soldaten von jeher auf die Vorräte der Franzosen gestürzt hätten. Der zweite Argumentationsstrang ist dem ersteren genau entgegengesetzt. Hier kommt es nicht auf die Quantität des „Trunkes“ an, sondern auf seine Qualität; nicht auf den trunkenen Verlust von Bewusstsein, sondern auf eine hochgradig-feinschmeckerische Bewusstheit. 427 Jünger: Gärten, S. 162 (= Eintrag vom 10. Juni 1940). 428 Ebd.
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Germanisch-barbarisches Völlerei und elitär-kultivierte Sachkenntnis von Männern, die wissen, wie auserlesene Weine zu goutieren sind („bei Kerzenschimmer“ und nicht etwa auf einem Lagerplatz, auf den ein Flaschenregen niedergegangen ist) stehen hart nebeneinander. Der Westfeldzug wird zur Bildungsreise. Welcher der beiden Seiten Jünger jeweils zuneigt – der großen Schar von „stark angeheiterten“ „Kriegern“ oder aber dem kleinen, elitären Kreises von Kultivierten, für den „Stärke“ gerade in den feinen Geschmacksnuancen eines Beaune zu finden ist – hängt vom jeweiligen Kontext ab. „… als wenn die Vandalen dort gehaust hätten“ Einmal bettelten die Juden um Wasser, da kam ein Ukrainer und verbot ihnen, welches zu geben. Die Jüdin, die danach verlangte, warf ihm den Topf an den Kopf. Daraufhin trat der Ukrainer etwas zurück, etwa 10 Meter, und schoss einfach in den Waggon. Alles war voller Blut und Hirn.429
Doch der Wunsch, die Distanz zu kollektiven Besäufnissen auf der einen und die Teilnahme an ihnen auf der anderen Seite je neu ins Verhältnis zueinander zu setzen, wird als soziales Privileg erkennbar, sobald man einen Blick in andere Zeugnisse aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges wirft. Die Geschichte der Darstellung von Durst ist durchaus nicht eindeutig. Es gibt Beispiele für Texte, die Wein und Trinken radikal aus seinen christlichen Kontexten herausnehmen und so Zugang zur historischen Wirklichkeit finden. So urteilt beispielsweise Hans Storck, ein junger Soldat, der wie Jünger ebenfalls in Frankreich stationiert war, nach seiner Versetzung an die italienische Front und seiner Teilnahme an der Schlacht von Monte Cassino aber die lang geplante Desertion ins Werk setzte, über die Trunkenheit, die in seiner eigenen Kompagnie herrschte, ganz anders als der Pour-le-mérite-Träger. Am 27. Juli 1943 schreibt er an seine Familie: Hier geht es seit gestern zu, als fürchte man einen neuen Ausbruch des Vesuv, wie „Die letzten Tage v. Pompei“. Als wir gestern ankamen, klang uns schon von ferne das Gebrüll der besoffenen Kompanie entgegen. Die Kantine machte Inventur (da wir alles belgische Geld abgeben mussten, auf Kredit). Bier, Schnaps, Wein usw. Zigaretten haben wir in rauen Mengen, Marmelade, Kunsthonig, Tabak usw. In der Kantine sieht es aus als wenn die Vandalen dort gehaust hätten, in den Unterkünften auch. Die Hälfte blieb über Nacht weg, die andere liegt nackt auf den Äckern und kann nicht hoch (Besoffen!).430
429 Lanzmann: Shoah, 1985, hier DVD 1, 01:05:01. 430 Brief von Hans Stock an seine Familie am 27.07.1943 Vgl. Brief und Faksimile desselben finden sich auf der herausragenden Internetseite der Museumsstiftung Post und Telekommunikation, URL: http://www.museumsstiftung.de/briefsammlung/feldpost-zweiterweltkrieg/brief.html?action=detail&what=letter&id=1042; abgerufen am 19.1.2016; künftig zitiert als: Storck: „Brief an Eltern“ (+ das entsprechende Datum). Dieser Brief trägt die Archiv-Nummer (3.2002.1217).
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Hier wie da steht Alkohol den Besatzern im Überfluss zur Verfügung. Die „Germanen“ Jüngers wie die „Vandalen“ Storcks sind „besoffen“. „Seit 24 Std. wird jetzt gesoffen und kaum gegessen“431, berichtet Storck. Nur differiert die sprachliche Form, in der dieser „Tieftrunk“ dargestellt wird, erheblich von der Jüngers: Überall sprudelt die Flüssigkeit aus den kotzenden Mäulern, aus den oberen Betten klatscht es auf den Fliesenboden, alles schwimmt. Die Besoffenen hauen die Stühle entzwei, schmeißen sie aufs Dach, zanken sich, hauen sich, bedrohen sich ernsthaft mit geladenen Pistolen, dass man seine Not hat, sich zu retten und sie auseinander zu bringen. Es ist ein Krach, wie er schlimmer in der Schlacht nicht sein kann.432
Die Direktheit und der krude Realismus dieser Beschreibung haben im „heroischen Realismus“ Jüngers keinen Platz. Aus Storcks Brief spricht Ekel. Der Alkohol übt nicht eine „unwiderstehliche Anziehungskraft“ auf ihn aus, die, wie Jünger behauptet, „auf seiner mystischen Kraft“ beruhe.433 Vielmehr wird sein Konsum als Auslöser blinder Gewalt verurteilt. Der Krieg findet in Storcks Augen nicht nur auf den Schlachtfeldern statt, sondern ist ins Innere der Truppen eingezogen, als Übergriff soldatischer Gewalt auf den Alltag der Soldaten selbst. Eine Mischung aus trunkener Gemeinschaftsrhetorik und latenter Tötungslust grundiert die Szene, ohne dass der Beobachter Storck wie Jünger die Möglichkeit hätte, sich der Kompagnie zu entziehen. Ich habe augenblicklich eine etwas schwarzseherische Anwandlung, wahrscheinlich ausgelöst durch das Benehmen der „Kameraden“. Es wird mir komisch, wenn ich sehe wie fast sämtliche Stühle, und was sonst noch kaputtzumachen ist, mit voller Wucht auf dem Boden zerklopt werden und die Splitter durch die Gegend fliegen. Das meiste wird aufs Dach geschmissen. Es ist ein Höllenlärm, mit Stahlhelmen wird Fußball gespielt, Flaschen fliegen durch die Fenster, zerschellen an Mauern, alles ist mit Scherben, Dreck, zerfetzten Verdunkelungen und Kotze bedeckt. Man schmeißt sich mit scharfen Patronen oder polkt sie auseinander und steckt sie an, überall riecht es nach Pulverrauch! Die Kantine ist so besoffen, dass sie den Rest ihres Bestandes verschenkt hat. Die Feldwebel wanken durch die Gegend, die Uffz. fahren in Badehosen auf dem Rad durchs Dorf. Zu 8 Mann sind beispielsweise 100 (einhundert) Flaschen gesoffen worden. Macht Euch ein Bild. Es ist furchtbar, was sich hier abspielt. Und diesem Volk gehöre ich an. Bravo!434
Während Stühle bei Jünger unheimlich die Abwesenheit der Bevölkerung ins Bild gesetzt hatten, werden sie hier zum Objekt einer Zerstörungslust, die sich gegen alles wendet, dem irgendwie Gebrauchswert zukommt. Die Idee von „Kameradschaft“ erweist sich für Storck aufgrund dieser Gewalt als rein fiktive. Auch die Führungsschicht und damit die gesamte militärische Hierarchie sind der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Superlativ des „Flaschenregens“, den Jünger mit ausgesprochenem Wohl-
431 Ebd. 432 Ebd. 433 Ernst Jünger: Pariser Tagebuch, Stuttgart 1979, S. 380 (Eintrag vom 17. September 1942); künftig zitiert als: Jünger: Pariser Tagebuch. 434 Storck: „Brief an Eltern“ vom 27.7.1943.
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wollen konstatiert und als Zeichen gemeingermanischen Verhaltens interpretiert hatte, wird hier zum Grund, sich endgültig von der ‚Volksgemeinschaft‘ zu verabschieden. Während Jünger diejenigen des „Irrtums“ zeiht, „welche die Trunksucht als eine Art Gefräßigkeit bekämpfen wollen, die sich auf Flüssiges bezieht“435, berichtet Storck von seinen Schwierigkeiten, zu Trinkgelagen etwas zum Essen mitnehmen zu dürfen oder das Trinken überhaupt zu verweigern. Abweichendes Verhalten ist nicht vorgesehen. Der Alkohol wird zum Zwang einer Zwangsgemeinschaft, und nicht etwa zu etwas, das „erhöhte Wirklichkeit“ zu schenken vermöchte.436 Am 1.12.1943 schreibt Storck an seine Eltern: Die Tischtücher klebten am Holz der Tische klatschnass und voll Wein gesogen. Ich war einer der wenigen, die nicht kotzten. Nachts pinkelten sie sich zum Teil auf die Köpfe. Das machte aber nicht viel, denn die Haare waren sowieso von Kotze verklebt, da jeder in seinem eigenen Erbrochenen schlief. Heute war dienstfrei! Das heißt, weggehen durfte man auch nicht, aber es war kein Dienst. Ich bin erstaunt, denn wo soll diese Laschheit hinführen, so können wir den Krieg nicht gewinnen. – 437
Die Zuflucht, die Storck zur Ironie sucht, ist in Jüngers Text an keiner Stelle zu finden. Als Offizier geht letzterer, trotz aller ausgefeilten Rhetorik, mit der er der soldatischen Zusammengehörigkeit das Wort spricht, an den Realitäten der unteren Chargen vorbei. Der Ernst großer Worte und Konzepte wird zur Barriere. Die sozialen Privilegien schaffen ein Wahrnehmungsproblem. Jünger selbst mag einem „milde[n] Vougeot“ den Hals brechen dürfen, doch die einfachen Soldaten aus Storcks Umkreis trinken den Alkohol offenbar nur um seiner Rauschwirkung willen. Prämien für „Milde“ und Devisen voller Lebensweisheit – „J’aime à vieillir“ – also auf der einen Seite, Nächte in Kotze und Urin auf der anderen. Vergessen werden darf abschließend nicht, warum dieses Kapitel überhaupt mit dem Wort „Unverhältnismäßigkeit“ überschrieben ist. Jüngers Durst schuf (wenn auch, so will ich zugestehen, ungewollt oder zumindest unreflektiert) den Hintergrund für den Durst, der in Deportationszügen, Konzentrations- und Vernichtungslagern herrschte. Storcks Verweigerung, mitzutrinken, erscheint in dieser Hinsicht als die einzig angemessene Reaktion auf den Durst, der zeitgleich als Tortur eingesetzt wurde. „Auf dem Bahnhof in Szczebrzeszyn gab eine junge Frau einen Goldring fort, um ein Glas Wasser für ihr sterbendes Kind zu bekommen.“438 Wenn man diese einen Satz wirklich liest – will heißen: liest und immer wieder liest –, dann entsteht ein neues Maß für Texte, in denen (wie bei Eich oder Jünger) der Durst zum Thema wird: Unmäßigkeit und Maßlosigkeit, die die Erfahrung der Deportierten prägten (das Wort „Durst“ entsprach nicht einmal mehr ansatzweise der 435 Jünger: Pariser Tagebuch, S. 380 (Eintrag vom 17. September 1942). 436 Ebd. 437 Stock: „Brief an Eltern“ vom 1.12.1943, zu finden auf URL: http://www.museumsstiftung. de/briefsammlung/feldpost-zweiter-weltkrieg/brief.html?action=detail&what=letter&id= 1049&le_fulltext=Die%20Tischt%C3%BCcher%20klebten%20am%20Holz%20der%20 Tische%20klatschnass%20und%20voll%20Wein%20gesogen.%20Ich%20war%20einer %20der%20wenigen,%20die%20nicht%20kotzten; abgerufen am 19.1.2016. 438 Friedländer: Vernichtung, S. 386, mit Bezug auf: Klukowski: Diary.
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ursprünglichen, alltäglichen Bedeutung, sondern „verdoppelte“ sich, wie Delbo sagt), fordern uns, rückblickend, die Unverhältnismäßigkeit eines neuen Lesens ab. Bei Eich gibt es keine Apologie der Trunkenheit – es fehlt nur schlicht das Maß, um den Durst der Deportierten zu verstehen. Bei Jünger ist das anders. Die von „Frontsoldaten“ geschriebenen Texte können von den Zeugnissen über die Deportation nicht einmal mehr ansatzweise geschieden werden. Die ethische Dimension ist die ästhetische. Jüngers „Reise“-Aufzeichnungen aus dem „Westfeldzug“ – seien es nun solche der „heiteren“ oder aber der „heroisch-kriegerischen“ Sorte – zeigen sich auf eklatante Weise unfähig, dem neuen Maß standzuhalten. „Unverhältnismäßiges“ Lesen ist ein Lesen der neuen Bezüge, der Herstellung von Verbindungen, die real existierten und daher heute für die literaturwissenschaftliche Arbeit an den Texten zentral bleiben müssen. Keine Deportation ohne die vorherige, siegestrunkene (und überhaupt trunkene) Eroberung, die die Wehrmacht ins Werk setzte. Kein Verdursten jüdischer Säuglinge ohne die rhetorische Zelebrierung des „milde[n] Vougeot[s]“, dem die deutschen Offiziere im Umkreis Jüngers zusprachen. Jünger zu Eich in Beziehung zu setzen, hieß, eine Facette der Geschichte des Durstes im Zweiten Weltkrieg zu skizzieren, die das ganze Ausmaß des „Vorbeischreibens“ an anderen Realitäten erahnen lässt. „Auf dem Bahnhof in Szczebrzeszyn gab eine junge Frau einen Goldring fort, um ein Glas Wasser für ihr sterbendes Kind zu bekommen.“439
439 Friedländer: Vernichtung, S. 386; gleichfalls mit Bezug auf: Klukowski: Diary.
III. Der zweite Traum: Mit der Eisenbahn in den Ritualmord
DAS BLUT DES RITUALMORDS An jedem dritten des Monats Trifft kein Brief ein, als Antwort auf ein Datum, da könnte geschlachtet werden, oder ein Kind gezeugt werden, das auch geschlachtet wird, die Kinder merken es nicht.1
Nachdem der erste Traum aus Eichs Hörspiel uns tief in die Wirklichkeiten des „konzentrationären Universums“ hineingeführt hat, möchte ich mich jetzt dem zweiten Traum widmen, der in vieler Hinsicht eine Fortsetzung des ersten darstellt. Wie gleich zu zeigen sein wird, fahren auch hier beängstigende, da Tod bringende Züge durch den Schlaf der literarischen Figuren. Auch hier entsteht eine Uneindeutigkeit zwischen den Kategorien von ‚Opfern‘ und ‚Tätern‘, die die Leserschaft vor die schwierige Aufgabe stellt, sich zu Eichs Hörspiel und gleichzeitig zur historischen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs ins Verhältnis zu setzen. Wie schon bei der Analyse des ersten Traumes lade ich also in Bezug auf den zweiten erneut dazu ein, mir bei den verschlungenen Lektüren durch ganz andere, scheinbar weit ab vom Hörspiel liegende Texte zu folgen. Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass sich der eichsche Text anders und genauer erschließt, wenn man sich ihm über Umwege nähert – nämlich von anderen Texten her kommend, Kontraste herstellend, die stets unverhältnismäßig sind. Methodisch folge ich einer These Sigmund Freuds, die ich zu Anfang des zweiten Bandes dieses Buches noch weiter entwickeln werde. In der Traumdeutung wird der Gedanke entwickelt, Träume bedeuteten das, woran sie erinnerten.2 Genau dieser Maxime folge ich, indem ich nun auch für den zweiten Traum zu zeigen versuche, woran er mich erinnert, was er für mich (und vielleicht auch für andere?) bedeutet. Doch beginnen wir zunächst mit einem inhaltlichen Überblick zum zweiten Traum. Züge sind hier, wie schon gesagt, erneut von großer Bedeutung. Dieser Traum wird in China (d.h. also, betrachtet aus der Logik des Kalten Krieges, im gegnerischen, da sozialistischen Block) verortet. Er erzählt von einem Elternpaar, das auf eine An1 2
Bachmann: Welt, S. 51. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt/M. 2000, S. 119; künftig zitiert als: Sigmund Freud: Traumdeutung.
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zeige hin ihren sechsjährigen Sohn ins Haus fremder Leute bringt, um ihn dort zu verkaufen. Das, was mit dem Kind geschehen wird, ist ihnen vollkommen bewusst: Es soll (wie seine älteren Geschwister vor ihm) geschlachtet werden, um den kranken Herrn (dessen Name, Pi-gu, „uralte Haut“ bedeutet3) mit frischem Blut zu versorgen. Als die Eltern bezahlt worden sind und das Kind sich mit den Käufern allein findet, übersteigt seine Angst jedes Maß. Der Käufer verfällt daher auf die Idee, ihn mit der Aussicht auf ein Spielzeug zu beruhigen: HERR […] Du, in der Küche haben wir eine Eisenbahn zum Spielen, eine elektrische. KIND Ja? HERR Spielst du gern Eisenbahn? KIND Ja, furchtbar gern. HERR Dann gehst du nachher zu Li-bai in die Küche und spielst da. KIND Oh, ja. Die Schritte der Dame nähern sich. DAME Es ist alles fertig. HERR Gott sei Dank. Ich bin schon sehr schwach. Der kleine Tschang-du will mit der Eisenbahn spielen. DAME Mit der Eisenbahn? HERR Ja, in der Küche. Beide brechen in Gelächter aus. KIND beginnt ebenfalls zu lachen. DAME Geh jetzt dort hinein. Dort ist die Küche. KIND Ja, Tante. Er geht. KIND entfernt: Da ist gar keine Eisenbahn.4
Durch Eichs Träume fahren die Züge. Doch was bedeuten sie im ersten Traum, was im zweiten? Worin liegen die Unterschiede, worin die Übereinstimmungen? – Um den Kontext, in dem der Hinweis auf die Spielzeugeisenbahn auftritt, zu verstehen, muss zunächst das Motiv des „jüdischen Ritualmordes“ auf seinen historischen Gehalt hin untersucht werden. Zu den antijüdischen Stereotypen, die in Ansätzen bereits in der ausgehenden Antike, verstärkt dann im (Hoch)mittelalter nachweisbar sind, gehört die Vorstellung, die Juden schlachteten in ihren Riten christliche Kinder, um ihr Blut zu trinken oder (in gekochter oder gebackener Form) zu essen. In Eichs Traum mutieren die christlichen Kinder bzw. die Juden zu chinesischen Opfern bzw. Tätern, doch der Bezug zur deutschen Geschichte ist ähnlich deutlich, wie in dem Traum, von dem Diner im Kontext einer psychoanalytischen Behandlung berichtet: Hier habe der Therapeut seinem Patienten die Trauminhalte, die sich auf die Shoah und die auf sie bezogene Bestrafungserwartung bezogen, „weginterpretiert“. So wie bei Eich die Eisenbahn und die Idee des Ritualmordes das ferne Geschehen in China in die deutsche Gegenwart zurück wenden, so führten Lager, Rampe und Gold den Träumenden, von dem Diner berichtet, in eine Vergangenheit zurück, die noch keineswegs vergangen 3 4
Vgl. Schmitt-Lederhaus: Träume, S. 126. Eich: Träume, S. 362-363.
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war, sondern nur durch die Autorität des Analytikers für vergangen erklärt werden sollte.5 In Bezug auf die Ritualmordlegenden gehen die Parallelen zwischen Hörspiel und ,Drittem Reich‘ weit, und es scheint wichtig, sie gegenüber dem Aspekt der Verfremdung hervorzuheben, um zu zeigen, von welchen Phantasmen Eich bei der Textgenese ausgeht. Es ist zu bedenken, dass die Nationalsozialisten die Anschuldigung, die Juden töteten christliche Kinder zu rituellen Zwecken, bewusst für Propaganda-Kampagnen nutzten. Dieser antisemitische Topos war Teil der „offiziell[en], staatlich geschützte[n] Zwangsdoktrin[]“ des totalen Staates.6 Heinrich Himmler zum Beispiel ordnete Untersuchungen über Ritualmorde unter Juden an, die noch nicht „evakuiert“ waren, um einige öffentliche Prozesse zu veranstalten; besonders intensiv sollten Nachforschungen in Rumänien, Ungarn und Bulgarien sein, damit die Nazipresse die Möglichkeit hätte, die Ergebnisse zu publizieren und dadurch die Bemühungen um die Deportation der Juden aus diesen Ländern zu fördern. Schließlich schlug der SS-Chef vor, in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt ein spezielles Radioprogramm einzurichten, das sich an Großbritannien und die Vereinigen Staaten wenden und sich ausschließlich auf antisemitisches Material konzentrieren sollte, so wie es Streichers Stürmer „in der Kampfzeit“ getan hatte. Die englische Presse und englische Polizeiberichte sollten nach Berichten über vermisste Kinder durchforstet werden; Himmlers Programm würde dann die Nachricht senden, das Kind sei wahrscheinlich einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen. „Insgesamt glaube ich“, behauptete der Reichsführer, „könnten wir mit einer großen antisemitischen Propaganda in englischer, vielleicht auch sogar russischer Sprache auf einer sehr starken Ritualmord-Propaganda den Antisemitismus in der Welt ungeheuer aktivieren.“7
Adorno und Horkheimer betonen in Erwiderung auf diese von Himmler ganz unverhüllt ausgesprochene Absicht, antisemitische Gewalt herbeizuführen, dass die Ritualmordlegende bewusst zur Steigerung einer bereits bestehenden Bereitschaft, zum Mord überzugehen, eingesetzt wurde: „Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde.“8 In Bezug auf das Hörspiel ist zu beobachten, dass das Kind, das geopfert werden soll, ein Junge ist. Historisch betrachtet, entspricht dies den ‚Gepflogenheiten‘, die aus den Akten, die reale Ritualmordprozesse dokumentieren, geschlossen werden können. Im Regelfall nahmen die Anklagen gegen angebliche (meist jüdische) Täter von dem Tod männlicher Christenkinder ihren Ausgang. Es handelte sich oft um Kinder, die unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen waren. In diesem Kontext entstand 5
6 7 8
Vgl. zum Beispiel die rassistische Karikatur, die man in der folgenden Sondernummer des Stürmers findet, hg. von Julius Streicher, Jahrgang 12, Nürnberg Mai 1934, S. 1. Vgl: http://www.ns-archiv.de/verfolgung/antisemitismus/stuermer/ritualmord.php; abgerufen am 21.03.2016; oder: http://www.hagalil.com/archiv/2006/07/berlin.htm; abgerufen am 21.03.2016. Arendt: Elemente, S. 353. Friedländer: Vernichtung, S. 571. Friedländer nimmt Bezug auf: Berenstein: Faschismus, S. 357-358. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 180.
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die Vorstellung, dass sich ihr Tod durch Gewalttaten der jüdischen Minderheit erklären ließe. Diese brauche das Blut der Kinder, um beim Passahfest Matzen zu backen. Daneben trat die Idee, das Blut werde von den Juden auch für magische oder medizinische Zwecke verwendet. Bei Eich ist es das Motiv des Medizinischen, das aufgegriffen wird: Der „Herr“ ist leidend, hat eine Anzeige aufgegeben, um durch den Kauf eines gesunden Kindes seine Behandlung fortsetzen zu können. DAME Es kommt vor allem auf das Blut an. FRAU Freilich, das wissen wir. Es war in der Annonce gesagt. DAME Das ist die neue Therapie, verstehen Sie. FRAU Eine große Tat der Medizin, ein Segen für die Menschheit.9
Die Behandlung steht, so geht aus diesem Zitat hervor, nicht unter der Aufsicht eines Arztes, sondern wird von den beiden Eheleuten selbst organisiert: eine Art Selbsttherapie, die von der Mutter selbst zynisch als „Segen der Menschheit“ apostrophiert wird. Auch Kolporteure der Ritualmordlegende waren oft der Überzeugung, dass jüdische Ärzte, die für das Blut der Christen würben, wirklich Einfluss auf die Krankenbehandlung jüdischer Familien hätten. Sie betonten außerdem, die Morde fänden im Geheimen, nämlich in den abgeschlossenen Räumen jüdischer Privathäuser, statt. Es ist offenbar kein Zufall, dass sich auch im Hörspiel die Tötung des Kindes unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielt. Doch im Unterschied zur ,Wirklichkeit‘ (verstanden als Konstrukt eines Antijudaismus, der die Wahrnehmung der jüdischen Minderheit und damit auch ihr Leben direkt beeinflusste) kennzeichnet das Ehepaar im Hörspiel Unbefangenheit: Dass es eine Anzeige aufgesetzt hat, bedeutet, dass es das Bekanntwerden des Kindskaufs nicht fürchtet. Die jüdischen Angeklagten aber versuchten in der Wirklichkeit, nachzuweisen, dass die Anklagen vollkommen haltlos seien. Auf der anderen Seite ist der Unterschied gegenüber dem, was aus wirklichen Prozessakten bekannt ist, dann doch wieder nur ein gradueller. Auch in der Wirklichkeit wurden Juden mitunter angeklagt, sie hätten Christenkinder zum Zwecke ihrer Opferung gekauft. Insofern changierten auch hier die Phantasmen auf eigenartige Weise zwischen der Idee des Verborgenen der jüdischen Minderheit (mit ihren der christlichen Mehrheit oft unvertrauten Traditionen) auf der einen Seite und der Vorstellung einer gewissen öffentlichen Beibehaltung ihres Habitus auf der anderen Seite. Dieser Habitus gründe, so die stereotype Zuschreibung, auf Geld und der Idee von Käuflichkeit. Ein deutlicher Unterschied zwischen der Wirklichkeit dessen, was Juden in Europa erlebten, und dem, was das Hörspiel inszeniert, besteht allerdings in dem Umstand, dass Eich die Eltern des Kindes als Menschen schildert, die bewusst auf den Verkauf hinarbeiteten. Sie verlieren ihr Kind nicht etwa durch Gewalt von Seiten der „Dame“10 und des „Herrn“. Vielmehr stellt der Verkauf von Kindern (im Plural) ihren Broterwerb dar. „Meine Frau hat jedes Jahr ein Kind, manchmal Zwillinge. Sie sind alle für die neue Therapie verwendet worden.“11 9 10 11
Eich: Träume, S. 360-361. Ihr Name bedeutet übrigens „friedliche Klingel“. Vgl. Schmitt-Lederhaus: Träume, S. 124. Eich: Träume, S. 361.
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Zwillinge gelten in vielen Kulturen als Symbol von Fruchtbarkeit. Im Kontext der Gegenwart jenes in den 1950er Jahren von vielen Deutschen „euphemistisch als ‚Vergangenheit‘ apostrophierten Geschehens“12 stellen sich jedoch noch andere Assoziationen ein: Gerade in Auschwitz wurde bei der Ankunft der Züge an der Rampe systematisch nach eineiigen Zwillingen gefahndet. Wie allgemein bekannt, zielte die Aufforderung, sich zu melden, darauf, medizinische Versuche an Menschen durchzuführen, deren Erbanlagen identisch waren. Das bot die Möglichkeit, Experimente zu variieren und die jeweiligen Reaktionen im Körper der Opfer miteinander zu vergleichen. Wenn Eich hier von Kindsmorden schreibt und zugleich – wenn auch wie beiläufig – Zwillinge erwähnt, dann entsteht ein Pool von Bildern und Anspielungen, der das Geschehen für heutige LeserInnen deutlich vom chinesischen Schauplatz in die Katastrophe der jüdischen Bevölkerung Europas zurück projiziert. Das wird auch dadurch deutlich, dass das Schicksal des sechsjährigen Tschang-du kein Einzelfall ist. „Meine Frau hat jedes Jahr ein Kind, manchmal Zwillinge“13, hatte es im Text geheißen. Die ‚Gebärfreudigkeit‘, die der nationalsozialistischen Ideologie zufolge den ‚arischen‘ Frauen abzuverlangen sei, wird hier also, wenn auch auf verzerrte Weise, gespiegelt. Verzerrung liegt aus einem bestimmten Grunde vor: Die Figur der Frau im Hörspiel ist keine Arierin. Im Gegenteil: Eich betont durch die Erfindung exotischer Namen, dass die Chinesin Inbegriff des Fremdartigen ist. In den gleichen Kontext gehört ein weiterer Aspekt: Die Nationalsozialisten setzten ein Propagandamotiv fort, das schon im 19. Jahrhundert von Seiten europäischer Kolonialmächte immer wieder beschworen worden war: die Bedrohung durch asiatische Länder im Allgemeinen und durch China im Besonderen – die ,gelbe Gefahr‘. Diese ,Gefahr‘ hatte nicht allein mit der Vorstellung zu tun, den Chinesen könnte es (u.U. im Verein mit Japan) in ökonomischer und militärischer Hinsicht gelingen, zu einer Weltmacht zu werden, sondern auch mit der Demographie des Landes. Als ein schon zu damaliger Zeit besonders bevölkerungsreiches Land schien es in der Lage (so wurde um 1900 befürchtet), die Vorherrschaft Europas zu brechen. „At the time of the Boxer Rebellion (1898-1901), the term ‚yellow peril‘ was in widespread use. Kaiser Wilhelm II used the term as part of his sinophobic rhetoric during the so-called ‚Hunnenrede‘ speeches to his troops.“14 („In der Zeit des Boxer-Aufstands (1898-1901) wurde der Ausdruck ‚gelbe Gefahr’ mit großer Häufigkeit gebraucht. Kaiser Wilhelm II. benutzte ihn als Teil seiner chinesenfeindlichen Rhetorik in den so genannten ‚Hunnenreden‘, mit der er sich an seine Truppen wandte.“ [Übersetzung A.P.]) Unter den Nationalsozialisten wurde der Begriff der ‚gelben Gefahr‘ dann auch auf die ‚asiatische Weite‘ der Sowjetunion ausgedehnt. Insofern gehören die regelmäßigen Zwillingsgeburten, auf die die Figur des Mannes im Hörspiel hinweist, auch in den Kontext von ‚Überfremdungs‘-Ängsten und Phantasmen, die besagten, das ‚Dritte Reich‘ könne, da nicht geburtenstark genug, von kinderreichen, ,bolschewistischen‘ Feinden ‚überrollt‘ werden. Der Bezug auf die Juden ist also nicht eindeutig. Er mischt sich im Hörspiel mit Motivkomplexen bezüglich anderer ‚Feinde‘, die nach Überzeugung des 12 13 14
Diner: Symbiose, S. 185. Eich: Träume, S. 361; Hervorhebung A.P. Vgl. zur „Gelben Gefahr“: Doran: Yellow, Kapitel 5, Abschnitt „Staging the ‚yellow peril‘: Richard Wagner and Wilhelm II“.
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nationalsozialistischen Regimes Deutschland bedrohten. Die Übergänge zwischen der Legende vom ,jüdischen Ritualmord‘, der Legende von der ,gelben Gefahr‘ und der Idee einer Bedrohung durch den (gleichfalls kinderreichen) ‚jüdischen Bolschewismus‘ stellen ein Amalgam dar, das in der Presse des ‚Dritten Reiches‘ allenthalben zu finden war.15 (Die antisemitische Stoßrichtung, die der Rekurs auf die Farbe Gelb haben konnte, führt uns dann auch wieder zum Gelb des eichschen Löwenzahns zurück.) Insofern könnte sich in einem ersten Schritt die These aufstellen lassen, Eich (der Sinologie studiert hatte) verarbeite in seinem „Zweiten Traum“ eine Propaganda, die in der Tat zum Kernbestand des nationalsozialistischen Gedankenguts gehörte. Diese These wird zunächst gestärkt durch einen weiteren, im höchsten Grade aufgeladenen Begriff, den das chinesische Ehepaar bei dem Versuch verwendet, für die „Güte“ ihres Kindes zu werben: FRAU Sechs Jahre ist das beste Alter. MANN Wir liefern nur gesunde Kinder von erstklassiger Zucht. Hier, – ich habe Referenzen.16
Die Idee von „Zucht“ wirkt wie ein Hinweis auf eugenische Konzeptionen, die angebotenen „Referenzen“ wie eine Anspielung auf den ‚Ariernachweis‘. Verfremdet werden diese Anspielungen jedoch dadurch, dass sie von Figuren erwähnt werden, die auf der Opferseite stehen: Die Eltern werden ihr Kind verlieren und das Kind sein Leben. Dadurch aber, dass die beiden Eltern (als „Menschenviehhalter“17) „Erstklassigkeit“, „Referenz“ und darüber hinaus eine einwandfreie „Gesundheit“ zu ihrem eigenen Anliegen machen, sind sie nicht wirklich der Opferseite zuzuordnen. Vielmehr werden die Eltern, weil sie hartnäckig um den Preis ihres Kindes feilschen (auch dies ein antijüdisches bzw. antisemitisches Klischee), zu Tätern. Ihre angebliche emotionale Bindung an das Kind wird allein genutzt, um zu verhindern, dass die Käufer den Preis herunterhandeln: DAME Wir müssen über den Preis sprechen. MANN Dreitausend. DAME Entschuldigen Sie, aber Sie sind verrückt.
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16 17
„In Europa waren von der Mitte des 19. Jahrhunderts an Negativbilder von Juden im Umlauf, die aus antijudaistischer Tradition heraus in eine ökonomische Form hinein säkularisiert worden waren. An die Stelle der Hostienschändung, des Ritualmordes, der Brunnenvergiftung und anderer antijüdischer Motive traten nunmehr solche des Tausches, des Geldes, der Börse und all das ins Zentrum antisemitischer Phantasie, was sich seiner Wirkung nach dem traditionellen Verständnis der Zeitgenossen im Schwellenbereich zur Moderne beständig vollzog.“ Diner: Zeitenschwelle, S. 109. Eich: Träume, S. 361. Erwin Frank: „‚Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist…‘ Kritische Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei“, in: Authentizität und Betrug in der Ethnologie, hg. von Hans Peter Duerr, Frankfurt/M. 1987, S. 199-224, Zitat S. 209; künftig zitiert als: Frank: „Menschenfresserei“.
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MANN Soviel [sic!] bekommt man sonst für Vier- und Fünfjährige. Wir haben die Ausgaben für ihn ein ganzes Jahr länger gehabt. DAME Zweifünf. Wir können keine Überpreise zahlen. MANN Nicht unter dreitausend. Wir haben feste Preise. Außerdem müssen Sie die ideellen Werte mit berechnen. DAME Machen Sie sich nicht lächerlich.18
Die „ideellen Werte“ stehen in diametralem Gegensatz zu dem, was, antisemitischen Konzeptionen zufolge, für Juden kennzeichnend sei: Sie seien kalte Verstandesmenschen, spitzfindige und intelligente Verteidiger ihrer Interessen – doch unfähig zu ‚gefühlsmäßiger Tiefe‘. Der Umstand, dass das Ehepaar auf den Satz der „Dame“ „Machen Sie sich nicht lächerlich“ nicht reagiert, scheint zu zeigen, dass sie sich durchschaut fühlen. In der Tat besteht zu dem Sohn keine emotionale Bindung. Doch an diesem Punkt beginnen nun die eigentlich schwierigen Fragen.
„BLUTABWÄRTS“19 Meine Wirtsleute sagten oft zu mir: Das Bejlis! 20
Die Eisenbahn, auf die, wie erwähnt, zur Beruhigung des Kindes verwiesen wird, spielt auf den ersten Traum (nämlich den Deportationstraum) an. Indem die beiden (durch die Bezeichnung „Dame“ und „Herr“ als sozial hochstehend ausgewiesenen) ‚Blutsauger‘ die Eisenbahn als List einsetzen, treten sie in Parallele zu den Täuschungsmanövern, von denen nach der Befreiung der nationalsozialistischen Vernichtungslager die Überlebenden berichteten: dass die Opfer durch den Hinweis auf Duschen und Desinfektion von der Tatsache ihrer unmittelbar bevorstehenden Tötung abgelenkt werden sollten. Auch im Hörspiel ist der Tod des Kindes trotz aller Kaschierungsversuche beschlossene Sache: DAME Wenn du das Blut getrunken hast, brät dir Li-bai das Herz und die Leber. HERR Verdammt lange dauert das. Tschang-dus Schreien in der Küche, das während des Folgenden verstummt HERR zornig: Da! Hörst du! Sie [die Haushälterin; A.P.] hat ihn nicht richtig betäubt. Und ich muss mir das anhören. DAME Nun beruhige dich. Er ist schon still.21
18 19 20
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Eich: Träume, S. 361. Celan: Mohn, S. 31. Interview mit Gizela Szulberg (geboren 1934), in: Tych u.a.: Kinder, S. 242-244, Zitat S. 244. Zu dem genannten Namen ist anzumerken: Im Herbst 1913 fand in Kiew ein Prozess gegen Mendel Bejlis statt, ein Prozess, der sodann zu den bekanntesten Verhandlungen über Ritualmorde führte. Das jüdische Kind, das oben von sich und seinem Leben im Versteck erzählt, wurde also von seinen Rettern selbst durch antisemitische Zuschreibungen diskriminiert. Eich: Träume, S. 363.
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So wie hier der Tötungsort als Küche angekündigt wird, wurde in der Realität der Tötungsort als Duschraum getarnt. Auch der Versuch, das Sterben selbst darstellbar zu machen, scheint (bewusst? unbewusst?) Informationen zu verarbeiten, die zur Zeit der Abfassung des Hörspiels über die Vernichtungslager vorlagen.22 Das Medium des Hörspiels gewinnt eine unheimliche Dimension: Sich auf das Akustische gründend, tritt es in eine verstörend genaue (und dann doch auch wieder verfremdet-verfremdende) Parallele zu den realen Tötungen, die von den Tätern vorwiegend akustisch wahrgenommen wurden. Die Unheimlichkeit der literarischen Verarbeitung wird verstärkt durch den Umstand, dass die Schreie des sterbenden Kindes – dessen Name nicht zufällig „langer Ton“ bedeutet23 – im Hörspiel von dem einen, im Übrigen vollkommen skrupellosen ‚Schächter‘ als Zumutung wahrgenommen werden. Doch ist der „Herr“ von Eich wirklich bewusst als ‚Schächter‘ in Szene gesetzt, bei dem sich Mitleidlosigkeit und Empfindlichkeit gegen die ‚unschönen‘ Seiten seiner Tat mischen? Die Schwierigkeit, den zweiten Traum zu interpretieren, besteht darin, dass nicht nur unterschiedliche, sondern gar einander diametral entgegengesetzte Zugänge denkbar sind. Auch wenn die Widersprüchlichkeit untrennbar zum Wesen literarischer Texte gehört, so berührt sie hier auf verstörende Weise das Problem des Verhältnisses zwischen Literatur und ,Wirklichkeit‘. Es stellt sich die Frage, in welchem Maße Eich die Parallelen zur Ritualmordlegende bewusst herausgearbeitet hat, d.h. sich auf ,Wirklichkeit‘ beziehen wollte, die durch Zeitgenossenschaft auch die Seine gewesen war. Wenn die Anspielungen das Ergebnis bewusster Entscheidungen sind, kann der zweite Traum als provozierender Versuch gewertet werden, die zeitgenössische Hörerschaft mit dem Mord des nationalsozialistischen Regimes an jüdischen Kindern zu konfrontieren. (Heute weiß man, dass ihre Zahl sich auf etwa 1,5 Millionen belief.) Stimmt diese Annahme einer bewussten Gestaltung, dann steht die Frage zur Debatte, wie eine Gesellschaft, die zunächst die Ausgrenzung und, in einem zweiten Schritt, die Konzentration und das Verschwinden der jüdischen Bevölkerung aus ihrer Mitte akzeptierte, im Zuge der Machtstabilisierung der Nationalsozialisten zugleich die Legende vom Ritualmord neu beleben, d.h. sich selbst als Opfer der „Gegenrasse“, dieses „negative[n] Prinzip[s] als solche[m]“24, sehen konnte. Dies wäre, in Kurzfassung, die erste Interpretationsmöglichkeit: Die Verarbeitung der Ritualmordlegende würde zu einer Auseinandersetzung mit gerade erst vergangenen Verbrechen anregen wollen. Wenn hingegen Motive, die aus dem Bereich der Ritualmordlegende stammen, dem Autor gleichsam ‚unter der Hand‘ in den Text geflossen wären, dann würde sich eher die These verstärken, die nach Durchsicht des ersten Traumes aufgestellt worden 22
23 24
In der Erstsendung ist das Ende geändert, nämlich abgeschwächt worden: Der Schrei des Kindes wurde nicht übernommen. Und auch das, was die „Dame“ sagt, unterscheidet sich von der gedruckten Fassung. Sie sagt: „Nichts höre ich, sie hat ihn bestimmt richtig betäubt.“ Darauf antwortet ihr Mann: „Glaubst du?“ Und sie wiederum: „Nun beruhige dich. Er ist schon still. (Die Tür wird geöffnet. Schritte nähern sich.) Siehst du, da ist die Schüssel mit dem Blut, es dampft noch. Das wird dir gut tun.“ Der letzte Satz, wiederum von der „Dame“ gesprochen, lautet dann: „Nun beruhige dich doch. Es ist still, und es wird auch alles still bleiben“. Diese Information stammt aus: Schmitt-Lederhaus: Träume, S. 122. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 177.
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war: dass nämlich Eichs Schreiben von einer unbewussten „Bestrafungserwartung“ begleitet wurde, die aus dem Gefühl der Schuld gegenüber den Opfern und den wenigen Überlebenden des Genozids resultierte. ‚Wirklichkeit‘ wäre in diesem Fall im Text immer noch präsent, doch ohne dass der Grad ihrer literarischen Vermittlung dem Autor voll bewusst würde. Die Hörer- bzw. Leserschaft hätte es mit einem Text zu tun, in dem nicht so sehr der Autor Akteur der Textgenese ist, als vielmehr ‚Es‘ – sozusagen aus ihm heraus – schreibt. Vielleicht erschließt sich der Text in seiner zeithistorischen Gebundenheit aber dann am besten, wenn man die beiden Gegensätze zusammen zu denken versucht, eher von einem Changieren zwischen beiden Möglichkeiten und nicht schlicht von einer klaren Grenzziehung zwischen ihnen ausgeht? Fest steht für den Nationalsozialismus: Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der verbotenen Magie des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüste der Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewusstsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion.25
Die nachträgliche „Bestrafungserwartung“ derer, die projizierend als „Vollstrecker“ aufgetreten waren, könne sich, so Diner, unter anderem in „einer ritualisierten Selbststilisierung zum Opfer“ niederschlagen.26 Wie die Mitscherlichs in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern dargelegt hätten, unterliege auch die Geschichte einer Art von „Wiederholungszwang“. Als Beispiel für diesen nennt Diner den Libanon-Krieg des Jahres 1982. Hier habe sich für ihn aufgrund der deutschen Reaktionen der Eindruck ergeben, das Bewusstsein der Deutschen hinsichtlich der Juden sei von einem „Mythos“ „verdunkel[t]“27: Tatsächlich drängte sich bei der Charakterisierung der israelischen Vorgehensweise als „Völkermord“, als Holocaust, der Eindruck auf, hier gehe es nicht um das Schreckliche des Krieges, um die Hilflosigkeit der Palästinenser, um das Elend libanesischer Opfer der israelischen Invasion, sondern als stecke hinter dem spontan Geäußerten eine Aufforderung an die Juden, die in jenen Begriffen gefasste Tat doch zu begehen, damit das Gefühl der Schuld durch Ausgleich weiche, die angstvolle Bestrafungserwartung endlich vergehe.28
Probehalber soll von dem Gedanken ausgegangen werden, dass Eichs zweitem Traum ähnliche psychologische Mechanismen wie die von Diner beschriebenen zugrunde liegen, wobei auch hier (wie schon im ersten Traum) die fehlende Erwähnung des Wortes ‚jüdisch‘ als ein Schweigen zu interpretieren wäre, das beredt zu werden beginnt. Alle agierenden Figuren des zweiten Traumes sind nicht als Juden ausgewiesen, sondern als Chinesen. Und doch gehen von ihnen Handlungen aus, die auf ‚typisch jüdische‘ ‚Verbrechen‘ verweisen. „Typisch“ meint, was die Stereotypen über 25 26 27 28
Ebd., S. 195. Diner: Symbiose, S. 189. Ebd., S. 190. Ebd.
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Jahrhunderte hinweg festgelegt hatten. Je stärker sich im Mittelalter durch die Lehre von der Transsubstantiation die christliche Blutmystik entwickelte29, desto größer wurde die Anschließbarkeit für die antijüdische Überzeugung vieler Christen, im Ritualmord wiederhole sich die Passion Christi. In diesen Kontext gehörte, dass bei Prozessen oft auf die Wundertätigkeit verwiesen wurde, die vermeintlich von dem getöteten Christenkind ausgehe. Diese Wundertätigkeit zeuge von der Schuld der jeweiligen Juden, die sich standhaft der Heilskraft der christlichen Sakramente – besonders der Eucharistie – verweigerten. Die Wiederholung der Kreuzigung Christi an Söhnen christlicher Familien, die gleichsam als Stellvertreter des „Gottessohnes“ fungierten, sei der Beweis dafür, dass es auch mit dem Passah-Brot der Juden eine besondere und bedrohliche Bewandtnis haben müsse. The maẓẓot […] were, to secure purity and absolute absence of leaven, prepared with peculiar ceremonies incomprehensible to Christians, and were, therefore, invested with an element of mystery – a circumstance enhanced by the great and somewhat superstitious value then (and even today) placed by many Jewish people upon the Passover bread. It was natural to compare it to the wafers used at the Christian communion, when, by eating the wafer, the pious Christian believed that he partook of the body and blood of Christ; the blood purifying from all sin, and working miracles. „Without blood, no atonement“ was both Old Testament and Christian doctrine.30 Das Passah-Brot wurde […] mit besonderen Zeremonien zubereitet, die Christen unverständlich erscheinen mussten. Die Zeremonien sollten sicherstellen, dass das Brot rein und gänzlich frei von Sauerteig war. Es wurde also mit einem Element des Geheimnisses umgeben – ein Umstand, der durch die große und ein wenig abergläubische Bedeutung erhöht wurde, die viele Juden damals (und auch heute noch) dem Passah-Brot beimessen. Es lag nahe, es mit der Hostie zu vergleichen, die von den Christen beim Abendmahl benutzt wurde. Der fromme Christ glaubte, dass er bei Verzehr der Hostie des Fleisches und Blutes Christi teilhaftig werde, wobei das Blut von allen Sünden reinwasche und Wunder zu wirken vermöge. „Ohne Blut keine Sühne“ besagten sowohl das Alte Testament als auch die christliche Lehre. [Übersetzung A.P.]
Zusammenfassend lautet also die Gleichung: Gottessohn und blutiger Kreuzestod durch Juden entsprechen den Christensöhnen und ihrer blutige Opferung, erneut durch Juden. Doch was geschieht, wenn Opfer wie Täter der gleichen Gruppe zugeordnet werden? Welche Konsequenzen hat es, wenn diejenigen, die regelmäßig eines Verbrechens angeklagt waren, dessen sie sich nicht schuldig gemacht hatten, jetzt plötzlich ,wirklich‘ (wenn auch „nur“ im Bereich der Literatur, und außerdem in einem Traum) schuldig sind – dadurch nämlich, dass sie ihre eigenen Kinder ‚verschachern‘? Was bedeutet es, wenn ein halbes Jahrzehnt nach der Befreiung der letzten Lager ein 29
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Vgl. zum 4. Lateranskonzil die Internetseite der Fordham University New York. Die Seite trägt den Titel „Medieval Sourcebook: Twelfth Ecumenical Council: Lateran IV 1215“ und ist zu finden auf: http://legacy.fordham.edu/halsall/basis/lateran4.asp; abgerufen am 19.1.2016. Vgl. den Artikel „Blood Accusation“ in: Jewish Encyclopedia, zu finden auf: http://www.jewishencyclopedia.com/articles/3408-blood-accusation; abgerufen am 10.6.2016.
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Hörspiel über den deutschen Äther geht, in dem ein vollkommen unschuldiges Kind als „erstklassiges“ „Zucht“-Ergebnis bezeichnet und medizinischen Zwecken geopfert wird? Welche Implikationen ergeben sich aus der Idee, den Eltern der kindlichen Opfer (und nicht etwa die Täter, die sich einst als ‚Herrenrasse‘ betrachtete) sei der Gedanke der „Züchtung“ wichtig? Was ist anzufangen mit diesen Umkehrungen, durch die der Umstand, dass die Opfer eben gerade nicht die Täter waren, zum Verschwinden gebracht wird? Ist das ganze Setting eine Ergänzung zu der Angst vor der Bombe im ersten Traum? Auschwitz wäre (vermittelt dadurch, dass sich der Text stellenweise der bewussten Gestaltung entzieht) „so etwas wie eine strahlende Masse, deren Halbwertzeiten man freilich nicht kennt“31? Fest steht, dass die Eltern des chinesischen Kindes Mittäter, wenn nicht gar Täter im vollen Sinne des Wortes sind. Auch die jüdischen „Blutsauger“, die in der Wirklichkeit angeklagt waren, waren (zumindest in den Augen ihrer christlichen Ankläger) Täter. Doch bezog sich ihre (vermeintliche) Tat nie auf ihre eigenen, sondern stets auf fremde, christliche Kinder. Das Hörspiel hingegen sagt, dass die Chinesen (die Juden sind?) ihre eigenen Kinder opfern. Die Schuldigen an ihrem Tod, so die Konsequenz, wären also keineswegs die Nicht-Juden (d.h. Nationalsozialisten). Vielmehr wären die Kinder als Opfer einer Gewalt anzusehen, die gewissermaßen eine Art von Gleichgewicht herstellt: Das Regime Hitler hat, zugegeben, vollkommen unschuldige, jüdische Kinder ermordet, doch im Juden-China des Hörspiels treten Erwachsene auf, die Rohheit und Unmenschlichkeit noch weiter treiben: indem sie nämlich ihre eigenen Kinder systematisch ermorden, und zwar schlicht um des finanziellen Profits willen. „Nun klingt auf den Fliesen der Welt der harte Taler der Träume“, könnte man mit Paul Celan sagen.32 Zur Debatte stünde damit nicht (oder nicht allein) die Möglichkeit einer Täterschaft derer, die im Zweiten Weltkrieg die Todeslager erlebt hatten, sondern im Gegenteil die Frage, ob die perverse Utopie von „Zucht“, „Gesundheit“ und „bestem Blut“ nicht in letzter Konsequenz zu einer Gewalt gegen die eigenen Kinder führen muss. Anders gesagt: Die Gewalt gegen andere wäre als unmittelbare Vorbereitung der Gewalt gegen „das eigene Blut“ zu verstehen. Im zweiten Traum hätten wir die Phase der Gewalt gegen die fremden Kinder schon hinter uns: Sie sind bereits in den Waggons des ersten Traumes in den Tod geschickt worden. Jetzt träten wir ein in eine Geschichte, die zeigt, dass das „Damals“ und das „Jetzt“ unmöglich voneinander getrennt werden können. Jüdische Kinder als Opfer der Vernichtungslager und chinesisch-unbestimmte Kinder als Opfer einer Schlachtungsmedizin entsprächen einander. Doch wie ist das zu verstehen? Wird die Absurdität und Furchtbarkeit des Schicksals, das den jüdischen Kindern in der Wirklichkeit widerfuhr, relativiert? Oder wird es im Gegenteil aktualisiert? Wird die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die im Eifer von Wiederaufbau, Währungsreform, Staatsgründung und sich anbahnender Wiederbewaffnung aus den Augen verliert, wie es zu dieser „controcreazione“33 („Gegenschöpfung“ [Übersetzung A.P.]), gekommen ist, mit Bildern konfrontiert, die sie nicht gern sehen möchte? Verfolgt das Hörspiel also doch aufklärerische Ziele im
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Diner: Symbiose, S. 196. Celan: Mohn, S. 14. Levi: Tregua, S. 147.
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Blick auf die ‚jüngste Vergangenheit‘? Hält sie das „Flämmchen der Aufklärung“34 aufrecht? Doch wie verhält es sich dann wiederum mit der Vagheit und Uneindeutigkeit, die bezüglich der Zuschreibung der Rollen von Tätern und Opfern auffällt? Ist diese Vagheit zu verstehen als Abwehr gegenüber einer gar zu plakativen moralischen Attitude? Oder steht die Vagheit, die mit der Vertauschbarkeit der Rollen einhergeht, im Gegenteil für Eichs Bedürfnis, der Hörerschaft eine ‚moralische Lehre‘ mit auf den Weg zu geben – doch ohne sich in Bezug auf die Erfahrung, aus der sie sich speist oder zu speisen hätte, festzulegen? Sind, mit anderen Worten, die Uneindeutigkeit und bereits erwähnte Prädikatlosigkeit Ausdruck der Entscheidung, es der westdeutschen Hörerschaft freizustellen, ob sie den Bezug zu den Juden überhaupt herstellen möchte? Fest steht, dass die Opfer die Wirklichkeit der Verbindung erlebt hatten. Als ein Überlebender unter vielen berichtet Josef Katz, geboren 1918 in Lübeck, er sei 1934 von seinen Klassenkameraden gefragt worden, „ob es wahr sei, dass wir zu Ostern immer Christenblut trinken.“ Die Mutter reagierte tröstend-beschwichtigend: Sie „nimmt mich in den Arm, streichelt mich und sagt: ‚Das ist Riches.‘“35 In der Folge zeigte sich: „Die völkischen Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kindsmorde und sadistischen Exzesse […] definieren genau den antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung zurück.“36 Die Ritualmordlegende festigte das ideologische Fundament, von dem aus die Wirklichkeit überhaupt verabschiedet werden konnte. Und vielleicht wollte Eich genau dies mit der Uneindeutigkeit seiner Täter-Opfer-Zuschreibungen zum Thema machen.
AUS GEFÜHLEN BEGRIFFE MACHEN Gedenk: ein schwärzlich Blatt hing im Holunder – Das schöne Zeichen für den Becher Bluts.37
Im ersten Traum gibt es einen Zug, einen echten. Im zweiten gibt es einen Zug, in Miniaturformat. Aber dann stellt sich heraus, dass der Spielzeugzug eben doch kein Spielzeug ist, sondern eine Fiktion, als solche aber Teil einer Tötungsmaschine, die ihrerseits (wenn auch weiterhin im Rahmen der Fiktion) alles andere als fiktiv ist. In ihr wollen sich die eigentlichen Täter die Finger nicht schmutzig machen: Die Schlachtung des Kindes übernimmt die Haushälterin.38 Der Zug ist also insofern real, als er dem Kind eine Normalität vorgaukelt, die spätestens mit dem Weggang der Eltern in sich zusammenbricht. Der Zug wird auch insofern an die Realität zurückgebunden, als der erste Traum auf die Rezeption des zweiten einwirkt. Der Autor Eich kommt von
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Walter Jens: „Einführung“, in: Leben im Atomzeitalter. Schriftsteller und Dichter zum Thema unserer Zeit. Mit Handzeichnungen von Alfred Hrdlicka, hg. von Walter Jens, München 1987, S. 9-16, Zitat S. 10; künftig zitiert als: Jens: „Einführung“. Katz: Erinnerungen, S. 14. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 195. Celan: Mohn, S. 12. Ihr Name, Li-bai, bedeutet übrigens „Pflaume, weiß, ein Symbol für Frau und rein, unschuldig.“ Diesen Hinweis verdanke ich: Schmitt-Lederhaus: Träume, S. 130.
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Zügen nicht los. Sie haben alle Unschuld verloren, selbst dann, wenn sie in Form eines Spielzeuges einem verängstigten Kind in Aussicht gestellt werden. Eisenbahnen als Kinderspielzeuge sind von nun an immer Eisenbahnen, in denen (jüdische?) Kinder gefangen gewesen waren, bevor sie getötet wurden. Dieser Umstand aber macht es unmöglich, die Eisenbahnen je wieder zum Spielzeug zu erklären. Es ist gleichsam so, als ob der bloße Umstand, dass der chinesische Herr dem Kind ein solches Spielzeug verspricht, bereits seine fehlende Bereitschaft anzeigt, sich klar zu machen, was Eisenbahnen zu seiner Zeit bedeuten. Weil er von ihnen noch als von einem Spielzeug spricht, lässt er sich bereits einer neuen Gruppe von Tätern zuordnen. Wenn diese Hypothese stimmt, dann ergeben sich weitere Fragen: Wird das Hörspiel wider Erwarten historisch konkret? Ist die These des Ahistorischen bei der Interpretation des zweiten Traumes nicht zu halten? Aber was fängt die heutige Leserschaft damit an, dass im zweiten Traum der chinesische Herr nicht nur das Blut des Kindes trinken, sondern auch sein Herz essen wird? Sind wir damit wieder bei der ebenso allgemeinen (wie möglicherweise klischeehaften?) Empfehlung vom Ende des ersten Traumes, daran zu denken, dass die Orte des Schreckens im eigenen Herzen liegen? Wenden wir uns erneut diesem Herz-Motiv zu, um den Gestus des eichschen Textes zu verstehen, der auf die Schlachtungsszene folgt. Robert Musils These, der Kitsch, der sich so viel auf das Gefühl zugute tue, sei im Grunde nichts anderes als ein Prozess, durch den aus Gefühlen Begriffe gemacht würden, ermöglicht einen neuen Zugang zu Eichs Hörspiel und zu Fragen, die es auslöst. Zur Debatte steht das Verhältnis der Literatur zur Abstraktion. Begriffe sind Versuche, aus einzelnen, spezifischen Erfahrungen allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Die vielfach erwähnte Vagheit, die für Eichs Text charakteristisch ist, steht in diesem Kontext. In einzelnen Szenen des Hörspiels wird Gefühlen mit großer Deutlichkeit (überdeutlich also?) Ausdruck verliehen. In der Vorrede heißt es beispielsweise: „Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde, / und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die Bestürzung“.39 Das Verhältnis zwischen Seufzer und Bestürzung ist ein festes: Wenn viele zum Seufzen Anlass haben, reagieren diejenigen, die das Ich liebt (und die also wohl zu den liebenswerten Menschen gehören), erwartungsgemäß, d.h. auf die einzig zulässige Weise: mit Bestürzung. Die Möglichkeit, dass die Seufzer der vielen andere Gefühle auslösen könnten, wird durch die Verwendung des bestimmten Artikels abgewehrt: „die Seufzer“ und „die Bestürzung“ zeigen, dass klar ist, was diese sind, und dass hier erwartet werden kann, das eine werde auf das andere folgen. Diese prästabilisierte Ordnung stellt sicher, dass kein falsches Gefühl vorkommt. Wenn man sich aber beim Fühlen sicher sein kann, dass man es ,richtig‘ macht, dann erklärt sich auch die Dominanz des Singulars, von der bereits die Rede gewesen ist: „Die“ Erde steht im Singular, so wie „das“ Herz „des“ Menschen. Der Vorliebe für Verallgemeinerungen entspricht eine Wortwahl, die zum Rundumschlag tendiert: „Denke daran, dass du schuld bist an allem Entsetzlichen, / das sich fern von dir abspielt –“40 Oder auch: „Denke daran, dass der Mensch des Menschen Feind ist“.41 Wer aber ist „der“ Mensch? Und was ist „alles Entsetzliche“, an dem man, trotz seiner Ferne, 39 40 41
Eich: Träume, S. 351. Ebd., S. 359. Ebd., S. 358.
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schuld sein soll? Wie lässt sich das „Alles“ denken? Imre Kertész, ein Überlebender des „lugubre orrizonte di Auschwitz“42 („des düsteren Horizonts von Auschwitz“ [Übersetzung A.P.]), schreibt: Ich halte […] jede Darstellung für Kitsch, die nicht die weitreichenden ethischen Konsequenzen von Auschwitz impliziert und derzufolge der mit Großbuchstaben geschriebene MENSCH – und mit ihm das Ideal des Humanen – heil und unbeschädigt aus Auschwitz hervorgeht. […] Für Kitsch halte ich auch jede Darstellung, die unfähig – oder nicht willens – ist zu verstehen, welcher organische Zusammenhang zwischen unserer in der Zivilisation wie im Privaten deformierten Lebensweise und der Möglichkeit des Holocaust besteht; die also den Holocaust ein für allemal als etwas der menschlichen Natur Fremdes festmacht.43
Trifft diese Kritik an bestimmten Versuchen, die Shoah künstlerisch zu gestalten, auf Eichs Text zu? Ist die Formel, der Mensch sei des Menschen Feind, Zeichen dafür, dass Eich von der Existenz „des“ Menschen (als der Abstraktion von den Vielen) überzeugt ist? Oder ist der Satz vielmehr, trotz seiner Sprichwörtlichkeit und fehlenden Spezifik, erfahrungsgesättigt – und darum gerade kein Kitsch? Immerhin scheint der Satz ein „heiles“ Menschenbild doch ein für alle Mal zu verabschieden?44 Musil ist der Überzeugung, dass den Hervorbringungen eines Kitsch-Autors anzumerken sei, „dass er nicht an erlebten Vorstellungen denken gelernt hat, sondern schon an den von ihnen abgezogenen Begriffen.“45 Ist der Begriff omnipräsenter Feindschaft bei Eich Ausdruck ihres Verschwindens in der Abstraktion? Oder das Gegenteil? Es könnte argumentiert werden, dass exzessive Verallgemeinerungen sich umgekehrt proportional zur Anschließbarkeit dessen verhalten, was ein Mensch konkret erlebt hat. In dem Maße, in dem das Erlebte nur in der Abstraktion großer Begriffe („Bestürzung“, „Feindschaft“, „Schuld an allem“) fass- und beschreibbar zu sein scheint, verschwindet das Erlebte. Oder, umgekehrt betrachtet: In dem Maße, in dem das Erlebte als Erlebtes konkret bleibt und auf seine Beschreibung durch „Begriffe“, 42 43 44
45
Levi: Tregua, S. 245. Imre Kertesz: „Wem gehört Auschwitz?“ in: ders.: Eine Gedankenlänge Stille während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, Hamburg 1999, S. 145-154, Zitat S. 150. Axel Vieregg, der Herausgeber der vierbändigen Werk-Ausgabe, schreibt mit Blick auf Michael Oppermanns Text „Bemerkungen zur Kontinuität der inneren Wirklichkeit im Vor- und Nachkriegswerk Günter Eichs“, zu betonen sei, „wie geringfügig der Niederschlag des Neubeginns auf das Wesen von Eichs Produktion nach 1945“ gewesen sei, und bezeichnet den Realismus der Kahlschlagtexte wie Latrine, Inventur oder Züge im Nebel als Episode: geradezu beunruhigend sei vielmehr die Kontinuität, mit der bei Eich der Primat auf der „inneren oder Traumwirklichkeit“ liege. Diese Kritik schlösse ein, dass Eich sich der historischen Wirklichkeit auch hier noch nicht stellte. Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945, Eggingen 1993, S. 8. – Walter Benjamin schreibt vom „Totembaum der Gegenstände […] im Dickicht der Urgeschichte“. „Die oberste, die allerletzte Fratze dieses Totembaumes ist der Kitsch. Er ist die letzte Maske des Banalen, mit der wir uns im Traum und im Gespräch bekleiden, um die Kraft der ausgestorbenen Dingwelt in uns zu nehmen.“ Walter Benjamin: „Traumkitsch“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II. 2, Frankfurt/M. 1991, S. 620-622, Zitat S. 622. Musil: „Kitsch“, S. 502.
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die dem Erlebnis vorgeordnet, vorgängig sind, verzichtet, bleibt das Erlebnis das Erlebnis dieses einen Menschen, und zwar ein lebendiges. Lebendig bedeutet zugleich: frei von Kitsch, fern gefühlsmäßiger Abstraktionen – „Genauigkeit der Seele“ bzw. literarischen Vorstellungskraft. Dass das Allumfassende von Eichs „Denke daran, dass der Mensch des Menschen Feind ist“46 nicht konkret zu verstehen ist, dafür spricht der Umstand, dass das Hörspiel an anderen, ebenfalls von der Autorität einer Sprecherstimme vorgetragenen Passagen umstandslos für die Schönheit „der“ Erde eintritt. Eben noch hatten sich in „der“ Erde die Seufzer „gesammelt“ – doch gleich darauf tritt sie (die Erde nämlich) erneut auf, jetzt aber ins Positive gewendet. Zunächst wohnt die Hörerschaft noch den Schreien des gemarterten, gerade einmal sechs Jahre alten Tschang-du bei. Auf seinen Tod folgend spricht die „Dame“ zu ihrem Mann: „Siehst du, da ist die Schüssel mit dem Blut, es dampft noch. Das wird dir gut tun.“47 Und dann folgt schließlich der erwähnte Kommentar: In der Stunde X werde ich dennoch denken, dass die Erde schön war. Ich werde an die Freunde denken, an die Güte, die ein hässliches Gesicht schön macht, an die Liebe, die die Augen verzaubert. […] [A]n Holunder, Raps und Mohn, flüchtig gesehen von einem Zugfenster aus […]. 48
Eich arbeitet mit harten Schnitten. Der Tod und das menschenfresserische Mahl des „Herrn“ gehen der Beteuerung voraus, „dennoch“ sei die Erde als „schön“ zu betrachten.49 Die verallgemeinernde Aussage, der Mensch sei des Menschen Feind, steht neben der Erwähnung von „Freunden“ und menschlicher „Güte“. Die „Schüssel“ mit dem noch dampfenden Blut des Kindes wird kontrastiert mit der „Liebe, die die Augen verzaubert“. Gleiches gilt für die Züge: Die angebliche Eisenbahn, die das Opfer in die Küche lockt, der Todeszug, der ganze Familien über Jahrzehnte gefangen hält, findet sein Echo in einem Zug, an dessen Fenster „Holunder, Raps und Mohn“ vorbeiziehen, „flüchtig“ zwar, „schön“ aber offenbar auch sie. Diese wenigen, ausgewählten Beispiele mögen genügen, um die Frage nach der Bedeutung von Verallgemeinerungen und Abstraktion im Blick auf den gesamten Text zu bedenken. Ist es vielleicht so, dass Eichs Erfolg als Hörspielautor sich gerade seiner Fähigkeit verdankte, die emotionalen Bedürfnisse von Hörern unterschiedlichster sozialer Herkunft und politischer couleur zu bedienen? Diejenigen, die den „organische[n] Zusammenhang zwischen unserer in der Zivilisation wie im Privaten deformierten Lebensweise und der Möglichkeit des Holocaust“ nicht sehen wollen, hielten sich an „die Güte, die ein hässliches Gesicht schön macht“? Diejenigen, die noch unter dem Eindruck der allgemeinen Katastrophe standen, fühlten sich verstanden durch das generalisierende „Der Mensch ist des Menschen Feind“? Diejenigen wiederum, die nicht recht wussten, in welches Verhältnis die Sinnlosigkeit von Krieg und Genozid auf der einen und das Bedürfnis nach Sinngebung für das eigene Leben auf der anderen 46 47 48 49
Eich: Träume, S. 358. Ebd., S. 363. Ebd. Mit dem Ausdruck „Stunde X“ ist der „Erstschlag“, d.h. die Auslösung eines Atomkrieges gemeint.
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Seite zu setzen seien, konnten sich aufgehoben fühlen in einem „Dennoch“, das tröstend zwischen den beiden erstgenannten Positionen vermittelte: „In der Stunde X werde ich dennoch denken, dass die Erde schön war“? Wenn der Text in der Tat vor allen Dingen einer ist, der sich jeder Festlegung entzieht, dann sind die Widersprüche als solche nicht aufzulösen, sondern zueinander ins Verhältnis zu setzen. Dann hätte man sich zu fragen, inwieweit man gewillt ist, zu akzeptieren, dass das „Zugfenster“, aus dem das „Ich“ „Holunder, Raps und Mohn“ sieht, in gewisser Weise auch Teil des Zuges ist, in dem der Blick auf den „Löwenzahn“ zum Element einer vierzigjährigen Qual geworden war: eine ‚Fensterfront‘.50 Mit diesem Bild der „Front“ will ich sagen, dass aus dem „konzentrationären Universum“ nur eine Einsicht folgen kann: dass nämlich die schönen Fensterblicke normaler Reisenden und die Lukenblicke von Deportierten zusammengehören. Um das Wort ‚Fensterfront‘ ist in dieser Hinsicht nützlich. Ferienreise und Deportations‚Reise‘ sind aneinander gekettet in all ihrer furchtbaren Widersprüchlichkeit. Weil der Schatten der Gewalt so stark ist, können sich die ‚normalen‘ Fenster nicht mehr als unschuldig und unbeeinflusst von der Verkettung mit den Lukenblicken verstehen. Für das Hörspiel führt das zu einem weiteren Problem, nämlich zu der Frage, ob der Deportationszug hinreichend Abstand genommen hat von dem mit „Großbuchstaben geschriebene[n] MENSCH[EN]“ oder ob im Gegenteil der Holocaust bei Eich weiterhin als „etwas der menschlichen Natur Fremdes“ betrachtet wird. Trifft auf den Autor zu, was Rousset wie folgt formiert hat? „C’est son aquarium à lui, les bons sentiments.“51 („Die edlen Gefühle, die sind sein Aquarium.“ [Übersetzung A.P.]) Bei Robert Musil findet sich ein Gedanke, den ich im Kontext meiner Überlegungen abwandeln möchte. Es gibt mitunter „Gefühlsgefühle“ statt Gefühle. Gemeint ist das Folgende: Gefühle entzünden sich an Gefühlen und nicht etwa an Erlebnissen. Gefühle werden zu Verstärkern ihrer selbst und lösen sich von der Welt. Was daraus entsteht, kann man nur als Gefühlsgenuss bezeichnen, unabhängig davon, ob das, was man fühlt, als positiv oder im Gegenteil als bedrohlich empfunden wird. Gefühlsqualitäten werden nebensächlich. Es geht nur noch um’s Fühlen an sich. Das aber bedeutet in Wirklichkeit Fühllosigkeit – eben weil die Gefühle zu einem Schutzschild gegen die Außenwelt werden, die jetzt Anderes, Unvorhergesehenes an Gefühlen nicht mehr auslösen kann. „Gefühlsgefühle“ sind selbstbezogen. Sie tendieren zu endloser Verdopplung ihrer selbst: zu Gefühlsgefühlgefühlen. Was aber meine ich damit in Bezug auf die Träume?
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Wolf: Kindheitsmuster, S. 77; Hervorhebung A.P. Rousset: Jours, S. 110.
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DIE NORMALITÄT VON AUSCHWITZ Löwenzahn, so grün ist die Ukraine. Meine blonde Mutter kam nicht heim.52
Ich denke, dass Eichs Hörspiel auf seine Gefühlsaspekte hin befragt werden müsste. Es scheint mir dabei nur ein Kriterium zu geben, um die Frage zu entscheiden, ob Eichs Hörspiel auf „Gefühlsgefühle“ oder gar „Gefühlsgefühlgefühle“ zielt: die Qualität der verwendeten Bilder, des Autors Sprache. Wenn der Löwenzahn als Symbol einfachen Lebensglückes den Anspruch verfolgt, mit seinem Gelb eine Art Ausgleich für den gleichfalls gelben Stern der verfolgten Juden (und jetzt, nach Abschluss des Chinatraums, auch für das Phantasma der ,Gelben Gefahr‘) zu schaffen, dann ergibt sich erneut der Eindruck, dass Eichs Text, trotz alles Schwankens, trotz aller schillernden Widersprüchlichkeit, klare Akzente gesetzt hat. Es ist nicht so, dass der Deportationszug den Fensterblick des (freien) Ichs kontaminiert, hin zu einem grundlegenden Misstrauen gegenüber allem „Heilen“ und „Unbeschädigtem“ nach Auschwitz, sondern es verhält sich umgekehrt: Das Zugfenster, an dem „Holunder, Raps und Mohn“ vorbeiziehen, besänftigt die Leserschaft, nachdem sie vor alptraum -artige Deportationsbilder gestellt worden war – die ja aber eben immerhin (als Fensterblick) ein wenig Löwenzahn zu bieten hatten. Meine These lautet also: Der Löwenzahn ist, weil er aus einem Erfahrungsraum vor dem Genozid stammt, keine „erlebte Vorstellung“, an der man denken lernen könnte, sondern ein an der Vorstellung „abgezogene[r] Begriff“. Eichs Text behauptet implizit, dass der Blick, den die Deportierten aus ihrer Luke werfen, noch gebunden sei an eine Wahrnehmung, wie auch das lyrische Ich sie bei einer Zugfahrt hatte und weiterhin haben kann. Eine Welt von Löwenzahn und Mohn und schönen Fensterblicken wird also bewahrt, die Auschwitz, das Phantasma der ‚Gelben Gefahr‘ und des ‚Ritualmords‘ letztlich zu etwas „Fremdem“, nicht Integrierbarem erklärt. Auschwitz wird kein vertrautes Gesicht gegeben. Zur Darstellung kommt nicht, was zwar nicht an sich vertraut, also umstandslos zu ‚verstehen‘ ist, jedoch den Akzent auf die Verbindung zwischen dem Heimeligen und Eigenen legen würde, d.h. der Normalität des Täterkollektivs auf der einen Seite und der Unheimlichkeit, dem Grauen der „Todeszone des gedehnten Sterbens“ (Diner) in den Vernichtungslagern auf der anderen Seite. Bei Eich hat man den Eindruck, dass „Schreckliches“ immer schrecklich ist und das dazu gehörige Gefühl gleich mitgeliefert wird: eine Vereinfachung, die in der Einfachheit von Löwenzahn und Holunder ihre Entsprechung hat und nicht bedenkt, dass die Überlebenden nach ihrer schwierigen Rückkehr „una sconsolata stanchezza ferroviaria“ („eine untröstliche Erschöpfung gegenüber Eisenbahnen“) sowie „una nausea definitiva di binari“53 („eine endgültige Übelkeit gegenüber Gleisen“. [Übersetzungen A.P.]) empfanden – also auch gegenüber dem, was andere, ‚normal‘ Reisende, als „schönen Fensterblick“ auf Blumen und Löwenzahn goutieren mochten. Auch derjenige, der abstrahierend warnt, der Mensch sei des Menschen Feind, kann selbst ein Feind sein. Die allgemeine Feindseligkeit zu beklagen, heißt, sich von
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Celan: Mohn, S. 19. Levi: Tregua, S. 250.
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ihr distanzieren zu wollen. Nur hängt die Antwort auf die Frage, ob man ein Feind sei oder nicht, nicht davon ab, was man sich selbst zuschreibt, sondern von der Wahrnehmung durch diejenigen, die zu Opfern geworden sind. Ruth Klüger bemerkt in sarkastischer Kürze bezogen auf einen Deutschen, der sich ihr, dem gefangenen Kind, anzubiedern versuchte: „Der Feind ist der andere, wie könnte man selbst ein Feind sein, besonders wenn man es freundlich meint.“54 Dieser Satz stimmt mit dem überein, was auch Jorge Semprun betont hatte: Der deutsche Soldat, der sich mit ihm, dem Gefangenen, solidarisch zu erklären versuchte, mochte nicht einsehen, dass er dennoch eine Funktion akzeptierte, durch die er sein Gegenüber zum Gefangenen machte. Er blieb also, auch wenn er „es freundlich mein[t]e“, ein Feind. Zu behaupten, er sei zum Freund des Gefangenen mutiert, wäre eine Verkitschung der historischen Realität. Kitsch ist dabei „der Niederschlag entwerteter Formen und Floskeln in einer Formwelt, die ihrem Umkreis [d.h. den einstigen gesellschaftlichen Kontexten; A.P.] entrückt ist.“55 Auch wenn das lyrische Ich bei Eich „Holunder, Raps und Mohn“ noch als Trost in einer Welt empfinden mag, die ihm in ihrem generalisierten Feinddenken als ‚unnormal‘ vorkommt, gilt doch, dass bei der Reichsbahn die Dinge ihren ganz normalen Verlauf nahmen. Gerade in dem Aspekt der Normalität von Abläufen, durch die vollkommen unschuldige Menschen (dieses Mal aus der umgekehrten Perspektive betrachtet) zu Feinden gemacht und als solche umgebracht wurden (doch ohne dass das Bahnpersonal sich selbst in diese Feindschaft emotional hätte einbezogen fühlen müssen), besteht die Bedeutung für das Verständnis des Holocaust. Grundsätzlich war die Reichsbahn bereit, die Juden so wie jede andere Personengruppe gegen Bezahlung zu befördern. Die Rechnung wurde ganz einfach der Stelle übermittelt, die die Züge bestellte. Der Rechnungsbetrag gab die Anzahl der beförderten Personen und die zurückgelegte Entfernung an. Dem Grundpreis lag der Tarif für die Personenbeförderung in der dritten Klasse zugrunde. Im Jahre 1942 waren das 4,0 Rpf. pro Schienenkilometer. Für Kinder unter zehn Jahren war der halbe Preis bezahlbar, Fahrten für Kinder unter vier Jahren waren kostenlos.56
Diese Hinweise sind für die Einschätzung von Eichs Hörspiel wichtig. Bei der Rekonstruktion der konkreten, administrativen Hintergründe der Deportation spielen Löwenzahn oder Mohn, Holunder oder Raps keine Rolle. Wichtig ist allein, dass für Kinder unter zehn Jahren der halbe Preis bezahlbar war und Fahrten in den Tod für Kinder unter vier Jahren kostenlos erfolgten. Hilberg beschreibt nicht den „Niederschlag entwerteter Formen“, sondern versucht Formen sichtbar zu machen, die trotz und zugleich aufgrund ihrer ‚Normalität‘ lebendige Gefühle jenseits von der Abstraktion und vom Kitsch der „Ergriffenheitsvehikel“57 hervorzurufen vermögen: Todeszüge mit einem Fahrpreis von 4,0 Reichspfennig pro Kilometer. Und: Dem Personenverkehr lag der Tarif für die dritte Klasse zugrunde. Bemerkenswert ist daran, dass die Opfer für ihre ‚Reise‘ selbst zu zahlen hatten – nicht individuell, sondern haftend als
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Klüger: weiter leben, S. 158. Theodor W. Adorno: „Kitsch“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt/M. 1984, S. 791-794, Zitat S. 791. Hilberg: Sonderzüge, S. 41-42. Anders: Hades, S. 200.
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Gemeinschaft.58 Eine solche Feststellung macht deutlich, dass es nicht allein wichtig ist, zu untersuchen, wie das ganz und gar Unalltägliche, Außer-Gewöhnliche in den Alltag von Menschen einbrach, wie es ihn aushebelte, zerstörte – sondern ebenso bedeutsam ist die Frage, inwieweit Menschen (und zwar Opfer wie Täter wie Zuschauer), die schon mitten im Außer-Gewöhnlichen steckten, immer wieder versuchten, wenigstens Momente von Alltag im Kontext des Unalltäglichen herzustellen.59 Alltag bestand zum Beispiel darin, dass das deutsche Bahnpersonal die Kosten für Deportationszüge ausgehend von den auch sonst gültigen Tarifen sowie unter Berücksichtigung der normalen Sondertarife für Kinder berechnen konnte: Normalität als Barriere für eine Selbstwahrnehmung, die hätte zugeben müssen, dass man, im Sinne Klügers, zum Feind geworden war. Das Verkehrsministerium entwickelte […] eine Vergünstigung für die Sicherheitspolizei – den Gruppenpreis für Deportationen. Bei Beförderung von mindestens 400 Leuten sollte der Rechnungsbetrag nurmehr die Hälfte des Dritteklassetarifs betragen. Der Mindestbetrag für einen Transport wurde auf 200 Reichsmark festgesetzt; Leerfahrten von Zügen wurden nicht in Rechnung gestellt. 60
Als die Schrecken der ersten großen Katastrophe des „zerfurchten Zwanzigsten Jahrhunderts“ (Dan Diner) keinem mehr verborgen bleiben konnte, als, mit anderen Worten, der Erste Weltkrieg weit über die eigentlichen militärischen Ereignisse hinaus auf die ,Heimatfront‘ einwirkte, schrieb Sigmund Freud mit ernüchterndem Sarkasmus:
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„Wo immer es im Bereich des Möglichen lag, mussten […] die Juden selbst die Mittel für die Durchführung der Transporte aufbringen. Innerhalb der Grenzen Vorkriegsdeutschlands war die Jüdische Reichsvereinigung angewiesen, die ‚Spenden‘ auf einem Sonderkonto zu deponieren, das im Bedarfsfall zur Begleichung der Reichsbahnrechnungen herangezogen werden konnte.“ Hilberg: Sonderzüge, S. 48. „Am 18. September 1941 erließ das Reichsverkehrsministerium eine Verfügung, die es Juden untersagte, Schlaf- und Speisewagen der Reichsbahn zu benutzen; ebenso wurde ihnen verboten, Ausflugsbusse oder Ausflugsschiffe (außerhalb ihres gewöhnlichen Wohngebiets) zu benutzen. Alle anderen öffentlichen Transportmitel durften Juden nur benutzen, wenn noch Plätze frei waren, nie zu Hauptverkehrszeiten, wenn es für Nichtjuden keine Plätze gab. Juden durften nur in der niedrigsten Klasse reisen – das war bei der Eisenbahn damals die dritte –, und sie durften sich nur setzen, wenn keine anderen Fahrgäste standen.“ Friedländer: Vernichtung, S. 316-317. Friedländer nimmt Bezug auf: Joseph Walk: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien. Inhalte und Bedeutung. Motive, Texte, Materialien, Heidelberg, Karlsruhe 1981, S. 350. Das, was für die Reisen der Kinder galt, setzte sich in den Vernichtungslagern fort. Mit Blick auf die Reperaturen von Schuhen schreibt Levi: „[S]embra paradosso, ma ufficialmente, nei campi di anientamento, è tutto gratuito.“ Levi: Uomo, S. 130. („Es scheint paradox zu sein, doch offiziell ist in den Vernichtungslagern alles umsonst.“ [Übersetzung A.P.])
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Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, dass der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak.61
Dieser Satz bringt zum Ausdruck, was als die erste mögliche Perspektive, die bei der Untersuchung von Gewalt eingenommen werden kann, zu bezeichnet wäre: eine Perspektive, die sich für das Außer-Gewöhnliche, für Gewalt und Schrecken als Zerstörer von Alltag interessiert. Die entgegengesetzte (und zugleich doch auch komplementäre) Perspektive geht aus von der Einsicht, dass Menschen ein gewisses Maß an ‚Normalität‘ brauchen, um psychisch stabil und somit handlungsfähig zu bleiben: Aufrechterhaltung von Alltag mitten in der Zerstörung.62 „Sich normal zu verhalten ist nicht das Ergebnis eines Kalküls, sondern die natürliche Hingabe an ein fundamentales Bedürfnis, sich gut zu befinden.“63 Imre Kertész, der als Jugendlicher von Budapest aus nach Auschwitz deportiert wurde, betont, dass die Katastrophe nicht mit einem Mal über die Opfer hereingebrochen sei, sondern dass diese sich schrittweise, also nach und nach, auf den Vernichtungsapparat zubewegten – hinein in das, was Eugen Kogon das „Normalmartyrium der Juden“ nennt.64 Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht hat, sie hinter sich weiß, kommt bereits die nächste. Wenn man dann alles weiß, hat man auch alles begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht untätig: schon erledigt man die neuen Dinge, man lebt, man handelt, man bewegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen einer jeden neuen Stufe. Gäbe es jedoch diese Abfolge
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Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX (= Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion), Frankfurt/M. 1916/2000, S. 33-60, Zitat S. 39. Bei Christa Wolf findet man zwischen der Protagonistin (die als 15jährige das Kriegsende erlebte) und ihrer erst nach dem Krieg geborenen Tochter die folgende Diskussion, die ins Zentrum des Ineinanders von Tod und Normalität führt: „Vielleicht sei überhaupt das allerschlimmste, dass alle Leute sich an alles gewöhnen können. […] Nicht zuletzt die Fähigkeit, sich zu gewöhnen, sagst du, verdanke aber die Menschheit ihr Überleben als Gattung. Ist mir alles klar, sagt Lenka. Und wenn die Menschheit sich jetzt an diese Sachen gewöhnt, die sie als Gattung umbringen? Na? Was nun? Sag mal was.“ Wolf: Kindheitsmuster, S. 330. Paul Martin Neurath spricht mit Blick auf den Terror von einer „gut durchorganisierte[n] Routine“. Neurath: Terror, S. 31. Und an anderer Stelle, jetzt wiederum mit Blick auf die Opfer: „Der neue Mann braucht lange, um seine Erfahrungen zusammenzustückeln. Aber allmählich und ohne dass er es richtig merkt, beginnt seine neue Welt, einen ‚Sinn‘ für ihn zu ergeben: er entwickelt sein eigenes Urteil, wenn er mit neuen Situationen konfrontiert ist, er lernt, wie er mit möglichst wenig Misshandlungen und vielleicht auch möglichst wenig Arbeit davonkommt.“ Neurath: Terror, S. 35. Die Formulierungen des französischen Originals lauten: „Se conduire normalement n’est pas le résultat d’un calcul mais l’abandon naturel à un besoin intime de bien-être.“ Renaud Dulong: Le témoin oculaire. Les conditions sociales de l’attestation personnelle, Paris 1998, S. 154; künftig zitiert als: Dulong: Témoin. Kogon: SS-Staat, S. 229.
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in der Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf vielleicht gar nicht aus […]. 65
So aber hätten die Jüdinnen und Juden immer wieder versucht, sich anzupassen, auf diese Weise gewissermaßen (dramatisch kleiner werdende) Stücke von ,Alltag‘ bewahrend. Das aber, was man die ‚Alltäglichkeit von Auschwitz‘ zu nennen hätte, kann nicht ohne Konsequenz für die Versuche bleiben, literarisch zu einem Ausdruck für das Geschehene zu finden. [D]ie Rollenunsicherheit […] des, wenn ich so sagen darf, gewöhnlichen Überlebenden rührt zu einem nicht geringen Teil daher, dass er all das, was im nachhinein als unbegreiflich angesehen wird, zur gegebenen Zeit sehr wohl begreifen musste, denn eben das war der Preis des Überlebens. Wenn auch das Ganze unlogisch war, jeder Augenblick, jeder Tag erforderte eine unerbittlich exakte Logik: der Überlebende musste begreifen, um zu überleben, das heißt, er musste begreifen, was er überlebte. Denn das war die große Magie, wenn man so will, das Dämonische: dass die totalitaristische Geschichte unseres Jahrhunderts von uns die ganze Existenz fordert, uns aber, nachdem wir sie ihr restlos gegeben haben, mit einer grundlegend anderen Logik fortsetzt. Und dann ist für uns nicht mehr begreiflich, dass wir auch die vorhergehenden begriffen haben, das heißt, nicht die Geschichte ist unbegreiflich, sondern wir begreifen uns selbst nicht. Ich glaube, letzten Endes geht es darum, darüber müssen wir reden. In unserer Zeit erlebt es der Mensch als Schicksal, von der Geschichte seiner autonomen Persönlichkeit beraubt zu werden, und hat er sich dann von der Totalität der Geschichte befreit, entpersönlicht er die Geschichte sozusagen kompensationshalber.66
Ist bei Eich eine solche Kompensation im Gang? Auf der einen Seite ist das Hörspiel bestrebt, so etwas wie eine alltägliche Atmosphäre zu schaffen: Den Figuren (und nur ihnen) erscheint es als normal und begreiflich, dass ein Erwachsener sich am Blut eines ermordeten Kindes stärkt. Auf der anderen Seite besteht gerade in der Fiktion, dies sei alltäglich, das Skandalon, d.h. das ganz und gar Unalltägliche: In dem Maße, in dem die Figuren die Schlachtung für nützlich, da gesundheitsfördernd erklären, steigert sich auf Seiten der Hörerschaft das Empfinden, eine solche Logik sei keineswegs als alltäglich zu akzeptieren. Es fragt sich also, ob das Übermaß an Gewalt, das der Text inszeniert, nicht zu Abwehrreaktionen führte, d.h. eine Tendenz verstärkte, die in den 1950er Jahren ohnehin charakteristisch für die bundesdeutsche Gesellschaft war: Die Geschichte, wie sie wirklich gewesen war, schien abgetrennt zu sein von dem, was den Alltag von Tätern und Zuschauern im ‚Dritten Reich‘ ausgemacht hatte. Oder anders formuliert: Dass die Aufgabe darin zu bestehen hatte, sich selbst zu begreifen, 65
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Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, Reinbeck bei Hamburg 2002, S. 272-273; künftig zitiert als: Kertész: Schicksallosen. – Ähnlich argumentiert François Wetterwald in Bezug auf die Ankunft im Konzentrationslager: „Alors, voilà, c’est fini; comprends, mais comprends donc que tu n’es plus rien; pas même un esclave […].“ Wetterwald: Morts, S. 24. („So, es ist vorbei; begreife, begreife doch, dass Du nichts mehr bist; noch nicht einmal ein Sklave […].“ [Übersetzung A.P.]) Imre Kertész: „Rede über das Jahrhundert“, in: ders.: Eine Gedankenlänge Stille bevor das Erschießungskommando neu lädt, Frankfurt/M. 1999, S. 14-40, Zitat S. 22-23; künftig zitiert als: Kertész: „Rede“.
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zurückzufinden zur Erinnerung an einen Alltag, der von den Opfern „die ganze Existenz [ge]fordert“ hatte, das wurde von Eichs Hörspiel vielleicht nicht offengelegt, sondern verdeckt? Hätte eine Literatur als Inszenierung von Alltag stärker die komplexe Wechselwirkung von Unbegreiflichem und Begreiflichem ans Licht gebracht als der Rückgriff auf starke Schockmomente wie die Schreie eines Kindes, das im Begriff ist, geschlachtet zu werden? Wenn der Widerstand gegen den Kitsch zur Voraussetzung hat, dass im Medium der Literatur ein Raum für lebendige Erfahrungen geschaffen wird, die dem Genuss abstrakter, da vorgefertigter Gefühle – Gefühle als Konserven – vorbeugen, dann könnte versuchshalber die These gewagt werden, der Text sei zu gewalttätig, als dass er hätte Anschluss finden können an einen Alltag, in dem die Gewalt entweder als normal galt oder aber (obwohl sie offensichtlich war) als inexistent ausgeblendet wurde. Weniger Gewalt auf der Ebene der Literatur wäre demnach nicht Ausdruck von Verdrängung (oder Beschweigen) gewesen, sondern im Gegenteil eine Barriere gegen die Behauptung der Hörerschaft, so etwas habe sie nicht erlebt. Mehr Alltag in der Literatur wäre sozusagen ein Ausbrechen aus ihm gewesen. Die Verbindung von Begreiflichem und Unbegreiflichem, ihr Ineinander hätte eine andere Verbindung hergestellt: die zwischen dem ‚Damals‘ der Vernichtungspolitik und dem ‚Heute‘ von ‚Wirtschaftswunder‘, ‚Wiederaufbau‘ und zunehmend „gezweifachte[m] Volk“67. Dieses Ineinander aber hätte hinleiten können zu einer Position, die Imre Kertész in die Worte fasst: „Mir ist der Holocaust nie im Imperfekt erschienen.“68 Sie hätte möglich gemacht, was Überlebende wie Primo Levi inständig herbeiwünschten: Ci sembrava di avere qualcosa da dire, enormi cose da dire, ad ogni singolo tedesco, e che ogni tedesco avesse da dirne a noi: sentivamo l’urgenza di tirare le somme, di domandare, spiegare e commentare […] [S]entivo il numero tatuato sul braccio stridere come una piaga.69 Es schien uns, dass wir etwas zu sagen hatten, enorme Dinge zu sagen hatten, jedem einzelnen Deutschen, und dass jeder Deutsche uns etwas zu sagen hatte: Wir fühlten die Dringlichkeit, die Summe zu ziehen, Fragen zu stellen, zu erklären und zu kommentieren. […] [I]ch fühlte die eintätowierte Nummer auf dem Arm kreischen wie eine Wunde. [Übersetzung A.P.]
So aber gewinnt man den Eindruck, dass Eich sich und der Hörerschaft durch die Unalltäglichkeit dessen, was im zweiten Traum passiert, die Veralltäglichung einer Verfolgung vom Leibe hält, die die Opfer schrittweise begreifen mussten, wenn sie versuchen wollten, das Unbegreifliche zu überleben. Und das Unbegreifliche war, wie Abe Mohnblum, ein jüdischer Überlebender, in einem Interview mit David Boder betont: „Aber man muss, wenn man auch nicht will, man lebt automatisch. Man geht automatisch zur Arbeit, man isst automatisch, man macht alles automatisch… ohne dass der Mensch selber will.“70 67 68 69 70
Gerhard Zwerenz: „Zur Architektur des Todes“, in: Jens: Atomzeitalter, S. 133-146, Zitat S. 145. Imre Kertész: „Vorwort“, in: ders.: Gedankenlänge, S. 9-13, Zitat S. 9; künftig zitiert als: Kertész: „Vorwort“. Levi: Tregua, S. 250-251. Interview mit Abe Mohnblum, in: Broder: Die Toten, S. 125-237, Zitat S. 156; künftig zitiert: „Interview mit Abe Mohnblum“, in: Boder: Tote. Das Interview stammt aus der
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KREDITWÜRDIGKEIT DER GEWÖHNUNG Die Wahrheit ist, dass ich mich nicht an eine gewaltvolle Szene aus dem Lager erinnere, obgleich es Gewalt natürlich gab […]. 71
Ausgehend von dieser Idee des „Automatischen“ des Alltags, das man in Abwandlung der schon zitierten, musilschen Formel erneut als die „Moral des nächsten Schrittes“72 bezeichnen könnte, möchte ich im Folgenden weitere Texte einbeziehen, in denen die Frage, wie es zu dieser „Automatik“ kommen kann, genauer beleuchtet wird. Es ist der polnische Überlebende Tadeusz Borowski, ein Nicht-Jude, der den Preis, der für diese Aufrechterhaltung von ‚Alltag‘ in Auschwitz zu entrichten war, in schärfster (da scheinbar zynischer) Form zusammenfasst und dadurch einen Blick auf das ermöglicht, was Alltag auf Seiten derjenigen bedeutete, die zur Tätergesellschaft (seien sie nun Chinesen oder Deutsche) gehörten. In seiner Erzählung mit dem furchtbaren (da auf Konventionen der angeblichen ‚Zivilisation‘ Bezug nehmenden) Titel „Bitte, die Herrschaften zum Gas“ unterhalten sich zwei Gefangene. „Geduld, Geduld, sobald die Transporte kommen, bringe ich dir alles. Dann gehen wir wieder an die Rampe.“ „Es könnte aber sein, dass keine Transporte für den Kamin mehr kommen“, warf ich boshaft ein. […] „Red keinen Quatsch! Dass uns die Leute ausgehen, darf einfach nicht sein. Dann würden wir hier im Lager verrecken. Von dem, was sie mitbringen, leben wir doch alle.“73
Wo den Opfern alle Rechte und ganz besonders das Recht auf ‚Normalität‘ genommen worden war, führte ihr Versuch, dennoch Bruchstücke, Überbleibsel, versprengte Reste derselben (und damit sich selbst, das nackte Leben) zu retten, in die größten Aporien. Durch die Notwendigkeit, zu essen, wünschen Borowskis Figuren plötzlich das herbei, was keinesfalls als wünschenswert erscheinen kann: dass Nachschub an Nahrung eintrifft – und mit ihnen neue Opfer. Denn darin bestand das Skandalon: dass die Menschen, die zu ermordenden, bei ihrer Ankunft von anderen Gefangenen unmittelbar mit dem eigenen Überleben in Verbindung gebracht wurden und: in
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unmittelbaren Nachkriegszeit und wurde auf Deutsch geführt. Der eigentliche Name des Interviewten lautete Abraham Kimmelmann. Das Interview fand in der Schweiz, genauer in Genf statt. Dort blieb Kimmelmann „bis 1952 und verfolgte intensiv seine Studien, die der Krieg unterbrochen hatte. Im selben Jahr heiratete er und wanderte nach Israel aus. Bis 1960 lebte er in Jerusalem, bevor er in die Stadt Ramat Gan außerhalb Tel Avivs zog. Kimmelmann, der eine Familie gründete und eine erfolgreiche Karriere als Schul- und Universitätsdirektor genoss, spielte lange eine aktive Rolle in der Gemeinde.“ Alan Rosen: „Nachwort“, in: ebd., S. 345-368, Zitat S. 358. Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft, München 2013, S. 67-68; künftig zitiert als: Kulka: Landschaften. – Otto Dov Kulka war als Kind nach Auschwitz deportiert worden. Musil: Mann, S. 740. Tadeusz Borowski: „Bitte, die Herrschaften zum Gas“, in: ders.: Bei uns in Auschwitz. Erzählungen, Frankfurt/M. 2006, S. 190-221, Zitat S. 192.
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Verbindung gebracht werden mussten. Die beiden im Gespräch begriffenen Figuren, die ja selbst mit Gewalt nach Auschwitz gebracht worden sind, bringen umstandslos zum Ausdruck, dass bisherige Werte nicht länger gelten. Sie sprechen ihre Erkenntnis in voller Illusionslosigkeit aus: Nachschub an Menschen ist Nachschub für die Sicherung ihres eigenen Existenzminimums. Alltäglichkeit des ganz und gar Unalltäglichen ist Voraussetzung für die vage Hoffnung, das Sterben möge an ihnen vorbeigehen. Der gleiche Gedanken findet sich in Hermann Langbeins Buch Menschen in Auschwitz. Dem Häftling Erich Altmann sei die folgende Äußerung eines Mitgefangenen aus dem Sonderkommando in Erinnerung geblieben: „Endlich wieder einmal ein anständiger Transport in Aussicht. Ich habe schon nichts Vernünftiges mehr zu essen!“74 Diese Worte lassen die furchtbare Wahrheit erkennen, die dann auch Dan Diner zu formulieren versucht hat: [A]ngesichts des seines Menschseins beraubten Menschen wird eine durch nichts zu versöhnende Verletzung aller tradierten Gewissheiten diagnostiziert – die grundlose wie fundamentale Verletzung all dessen, was Menschenantlitz trägt.75
Die Stärke der Texte Borowskis besteht darin, nicht in Distanz zu dieser Verletzung zu treten, sondern die Leserschaft direkt in sie – als eines Alltags! – hineinzuführen. „Kulissen der Normalität“76, wie sie auch und gerade in den Ghettos aufgebaut wurden, um den Opfern noch das Gefühl zu geben, „ihnen stünden Alternativen offen“77, sind hier, in Auschwitz, das, was sie von jeher (und also auch schon in den Ghettos, den ‚Schwellen‘-Orten par excellence) waren: sich stets wiederholende Momente einer neuen Form von ‚Alltag‘. Des Alltags, der vom „Todesmonopol“ der SS geprägt ist.78 Des Alltags, in dem die Modalverben „müssen“ und „dürfen“ vollkommen neu zu definieren waren, wie der soeben zitierte Abe Mohnblum bestätigt: Nun, da hat es wieder so eine Zeit gegeben, man hat sichergestellt, dass man so durchkommt. Dann – im Sommer – hat es wieder geheißen, dass man Arbeiter in Deutschland braucht. Und in erster Reihe sind die Jugendlichen, das heißt von 18 bis zirka 50 Jahre an die Reihe gekommen. DR. BODER: Haben sie [sic! gemeint ist „Sie“; A.P.] gesagt bis zirka 50? HERR MOHNBLUM: Ja 50, bis 50. Die durften nach Deutschland gehen. DR. BODER: Durften oder müssen? HERR MOHNBLUM: Sie müssen! Sie durften, wenn sie wollen, dann müssen!79
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Langbein: Menschen, S. 289. Diner: Gedächtnisse, S. 17. Ebd., S. 26. Ebd. Anders: Hades, S. 189. Interview mit Abe Mohnblum, in: Broder: Die Toten, S. 125-237, Zitat S. 137. – Eine ähnliche Färbung wie bei Mohnblum nimmt das Modalverb „müssen“ bei Anna Kovitzka, einer weiteren Überlebenden an – Resignation als Realismus: „Irgendwie habe ich mich in Grodno eingelebt. Man muss ja leben.“ Interview mit Anna Kovitzka, in: Broder: Die Toten, S. 25; Hervorhebung A.P.
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Der Nutzen dieses Rückgriffs auf die ‚Normalität‘, dass „Müssen“ und „Dürfen“ zusammenfallen, war aber, wie bereits angedeutet, ein Phänomen, das den gesamten Vernichtungsapparat begleitete. Paul Martin Neurath, der in Dachau und Buchenwald gefangen war, betont: „‚Du kannst nicht‘ heißt ‚du willst nicht‘, aber du musst!“80 Neben oder in diesem Zwang tauche, so wiederum Hilberg, überall die Sehnsucht nach dem Vertrauten, dem Gewohnten, dem Normalen als Leitmotiv auf. Aus psychologischer Sicht stand dieses Sichfestklammern im Dienst der Selbsterhaltung, und seine Ausdrucksformen durchziehen diesen Umbruch wie ein roter Faden.81
Christa Wolf pflichtet Hilbergs These implizit bei, moniert jedoch explizit, dass gerade in ihrer Hinnahme der eigentliche Skandal liege: „Für die zähe Fortdauer der Wonnen der Gewöhnlichkeit bedarf es heutzutage keines Beweises mehr, und Erklärungen scheint man aufgegeben zu haben.“82 Muss man also (nicht zuletzt im Bereich der Literatur) nach Erklärungen für das nur scheinbar Offensichtliche suchen? Stellt sich als eine der Hauptfragen, warum der „rote Faden“ des Alltags nie abbricht? Die bürokratischen Abläufe, die für die Organisation der Todeszüge notwendig waren, gehören in den Kontext dieses Bedürfnisses, Vertrautes weiterzuführen. Einige wenige Beispiele mögen genügen, um nochmals zu unterstreichen, dass sich, von der Organisation her, die Deportationszüge nicht im Geringsten von normalen Zügen unterschieden. Diese Feststellung ist dann auch wichtig für den zweiten Traum und seine Unalltäglichkeit. – Wie bereits angedeutet, ging es bei der Deportation ganz alltäglich um technische Fragen der Nutzung von Transportraum, um Tarife und Fahrpreisermäßigungen: Im Allgemeinen versuchte die SS, einen Deportationszug mit 1000 Leuten zu füllen – später lag die Norm bei 2000. Kleinere Gruppen wurden manchmal in Wagen, die an die regulären Züge angehängt waren, zu einer Stadt befördert, in der gerade ein Sonderzug zusammengestellt wurde. Enthielt ein solcher Transport weniger als 400 Deportierte, war die SS berechtigt, die Anzahl trotzdem mit 400 anzugeben, um den Vorzugspreis auszunützen.83 80 81
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Neurath: Terror, S. 362. Raul Hilberg: Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt/M. 2008, S. 165; künftig zitiert als: Hilberg: Erinnerung. – Ein eindrückliches Beispiel für Gewöhnung gibt ein Überlebender, der sich gleich nach Kriegsende im Rahmen von David Boders Interviewprojekt äußerte: „Scheinbar scheint das Gas oder die Gaszuleitung nicht funktioniert zu haben, da haben sie die Menschen aufgeschichtet in Haufen und haben sie wahrscheinlich mit Benzin oder mit Petroleum überschüttet und haben sie verbrannt auf offenen Scheiterhaufen. Man hat sich an diesen Anblick gewöhnt – so, als wäre es etwas Alltägliches. Es ist fürchterlich, so etwas auszusprechen. Und heute begreife ich nicht, wie ich diesen Gestank, der nicht nur durch die Nase ging, sondern der einem am Gaumen geklebt hat, als wäre es etwas Greifbares, Ekelhaftes, dass man diesen Gestank und diese bestialische Luft überstehen konnte.“ Interview mit Jack Matzner, in: Broder: Die Toten, S. 317-343, Zitat S. 338. Von diesem Überlebenden stammt ein posthum veröffentlichtes Buch: The muselmann. The diary of a jewish slave laborerer, Hoboken, N.J.1994. Wolf: Kindheitsmuster, S. 246. Hilberg: Sonderzüge, S. 45.
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Andere organisatorische Fragen betrafen die Art der Bezahlung der Fahrten: Die Judendeportationen wurden im Rahmen des zivilen Personenverkehrs durchgeführt. Auftraggeber für diese Transporte war die SS. Der Umfang rechtfertigte einen substantiellen Mengenrabatt. Das Mitteleuropäische Reisebüro bewerkstelligte einen Großteil der Verrechnungen. Die Abfertigung der Züge konnte noch vor Bezahlung der Rechnungen erfolge; mit anderen Worten: die SS war kreditwürdig.84
Alltag also auch hier, für den Auftraggeber wie für die Verwaltungsstellen des Mitteleuropäischen Reisebüros: Lakonie des scheinbar Evidenten. Abb. 13: ‚Sonderzüge‘ für so genannte ‚Umsiedler‘, Fahrplan aus dem Jahre 194385
84 85
Ebd., S. 151. Quelle: ebd., S. 208-210.
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Elie Wiesel, der, wie bereits erwähnt, wie Kertész ein aus Ungarn stammender Überlebender war, benutzt in seiner Autobiographie immer wieder die Wendung „Und doch“. Hier ist sie am Platz. Auf Diners Formulierung zurückgreifend, kann man nur festhalten, dass die Verbindung zwischen der Kreditwürdigkeit der SS und den Konsequenzen, die sich aus dieser Kreditwürdigkeit ergaben, die „fundamentale Verletzung all dessen, was Menschenantlitz trägt“, zum Ergebnis hatte. Und doch (und doch!) ist der Begriff Alltag aus dem Nachdenken über die Verfolgung nicht wegzudenken, und zwar, so muss noch einmal wiederholt werden, aufgrund dieser Verletzung. Ein weiteres, extremes Beispiel für Gewöhnungsprozesse bilden die Massenexekutionen, die zu Beginn der ‚Aktion Barbarossa‘ von den so genannten ‚Einsatzgruppen‘ der SS an der Ostfront ins Werk gesetzt wurden. So berichtet ein nicht-jüdischer Ukrainer, der zu Beginn des Krieges noch ein Kind war, die SS habe ihn zur musikalischen ‚Rahmung‘ der Morde als Akkordeonspieler eingesetzt.86 Mit Blick auf Brownings Forschungsergebnisse zum Polizei-Bataillon 101 muss jedoch festgehalten werden, dass die Wahrnehmung der Massaker durch Polizeieinheiten, die an den Massenerschießungen beteiligt waren, einem Wandel unterlag. Das Gefühl von ‚Alltag‘ war nicht von Anfang an möglich. Während die ersten Exekutionen, an denen sich das Polizei-Bataillon 101 beteiligte, in dem polnischen Dorf Jozefow stattfanden und von einem hohen Prozentsatz der Polizisten als keineswegs alltäglich wahrgenommen wurden, setzte erst ab dem zweiten Einsatz (auch bedingt durch eine ‚Verbesserung‘ des Ablaufs der Erschießungen und der Verteilung der Arbeit) die Gewöhnung ein. In Bezug auf die erste, noch ‚ungewohnte‘ Erschießung in Jozefow ist es wichtig, sich die konkreten Aufgaben vor Augen zu halten, die den Polizisten gestellt wurden: Einer der Polizisten aus Hergerts Einheit berichtete […] davon, dass es den Männern schwergefallen sei, richtig zu zielen. „Zuerst wurde stehend freihändig erschossen. Wenn man zu hoch hielt, sprang die ganze Schädeldecke ab. Das hatte zur Folge, dass Gehirnteile und auch Knochen in der Gegend umherflogen. Es erging dann die Anweisung, die Bajonettspitze auf dem Nacken aufzusetzen.“ Laut Hergert waren aber auch die aufgesteckten Seitengewehre keine Lösung. „Fehlschüsse wurden nun [zwar] weitgehendst vermieden, es trat aber eine andere schreckliche Folge ein. Durch den dadurch bedingten Nahschuss traf das Geschoss mit derartiger Rasanz den Schädel des Opfers, dass oftmals der Schädel oder zumindest die ganz hintere Schädeldecke abgerissen wurde und nun Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse durch die Gegend spritzten und die Schützen beschmutzten“.87
Anders verhielt es sich bei den dann folgenden ‚Aktionen‘. Hier wurden, ausgehend von den schon gemachten Erfahrungen, neue Verfahren eingeführt. Erstens wurde das Reserve-Polizeibataillon 101 nun größtenteils zur Räumung von Ghettos und zur Durchführung von Deportationen eingesetzt und nicht mehr zu offenen Massakern vor Ort. Dadurch waren die Polizisten nicht mehr unmittelbar mit dem Grauen des Tötens konfrontiert, 86 87
Vgl. den Dokumentarfilm von Michaël Prazan: Einsatzgruppen. Les Commandos de la Mort, 2009 (Kuiv Productions). Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Frankfurt/M. 2016, S. 97; künftig zitiert als: Browning: Männer.
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das jetzt […] in das Vernichtungslager von Treblinka verlagert war. Zweitens wurde das grauenvolle Deportationsverfahren, das durch brutalen Zwang beim Verladen der Opfer auf die Todeszüge und durch die systematische Ermordung der „nicht transportfähigen“ Juden gekennzeichnet war, nun nicht mehr allein von Einheiten des Reserve-Polizeibataillons 101 durchgeführt, sondern meist gemeinsam mit Verbänden der „Trawnikis“ – jene aus den besetzten sowjetischen Gebieten stammenden Hilfsmannschaften, die in Kriegsgefangenenlagern angeworben und von der SS ausgebildet worden waren und denen bei den Ghettoräumungen und Deportationen in der Regel die schlimmsten Aufgaben zugewiesen wurden.88
Die Konsequenz dieser veränderten ‚Arbeits‘-Bedingungen war eine unmittelbare: Da die Männer schon einmal getötet hatten, erlebten sie beim zweiten Mal [nämlich bei den Massakern in Lomazy; A.P.] keinen so traumatischen Schock mehr. Wie viele andere Dinge war auch das Morden etwas, an das man sich gewöhnen konnte.89
Die Entwicklung hin zur (von Browning eindrucksvoll analysierten) Gewöhnung zeigt, dass die Frage nach dem Kitsch eine zentrale ist. Wenn Kitsch eine Form von Anästhesie gegenüber jeder lebendigen Erfahrung ist, eine „Polsterung des Gefühls“90 – und zwar sowohl gegenüber der Erfahrung während des Ereignisses selbst, als auch gegenüber der Erfahrung, die es post festum zu bedenken gilt –, dann verhindert er (der Kitsch), dass die grauenvolle Unheimlichkeit dessen erkannt wird, worin sich die Beteiligten zuvor ganz heimisch gefühlt hatten. Das Verstörende bestand darin, dass eine Gesellschaft, in der „die Sehnsucht nach dem Vertrauten“ die Gewalt, die sie selbst begangen hatte, überdeckte, direkt in einen Nachkrieg hineinsprang, in dem das Vertraute, Heimische keineswegs auf sein Unheimliches hin befragt wurde. Im Krieg waren alle Kräfte der Tätergesellschaft darauf gerichtet gewesen, so viel Alltag zu retten wie möglich. Für die Mörder galt: „Immer ist Arbeitsteilung auch Gewissensteilung.“91 Im Nachkrieg wurde dieses Bemühen, sich als ‚Rädchen im Getriebe‘ darund den Alltag als ‚gewöhnlich‘ vorzustellen, bruchlos weitergeführt. Der Mord, der an die Stelle des früher Vorhandenen getreten ist – nicht als häufig vorkommende Unsitte, als Vergehen, als „Fall“, sondern als Lebensform, als akzeptiertes und üblich gewordenes „natürliches“ Verhalten gegenüber dem Leben und anderen Lebewesen – der Mord als Weltanschauung, der Mord als Verhaltensform also ist zweifellos eine grundlegende Veränderung – gleichviel, ob als Symptom einer Lebensepoche oder als Endzeitsymptom. Dagegen lässt sich anführen, dass die Menschenausrottung nicht gerade eine neue Erfindung ist; doch die kontinuierliche, die über Jahre, Jahrzehnte systematisch betriebene und so zum System gewordene Menschenausrottung, während nebenher das sogenannte normale, alltägliche Leben 88 89
90 91
Ebd., S. 112. Ebd., S. 123. Saul Friedländer äußert sich kritisch zu diesen Ergebnissen: Der Genozid sei „nicht vorwiegend das Ergebnis einer ganzen Reihe normaler sozio-psychologischer Verstärkungen, Zwänge und gruppendynamischen Prozesse, die von ideologischen Motivationen unabhängig gewesen wäre, wie Christopher R. Browning meint.“ Friedländer: Vernichtung, S. 18. Musil: Mann, S. 832. Anders: Endzeit, S. 156.
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weiterläuft, mit Kindererziehung, Spaziergängen Verliebter, ärztlichen Sprechstunden, Karriere und sonstigen Sehnsüchten, zivilen Wünschen, dämmernder Melancholie, mit Wachstum, Erfolg oder Erfolglosigkeit usw. usw.: dies, zusammen mit der Gewöhnung, der Gewöhnung an die Angst, das Sichabfinden, das innerliche Abwinken, ja das Gelangweiltsein – das ist schon eine neue, ja die allerneueste Erfindung. Denn – und das ist das Neue daran: es ist akzeptiert.92
Mit Blick auf die heutige Wahrnehmung der Shoah (und also auch in Bezug auf die Interpretation von Eichs Hörspiel) stellt sich die Frage, mit welcher Direktheit Texte auf die Unheimlichkeit von Gewöhnung, ja Langeweile zugehen. Den bisherigen Überlegungen zufolge muss Direktheit nicht notwendig ein Indiz für den Versuch einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Genozid sein. Vielmehr kann die Betonung des Unalltäglichen eine Methode darstellen, das eigene Leben in seiner (unschuldigen) Alltäglichkeit von dem Schrecken abzuheben. Vielleicht erklären sich die Proteste, die besonders der zweite Traum des eichschen Hörspiels nach seiner Erstsendung bei vielen Hörern hervorrief, aus genau diesem Umstand. (Und damit bin ich wieder bei den vielen, eingangs gestellten Fragen zu dieser ‚Ritualmord‘-Geschichte.) Zu überlegen wäre, ob nicht aufgrund der Gewaltsamkeit des literarisch gestalteten Kindsmordes die Anschließbarkeit an die Erfahrung von Gewalt im eigenen Leben unmöglich zu werden schien. Ist also Eichs Text zu gewalttätig gewesen, als dass er zu Beginn der 1950er Jahre hätte dazu beitragen können, den erwähnten, „ganz normalen Männern“ eine neue Sicht auf ihren Alltag und den Alltag der Tätergesellschaft im ‚Dritten Reich‘ überhaupt abzuverlangen? Auf der anderen Seite kann man nicht umhin, auch den umgekehrten Blickwinkel einzunehmen. Wie bereits angedeutet, operiert das Hörspiel nicht allein mit der Ausmalung extremer Gewalt, sondern auch mit Hinweisen auf Zugfenster, an denen Mohn und Raps als Garanten einer Natur vorbeiziehen, die – Schrecken hin, Schrecken her – die Kontinuität von „sonstigen Sehnsüchten“ (so die schon zitierte Formulierung von Kertész) zu verbürgen scheinen. Aber ebenso wie die Darstellung von Gewalt ist auch die erneute Hinwendung zum Alltag nicht unproblematisch. So wie stets das Verhältnis von Alltäglichem und Unalltäglichem, Normalität und Gewalt neu zu überdenken ist, so ist es auch das Verhältnis des Hier und Jetzt zum Dort und Damals. Eichs Träume müssen also noch einmal auf ihre räumliche Dimension hin befragt werden, um die unausdenkliche Verbindung zwischen den beiden Polen – Alltag und Langeweile93 auf 92
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Kertész: „Rede“, S. 29. – Auch Neurath hebt den Aspekt von Gewöhnung und Alltäglichkeit hervor: „Die Wachen kannten die ihnen unterstellten Häftlinge nicht mehr persönlich. Ihr Dienst war nicht mehr Rache, sondern Alltagsroutine.“ Neurath: Terror, S. 27. Bedenkenswert scheint in diesem Kontext die These des ehemaligen Häftlings Neurath: „Das Leben des SS-Mannes ist von Armut geprägt. Ihr Lohn erlaubt es ihnen nur gelegentlich, ein Wochenende in München oder Weimar zu verbringen; ihre übrige Freizeit verbringen sie im Lager. Tatsächlich ist ihr Leben fast genauso eng mit dem Lager verbunden wie das der Häftlinge, und es hilft ihnen nicht viel, dass sie vor dem Zaun sitzen und die Häftlinge dahinter. Sie sind immer noch die meiste Zeit dicht am Zaun.“ Ebd., S. 115. Und weiter: „Die meisten Wachposten misshandeln und schikanieren die Häftlinge, weil sie sich langweilen. Vier Stunden lang stehen sie in der glühenden Sonne oder im Regen, das Gewehr in der Hand, und sehen den Elendsgestalten von Häftlingen zu, wie sie Kies schaufeln oder Schubkarren schieben. Womöglich beneiden sie den Häftling sogar um die paar
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der einen, „Mord als Weltanschauung“ und „Verhaltensform“ auf der anderen Seite – dann doch irgendwie denken zu können.
„MAN WILL DOCH MAL ETWAS HÜBSCHES“ Anzunehmen, dass die Majorität nur in einer Demokratie ausschlaggebend sei, ist eine phantastische Illusion.94
Im Folgenden sollen die schon erwähnten Proteste in den Blick genommen werden, die auf die Erstsendung des Hörspiels folgten. Mein Ziel ist es, die bisher entwickelten Thesen sozusagen praktisch zu erproben. Anders gesagt: Wie ging die Tätergesellschaft post festum mit der Darstellung extremer Gewalt um? Mit welchen rhetorischen Versatzstücken reagierte sie? Gab es Ansätze zur rückblickenden Anerkennung der Tatsache, dass die Gewalt, wenn sie in das Getriebe der psychischen Gewöhnung geraten war, oft zu etwas Alltäglichem gemacht worden war? Ruth Schmitt-Lederhaus dokumentiert in ihrem – im Übrigen wenig anregenden – Buch die Anrufe, die zeitgleich zu bzw. unmittelbar nach der Erstsendung des Hörspiels den Norddeutschen Rundfunk erreichten. Dieser hatte mit ihnen gerechnet und sich entsprechend vorbereitet. Wir haben also zwei Stimmen vor uns: die Stimmen der erregten Hörerschaft und die Stimmen des Rundfunks, die die Entscheidung, das Hörspiel zu senden, zu verteidigen versuchten. Einer der Hörer empörte sich im Austausch mit dem Radio voller Heftigkeit. Das ist ja grauenhaft, was sie da den Leuten auftischen. (Was wollen Sie denn hören?) … Bisschen ‘was Nettes, aber doch nicht so’n grauenhaften Kram von Kindsmord und so’n Scheiß. […] (Was hat Ihnen denn nicht gefallen?) Also, in dem zweiten Traum, da wird ja wohl ein Kind abgeschlachtet oder sowas. Wenn Sie keine anderen Sachen bringen können, dann tun Sie mir leid. Ich weiß nicht, ob da irgendwelchen Ritualmorden das Wort geredet werden soll, oder was das vorstellen soll. 95
Was hier gegeneinandersteht, sind der Ritualmord – der Anrufer geht offenbar davon aus, das Radio propagiere diesen – auf der einen Seite und ein „Bisschen ‘was Nettes“ auf der anderen. Bemerkenswert ist, dass sich die Assoziation zwischen dem ChinaTraum und der Ritualmordlegende mit größter Unmittelbarkeit einstellt. Eine andere Interpretation scheint dem Anrufer gar nicht vorstellbar zu sein. Die Ferne Chinas und die jüngste Geschichte der Juden Europas schieben sich übereinander. Ein anderer Anrufer erklärt, das Hörspiel weise keinerlei Verbindungen zur Realität auf – doch auch ihm rückt diese offenbar beunruhigend nah an seine Erfahrungswelt: „Ach, um
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Schritte vor und zurück, die er Bewegungsfreiheit hat. Und sie fangen an, die Häftlinge herumzukommandieren, nur damit die Zeit vergeht.“ Ebd., S. 117. Jouvenel (ohne weitere Angaben), zitiert nach Arendt: Macht, S. 42. Dieser (namentlich nicht bekannte) Anrufer wird zitiert nach: Schmitt-Lederhaus: Träume, S. 29.
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Gotteswillen, das sind ja Hirngespinste, sind das. Versteh ich nicht. […] Jetzt muss ich bis um zwei Uhr aufbleiben, dass ich mich wieder beruhige.“96 Bei anderen Anrufern kann die Unwillkürlichkeit, mit der das ,Dritte Reich‘ sich als präsentisch erweist, aus den Strafandrohungen geschlossen werden, denen die Rundfunkanstalt bzw. Günter Eich gewärtig sein müssten. Der erste glaubt, sich allein durch die Polizei vor diesem Hörspiel schützen zu können. Auctoritas, non veritas facit legem, könnte man mit Thomas Hobbes sagen: [E]s ist höchste Zeit, dass das abgebrochen wird, das ist ja haarsträubend, was Sie einem da vorsetzen. Kinderverkauf, Kinderbetäubung, um ihnen das Blut abzunehmen, um alten Leuten zu helfen. Das ist ja haarsträubend. Scheint mir höchste Zeit, dass die Polizei da mal einschreitet. […] In der heutigen schweren Zeit, wo jeder zu kämpfen hat, bringen Sie was, dass es einem hochkommt geradezu, ekelerregend ist das ja. […] Das wird höchste Zeit, dass Sie das Hörspiel sofort abbrechen. Sie werden das schon merken. Haben Sie gehört? (Ja, ich höre zu.) Veranlassen Sie das, ich werde im Allgemeinen die Polizei benachrichtigen. Das ist ja unerhört, dass das Volk sich sowas gefallen lässt, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Da schreibt einer sowas hin, und das wird einem noch als anständiger Mensch vorgesetzt!97
Auf das ‚gesunde Volksempfinden‘ der ‚anständigen‘ Menschen sowie auf polizeistaatliche Interventionen („im Allgemeinen“) setzend, hofft der Anrufer, das „Ekelerregende“ der Handlung des zweiten Traumes ein für alle Mal zu beseitigen. Wie stark seine Erregung ist, zeigt sich jedoch nicht allein in seinem Vertrauen auf die Polizei. Interessant ist vielmehr auch, dass er das im zweiten Traum thematisierte Verbrechen durch den Hinweis auf eine bloße Blutabnahme korrekt wiederzugeben glaubt – obwohl dies ja als erstaunliche Verharmlosung des wirklichen Geschehens betrachtet werden muss. Auch bei ihm existieren offenbar psychische Barrieren, die durch das Hörspiel niedergerissen worden sind und jetzt hastig wiederaufgerichtet werden.98 Ein weiterer Anrufer ist dem vorgenannten insofern ähnlich, als auch er nicht als Individuum auftritt, sondern Wert darauf legt, im Namen einer großen Gruppe (also erneut „im Allgemeinen“) zu sprechen. Er und seine Freunde hätten sich am Timmendorfer Strand zusammengefunden. Das Miteinander mit anderen fungiert offenbar als Miniaturausgabe einer zwar in Frage gestellten, doch weiterhin auf ihrem Recht beharrenden ‚deutschen Volksgemeinschaft‘. Der Anrufer vertraut auf „die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv.“99 Ja, sagen Sie mal, kann man den Mensch nicht einsperren? … Das ist ja so trostlos, die Zeiten sind so, dass die Bevölkerung ja eigentlich nervös genug ist. […] Ich kann Ihnen sagen, wir
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Anrufer zitiert nach: ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Sigurd Martin schreibt dazu: „Die massiven Hörerproteste zeigten, dass die Mehrzahl der Hörer ebenso wie die Insassen des Zuges [im ersten Traum; A.P.] reagierten: Sie wollte das Loch im Unterhaltungsprogramm des Rundfunkts möglichst schnell wieder zustopfen.“ Sigurd Martin: Die Auroren des Wort-Bildes. Günter Eichs Maulwurf-Poetik und die Theorie des verstehenden Lesens, St. Ingbert 1995, S. 189. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 179.
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werden entsprechende Schritte unternehmen bei den Zeitungen, dass so ein Kram vorher zensiert wird.100
Die Methoden sind stets die gleichen: Polizei und Zensur bieten allein Schutz vor der „Trostlosigkeit“ einer Wirklichkeit, die in einem Zuge zugegeben und geleugnet wird. Eine Anruferin gibt sich, internalisierte Geschlechterrollen respektierend, verträglicher. Sie sorgt sich vor allen Dingen um die Eindrücke, die ihrer noch jungen Familie zugemutet würden. Nun, in der heutigen Zeit, wo ja alles schon so schwer ist, auch noch diese schweren Träume. Wenn der Verfasser nun zum mindesten etwas leichtere Träume gebracht hätte! Wir sind doch jetzt am Aufbau eines neuen Staates, der doch nicht unterhöhlt wird, so habe ich das aufgenommen. […] Ich weiß, was der Dichter sagen will, aber man will doch mal etwas Hübscheres.101
Der Hinweis auf die „Unterhöhlung“ erschließt sich nicht eindeutig. Schreibt die Anruferin dem Radio die Macht zu, mit Hörspielen wie dem eichschen die Bundesrepublik zu „unterhöhlen“? Oder will sie sagen, dass sie auf die Stabilität dieses jungen Staates vertraut? Insgesamt vermittelt ihr Anruf den Eindruck, dass sie sich noch nicht sicher ist, ob sie die Funktionsweise einer Demokratie ,richtig‘ verstanden hat. Die Formulierung „so habe ich das aufgenommen“ verrät eine Unsicherheit, die sie in Bezug auf ihr eigenes Urteilsvermögen empfindet. – Ein letzter Anruf, der durch seine Länge von den vorherigen absticht und gleich ein ganzes Konglomerat von Assoziationen präsentiert, soll den Blick auf die Rezeption abrunden, die den Träumen 1951 zuteil wurde: Ich meine, man hört es schon an der Sprechweise dieser Leute, dass sie irgendwie, ich möchte nicht sagen, vorbelastet, aber nicht fremd solchen Dingen gegenüber sind. […] (Ja, es ist ein unbequemes Hörspiel, weil es die Zeit so wahnsinnig erhellt, aufreißt, nicht? So ist das Leben, das ist furchtbar, dass das Leben so ist.) Wieso ist das Leben so, haben Sie das Leben ‘mal irgendwo so gesehen? (Na, ist das nicht so?) Haben Sie mal gesehen, dass man irgendwo jemandem das Blut aussaugt? Oder dass einer da vierzig Jahre im dunklen Wagen durch die Gegend fährt und keiner kriecht raus, das ist doch Irrsinn, sowas. Da ist doch ‘ne Atombombe ‘ne Erlösung. Das ist doch Quatsch! (Sehen Sie, das ist es ja!) Wie bitte? (Ich sage, das ist es ja, so ‘ne Träume träumt man, wenn man Angst vor der Atombombe hat, nicht?) Ja, Sie machen den Leuten ja erst Angst mit solchen Sachen, lassen Sie die Leute doch zufrieden damit. Sie sollen uns abends erheitern. […] Ist doch Quatsch! Denn wird da gesprochen von kollektiver Schuld, die anerkannt wird, die sind doch alle verrückt. […] Fährt da so’n Wagen vierzig Jahre, und Sie sagen, die Zeit ist so, wo is sie denn so? Kriege hat’s immer gegeben, und die wird’s auch immer geben, und die werden auch immer schlimmer werden. ([…] [D]ann müssen auch Kriege zu verhindern sein, dann muss die Menschheit endlich aus dieser Angstzeit herausgebracht werden, nicht?) Ja, das ist schön gesagt. Aber da werden wir beide wohl nicht die Ausschlaggebenden sein, da werden zwei Große sein, und einer drückt auf’n Knopf, und da werden Sie gezwungenerweise das Gewehr nehmen und marschieren, und ich auch, oder wir sind vorher schon kaputt, bevor wir’s nehmen können, müssen oder dürfen. Da wird man uns ja nicht nach fragen. 100 Zitiert nach: Schmitt-Lederhaus: Träume, S. 32. 101 Zitiert nach: ebd., S. 43.
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(Schrecklich, nicht?) Aber dann ist’s ja immer noch Zeit genug. Denn wir als Deutsche haben ja sowieso nichts zu melden, in dieser Beziehung nicht mehr, wir werden nur gegangen worden werden. Das ist meine private Meinung.102
Der Vorwurf der Entartung der an der Produktion beteiligten Sprecher (das kriminalistische Stichwort heißt „vorbelastet“) leitet, wie schon bei anderen HörerInnen, zur Szene des ‚Blutsaugens‘ sowie zum Deportationstraum über. Die Idee, „‘ne Atombombe“ könne „‘ne Erlösung“ sein, bleibt von ihrem Objektbezug her unbestimmt. Wäre die Atombombe eine „Erlösung“ für die Leute, die es auch in vierzig Jahren nicht schaffen, aus dem dunklen Wagen zu kriechen? Oder will der Hörer sagen, dass er die Atombombe dem Hörspiel vorzieht? Wenn man davon ausgeht, dass beides ineinandergreift, gehen zugleich auch Bestrafungslust (gegenüber den Juden) und Bestrafungsangst (bezogen auf sich selbst) ineinander über. Offenbar ist, dass es die Kollektivschuldthese ist, die dem Protestierenden als Stachel im Fleische sitzt. Der Verlust von Macht und Ansehen auf internationaler Ebene („Denn wir als Deutsche haben sowieso nichts zu melden.“) gilt ihm als Beweis für die Unmöglichkeit, gegen Kriege etwas zu tun. Deutschland befinde sich zwischen „zwei Große[n]“, von denen einer „auf’n Knopf“ drücken werde. Dass dem Anrufer zugleich auch die Angst vor einer möglichen Zensur seiner Äußerungen im Nacken sitzt, zeigt sich daran, dass er seinen Redestrom am Ende gleichsam zurücknimmt – und zwar mit dem Hinweis, das Ganze sei nur seine „private Meinung“.103 Er spricht also nicht „im Allgemeinen“. Oder wenn, dann nur mit unterschwellligen Ängsten. – Bemerkenswert ist, dass auch der Radiomitarbeiter, der mit der Entgegennahme der Anrufe betraut ist, den Sprung vom Genozid zum Atomkrieg für selbstverständlich hält. Er stellt in dieser Hinsicht keine Gegenstimme dar, sondern findet stimmig, was die Stimme am anderen Ende zu sagen hat. Dieser Umstand verdeutlicht einmal mehr, dass die Logik unterschwelliger Aufrechnungen aus dem sozio-politischen Kontext, in dem Eichs Hörspiel entstand, nicht weg gedacht werden kann.
102 Zitiert nach: ebd., S. 40-41; Hervorhebungen A.P. 103 Die Proteste haben nicht verhindern können, dass die Träume, zusammen mit anderen Eich-Texten, zu den am meisten gespielten Hörspielen der deutschen Funkgeschichte gehören: „[I]n der Tat war Eich während der gesamten achtziger Jahre und in den beginnenden neunziger Jahren stets präsent. Mindestens 199 Realisationen seiner Texte wurden in 13 Jahren gespielt, im Schnitt 15 pro Jahr – kein aktueller Preisträger des Kriegsblindenpreises käme auf solche Zahlen […].“ Krug: „Träume“, S. 33.
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NEUNTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: CHIASMUS DER BLICKE Das Hier und das Dort [T]hat what precisely made a Holocaust out of the event is the unique way in which, during its historical occurrence, the event produced no witnesses. Not only, in effect did the Nazis try to exterminate the physical witnesses of their crime; but the inherently incomprehensible and deceptive psychological structure of the event precluded its own witnessing, even by its very victims.104 [D]as, was aus dem Holocaust ein unvergleichliches Ereignis macht, ist die singuläre Weise, in der das Ereignis, während es sich historisch vollzog, keine Zeugen hervorbrachte. In der Tat versuchten die Nazis nicht nur, die physischen Zeugen ihrer Verbrechen auszurotten, sondern die unverständliche und irre psychologische Struktur des Ereignisses verhinderte seine eigene Zeugenschaft, sogar die der von ihm betroffenen Opfer. [Übersetzung A.P.]
Wie die Analyse der Anrufe zeigt, die in Reaktion auf die Ursendung der Träume beim Rundfunk eingingen, bestanden gewisse politische Tendenzen, die auf den Schutz, die psychologische Umzäunung und Einhegung des scheinbar ‚normalen‘ Alltags zielten, den die Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufzubauen sich bemühten. Die Drohgesten, die sich gegen jeden wandten, der die neue Ordnung der Dinge durch erinnerungspolitische Mahnungen zu stören wagte, zeigt, dass Eichs Hörspiel nur angemessen verstanden werden kann, wenn das Verhältnis, das in der jungen Bundesrepublik zwischen Normalität und Verbrechen, Hier und Dort, Damals und Jetzt bestand, allgemein, d.h. über Eich hinausgehend, ausgeleuchtet wird. Dieser Versuch soll in den folgenden Kapiteln in die Extreme neuer Unverhältnismäßigkeiten getrieben werden. Und zwar scheint es mir unerlässlich zu sein, das bundesrepublikanische Selbstverständnis vor dem Hintergrund der Zeugnisse zu lesen, die von Überlebenden über „Drinnen“ und „Draußen“ geschrieben wurden. Wie reagierte die Tätergesellschaft auf die ‚Zumutung‘, dass dieses Begriffspaar als untrennbar zusammengehörig gedacht wurde? Was zeigen die Reaktionen auf das Bedürfnis der Überlebenden, dieses Verhältnis genau zu bestimmen, für die kollektive, psychologische Situation der Westdeutschen insgesamt?
104 Dori Laub: „Truth and testimony. The process and the struggle“, in: Trauma. Explorations in memory, hg. von Cathy Caruth, Baltimore 1995, S. 61-75, Zitat S. 65; künftig zitiert als: Laub: „Truth“.
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Um diese Fragen zu beantworten, werde ich über die deutsche Perspektive hinausgehen, nämlich Zeugnissen von Überlebenden heranziehen, die aus Frankreich in deutsche Lager deportiert wurden. Die Paarigkeit von „Drinnen“ und „Draußen“ gewinnt dadurch eine zusätzlich dramatische Situation: Das „Draußen“ der eigenen Heimat war für diese Gefangenen weit entrückt. Sie hatten, und zwar auch sprachlich bedingt, notwendig einen Blick, der radikal von Außen kam. Zum Vergleich herangezogen werden soll zugleich Eichs Hörspiel. Die Aufgabe hat darin zu bestehen, sich einzelne Szenen noch einmal in Bezug auf diese raumbezogenen Fragen genauer anzusehen. Wie verhält (oder „unverhält“) sich das „Drinnen“ zum „Draußen“? Für den ersten wie für den zweiten Traum ist eine klare Abgrenzung charakteristisch: Die Zuginsassen sind im Zug, während draußen die Landschaft (mit Löwenzahn und Bäumen) an ihnen vorbeizieht. Im zweiten Traum steht das Hausinnere, in das das Kind gebracht wird, der Außenwelt gegenüber, in die die Eltern, „Dame“ und „Herr“ wieder verlassend, allein hinübergehen. Das „Hier“ und das „Dort“, das „Drinnen“ und das „Draußen“ sind nun aber Konzepte, die zugleich für die Beschreibung von Alltäglichem und Unalltäglichem wesentlich sind. Das „Hier“ der Zuginsassen ist (trotz aller Widerstände der jüngeren Generationen, die nichts als das Zuginnere kennen) dem Unalltäglichen zuzuordnen, das „Dort“ oder „Draußen“ hingegen einem Leben, wie es normalerweise zu sein hätte: frei von Gewalt, freie Bewegung erlaubend. Beide räumlichen Bereiche sind jedoch nicht strikt voneinander getrennt: Das Loch, das mit einem Mal in der Wand des Waggons entdeckt wird, ent-deckt zugleich Blicke nach draußen: Das „Dort“ kann ins „Hier“ hineingenommen werden. Oder anders gesagt: Das „Hier“ definiert sich nicht mehr allein über das, was im Zuginneren, sondern auch über das, was draußen ist. Für die Zeugnisse von Überlebenden, die die Todeszüge erfahren haben, ist die Dialektik von „Hier“ und „Dort“ wesentlich. Sie zu befragen, bedeutet, sich ihrer Erfahrung von Alltag zu nähern – als Barriere gegen den Kitsch. Im Zentrum der nun folgenden Überlegungen soll besonders ein Autor stehen: Robert Antelme, der als Mitglied der französischen Résistance verhaftet und über Buchenwald ins Konzentrationslager Bad Gandersheim, einer Stadt zwischen Hannover und Göttingen, deportiert wurde, von wo aus er im April 1945 an einem Todesmarsch bis zum Konzentrationslager Dachau teilnehmen musste. Dieser „Kazetnik“ besteht darauf, dass seine Zugehörigkeit zum „Hier“ – auf Französisch: „ici“ – der Gefangenschaft zur alles beherrschenden Frage wurde, sobald die Bewegung weg vom „Dort“ – auf Französisch: „là-bas“ – begann. Rhythmisch strukturiert wird sein autobiographischer Text von diesen beiden Worten. Wir begegnen ihnen stets von Neuem. In dieser Hinsicht handelt es sich also für meine Fragestellung nach Raum, Alltag und Gewalt um ein einschlägiges Zeugnis. Les rails sur lesquels glissent les voyages de noces resteront aussi lisses sous notre passage; le jour, dans la campagne, on regardera passer le train; même si l’on devient des rats, un convoi de rats, la campagne restera tranquille, les maisons en place et le cheminot mettra du charbon dans la chaudière. Ce n’est pas vrai, la plus extraordinaire des pensées ne fait pas remuer un caillou. Je peux appeler ceux de là-bas, me vider et les mettre à ma place, dans ma peau: là-bas ils dorment quand je suis ici assis sur la planche. Je ne suis pas maître d’un mètre d’espace, je ne peux pas descendre du wagon pour regarder, je ne suis le maître que de l’espace de mes pieds,
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et il y aurait des centaines de kilomètres à gagner. Eux aussi, là-bas, doivent sentir la maison écrasante et ne plus pouvoir penser que ceci: que la pensée la plus violente ne fait pas remuer un caillou. Si j’étais mort et qu’ils le sachent, ils ne regarderaient plus la carte et ne feraient plus le calcul des kilomètres. Les collines, les fleuves atroces ne mureraient plus la maison; les distances infernales s’annuleraient, l’espace se pacifierait, ils ne seraient plus exilés de la partie du monde respirable.105 Die Gleise, auf denen die Hochzeitsreisen entlanggleiten, werden ebenso glatt bleiben wie bei unserer Fahrt; tagsüber wird man auf dem Land den Zug vorbeifahren sehen. Selbst wenn wir Ratten werden, ein Zug von Ratten, wird es auf dem Land ruhig, die Häuser auf ihrem Platz bleiben, und der Eisenbahnarbeiter wird den Heizkessel mit Kohlen befeuern. Es ist nicht wahr, der außergewöhnlichste der Gedanken bringt keinen Stein zum Weichen. Ich kann nach denen von Dort rufen, mich ausleeren und sie an meine Stelle setzen, in meine Haut: Dort schlafen sie, während ich hier auf den Bohlen sitzen. Ich bin nicht einmal Herr über den Raum meiner Füße, und es wären Hunderte von Kilometern zu überwinden. Auch sie, die dort sind, müssen das erdrückende Haus spüren und können nichts anders mehr denken als dies: dass der gewaltigste Gedanken keinen Stein zum Weichen bringt. Wenn ich tot wäre und sie wüssten es, würden sie die Karte nicht mehr ansehen und keine Berechnung der Kilometer mehr anstellen. Die Hügel, die furchtbaren Flüsse würden das Haus nicht mehr berühren; die höllischen Entfernungen würden aufgehoben, der Raum befriedete sich, sie wären nicht mehr aus dem Bereich der atembaren Welt ins Exil verstoßen. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Das „Ici“ betrifft den Gefangenen: ein Ich, allein in seiner Haut, das sich, auf Schienen gleitend, immer weiter entfernt von Familie und Freunden, von denen es weiß, dass auch sie die räumliche Distanz zu überwinden und damit ihn selbst wieder in ihr eigenes „Ici“ hineinzuholen wünschen. Doch ihr „Là-bas“ ist ebenso wenig der Kraft des Gedankens zugänglich wie das Innere des Zuges. Der Stein (ebenso wie die Gefangenen) unterliegt der Wirklichkeit (und nur ihr). Auch der stärkste Wunsch, ins eigene Zuhause zurückkehren zu dürfen, versetzt keine Berge. Die „Hügel“ und „furchtbaren Flüsse“ sind da, als Faktum, als Qual, die „höllische Entfernungen“ schafft. Dass es zwischen den Räumen, zwischen „Hier“ und „Dort“, keine Brücke gibt, keine reale, sondern nur die imaginäre, die sich in dem Wunsch auftut, die Wirklichkeit möge anders sein, als sie ist, wird beglaubigt durch das, was Raum im „Hier“ des Zuges bedeutet: Nur Herr zu sein über die eigenen Füße, und nicht mehr. Unerträglich an der Bewegungslosigkeit in der Bewegung (von der auch Eich schreibt) ist der Umstand, dass es neben dem „Là-bas“, in das sich das Ich zurückwünscht, ein weiteres „Là-bas“ gibt, doch ein feindliches. Es ist das „Là-bas“ derer, die den Zug in Bewegung gesetzt haben, gleichzeitig aber, unberührt, emotional bewegungslos, selbst die Bewegung des Zugfahrens schätzen: Hochzeitsreise auf glatten Schienen, Alltag. „Die Strecke ist eingleisig. An größeren Knotenpunkten warten wir auf die uns entgegenkommenden Züge“, erinnert sich auch Josef Katz, ein Überlebender des Konzentrationslager Stutthof.106 Noch einmal: Zwei „Là-bas“ treten in der Wahrnehmung des Eingeschlossenen im Kontrast zueinander – das „Là-bas“ von Antelmes Zuhause (dessen Bewohner von dem „Ici“, dem Leiden, der Gewalt affiziert werden, wenn auch nur entfernt) 105 Antelme: Espèce, S. 30; Hervorhebungen A.P. 106 Katz: Erinnerungen, S. 25.
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und das „Là-bas“ von Menschen, die gerade in den Gegenden heimisch sind und bleiben, durch die und in die der Zug führt, das „Là-bas“ der Deutschen. Dem ersten „Làbas“ gilt alle Sehnsucht, dem zweiten unübersteigbare Angst. Primo Levi formuliert die Erfahrung, schon im Zug von der Außenwelt getrennt gewesen zu sein, wie folgt: „Nessuno tentava più, durante le soste, di comunicare col mondo esterno: ci sentivamo ormai ‚dall’altra parte‘.“107 („Niemand versuchte mehr, während der Fahrtunterbrechungen mit der Außenwelt zu kommunizieren: Wir fühlten uns bereits ‚auf der anderen Seite‘.“ [Übersetzung A.P.]) Bei Eich ist ebenfalls von der Angst vor dem „Là-bas“ der „anderen Seite“ die Rede. Wir hatten den Wortwechsel des ersten Traumes schon kennen gelernt, doch es lohnt, ihn sich, unter der Beleuchtung der antelmschen Überlegungen sowie der eigenartigen Zweideutigkeit des zweiten Traumes, noch einmal anzuhören: URALTE Was siehst du? URALTER Das ist die Welt draußen. Sie fährt vorbei. URALTE Siehst du den Himmel, siehst du Bäume? URALTER Ich sehe den Löwenzahn, die Wiesen sind gelb davon. Da sind Berge und Wälder, – mein Gott! ENKEL Kannst du das ertragen zu sehen? URALTER Aber – zögernd – aber etwa ist anders. FRAU Warum siehst du nicht mehr hinaus? URALTER Die Menschen sind anders. URALTE Was ist mit den Menschen? URALTER Vielleicht täusche ich mich. Sieh du hinaus! URALTE Ja. Pause URALTER Was siehst du? URALTE erschrocken: Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten. URALTER Siehst du es auch? URALTE Nein, ich will nicht mehr hinaussehen. Flüsternd: Es sind Riesen, sie sind so groß wie die Bäume. Ich habe Angst. URALTER Wir wollen das Loch verschließen. ENKEL Ja, wir wollen es verschließen. So.108
„Hier“ und „Dort“ sind nicht allein Begriffe des Raumes, sondern auch der Zeit. Das „Dort“ (als das Draußen des Zuges) ist feindlich geworden, war es demnach nicht immer. „Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten“, sagt die Uralte und erschrickt. Die einstige Normalität hat sich gewandelt in den Schrecken von Menschen, die jetzt plötzlich keine mehr sind. In der literarischen Fiktion, sie seien baumgroß geworden, versucht Eich die Idee zu fassen, dass „der Mensch des Menschen Feind“ geworden ist (also doch nicht: immer schon ist, wie an anderer Stelle des Hörspiels behauptet). Das „Dort“ unterliegt also der Zeit, wirft die Frage auf, in welches Verhältnis das „Hier“ des Zuginneren zu setzen sei zu dem, was zeitlich (und erst in einem zweiten Schritt auch räumlich) im „Dort“ geworden ist. Während sich jedoch das „Dort“ des eigenen Werdens nicht bewusst werden muss – die Riesen sind –, steht das Ich, das vom „Dort“ der Normalität vertrieben und ins „Hier“ des Zuges gezwungen worden ist, unablässig vor der Frage, wie es sein kann, dass das „Hier“ auch die zeitliche Bedeutung von „Jetzt“ annimmt, unentrinnbar: 107 Levi: Uomo, S. 16. 108 Eich: Träume, S. 356-357.
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Rien qui déchire; ni la maison, ni la rue de là-bas, ni demain, ici avec le froid. Est-on bien ici? Le calme peut s’étendre ici aussi, un effort devient nécessaire pour vérifier que j’y suis bien, exclusivement, pas ailleurs. Le même principe d’identité que le SS voulait bien établir hier en me demandant de répondre „oui“ à mon nom, je ne cesserai pas de tenter de le reconstruire pour m’assurer que c’est bien moi qui suis là. Mais cette évidence fuira toujours comme elle fait maintenant. Simplement, en remuant, la paille réveille la plaie au tibia, qui réveille la rue de làbas, dans le crâne, qui réveille D. revenant du travail en balançant les bras, et le calme craque et alors je crois que c’est bien moi qui suis ici.109 Nichts, das zerreißt; weder das Haus, noch die Straße dort, noch das Morgen, hier in der Kälte. Sind wir wirklich hier? Die Ruhe kann sich auch hierhin erstrecken, eine Anstrengung wird notwendig, um zu überprüfen, dass ich wirklich hier bin, ausschließlich hier, und nicht woanders. Das gleiche Prinzip der Identität, das die SS gestern durchsetzen wollte, als sie mich auffordert mit „Ja“ auf meinen Namen zu antworten, werde ich unablässig versuchen zu rekonstruieren, und zwar um mich zu vergewissern, dass wirklich ich es bin, der da ist. Aber diese Evidenz wird immer wieder fliehen, so wie sie es jetzt tut. Einfach dadurch, dass ich mich bewege, weckt das Stroh die Wunde am Schienbein, die ihrerseits die Straße von Dort weckt, im Kopf, und die wiederum weckt D. auf dem Rückweg von der Arbeit, die Arme schlenkernd, und die Ruhe bricht entzwei, und jetzt glaube ich, dass wirklich ich es bin, der hier ist. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Zu Robert Antelmes Erfahrungen gehört, dass es ihm zeitweise, doch wiederkehrend unmöglich wird, zu glauben, dass er wirklich im „Hier und Jetzt“ ist. Der Umstand, dass es so unglaublich (und zugleich doch notwendig) ist, vor sich selbst zuzugeben, dass es so ist, wie es ist, springt über in den fundamentalen Zweifel, ob das Ich überhaupt das Ich ist. So wie beim Appell die Aufforderung, auf den eigenen Namen mit „Ja“ (also „Hier“) zu antworten, Entsetzen auslöst – das Ich muss nicht nur zugeben, nicht „dort“ zu sein, sondern auch, dass es selbst und nicht ein anderer an seiner Stelle ist –, so kann die Evidenz auch im Zug selbst nicht länger als solche anerkannt werden. Die Evidenz „flieht stets“ – und mit ihr das Ich vor sich selbst. In Wirklichkeit gilt die Flucht aber gar nicht dem Selbst, sondern dem Hier. Erst wenn dieses, das Hier nämlich, überwunden wäre (dadurch, dass das Jetzt verschwindet), könnte das Ich im vollen Sinne wieder da sein. (Doch das Da wäre dann kein Hier mehr, sondern würde erneut zum Dort.) Doch gerade von der Perspektive auf das Dort (und damit auf ein Danach) ist das Ich abgeschnitten. Der Umstand, dass es sich selbst nicht mehr als Ich wahrzunehmen vermag, hat seinen Grund in der Tatsache, dass die Evidenz des Hier nicht auszuhalten ist. Der Verlust des eigenen Ich wird von Antelme in Bilder gefasst, die mit dem Schlaf in Verbindung stehen. Auf diesen folgt die Rückkehr der Evidenz: als Erwachen zum eigenen Ich. Das Ich erwacht jedoch nicht von selbst, sondern wird geweckt von der Evidenz, die eine des Leidens ist: Die Wunde erwacht. In dem Maße, in dem der Körper als leidender sich selbst wieder zu spüren beginnt – und zwar durch eine minimale Bewegung im Stroh –, ist auch das Dort, das unerreichbare, wieder voll da. So wie das Stroh die Wunde weckt, weckt die Wunde die Straße „dort“ und die Straße mit der
109 Antelme: Espèce, S. 41; Hervorhebungen A.P.
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geliebten, unerreichbaren Person wiederum, als kreisende Bewegung zum Anfangspunkt zurückkehrend, das Ich im Hier und Jetzt. Die Erfahrung, das eigene Ich zu verlieren, ist jedoch nicht einfach als Wunschphantasie anzusprechen, die es erleichtern würde, das Hier auszuhalten. Vielmehr besteht die Evidenz gerade darin, dass der Abstand zum geliebtem Dort mit räumlichen Kategorien gar nicht mehr zu fassen ist. Alle Träume, die auf’s Dort zielen, weichen, sobald die Evidenz erwacht, ihr selbst: der Evidenz. So erinnert sich Robert Antelme in einem ersten Schritt, mit welcher Freude und Hoffnung er und seine Mitgefangenen dem Geräusch der alliierten Flugzeuge gefolgt seien, die ihre Bomben über Deutschland abwarfen: Mélodie de ce bruit dans la nuit. C’est calme, c’est long. On est sous leur toit. Et ça commence: il y a une heure qu’ils étaient là-bas, dans une heure ils y seront revenus. Le rêve: un avion atterrit dans le pré, il nous prend à son bord, on s’envole; deux heures après, je sonne à ma porte. Il serait deux heures du matin. À deux heures du matin, tout à l’heure, heure à laquelle je serai ici, je pourrais être là-bas. Plusieurs fois dans la nuit, on s’arrange de ces calculs.110 Melodie dieses Geräusches in der Nacht. Es ist ruhig, es ist lang. Wir sind unter ihrem Dach. Und es beginnt von Neuem: Vor einer Stunde waren sie noch dort, in einer Stunde werden sie wieder dort sein. Der Traum: Ein Flugzeug landet auf dem Rasen, es nimmt uns an Bord, wir fliegen fort; zwei Stunden später klingle ich an meiner Tür. Es würde zwei Uhr morgens sein. Um zwei Uhr morgens, ganz bald, zu einer Uhrzeit, in der ich hier wäre, könnte ich dort sein. Mehrere Male in der Nacht findet man sich mit diesen Berechnungen ab. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Die Resignation, die sich in die Raum-Träume einschleicht, wird im letzten Satz fassbar: Stets von Neuem macht sich der Träumende klar, dass die Heimkehr keine Wirklichkeit ist, dass also von den Hoffnungen nicht wirklich etwas zu hoffen ist. Auch David Rousset lässt eine seiner Figuren Fluchtträume mit alliierten Flugzeugen träumen, doch auch hier bleibt der Konjunktiv vorherrschend: „Bon Dieu, me dit quelqu’un, si on pouvait avoir une échelle pour grimper là-haut.“111 („Mein Gott, sagt mir jemand, wenn man eine Leiter haben könnte, um da nach oben zu klettern.“ [Übersetzung A.P.]) In einem zweiten Schritt werden bei Antelme weitere Möglichkeiten gedanklich durchgespielt – ihre Vielfalt soll die Evidenz, dass möglich, also wirklich ist, was in Wirklichkeit nur geträumt wird, erhärten: On s’accroche à tout ce qui abolit la distance, à tout ce qui indique qu’elle est franchissable, que l’on n’est pas vraiment dans un autre monde: cinq jours à pied, on est en Hollande, huit jours à pied, à Cologne. Par le parcours avec mes jambes, d’une distance, par la simple marche à pied, tel que je suis ici, en plus ou moins de temps, je peux encore devenir celui qui, à deux heures du matin, aurait sonné à sa porte si l’avion l’avait emporté. 112 110 Ebd., S. 73; Hervorhebung A.P. 111 Rousset: Jours, S. 346. 112 Antelme: Espèce; Hervorhebung A.P. – Die Bedeutung, die Konditionalsätze für die KZGefangenen hatten, betont auch der französische Arzt Wetterwald: „Bientôt l’imagination
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Wir klammern uns an allem fest, was die Entfernung aufhebt, an allem, was zeigt, dass sie überwindbar ist, dass wir nicht wirklich in einer anderen Welt sind: Fünf Tage Fußmarsch und wir sind in Holland, bei acht Tagen Fußmarsch in Köln. Durch den Gang meiner Beine, durch eine Entfernung, durch eine einfache Wanderung zu Fuß, kann ich, so wie ich hier bin, mehr oder weniger schnell noch derjenige werden, der um zwei Uhr morgens an seiner Haustür geklingelt hätte, wenn das Flugzeug ihn denn mitgenommen hätte. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Auf die phantastische Möglichkeit eines Flugzeugs, das mitten im Lager als Befreier landen könnte, folgt schrittweise eine Ernüchterung, die sich als solche aber noch nicht erkennt. Sie besteht darin, dass die Phantasie, das Dort möge im Hier erscheinen und auf diese Weise evident machen, wie leicht es zu erreichen ist, von einem realistischeren Weg-denken hinaus aus dem Lager abgelöst wird: der Berechnung, wie viele Tage es wohl dauern würde, bestimmte Orte, die Richtung Heimat weisen, zu erreichen, wenn es denn möglich wäre, zu gehen, wohin man will. Dass aber diese Möglichkeit, sich selbst in Bewegung zu setzen, ebenso undenkbar ist wie die Hoffnung, ein Flugzeug könne alle Distanzen zum Dort aufheben, zeigt sich sprachlich darin, dass das Ergebnis der Fußwanderung nicht als Ergebnis der Tatsache, dass man Schritt vor Schritt gesetzt hat, angesprochen wird, sondern vielmehr erneut als das Ergebnis eines Flugzeuges, das jedoch nur im Konditionalsatz aufzutreten vermag. Fußwanderung und Flug gehen ineinander über. Die Phantastik der einen Möglichkeit soll die Wirklichkeit der anderen erweisen und umgekehrt die Phantastik der zweiten Möglichkeit die Wirklichkeit der ersten. Die Verdopplung, die Vervielfältigung der Möglichkeiten soll sie überführen in die Wirklichkeit, und damit das Ich ins Dort: Il y a des possibilités infinies. Il n’est même pas nécessaire de franchir des kilomètres. Là, derrière les barbelés, quelques pas et je suis sur la route. Ça y est. Je n’ai qu’à suivre cette route et me guider aux étoiles: je suis rentré dans l’univers de tout le monde. Tout est possible, cette nuit.113 Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Es ist nicht einmal nötig, viele Kilometer zu überwinden. Dort, hinter der Stacheldrahtumzäunung, muss ich nur wenige Schritte tun und ich bin auf der Straße. Schon wär’s geschafft. Ich muss nur dieser Straße folgen und mich an den Sternen orientieren: Ich bin wieder in das Universum aller zurückgekehrt. Alles ist möglich, in dieser Nacht. [Übersetzung und Hervorhebung A.P.]
prend son vol. On fait des projets d’avenir, ou bien on se livre au jeu des ‚si‘ qui permet l’exaltation. Si je m’en sors, je verai telle ou telle chose; si j’en sors, je rendrai les miens heureux, je vivrai d’autre façon; et l’on se sent meilleur, bonifié… Et brusquement, tout s’écroule!“ Wetterwald: Morts, S. 17. („Schon bald erhebt sich die Vorstellungskraft zum Flug. Man schmiedet Zukunftspläne oder gibt sich dem Spiel des ‚Wenn‘ hin, das Verherrlichung erlaubt. Wenn ich hier rauskomme, werde ich das und das sehen; wenn ich hier rauskomme, werde ich die Meinen glücklich machen, werde ich anders leben; und man fühlt sich besser, gebessert… Und ganz plötzlich bricht alles wieder in sich zusammen!“ [Übersetzung A.P.]) 113 Antelme: Espèce, S. 73-74.
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Doch das „Universum aller“ existiert nicht, und dass dem so ist, zeigt bereits die Tatsache, dass die Tendenz, die Phantastik zurückzunehmen in immer bescheidenere, immer näher liegende Möglichkeiten, im Hier bestätigt wird. Denn übrig bleibt selbst von der Straße, die schon mit wenigen Schritten zu erreichen wäre (und zum „Dort“ gehören würde), nur das, was ist: Mon pouvoir retrouvé dans la nuit s’évanouira au réveil. La route ne sera plus que le bout de route qui conduit à l’usine; l’ouest, ce sera le petit bois qui la domine; le reste sera effacé. Partout, il y aura le barbelé, une sentinelle, ma condition. Je penserai et me déplacerai avec sur moi le barbelé, le kapo, la faim, les plaies; j’aurai la tête dans les épaules, je serai courbé, déjà un produit de la captivité, non d’avant. […] Parce que ce qui est, est; ce que nous sommes, nous le sommes; et l’un et l’autre est impossible.114 Meine Macht, die ich in der Nacht wiedergefunden hatte, wird mit dem Erwachen in sich zusammenfallen. Die Straße wird wieder nichts anderes sein als das kleine Wegstück, das zur Fabrik führt; der Westen wird der kleine Wald sein, der sie beherrscht; das Übrige wird ausgelöscht sein. Überall wird es nur den Stacheldraht geben, einen Wachposten, meine Lebensbedingung. Ich werde denken und mich bewegen mit dem Stacheldraht, dem Kapo, dem Hunger, den Wunden auf mir; ich werde den Kopf zwischen die Schultern ziehen, ich werde gekrümmt sein, schon eine Ausgeburt der Gefangenschaft, nicht mehr jemand von vorher. […] Denn das, was ist, ist; das, was wir sind, sind wir; und das eine wie das andere ist unmöglich. [Übersetzung A.P.]
Im Text von Antelme wird deutlich, dass sich der Traum von Befreiung und Rückkehr nach Hause ein Transportmittel zum Ausgangspunkt nahm, das wirklich und wahrhaftig vom Lager aus zu sehen war: das Flugzeug. Primo Levi beschreibt seinerseits, wie er in Monowitz einen ebenso realen, vorbeifahrenden Zug betrachtet habe. Die Träume, die dieser auslöste, sind in ihrer konjunktivischen Form den antelmschen auf’s Engste verwandt. Hinzu kommt jedoch, dass die unterschiedlichen Aufschriften auf den Waggons Traummaterial für die Häftlinge der verschiedensten Nationen bereitstellten. Die deutschen Gefangenen konnten sich in die deutschen Waggons hineinträumen, die französischen in die Waggons der SNCF und die russischen in ihre Riesenwaggons. Was Levi gestaltet, ist dieses Vorbeigleiten des Zuges als Symbol des Leids europaweit. Leid, weil, wie wir bei Antelme gelesen hatten, der Traum weg von „hier“ nach „dort“ nur Augenblicke dauert. In dem Moment, in dem Levis letzter Waggon vorbeigezogen ist, bricht folglich auch der Trost des Konjunktivs ab: … Deutsche Reichsbahn. Deutsche Reichsbahn. SNCF. Due giganteschi vagoni russi, con la falce e il martello mal cancellati. Deutsche Reichsbahn. Poi, Cavalli 8, Uomini 40, Tara, Portata: un vagone italiano. … Salirvi dentro, in un angolo, ben nascosto sotto il carbone, e stare fermo e zitto, al buio, ad ascoltare senza fine il ritmo delle rotaie, più forte della fame e della stanchezza; finché, a un certo momento, il treno si fermerebbe, e sentirei l’aria tiepida e odore di fieno, e potrei uscire fuori, nel sole: allora mi coricherei a terra, a baciare la terra, come si legge nei libri: col viso nell’erba. E passerebbe una donna, e mi chiederebbe, e mi darebbe da mangiare e da
114 Ebd., S. 74.
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dormire. E non crederebbe alle cose che io dico, e io le farei vedere il numero che ho sul braccio, e allora crederebbe…115 Deutsche Reichsbahn. Deutsche Reichsbahn. SNCF. Zwei riesige russische Waggons, mit Hammer und Sichel, die schlecht weggekratzt worden sind. Danach 8 Pferde, 40 Menschen, Tara, Portata: ein italienischer Waggon. … Hineinsteigen, in eine Ecke, gut versteckt unter den Kohlen, und still und ruhig sein, im Dunkel, um endlos den Rhythmus der Räder zu hören, der stärker ist als der Hunger und die Erschöpfung; bis der Zug irgendwann anhalten würde, und ich würde die warme Luft riechen und den Geruch von Heu, und ich könnte aussteigen, ans Sonnenlicht: Dann würde ich mich ruhig auf die Erde legen, um die Erde zu küssen, so wie man es in den Büchern liest: mit dem Gesicht im Gras. Und es würde eine Frau vorbeikommen, und sie würde mich fragen, und sie würde mir zu essen und einen Schlafplatz geben. Und sie würde die Dinge, die ich ihr sage, nicht glauben, und ich würde ihr die Nummer auf meinem Arm zeigen, und dann würde sie glauben… [Übersetzung A.P.]
Die Möglichkeit des „Draußen“ bleibt eine bloß konjunktivische. Alle Träume, die sich auf sie beziehen, stürzen zurück in das Eingeschlossensein im „Hier“. Doch im Unterschied zu Eichs Träumen ist bei Antelme und Levi das Sich-hinaus-Wünschen ins „Draußen“ zentraler Bestandteil der psychologischen Rettungsversuche, die die Gefangenen des „Drinnen“ entwickeln. Sie wenden den Blick vom „Draußen“ durchaus nicht ab. Sie suchen ihn, um die Überzeugung wachzuhalten, dass dann auch umgekehrt auf sie geblickt werden könne. Von Thomassen zwar, doch von solchen, die sich von der Evidenz der eintätowierten Nummer würden überzeugen lassen, dass die Wirklichkeit wirklich war. Die Riesenhaftigkeit der Evidenz „[…] eine quasiverbrechensfreie Strecke.“116
Doch diese Feststellung des Kontrasts zwischen Eich auf der einen und Antelme und Levi auf der anderen Seite resümiert nicht alles. Wenn man erneut auf Eichs Text schaut, dann wird deutlich, dass die Figuren in dem Stadium angekommen sind, das auch Antelme an sich erfahren hat: Was ist, ist. Es gibt kein Dort. Es ist ausgelöscht. Andererseits ist Eichs Hörspiel kein Zeugnis, das auf eigener Erfahrung beruhen würde, sondern der Versuch, sich vorzustellen, was die Erfahrung von Menschen gewesen sein muss, die in Zug und Gefangenschaft geraten waren. Eich geht aus von der Fiktion, durch eine literarische Identifikation an der Qual teilzuhaben. Das Problem an diesem Versuch, etwas, woran die Opfer oft selbst (wie an einen Traum) nicht zu glauben vermochten, glaubhaft, also erlebbar zu machen (wenn auch im Traum), ist ein räumliches. Eich macht aus seinem Hier (das ein Hier in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft ist) ein Dort, doch ohne sich voll bewusst zu machen, dass das neue Dort nie wirklich ein Hier in dem Sinne werden wird, den Antelme und andere Überlebende, stets von Neuem (und zwar im Angesicht der „fliehenden Evidenz“) zu be-
115 Levi: Uomo, S. 38. 116 Giordano: Zweite Schuld, S. 33.
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schreiben versuchten. Das neue Hier von Eich bleibt Fiktion. Eich (und mit ihm seine HörerInnen) haben die Freiheit, es jederzeit gegen ihr wirkliches Hier (das für die Gefangenen das Dort war) einzutauschen. Für Gefangene wie Antelme oder Delbo waren Hier und Dort hingegen nicht mehr zum gleichen Universum gehörig. Sie erlebten, was Soshana Felman „events in excess of [their; A.P.] frames of reference“ („Ereignisse, die ihren Bezugsrahmen sprengen“ [Übersetzung A.P.]) nennt.117 Rousset betont denn auch, dass viele Gefangene das Sich-hinaus-Denken aus dem Lager als Gefahr für das eigene, psychologische Gleichgewicht gefürchtet und gemieden hätten. Die „Wenn“-Spiele galten als gefährlich: „Pour vivre dans les camps, il ne fallait point en sortir.“118 („Um in den Lagern zu leben, durfte man sie nicht verlassen.“ [Übersetzung A.P.]) Doch was geschah, als die Überlebenden sie nach ihrer Befreiung dann doch verlassen konnten? Was sprachen diejenigen, die die ganze Zeit über draußen geblieben waren? Tu les entends dire: „J’ai failli tomber. J’ai eu peur.“ Savent-ils ce que c’est, la peur? Ou bien: „J’ai faim. Je dois avoir une tablette de chocolat dans mon sac.“ Ils disent: j’ai peur, j’ai faim, j’ai froid, j’ai soif, j’ai sommeil, j’ai mal, comme si ces mots-là n’avaient pas le moindre poids. Ils disent: je vais voir des amis. Des amis… Des gens chez qui on va dîner ou jouer au bridge.119 Ich höre sie sagen: „Fast wäre ich hingefallen. Ich habe Angst gehabt.“ Wissen sie, was das ist, die Angst? Oder sie sagen: „Ich habe Hunger. Ich muss noch eine Tafel Schokolade in meiner Handtasche haben.“ Sie sagen: Ich habe Angst, ich habe Hunger, mir ist kalt, ich habe Durst, ich bin müde, ich habe Schmerzen, als ob diese Wörter nicht das geringste Gewicht hätten. Sie sagen: Ich werde Freunde besuchen. Freunde… Leute, bei denen man zu Abend isst oder Bridge spielt. [Übersetzung A.P.]
Fast die gleichen Wörter und Beispiele verwenden Antelme und Levi, um die Sprachlosigkeit der Überlebenden zu veranschaulichen. Auch sie wollen zeigen, dass die Wörter nicht mehr das Gleiche meinten wie zuvor: Là-bas, ils disent: „Je sors“; ils descendent l’escalier, ils sont dehors. Ils disent: „Je vais m’asseoir“, ils disent: „On va dîner ensemble“, ils disent: „Je vais… “ et ils vont, ils font. „Je“, c’est le pain, le lit, la rue. Ici, on peut seulement dire: „Je vais aux chiottes“. Elles sont sans doute ce qui correspond mieux ici à ce qu’on appelle communément là-bas liberté.120 117 Soshana Felman: „Education and crisis, or the vicissitudes of teaching“, in: Trauma. Explorations in memory, hg. von Cathy Caruth, Baltimore 1995, S. 13-60, Zitat S. 16; künftig zitiert als: Felman: „Education“. 118 Rousset: Jours, S. 186. 119 Delbo: Auschwitz, Bd. 3, S. 60-61. 120 Antelme: Espèce, S. 112; Hervorhebungen A.P. – Als weiteres Beispiel könnte ein Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen von Maurice Benroubi dienen, eines aus Griechenland stammenden, doch in Frankreich lebenden Juden, der nach Auschwitz deportiert wurde: „Les tueurs rentreront chez eux après le travail, comme les tueurs des abattoirs, sans complexes. Ils dîneront avec leur femme et leurs enfants, mangeront de bon appétit, et ils feront des caresses à leur chien ou à leur chat.“ Maurice Benroubi: Le petit arbre de Birkenau. Suivi du Journal de Rose, Paris 2013, S. 21. („Die Schlächter werden nach ihrer Arbeit
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Dort sagen sie: „Ich gehe aus“; sie steigen die Treppe hinunter, sie sind draußen. Sie sagen: „Ich werde mich setzen“, sie sagen: „Wir werden zusammen zu Abend essen“, sie sagen: „Ich werde…“ und sie gehen, sie machen. „Ich“, das ist das Brot, das Bett, die Straße. Hier kann man nur sagen: „Ich gehe zum Scheißhaus.“ Das ist zweifelsohne das, was hier am besten dem entspricht, was man dort gemeinhin Freiheit nennt. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Wenn die Worte der einen Welt sagen, was das Ich durch diese nicht nur hat, sondern auch ist – Brot, Bett, Straße als Bezugsrahmen einer Lebenswelt, die allererst Voraussetzung für so etwas wie ein „Ich“ ist –, dann ergibt sich im Umkehrschluss, dass die Gefangenen nicht nur in Bezug auf ihre Habe ein Nichts sind (eben weil sie fast nichts besitzen), sondern das, was sie haben, auch sind: ein „Scheißhaus“. – Eine ähnlich krasse Kluft zwischen zwei Erfahrungswelten sieht Levi, doch er betont zusätzlich die Distanz zwischen dem einstigen Ich in der Freiheit und dem Ich des Gefangenen: Come questa nostra fame non è la sensazione di chi ha saltato un pasto, così il nostro modo di aver freddo esigerebbe un nome particolare. Noi diciamo „fame“, diciamo „stanchezza“, „paura“ e „dolore“, diciamo „inverno“, e sono altre cose. Sono parole libere, create e usate da uomini liberi che vivevano, godendo e soffrendo, nelle loro case. Se i Lager fossero durati più a lungo, un nuovo aspro linguaggio sarebbe nato; e di questo si sente il bisogno per spiegare cosa è faticare l’intera giornata nel vento, sotto zero, con solo indosso camicia, mutande, giacca e brache di tela, e in corpo debolezza e fame e consapevolezza della fine che viene.121 Wie dieser unser Hunger nicht das Gefühl von jemandem ist, der eine Mahlzeit übersprungen hat, so würde unsere Art, zu frieren, ein besonderes Wort verlangen. Wir sagen „Hunger“, wir sagen „Müdigkeit“, „Angst“ und „Schmerz“, wir sagen „Winter“, und es sind andere Dinge. Es sind freie Worte, geschaffen und verwendet von freien Menschen, die im Genuss wie im Leid in ihren Häusern lebten. Wenn die Lager noch länger bestanden hätten, wäre eine neue, bittere Sprache geboren worden; und nach dieser sehnt man sich, um zu erklären, was es heißt, einen ganzen Tag im Wind, bei Minusgraden zu schuften, bekleidet nur mit einem Hemd, einer Unterhose, einer Jacke und einer Kniehose aus Sackleinen, und im Körper Schwäche und und Hunger und das Bewusstsein des Endes, das näherrückt. [Übersetzung A.P.]
Daraus folgt in Bezug auf das, was vorher, in der ‚normalen‘ Welt, war: I miei giorni erano lieti e tristi, ma tutti li rimpiangevo, tutti erano densi e positivi; l’avvenire mi stava davanti come una grande ricchezza. Della mia vita di allora non mi resta oggi che quanto basta per soffrire la fame e il freddo; non sono più abbastanza vivo per sapermi sopprimere.122 Meine Tage waren fröhlich und traurig, doch allen trauerte ich nach, sie waren dicht und positiv; die Zukunft stand vor mir wie ein großer Reichtum. Von meinem einstigen Leben bleibt mir
nach Hause gehen, so wie die Schlächter in den Schlachthäusern, ganz ohne Komplexe. Sie werden mit ihrer Frau und ihren Kindern bei gutem Appetit zu Abend essen, und sie werden ihren Hund oder ihre Katze streicheln.“ [Übersetzung A.P.]) 121 Levi: Uomo, S. 110. 122 Ebd., S. 127.
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heute nur das, was ausreicht, um unter dem Hunger und der Kälte zu leiden; ich bin nicht mehr lebendig genug, um in der Lage zu sein, mich selbst auszulöschen. [Übersetzung A.P.]
Mit Levis Hinweis, wie unvereinbar die beiden Welten gewesen seien, möchte ich den Gang durch das Hier und Dort autobiographischer Shoah-Zeugnisse abschließen und erneut zu Eichs Hörspiel zurückkehren. Die ganze – nicht zuletzt sprachliche – Dramatik, für das „Hier“ nicht die richtige, „bittere“ Sprache zur Verfügung zu haben, sollte deutlich geworden sein. Das Problem, das mir vor dem Hintergrund zweier Welten als Trennung zweier Sprachen mit Eichs Hörspiel vermacht zu sein scheint, besteht nun darin, dass er direkt auf sein Ziel losgeht: Der Alptraum führt in den Zug hinein, ohne Umwege. Das Hörspiel sagt gleichsam: „Ich bin hier und nicht woanders.“ Es nimmt die Evidenz für sich in Anspruch, dass Figuren, die im Zug sind, im Zug sind. Im Blick auf den entgegengesetzten Pol – das Dort des Lebens draußen – behauptet der Traum zugleich, dass dessen Wirklichkeit sich auf derart dramatische Weise verändert habe, dass die, die hier seien, ihren Anblick nicht mehr zu ertragen vermögen: Die Eingesperrten sehen keine normalen Menschen mehr, müssen ihren Blick abwenden. In der Wirklichkeit des totalen Staates waren die Menschen aber durchaus keine Riesen, sondern Menschen, die in ihre üblichen Tätigkeiten, in Alltag also eingebunden waren. So erscheint die Hervorhebung eines großen, d.h. deutlich sichtbaren Unterschieds zwischen den Opfern im Zug auf der einen und den TäterRiesen draußen auf der anderen Seite als ein anachronistischer. Mit Robert Stichweh ist in Parallele zum Motiv des „Monsters“ für das des „Riesen“ festzuhalten: Nachdem man nicht mehr mit Monstren rechnet, konzentriert sich die Beobachtung des Körpers des Fremden auf die kleinen Unterschiede. Wenn Robert Redfield behauptet, das Weltbild einfacher Gesellschaften werde vor allem durch zwei binäre Oppositionen – „Mensch/Nichtmensch“ und „Wir/Sie“ – organisiert, die in der Regel übereinandergeblendet würden, lässt sich umgekehrt für die Moderne sagen, dass diese beiden Unterscheidungen fast immer entkoppelt sind. Die Unterscheidung „Wir/Sie“ (oder „eigen/fremd“) ruht deshalb auf den kleinen Differenzen, die am menschlichen Körper allenfalls noch beobachtbar sind. Für diese stellt das 19. und 20. Jahrhundert den neuen Begriff der Rasse zur Verfügung, der die interne Differenzierung der Menschheit gemäß körperlichen Merkmalen bezeichnet. „Rasse“ ist die stärkste Form, ethnische, nationale und andere Unterschiede, die Fremdheit konstituieren, auf körperlich sichtbare Unterschiede zurückzuführen.123
Der in jeder Primärsozialisation vorkommende Unterschied bezüglich der Körpergröße zwischen bereits Er-Wachsenen und Wachsenden (also Kindern) gehört zu den universellen, kulturübergreifenden Erfahrungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Eich greift also auch in der Hinsicht auf ein archaisches Deutungsmuster zurück, dass er sich den Vertretern der Opferseite eine Art von Kinderperspektive zuschreibt: Ihnen erscheinen die Täter groß, weil sie selbst so klein sind. In Wirklichkeit hatten die Opfer jedoch sowohl im konkret-körperlichen als auch im übertragenen Sinne (z.B. von ihrer ökonomischen oder sozialen Position her) oft die gleiche Größe wie die Täter. Daraus ist zu schließen, dass Eichs Text die vollkommene Unschuld der Deportierten über eine Darstellungstechnik zu demonstrieren versucht, die auf Infantilisierung beruht: 123 Stichweh: Fremde, S. 63-64; Hervorhebung A.P.
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Die Juden fürchten sich, als stünden sie wie Kinder vor einem körperlich übermächtigen Erwachsenen. Diese Interpretation erscheint als Versuch, komplexe Machtkonstellationen in geradezu mythisch-einfache Schemata von Welterfahrung zu überführen – darin erneut Parallelen zu Fortes Romantrilogie Das Haus auf meinen Schultern aufweisend (man denke an David und Goliath). Als ein Beispiel, das die Unvereinbarkeit der Täter mit der Idee von Riesenhaftigkeit vor Augen führt, kann ein Buch dienen, in dem die Geschichte der deutschen Eisenbahn im Zweiten Weltkrieg rekonstruiert wird. Die Akteure, die die Züge am Laufen hielten, waren furchteinflößend nicht aufgrund dämonischer Größe, sondern aufgrund administrativer Effizienz, und diese war wiederum das Ergebnis vieler kleiner (technischer wie organisatorischer) Maßnahmen, die erst durch ihre Bündelung zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des deutschen (und europäischen) Eisenbahnsystems führten, nämlich zu dem, was Paul Martin Neurath das die „Häftlinge zu Tode zu [O]rganisieren“ nennt.124 Sehen wir uns die Rhetorik dieses historischen Abriss’ einen Augenblick lang an, um zu sehen, wie hier „das Dort“ und „das Hier“ verhandelt (oder ausgeblendet?) werden: Zur Unterstützung der vom Beauftragten für den Vierjahresplan erlassenen Anordnung vom 30.5.1942 startete das Reichsverkehrsministerium mit Hilfe des Reichspropagandaministerium, das hierfür alle Mittel besonders die Presse und den Rundfunk zur Verfügung stellte, eine großangelegte Propagandaaktion zur Beschleunigung des Transportmittelumlaufes. Diese Aktion sollte der breiten Öffentlichkeit die in der letzten Zeit getroffenen Maßnahmen zur Beschränkung des Verkehrs und zur Beschleunigung des Transportmittelumlaufs nahebringen und Verständnis für die dem deutschen Verkehrswesen gestellten gewaltigen Kriegsaufgaben erwecken. Unter dem Motto „Räder müssen rollen für den Sieg“ wurden alle aufgefordert, die Eisenbahnen durch helfende Mitarbeit zu unterstützen. Der Wortlaut der Propagandaaktion wurde in den in Hamburg erscheinenden Verkehrsnachrichten veröffentlicht. Unter anderem heißt es in diesem Aufruf: „Die Reichsbahn ist ein Teil der Front. Sie allein kann nur einen Teilerfolg erringen. Entscheidendes hängt von der Mitarbeit der Verkehrstreibenden ab.“ Die festen Ladefristen wurden verkürzt und auf die Fahrpläne abgestimmt. Ferner wurden die Wagenstandgeldsätze und das Lagergeld für Stückgüter stark angehoben. Auch die Wehrmacht musste Wagenstandgeld bezahlen. Für vorzeitig entladene Wagen gab es Prämien. Mit Hilfe von Fahrbereitschaften und Ladekolonnen konnten Wagen bereits bei drohender Überschreitung der Abnahmefristen zwangsweise ent- und beladen werden. Kleinere Wagenschäden sollten gegen Vergütung durch Empfänger behoben werden. Die bahnamtliche Untersuchungsfrist für Güterwagen wurde von drei auf vier Jahre erhöht.125 124 Neurath: Terror, S. 127. 125 Eugen Kreidler: Die Eisenbahnen im Machtbereich der Achsenmächte während des Zweiten Weltkriegs. Einsatz und Leistung für die Wehrmacht und Kriegswirtschaft, Göttingen, Frankfurt, Zürich 1975, S. 229. (Die Dokumente betreffen: Erlass des Reichsverkehrsministeriums Pr Az 64 vom 20.6.1942, betr. Propagandaaktion „Räder müssen rollen für den Sieg“. Der Erlass trägt die Unterschrift Ganzenmüllers. Erlass in der Unterlagensammlung der DB in Nürnberg, Anlage 19, Beilage 1. Aufruf der Deutschen Reichsbahn an die Verfrachter „Räder müssen rollen für den Sieg“, siehe Bild 40; Verkehrsnachrichten Nr. 134, 137 u. 140 vom 12., 16. u 19.6.1942, in: Unterlagensammlung der DB in Nürnberg, in Anlage 19, Beilage 2.; zur zwangsweisen Ent- und Beladung:
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Wenn man diese Sätze liest, fällt ihre Nüchternheit auf. Sie entspricht der Tatsache, dass das Eisenbahnsystem ein riesiges Getriebe darstellte, dessen einzelne Beteiligten keineswegs Riesen in einem unerreichbaren „Dort“, sondern kleine Rädchen waren. Der Autor, Eugen Kreidler, der vom März 1942 bis zum Kriegsende „Chef des Transportwesens“ im Oberkommando des Heeres war und dort zuletzt als Leiter der Verbindungsgruppe des Reichsverkehrsministeriums fungierte, gesteht Adjektive, die auf Größe (d.h. Riesenhaftigkeit) verweisen, nur zwei Bereichen zu: der Propagandaaktion sowie den Kriegsaufgaben, die beide „gewaltig“ gewesen seien. Aber so wie die Verwendung dieses Adjektivs in gerade diesem Kontext die unterschwellig apologetische Funktion des Buches erkennen lässt – Kreidler möchte sich und seine Kollegen reinwaschen von dem Vorwurf, sie hätten im Krieg nicht das Nötige getan, um den Zugumlauf auf ein Niveau zu heben, das den Kriegsbedürfnissen entsprach, erkennt also nicht, dass gerade in ihrer Effizienz das Problem lag126 –, so stimmt auch die Verwendung des Bildes von „Riesen“ bei Eich bedenklich. Zu behaupten, man sei durch den Traum nicht mehr hier, sondern dort (nämlich im Zug), um, durch einen Umschlag der Perspektive, aus dem Zuginneren wieder hinauszuschauen aus dem neuen Hier ins Dort (wo „Riesen“ hausen127 bzw. wüten), bedeutet, eine klare Grenzziehung zwischen Hier und Dort sowie zwischen der Tätergesellschaft und sich selbst vorzunehmen. Auf den ersten Blick könnte man argumentieren, dass dagegen nichts einzuwenden ist, denn immerhin betont ja auch Antelme, dass die Zusammengehörigkeit der Räume zerstört worden sei und nur noch das Hier existiert habe – und zwar geronnen zu einem „Überall“: „Partout, il y aura le barbelé, une sentinelle, ma condition. Je penserai et me déplacerai avec sur moi le barbelé, le kapo, la faim, les plaies […].“128 („Überall wird es nur den Stacheldraht geben, einen Wachposten, meine Lebensbedingung. Ich würde denken und mich bewegen mit dem Stacheldraht, dem Kapo, dem Hunger, den Wunden auf mir.“ [Übersetzung A.P.]) Doch auf den zweiten Blick ist gerade die Evidenz, die implizit ist in der Behauptung, böse Menschen seien Riesen und die nicht bösen seien hier, völlig abgetrennt vom Dort, – Verkitschung. Es ist die Umstandslosigkeit, mit der Eich die Zugänglichkeit einer Erfahrung behauptet, die Erlass RIM I Ra 6451/42/447 vom 4.6.1942, abgedruckt in: Die Reichsbahn 1942, S. 297 f.) 126 Zur Erklärung dieser Haltung ist zu ergänzen, was sich im Klappentext des Buches über den Autor an Informationen findet: Er sei nach dem Kriege „in leitender Stellung im Betriebsdienst der Deutschen Bundesbahn (Oberbetriebsleiter, Gbl Süd) tätig gewesen.“ Ebd. Klappentext. 127 Am Beispiel der verbreiteten Vorstellung, Juden seien im Durchschnitt etwas kleiner als Europäer, zeige sich, „dass in der Moderne (nach Abschaffung der Monstren) kleine Differenzen genügen, während ältere Gesellschaften, wenn es ihnen um die Beschreibung des Fremden ging, diesen gern als Riesen oder als einen Pygmäen identifizierten. Mit der Körpergröße ist nun von vornherein eine Variable ins Spiel gebracht worden, die sich für das Anschließen hierarchischer Klassifikationen eignet. Die Körpergröße scheint eines der wenigen Universalien sozialer Klassifikation zu sein, und sie verbindet sich als ein solches Universal in einer Vielzahl von Gesellschaften unmittelbar mit der Frage der Zuschreibung sozialen Rangs für die betreffende Person.“ Barry Schwartz: Vertical classification. A study in structuralism and the sociology of knowledge, Chicago 1981. 128 Antelme: Espèce, S. 74; Hervorhebung A.P.
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sich doch den Opfern selbst immer wieder entzog – die Evidenz floh –, die es noch einmal unter Zuhilfenahme der Umständlichkeit zusammenzulesen gilt, mit der Bedächtigkeit also, mit dem tastenden Kreisen um die immer wiederkehrenden Worte „Hier“ und „Dort“, die Antelmes Text (und Texte von anderen Überlebenden) kennzeichnen. Bei Eich hat man den Eindruck, dass er noch nicht vorgedrungen ist zu der Schärfe des Blickes, den die Gefangenen aufgrund ihrer Erfahrung auf die Welt „dort“ warfen. Er lotet die Frage, was es bedeutet, Täter zu sein, nicht wirklich aus, bleibt stehen bei der Einfachheit der märchenhaften Formel, die Menschen draußen seien zu Riesen (d.h. „böse“) geworden. Blickwechsel Sie, unbewegter Beobachter, wirft einen undurchdringlichen Schatten auf sich […]. 129
Anders als bei Eich sind bei Antelme Hier und Dort allgegenwärtig, doch gerade als Kritik daran, dass die Grenze zwischen ihnen von Seiten derjenigen, die die Freiheit hatten, sich zu bewegen, wohin sie wollten, nicht übersprungen worden ist – noch nicht einmal gedanklich, als erste Annäherung an die Erfahrungen der Gefangenen, die von den Deutschen zum „Kazett“, d.h. zum „neutro singolare“ (zum „Neutrum im Singular“ [Übersetzung A.P.]), gemacht worden waren.130 Was fehlt, ist also die Annäherung an das, was die Zugehörigkeit zur Seite der Gewalthaber bedeutete: Sur la route qui longe le camp, des hommes passent, coiffés de passe-montagnes. Parfois, ils tournent la tête, ils voient derrière les barbelés, sur la neige, par petits essaims, ces formes qui se traînent. Eux marchent vite sur la route, ils ont la jambe nerveuse, l’œil vif. Ici, derrière le barbelé, chaque pas compte. Sortir la main de sa poche est une dépense. Chaque mouvement tend à nous ruiner. On voit sur la route l’homme qui marche dégagé malgré le froid, qui fait une série de pas rapides, qui se mouche, balance les bras, tourne la tête par saccades pour rien, qui fait une foule de gestes inutiles, d’une générosité merveilleuse, atroce. Pour nous, le trajet d’un tas de planches à l’autre est un total d’efforts dont chacun à lui seul est une histoire complète, depuis la prévision des risques, du danger, de la dépense sans retour, le refus, jusqu’à l’exécution dans la frayeur et la haine. L’homme de la route ne sait toujours rien; il n’a vu que le barbelé et, de ce qui est derrière, tout au plus des prisonniers.131 Auf der Straße, die am Lager vorbeiführt, gehen Menschen vorbei, die nach Bergsteigerart frisiert sind. Manchmal drehen sie den Kopf, sie sehen hinter dem Stacheldraht auf dem Schnee in kleinen Schwärmen diese Formen, die sich mühsam dahinschleppen. Sie selbst marschieren hingegen schnell die Straße entlang, sie haben nervöse Beine, ein waches Auge. Hier, hinter dem Stacheldraht, zählt jeder Schritt. Die Hand aus der Tasche zu ziehen, ist ein echter Kraftaufwand. Jede Bewegung birgt die Tendenz, uns zu zerstören. Man sieht auf der Straße den Mann, der trotz der Kälte mit leichter Kleidung herumläuft, der eine Reihe von schnellen Schritten macht,
129 Wolf: Kindheitsmuster, S. 428. 130 Levi: Uomo, S. 108. 131 Antelme: Espèce, S. 161; die ersten Hervorhebungen von A.P., die letzte vom Autor selbst.
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der sich die Nase putzt, die Arme schlenkert, den Kopf ruckweise dreht, einfach so, der eine Menge nutzloser Gesten macht, all das von einer wunder- und furchtbaren Großzügigkeit. Für uns ist der Weg von einem Haufen Balken zum anderen eine totale Anstrengung, von der jede für sich genommen schon eine ganze Geschichte ergibt, von der vorausschauenden Sicht auf die Risiken, von der Gefahr, der Kraftvergeudung ohne Widerkehr, der Ablehnung bis hin zur Ausführung der Arbeit in Angst und Hass. Der Mann auf der Straße weiß noch immer nichts; er hat nur den Stacheldraht gesehen und hinter diesem höchstens Sträflinge. [Übersetzung und die beiden ersten Hervorhebungen von A.P.]
Was die Texte von Antelme und Eich unterscheidet, ist der Umgang mit Blickwechseln. Das Ich in Antelmes autobiographischer Rückschau schaut nicht nur aus dem Lager heraus, auf die Deutschen, die sich auf den Wegen am Lager entlang bewegen, sondern es reflektiert sich selbst auch als ein Mensch, der von Außen im Lager von Deutschen, die draußen sind, angeschaut wird. Das bedeutet, dass beide Seiten einander – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise – betrachten: mit so etwas wie Interesse blicken diejenigen, die im Hier des Lagers, mit Gleichgültigkeit, nichts fixierend diejenigen, die Dort, außerhalb des Lagers, sind: „Chiasmus der Blicke“132. Dass in Eichs Hörspiel der Waggon zunächst ganz und gar verschlossen ist, ohne jede Öffnung, impliziert nicht nur, dass die Eingeschlossenen nicht hinaus-, sondern auch, dass die, die draußen sind, nicht hineinschauen können. Diese Konstellation führt ihrerseits zu einer Analyse, die so etwas wie Zeugenschaft über die Züge – und zwar von Seiten derjenigen, die von den Deportationen nicht betroffen waren – für unmöglich erklärt. Es ist, als könnten die Riesen, die draußen sind, wirklich nichts vom Zuginneren wissen – der Zug war ja hermetisch verschlossen. Die Wege, die viele Deutsche alltäglich zurückzulegen hatten, führten jedoch an Bahnhöfen, Lagern, Straßen und Plätzen, an deren Bau die Gefangenen eingesetzt wurden, vorbei. Blicke waren also möglich, mitunter sogar weitgehend ungehindert. Zu präzisieren ist: Sie erfolgten nicht etwa durch ein Loch in der Planke, das von den Gefangenen sogleich wieder zugestopft worden wäre. Mit der Möglichkeit offener Blicke war aber ein Anspruch vermacht: Weil die Gefangenen wussten, dass man sie in der Mühsal jeder kleinsten Bewegung sehen konnte, betrachteten sie ihrerseits die Bewegungen derjenigen, die, wenn sie denn wirklich hingesehen hätten, hätten wissen könnten, was im Lager geschah. Anders gesagt: Die Wirklichkeit von Hier wurde mit der Wirklichkeit von Dort verglichen und der unüberbrückbare Abstand festgehalten, der zwischen beiden bestand, weil es zu keinen Blicken kam – Blicken, deren „lange Spitze am Ende ein Häkchen“ hätten haben müssen.133 132 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 237; künftig zitiert als: Bredekamp: Bildakt. Er bezieht sich dabei auf den Medusa-Mythos: „Dass sich der Betrachter angeblickt wähnt, obwohl er selbst die Hoheit des Augenmerks zu besitzen glaubt, gehört zu den Berichten und Reflexionen, in denen sich der Medusa-Mythos in immer neuen Varianten im Kunstwerk selbst zeigt.“ Ebd. 133 Das Zitat stammt von Musil: Mann, S. 884. – In diesem Kontext ist auch die folgende Feststellung Eugen Kogons wichtig, der sich über den Kontakt zur Außenwelt wie folgt äußert: „Wenn ich auf Transporten in einem Haufen von sechzig bis hundert Mann, alle verwahrlost, alle mit Stahlfesseln aneinandergekettet, über die Straßen Deutschlands, über seine Plätze geführt, in Bahnhofshallen zu halbstundenlangem Warten aufgestellt wurde
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Sehen wir uns noch einmal Antelmes Text an. Der Abstand ergibt sich bei ihm nicht allein daraus, dass für die Gefangenen jede Bewegung eine „dépense sans retour“, eine „Kraftvergeudung ohne Widerkehr“ ist, und für die Freien, die Deutschen draußen, nicht, sondern auch daraus, dass die Freien nicht gewillt sind, wahrzunehmen, dass Bewegung dort drinnen, im Lager, etwas vollkommen Neues bedeutet. Die Bewegungsmöglichkeiten, die den Gefangenen als „merveilleux“ und „atroce“, d.h. „wunder- und furchtbar“ erscheinen, ist für den vorbeilaufenden Wanderer schlicht alltäglich: Er schnäuzt sich die Nase, dreht den Kopf, bewegt die Arme, als wäre dies die Normalität. In Wirklichkeit ist nicht nur die Bedeutung des Zugfahrens von Grund auf aus den Fugen geraten (keine Hochzeitsreise ohne Deportation, keine Deportation ohne Hochzeitsreise), sondern auch die des einfachen Gehens: kein forscher Wanderschritt ohne die schleppende Bewegung von Gefangenen, für die jeder Schritt eine „totale Anstrengung“ ist. Bei Antelme ist die Forderung spürbar, dass der Starke draußen, weil er die Schwäche der Gefangenen, die Todesnähe ihrer Bewegungen sehen kann, diese auch wahrnehmen müsste. Bei Eich hingegen bleibt die Vorstellung, dass die Riesen sehen und wahrnehmen könnten, ausgespart. Es ist, als sei es noch zu früh für einen Blickwechsel, zu früh für eine literarische Imagination, in der die Berührung, der Kontakt zwischen zwei Welten thematisch würde. Das, was Horst Bredekamp, das „Muster der Blickabwehr“ nennt, greift.134 Seht! Seht hin! Aus der Traum […]. Und wo bleibt euer Endsieg?135
Das Schwierige an der wirklichen Beziehung zwischen den deportierten Minderheiten und den deutschen (und dann auch europäischen) Mehrheitsgesellschaften bestand darin, dass zwar der Abstand zwischen den jeweiligen Erfahrungswelten beider total war, diese Scheidung andererseits aber durchaus einherging mit Überschneidungen. Oder anders formuliert: Die Erfahrungen der Gefangenen waren den Erfahrungen der Täter zwar strikt entgegengesetzt, doch waren der „Chiasmus der Blicke“ und damit die Möglichkeit einer Art von Gegenseitigkeit der Wahrnehmung durchaus gegeben. So steht die Frage im Raum, warum so viele ‚Mitläufer‘ und ‚Täter‘ dem Blickwechsel gegenüber unberührbar blieben. Denn dass es diesen gegeben hat, davon haben viele Überlebende Zeugnis abgelegt. Und nicht nur sie. Auch Nicht-Juden versuchten, zu
und die Bevölkerung uns Verbrecher teils verächtlich, teils voller Abscheu oder auch furchtsam betrachtete, dann erfasste mich nicht etwa Scham, sondern ein unendlicher Stolz darauf, von diesem Regime geächtet, aus einer derartigen Volksgemeinschaft ausgeschlossen und von allen ‚braven Staatsbürgern‘ verachtet zu werden. Wir gingen den Sibirienweg durch Deutschland – die Straße der Ehre inmitten der politischen, moralischen und menschlichen Schande. Wir hatten ihn nicht freiwillig gewählt (wer hätte das jemals getan?), aber wir machten aus der Not die Tugend, die ihr innewohnte.“ Kogon: SS-Staat, S. 403. – Zu den politischen Auseinandersetzungen zwischen Kogon und Rousset vgl. Rousset: Jours, passim. 134 Bredekamp: Bildakt, S. 237. 135 Wolf: Kindheitsmuster, S. 385.
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artikulieren, wie sie sich der Forderung, um die Antelmes Text kreist – seht! seht hin! –, gestellt hätten. Die Aufzeichnungen eines deutschen Unteroffiziers namens Wilhelm Cornides vom 31.8.1942 zeugen davon, dass er sah (im Sinne von „festhielt“), was er bei der so genannten ,Umsiedlung‘ der Juden des General-Gouvernements beobachtete. Er guckte (anders als Eichs Riesen) gleichsam in das Loch hinein, das sich in den Wänden der Gefangenschaft auftat. Um 12 Uhr 10 sah ich einen Transportzug im Bahnhof einlaufen. Auf den Dächern und Trittbrettern saßen Wachmannschaften mit Gewehren. Man konnte von der Ferne sehen, dass die Wägen mit Menschen vollgepfropft waren. Ich kehrte um und ging den ganzen Zug entlang: Er bestand aus 35 Viehwägen und einem Personenwagen. In jedem der Wägen waren mindestens 60 Juden (bei Mannschafts- oder Gefangenentransporten werden in diesen Waggons 40 Mann verladen, hier waren jedoch die Bänke herausgenommen und man konnte sehen, dass die Eingeschlossenen eng aneinander gedrängt standen). Die Türen waren teilweise einen Spalt geöffnet, die Fenster mit Stacheldraht vergittert. Unter den Eingeschlossenen waren nur wenige, meist alte Männer zu sehen, alles andere waren Frauen, Mädchen und Kinder. Viele Kinder drängten sich an den Fenstern und den schmalen Türöffnungen. Die jüngsten waren bestimmt nicht älter als 2 Jahre. Sobald der Zug hielt, versuchten die Juden Flaschen herauszugeben, um Wasser zu bekommen. Der Zug war jedoch von SS-Wachen umgeben, sodass niemand in die Nähe konnte. In diesem Augenblick lief ein Zug aus der Richtung Jaroslau ein, die Reisenden strömten dem Ausgang zu, ohne sich weiter um den Transport zu kümmern. Ein paar Juden, die damit beschäftigt waren, einen Lastwagen der Wehrmacht zu beladen, winkten mit ihren Mützen zu den Eingeschlossenen. Ich sprach mit einem Polizisten, der am Bahnhof Dienst tat. Auf meine Frage, wo denn die Juden herkämen, antwortete er: „Das sind wahrscheinlich die letzten von Lemberg. Das geht jetzt schon seit 3 Wochen ununterbrochen so, in Jaroslau haben sie nur 8 übrig gelassen, kein Mensch weiß warum.“ Ich fragte: „Wie weit fahren die noch?“ Er dann: „Nach Belzec.“ „Und dann?“ „Gift.“ Ich fragte: „Gas?“ Er zuckte die Achseln. Dann sagt er nur noch: „Am Anfang haben sie sie, wie ich glaube, immer erschossen.“ Hier im deutschen Haus sprach ich gerade mit 2 Soldaten vom Front-Stalag 325. Sie sagten, dass diese Transporte in der letzten Zeit täglich durchkamen, meistens nachts. Gestern soll einer mit 70 Waggons durchgefahren sein.136
Hier fallen Sehen und Wahrnehmen zusammen. Die Informationen, die der deutsche Unteroffizier zusammenträgt, betreffen die Züge sowohl in quantitativer als auch in (man muss wohl sagen:) ,qualitativer‘ Hinsicht. Zwar wird ein direkter Kontakt im Sinne physischer Berührung vermieden – die arbeitenden Juden können nur winken, die Flaschen der Verdurstenden können nicht entgegengenommen werden, viele Züge fahren in der Dunkelheit der Nacht –, doch Blicke sind möglich. Ganz in Parallele zu dem, was Antelme beobachtete, besteht das Problem jedoch darin, dass viele Menschen, die dem Dort zuzuordnen sind, der Blickabwehr unterliegen: Die Reisenden eines anderen Zuges strömen dem Ausgang zu, blicklos, zu keiner Wahrnehmung bereit. Hier galt plötzlich wieder Musils Satz, „dass im heutigen Leben die Menschen bloß das tun, was geschieht!“137 Nur der Polizist (offenbar ein Deutscher, denn der 136 Aus den Notizen des Unteroffiziers Wilhelm Cornides vom 31. August 1942, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, ED 81, zitiert nach: Hilberg: Sonderzüge, S. 188-189; Hervorhebungen A.P.; künftig zitiert als: Cornides: Notizen. 137 Musil: Mann, S. 918.
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Unteroffizier spricht nirgendwo von sprachlichen Barrieren) weiß, was das bedeutet: „Nach Belzec.“ Im Folgenden nutzt der Unteroffizier die Möglichkeit, nachzuprüfen, was von Belzec selbst zu sehen ist. Belzec soll direkt an der Bahn liegen, die Frau hat mir versprochen, es mir zu zeigen, wenn wir vorbeifahren. 17 Uhr 40: Kurzer Aufenthalt. Uns gegenüber hält wieder ein Transportzug. Ich spreche mit den Polizisten, die vorne im Personenwagen mitfahren. Ich frage: „Geht’s wieder heim ins Reich?“ Grinsend sagt einer: „Du weißt wohl, wo wir herkommen? Na ja, für uns geht die Arbeit nicht aus.“ Dann fuhr der Transportzug weiter, die Wägen waren leer und sauber ausgekehrt, es waren 35. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dies der Zug, den ich um 1 Uhr am Bahnhof in Rawa-Ruska gesehen habe. 18 Uhr 20: Wir sind am Lager von Belzec vorbeigefahren. Vorher ging es längere Zeit durch hohe Kiefernwälder. Als die Frau rief „jetzt kommt es“, sah man nur eine hohe Hecke von hohen Tannenbäumen. Ein starker süßlicher Geruch war deutlich zu bemerken. „Die stinken ja schon“, sagt die Frau. „Ach Quatsch, das ist ja das Gas“, lachte der Bahnpolizist. Inzwischen – wir waren ungefähr 200 Meter gefahren – hatte sich der süßliche Geruch in einen scharfen Brandgeruch verwandelt. „Das ist vom Krematorium“, sagte der Polizist. Kurz darauf hörte der Zaun auf. Man sah ein Wachhaus mit SS-Posten davor. Ein doppeltes Bahngeleis führte in das Lager hinein. Das eine Geleis war eine Abzweigung von der Hauptstrecke, das andere führte über eine Drehscheibe aus dem Lager zu einer Reihe von Schuppen, die ungefähr 250 Meter davon entfernt standen. Auf der Drehscheibe stand ein Güterwaggon. Mehrere Juden waren damit beschäftigt die Scheibe zu drehen. Einer der Schuppen war offen, man konnte deutlich sehen, dass er mit Kleiderbündeln bis an die Decke gefüllt war. Beim Weiterfahren schaute ich noch einmal zum Lager zurück. Der Zaun war zu hoch, als dass man irgend etwas hätte sehen können. Die Frau sagte, dass man manchmal beim Vorbeifahren aus dem Lager Rauch aufsteigen sieht, ich konnte jedoch nichts dergleichen bemerken. Meiner Schätzung nach ist das Lager ungefähr 800 zu 400 Meter groß.138
Dieser Bericht ist darum mit so großer Ausführlichkeit zitiert worden, weil er bestätigt, was HistorikerInnen schon lange, die breite Öffentlichkeit in Deutschland jedoch erst im Zuge der Debatten um die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“139 des Hamburger Instituts für Sozialforschung wussten bzw. zu wissen sich bequemen mussten: dass nicht nur Mitglieder der SS, nicht nur der schon 1942 nach der furchtbaren Wahrheit suchende Kurt Gerstein140, sondern auch Polizisten über Massentötungen im Detail Bescheid wussten – und, ebenso wie „normale“ Wehrmachtssoldaten, auch an ihnen beteiligt waren. In Bezug auf Eichs Text ist die Nüchternheit, mit der Wilhelm Cornides festhält, was man sehend und riechend 138 Cornides: Notizen, S. 190-191; Hervorhebung A.P. 139 Die Ausstellung war zu sehen von 1995 bis 1999 und von 2001 bis 2004. Eine besonders interessante Dokumentation über die Reaktionen, die die Ausstellung in Österreich auslöste, stammt von der Regisseurin Ruth Beckermann. Ihr Film trägt den Titel Jenseits des Krieges (1997) und ist im Zusammenhang der hier diskutierten Fragen von außerordentlicher Bedeutung. Er zeigt nämlich die Vehemenz, mit der viele ehemalige „Frontkämpfer“ noch Mitte der 1990er Jahre auf die Erinnerungen reagierten, die die Ausstellung entgegen ihren Abwehrversuchen in ihnen aufstiegen ließ. 140 Vgl. den Bericht dieser Ausnahmegestalt auf der folgenden Internetseite, URL: http://www.ns-archiv.de/verfolgung/gerstein/gerstein-bericht.php; abgerufen am 8.9.2016.
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von Belzec wahrnehmen und also wissen konnte, wichtig: Der Unteroffizier dokumentiert, wie man durch Sinneswahrnehmungen und Schlüsse ins Dort einer abgeschirmten Wirklichkeit eindringen konnte, selbst wenn man nicht, wie Kurt Gerstein, direkt Zeuge der Vergasungen werden konnte.141 Die genaue Zählung der Waggons war kein Selbstzweck: Beim ersten Blick auf den Zug war dieser voller Menschen, beim zweiten war er „leer und sauber ausgekehrt“. Im Bahnhof von Rawa-Ruska waren die Deportierten zu sehen, im Schuppen bei Belzec nur noch Kleiderbündel „bis an die Decke“. Die Schwierigkeit der Wahrnehmung lag darin: Die Leere von Räumen, Schuppen, Waggons enthielt die Versuchung, den Schluss zu ziehen, es sei nichts zu sehen, nichts sei in actu.142 Das Zeugnis, das Wilhelm Cornides abgelegt hat, gewinnt seine Stärke dadurch, dass er die Leere zu lesen verstand, damit der Etymologie des Wortes „leer“ folgend: Das dehnstufige Adjektiv bedeutete ursprünglich wahrscheinlich „was zu lesen ist“. „Diese 141 Dafür ein weiteres, von Saul Friedländer dokumentiertes Beispiel: „Die Juden aus Pabianice, die kürzlich im Ghetto untergebracht wurden, sahen, dass im Dorf Dobrowa, das etwa drei Kilometer von Pabianice, in Richtung Lodz, entfernt ist, kürzlich Lagerhäuser für Altkleider eingerichtet worden sind. […] Jeden Tag bringen Lastwagen Berge von Paketen, Rucksäcken und Päckchen aller Art nach Dobrowa […]. Täglich werden etwa 30 Juden aus dem Pabianice-Ghetto hingeschickt, um die Sachen zu sortieren. Unter anderem haben sie festgestellt, dass sich unter dem Altpapier einige von unseren Rumkis [im Ghetto von Lodz verwendetes Geld; S.F.] befanden, die aus Brieftaschen gefallen waren. Der naheliegende Schluss ist, dass einige der Kleidungsstücke Leuten gehören, die aus diesem Ghetto deportiert worden sind […].“ Friedländer: Vernichtung, S. 417. Friedländer nimmt Bezug auf: The chronicle of the Lodz ghetto 1941-1944, hg. von Lucjan Dobroszycki, New Haven 1984, S. 185. – Ähnlich, doch dieses Mal aus der Sicht eines Täters: „In den Gesprächen, die er im Gefängnis mit Gitta Sereny führte, beschrieb Stangl seinen ersten Besuch in Treblinka zu der Zeit, als Eberl noch die Leitung hatte: ‚Ich fuhr mit einem Fahrer der SS hin. […] Wir konnte es schon kilometerweit vorher riechen. Die Straße verlief neben Eisenbahnschienen. Als wir ungefähr 15 bis 20 Minuten vor Treblinka waren, sahen wir plötzlich Leichen, die neben den Schienen lagen. Erst nur zwei oder drei, dann mehr, und als wir beim Ortsbahnhof Treblinka ankamen, waren es schon Hunderte – die lagen einfach nur so da, offensichtlich schon seit Tagen, in dieser Hitze. Im Bahnhof stand ein Zug voll von Juden, einige tot, andere lebten noch. […] Es schaut so aus, als ob der Zug auch schon seit Tagen dort gestanden hätte. […] Als das Auto auf dem Sortierungsplatz stehenblieb, versank ich bis zu den Knien in Geld. Ich wusste nicht, wo ich mich hindrehen sollte, wohin ich gehen sollte. Ich watete in Münzen, Papiergeld, Diamanten, Juwelen, Kleidungsstücken. […] Der Geruch war unbeschreiblich: Hunderte, nein Tausende verwesende, zerfallende Leichen.“ Friedländer: Vernichtung, S. 460-461; Bezug nehmend auf: Gitta Sereny: Am Abgrund. Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, München, Zürich 1997, S. 181-182; dazu auch: Hubert Pfoch: ebd., S. 182-184. 142 Vgl. zum epistemologischen Problem, das Unbekannte nicht für „Nichts“ zu halten: Anne D. Peiter: „‚Die Fahrt gegen Süden war ein ewiges und im höchsten Grade langweiliges Einerley.‘ Georg Forsters Reise zur Antarktis“, in: Cold Fronts. Kältewahrnehmungen in Literatur und vom 18. bis 21. Jahrhundert, hg. von Inge Stephan und Monica Szczepaniak, Themenheft der Colloquia Germanica 43 (2010), S. 5-34.
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Bedeutung könnte ausgehen vom abgeerneten Getreidefeld: es ist zur Nachlese bereit (kann abgelesen werden)“.143 Für Cornides bedeutete die Leere nicht, dass in den Waggons nichts war, sondern vielmehr dass in ihnen nichts mehr war. Eine solche Schlussfolgerung setzte voraus, dass nicht einfach nur von einer bestimmten Warte aus beobachtet wurde, um vom Hier aus das Dort zu verstehen, sondern dass der zeitliche Index – das post actum – in den Raum einbezogen wurde: Seine, des Raumes Leere wurde, als eine von Zeit gefüllte, voll. Die Waggons wurden, da „sauber ausgekehrt“, sprechend: Das Nichts als Zeichen des Verschwindens, Säuberungen nicht nur als Hinweis darauf, dass mit Blicken gerechnet wurde – sondern auch darauf, dass die weitere Verwendung der Waggons geplant war.144 Zu lesen hieß in diesem Kontext, zu begreifen, dass selbst die ,Nachlese‘ unterbunden werden sollte, die Suche nach kleinen und kleinsten Spuren. Mit Blick auf Eichs Hörspiel ist also festzustellen: Von kleinen Dingen wurde gesprochen – nicht von Riesen. Und: Der Blick drang durch die Waggon143 Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, New York 1989, S. 434. 144 Dass Deutsche in bestimmten Funktionen sich leicht eine Vorstellung von dem im Gang befindlichen Genozid machen konnten, geht aus den unterschiedlichsten Quellen hervor. So hatten zum Beispiel „[h]öhere und selbst mittlere Beamte in verschiedenen deutschen Ministerien […] Zugang zu den Mitteilungen der Einsatzgruppen und zu ihren Berechnungen der atemberaubenden Zahl von Juden, die sie ermordet hatten. Derartige Informationen wurden im Oktober 1941 in interner Korrespondenz des Auswärtigen Amtes erwähnt, und sie waren noch nicht einmal als ‚streng geheim‘ eingestuft.“ Friedländer: Vernichtung, S. 322. – Und noch ein Beispiel: „Über das Schicksal der aus dem Reich deportierten Juden sickerten schon von Anfang an einige Informationen durch. So berichtete der SD am 12. Dezember 1941 über Äußerungen von Einwohnern Mindens bezüglich des Schicksals der Juden aus ihrer Stadt, die einige Zeit zuvor in den Osten deportiert worden waren, man erzähle, ‚der Transport würde durchgeführt bis Warschau in Personenwagen und von dort mit Viehwagen. […] In Russland würden die Juden zur Arbeit in ehemals sowjetischen Fabriken herangezogen, während die älteren und kranken Juden erschossen werden sollten.‘ Die Mörder selbst hatten keine Hemmungen, ihre Taten zu schildern, selbst wenn es um Massenhinrichtungen bei der angeblich geheimen Operation 14f13 ging. Während der letzten Monate des Jahres 1941 hinterließ Dr. Friedrich Mennecke, einer der SS-Ärzte, die direkt an dieser Operation beteiligt waren, einige berüchtigte Briefe für seine Frau – und die Nachwelt. Am 19. November berichtete er seiner ‚liebsten Mutti‘ aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, er haben an diesem Tag 95 Bögen von zu ermordenden Häflingen ausgefüllt, nach Beendigung seiner Arbeit habe er zu Abend gegessen (‚3 Sorten Wurst, Butter, Brot, Bier‘), er habe ‚herrlich‘ geschlafen und fühle sich ‚tadellos‘. Sieben Tage später schrieb er aus Buchenwald: Die erste ‚Portion’ von Opfern bestand aus ‚Ariern‘. ‚Als zweite Portion folgten nun insgesamt 1200 Juden, die sämtlich nicht erst ‚untersucht‘ werden, sondern bei denen es genügt, die Verhaftungsgründe (oft sehr umfangreich!) aus der Akte zu nehmen u. auf die Bögen zu übertragen. Es ist also eine rein theoretische Arbeit.‘ Einige Tage später wurden die Juden nach Bernburg transportiert und vergast.“ Friedländer: Vernichtung, S. 324. Friedländer nimmt Bezug auf: Friedrich Mennecke: Innenansichten eines medizinischen Täters im Nationalsozialismus. Eine Edition seiner Briefe 1935-1947, hg. von Peter Chroust, Bd. 1, Hamburg 1987, S. 205-206. Eine sprachliche Analyse dieser Briefe habe ich in Arbeit.
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wände – der Blick war zwar im höchsten Grade asymmetrisch, doch er konnte wechselseitig sein. Dass diese Möglichkeit zum Hinsehen meist verweigert wurde, ist richtig. Doch ebenso richtig ist, dass das eichsche Loch in den Waggons wie in den Lagern keineswegs verstopft war. Damit gehörten die beiden Welten – die der Riesen und die der Gefangenen – unmittelbar zusammen.
IV. Der dritte Traum: Geschichten von Vertreibung
BLICKLOSE UND AUSGEWÄHLTE Einem Menschen, der nicht auffallen will, fällt bald nichts mehr auf.1 Er setzte seine Sätze vorsichtig. Was er dachte, wusste niemand, das Andeuten war ihm zur Natur geworden, er tat, als hörte immer die Geheime Staatspolizei mit. Eine ewige Polizei war aus ihr hervorgegangen […]. 2
Nachdem Drinnen und Draußen, Blicke von Innen nach Außen bzw. von Außen nach Innen ausführlich zum Thema geworden sind, soll die Unverhältnismäßigkeit meiner Lektüre noch weitergetrieben werden, und zwar ausgehend von einem Neologismus – der „Zeitschaft“ –, den Ruth Klüger in die Debatte um die Wahrnehmbarkeit der ‚jüdischen Katastrophe‘ geworfen hat. Welche allgemeinen Schlussfolgerungen können wir aus der Blick-Fähigkeit von Cornides ziehen? Es gilt: Waggons oder Lager als Räume, in denen Menschen gewesen waren, sind nicht mehr die gleichen Räume, sobald diese Menschen nicht mehr in ihnen sind. In Dachau sei, als sie das Lager einmal besucht habe, „alles sauber und ordentlich“ gewesen, berichtet Klüger. „Man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde.“3 Ähnliches galt schon für Blicke auf das „Dort“ leerer Waggons, die noch zur gleichen Zeit gehörten: Die Waggons als eben erst gesäuberte konnten ja einfach auch als saubere interpretiert und damit, obwohl voll der Leere, die die Menschen, die eben noch in ihnen gefangen gewesen waren, hinterlassen hatten, von der Zeit an sich entleert werden. Wilhelm Cornides war bereit, sich klarzumachen, dass seine Räume, obwohl zeitgleich existierend zum Transportraum der beobachteten Züge, von einer anderen Zeit gefüllt waren als jene. Doch er gehörte damit zu den Ausnahmen. Die Informationen, die bei der deutschen Bevölkerung im Laufe des Krieges zirkulierten, hätten, so Saul Friedländer, die Haltung gegenüber der jüdischen Minderheit keineswegs verändert. 1 2 3
Wolf: Kindheitsmuster, S. 314. Bachmann: Mörder, S. 165. Klüger: weiter leben, S. 77.
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Anfang 1943 waren die Informationen über die massenhafte Vernichtung von Juden im Reich so weit verbreitet (auch wenn man von den „technischen Einzelheiten“ meist keine genaue Kenntnis hatte), dass sie wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung erreicht hatten. Immer wieder tauchte das Gerücht auf, Juden würden irgendwo auf dem Weg nach Osten in Tunneln vergast. Derartige Informationen schwächten den Hass auf die Juden und das brutale Verhalten ihnen gegenüber anscheinend nicht ab.4
Die Haltung, die im Krieg vorherrschte, fand im Nachkrieg ihre Fortsetzung. Christa Wolf spricht von den „[f]ürchterlich gute[n] Gewissen“5, die die Menschen ihrer Umwelt zur Schau getragen hätten. Zugleich gesteht sich die Protagonistin ihres Romans, Wolfs alter ego, ein: Jene Zeiten, in denen sie es nicht wagte, aus dem was sie mit eigenen Augen sah, zutreffende Schlüsse zu ziehen, erkennst du an einer besonderen Art von Verlust: dem Verlust des inneren Gedächtnisses. Äußere Vorgänge: ja. […] Es ist, als schiebe sich eine Wand zwischen ihre Beobachtungen und den Versuch, sie zu deuten.6
Zusammenfassen ließe sich diese Haltung mit dem Ausdruck „Verweigerung der „Nachlese“ im Angesicht der Leere.“7 Oder auch: „Errichtung von Wänden“ – als Verweigerung, das Loch in der Wand des eichschen Waggons wahrzunehmen (weil man sonst hätte hineinschauen müssen). Zum Hineinsehen kam es bei vielen Deutsche erst nach der Kapitulation – als Hineinsehen auf Befehl. Imre Kertész scheibt dazu: General Patton, vielleicht auch Oberbefehlshaber Eisenhower selbst, hatte angeordnet, prominente Bürger aus Weimar in Gruppen in das nahe ihrer Stadt errichtete Lager [nämlich Buchenwald; A.P.] zu führen, damit sie sahen, was dort in ihrem Namen verübt worden war. Hinter dem Drahtzaun des Krankenhausbezirks stehend sah ich, wie die Damen und Herren mit Entsetzen vor einem frischen Massengrab zurückschreckten, in dem wie Holzscheite zu Haufen übereinandergeworfene und mit Löschkalk übergossene Leichen lagen. Mit Händen und Füßen bedeuteten sie den um sie herumstehenden amerikanischen Offizieren, sie hätten nichts gewusst. Die Frage hat sich seitdem fast zu einer universellen ausgeweitet. Meiner Ansicht nach haben sie nicht gelogen. Während des achtjährigen Bestehens des Lagers mussten sie Tag für Tag die zur Arbeit hinausgetriebenen Gefangenen und das physische und psychische Elend dieser Gefangenen gesehen haben; sie hatten hören können, wie die Bewacher mit ihnen redeten – also haben sie doch alles gewusst; auf der anderen Seite nahmen sie dieses Wissen einfach nicht zur Kenntnis – also haben sie doch nicht gewusst.8 4 5 6 7 8
Friedländer: Vernichtung, S. 539. Wolf: Kindheitsmuster, S. 62. Ebd., S. 374. Vgl. hierzu erneut die oben erwähnte Etymologie des Wortes „Leere“. Imre Kertész: „Free Europe. ‚Heimatbriefe‘ für den Sender Freies Europa“, in: ders.: Gedankenlänge, S. 93-110, Zitat S. 100. Ähnlich argumentiert Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster, und zwar mit Blick auf Dachau: „Die sich später darauf beriefen, von KZs hätten sie gar nichts gewusst, hatten total vergessen, dass ihre Gründung als Nachricht in der Zeitung stand. (Verwirrender Verdacht: Sie hatte es es tatsächlich total vergessen. Totaler Krieg. Totale Amnesie.)“ Wolf: Kindheitsmuster, S. 59.
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Kertész insistiert darauf, dass Hier und Dort von Lager und ‚Normalität‘ sich stets berührt hätten: Das Lager Buchenwald war im Wortsinn ein-sehbar. (Wie wir noch sehen werden, geht es auch Jorge Semprun, dem Buchenwald-Überlebenden, mit dem wir uns schon ausführlich beschäftigt haben, um eben diese Ein-Sicht.) Aber Sehen und Einsehen fanden nicht zueinander. Die Ermordeten wurden „in einem Augenwinkel verscharrt.“9 Wissen und Nichtwissen waren gekoppelt, und damit in einem paradoxen Nebeneinander auch die objektive Schuld, nichts getan zu haben, um das Lagersystem zu beseitigen, und das subjektive Gefühl der Unschuld, dass man nichts hatte tun können, weil man von diesem System nichts gewusst habe. Christa Wolfs Frage, „wie man zugleich anwesend und nicht dabei gewesen sein kann, das schauerliche Geheimnis der Menschen dieses Jahrhunderts“, bleibt unbeantwortet.10 Das Hier und das Dort mochten zwar in der Wahrnehmung der Gefangenen unauflöslich ineinander verschränkt gewesen sein, nicht jedoch für die Weimarer. Letzere benahmen sich, als läge dem Wort „Sichtbarkeit“ kein gegenseitiges Verhältnis zugrunde. Vielleicht spitzte sich bei ihnen zu, was Robert Musil ironisch mit Blick auf eine seiner Figuren schrieb: sie habe „nie anders gedacht, sie hatte bloß immer anders gehandelt und konnte darum unbeschwerten Sinnes zustimmen“11 – nämlich ethisch vertretbaren Konzeptionen gemäß. Auch bei den Weimarern traten Denken und Handeln auf geradezu schizophrene Weise auseinander. Für die befreiten Häftlinge bedeutete das, dass ihre Hoffnung, bei ihrer Rückkehr werde alles „magnifiquement normal“12 („hinreißend normal“ [Übersetzung A.P.]) sein, nicht eintrat. Alles erschien normal. Aber das Hinreißende, will heißen: das Bewusstsein, wie wenig selbstverständlich Normalität sei, fehlte. Charlotte Delbo schreibt entsprechend: „Si nous rentrons, rien ne sera pareil.“ Tout est pareil. C’est en nous que rien n’est pareil. Je sais ce qui en moi n’est pas pareil à ce que j’étais avant, ce qui fait que je ne suis pas pareille aux autres. Cette montagne de cadavres entre eux et moi.13 „Wenn wir zurückkehren, wird nichts mehr gleich sein.“ Alles ist gleich. Wir sind es, in denen nichts mehr gleich ist. Ich weiß, was in mir in Bezug auf das, was ich vorher war, nicht mehr gleich ist, das, was bewirkt, dass ich nicht mehr den anderen gleiche. Dieser Berg von Leichen zwischen ihnen und mir. [Übersetzung A.P.]
Für die Weimarer hingegen hatte es nur ihr eigenes Hier gegeben. Die Fotos, die Margaret Bourke-White während des von Kertész beschriebenen Rundgangs von den Blicken aufgenommen hat, die die Honoratioren und ‚normalen BürgerInnen‘ der Stadt auf die Leichenberge richteten, sind, im Gegensatz zu Kertész, ganz der Idee verschrieben, die Beteuerung der Deutschen, sie hätten nichts gewusst, sei Lüge gewesen. Ich schlage vor, diesen fotografischen Blick auf den erzwungenen Blick genauer in Augenschein zu nehmen, um die Frage auszuloten, ob die Selbstverständlichkeit, mit der Eich die Unmöglichkeit zum Blickaustausch zu 9 10 11 12 13
Musil: Mann, S. 997. Wolf: Kindheitsmuster, S. 60. Musil: Mann, S. 879. Rousset: Jours, S. 38. Delbo: Auschwitz, Bd. 3, S. 59.
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postulieren scheint, einer für seine Zeit typischen Haltung gleichkommt. Was zeigt uns Bourke-White? Es handelt sich um ein Foto, das mit der folgenden Bildlegende unterlegt ist: „Junge Frau, die du nicht hinsehen kannst, hast du das mit den Juden richtig gefunden? Wirst du deinen Kindern erzählen, dass Hitler ein guter Mensch war?“14 Zu sehen ist links im Vordergrund ein Haufen von zu Skeletten abgemagerten Toten. Die junge Frau, die in der Bildlegende angesprochen wird, geht, den Kopf zur anderen Seite gewendet, sich mit der rechten Hand die Augen wischend, an diesen Toten vorbei. Sie trägt einen warmen Mantel über dem Arm. Flankiert wird die Szene von behelmten amerikanischen Soldaten, die offenbar den Weg weisen, den die Deutschen bei ihrer ‚Besichtigung‘ zu nehmen haben. Bourke-White interpretiert Gefühle als eine Art Schaustück. Ist dies Scham? Liegt eine „Störung der Selbst-Identifizierung“ vor, eine tiefe „Verstörtheit“, die nach Günther Anders konstitutiv für Schamgefühle ist? Oder handelt es erst einmal um einen bloßen, keineswegs selbstbezüglichen (will heißen: selbstkritischen) Schrecken? Bourke-White scheint der Überzeugung zu sein, dass der Schrecken auf den Gesichtern der Deutschen allein der Demonstration dient, erschreckt zu sein.15 Wie aber entsteht wahrer Schrecken? Sigmund Freud geht davon aus, das Unheimliche sei „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“16 Damit widerspreche er üblichen Interpretationen. Im Allgemeinen pflege es (was durchaus richtig sei) mit dem Neuartigen, Unbekannten verknüpft zu werden: Das deutsche Wort „unheimlich“ ist offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut, und der Schluss liegt nahe, es sei etwas eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut 14 15
16
Margaret Bourke-White: Deutschland. April 1945, Schirmer/Mosel 1979, Foto 63; künftig zitiert als: Bourke-White: Deutschland. Die gleiche Position vertritt Jack Werber: „Two days after liberation, we went to Weimar and forced the Mayor to come to Buchenwald and to bring with him the local population to see what the camp had really been like. When they came they were greated by a large sign that we had prepared, carried out by the children of Buchenwald. It read: ‚Where are our parents?‘ They looked at everything – how the hundreds upon hundreds of dead bodies were piled up – and acted shocked, but I had the feeling that a lot of them just pretended not to know what was happening in Buchenwald; only five miles from their homes.“ Werber: Children, S. 111. („Zwei Tage nach der Befreiung gingen wir nach Weimar und zwangen den Bürgermeister, nach Buchenwald zu kommen und die Bevökerung der Stadt mitzubringen, damit sie sehen könne, wie das Lager wirklich gewesen war. Als sie ankamen, wurden sie von einem großen Schild empfangen, das wir vorbereitet hatten und das von den Buchenwalder Kindern nach draußen getragen wurde. Zu lesen stand darauf: ‚Wo sind unsere Eltern?‘ Sie sahen sich alles an – wie Hunderte und Aberhunderte von toten Körpern übereinander geschichtet waren – und reagierten geschockt. Doch ich hatte das Gefühl, dass viele von ihnen nur so behaupteten, dass sie von dem, was in Buchenwald geschah, nichts gewusst hatten; nur fünf Meilen von ihrem Zuhause entfernt.“ [Übersetzung A.P.]) Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: ders.: Studienausgabe, Bd. IV, Frankfurt/M. 2000, S. 241-274, Zitat S. 244; künftig zitiert als: Freud: Unheimliche.
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ist. Natürlich ist aber nicht alles schreckhaft, was neu und nicht vertraut ist; die Beziehung ist nicht umkehrbar. Man kann nur sagen, was neuartig ist, wird leicht schreckhaft und unheimlich; einiges Neuartige ist schreckhaft, durchaus nicht alles.17
In einem ersten Schritt könnte man sagen, den Weimarern sei der Gang durch das Lager Buchenwald unheimlich im Sinne von schreckhaft geworden, weil ihnen die Realität, die sie dort vorfanden, vollkommen unvertraut war. Wenn man jedoch mit Kertész und Bourke-White davon ausgeht, dass die Weimarer stets mit eigenen Augen hatten sehen können, was den Gefangenen geschah, dann muss mit Freud die Quelle des Unheimlichen im Gegenteil im „Altbekannte[n], Längstervertraute[n]“ gesucht werden. Oder wäre es besser, zu sagen, die Quelle müsse auch im Altbekannten gesucht werden? Jack Werber weist darauf hin, dass die Toten lange direkt in der Stadt Weimar zu sehen gewesen seien: Buchenwald did not even have a crematorium until 1940. Until then the bodies of those who died, whether from beatings, shootings, hunger or illness were carted off to the crematorium in Weimar for efficient disposal. Incidentally, it is hard to imagine that the local townsfolk didn’t question where all the bodies were coming from. 18 Buchenwald hatte bis 1940 nicht einmal ein Krematorium. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Körper derer, die durch Schläge, Schüsse, Hunger oder Krankheit gestorben waren, zwecks effizienter Entsorgung ins Krematorium nach Weimar gekarrt. Im Übrigen ist es schwer, sich vorzustellen, dass die Leute vor Ort nicht hinterfragten, wo wohl all die Leichen herkamen. [Übersetzung A.P.]
Diesem Zeugnis zufolge war das Lager etwas Offensichtliches. Doch was fängt man an mit der Unsichtbarkeit des Offensichtlichen? Die Vorsilbe „un“ des Wortes „unheimlich“ sei, so Freud, „die Marke der Verdrängung.“19 Für die meisten Lager in Deutschland galt, dass sie Blicke zuließen und zudem, gewissermaßen als Steigerung (da Vergewisserung ermöglichend), regelmäßige Blicke. Wenn denn die freudsche Konzeption von Verdrängung wirklich griff, dann musste sie stets von Neuem geleistet werden. Nur so konnte das Hier der Weimarer heimisch bleiben. Es fragt sich aber, ob nicht vielmehr für viele Weimarer etwas galt, was Hannah Arendt im Blick auf den Glaskasten zu beschreiben versuchte, in dem Adolf Eichmann in Jerusalem saß, als er sich zu verantworten hatte: dass er, der stets die „Vernüchterung des Entsetzlichen“20 betrieben hatte, sich schlicht „niemals vorgestellt“ hatte, „was er eigentlich anstellte.“21
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Ebd. Werber: Children, S. 33. Freud: Unheimliche, S. 267. Anders: Endzeit, S. 127. Ebd., S. 56. Dazu Christa Wolf: „Der entsetzliche Wille zur Selbstaufgabe lässt das Selbst nicht aufkommen.“ Wolf: Kindheitsmuster, S. 314. – Die Häftlinge befanden sich indes in einer vollkommen anderen Situation. Bruno Bettelheim zufolge, wurden „alle Geschichten über Ereignisse im Lager […] sofort entstellt. Der Grund dafür war unter anderem die
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Er hat prinzipiell ganz gut gewusst, worum es ging, und in seinem Schlusswort vor Gericht von der „staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung der Werte“ gesprochen; er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden.22
Nun war die Mehrheit der Weimarer zwar nicht auf die gleiche Weise wie Eichmann in den Apparat der Vernichtung eingebunden, doch stellt sich die Frage, ob nicht eine gewisse Ähnlichkeit darin bestand, dass sie (wie er) als durchschnittliche, „normale“ Menschen (und beileibe nicht als eichsche „Riesen“) „außerstande“ waren, „Recht von Unrecht zu scheiden“23 – als Konsequenz „schiere[r] Gedankenlosigkeit“. Oder, mit Christa Wolf gesprochen: ob nicht gelte, dass man das „[w]as man nicht oder fast nicht gesehen hat, […] leicht vergessen [könne].“ Die Konsequenz wäre eine direkte gewesen: „Der Vorrat an Vergessenem wuchs.“24 Wenn dieser Erklärungsansatz stimmte, dann bestünde die Trennung von Neuartig-Schreckhaftem und AltbekanntUnheimlichem nicht mehr. Mit dem Eintreffen der amerikanischen Truppen und General Pattons Aufforderung, ins Lager Buchenwald zu kommen, wäre nicht schlicht die Verdrängung von etwas aufgehoben worden, von dem die Deutschen schon lange gewusst hatten, sondern die Furchtbarkeit der Blicklosigkeit ihrer früheren Blicke hätte darin bestanden, dass sie gewissermaßen noch nicht einmal das Bedürfnis nach Verdrängung empfunden hatten, der Blick jetzt, im April 1945, also wirklich und wahrhaftig auf etwas für sie Neues und damit Schreckhaftes fiel. Damit wäre das Dort des Lagers wirklich erst jetzt, wo alles ‚vorbei‘ war, in ihr Hier eingedrungen. Der Zwang, hinzusehen, hätte sich ausgewirkt als Zwang, erstmals die bisherige Gedankenlosigkeit und die „Malaise der Einzigkeit“25, die der Konformitätsdruck von Diktaturen so leicht hervorbringt, zu überwinden. Es wäre also das Wegsehen der jungen Frau, die auf erwähntem Foto von Bourke-White zu sehen ist, nicht so sehr als Versuch zu interpretieren, das Gesehene gleich wieder zu verdrängen, sondern paradoxerweise läge im Weg- vielleicht zum ersten Mal so etwas wie ein Hinsehen. Denn wenn die junge Frau wegsah, gab sie – vielleicht zum ersten Mal? – zu, dass es einen Grund gab, wegzusehen, und zwar vom „Dort“. Das Wegsehen als ein Schutzmechanismus, der hinleiten konnte zu einer Verdrängung im freudschen Sinne, wäre gewissermaßen als positiv zu werten: als Eingeständnis, dass das, was altbekannt war, mit einem Male, ganz plötzlich also, als neuartig-schreckhaft erschien. Diese Umkehrung der freudschen Blickrichtung, für die im Gegenteil die Entdeckung des Altbekannten im nur scheinbar Neuartigen wesentlich ist, scheint mir
22
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Tatsache, dass nicht nur der Häftling nicht auffallen durfte, sondern auch nichts ihm auffallen durfte.“ Bettelheim: „Schicksal“, S. 95; Hervorhebung A.P. Arendt: Eichmann, S. 57. – In diesem Kontext ist auch Günther Anders’ Buch Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann (München 1988) wichtig. In ihm versucht der Philosoph, die Haltung zu bestimmen, durch die die Kinder der Täter sich von den Vätern zu distanzieren haben – mit dem Ziel, in gewisser Weise kein Eichmannsohn zu bleiben. Arendt: Eichmann, S. 100. Wolf: Kindheitsmuster, S. 433. Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 45.
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dann auch einen anderen Blick auf die Fotos von Bourke-White zu ermöglichen. Die Fotografin hatte das Bedürfnis, den Blick der „braven deutschen Nachbarn“ (so die Bildlegende)26 festzuhalten, um das Ungeheuerliche fassen zu können, das darin bestand, dass die Menschen neben den Lagern wie „fensterlose Monadenwälle“ dahingelebt hatten.27 Aber vielleicht besteht das eigentlich Furchtbare in Wirklichkeit darin, dass diese Durchlässigkeit zwischen Neu und Alt, Unvertraut und Vertraut, Dort und Hier in beiden Richtungen erfolgen konnte, nicht einsträngig, wie noch bei Freud. Und vielleicht gelangen wir damit wiederum zu Kertész ebenso lakonischer wie weitreichender Feststellung: Die Deutschen „hatten hören können, wie die Bewacher mit ihnen [den Gefangenen nämlich; A.P.] redeten – also haben sie doch alles gewusst; auf der anderen Seite nahmen sie dieses Wissen einfach nicht zur Kenntnis – also haben sie doch nicht gewusst.“28 Hinzu kam, was David Rousset ebenso bündig wie überzeugend festhielt: „Chacun ayant quelque chose sur la conscience et tous le sachent, personne n’ose rien dire.“29 („Da jeder etwas auf dem Gewissen hat und alle das wissen, wagt niemand, etwas zu sagen.“ [Übersetzung A.P.]) Wie Imre Kertész, Bourke-White, Jorge Semprun oder David Rousset kreist auch die Forschung Saul Friedländers um die Frage, in welchem Grade die deutsche Bevölkerung „Bescheid“ wusste: Es sieht so aus, als habe man es im Herbst 1942 immer noch für wichtig erachtet, die Vernichtung zumindest formal vor der Bevölkerung verborgen zu halten, obgleich die Informationen allgemein zugänglich waren, auch aus den blutrünstigen Reden der „obersten Instanz“. Auf jeden Fall führte die ständige Flut der Propaganda, die den Juden als den Feind der Menschheit hinstellte, als den Führer der Horden von Untermenschen, logisch nur zu einer einzigen möglichen Lösung. Juden waren tierische Geschöpfe und nur dem äußeren Anschein nach menschliche Wesen, wie es in der SS-Propagandaschrift Der Untermensch hieß, die in zahlreichen Sprachen auf dem ganzen Kontinent verteilt wurde. So dürften nicht allzu viele Soldaten Bormann missverstanden haben, als er im Oktober 1942 bei der Beantwortung der von den Soldaten am häufigsten gestellten Fragen die Frage Nr. 9 – „Wie wird die Judenfrage gelöst werden?“ – auf die knappste und doch klarste Weise beantwortete: „Sehr einfach!“30
In Eichs Hörspiel fällt hingegen auf, dass die Frage nach dem Wissen, das den „Riesen“ zur Verfügung steht, ausgeblendet bleibt. Das Loch in die Wirklichkeit des Waggoninneren, das die Antwort „Sehr einfach!“ bestätigen konnte, scheint dem Autor in seiner literarischen Imagination zu klein geraten zu sein. Es verunmöglicht Blicke wirklich. Aber gleichzeitig gilt natürlich auch das genaue Gegenteil. Wer in die Wirklichkeit ein-blicken wollte, blickte – einsichtig. Welche Konsequenzen es hingegen hatte, wenn die Einsicht verweigert wurde, das wird bei Analyse des dritten Traumes noch deutlicher werden. Zu diesem möchte ich jetzt übergehen, dabei jedoch die Kreise, die ich um die Frage nach Blick und Blicklosigkeit, Drinnen und Draussen gezogen habe, immer enger werden lassen. Bestimmend bleibt, was Imre Kertész wie 26 27 28 29 30
Bourke-White: Deutschland April 1945, Foto 61. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 201. Kertész: „Free Europe“, S. 100. Rousset: Jours, S. 402. Friedländer: Vernichtung, S. 432.
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folgt formuliert hat: „Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, dass es geschehen ist und dass wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können.“31
AUGENFÄLLIGE BLINDHEIT Es zückte das Messer des Glücks über uns mit erloschenen Augen.32
Bei Eich greift ein Traum in den anderen – und zugleich auch der Versuch, nach dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ öffentlich in Bezug auf die „Zeitschaften“ der Vernichtungsorte ‚zur Sprache zu kommen‘. Wenden wir uns also dem „Dritten Traum“ zu. In ihm wird die Geschichte einer Familie erzählt, die von einem unbestimmten „Feind“ aus ihrem Haus vertrieben wird und nur für Angenblicke Unterschlupf bei einer Nachbarin findet. Von deren Haus aus sind Blicke zurück ins verlassene Heim (das Heimische) möglich, das von dem erwähnten, außerordentlich unheimlichen Fremden sogleich durchsucht wird (das Wort „unheimlich“ dieses Mal in freudschem Sinne verstanden). Es kommt bei Eich zu dem folgenden, um Blick und Blicklosigkeit kreisenden Wortwechsel: MUTTER Wie sieht er [der Feind; A.P.] aus? NACHBARIN Ein kleiner Mann, gar nichts Besonderes. MUTTER Sein Gesicht? NACHBARIN Ich habe es noch nicht gesehen. VATER Lasst mich auch hinüberschauen. NACHBARIN Er kommt ans Fenster. Er sieht hinaus. VATER Ich sehe sein Gesicht. Er hat Augen, als wäre er blind. NACHBARIN Er sieht hier herüber. Geht vom Fenster weg! VATER Ich sehe, dass er blind ist, und dennoch machen mich seine Augen fürchten. NACHBARIN Er schaut immer hier herüber. Er hat mich gesehen. Vielleicht muss ich ihn begrüßen? Sie ruft hinaus: Guten Morgen, Herr Nachbar! Stille Er antwortet nicht. Es fröstelt mich. Er schaut unverwandt herüber. VATER Er ist blind. MUTTER Herr Nachbar habt Ihr gesagt. VATER Ihr habt Euch schnell umgestellt. NACHBARIN Er schaut unverwandt herüber. VATER Ihr habt uns schon abgeschrieben, nicht wahr?33
In der Tat verbündet sich die Nachbarin sogleich mit dem „Feind“ und verweist die verzweifelte Familie des Hauses. Es ist offenbar die Blindheit (die des Fremden), die ihr Angst macht. Diese Blindheit aber ist eine, die sehen kann. Findet sich hier die Blicklosigkeit von Blicken auf eine Gruppe von Opfern wieder, die in ihrer Ver-
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Imre Kertész: Heureka! Rede zum Nobelpreis für Literatur, Frankfurt/M. 2002, S. 25; künftig zitiert als: Kertész: Heureka. Celan: Mohn, S. 34. Eich: Träume, S. 368.
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trautheit anerkannt und daher gerade nicht gesehen wird? Doch wer sind sie, die in ihrer Verzweiflung gesehen und doch nicht gesehen werden? Eich bezeichnet sie als die „Ausgewählten“. Diesem Wort, das, wie schon das Wort der „Zucht“ von Menschen im zweiten Traum, unmittelbar auf die deutsche Vergangenheit zurückweist34, wird jedoch eine vollkommen neue Bedeutung zugewiesen. Zu den „Auserwählten“ zu zählen, heißt, dem Text zufolge, zu denjenigen zu gehören, die „glücklich waren“.35 Eichs Gebrauch des Wortes entstellt also nicht gewaltsam seine ursprüngliche Bedeutung, die seit der Antike das besondere Verhältnis zwischen Gott und dem Volk Israel zum Ausdruck bringt, er lädt das Wort nicht rassistisch auf, wie die Nationalsozialisten dies taten, sondern er verfremdet es, indem er seine Bedeutungsweite abstrahierend erweitert: alle, die glücklich sind, sind „auserwählt“ – und dadurch verfolgungswürdig. Das aber heißt, dass die Verfolgung der Juden, wie sie im ‚Dritten Reich‘ praktiziert wurde, nicht auf sie beschränkt war, sondern potentiell allen galt. Diese Interpretation impliziert wiederum, dass die Leserschaft, sobald sie glücklich ist, sich zu den Verfolgten zählen darf, auf die der blinde Blick eines „Feindes“ fallen könnte – und nicht etwa zur Seite des „Feindes“, von dem die Nachbarin, als sie wieder allein ist, sagt: „Jetzt sieht er nicht mehr herüber. Oh, ich weiß genau, dass er nicht blind ist. Er sieht besser als wir alle.“36 Dass die Frau dem Druck des Blickes, der die Glücklichen zu „Ausgewählten“ im Sinne von: Ausgesonderten und Verbannten macht, nicht standhält, impliziert die Aufforderung an die Leserschaft, sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn sie selbst zu den Opfern und nicht zur Mehrheit gehört hätte, die die Drohung des Blickes der Starken und damit die Vertreibung von Unschuldigen unterstützte: emotional überwiegt, wie schon im ersten Traum, die Identifikation mit den Opfern gegenüber der Analyse dessen, was auf Seiten der Täter geschah. Die qua Abstraktion fortschreitende Entleerung der Tatsache, dass Juden durch Blicke von Außen oft erst zu Juden gemacht und sodann als solche verfolgt wurden (eben als „nichtjüdische Juden“, so die Formulierung Isaac Deutschers37), geht gewissermaßen mit der Behauptung einher, die NichtJuden könnten durch Blicke auf ihr Glücklichsein umstandslos zu ebensolchen Verfolgten werden.38 34
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Als Beispiel mag der folgende Brief dienen: „Für Ihr Schreiben vom 28.7.1942 danke ich Ihnen – auch im Namen des Reichsführers-SS – herzlich. Mit besonderer Freude habe ich von Ihrer Mitteilung Kenntnis genommen, dass nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5000 Angehörigen des auserwählten Volkes nach Treblinka fährt.“ Friedländer: Vernichtung, S. 519. Friedländer nimmt Bezug auf: Nationalsozialistische Vernichtungslager. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno, hg. von Adalbert Rückerl, München 1977, S. 115. Es handelt sich um eine Antwort von Karl Wolff, dem Adjutanten Himmlers, auf einen Brief des Staatssekretärs Dr. Albert Ganzenmüller (der im Reichsverkehrsministerium tätig war.) Eich: Träume, S. 369. Ebd. Der Begriff wird zitiert bei Friedländer: Vernichtung, Bd. 2, S. 277. Christa Wolf entwickelt in Kindheitsmuster den Gedanken, bei den Deutschen hätten Glück und Übereinstimmung stets zusammengehangen: „Die Schicksale der Vernunft – Vernunft als Übereinstimmung – über Jahrzehnte. Vernunft als Dämpfer: Ein Regelungssystem, das, einmal eingebaut, hartnäckig darauf besteht, das Signal für ‚Glück‘
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Durch Kertész, Arendt und Bourke-White wird hingegen eine Denkrichtung ermöglicht, durch die die Verfolger die gewissermaßen neue Tatsache entdecken, dass sie Verfolger sind. In dem Maße, in dem ihr Blick sich auf die Wirklichkeit der Verfolgten richtet (und zugleich auch: sich von ihnen abwendet), stehen sie vor der Unheimlichkeit, dass sie auf sich selbst blicken müssen: der Schock einer Welt, die als altvertraute plötzlich neu hervortritt – als die Ihre, die immer schon augen-fällig war. „Das Moment der Wiederholung des Gleichartigen“, von dem Freud als von der „Quelle des unheimlichen Gefühls“39 spricht, wird auch hier bedeutungsvoll: Der alte Blick erneuert sich hin zum Unheimlichen. Das, was nie unheimlich war, wird es, weil neu ist, dass es als vertraut anerkannt werden muss. Ab diesem Moment könnte vielleicht, wenn der Blick sich denn vertiefte (doch kann er das?), eine Brücke geschlagen werden, hin zur Wahrnehmung der Verfolgten, für die das folgende Zitat aus Ruth Klügers Autobiographie paradigmatisch ist: „Mir ist die Stadt [Wien, in der die Autorin ihrer Kindheit verbrachte, die Heimatstadt also; A.P.) weder fremd noch vertraut, was wiederum umgekehrt bedeutet, dass sie mir beides ist, also heimatlich unheimlich.“40
ZEHNTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: FENSTER MIT GARDINEN Das Krematorium, im Fenster liegend Un cadavre. L’œil gauche mangé par un rat. L’autre œil avec sa frange de cils. Essayez de regarder. Essayez pour voir. 41 Ein Kadaver. Das linke Auge von einer Ratte gefressen. Das andere Auge mit seinem Wimpernrand. Versucht hinzusehen. Versucht’s, um zu sehen. [Übersetzung A.P.]
Jorge Semprun berichtet in seinem autobiographischen Roman Le grand voyage von einem Erlebnis, das er unmittelbar nach seiner Befreiung im April 1945 hatte. Dieses
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nur im Zustand vernünftiger Übereinstimmung aufleuchten zu lassen…“ Wolf: Kindheitsmuster, S. 127. „Einsicht haben und Vernunft annehmen. Auch: Zu sich kommen. (Komm zu dir.)“ Ebd., S. 128. – In Bezug auf das Konzept von „Glück“ denke man etwa an den folgenden Dialog aus dem gleichen Roman, und zwar kurz nachdem die Mutter der Protagonistin in Folge kritischer Äußerungen über den Kriegsverlauf einem Verhör unterworfen wird – ohne weitere Konsequenzen: „Bruno: Nun sei um Gottes willen vorsichtig, kannst von Glück sagen. Charlotte: Glück? – Sie hatte eine herausfordernde Art, Wörter, an denen sie zweifelte, zu wiederholen.“ Ebd., S. 225 Freud: Unheimliche, S. 259. Klüger: weiter leben, S. 68. Delbo: Auschwitz, Bd. 1, S. 137.
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Erlebnis ist für die Frage nach Ein-blick und Ein-sicht von zentraler Bedeutung. Wie Blicke sich dann auch in Eichs Hörspiel spiegeln (und dieses in ihnen), wird im Folgenden schrittweise deutlich werden. Zu Semprun: Er berichtet, es sei ihm, dem Gefangenen, der Blick auf den Blick, den eine Weimarerin von ihrem Wohnzimmer aus auf das Lager Buchenwald hatte, im höchsten Grade unheimlich geworden. Er sei in das Haus eingedrungen, um zu sehen, was die Bewohnerin während all der Jahre, in denen das Lager bestand, gesehen hatte. Er wollte seine Augen festhaken an diesem Fensterblick oder, um mit Musil zu sprechen, „einbrechen“ „wie der Wolf in [eine] friedliche Augenweide.“42 Je cherche l’escalier qui doit mener au premier étage. Je trouve cet escalier et je monte au premier étage. La femme s’est arrêtée un instant, au bas des marches, et elle me regarde monter. Elle doit se demander ce que je veux, c’est sûr. Elle ne comprendrait d’ailleurs pas, si je lui expliquais que je veux simplement voir. Regarder, je ne cherche rien d’autre. Regarder du dehors cet enclos où nous tournions en rond, des années durant. Rien d’autre. Si je lui disais que c’est cela que je veux, simplement cela, elle ne comprendrait pas. Comment pourrait-elle comprendre? Il faut avoir été dedans, pour comprendre ce besoin physique de regarder du dehors. Elle ne peut pas comprendre, personne du dehors ne peut comprendre. Je me demande vaguement, en montant l’escalier vers le premier étage de la maison, si cela ne veut pas dire que je suis un peu dérangé, ce besoin de regarder du dehors le dedans où nous avons tourné en rond. […] J’ai envie de regarder du dehors, ce n’est pas bien grave. Cela ne peut faire de mal à personne. C’est-à-dire cela ne peut faire de mal qu’à moi-même. 43 Ich suche nach der Treppe, die zum ersten Stock hinaufführen muss. Ich finde diese Treppe und gehe nach oben. Die Frau ist einen Augenblick lang stehen geblieben, vor den Stufen, und sieht mich hochgehen. Sicher fragt sie sich, was ich wohl will. Sie würde übrigens nicht verstehen, wenn ich ihr erklären würde, dass ich einfach nur sehen will. 44 Hinsehen45, ich suche nichts anderes. Von draußen dieses Gehege sehen, in dem wir im Kreis gingen, viele Jahre lang. Nichts anderes. Wenn ich ihr sagte, dass es das ist, was ich will, einfach nur das, würde sie nicht verstehen. Wie sollte sie auch verstehen können? Man muss drinnen gewesen sein, um dieses körperliche Bedürfnis zu verstehen, von Außen zu sehen. Sie kann das nicht verstehen, niemand von draußen kann das verstehen. Während ich die Treppe zum ersten Stock des Hauses hochgehe, frage ich mich undeutlich, ob das nicht heißen will, dass ich ein bisschen verrückt bin, mit diesem Bedürfnis, von Außen das Drinnen zu sehen, in dem wir unsere Runden drehten. […] Ich habe Lust, von außen hinzusehen, das ist ja nichts Schlimmes. Das kann niemandem wehtun. Das heißt, das kann nur mir selbst wehtun. [Übersetzung A.P.]
Im Französischen existiert die Möglichkeit, zwischen zwei Formen von „Sehen“ zu differenzieren: „voir“ bedeutet das unintentionale Sehen, in dem die Dinge dem Sehen42 43 44
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Musil: Mann, S. 897. Semprun: Voyage, S. 181-182; Hervorhebungen A.P. Abelle Christaller benutzt schon hier das Verb „hinsehen“, doch mir scheint, dass es wichtig ist, zunächst einmal vom ganz einfachen „Sehen“ zu sprechen. Vgl. Abelle Christaller, in: Semprun: Reise, S. 183. Hier spricht Christaller vom „Hinaussehen“ – was ebenfalls ein guter Übersetzungsvorschlag ist. Vgl. ebd.
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den im Wortsinn „ins Auge fallen“. Es ist zu verstehen als ein Sehen, das quasi ohne Zutun des Sehenden geschieht. Das Verb „regarder“ hingegen meint, dass der Sehende ins Auge fasst, ins Auge nimmt, es sehen oder besser noch: betrachten will. Die Intention zum Sehen geht diesem voran, macht es zum Hinsehen. Das, was die Weimarerin macht, entspricht dieser zweiten Bedeutung. Sie betrachtet den Fremden, der gerade seine Freiheit wiedergefunden hat. Sie will sehen, wie er in ihrem Heim die Treppe hochsteigt, denn die schlichte Tatsache, dass er da und nicht klar ist, was er vorhat, wirkt unheimlich auf sie. Semprun betont jedoch, dass sie vollkommen unfähig sei, zu begreifen, dass sein Ziel ganz einfach ist. Es bestehe darin, zu sehen – das Sehen verstanden als Sehen „ohne Zutun“, entsprechend in etwa der Formulierung „Ich werde mal sehen“: überraschungsoffen. Doch kaum hat der Ich-Erzähler die Absichtslosigkeit seiner Absicht hervorgehoben – er will „voir“ –, wechselt das Verb, hin zu „regarder“. Er will „sehen“ (= voir), um „hinzusehen“ (= regarder). Die Frau aber, die von ihrem Heim aus täglich die Aussicht gehabt hat, die der Gefangene jetzt sucht, könne, so der Text, nicht verstehen, warum Sehen und Hinsehen wichtig sind. Fähig dazu zu sein, hinsehend etwas in Augenschein zu nehmen, sei gebunden an die Bedingung, dass man das „Drinnen“ (das „Hier“ des Lagers) erfahren habe. Die (von Antelme her vertraute) Dialektik von Drinnen und Draußen ist nur dem einstigen Gefangenen zugänglich. Die Frau kennt nur ihr Hier. Ihr Sehen beruht auf der Verweigerung des Blickwechsels. Sie ist in ihrem Haus Zuhause, und zwar ebenso gut im Erdgeschoss, von dem aus nichts, als auch im ersten Stock, von dem aus plötzlich ungeheuer viel zu sehen ist: Je pénètre dans la salle de séjour et c’est bien ça, c’est bien ce que j’attendais. Mais non, si je suis sincère je dois dire que tout en m’attendant à ceci, j’espérais que ce serait autrement. C’était un espoir insensé, bien entendu, car à moins d’effacer le camp, à moins de le rayer du paysage, ça ne pouvait être autrement. Je m’approche des fenêtres de la salle de séjour et je vois le camp. Je vois, dans l’encadrement même de l’une des fenêtres, la cheminée carrée du crématoire. Alors, je regarde. Je voulais voir, je vois. Je voudrais être mort, mais je vois, je suis vivant et je vois.46 Ich dringe ins Wohnzimmer vor, und tatsächlich, das ist genau das, was ich erwartet habe. Doch nein, wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich, während ich dies hier erwartete, doch hoffte, es werde anders sein. Das war natürlich eine sinnlose Hoffnung, denn es konnte gar nicht anders sein, es sei denn, man beseitigte das Lager, radierte es aus der Landschaft aus. Ich nähere mich den Fenstern des Wohnzimmers und sehe das Lager. Genau im Rahmen eines der Fenster sehe ich den viereckigen Schornstein des Krematoriums.47 Und nun also sehe ich hin. Ich wollte sehen, ich sehe. Ich wünschte, ich wäre tot, doch ich sehe, ich lebe und ich sehe. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Sobald der Ich-Erzähler ans Fenster des ersten Stockes tritt, beginnt das Sehen zwischen „voir“ und „regarder“ zu flimmern. Zunächst sieht er nur, dann sieht er hin. Es ist, als versuche er, zu sehen, wie die Bewohnerin des Hauses gesehen haben muss. 46 47
Ebd., S. 182; Hervorhebungen A.P. Der Semprun-Übersetzer Abelle Christaller entscheidet sich für die Übersetzung, der Schornstein „zeichne sich ab“, doch dadurch geht das Thema des Sehens, das hier so zentral ist, verloren. Vgl. Semprun: Reise, S. 184.
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Sie hat gesehen, nichts weiter. Das „Nichts weiter“ umschließt: Sie hat den Schornstein des Krematoriums gesehen. Doch ihre Art, ihn zu sehen, ist nicht nachzuempfinden, denn für den Gefangenen, der gerade erst seine Freiheit wiedergefunden hat, bedeutet die Möglichkeit, den Schornstein zu sehen, notwendig, ihn zu betrachten: „voir“ und „savoir“ fallen in eins zusammen. So sehr er sich auch bemühen mag, einfach nur zu sehen, was sie sah (den Schornstein, nichts weiter), muss er doch feststellen, dass das Was vom Wie des Sehens nicht abgetrennt werden kann. Dass das Krematorium des Lagers zu sehen war und weiterhin zu sehen ist, heißt, dass es demjenigen, der es von seinem Fenster aus sehen kann, ins Auge springt. So absichtsvoll absichtslos der erste Fensterblick auch sein mag, so unmöglich muss es doch erscheinen, vom Anblick des Krematoriums nicht getroffen zu werden: ins Auge. Das, was dem Ich-Erzähler geschieht, ist ein tödlicher Schmerz. Sein Auge erwacht von einer Illusion. Keiner Illusion, aufgrund derer er den Blick vom Krematorium abgewendet hätte, sondern einer, die er sich in Bezug auf den Blick gemacht hatte, den Bewohner Weimars auf das Krematorium gehabt hatten. Das Sehen tut weh, weil mit einem Schlage deutlich wird, dass es derjenigen, der ihr Fensterblick vertraut ist, keineswegs weh getan hatte. Mit anderen Worten: Der einstige Gefangene wird sehend in Bezug auf die Blicklosigkeit, d.h. die „emotionale Blindheit“48, die den Alltag der Frau gebildet hatte. Er wird sehend in Bezug auf die Tatsache, dass diese Frau, anders als Christa Wolf, nicht zu sich selbst sagt: „Noch später aber – bis heute – hast du bei jedem stark qualmenden hohen Schornstein ‚Auschwitz‘ [gemeint als Chiffre für die Shoah; A.P.] denken müssen.“49 Er erkennt mit einem Schlag die „extreme Phantasielosigkeit, die sich als Wahrnehmungsdefekt äußert.“ Die Frau gehört zu den Menschen, die „zu phantasielos“ sind, „um zu sehen, was sie sehen.“50 Für alle Häftlinge, die in Lagern mit Krematorien gefangen gehalten wurden, gab es hingegen auf die Frage, die aus dem Blick resultierte – „Che cosa è quel fuoco?“ („Was ist das für ein Feuer?“ [Übersetzung A.P.]) – nur eine einzige Antwort, eine Antwort der Hellsichtigkeit: „Siamo noi che bruciamo.“51 („Wir sind es, die da brennen.“ [Übersetzung A.P.]) David Rousset fügt ein Bild hinzu, in dem die uneingeschränkte Sichtbarkeit eben dieses Rauches zum Ausdruck kommt: „Dans l’air lourd de neige, la fumée du Krematorium monte, presque droite.“52 („In der Luft, die von Schnee schwer ist, steigt der Rauch des Krematoriums fast senkrecht in die Höhe.“ [Übersetzung A.P.]) Das Krematorium erscheint in einer Rahmung: der des Fensters. Doch sein Bild verschwindet gleichsam in ihm. Das Fenster ist keine Öffnung, sondern ein Verschluss. Der Fensterrahmen rahmt nicht das Bild des Krematoriums, sondern den Alltag eines Zuhauses, das ganz in sich eingeschlossen ist.53 Das soll nicht heißen, dass der Blick der Frau sich vom Draußen abgewendet hätte. Im Gegenteil gehörte dieses 48 49 50 51 52 53
Anders: Hades, S. 199. Wolf: Kindheitsmuster, S. 315. Anders: Mann, S. 19. Levi: „Anhang“, S. 166. Rousset: Jours, S. 124. Aus der Realität berichtete kurz nach Kriegsende ein überlebendes jüdisches Kind: „Die Polen holten sich aus dem Ghetto, was immer sie konnten. Ein Pole bot mir sogar ein ganzes Fenster an.“ Interview mit Hanka Grynberg (geboren 1931), in: Tych: Kinder, S. 136137, Zitat S. 136.
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untrennbar zum Drinnen, denn: es war ja zu sehen, und die Frau stellt keineswegs in Abrede, dass es so war. Und doch blieb das Draußen draußen, denn das Haus mit seinem Fensterblick blieb schlicht der Rahmen, hinter dem es nichts mehr gab. Mit dem Rahmen endete sozusagen das Bild. Es hatte keine Tiefe, es war ein Bild im herkömmlichen Sinne: eine Fläche und damit zum Haus gehörig. Das Krematorium lag nicht vor dem Fenster, sondern in ihm, als gerahmtes Bild, d.h. allein zum Intérieur gehörig. Ein Grund für diese merkwürdige „Intérieurisierung“ könnte in der Art liegen, mit der die Öffentlichkeit allgemein auf Lager wie Buchenwald reagierte: Dass es Konzentrationslager gibt, dass Unschuldige verhaftet werden, dass Menschen spurlos verschwinden, weiß jeder. Gleichzeitig aber weiß auch jedermann, dass es nichts Gefährlicheres und nichts Verboteneres gibt, als über diese offenen Geheimnisse zu sprechen oder gar sich nach ihnen zu erkundigen. Da Menschen für Wissen wie Erfahrungen der Mitmenschen bedürfen, die das Gewusste und Erfahrene mitverstehen und bestätigen können, verliert das, was jeder irgendwie weiß, aber nie laut werden lassen darf, alle greifbare Wirklichkeit und macht sich nur in der Form einer alle Bereiche und Tätigkeiten durchwaltenden, quälenden, vagen Unsicherheit und Angst geltend.54
Die Integration des Unintegrierbaren ins Heimische, die hier sichtbar wird, ist in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Verdrängung von Wirklichkeit und der Öffnung für sie von Bedeutung. Der Blick auf den Blick, von dem Jorge Semprun berichtet, lässt erneut Zweifel daran aufkommen, dass das Konzept der Verdrängung bei dem Versuch weiterhilft, zu verstehen, was psychologisch auf Seiten der Tätergesellschaft geschah. Man könnte sich vielmehr fragen, ob für die „Intérieurisierung“ nicht Günther Anders‘ Satz gilt: „Nicht ‚Heilung‘ heißt die Aufgabe, sondern ‚Wunde‘.“55 Musste sich die Frau, die Semprun in Augenschein nimmt, nicht erst einmal fragen, warum sie nichts hatte wissen, sich nicht hat verwunden lassen wollen? Hätte die Wunde nicht in der Beobachtung bestehen müssen, die Primo Levi festhielt: „[A] dispetto delle varie possibilità d’informazione, la maggior parte dei tedeschi sapevano perché non volevano sapere, anzi, perché volevano non sapere.“56 („Trotz der verschiedenen Informationsmöglichkeiten wussten die meisten Deutschen, warum sie nicht wissen wollten, nein vielmehr, warum sie wollten, nichts zu wissen.“ [Übersetzung A.P.]) Semprun fährt seinerseits fort, die Begegnung mit der Weimarerin zu beschreiben: „Le soir“, je demande, „vous vous teniez dans cette pièce?“ „Oui“, dit-elle, „on se tient dans cette pièce.“ „Vous habitez ici depuis longtemps?“ je demande. „Oh oui!“ dit-elle, „depuis très longtemps.“ „Le soir“, je lui demande, mais en vérité ce n’est pas une question, car il ne peut y avoir de doute là-dessus, „le soir, quand les flammes dépassaient de la cheminée du crématoire, vous voyiez les flammes du crématoire?“ Elle sursaute brusquement et porte une main à sa gorge. Elle fait un pas en arrière et maintenant elle a peur. Elle n’avait pas eu peur jusqu’à présent, mais à présent elle a peur.57 54 55 56 57
Arendt: Elemente, S. 902. Anders: Hades, S. 189. Levi: „Anhang“, S. 161. Semprun: Voyage, S. 183.
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„Des Abends“, frage ich, „hielten Sie sich da in diesem Zimmer auf?“ „Ja“, sagt sie, „wir halten uns in diesem Zimmer auf.“ „Wohnen Sie hier schon lange?“, frage ich. „Oh ja!“, sagt sie, „schon sehr lange.“ „Des Abends“, frage ich sie, aber eigentlich ist das gar keine Frage, weil nicht der geringste Zweifel daran besteht, „des Abends, wenn die Flammen aus dem Schornstein des Krematoriums schlugen, sahen Sie da die Flammen des Krematoriums?“ Sie zuckt jäh zusammen und fährt sich mit der Hand an den Hals. Sie weicht einen Schritt zurück, und jetzt hat sie Angst. Bisher hatte sie keine Angst, doch jetzt hat sie Angst. [Übersetzung A.P.]
Semprun geht von der gleichen Idee aus wie Ruth Klüger: Der Ort der Verbrechen ist keine bloße Ortschaft, sondern eine Zeitschaft, d.h. ein von einer bestimmten, gelebten Zeit erfüllter Raum. Ein gerechter Blick auf den Blick der Frau kann nur gewonnen werden, wenn die Zeitschaft von Buchenwald in ihrem Fensterrahmen lag. Wenn sie hingegen erst ins Haus gezogen wäre, nachdem das Lager aufgehört hatte, zu existieren, wäre ihr Blick auf das Krematorium zwar immer noch ein Blick auf das Krematorium gewesen, doch keiner auf eines, aus dem die Flammen schossen. Die Zeit, in der Sehen notwendig ein Hinsehen forderte, wäre vergangen gewesen und damit ihr Blick ein anderer, als er zuvor gewesen wäre. Doch dieser Versuch, ‚Nachlese‘ haltend zu einem Freispruch in Bezug auf die Blicklosigkeit der Frau zu finden, führt ins Leere. Die Bewohnerin des Hauses ist wirklich und wahrhaftig nicht in der Lage gewesen, die Augen zu öffnen. Ihre Augen waren schon offen: Sie lebt in diesem Haus schon „sehr lange“, hat also den Wandel ihres Fensterblicks hin zu den Flammen, die, Abend für Abend, aus dem Krematorium schlugen, gesehen.58 Hat sie also, Abend für Abend, die Flammen verdrängt? Hatte sie niemandes ‚Absolution‘ nötig? Es drängt sich der Eindruck auf, dass sie es sich, Abend für Abend und auch jetzt noch, im Wohnzimmer wohnlich machte. Auf die Frage des Ich-Erzählers, ob sie sich abends in diesem Zimmer aufgehalten habe, antwortet sie nicht etwa im Imperfekt, sondern im Präsens: Ja, sie halte sich abends in diesem Zimmer auf. Mit Christa Wolf könnte man sagen, „[d]as Bestehende“ habe für sie „einfach durch seine Existenz sein Recht auf Bestand“ bewiesen.59 Sie zeigt sich unfähig, den Blick als „ein Stäbchen oder ein[en] gespannte[n] Faden“ zu begreifen, „woran sich Auge und Anblick gegenseitig stützen […].“60 Der Weimarerin (man muss wohl sagen: gestörtes) Verhältnis zum Raum „da draußen“ ist zugleich ein gestörtes Verhältnis zur Zeit. Sie hat bis zu dem Tage, an dem die besessene Forderung des einstigen Gefangenen sie aufschreckt, er wolle sehen, wie sie sah, nicht im Geringsten den Eindruck gehabt, dass etwas in ihre Zeit eingebrochen war. Folglich nimmt der Ich-Erzähler sie wahr als eine Frau, die ganz im Gefühl der Kontinuität, also frei von Verdrängungen lebte. Sie hat keines58
59 60
Saul Friedländer betont, die Deutschen hätten vielfältige Möglichkeiten gehabt, hinzusehen, d.h. die Augen zu öffnen: „Was sich deutsche Zivilisten, die in Ostoberschlesien lebten, über Auschwitz zusammenreimten, was Bahnbedienstete, Polizisten, Soldaten und jeder, der durch die östlichen Regionen des Reiches reiste, ohne weiteres hören oder mit ansehen konnte, das stellten Reichsdeutsche, die im Warthegau zu Besuch waren oder sich dort angesiedelt hatten, einfach dadurch fest, dass sie das, was sie bei ihren früheren Besuchen, in den Jahren 1940 oder 1941, gesehen hatten, mit dem verglichen, was ein oder zwei Jahre später nicht zu übersehen war.“ Friedländer: Vernichtung, S. 538. Wolf: Kindheitsmuster, S. 314. Musil: Mann, S. 763.
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wegs versucht, etwas zu vergessen, es ins Unbewusste abzudrängen, denn sie hat nie etwas wahrgenommen (im Sinne von: angeschaut), was zu vergessen gewesen wäre. Ist die Behauptung, sie [die Menschen in Europa; A.P.] hätten vor dem, was sie sahen, „die Augen geschlossen“, und das, was zu sehen war, zu sehen sich geweigert, in dieser Einfachheit aufrechtzuhalten? Vermutlich haben sie, mindestens viele von ihnen, die Augen gar nicht mehr zu schließen brauchen. Und sich gar nicht mehr zu weigern brauchen. Weil das Enorme ihre Augen nicht mehr erreichte. Weil ihre Augen bereits voll waren. – Aber sollten wir uns beruhigen bei dieser Begrenztheit?61
Die Tatsache, dass die verweigerte Zeugenschaft der Weimarerin (bzw. ihre „Unfähigkeit, seelisch ‚up to date‘“62 zu sein) mit einer räumlichen Lage des Hauses zusammenfällt, die in Sempruns Text als Sitzen „in der ersten Loge“63 bezeichnet wird, ist weit verstörender, erklärungsbedürftiger als die Verdrängung. Es zeigt sich nämlich, dass sie, die „Analphabet[in] des Fühlens“64, erst eine gewisse Gewalt erfahren muss, bevor sie die Gedankenlosigkeit ihres Blickes wenigstens ansatzweise aufzugeben beginnt. Zuvor hatte stets gegolten: „Mangel an schlechtem Gewissen gleich gutes Gewissen gleich Kriterium der Unschuld.“65 Das Gegenteil davon wäre gewesen: „Gewissen gleich seinem Gewissen misstrauen.“66 Zu diesem Gewissen aber hätte die Weimarerin nur finden können, wenn sie sich auf die Sichtbarkeit in der vollen Wortbedeutung eingelassen und darauf verzichtet hätte, ihre „Augen strammstehn“ zu lassen.67 Wir lassen uns […] von Dichtern ohne weiteres mitteilen, der Gipfel „blicke“ uns drohend „entgegen“, oder der Mond „blicke“ freundlich auf uns „nieder“; und wenn wir derartige Mitteilungen nicht nur als exzentrisch zurückweisen, sondern verstehen, was die Dichter damit sagen wollen, so zeigt das eben, dass auch uns noch die „blickenden Dinge“ etwas Selbstverständliches sind; dass auch wir in ihrem „Aussehen“ etwas sehen, „was von sich aus sieht“; und dass wir im Idiom der Dichter diese uns früheste und vertrauteste Weltsicht wiederfinden. Wie man die Tatsache dieser „gegenseitigen Sichtbarkeit“ [z.B. von Mensch und Schornstein; A.P.] nennt, ob „Animismus“ oder „Anthropomorphismus“, ist ziemlich gleichgültig. Aber ihre Wurzel hat sie wohl darin, dass wir, wenn die Welt […] uns bedroht, [es] „auf uns abs[ieht]“.68
Mit Blick auf das Problem von Wissen und Gewissen, das nur unter der Voraussetzung erkennbar wird, die Wechselseitigkeit alles Sichtbaren zuzugeben, betont Eugen Kogon, dass das Buchenwalder Krematorium nicht allein der Verbrennung von Leichen diente, sondern auch Hinrichtungsstätte war:
61 62 63 64 65 66 67 68
Anders: Hades., S. 42-43. Anders: Antiquiertheit., S. 15. Semprun: Voyage, S. 179. Anders: Mann, S. 138. Ebd., S. 31. Ebd. Musil: Mann, S. 1026-1027. Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 80.
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In einer Reihe von KL hat die SS aus Gründen der „Rationalisierung“ Exekutionen, die von Himmler, sei es direkt, sei es über das SSWVHA, angeordnet waren, gleich im Krematorium selbst oder unmittelbar daneben vorgenommen. In der Regel wurde der Häftling erwürgt, erschlagen oder gehenkt. Dafür waren in die Wände einer Krematoriumsabteilung feste Haken eingeschlagen, in Buchenwald 48. Man brauchte die Leichen dann nur einige Meter weit zu den Öfen zu schaffen. Die Henkersarbeit leisteten Scharführer unter Beihilfe des jeweiligen Kapos des Krematoriums. […] Insgesamt dürften im Krematorium Buchenwald an die 1100 Menschen gehenkt worden sein. Es kam auch vor, dass eine Gestapoleitstelle die Arbeit bereits selbst geleistet und nur die Leichen zum Verbrennen schickte. Sie waren dann in Strohsäcken eingepackt.69
Kehren wir von der Nüchternheit dieses Blickes zurück zum Hörspiel. Unser Ausgangspunkt war ja das Fenster gewesen, von dem aus das Draußen beobachtet wurde. Bei Eich begegnet uns eine Konstellation, in der erst noch der Prozess hin zum Sehen ohne Hinsehen thematisch wird. Die Familie, die vom „Feind“ aus ihrem Haus vertrieben wurde, um sodann von der Nachbarin abgewiesen zu werden, befindet sich im „Freien“. Bei ihrer Suche nach einem Unterschlupf werden, wie erwähnt, die Fenster wichtig. Nehmen wir genau in Augenschein, was mit diesen geschieht: VATER Kommt, wir läuten hier. Der Bürgermeister war immer unser Freund. Er muss uns eine andere Wohnung geben. Klingel. Ein Fenster wird geöffnet. BÜRGERMEISTER Was wollt ihr? VATER Ihr wisst es, Bürgermeister. Wir mussten unser Haus verlassen. BÜRGERMEISTER Geht weiter, ihr gehört nicht mehr zu uns. VATER Aber – BÜRGERMEISTER Nichts aber. Ihr habt kein Haus mehr in Freetown. Ihr seid Diebe. MUTTER Diebe? BÜRGERMEISTER Trägt Elsie nicht ihr Puppe auf dem Arm? […] Zu spät. Ihr habt euch ins Unrecht gesetzt, und wir sind alle froh, dass ihr das getan habt. Ich bin euer Freund, ich rate euch, geht fort, ehe ihr verhaftet werdet. Kein Wort mehr! Er schlägt das Fenster zu. VATER Kommt, wir müssen weiter.70
Die Anpassung an den plötzlich hereinbrechenden „Feind“ erfolgt hier durch eine Abriegelung des eigenen Zuhauses. Das Fenster ermöglicht die Kontrolle über die Tür: Wer vor dem Fenster nicht besteht, wird nicht hereingelassen. Zugleich wird das Fenster zum Ort, an dem kurzer Prozess gemacht wird. Wer im Begriff steht, sich durch die Unterlassung von Hilfeleistung der Kollaboration schuldig zu machen, schiebt die Schuld den Opfern zu. Adorno und Horkheimer nennen diesen Mechanismus „falsche Projektion“. Dem prospektiven Opfer werde das zugeschrieben, was der Täter selbst im Sinne habe. „Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben 69 70
Kogon: SS-Staat, S. 184. Eich: Träume, S. 369; Hervorhebungen A.P.
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den schwächsten Nachbarn als unerträgliche Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen.“71 Die Bewohner von Freetown sind dabei, sich in den Besitz des Hauses der Nachbarsfamilie zu setzen – doch als diebisch wird das Kind bezeichnet, das dann, wie im Nationalsozialismus tatsächlich üblich, eine Art ‚Sippenhaft‘ auslöst: Weil das Kind ein Spielzeug mitgenommen hat, wird die gesamte Familie bestraft: „guilt by association“, fassbar auch in der Formel „[W]er mit Juden umgeht, ist selbst ein Jude.“72 In der Tat muss mit Hannah Arendt konstatiert werden, dass das ‚Verbrechen‘ in jedem Fall früher ist als die Aufspürung des Verbrechers. Ist aber erst einmal objektiv entschieden, welches Verbrechen in einem bestimmten Moment der Geschichte gerade an der Tagesordnung ist, so müssen auch die „Verbrecher“ gefunden werden.73 Mit anderen Worten, das Delikt hängt ganz und gar von den im geschichtlichen Augenblick enthaltenen Möglichkeiten ab. Diesen Möglichkeiten muss auch dann entsprochen werden, wenn die Wirklichkeit ihnen nicht entspricht, dass heißt, wenn zu dem „möglichen Verbrechen“ keine wirklichen Verbrecher sich entschlossen haben.74
Daraus folgt, dass jedes von den jeweiligen logischen Rechenkünsten der Machthaber deduzierte mögliche Vergehen in diesem System auch bestraft werden muss – als hätte die Geschichte, in der es tatsächlich nicht begangen wurde, sich eines Fehlers schuldig gemacht, der von denen, die mit der Exekution geschichtlicher Gesetze betraut zu sein wähnen, korrigiert werden müsse.75
Der Blick aus dem Fenster lässt im Hörspiel an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Der Bürgermeister sieht, wer vor seinem Haus steht. Doch die Verweigerung, es den Verfolgten zu öffnen, nimmt schon vorweg, was dann geschieht: dass nämlich das Fenster gleich wieder zugeschlagen (und damit die Möglichkeit, einen Blick auf die Wirklichkeit zu gewinnen, abgewehrt) wird.76 Zuverlässig ist in der Tat nur der, „der 71 72 73 74 75 76
Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 196. Arendt: Elemente, S. 696. Ebd., S. 877-878. Ebd., S. 886. Ebd., S. 887. Eich hat sich hier offenbar einen Schritt wegbegeben von der Idylllik, die er am 1. Februar 1946 in einem Brief an Hermann Kasack in Bezug auf seinen Fensterblick in Gneisenhausen für festhaltenswert hielt: „Blick durch mein Fenster Das Fenster liegt hoch genug, um die Ziegel- und Blechdächer, die Kamine, Antennen und Lichtdrähte der Häuser zu überschauen. Dazwischen weht ein Kastanienwipfel. Mächtig aber füllt den Blick die massige Kirche aus, das steile, wie eine Gebirgswand aufsteigende Dach und der in mehreren Gesimsen sich absetzende Turm, ein kleiner bäurisch-derber Bruder von St. Martin in Landshut. Auf den Gesimsen wächst Gras, das unter dem Flügelschlag der Dohlen weht und unterm Geläut der Glocken vibriert wie die Luft. Den Dohlen ist der Turm Horst und Felsenmassiv. Der Mesner klagt, dass sie ihm die Uhren
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seine Freunde zu verraten bereit ist.“77 Qui tacet consentire videtur. Damit ist Hannah Arendts These zuzustimmen: „Die totalitäre Polizei hat nicht die Aufgabe Verbrechen aufzudecken; was für Verbrechen gerade verübt werden und wer die Verbrecher jeweilig sind, bestimmt der Führer.“78 Der „Duckmäuser-Pakt“ und das „Profitteilhaber-Abkommen“79 funktionieren also reibungslos. „Der als Feind Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen.“80 Doch wie ist ein solches Verhalten psychologisch zu erklären? Adorno und Horkheimer haben die folgende Interpretation vorgeschlagen: Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußeres loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr.81
Und damit gilt für die eichsche Geschichte, was auch für das ‚dritte Deutschland‘ gilt: Nella Germania di Hitler era diffuso un galateo particolare: chi sapeva non parlava, chi non sapeva non faceva domande, a chi faceva domande non si rispondeva. In questo modo il cittadino tedesco tipico conquistava e difendeva la sua ignoranza, che gli appariva una giustificazione sufficiente della sua adesione al nazismo: chiudendo la bocca, gli occhi e le orecchie, egli si
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verrücken; oft belasten sie, dicht nebeneinander sitzend, die Zeiger. So lassen sie die Zeit einmal schneller, einmal langsamer dahingehen, unbeschwert von Gedanken an die Vergänglichkeit. Ich ahnte bei meinem Blick aus dem Fenster die Orgel unter dem Steingebirge. Sie summt mir in den Ohren. Unten auf der Straße läutet in der Entfernung ein Ochsengespann, das seine Fracht in die Ewigkeit zieht.“ Eich: Werke, Bd. IV, S. 289. Vgl. Dazu das Gedicht Gneisenhausen: „Das Gras auf dem Turmgesimse erzittert im Glockenschlag. Die Flügel der Dohlen teilen den Himmel und mir den Tag. // So werden Glocken und Vögel mein Raum und meine Zeit. Das Ochsengespann in der Tiefe zieht Holz in die Ewigkeit. // Der Zeiger der Uhr läuft schneller unter dem Dohlengewicht. Die Vögel über den Dächern fürchten kein Gericht.“ (Eich: Werke, Bd. I, S. 41). Arendt: Elemente, S. 697. Ebd., S. 882. Kogon: SS-Staat, S. 402. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 196. Ebd., S. 201.
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costruiva l’illusione di non essere a conoscenza, e quindi di non essere complice, di quanto avveniva davanti alla sua porta.82 In Hitler-Deutschland waren besondere Anstandsregeln verbreitet: Wer wusste, sprach nicht, wer nicht wusste, stellte keine Fragen, der, den er fragte, antwortete nicht. Auf diese Weise erwarb und verteidigte der typische Deutsche seine Unwissenheit, die ihm als ausreichende Rechtfertigung seiner Zugehörigkeit zum Nazismus erschien: den Mund schließend, die Augen und die Ohren, schuf er sich die Illusion, sich nicht des Geringsten bewusst und also kein Komplize zu sein, so viel auch vor seiner Tür passieren mochte. [Übersetzung A.P.]
Die ethischen Konsequenzen, die sich aus Eichs Fensterblicken ergeben, sind, wie die Interpretationsversuche von Überlebenden zeigen, weitreichend. Offenbar sind die Fragen, die zu stellen waren in Bezug auf die ‚Unsichtbarkeit‘ der Deportationszüge, um die nach der ‚Unsichtbarkeit‘ der Lager zu ergänzen. Augen, Hände, Hälse Vielleicht ist jeder Atemzug von dir der letzte Hauch eines anderen.83
Doch um die ‚Unschuld‘ der Täter und Mitläufer zu verstehen, die in der retrospektiven Behauptung beschlossen liegt, nichts gesehen zu haben, ist es nötig, erneut zu Semprun zurückzukehren. Die Fragen, die der Ich-Erzähler an die Weimarerin richtet („[D]es Abends, wenn die Flammen aus dem Schornstein des Krematoriums schlugen, sahen Sie die Flammen des Krematoriums?“84), bezeichnen den Moment, in dem der Umschlag vom Nicht-Wissen ins Wissen erfolgt, von dem bei Kertész die Rede gewesen war: Plötzlich weiß sie, dass sie wusste, plötzlich sieht sie, was sie gesehen hatte, plötzlich sieht sie ein, dass sie Einsicht in Dinge hatte, die durch die Aussicht aus ihrem Fenster ermöglicht wurde. Der Umschlag in ihrer einstigen Haltung, die schockiert, weil sie sich noch nicht einmal einer Verweigerung, hinzusehen, verdankte, sondern schlicht war, was sie war: sie sah, ohne zu sehen – dieser Umschlag also macht sich in körperlichen Gesten bemerkbar, die uns auf den Fotos, die Bourke-White in Buchenwald aufgenommen hat, wiederbegegnen. Kehren wir zu diesen Fotos zurück. Ziehen wir den gedanklichen Kreis noch enger. Die Frau in Sempruns Text fasst sich an den Hals, die Frauen auf den Fotos, die sich den Leichenbergen gegenübersehen, fassen sich an die Nase. Sie halten sich Taschentücher vor’s Gesicht. Die Evidenz der Präsenz der verwesenden Leichen ist zu sehen und zu riechen. In der Tat galt das, was David Rousset in Bezug auf Mauthausen betont, auch für Buchenwald: Es stank nach Leichen. Ein Gefangener erklärt: „Ça dépend du vent. On a deux odeurs ici, celle de la cuisine, qui est bonne quand la soupe est aux haricots, et celle du Krematorium. Lorsque le vent souffle de l’est, tu sens la charogne et les os
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Levi: Uomo., S. 162. Elias Canetti: Die Provinz des Menschen, Frankfurt/M., S. 164; künftig zitiert als: Canetti: Provinz. Semprun: Voyage, S. 183.
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brûlés.“85 („Es hängt vom Wind ab. Es gibt hier zwei Gerüche, einen aus der Küche, der gut ist, wenn die Suppe aus Bohnen besteht, und einen aus dem Krematorium. Wenn der Wind aus dem Osten kommt, riechst Du die faulenden Leichen und die verbrannten Knochen.“ [Übersetzung A.P.]) Nehmen die Männer, die Bourke-White ins Bild gebannt hat, diesen Geruch jetzt endlich wahr?86 Es handelt sich erneut um ein Foto, das den „Besuch“ von Weimarern im Konzentrationslager Buchenwald zeigt. Zu sehen sind Männer, die vor dem, was sie sehen, gestisch reagieren. In dieser Hinsicht sind sie den Frauen vergleichbar, doch mit charakteristischen Unterschieden gegenüber jenen: Sie – die Männer – verschränken die Arme. Einige zusätzliche Worte zu diesem neuen Foto. Ein Mann, der im Vordergrund steht, hat den Hut abgenommen und seinen linken Fuß auf einen niedrigen Mauervorsprung gesetzt, der ihn von dem, was er sieht, zu trennen scheint. Sein Blick ist gerichtet auf das, was die Amerikaner ihm zeigen wollen. Doch zugleich umfasst seine rechte Hand sein linkes Handgelenk, so als wolle er seinen Körper daran hindern, beim Blick auf das Grauen ganz gegen seinen Willen in unkontrollierbare Gesten zu verfallen. Während auf den Fotos also, bei allem Ernst, der Ausdruck des Schocks ist, den die deutschen Besucher erfahren haben, eine Form von Selbstkontrolle überwiegt (ihre Körper halten sich mit verschränkten Armen selbst zusammen), ist für die Geste, von der Semprun schreibt, ein Kontrollverlust kennzeichnend: Die Frau vollführt einen Sprung und fährt sich mit der Hand an die Gurgel. Es ist, als fürchte sie, von ihrem Gegenüber erdrosselt zu werden. Dieser nimmt wahr, dass sie mit einem Male Angst hat. Diese Angst aber bezieht sich in Wirklichkeit nur auf die Frage, die er ihr gestellt hat. Sie wird nicht von Händen gedrosselt, sondern von ihren eigenen Augen: Die Frage macht ihr klar, dass sie des Abends mit der Selbstverständlichkeit, die der Wiederholung anhaftet, die Flammen des Krematoriums gesehen hat. Ihre vorherige Rücksichts-Losigkeit weicht ersten Ansätzen, zurückzusehen, auf ihre Vergangenheit. Noch einmal: Freud sagt, dass „das Moment der Wiederholung des Gleichartigen“ zur „Quelle des unheimlichen Gefühls“ werde.87 Doch diese Wiederholung muss von Außen erfolgen, darf nicht absichtlich von der Person selbst herbeigeführt werden. Es sei zu betonen, so Freud, „dass es nur das Moment der unbeabsichtigten Wiederholung ist, welches das sonst Harmlose unheimlich macht und uns die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren aufdrängt, wo wir sonst nur von ‚Zufall‘ gesprochen hätten.“88 In der Tatsache, dass die Frau, deren Wohnzimmer eine „Loge“ ist, von der aus sie auf die Bühne eines Lagers blickt, in dem tagtäglich Leichen verbrannt werden, die Flammen nicht nur einmal sieht, sondern immer wieder, in tagtäglicher Wiederholung, besteht für Semprun das Verstörende, Unheimliche. Umgekehrt gilt jedoch für die Weimarerin, dass sie dem Gefühl der Unheimlichkeit dessen, was sie sah und tat, gerade durch die Wiederholung dessen, was sie sah und tat, hatte ausweichen können. 85 86
87 88
Rousset: Jours, S. 316. Bourke-White: Deutschland, Foto 61. Die Bildlegende lautet: „Es war General George Pattons Idee, daß die braven deutschen Nachbarn Buchenwald besichtigen sollten. Diese zuckten beim Anblick dessen, was auf der Seite gegenüber zu sehen ist, zusammen. Eisenhower besuchte das Lager, er war danach nicht mehr bereit, mit deutschen Generälen zu sprechen.“ Ebd. Freud: Unheimliche, S. 259; Hervorhebung A.P. Ebd., S. 260.
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Der Schrecken ihres Logenplatzes wurde durch die Tagtäglichkeit nicht größer, sondern war verschwunden. Das hatte damit zu tun, dass die Wiederholung ihr nicht begegnet war – begegnet als etwas von Außen Kommendem –, sondern dass sie die Wiederholung selbst herbeiführt hatte: Sie selbst hatte sich in ihr Wohnzimmer gesetzt und aus dem Fenster gesehen.89 Die Unentrinnbarkeit des Blickes, der in der Aussicht aus ihrem Fenster beschlossen lag, konnte zu keinem Zeitpunkt als verhängnisvoll wahrgenommen werden, weil der Blick nicht von Außen (dem Dort nämlich) zu ihr drang, herein-drang, sondern immer schon ins wohnliche Hier integriert war. „La femme aux cheveux gris, derrière moi, parle: ‚Eine gemütliche Stube, nicht wahr?‘“90 („Die Frau hinter mir, mit den grauen Haaren, spricht: ‚Eine gemütliche Stube, nicht wahr?‘“ [Übersetzung A.P.; Frage im Original auf Deutsch.]) Sie fühlt sich wohl und heimisch, wo sie ist. Das Heimischsein absorbiert alles, was von draußen kommt. Gerade weil das Fenster offen ist, ist es geschlossen. Es öffnet sich dem Draußen, um diejenige, die tagtäglich aus ihm heraus blickt, die Sicht auf die Wirklichkeit „dort“ zu versperren. „Das wirklich Verrückte liegt erst im Unverrückbaren“91 – nämlich des Fensters vor dem Fensterbild. Seine Wirklichkeit besteht darin, dass es keinerlei Wirkung hat, weil die Frau sich die Gemütlichkeit ihres Intérieurs, geradezu zwanghaft – verrückt-unverrückt – und gerade darum ‚normal‘, wiederholt. Wiederholung ist gebunden an ihr Hier und nur an dieses. Keine Verdrängung oder Verrückung ist nötig, weil nichts verdrängt werden muss: Die Wirklichkeit wird eingelassen, als Blick. Die Rahmung des Fensters als Rahmung kontinuierlicher Gemütlichkeit macht sie sofort wieder unschädlich. Mit Günther Anders könnte man sagen: „Das Gefühl der Geborgenheit [ebenso wie das der Gemütlichkeit; A.P.] ist der Restitutionsbetrag, den wir dafür erhalten, dass wir uns unsere Verantwortung abnehmen, also unsere Freiheit nehmen lassen.“92 Dies verweist erneut auf den Freiheitsbegriff, den ich weiter oben diskutiert hatte. Christa Wolf weist darauf hin, die Gaskammern seien als „Zimmer normaler Größe und Art im Anschluss an die übrigen Räume der Anstalt“ bezeichnet worden.93 Aus dieser Verwendung des Adjektivs ‚normal‘ leitet der Text weitreichende Konsequenzen in Bezug auf die Gemütlichkeit ‚nach Auschwitz‘ ab – und was hier zur Sprache kommt, gilt ‚natürlich‘ auch für das von Semprun Erlebte: Der Gedanke, jedermann in Deutschland hätte das zwingende Bedürfnis haben müssen, seine Wohnung – Zimmer normaler Größe und Art – auszuräumen, einzureißen, von Grund auf zu verändern, damit sie nicht einer Gaskammer gliche: Dieser Gedanke ist gewiss wirklichkeitsfremd und wird Unwillen hervorrufen, denn eher machen wir aus unserem Herzen eine Mörder89
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Dies gilt für viele „bystanders“, wie es auf Englisch heißt. Mit Blick auf litauische Mordtrupps in Kowno, die in den ersten Tagen der deutschen Besatzung Juden ermordeten, hält Saul Friedländer fest: „Andere Berichte beschreiben den begeisterten Zulauf der litauischen Bevölkerung (wobei sich viele Frauen mit Kindern den ganzen Tag ‚in der ersten Reihe‘ niederließen) sowie zahlreicher deutscher Soldaten, die allesamt die Mörder mit Zurufen und Beifall anfeuerten.“ Friedländer: Vernichtung, S. 250. Semprun: Voyage, S. 183. Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 204. Anders: Endzeit, S. 187. Wolf: Kindheitsmuster, S. 269.
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grube als eine Räuberhöhle aus unseren gemütlichen vier Wänden. Leichter scheint es, ein paar hundert, oder tausend, oder Millionen Menschen in Un- oder Untermenschen umzuwandeln als unsere Ansichten von Sauberkeit und Ordnung und Gemütlichkeit.94
Das Wort „Räuberhöhle“ steht für Durcheinander und hochgradige Unordnung – Gegenbild bürgerlicher „Gemütlichkeit“. Das Wort „Mördergrube“ muss hingegen, obwohl auf den ersten Blick fast bedeutungsgleich mit der „Räuberhöhle“, als Sinnbild des Schreckens betrachtet werden, der dem Wohnen in „Zimmer[n] normaler Größe und Art“ anhaftet.95 Sobald nämlich die Täter im „Gemüt“ (das ja wohl im – eichschen? – „Herzen“ sitzt) die Tatsache verbergen, dass sie, mehr oder weniger direkt, an Mord und Raub beteiligt sind, wird das „Gemütliche“ in ihren Wohnungen unabweisbar: als Schutzmechanismus gegen die Ein-Sicht im Wortsinn, nämlich als Versuch, zu begreifen, was man vor sich selbst verbirgt. Gemütlichkeit Ma la guerra è finita, – obiettai […]. – Guerra è sempre, – rispose memorabilmente Mordo Nahum. 96 Aber der Krieg ist doch zuende, – widersprach ich. – Krieg ist immer, – lautete Mordo Nahums denkwürdige Antwort. [Übersetzung A.P.]
Ein ganzes Team hat, unter der Leitung Ute Freverts, das „Gefühlswissen“ – und darunter auch die Worte „gemütlich“ und „Gemüt“ – in lexikalischer Hinsicht untersucht. Sie spielen für die Frage nach der Kodierung von Emotionen eine zentrale Rolle. Während im späten 18. Jahrhundert das Adjektiv „gemütlich“ noch verstanden wurde als „Neigung oder Munterkeit des Gemüthes“, im Sinne von: „Es ist mir heute nicht gemüthlich, spazieren zu gehen, ich habe keine Neigung dazu“97, verschob sich der Akzent schrittweise hin zu einer Bedeutung, die die gefühlsmäßige Bindung an andere Menschen mit einschloss. So definierte der Brockhaus von 1827, ein Mensch sei gemüthlich, wenn „bloß durch seine eigne Gemüthsäußerung das Gemüth eines ande-
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Ebd. Im Grimmschen Wörterbuch findet man für das Wort „Mördergrube“ die folgende Verwendung: „unglücklich geschöpf, das mit der hölle in gemeinschaft tritt! es macht sein herz zur mördergrube und vertauschet freuden um jammer.“ Vgl. Stichwort „Mördergrube“, URL http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GM07198; abgerufen am 26.5.2014. Levi: Tregua., S. 57. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber des Oberdeutschen, 2. Auflage, Bd. 2, Leipzig 1793-1801 (hier 1796), Sp. 556 (Stichwort „Gemüthlich“). Das Lexikon ist auch online verfügbar, und zwar unter URL: http://www.zeno. org/Adelung-1793; abgerufen am 1.9.2016.
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ren Menschen in einen angenehmen und behaglichen Zustand versetzt wird.“98 Benno Gammerl präzisiert: Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts rückten die deutschsprachigen Enzyklopädien also zwischenmenschliche Beziehungen ins Zentrum des emotionalen Vokabulars. Zunächst entwickelte sich dabei eine Topografie aus Gefühlen der Annäherung und der Distanzierung, die fein voneinander abgestufte interpersonale Bezüge jeweils besonders emotional grundierten. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert stand dagegen – vor allem unter dem Schlagwort Gemütlichkeit – die zwischenmenschliche Nähe in eingehegten Gemeinschaften im Vordergrund.99
Diese Idee „eingehegter Gemeinschaften“ leitet über zur nationalsozialistischen Konzeption der „Volksgemeinschaft“, die sich in Meyers Lexikon (und zwar in der Ausgabe von 1938) wie folgt niederschlägt. Gemüt wird hier verstanden als eine dem Deutschen eigentümliche, in keine andere Sprache übersetzbare Bezeichnung für die gefühlsartig empfundene Innerlichkeit der Seele, mit der der deutsche Mensch sich selbst und das gesamte Dasein erlebt, zutiefst bestimmt durch seine rassische Gefühls- und Werthaltung.100
Die „lexikalischer Spurensuche“ strebt hier zu dem Punkt hin, der für meinen Kontext entscheidend ist. Das Wort „Gemüt“ ist auch für die Situation der Weimarerin von Bedeutung. Ausgehend von Ute Freverts These, „dass Emotionen in der Moderne genau dort ihre spezifische Bedeutung gewann, wo die ‚Steigerung sozialer Komplexität‘ den ‚Bedarf nach ‚Nahwelt‘“101 anwachsen ließ, stellt sich die Frage, ob das Krematorium (und die von ihm bedrohten Menschen) der Weimarerin eigentlich wirklich nah gewesen seien? Darf man aus räumlicher Nähe schnell die emotionale schließen? Oder gilt das Gegenteil? Entspricht die Nähe gerade der Ferne? Georg Simmel betont, im Gegensatz zu Giddens, der von der Zunahme räumlich distanzierter Beziehungen ausgeht, dass räumliche Nähe als Signatur der Moderne zu gelten habe. „Für ihn dienten die ‚gefühlsmäßigen Geneigtheiten‘ nicht der Stabilisierung prekärer Fernbeziehungen, sondern sie sollten die Enge erträglich machen.“102 Liegt bei der Weimarerin eben diese Enge vor? Die Enge, die auch Eich beschäftigt? Aber eine gefühlsstumpfe Enge?
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Brockhaus, 7. Auflage, Bd. 4, 1827, S. 585 (Stichwort „Gemüth“). Hinzugefügt wird: „Aber auch Gegenstände, besonders Kunstwerke, welche das Gemüth in eine behagliche Stimmung versetzen, werden gemüthlich genannt.“ – „Gemüthlich“ konnte aber auch die „Nebenbedeutung des Zarten, Sinnigen, zufrieden Heiteren, Gütigen, Schmiegsamen“ haben. Vgl. Pierer, 6. Auflage, Bd. 9, 1877, S. 36 (Stichwort „Gemüth“), hier zitiert nach: Benno Gammerl: „Gefühlte Entfernungen“, in: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, hg. von Ute Frevert u.a., Frankfurt/M., New York 2011, S. 179-200, Zitat S. 196; künftig zitiert als: Gammerl: „Entfernungen“. 99 Ebd., S. 198. 100 Meyers Lexikon, 8. Auflag, Bd. 4, Leipzig 1936-1942 (hier 1938), Spalte 1199 (Stichwort: „Gemüt“). 101 Gammerl: „Entfernungen“, S. 179. 102 Ebd., S. 197.
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In Eichs drittem Traum wird, ähnlich wie bei Semprun, die Gemütlichkeit der Täter verhandelt. Doch hier gerät, obwohl von Seiten der Opfer keine Gegenwehr zu erwarten ist, die Gemütlichkeit in Gefahr. Es heißt: MUTTER Wir brauchen niemanden mehr zu fragen. Sie stehen alle hinter den Gardinen und sehen uns nach. Niemand ruft uns herein. Alle sind froh, wenn wir gehen.103
In Bezug auf den Fensterblick der Weimarerin werden keine Gardinen erwähnt – bei Eich hingegen werden sie zur Metapher der Hinterhältigkeit, Schadenfreude und Feigheit von Menschen, die zwar wissen, was vor sich geht, jedoch nicht gewillt sind, Konsequenzen aus diesem Wissen zu ziehen („sehen“ und „gehen“ reimen sich). Gardinen verdecken den Blick auf die Verfolgten nur unzureichend. (Auch mit Gardinen kann man bequem aus dem Fenster sehen.) Doch wichtig ist in einem ersten Schritt nicht so sehr, dass die Freetowner die Verfolgten nicht sehen müssen. (Im Gegenteil stellen sie sich ja gerade hinter ihre Gardinen, um nach draußen sehen zu können.) Es ist wichtig für sie, sich die Illusion zu verschaffen, die Verfolgten merkten nicht, dass Augen ihnen folgen. Es ist, als existiere die Schuld nicht, solange die Gardinen den Nachweis unmöglich machen, dass die Freetowner mit dem „Herzen“, das zur „Mördergube“ geworden ist, aus dem Fenster sehen. Solange die Opfer nicht wissen (oder besser: nicht deutlich machen können), dass man sie als Opfer wahrgenommen hat, kann das Fenster den Tätern als blicklos gelten: als blindes Fenster. In Wirklichkeit ist es aber so, dass die Gardinen den Blick in die Häuser (d.h. Mördergruben) erschweren. Es soll also nicht der Blick nach Außen, auf die Realität der Verfolgten, sondern vielmehr ein Blickwechsel (hinein in die gemütlichen „Mördergrube“) abgewehrt werden. Bei diesem würden die Verfolger die Verfolgten sehen und die Verfolgten die Verfolger. Horst Bredekamp weist darauf hin, dass sich bezüglich der Vorbereitung von Hinrichtungen historisch bestimmte Traditionen abzeichneten: Man verbinde den Hinzurichtenden die Augen. Der Grund dafür sei aber ein anderer, als gemeinhin angenommen. Man tue dies „nicht um den Todgeweihten den Anblick der Mündungen zu ersparen, sondern um die Schützen vor dem Blick des Sterbenden zu bewahren.“104 Bei Eich taucht (trotz gewisser Verschiebungen) ein vergleichbarer Mechanismus auf: Da man den Verfolgten entgegentreten müsste, um ihnen die Augen zu verbinden, binden die Verfolger den Augen ihres Hauses Gardinen vor. So machen sie sich selbst blind – doch nicht, um die Verfolgten vor ihrem eigenen Anblick zu schützen, sondern umgekehrt, um selbst nicht alles sehen zu müssen. Das, was man mit den Fenstern tut, nimmt also schon vorweg, was die Augen zu unterlassen bereit sind: hinzusehen. Die Konsequenz dieses Schutzmechanismus ist eine unmittelbare: Das Bild, das die Verfolger von sich selbst haben, ist nicht aufzubrechen. Die „gemütlichen“ Intérieurs, die Christa Wolf beschreibt, bleiben ‚normal‘, verändern sich nicht zur „Räuberhöhle“, die den Willen anzeigen würde, das, was den Verfolgten geschieht, wirklich wahrzunehmen:
103 Eich: Träume, S. 370; Hervorhebung A.P. 104 Bredekamp: Bildakt, S. 234.
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Auf zwei Sesseln und der Couch sitzen Eltern und Kinder nebeneinander und einander gegenüber. Eine gewisse Steifheit vor der Kamera kommt auf Kosten der Ungeübtheit der Fotoobjekte. Immerhin: Steil aufgerichtet blicken sie lächelnd aneinander vorbei, in die vier Ecken des Herrenzimmers. Niemals wird man beweisen können, dass Millionen solcher Familienfotos, übereinandergelegt, etwas mit dem Ausbruch eines Krieges zu tun haben könnten.105
Und damit sind wir wieder bei Sempruns gerahmter Gemütlichkeit, wieder bei der Weimarerin, die sich mit den Ihren Abend für Abend in der „gemütlichen“ Stube aufhielt. Vielleicht ist ihr Fensterbild sogar noch furchtbarer106, als bisher angenommen: Es ist nicht nur „unschädlich“ (und zwar weil der Blick, kaum hereingedrungen, schon wieder zum Intérieur gemacht wird, zum Bild ohne Tiefenschärfe), nein, es steigert vielleicht sogar die Gemütlichkeit. Die Frau ist hier, nicht dort. Dass sie sich hier weiß, setzt voraus, dass sie augenblicksweise weiß, dass sie nicht dort ist. Doch weil es so normal und gemütlich ist, hier zu sein und nicht dort, verschwindet dieses Wissen eben doch gleich wieder. Wenn aber die Gemütlichkeit die Verdrängung (als Fähigkeit zu verstehen und nicht etwa als Problem) zunichte macht, dann stellt sich die Schuldfrage in der Schärfe, mit der Kertész sie gestellt hat: Die Weimarer haben nicht gelogen. Jeder einzelne von ihnen ist wirklich unschuldig, denn er wusste nichts. Er kannte nur seine Gardinen. Da das Ich als Subjekt „nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz. […] Es schwillt über und verkümmert zugleich. Grenzenlos belehnt es die Außenwelt mit dem, was in ihm ist […].“107 „Der Wahrnehmende ist im Prozess der Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig.“108 So tritt in einem letzten Schritt erneut Hannah Arendt auf den Plan: Eichmann (und mit ihm andere, z.B. der eichsche Bürgermeister) seien „von Haus aus unfähig“ gewesen, einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war. (Waren es die Klischees, die die Psychiater so „normal“ und „vorbildlich“ fanden? […]) Die Richter hatten zwar recht, als sie dem Angeklagten bei der Urteilsverkündung sagten, alles, was er vorgebracht habe, sei „leeres Gerede“ gewesen, aber sie glaubten – zu Unrecht –, dass diese Leere vorgetäuscht war und dass der Angeklagte dahinter Gedanken zu verbergen wünschte, die zwar abscheulich, aber nicht leer waren. […] [W]as er sagte, war stets das gleiche, und er sagte es stets mit den gleichen Worten. Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, dass diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgendetwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.109
105 Wolf: Kindheitsmuster, S. 236. 106 „Schrecklich, grässlich, abscheulich, furchtbar hat man zu oft sagen müssen, man kann es nicht mehr gebrauchen.“ Ebd., S. 239. Und doch braucht man Worte wie diese. 107 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 199. 108 Ebd., S. 211. 109 Arendt: Eichmann, S. 125-126.
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So viel Widerspruch auch das Konzept von der „Banalität des Bösen“ hervorgerufen hat110 – in Bezug auf die Erfahrungen, die Kertész und Semprun, Wolf und Eich beschreiben, ist es zentral. Stets das Gleiche zu sagen, ist Wiederholung, und dies meint, der Vorstellungskraft zu ermangeln, die das Hinaussehen über sich selbst ermöglicht.111 Die Fotos, die Bourke-White von Buchenwald oder Georges Rodger von Bergen-Belsen aufgenommen haben, sind Wiederholungen: solche von Blicken, die sich während der Zeit, die der Befreiung der Lager vorausging, den Zeugen dargeboten hatten. Doch erst dadurch, dass Bourke-White die verkohlten Überreste eines Menschen, der in der Öffnung des Buchenwalder Krematoriums liegt, ins Foto nimmt (und also in Distanz rückt)112, erst dadurch, dass die amerikanischen Soldaten als Zeugen der Öfen von den Deutschen verlangen, auch sie sollten hinschauen, wird denjenigen, die wiederholt gesehen hatten, was war, deutlich, dass man etwas von ihnen verlangt, wozu sie sich nicht in der Lage fühlen: zu sehen, dass das alles mit ihnen zu tun hat. Die Distanz war Nähe. Die Bilder rückten den Zuschauern, die sich in ihrer moralischen Indolenz nie als gemeint hatten verstehen wollen, plötzlich auf den Leib.113 Die Dehumanisierung, die die Dehumanisierten nie hatte schrecken können, gehört mit einem Mal in ihr „Ressort“.114 Man könnte sagen: Die Deutschen fallen sich nur 110 Ich denke hier nicht nur an die Diskussionen, die auf die Veröffentlichung des EichmannBuches folgten und ein Thema für sich darstellen, sondern auch an Kritiker wie Claude Lanzmann: „I think that all these people knew perfectly that what they were doing was not banal at all. Maybe they were banal, but they knew that what they were achieving was really not banal, surely not.“ Claude Lanzmann: „The Obscenity of Understanding. An Evening with Claude Lanzmann“, in: Trauma. Explorations in memory, hg. von Cathy Caruth, Baltimore 1995, S. 200-220, Zitat S. 213-214; künftig zitiert a:s Lanzmann: „Obscenity“. („Ich denke, dass diese Leute sehr genau wussten, dass das, was sie taten, absolut nicht banal war. Vielleicht waren sie selbst banal, doch sie wussten, dass das, was sie vollbrachten, wirklich, wirklich nicht banal war.“ [Übersetzung A.P.]) 111 Es fragt sich, ob Imre Kertész recht zu geben ist, der die Auffassung vertritt, der Mangel an Vorstellungskraft spiegele sich auch heute in der Art, wie die heutige Forschung zur Shoah von den Erfahrungen der Opfer abstrahiere: „Es gibt nämlich eine Art von Ernst – und ich bin versucht, ihn geradewegs als den typischen Ernst unserer Zeit zu bezeichnen –, der den Erfahrungen überhaupt keine Beachtung schenkt, so als wolle er sie einfach nicht kennen. Ich glaube, dass in dieser extremen Abstraktion, in dem fast krankhaften Wüten des Denkens und dem damit einhergehenden totalen Mangel an Phantasie, zum nicht geringen Teil die Ursachen für die historischen Verbrechen dieses Jahrhunderts liegen.“ Kertesz: „Der überflüssige Intellektuelle“, in: ders.: Gedankenlänge, S. 70-83, Zitat S. 71-72. 112 Bourke-White: Deutschland, Foto 58. Die Bildlegende lautet: „Geschickte deutsche Techniker haben die gespenstischen Krematoriumsöfen von Buchenwald entworfen und installiert. Eine Denunziation durch ein Kind, ein boshaftes Getuschel der Nachbarn, der Glaube eines Mannes an seinen Gott oder an die Demokratie oder irgend jemands Heimtücke konnten einen auf den Weg bringen, dessen fürchterliche Endstation hier war. Jeder Ofen konnte in fünfzehn Minuten drei Leichen in Asche verwandeln.“ 113 Vgl z.B. das Foto von einer Täterin, das zu sehen ist in: Bourke-White: Deutschland, Foto 41. 114 Die Formulierung ist entlehnt aus: Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 41.
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deshalb auf, weil sie plötzlich herausfallen aus der bisherigen Normalität, ihrer „Anpassung an den zur Wirklichkeit versteinerten Schein, der durch solche Anpassung sich unabsehbar reproduziert“ hatte.115 „Nicht deshalb, weil es Selbstbegegnung gibt, wird [die Störung des eigenen Ichs; A.P.] erfahren; umgekehrt tritt Selbstbegegnung nur deshalb ein, weil es Störung [nämlich durch die Bilder; A.P.] gibt.“116 Christa Wolf fasst die Schwierigkeit, hinzusehen, in die Worte: Bestimmte Erinnerungen meiden. Nicht davon reden. Wörter, Wortreihen, ganze Gedankenketten, die sie auslösen konnten, nicht aufkommen lassen. Bestimmte Fragen unter Altersgenossen nicht stellen. Weil es nämlich unerträglich ist, bei dem Wort „Auschwitz“ das kleine Wort „ich“ mitdenken zu müssen: „Ich“ im Konjunktiv Imperfekt: Ich hätte. Ich könnte. Ich würde. Getan haben. Gehorcht haben.117
Dass nach den Schuldigen gesucht wird, bedeutet keineswegs, dass der Bewusstwerdungsprozess allgemein um sich griffe.118 Weil ein Blick, der nichts fasst, nicht strafbar ist, ist die Frau, der das alter ego Sempruns begegnet, unschuldig: Ihr Hier geht weiter. Ihr Zuhause besteht. Die Geste, die ihr Körper unwillkürlich beschreibt, bleibt auf einen kurzen Augenblick beschränkt. Sie hat nur momentweise den Eindruck, sie werde gedrosselt. Dann hat sich die Hand wieder in der Hand. Ähnliches geschieht bei Eich. Hören wir noch einmal, wie die Mutter argumentiert: „Wir brauchen niemanden mehr zu fragen. Sie stehen alle hinter den Gardinen und sehen uns nach. Niemand ruft uns herein. Alle sind froh, wenn wir gehen.“119 Weil niemand hinter den Gardinen hervorkommt, entschließen sich die Opfer, selbst zu gehen: Mit ihrem Weggang verschwindet zugleich auch der Blick auf sie. In der Perspektive der Täter existieren die Opfer nicht, wenn man sie nicht sieht. Im Moment ihres Verschwindens schickt sich die Gardine wieder an, Gardine zu sein: Accessoire eines gemütlichen Heims, und nicht Mittel, um die „Mördergrube“ des eigenen „Herzens“ vor Blicken zu verbergen, die die eigene Täterschaft augenscheinlich zu machen drohten. Im Symbol der Gardine steckt die Erkenntnis: „Die Idee, die keinen festen Halt an der Realität findet, insistiert und wird zur fixen.“120 Die fixe Idee aber ist die eigene Unschuld.
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Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 214. Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 91. Wolf: Kindheitsmuster, S. 312. „Solange man nicht selbst verurteilt wird, bleibt die Vergangenheit Vergangenheit. Für den Einzelnen ist jede Verurteilung eines anderen, und der Verbrecher wird als der schlechthin Andere betrachtet, ein Freispruch. Wer schuld ist, der wird bestraft, also ist, wer nicht bestraft werden kann, unschuldig.“ Enzensberger: Glaskasten, S. 30. 119 Eich: Träume, S. 370; Hervorhebung A.P. 120 Adorno / Horkheimer: Dialektik, S. 199.
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„… so eine komische Geste“ Tema con variazioni. Heraustreten aus der Mörderreihe – wohin? In das Zuschauerpeleton, das die fälligen Zwischenrufe, Beschwichtigungen und Schlachtbeschreibungen liefert?121
Ziehen wir den Kreis noch ein wenig enger, ein weiteres, ein xtes Mal – doch durch die Ausweitung auf weitere, wichtige Zeugen. Richard Glazar, ein tschechoslowakischer Jude, der als einer der wenigen das Lager Treblinka überlebte, berichtet in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah von seiner Deportation. Während er spricht, sieht man von einem Zugfenster aus eine sommerliche Wiesenlandschaft vorbeiziehen. Der Zug, von dem aus Lanzmann diese Aufnahmen aufgenommen hat, ist am linken Rand ansatzweise zu erkennen: Der Rauch, der in schwarzen, dichten Schwaden aus der vorgespannten Lokomotive quillt, verdunkelt einen Teil des Himmels. Währenddessen berichtet Glazar: Es waren normale Waggons, Personenwaggons. Alle Plätze waren besetzt. Konnte man sich nicht selbst wählen, das alles war durchnummeriert, das war alles zugewiesen. Mit mir im Abteil waren zwei ältere Eheleute, ich kann mich erinnern, der gute Mann, der wollte dauernd etwas essen, und die Frau hat ihn auch gemahnt, er soll ja nicht zu viel essen, weil dann bleibt ihnen nichts mehr übrig für die spätere Zeit. [Bildebene: SCHNITT: Dieses Mal sieht man die Lokomotive aus größter Nähe, und zwar von der anderen Seite, nämlich von links her. Wieder ziehen Wiesen und Felder am Zug vorbei. Aus dem Fenster der Lokomotive steckt der Lokomotivführer seinen Kopf, gleichsam die zurückgelegte Strecke abmessend. Währenddessen spricht der Überlebende weiter.] Und dann, das war schon der zweite Tag, sah ich die Inschrift Alkinia [gemeint ist Malkinia; A.P.]. Dann ging es noch ein Stück weiter, der Zug auf einmal ist ganz langsam von der Hauptstrecke [Bildebene: SCHNITT, wieder hin zur rechten Zugseite] abgebogen und fuhr ganz ganz langsam durch einen Wald. [Bildebene: Aus dem Fenster sieht man einen Wald.] Und als wir hinausgeschaut haben – das Fenster haben wir doch leicht geöffnet – der Alte in unserem Abteil hat einen gesehen, das war so ein – da haben Kühe geweidet – und den Jungen so gefragt, aber nur mit Gesten: was, wo wir sind. [Bildebene: SCHNITT: Jetzt sieht man nicht mehr die Landschaft um Treblinka herum, sondern den Zeugen selbst, sein Gesicht, während er weiterspricht.] Und der hat so eine komische Geste gemacht, so [Bildebene: Glazar macht mit der rechten Hand eine Geste des Strangulierens am Hals, und zwar indem er den Daumen abspreizt und mit den anderen Fingern eine Art Wölbung bildet, die der Rundung des Halses entspricht.] Am Hals. 122
Die Geste des Strangulierens beendet einen Bericht, der bis dahin von „Normalität“ gekennzeichnet war: Glazar ‚reiste‘ in einem Personen-, und nicht in einem Vieh- oder Güterwaggon. Es gab Sitzplätze. Von Enge oder gar von der Zusammenpferchung der Deportierten konnte keine Rede sein. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass die Fenster mit Stacheldraht oder Brettern verschlossen worden wären: Glazar sagt
121 Wolf: Kindheitsmuster, S. 215. 122 Lanzmann: Shoah, hier DVD 1, ab 01:14:25, Kapitel 36.
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ausdrücklich, dass es in seinem Abteil möglich gewesen sei, das Fenster leicht zu öffnen. Der mitgebrachte (offenbar ausreichende) Proviant wurde nur darum eingeteilt, weil nicht klar war, wie lange die Reise dauern würde. Niemand litt unter Durst. Bei der Anweisung der Plätze war darauf geachtet worden, dass Eheleute zusammenblieben. Man unterhielt sich. Man blickte nach draußen. Man respektierte die Platzreservierung. Die Fensterblicke, die Lanzmann der Stimme des Interviewten unterlegt – dieser erwähnt Wald, Kühe und Weiden –, verstärken den Eindruck des Vertrauten: eine bäuerliche Landschaft, Wälder, nur vereinzelt durchbrochen von Signalschildern und Strommasten. Doch berichtet die Stimme Glazars aus dem Off von der Geste, die er beobachtet habe, von dem Versuch eines Menschen „dort draußen“ also, den ‚Reisenden‘ zu antworten auf die Frage, „was, wo“ sie seien. Sobald die Präzisionen bezüglich dieser Geste beginnen, hören die Aufnahmen von der Landschaft um Treblinka herum auf. Die Kamera konzentriert sich jetzt ausschließlich auf das Gesicht des Überlebenden: [Lanzmann:] Ein Pole. – [Glazar:] Ein Pole. – [Lanzmann:] Aber wo war es? War es im Bahnhof? – [Glazar:] Das war, wo der Zug stehengeblieben ist, noch, auf der einen Seite war Wald, auf der anderen Seite waren Felder. Und Wiesen. – [Lanzmann:] Und es gab einen Bauern auf diesem Feld? – [Glazar:] Und da haben wir gesehen Kühe, Weiden, und dort war so ein Junge, ein jüngerer Mann, ein Landsknecht oder so etwas. So ein Knecht. – [Lanzmann:] Und jemand in dem Wagen hat gefragt? – [Glazar:] Und jemand hat also nicht gefragt, nur Gesten, hat gezeigt, er hat gefragt mit Gesten, was da los ist. Und der hat eben diese Geste gemacht [Bildebene: Glazar wiederholt die Geste am Hals.] Das da. Wir haben dem aber gar nicht so große Aufmerksamkeit geschenkt. Wir konnten uns das nicht erklären.123
Die Körpergeste, die der Knecht vorführt, erfüllt drei Funktionen. Sie erlaubt, erstens, die Überwindung sprachlicher Barrieren: Die Deportierten sind Tschechoslowaken, der Antwortende hingegen ein Pole; sie sprechen nicht die gleiche Sprache, können aber über Zeichen wenigstens ansatzweise miteinander kommunizieren. Die Geste erlaubt, zweitens, die Überwindung räumlicher Distanzen: Der Pole steht draußen, auf einer Weide, neben seinen Kühen, die Deportierten hingegen befinden sich im Inneren des Zuges. Durch die Körpersprache wird ein Austausch möglich. Schließlich kommt als dritte Funktion die Überwindung des bestehenden Redeverbotes hinzu. Die Geste am Hals deutet an, welches Schicksal den Deportierten zugedacht ist – das Bemühen der Deutschen unterlaufend, die Opfer so lange wie möglich im Unklaren zu lassen über das, was ihnen bevorsteht. Doch die Menschen im Zuge verstehen die Geste nicht. So haben die Gefangenen erneut das Gefühl, zu sein, wo sie sind: In einem Personenzug, von dem sie zwar nicht wissen, an welchem Ort er gerade eintrifft, der aber derart normal ist, dass die Geste, die den Ort, an dem er eintrifft, zu beschreiben versucht, als unpassend qualifiziert werden muss. Der Psychoanalytiker Dori Laub, selbst ein Überlebender der Shoah und zugleich wichtiger Akteur des Fortunoff Video Projects in Yale, betont, dass it was not only the reality of the situation and the lack of responsiveness of bystanders of the world that accounts for the fact that history was taking place with no witness: it was also the very 123 Ebd.
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circumstance of being inside the event that made unthinkable the very notion that witness could exist, that is, someone who could step outside of the coercively totalitarian and dehumanizing frame of reference in which the event was taking place, and provide an independent frame of reference through which the event could be observed. One might say that there was, thus, historically no witness to the Holocaust, either from outside or from inside the event.124 Es war nicht nur die Wirklichkeit der Situation und das Ausbleiben von Reaktionen von Seiten der Zuschauer der Welt, die den Umstand erklärt, dass die Geschichte ohne jeden Zeugen vor sich ging; es war allein schon der Umstand, mitten im Ereignis zu sein, der die Vorstellung undenkbar machte, es könne Zeugenschaft existieren, d.h. jemanden, der aus dem gewaltförmig totalitären und entmenschlichenden Referenzrahmen hinaustreten könnte, in dem das Ereignis stattfand, jemanden, der einen unabhängigen Referenzrahmen bereitstellte, durch welchen hindurch das Ereignis beobachtet werden könnte. Man könnte sagen, dass es also historisch keinen Zeugen des Holocaust gab, weder einen von Außen, noch einen vom Inneren des Ereignisses her. [Übersetzung A.P.]
Claude Lanzmann hakt da nach, wo Richard Glazar, damals, nicht geglaubt hatte, nachhaken zu müssen. Lanzmann als derjenige, der im Hier und Jetzt Fragen stellt, will es (darin Semprun ähnlich) genau wissen, will die Möglichkeit von Zeugenschaft wenigstens im nachhinein herstellen: Das „Wo, Was“, das die Deportierten nach Glazars Zeugnis im Blick auf sich selbst hatten in Erfahrung bringen wollen, richtet sich jetzt auf das „Wo, Was“ des Knechts, damals. Das bedeutet, dass, im Hier und Jetzt, der Versuch unternommen wird, genau zu fassen, was die Deportierten damals von ihm, dem Knecht nämlich, hatten sehen können. Die Schärfe des Blickes, die von der scheinbaren Normalität und Vertrautheit der ‚Reise‘ überdeckt und also: verunmöglicht worden war, soll jetzt, mit Hilfe der Sprache (und gleichsam nicht durch Bild und Blick), erreicht werden. Mit anderen Worten: Das, was Dori Laub zufolge im Moment des Geschehens nicht möglich war, soll (wenigstens in Ansätzen) nachgeholt werden. Erneut findet mit Blick auf die Leere des Mitteilbaren eine Nachlese statt. Doch Claude Lanzmann setzt einen Schnitt. Der Film zeigt erneut eine Weide. Dieses Mal sieht man dahinter ein gemauertes Bauernhaus, an dem mehrere Kühe und drei Schafe vorbeiziehen. Im Vordergrund sind zwei grasende weiße Enten zu erkennen, hinter den Kühen ein Junge mit roter Jacke. Außerdem gibt es, etwas abseits stehend, einen Mann. Eine Frau tritt hinzu, wirft Heu auf die Weide: Arbeitsalltag auf einem Bauernhof. Doch sogleich gewinnt man, im Gegensatz zu dieser Alltäglichkeit, das Gefühl, dass die räumliche Distanz, die zwischen der Kamera und den Menschen vor dem Bauernhaus besteht, der Distanz entspricht, von der Glazar berichtet hatte. Der Blick, den die Zuschauerschaft auf den Bauernhof und seine Bewohner gewinnt, ist wie ein Echo (eine Nachlese) des Blickes, den Glazar und seine Mitreisenden auf den Knecht gehabt hatten. Erneut ein Schnitt. Jetzt ist ein Bauer in Nahaufnahme zu sehen. Die Distanz, die damalige, ist verschwunden. Umgeben ist er von zwei blonden, mit ernster Miene zuhörenden Jungen und einer Frau mit Kopftuch, die ein Kleinkind auf dem Arm trägt. Das Interview hat offenbar den (übrigens ärmlich-schlammbedeckten) Hof dieses Bauern zum Ort. Dieser beginnt zu erzählen:
124 Laub: „Truth“, S. 66.
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Einmal kamen Juden aus dem Ausland, ziemlich dicke. [Bildebene: Er vollführt mit beiden Armen eine Bewegung, die die Größe ihrer Bäuche deutlich machen soll.] Sie kamen in Personenwaggons. Es gab einen Speisewagen, sie hatten zu trinken. Sie durften auch herumgehen. Sie sagten, sie führen in eine Fabrik. Als sie in den Wald kamen, sahen sie diese „Fabrik“.125
So wie die Geste am Hals die sprachliche Barriere hatte überwinden sollen, die zwischen Deportierten und Knecht bestand, soll die Geste, die den angeblichen Körperumfang der Deportierten andeutet, Lanzmann, der des Polnischen nicht mächtig ist, das Verständnis dessen erleichtern, was der Bauer zu erinnern glaubt. Dieser verlässt sich nicht auf die Übersetzerin, die zwischen ihm und Lanzmann vermittelt, sondern führt körperlich vor, was ein Jude sei. Das Bedürfnis, sich Lanzmann gegenüber verständlich zu machen, greift, noch bevor seine Beschreibungen überhaupt ins Französische übertragen worden sind: Sein Körper verselbständigt sich gegenüber seiner eigenen und seines Gegenübers (nämlich Lanzmanns) Sprache, wird beredter als das Adjektiv, das er den Deportierten zuschreibt: das ‚ziemlich dick‘ nimmt, übersetzt in die veränderte Präsenz seines eigenen Körpers, die Bedeutung von wohlhabend, ja reich, d.h. ‚typisch jüdisch‘ an. Da sein eigener Körper dünn und schmächtig ist, macht die Geste zugleich auf den Gegensatz zu seiner eigenen Person aufmerksam. So reich wie die aus dem Ausland deportierten Juden waren, so arm war (und ist) er selbst. So viel zu essen sie hatten, so wenig zu essen hatte er selbst. So ‚frei‘ sie herumgehen durften (im Zug nämlich), so eingeschränkt waren seine eigenen Bewegungsmöglichkeiten (er konnte nicht reisen). Die Beschreibung der Bedingungen, unter denen die Deportation erfolgte, nimmt, obwohl sie mit dem übereinstimmt, wovon auch Richard Glazar berichtet (die Transporte erfolgten mitunter wirklich in Personenwagen, in denen weder Hunger noch Durst herrschten), eine unheimliche Färbung an: Es ist, als sei die Ahnungslosigkeit, mit der die ankommenden Juden davon ausgingen, sie würden in einer Fabrik beschäftigt werden, eine ausgleichende Gerechtigkeit für ihre Bäuche. Es scheint zugleich, als sei Ahnungslosigkeit die notwendige Konsequenz eines Lebens im Wohlstand. Die Deportierten traten den Einheimischen quasi als betuchte Touristen unter die Augen. Doch diese Augen betrachteten den Zug in einem Wissen, das sie, bei aller Armut, den Reichen voraushatten. [Bildebene: SCHNITT hin zu den Gesichtern zweier Männer, die bisher nur danebengestanden und zugehört haben. Der hintere grinst bei der Erwähnung des Wortes „Fabrik“. Auf der Tonebene: Gänse gackern im Hintergrund.] [Der Bauer, rechts im Bild:] Wir machten diese Geste… – [Lanzmann:] Welche Geste? – [Bildebene: Bauer, der vorher gegrinst hat, macht die Geste, die eben der jüdische Zeuge vorgeführt hatte. Er streicht an seinem eigenen Hals entlang, und zwar nur mit dem Zeigefinger, und sagt:] …dass man sie umbringen wird. [Bildebene: Er macht erneut die Geste, doch nicht mehr direkt am Hals, sondern wie wegwerfend, mit der Hand schnell am Körper von einer Seite zur anderen entlangfahrend] – [Lanzmann:] Und sie sahen diese Geste? – [Vorheriger Bauer:] Ja, aber die Juden glaubten es nicht. – [Lanzmann:] Was
125 Lanzmann: Shoah, 1985.
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bedeutete diese Geste? – [Bauer {Bild- und Tonebene: in ungeduldigem Ton, macht erneut die Geste}:] Dass sie der Tod erwartete.126
Festzuhalten ist, dass der Tod für die Anrainer vieler Lage offen-sichtlich war. Aber die Offensichtlichkeit schlug eben keinesfalls zum Vorteil der Opfer aus. Im Gegenteil erfolgten die Tötungen ganz ungehindert – aber eben mit Augenzeugen.
126 Ebd. Der Bauer, der hier, wie aus einem Blickwechsel heraus, eben über die Geste berichtet, die Richard Glazar bei seiner Ankunft in Treblinka nicht zu deuten wusste, äußert in einer anderen Szene, in der es um Schüsse von ukrainischem Wachpersonal auf Deportierte in den stehenden Zügen geht, es sei für ihn nicht zu verstehen, wie Menschen anderen Menschen derartige Grausamkeiten antun könnten. Sein Grinsen oder Lächeln legt ihn also nicht von vornherein fest auf eine antisemitische Position. Die Geste, die er vollführt, ist darum nicht umstandslos als Hohn auf die Opfer zu interpretieren. – Die örtlichen Gegebenheiten des Lagers von Treblinka und die Abschirmung vor unerwünschten Blicken wird von Saul Friedländer beschrieben. Bei ihm gewinnt man den Eindruck, dass die Täter sich über Regulierung von Blicken durchaus Gedanken gemacht hatten: „Treblinka, das letzte und mörderischste Lager der ‚Aktion Reinhardt‘ war nordöstlich von Warschau nahe der Bahnlinie Warschau-Bialystok auf sandigem Gelände errichtet worden, das sich bis zu einer Biegung im Bug erstreckte. Der nächste Bahnhof war Malkinia, von wo eine eingleisige Strecke ins Lager führte. Das ‚untere‘ oder erste Lager nahm die größte Fläche ein; dazu gehörten der Sammelplatz und der Entkleidungsplatz sowie dahinter Werkstätten und Baracken. Das zweite oder ‚obere‘ Lager war vom ersten durch Stacheldraht und von dichtem Laub bedeckten Zäunen abgeschirmt, die unerwünschte Einblicke verhinderten. Ein massives Ziegelgebäude verbarg die drei Gaskammern, die durch ein Röhrensystem mit einem Dieselmotor verbunden waren (ein größeres Gebäude mit zehn Gaskammern kam dann im Oktober 1942 hinzu). Ebenso wie in Chelmno, Belzec und Sobibor mussten sich die Deportierten nach der Ankunft ausziehen und alle Kleidungsstücke und Wertsachen für die Sortiermannschaften zurücklassen. Vom ‚Entkleidungsplatz‘ wurden die Opfer durch die ‚Himmelsstraße‘, einen engen Korridor, der ebenfalls durch dichte Zweige vor der Umgebung verborgen war, zu den Gaskammern getrieben. Ein Schild wies ‚zu den Duschen‘.“ Friedländer: Vernichtung, S. 460.
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ELFTE UNVERHÄLTNISMÄSSIGKEIT: „… WO MAN ES NICHT SIEHT“ Schmerzlosigkeit des Blickes eine Halde das Wort schlug nieder mit Steinen in dieser Halde, gekarrt das Echo. 127
Mit der Ermordung kommt eine Entwicklung zum Abschluss, die mit den fehlenden Protesten gegen Verhaftungen und mit der bereitwilligen Bereit-Stellung von Zügen für die Deportation in ihre entscheidende Phase getreten war. Immer wieder fahren Züge durch Eichs Hörspiel, immer wieder wird der fehlende Blickaustausch zum Thema. Um jedoch dem dritten Traum und seinen Gardinen auf den Grund zu gehen, möchte ich abschließend ein weiteres Dokument in meine Überlegungen einbeziehen, das wie ein Echo auf Sempruns Schilderung der Anrainerin von Buchenwald erscheint. Gehen soll es im Folgenden um ein weiteres Lager, nämlich um Mauthausen. Schmerzlosigkeit des Blickes bei gleichzeitiger Klage über das eigene Geschick findet sich dokumentiert in einem Brief, den eine gewisse Eleonore Gusenbauer am 27. August 1941 an das Polizeirevier der Stadt schickte. Hervorgehoben werden muss, dass es sich bei dieser Anzeige um keinen fiktionalen Text handelt. Hören wir Gusenbauer: Im Konzentrationslager Mauthausen werden auf der Arbeitsstätte im Wienergraben wiederholt Häftlinge erschossen, von denen die schlecht getroffenen noch längere Zeit leben und so neben den Toten Stunden und sogar Halbtage lang liegen bleiben. Mein Anwesen liegt auf einer Anhöhe nächst dem Wienergraben, und man ist oft ungewollt Zeuge solcher Untaten. Ich bin ohnehin kränklich und solches Ansehen nimmt meine Nerven derart in Anspruch, dass ich dies nicht auf die Dauer ertragen kann. Ich bitte um Veranlassung, dass solche unmenschlichen Handlungen unterbleiben bzw. dort gemacht werden, wo man es nicht sieht.128
Die Weimarerin hatte aus dem Fenster geblickt, ohne etwas zu sehen. Die Frau aus Mauthausen blickt aus dem Fenster und sieht (darin dem eichschen Bürgermeister vergleichbar). Sehen tut sie jedoch nur, weil das, was zu sehen ist, so offensichtlich, so evident ist, dass sie gar nicht anders kann, als es zu sehen: Ihr ist das Sehen als Zwang auferlegt. Anders als bei Eich schützt sie keine Gardine. Anders als bei ihm dringt das „Außen“ vehement in das „Innen“ ein.129 127 Bachmann: Welt, S. 53. 128 Friedländer: Vernichtung, S. 324. Friedländer nimmt Bezug auf: Widerstand und Verfolgung in Oberösterreich. 1934-1945. Eine Dokumentation, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Wien u.a. 1982, S. 591. Vgl. auch Gordon J. Horwitz: In the shadows of death. Living outside the gates of Mauthausen, New York 1990, S. 35; künftig zitiert als: Horwitz: Shadows. Außerdem: Gisela Rabitsch: Konzentrationslager in Österreich (1938-1945). Überblick und Geschehen, Diss., Wien 1967, S. 361. 129 Dazu Charles Taylor: „In unseren Sprachen der Selbstverständigung spielt der Gegensatz ‚innen/außen‘ eine wichtige Rolle. Unsere Gedanken, Vorstellungen oder Gefühle sind
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Il faut s’arrêter sur le statut d’une évidence qui, d’une façon à peine métaphorique, se réalise charnellement et envahit la conscience en entier. Car il y a un excès au cœur de l’évidence, tant du point de vue de la compréhension que de l’extension.130 Man muss in Bezug auf den Status einer Evidenz innehalten, die sich (und dies ist kaum metaphorisch zu verstehen) körperlich verwirklicht und in das gesamte Bewusstsein eindringt. Denn ein Exzess gehört zum Wesen der Evidenz, und zwar sowohl in Bezug auf das Verständnis von ihr als auch in Bezug auf ihre Ausdehnung. [Übersetzung A.P.]
Die Toten sind, anders als im Fenster der Weimarerin, nicht einfach schon da, sondern sie leben noch: „Stunden und sogar Halbtage“. Kein Krematorium schiebt sich zwischen den Blick und die Opfer der „Untaten“. Die „Untaten“ sind noch zu vollbringen – in dem Sinne, dass mitunter „Halbtage“ gewartet werden muss, bevor sie als vollbracht gelten können. Obwohl Eleonore Gusenbauer also in gewisser Weise mehr sieht, gleichsam deutlicher, ist ihr Fensterblick von dem der Weimarerin (oder der eichschen Figuren mit ihren Gardinen) in Wirklichkeit doch keineswegs unterschieden. Bei allen ist nämlich in der Möglichkeit des Blickes die Totalität des NichtSehens enthalten.131
nach unserer Auffassung ‚in‘ uns, während die Gegenstände in der Welt, auf die sich diese geistigen Zustände beziehen, ‚draußen‘ sind.“ Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994, S. 207, zitiert nach: Monique Scheer: „Topografien des Gefühls“, in: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, hg. von Ute Frevert u.a., Frankfurt/M., New York 2011, S. 41-64, Zitat S. 41. – Charles Taylor nenne dies „die moralische Topographie“. Ebd. 130 Fernando Gil: Traité de l’évidence, Grenoble 1993, S. 13; künftig zitiert als: Gil: L’évidence. 131 Mit Benno Gammerl kann man davon ausgehen, dass ein Zusammenhang zwischen Emotion und räumlicher Entfernung besteht. Anthony Giddens spreche, so Gammerl, von der zunehmenden „Gesichtsunabhängigkeit“ und „Entbettung sozialer Beziehungen“. Er plädiere für eine „Rückbettung“. Es stellt sich mir jedoch die Frage, ob die räumliche Nähe wirklich in der Lage wäre, diese „Rückbettung“ herbeizuführen. Dieser Prozess des MitFühlens muss als äußerst komplexer vorgestellt werden. „Die Entgegensetzung von rationalem Abstand und emotionaler Nähe greift“, so auch Gammerl, „deutlich zu kurz. Auch distanzierte Relationen konnten emotional geprägt sein. Statt kategorische Unterschiede zwischen Nah- und Fernbeziehungen zu betonen, verweist die Analyse eher darauf, dass verschiedene Arten von Verbindungen emotional unterschiedlich gefärbt sein konnten, wie die fein gegliederte Gefühlstopografie im späten 19. Jahrhundert verdeutlicht. Die Annahme, dass Emotionen in zwischenmenschlichen Nahbeziehungen ihren eigentlichen Ort hätten, kann infolgedessen weder als anthropologische Konstante noch als Charakteristikum der gesamten Moderne gelten. […] Lediglich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als man die ‚Einfühlung‘ und die gemütliche Nähe betonte, kann man von einer engen Verknüpfung des Emotionsverständnisses mit Vorstellungen der Nähe in einem umfassenden Sinn sprechen.“ Wie das Beispiel Gusenbauers zeigt, kann aber auch das Konzept der „Gemütlichkeit“ ein im extremen Maße gefühlsfernes sein. Gammerl: „Entfernungen“, S. 199.
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Abb. 14: Steinbruch am Wiener Graben, Mauthausen132
Der zitierte Brief gibt Aufschluss über die Prozesse, die das Nicht-Sehen im Sehen ermöglichen. Die Schreiberin erklärt genau, warum sie nicht gern hinsieht: Das, was geschieht, ist „unmenschlich“. Indem sie sich darüber beschwert, dass man ihr den Blick darauf zumutet, reklamiert sie das Recht, sich von dem unmenschlichen Geschehen abzugrenzen. Der Beweis für ihre eigene Menschlichkeit liegt für sie darin, dass sie empfindet, dass das, was sie sieht, unmenschlich ist. Und doch geht es in Wirklichkeit nicht (oder: nicht allein?) um die Unmenschlichkeit dessen, was Menschen vor ihrem Fenster passiert. Die eigentliche Klage gilt dem Umstand, dass der Blick, den man ihr zumutet, unmenschlich ist. Der Blick – und nicht die Taten (als Untaten). Unmenschlichkeit definiert sich über den Grad ihrer Offensichtlichkeit und Evidenz. Sie verschwände, wenn das, was geschieht, nicht länger offensichtlich wäre. Es geht der Frau auf ihrer „Anhöhe nächst dem Wienergraben“ also nicht eigentlich um das, was die Voraussetzung ihres Blickes ist – nämlich dass bestimmte Vorgänge zu sehen sind –, sondern um ihr eigenes Leid, im Blick. Durch ihre Beschwerde zielt sie darauf, den Blick vom Erblickten abzukoppeln. Begründet wird die Notwendigkeit dieser Abkoppelung mit der eigenen „Kränklichkeit“. Nicht die Untaten sind unzumutbar, da unmenschlich, sondern im Gegenteil ist unmenschlich, gerade ihr, die sie ohnehin kränklich ist, solche Blicke zuzumuten, und zwar „auf […] Dauer“. Eine ähnliche Gedankenfigur findet sich in Eichs zweitem Traum: Der kranke Chinese beschwert sich darüber, dass die Schreie des Kindes, das gerade geschlachtet wird, aus der Küche zu ihm dringen:
132 Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen, F_1_5_recto, Sammlung Hans Maršálek.
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HERR Verdammt lange dauert das. Tschang-dus Schreien in der Küche, das während des Folgenden verstummt. HERR zornig: Da! Hörst du! Sie hat ihn nicht richtig betäubt. Und ich muss mir das anhören. DAME Nun beruhige dich. Er ist schon still.133
Die Rücksichtslosigkeit, derer sich die Mauthausener SS und Polizei (sowie, bei Eich, die Haushälterin) schuldig machen, bezieht sich – so die Wahrnehmung der Betroffenen – nicht allein (vielleicht auch: nicht eigentlich) auf die Tatsache, dass Menschen getötet werden, sondern darauf, dass man sie selbst in ihrer Wohnung „unfreiwillig“ zum „Zeugen solcher Untaten“ macht. „Und ich muss mir das anhören.“ „Und ich muss mir das ansehen.“ Das aber bedeutet (und darin liegt, wie gleich zu zeigen ist, so etwas wie ein Paradox), dass die eigentliche Untat darin besteht, dass man sie nicht unterlässt. Ich möchte erklären, was ich damit meine. Eleonore Gusenbauer hätte gern, dass die Tötungen ein Ende nehmen. Das Paradox liegt jedoch in der Begründung beschlossen, mit der sie diese Forderung untermauert. Das Konzept der Unmenschlichkeit wird auf einen unerwarteten Adressaten bezogen. Die Begründung, die Untaten seien als unmenschliche zu unterlassen, ist selbst unmenschlich. Man könnte also sagen, dass die Forderung, mit dem Morden aufzuhören, einem Blick entspringt, der dennoch (oder vielmehr: gerade wegen der Forderung, damit aufzuhören) in Komplizenschaft mit den Mördern gerät. Es ist, als wäre Gusenbauer ihnen verfallen, obwohl sie ihre Taten zu verhindern sucht.134 Abb. 15: Häftlinge in Mauthausen135
133 Eich: Träume, S. 363. 134 „Keine andere Sprache kennt ‚verfallen‘ im Sinne von ‚unrettbar, weil mit eigener tiefinnerster Zustimmung hörig“, beobachtet Christa Wolf. Wolf: Kindheitsmuster, S. 388. 135 Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen, MM_4_1_F_01_03_06, Sammlung Hans Maršálek.
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Die Ziele der Täter hat die historiographische Forschung zu rekonstruieren versucht. Das Konzentrationslager Mauthausen, das die SS durch „Gesinnungstüchtigkeit“ und „Exekutivtreue“136 in den Steinbrüchen am Wiener Graben errichtete, hing mit ihrem Versuch zusammen, Machtbastionen gegenüber Konkurrenten zu festigen. Die Ausdehnung des Lagers nahm mit der Zeit immer mehr zu. Insgesamt umfasste er „ohne Steinbruch eine Fläche von etwa 150.000 qm mit etwa 95 Gebäuden.“137 Um den in der NS-Führung nicht unumstrittenen Ausbau und die Einrichtung neuer Konzentrationslager durchzusetzen, verfolgte die SS seit 1937 die Strategie, über den Einstieg in die Baustoffproduktion Unterstützung und finanzielle Mittel durch den Generalbauinspektor Berlin (GBI), Albert Speer, zu bekommen. Speer sah die Baustoffversorgung für seine städtebaulichen Maßnahmen durch den auf die Kriegsvorbereitung fixierten Vierjahresplan gefährdet, da die Arbeitskräfte in die Vierjahresplanprojekte verschoben wurden. Mit der Zustimmung Hitlers zu diesen Aktivitäten der SS legitimierte diese einerseits den weiteren Ausbau der KZ und behielt in Zeiten zunehmender Arbeitskräfteknappheit den Zugriff auf die KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter. Darüber hinaus konnte sie die Finanzierung des Lagerbaus sicherstellen und hatte durch die städtebaulichen Aktivitäten der Nationalsozialisten eine sichere Abnehmerin für die aus der KZ-Zwangsarbeit gewonnenen Produkte.138
Die ökonomische Bedeutung Mauthausens und aller seiner Nebenlager – nicht zuletzt Gusens – zeigt sich in der regen Investitionstätigkeit, die auf den Ausbau der Mauthausener Infrastruktur – der „carrière, tombeau“139 (des „Steinbruchs, Grabes“ [Übersetzung A.P.]), wie François Wetterwald sagt –, zielte. Der Arbeitseinsatz der Häftlinge war bis Mitte des Krieges von Steinbrucharbeiten und dem Ausbau der dafür notwendigen Infrastruktur bestimmt. Im Steinbruch Wiener Graben und ab 1940 vor allem im Bereich der Gusener Steinbrüche wurden umfangreiche industrielle Investitionen getätigt. […] Ab 1941 legten Häftlinge für den Steinbruch und das Lager Gusen ein Anschlussgleis vom Bahnhof St. Georgen, 1942 folgte eine Schmalspurbahn vom Steinbruch Wiener Graben zur Donau. Häftlinge arbeiteten dort an einer Hafenanlage für die DESt-Betriebe. Im Herbst 1943 wurde diese Bahn weiter zu den Steinbrüchen nach Gusen geführt. Schon 1940 verfügte die DESt in Mauthausen-Gusen über acht Diesellokomotiven und 192 Wagen für die Lorenbahn, darüber hinaus über einen stattlichen Fuhrpark mit eigener Reparaturwerkstätte.140
136 Die beiden Begriffe stammen von Eugen Kogon (SS-Staat, S. 370). Bei Kokon beziehen sie sich auf den SD und die Gestapo, doch die Übertragbarkeit auf die SS ist eine vollkommene. 137 Florian Freund / Bertrand Perz: „Mauthausen – Stammlager“, in: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 4 (= Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück), hg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, München 2006, S. 293-346, Zitat S. 301; künftig zitiert als: Freund / Perz: Mauthausen. 138 Ebd., S. 293. 139 Wetterwald: Morts, S. 28. 140 Freund / Perz: Mauthausen, S. 301.
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All diese technischen Einzelheiten zeigen, wie sehr das Vorhaben, Menschen zu vernichten, mit der ökonomischen Wirklichkeit des Landes verbunden war. Arbeit und Tötungen gehörten in Mauthausen direkt zusammen, und zwar als consensus omnium. [In den Steinbrüchen der Firma DESt; A.P.] wurde unter Außerachtlassung der primitivsten Sicherheitsvorkehrungen das größtmögliche Arbeitspensum verlangt und mit aller Brutalität – bis zum körperlichen Zusammenbruch – durchgesetzt. Und so hatte man die beste Möglichkeit, gewisse Häftlinge, ohne viel Aufsehen zu erregen, bis zur tödlichen Erschöpfung zu jagen: einen schweren Stein auf den Schultern, durch Prügeln zum Laufschritt gezwungen […]. 141
Abb. 16: Häftlinge in Mauthausen142
Eugen Kogon betont: „Die Steinbrüche waren in allen Lagern die wahren Himmelfahrtskommandos. Manche KL wie Mauthausen bestanden, von den Innenkommandos abgesehen, fast nur aus Steinbrüchen.“143 Dieser historische Hintergrund ist bei der Analyse von Gusenbauers Briefes zu bedenken. Dass die Klarheit und Gardinenlosigkeit ihres Fensterblickes sich proportional verhält zur Unklarheit der Sicht, die sie auf das Unmenschliche hat, geht bereits aus dem Umstand hervor, dass sie den Blick 141 Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, Wien 1980, S. 94; künftig zitiert als: Maršálek: Mauthausen. 142 Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen, F_1_3_1_recto, Sammlung Hans Maršálek. Zu sehen ist u.a. eine Leiter, die ohne jede Sicherung an einer der Wände lehnt. Die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen sind hier mit Händen zu greifen. 143 Kogon: SS-Staat, S. 118.
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„auf die Dauer“ nicht aushalten zu können glaubt. Der zeitliche Index, den sie ihrem Blick zuordnet, deutet an, dass es nicht vollkommen ausgeschlossen zu sein scheint, den Blick auf Tote und Sterbende „Stunden oder sogar Halbtage lang“ zu ertragen – bestünde denn die Aussicht, dass die „unmenschlichen Handlungen“ in absehbarer Zeit „dort gemacht werden, wo man sie nicht sieht“, die SS selbst also eine eichsche Gardine zuzieht. Zeugen gegenüber Mördern „Blinder Hass“, ja, das ginge, das wäre das einzig Richtige. Sehender Hass ist einfach zu schwierig.144
Mit dem Verhältnis, das die Mauthausener Augenzeugin zur Zeit, der absehbaren, unterhält, steht die sie im Gegensatz zu dem, was, dem Soziologen Renaud Dulong zufolge, einen Zeugen charakterisiere: Être témoin oculaire, ce n’est pas tellement avoir été spectateur d’un événement que déclarer qu’on l’a vu. Or il serait difficile de réduire cette revendication à un simple effet rhétorique valant pour le récit présent. S’affirmer témoin, c’est s’engager à raconter ce qui s’est passé autant de fois que nécessaire, être prêt à des interrogatoires à ce sujet, etc. Cette désignation contraint le futur pour autant qu’il est difficile, voire impossible, de la reprendre. La certification biographique équivaut, compte tenu de ses conséquences, à un engagement à vie, celui de maintenir au travers des récits successifs une identique version des faits.145 Augenzeuge zu sein, bedeutet nicht so sehr, ein Ereignis gesehen zu haben, als vielmehr zu erklären, man habe es gesehen. Nun wäre es allerdings schwierig, diesen Anspruch auf die pure rhetorische Wirkung zu beschränken, die für den gegenwärtigen Bericht gilt. Als Zeuge aufzutreten, heißt, die Aufgabe auf sich zu nehmen, das, was passiert ist, so oft wie nötig wiederzuerzählen, bereit zu sein, sich in Bezug auf die Ereignisse befragen zu lassen usw. Die Benennung als Zeuge stellt eine Verpflichtung für die Zukunft dar. Es ist daher schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die Benennung zurückzunehmen. Wenn man ihre Konsequenzen bedenkt, kommt die biographische Zeugenschaft einer Verpflichtung auf Lebenszeit gleich, nämlich der, in aufeinander folgenden Berichten stets die gleiche Darstellung des Geschehenen aufrechtzuerhalten. [Übersetzung A.P.]
Bei der Mauthausenerin hat man hingegen den Eindruck, dass ihr Brief das Ziel verfolgt, die Verpflichtung einer Zeugenschaft in die Zukunft hinein abzuwehren – durch Verbannung des Blickes in eine Vergangenheit, die jede Gegenwärtigkeit eingebüßt hat. Ähnliches gilt für den eichschen Text: Der Chinese wehrt die Zumutung ab, die Schreie des Kindes hören zu müssen, um sich nicht als Zeuge (und weniger noch als Urheber) des Mordes sehen zu müssen. Hieße das, dass auch Eleonore Gusenbauer eine Art Urheberschaft in Bezug auf die Tötungen hat? Oder stellt es eine Übertreibung dar, wenn man auch in diesem
144 Wolf: Kindheitsmuster, S. 185. 145 Dulong: Témoin, S. 12.
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Punkt Parallelen zwischen der Mauthausenerin und dem Chinesen zieht? Immerhin ist der Chinese bereit, gleich wieder zum Mörder zu werden. Nimmt die Mauthausenerin hingegen nicht erhebliche Gefahren auf sich, als sie ihren Brief aufsetzt? In Bezug auf ihr Verhalten könnte man versuchen, die Blickrichtung einmal umzukehren, weg von Eichs Chinesen. In einer Anzeige an die Polizei von „Untaten“ und „Unmenschlichkeit“ zu sprechen, könnte von dieser (und mehr noch von der SS) als Affront empfunden worden sein. Die Anzeige kritisiert, was im Lager Mauthausen vor sich geht. Die Tatsache, dass die Frau ihrem Vorwurf der Unmenschlichkeit abschließend einen Nachsatz hinzufügt – die Bitte nämlich, man möge die Tötungen doch an einen Ort verlegen, wo man sie „nicht sieht“ –, bleibt jedoch, ebenso wie bei Eich, ein Problem. Man gewinnt den Eindruck, dass sie während der Niederschrift des Briefes plötzlich der Offenheit ihrer Worte inne wurde und das Risiko, das sich für sie persönlich mit der Anprangerung der Morde verbinden konnte, zu mindern versuchte. Damit wäre der Wunsch, nichts mehr sehen zu müssen, weniger Ausdruck des Bedürfnisses nach Verdrängung, sondern eine schiere Vorsichtsmaßnahme. Ihr vorrangiger Wunsch würde sich also doch darauf richten, dass „solche unmenschlichen Handlungen unterbleiben“. In dieser Hinsicht wäre sie „menschlich“, und ihr Schreiben erhöbe sich mit einem gewissen Mut gegen die Morde, die sie zwingen, aus ihrem „Herzen“ eine „Mördergrube“ zu machen. Zu bedenken ist, dass es sich bei den Tötungen um eine bewusste politische Entscheidung von Seiten der SS handelte und dies der Beobachterin aufgrund der Regelmäßigkeit der Morde offenbar deutlich geworden war. Sie konnte die Risiken, die sie einging, also abschätzen. Von 1938 bis 1942 diente der Lagerkomplex Mauthausen-Gusen wie kein anderes Konzentrationslager auf Reichsgebiet der physischen Vernichtung politischer wie ideologischer Gegner und als „kriminell“ und „asozial“ stigmatisierter Personengruppen. Die überaus hohe Todesrate – bis Ende 1942 die höchste der Konzentrationslager innerhalb des Deutschen Reiches – war Folge der Strategie der SS, die Arbeitskraft der Häftlinge vor allem durch systematischen Terror bei gleichzeitiger materieller Unterversorgung zu mobilisieren. Die Funktion von MauthausenGusen als Tötungslager wurde Anfang 1941 durch die Eingruppierung als einziges Lager in die „Lagerstufe III“ für „Schwerbelastete, insbesondere auch gleichzeitig kriminell-vorbestrafte und asoziale, d.h. kaum noch erziehbare Schutzhäftlinge“, das bedeutete die Lagerstufe mit den schlechtesten Lebensbedingungen, offiziell bestätigt.146
Dennoch: Obwohl Gusenbauer offen Anklage erhebt, ist es, als ob eine Art Fixierung auf diejenigen bestünde, die für den Tod der Gefangenen verantwortlich sind. Immerhin wendet sich die Frau brieflich an eine Institution, von der sie annimmt, dass sie genügend Verbindungen zur Wirklichkeit des Lagers unterhält, um diese zu beeinflussen: die Polizei. Sie erhofft sich Hilfe also gerade von den Männern, die, berufsbedingt, offizielle Kontakte zur SS unterhalten. Damit räumt sie ihnen Verfügungsgewalt über ihren Blick ein. Das Nicht-Wissen als Nicht-wissen-Wollen bzw. Nichtmehr-wissen-Wollen soll ermöglicht werden durch eine Beschränkung des Wissbaren auf die Komplizen der Gewalt sowie die eigentlichen Täter. Daraus ergibt sich, dass
146 Freund / Perz: Mauthausen, S. 318.
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die Frau aktiv ihre „eigene Passivierung in die Hand“ nimmt.147 Diese Konstellation entspricht hier plötzlich sehr wohl der des eichschen Hörspiels. Auch der chinesische Herr wünscht, durch die Haushälterin, die mit dem Mord an dem Kind befasst ist, vor dem Eindruck, dass ein Mord im Gange ist, geschützt zu werden. Vergleichbar schließen sich auch die Freetowner von der Wirklichkeit der Vertreibung ab. Von der Mauthausenerin wird, ebenso wie von den eichschen Figuren, jede Mitwisserschaft bezüglich der Taten abgelehnt – doch werden es auch die Taten? Zu den Taten gehörte, dass Häftlinge bei der Arbeit in den Steinbrüchen zu Tode schikaniert, erschlagen, erschossen, in der Krankenstation „abgespritzt“, d.h. mit einer Injektion ermordet, im Winter bei „Badeaktionen“ zu Tode gebracht [wurden], oder sie starben an den Folgen von Unterernährung und Erschöpfung. Alle diese Morde entsprangen der Initiative einzelner SS-Männer oder waren Folgen des Lagerregimes, entsprachen aber der politischen Funktion dieser Lager und wurden daher von der übergeordneten KZ-Verwaltung gedeckt.148
Gefühle und „Verlust der humanen Orientierung“ 149 „Wie es scheint, trägt Gewalt eine Art ‚Index des Realen‘ […].“ 150
Renaud Dulong stellt die These auf, dass diejenigen, die Zeugnis ablegen, im Normalfall von der Möglichkeit zur Mitteilung ihrer Gefühle sowie von der (immer schon bestehenden) Bereitschaft der Zuhörenden, mitzuempfinden, ausgehen.
147 Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 89; Hervorhebung A.P. – Man könnte einen, von Anders auf die Geräte gemünzten Satz umformulieren und schreiben: Da der Mensch „unter Aufbietung aller Konzentrationskräfte zu versuchen hat, statt selbst im Zentrum zu sein, sein Zentrum in die Machtinstanzen der Diktatur zu verlegen, muss er zugleich ‚er selbst‘ und ‚nicht er selbst‘ sein.“ Ebd., S. 90-91; die unterstrichenen Worte wurden eingesetzt statt des Wortes „ins Gerät“. 148 Freund / Perz: Mauthausen, S. 319. – Dass der Tod von Häftlingen intern zwar auf bewusste Entscheidungen zurückging, nach außen hin jedoch geheimgehalten werden sollte, betont die historische Forschung: „Bei diesen inoffiziellen, von den Berliner Zentralstellen erwünschten und gedeckten, aber in der Regel nicht offen befohlenen Tötungen von Häftlingen, die nach außen – vor allem gegenüber anderen Behörden – geheim bleiben sollten, musste die SS bis zum Ende des Krieges bürokratische Rücksichten nehmen, auch dann, wenn die betroffenen Häftlinge ausdrücklich zum Zweck der Vernichtung in das KZ Mauthausen eingeliefert worden waren. Eine solche Rücksichtnahme war das Eintragen fingierter Todesursachen in die Totenbücher.“ Freund / Perz: Mauthausen, S. 319. 149 Giordano: Zweite Schuld, S. 11. 150 Burhardt Wolf: „Codierung von Gewalt“, in: Einführung in die Kulturwissenschaft, hg. von Harun Maye und Leander Scholz, München 2011, S. 81.
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Un témoignage ne transmet pas un affect, il ranime une disposition à être affecté. Ce qui est en jeu dans la réception ne relève pas d’un procès de diffusion, mais du réveil d’un intérêt potentiel déjà présent.151 Eine Zeugenschaft überträgt nicht ein Gefühl, sondern belebt eine Bereitschaft, gefühlsmäßig berührt zu werden. Das, was bei der Aufnahme des Zeugnisses auf dem Spiel steht, ist nicht der Prozess seiner Verbreitung, sondern die Weckung eines möglichen Interesses, das bereits vorhanden ist. [Übersetzung A.P.]
Nun stellt sich aber die Frage, ob die Polizei als Adressat der Zeugenschaft bereit war zur Teilhabe an Gefühlen? Der Gendarmiebeamte Fleischmann, der in Mauthausen seinen Beruf ausübte, ergänzte Gusenbauers Anzeige mit dem folgenden Zusatz: Ähnliches ereignete sich vor einiger Zeit im KL Gusen, wo ebenfalls in der Nähe einer Frau Häftlinge erschossen [wurden] und jenen, die nicht gleich tot waren, von den Posten, durch Hinaufstellen mit den Schuhen auf den Hals, oder mit Fußtritten auf den Kopf der Garaus gemacht wurde.152 151 Dulong: Témoin, S. 177. – Etwas Ähnliches scheint auch Cathy Caruth zu meinen, wenn sie unterstreicht, dass diejenigen, die sich Traumata erzählen lassen, die Erfahrung machen können, nicht selbst die Entscheidung für das Zuhören getroffen zu haben, sondern vom Trauma selbst angesprungen (und in dieses hineingezogen) zu werden. „How does one listen to what is impossible? Certainly one challenge of this listening is that it may no longer be simple a choice: to be able to listen to the impossible, that is, is also to have been chosen by it, before the possibility of mastering it by knowledge. This is its danger – the danger, as some have put it, of the trauma’s ‚contagion‘, of the traumatization of the ones who listen.“ Cathy Caruth: „Trauma and Experience. Introduction“, in: Trauma. Explorations in memory, hg. von Cathy Caruth, Baltimore 1995, S. 3-12, Zitat S. 10. („Wie kann jemand dem zuhören, was unmöglich ist? Eine der Herausforderungen dieses Zuhörens besteht zweifellos darin, dass es nicht länger auf einer schlichten Wahl beruht: fähig dazu zu sein, dem Unmöglichen zuzuhören, das bedeutet, auch von diesem ausgewählt zu werden, bevor überhaupt die Möglichkeit besteht, es durch Kenntnisse zu beherrschen. Darin besteht seine Gefahr – die Gefahr, so die Formulierung mancher Forscher, der ‚Ansteckung‘ des Traumas zu unterliegen, d.h. die Traumatisierung derer, die zuhören.“ [Übersetzung A.P.]) 152 Archiv M.M., A 6/1; hier zitiert nach: Maršálek: Mauthausen, S. 207, Anmerkung 16. – Von einem weiteren Fall berichtet Horwitz. Die Stellungnahme ist die eines 56jährigen Steinmetzen namens Johann Steinmüller, der vor 1934 in der sozialdemokratischen Partei aktiv gewesen sei (vgl. dazu Horwitz: Shadow, S. 37). 1940 wurde er aufgrund kritischer, öffentlicher Äußerungen zu einer Gefängnishaft von acht Monaten verurteilt: „It’s no longer pretty the way things are going among us in Gusen. Recently they shot some inmates one of whom did not die immediately. They left this one lying for a time, whereupon one of the SS guards took pity and gave him a mercy shot. Naturally, [he did it] with a machine pistol; they are totally incapable of shooting with any other weapon. On this account the populace in Gusen is stirred up.“ Horwitz: Shadow, S. 38. Leider steht mir das deutschsprachige Original nicht zur Verfügung. Ich verzichte daher auf eine Übersetzung, da sie den Wortlaut nicht genau träfe.
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Zeugt diese Hinzufügung von Kritik an der SS? Wäre dem so, dann wäre Gusenbauers Idee, ihre Anzeige bei der Polizei könne zu einem gewissen Druck auf die SS führen, vielleicht doch berechtigt gewesen? Oder ist für den zitierten Kommentar des Gendarmeriebeamten die gleiche ambivalente Mischung aus Distanzierung von den Morden und ihrer gleichzeitigen Anerkennung („Garaus machen“) charakteristisch, wie sie einem sowohl bei Gusenbauer als auch, in literarischer Fiktion, bei Eichs Chinesen und den Freetownern begegnet?153 Der Historiker Horwitz betont, dass es zwischen Polizei und SS zu gewissen Differenzen gekommen sei.154 Dennoch scheint es auf 153 Von einem weiteren realen Fall, für den größte Ambivalenz kennzeichnet war, berichtet Horwitz. Ein Bauer habe der SS Teile seiner Felder verkaufen müssen – die jedoch, so der Bauer, gut bezahlt worden seien. „This farmer, living nearby, could not help observe some of the happenings associated with the camp. ‚At the beginning there were only a couple of hundred inmates here and already things went very badly for the inmates. I myself saw countless times how inmates were mistreated. I also saw how inmates were shot.‘ Yet this could not stand in the way of his dealing with the camp’s officers, including the commandant: ‚All the SS officers, and also Ziereis [von 1939 bis 1945 Kommandant von Mauthausen; A.P.], bought milk at my place. I had a good understanding with Ziereis; if I needed something and turned to Ziereis, he always met my request. For example, I once needed painters to paint my house, and he placed two painters with two SS guards at my disposal. The two inmates were academic painters, and as room painters proved a failure. I fed all four well.‘“ Horwitz: Shadow, S. 30. (Hier möchte ich, um nicht an den originalen Formulierungen im Deutschen „vorbei zu übersetzen“, auf das Deutsche verzichten.) – Bemerkenswert ist an dem Geschilderten nicht zuletzt die Einebnung der Unterschiede zwischen den beiden SS-Männern und den beiden Gefangenen: Alle seien gleichermaßen gut mit Nahrung versorgt worden. – Horwitz vertritt die These, dass ein gewisses Wegsehen auf Seiten der österreichischen Zivilbevölkerung einer Notwendigkeit entsprach: „Although cognizant of the terror in the camp, they [die Leute, die Blicke auf die Realität der Gefangenen nicht vermeiden konnten; A.P.] learned to walk a narrow line between unavoidable awareness and prudent disregard.“ Ebd., S. 35. („Obwohl sie sich des Terrors im Lager bewusst waren, lernten sie, sich auf dem schmalen Grad zwischen unvermeidlicher Bewusstheit und vorsichtiger Nichtbeachtung zu bewegen.“ [Übersetzung A.P.]) Die Preisgabe von und die öffentliche Diskussion über Beobachtungen habe schwerwiegende Konsequenzen nach sich gezogen: „Such discussions could and did lead to the arrest and imprisonment of anyone whose statements revealed criticsm of the goings-on in the camps or expressed pity for the inmates.“ Ebd., S. 37. („Solche Diskussionen konnten führen oder führten tatsächlich zu Verhaftung und Gefangenschaft. Betroffen waren all jene, deren Stellungnahmen Kritik an den Geschehnissen in den Lagern verriet oder die Mitleid mit den Häftlingen zum Ausdruck brachten.“ [Übersetzung A.P.]) 154 Der Konflikt habe sich in Bezug auf die Tatsache entzündet, dass die SS den in Mauthausen lebenden Zivilisten verboten habe, die Vorgänge im Lager zu beobachten. „Nevertheless, the police were of the opinion that those persons whom they discovered were mostly people who ordinarily passed the time near the river. The police were simply not as alarmed as the SS, who presumed that people were deliberately assembling to watch the inmates and the SS guards. Fleischmann pointed out that the area was a popular spot where ,all day‘ one might find individuals ‚who particularly enjoy lingering there. Frequently there are also children who when not in school play in the vicinity of the launch.‘ The commandant none-
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Seiten der Polizei keine Bereitschaft gegeben zu haben, sich berühren zu lassen, weil sie ohnehin schon das war, wozu die Verfasserin des Beschwerdebriefes sie gewissermaßen erst noch machen wollte: Fleischmann und seine Kollegen waren bereits Zeuge der Untaten. Das Problem besteht darin, dass Gusenbauer in dem Maße, in sie ihre Zeugenschaft an Männer adressiert, die längst Bescheid wissen, ihren Status als Zeugin aufgibt. Der SS über den Umweg über die Polizei mitzuteilen, was sie gesehen und empfunden hat, nimmt sich aus wie das Bestreben, nicht länger sehen und empfinden zu müssen. Indem sie in Worte fasst, was ihr widerfahren ist, verschickt sie ihre Gefühle mit der Post. In dem Moment, in dem die Polizei den Umschlag öffnet, sind diese Gefühle nicht länger die der Zeugin. Vielmehr gehen sie ins Eigentum der Polizei (und damit indirekt: in das der SS) über. Die Entledigung von dem Gefühl des Entsetzens erfolgt also durch einen Aufruf zur Teilhabe, dem aber das Bewusstsein zugrunde liegt, dass die Mörder keineswegs bereit und in der Lage sein werden, entsetzlich zu finden, was sie tagtäglich tun. Letzten Endes würde die Zeugenschaft also nicht das Ziel verfolgten, andere an den eigenen Gefühlen teilhaben zu lassen, sondern die Sache verhielte sich umgekehrt: Die Zeugenschaft verfolgte das Ziel, an der Gefühllosigkeit derer teilzuhaben, die sie eben darum zum Zuhören auffordert, weil sie unfähig sind, sie zu verstehen. „Ich bereue nichts, also liegt kein Unrecht vor“ – „dieses verquere Denkmodell“ verwenden auch sie.155 Diejenigen, die Gusenbauer zu Zeugen ihrer Gefühle macht, wären als Zuhörer in dem Maße geeignet, in dem feststeht, dass sie sich dem Zuhören und Mitfühlen (zumindest bezogen auf die eigentlichen Opfer) verweigern werden. Die Zeugenschaft strebte nicht nach einer Erweiterung des Raumes, in dem das Entsetzliche – Wolfs „Mördergrube“ im Wortsinn – erkannt wird, sondern im Gegenteil nach seiner Reduzierung auf diejenigen, die die Urheber dieses Entsetzlichen zu sein vermögen, weil sie rein gar nichts fühlen (die „Riesen“, die den eichschen Zug vorbeifahren sehen, die chinesische Köchin, die Freetowner, die SS, das „Herz“ als „Mördergrube“). Die Sehnsucht würde nicht vorrangig dem Wunsch gelten, das Morden möge aufhören (resignativ wird ja die Möglichkeit antizipiert, es versteckt bzw. – bei Eich – unter Dämpfung der Schlachtungsgeräusche weiterzuführen), sondern vielmehr der Hoffnung, das Beispiel, das die Polizisten (bzw. Köchin) in puncto Gefühllosigkeit geben, werde sich auch im eigenen Leben verwirklichen lassen (als Beschränkung der Gefühle auf das Selbstmitleid): „Und ich muss
theless was justly concerned that civilians might see the rough way guards treated inmates who were being transported to work across the river. On one occasion in 1938 or early 1939 it came to light that SS men had thrown inmates into the Danube during a ferry crossing, prompting the district governor to charge the commandant with ‚disturbance of the peace‘. He noted as well that ,this behavior stirred sensation and anger among the civilian population.‘ From the viewpoint of the local officials it was the camp personnel and not the onlookers who were the real threat for public order. The SS quickly developed a deserved reputation in town for ruffianly conduct.“ Ebd., S. 32. (Wegen der vielen, im Original nicht verfügbaren Zitate verzichte ich auch hier auf die Übersetzung.) 155 Anders: Hades, S. 192.
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mir das anhören“156, hatte der kranke Chinese geklagt. Christa Wolf bezeichnet eine solche Haltung als das „Gift des Selbstmitleids“.157 Hannah Arendt fügt hinzu: In Zeiten steigenden Elends, wenn niemand mehr niemandem helfen kann, scheint es ebenso schwer, Mitleid nicht zu einer alles vernichtenden Passion werden zu lassen, wie zu verhindern, dass man auf die Grenzenlosigkeit des Mitleidens mit Ressentiment reagiert; auf jeden Fall scheint Mitleid, wenn es nicht streng personal gebunden ist, die Menschenwürde mit ebenso tödlicher Sicherheit zu vernichten wie das Elend selbst.158
Daraus ist zu schließen: „Auch bei Gefühlen zeigte sich […] jenes Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion, das als Grundprinzip sozialer Systeme figuriert.“159 Sogar in der Historiographie über Mauthausen findet sich die ebenso unangemessene wie unreflektierte Übernahme des Selbstmitleids, das die „bystanders“ auf sich selbst bezogen. Bei dem Historiker Gordon J. Horwitz sind die folgenden Sätze zu lesen, die unreflektiert den Ton des Briefes von Eleonore Gusenbauer weitertradieren: As time passed, the civil population in Mauthausen was increasingly exposed to the sight of mistreatment, brutalization, and murder of the inmates. Not only did the brutality spill over into the town whenever the prisoners arrived at the railway station, which lay 2,5 miles from the camp, but also the sight of death inside the camp was often unavoidable for those unfortunate enough to live within view of the rock quarries. The sight of repeated horrors caused a severe strain on the nerves of nearby residents. Eleonore Gusenbauer, a farmer, became so disturbed by what she could not help to see that she was prompted to file a complaint in 1941.160 Als die Zeit verging, sah sich die Zivilbevölkerung von Mauthausen zunehmend dem Blick auf Misshandlungen, rohe Gewalt und Mord an Häftlingen ausgesetzt. Die Brutalität schwappte nicht nur in die Stadt über, sooft Gefangene beim Bahnhof ankamen – dieser lag 2,5 Meilen vom Lager entfernt –, sondern auch die Sicht auf den Tod im Inneren des Lagers war oft unvermeidlich für jene, die das Unglück hatten, in Sichtweite des Steinbruchs zu leben. Der Blick auf wiederkehrende Gräuel bewirkte eine schwere, nervliche Belastung für eine Anwohnerin aus der unmittelbaren Umgebung. Eleonore Gusenbauer, eine Bäuerin, fühlte sich von dem, was sie, ohne die Möglichkeit zum Ausweichen, sehen musste, so sehr gestört, dass sie sich 1941 veranlasst sah, Anzeige zu erstatten. [Übersetzung und Hervorhebungen A.P.]
Hier gewinnt man den Eindruck, dass alle problematischen Aspekte, die Gusenbauers Brief auch enthält, mit einer einzigen Geste vom Tisch gewischt werden. Zum Verschwinden gebracht werden damit zugleich auch Beobachtungen wie die François Wetterwalds, der in Bezug auf seine Ankunft in Mauthausen festhält: „Traversons Mauthausen, ville coquette avec ses auberges et sa population prodigieusement indifférente.“161 („[Wir] durchqueren Mauthausen, diese adrette Stadt mit ihren Gast156 157 158 159 160 161
Eich: Träume, S. 363. Wolf: Kindheitsmuster, S. 493. Arendt: Elemente, S. 707. Frevert: „Gefühlswissen“, S. 270. Horwitz: Shadow, S. 35; Hervorhebung A.P. Wetterwald: Morts, S. 23.
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häusern und ihrer wunderbar gleichgültigen Bevölkerung.“ [Übersetzung A.P.])162 Die Perversion des Briefes von Gusenbauer besteht jedoch, so muss erneut hervorgehoben werden, nicht nur in der Empfehlung, die Morde versteckt durchzuführen, nicht nur in einer eigenartigen Form von beteiligter Gleichgültigkeit, nicht nur in einer Mischung aus Kritik und Unterwerfung. Vielmehr ist in der bloßen Tatsache, dass die Zeugin die Polizei zu ihren Adressaten macht, diese Empfehlung, sich besser abzuschotten, schon enthalten. Denn durch die Illusion, auf der Grundlage ihrer Anzeige könne die Polizei Untersuchungen in Gang setzen, die es erlauben würden, den SS-Tötungsapparat rechtlich zu belangen, gibt sie gerade den Mördern die Chance, die Verbesserung in ihrem Tötungsapparat vorzunehmen, die es erlauben, fern aller Zeugen weiterhin nichts sehen und fühlen zu müssen. Indem sich die Zeugin selbst die Aussicht auf die Verbrechen nimmt, macht sie klar, dass sie die Aufgabe zur Zeugenschaft restlos an die Mörder selbst übergeben hat. Weil aber die Mörder nicht wider sich selbst zeugen werden, kommt die Übermittlung der Fensterblicke zugleich einer dauerhaften Zerstörung der Möglichkeit zur Zeugenschaft gleich. Der Fensterblick auf das Ungeheuerliche bricht also den Rahmen, den die Macht abgesteckt hat, nicht auf, sondern entspricht ihm. Der Fensterrahmen entspricht dem Verbrechen. In dem Maße, in dem die Zeugin ihren Wunsch bezeugt, nicht länger zu sehen, was sich ihrem Blick dargeboten hat, beweist sie, dass sie genau weiß, was sie wissen darf und was nicht. Um es mit Eugen Kogon zu sagen – dieses Mal jedoch bezogen auf die Perspektive der Machthaber: „Man umkleidet den Terror mit einer Teilanonymität, die zureicht, um alles zu leugnen und doch genügend Furcht zu erwecken.“163 Die „Mördergrube“ bleibt. Der Brief tut nichts anderes, als das Nebeneinander von Sichtbarkeit und Geheimhaltung, die in der Politik der Mauthausener SS ohnehin angelegt war, zu stärken: Im Gegensatz zu den zwar intendierten, aber nicht offen befohlenen Morden wurden hunderte Exekutionen direkt von Berlin aus angeordnet. Wie alle Konzentrationslager diente auch das KZ Mauthausen als Hinrichtungsstätte der Sicherheitspolizei. Diese Exekutionen, die ohne gesetzliche Basis erfolgten, wurden bis Ende 1942 in der Regel – wie bei militärischen Hinrichtungsritualen üblich – durch ein Exekutionskommando der SS einzeln mittels Erschießen an der Hinrichtungsstätte nahe der Baracke 20 vollzogen. Ab Anfang 1943 wurden die Hinrichtungen im Keller des „Bunkers“, dem lagerinternen Gefängnis, am Klappgalgen bzw. in der Genickschussecke im Krematorium durchgeführt.164
Aus diesen Informationen geht hervor, dass die Hinrichtungen ab 1943 in der Tat den Forderungen Gusenbauers entsprochen zu haben scheinen: Sie erfolgten da, wo man sie nicht sehen konnte. Das heißt allerdings nicht, dass dies für sämtliche Exekutionen galt. Es heißt auch nicht, dass die Verlegung der Hinrichtungen in den „Bunker“ die Konsequenz von Gusenbauers Brief gewesen wäre. Fest steht allein, dass die Organisation der Tötungen Veränderungen unterlag. Es galt also, was Eugen Kogon 162 Und nachdem er eine Beschreibung seiner ersten Eindrücke vom Lager selbst geliefert hat, fährt Wetterwald fort: „Attends, ceci n’est que le début. Regarde de tous tes yeux, regarde…“ Ebd. („Warte, dies ist nur der Anfang. Sieh mit all Deinen Augen, sieh…“ [Übersetzung A.P.]). 163 Kogon: SS-Staat, S. 35. 164 Freund / Perz: Mauthausen, S. 319-320.
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in die Formel vom „Zustand der Unsicherheit bei scheinbarer Festigkeit und Kraftentfaltung“ gefasst hat.165 Das bedeutet, dass die „Gestaltungs“-Vorschläge, die Eichs Chinese seiner Frau in Bezug auf die Schlachtung des Kindes macht, nicht aus der Luft gegriffen sind. Auch hier wird alles darauf angelegt, das Geschehen so weit wie möglich von Zeugen fort zu rücken, weil es psychologisch als Bedrohung für einen selbst und die eigene, sehr angreifbare Kraftentfaltung wahrgenommen werden könnte. Die Dame sagt zum Kind: „Geh jetzt dort hinein.“ Und indem das Kind ihrer Aufforderung folgt, fügt sie, an die Haushälterin gewendet, fort: „Li-bai, machen Sie die Tür zu.“ In der Regieanweisung heißt es: „Die Tür wird geschlossen.“ Wie aber können Zeugen bei geschlossenen Türen, die erneut ihre aktive „Passivierung“166 beweist, noch glaubhaft von den „Mördergruben“ berichten? Vorder- und Hinterbühnen In einem molussischen Märchen gibt es eine böse Fee, die einen Blinden heilt; aber nicht dadurch, dass sie ihm den Star sticht, sondern dadurch, dass sie ihn mit einer zusätzlichen Blindheit schlägt: ihn nämlich auch noch gegen die Tatsache seiner Blindheit blind macht, ihn vergessen lässt, wie das Wirkliche wirklich aussah; was sie wiederum dadurch zuwege bringt, dass sie ihm pausenlos Träume schickt. 167
Nachdem wir die zwei historischen Beispiele aus Weimar und Mauthausen in unverhältnismäßiger Ausführlichkeit analysiert haben, möchte ich jetzt zu einigen grundsätzlichen Überlegungen übergehen, d.h. Eichs Chinesen und die Freetowner ins Theoretische wenden. Den Hintergrund bildet erneut der Brief Eleonore Gusenbauers. Kommen wir noch einmal zurück auf das Problem der Zeugenschaft, das ja im Hörspiel – besonders in zweitem und drittem Traum – zentral verhandelt wird. Zeugen müssen unter ‚normalen‘ Umständen, so betont Dulong, bemüht sein, das Außergewöhnliche dessen, wovon sie zeugen, derart ins Gleichgewicht mit dem Erwartbaren zu bringen, dass ihnen Glauben geschenkt wird. In diesem Kontext gelte: [U]n contenu extraordinaire rend problématique sa transmission par un témoin, la reconnaissance de sa probité et de son bon sens par ceux qui le reçoivent. Le paradoxe du témoin – Primo Levi l’a bien vu – c’est d’être à la fois d’autant mieux habilité à parler et d’autant plus sujet à critique que le récit sort de l’ordinaire. Si les règles de plausibilité enjambent les expériences individuelles et fournissent une grille universelle de ce qui vaut comme monde, un témoignage, ou plutôt la nécessité de certifier une description, s’inscrit aux limites de cette grille. Face au risque de n’être point cru, une stratégie narrative usuellement adoptée consiste à entourer la relation de la chose inouïe de l’énoncé, des circonstances fort banales de sa découverte: le moment et les lieux, les raisons de sa présence, etc.168 165 166 167 168
Kogon: SS-Staat, S. 36. Anders: Antiquiertheit, Bd. 1, S. 90. Ebd., S. 125. Dulong: Témoin, S. 68.
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Ein außergewöhnlicher Inhalt macht die Weitergabe durch einen Zeugen, die Anerkennung seiner Verlässlichkeit und seiner richtigen Wahrnehmung durch diejenigen, die ihm zuhören, problematisch. Das Paradox des Zeugen besteht darin […], dass er umso besser geeignet ist, zu sprechen, und gleichzeitig umso leichter zum Gegenstand der Kritik wird, je stärker sein Bericht über das Alltägliche hinausgeht. […] In Anbetracht der Gefahr, dass man ihm nicht glaubt, besteht die erzählerische Strategie gewöhnlich darin, den Kontext des Niedagewesenen des Erzählten hervorzuheben, die äußerst banalen Umständen seiner Entdeckung: den Moment und die Orte, die Gründe für seine Anwesenheit usw. [Übersetzung A.P.]
All das, was hier beschrieben wird, trifft auf die Mauthausenerin nicht zu. Ihr Zeugnis krankt nicht daran, zu außergewöhnlich, sondern im Gegenteil daran, zu normal zu sein – macht sie die Polizisten doch auf etwas aufmerksam, was ohnehin deren Alltag bildet: Auch in Gusen hatte man „jenen, die nicht gleich tot waren, […] durch Hinaufstellen mit den Schuhen auf den Hals, oder mit Fußtritten auf den Kopf de[n] Garaus gemacht.“ Es besteht also keineswegs die Gefahr, dass der Gendarm namens Fleischmann und seine Kollegen ihr nicht glauben könnten. Es ist vielmehr klar, dass das Zeugnis über die Tötungen der Wahrheit entspricht und, abgesehen von der SS, niemand besser bestätigen könnte, dass es der Wahrheit entspricht, als die Polizisten selbst. Zugleich gilt aber in gewisser Weise doch auch das, was Dulong beschreibt: Niemand könnte schlechter geeignet sein, die Wahrheit des Zeugnisses zu begreifen, als die SS (als indirekte Adressatin des Briefes), weil niemand die Tötungen für so normal hält wie sie. Das Bemühen der Mauthausenerin bezieht sich also weniger darauf, durch die Einführung von Erzählelementen aus der ‚Normalität‘ die Glaubhaftigkeit des Außer-Gewöhnlichen zu verstärken, sondern das Gegenteil ist wahr: Aus dem gesamten Brief spricht der Versuch, den Empfängern klar zu machen, dass es durchaus nicht normal ist, Menschen anzuschießen und sterben zu lassen. Was nun ‚Normalität‘ sei und wie sich die Konzeption von ihr im Zusammenspiel verschiedener Akteure stabilisieren lasse, das soll im Folgenden gefragt werden, um einen Blick für die literarischen Konstruktionen von ‚Alltag‘ bei Eich zu gewinnen. Ich komme jetzt also zu den theoretischen Konsequenzen, die sich aus den ersten drei Träumen ergeben. Erving Goffman geht davon aus, die soziale Interaktion zwischen Menschen lasse sich in vieler Hinsicht unter Rückgriff auf die Terminologie von Theater und Dramaturgie beschreiben: eine neue Form von Welttheater.169 Zur Übernahme von Rollen gehöre die Errichtung von B