Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert: Eine Anthologie von Grundlagentexten der deutschen Rechtswissenschaft [1 ed.] 9783737008716, 9783847108719

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Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert: Eine Anthologie von Grundlagentexten der deutschen Rechtswissenschaft [1 ed.]
 9783737008716, 9783847108719

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Beiträge zu Grundfragen des Rechts

Band 27

Herausgegeben von Stephan Meder

Stephan Meder / Vincenzo Omaggio / Gaetano Carlizzi / Christoph Sorge (Hg.)

Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert Eine Anthologie von Grundlagentexten der deutschen Rechtswissenschaft

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5405 ISBN 978-3-7370-0871-6

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort zur italienischen Ausgabe

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stephan Meder / Christoph Sorge Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . .

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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element. Eine Grundlegung Einleitung von Gaetano Carlizzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Rechtsidee und Rechtsstoff. Eine Skizze (Gustav Radbruch)

. . . . . .

71

2. Interpretation, Beweis und Subsumtion in der logischen Struktur des Rechtsurteils (Karl Engisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

3. Sachverhalt und Rechtssatz im Prozess der Rechtsverwirklichung (Arthur Kaufmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

4. Die gegenseitige Entfaltung von Sachverhalt und Tatbestand (Winfried Hassemer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Teil II: Das Vorverständnis von Rechtssätzen und die Bildung von Sachverhalten Einleitung von Vincenzo Omaggio

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

6

Inhalt

5. Lebenssachverhalte, Normhypothesen und Rechtssätze im Bereich der Rechtsgewinnung (Martin Kriele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6. Verständnis und Interpretation (Joachim Hruschka)

. . . . . . . . . . 139

7. Applikation, topisches Vorverständnis und topische Hermeneutik (Friedrich Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8. Bedingungen für die Rechtsanwendung (Josef Esser) . . . . . . . . . . 157 9. Die Jurisprudenz als verstehende Wissenschaft (Karl Larenz)

. . . . . 163

10. Die Konstitution des Rechtsfalles (Joachim Hruschka) . . . . . . . . . 173 11. Die Bildung und rechtliche Beurteilung des Sachverhalts (Karl Larenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Teil III: Typus und Analogie im Recht Einleitung von Gaetano Carlizzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 12. Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken (Gustav Radbruch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 13. Die Konkretisierung als Hinwendung zum »Typus« in Recht und Rechtswissenschaft (Karl Engisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 14. Arten von Typen und verschiedene Typusverständnisse im Recht (Karl Larenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 15. Juristische Analogie zwischen Ähnlichkeit, Angleichung und ontologischem Typus (Arthur Kaufmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 16. Typus und Analogieverbot im Strafrecht (Winfried Hassemer) . . . . 269

Teil IV: Urteilsrichtigkeit und praktische Vernunft Einleitung von Vincenzo Omaggio

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

17. Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft (Martin Kriele) 18. Die rationale Kontrolle der Auslegung (Josef Esser)

. . . . 293

. . . . . . . . . . 309

Inhalt

7

19. Vernunft und Form im Recht (Arthur Kaufmann) . . . . . . . . . . . 317 20. Methodologie und Anwendungspraxis (Winfried Hassemer) . . . . . 331

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die vorliegende Quellensammlung verfolgt das Ziel, grundlegende Texte zur Juristischen Hermeneutik aus dem 20. Jahrhundert einem größeren Publikum leichter zugänglich zu machen. Mit den präsentierten Texten wird keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Angesichts des neuen Interesses an juristischer Grundlagenforschung soll der Band einen Einstieg in die Thematik ermöglichen und eine Übersicht über das große Spektrum von hermeneutischen Problemstellungen im Recht bieten. Der Band ist zuerst in italienischer Sprache unter dem Titel »L’Ermeneutica Giuridica Tedesca Contemporanea« erschienen und von Gaetano Carlizzi und Vincenzo Omaggio herausgegeben worden (Pisa: Edizioni ETS 2016). Für die deutsche Ausgabe wurden das Vorwort und die Einleitungen zu den Teilen I bis IV von Gaetano Carlizzi und Vincenzo Omaggio aus dem Italienischen übersetzt. Den hier abgedruckten Quellen liegt die Veröffentlichung des jeweiligen Originals in deutscher Sprache zugrunde. Ergänzt wurde der Band um einen Einführungsbeitrag »Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik«. Die Quellentexte sind möglichst werkgetreu abgedruckt worden. Bis auf kleinere Änderungen bei einzelnen Gliederungsebenen, die für die Verständlichkeit unerlässlich erschienen, sind Struktur, Orthographie und Zitierweise gleichgeblieben. Literaturangaben wurden dort ergänzt, wo es aufgrund eines unzulänglichen Nachweises erforderlich war. Die Umbrüche aus den Originalbeiträgen wurden hervorgehoben und durch Angabe der ursprünglichen Seitenzahlen in eckigen Klammern kenntlich gemacht. Die einzelnen Titelüberschriften stammen dagegen nicht von den Autoren der Originalbeiträge. Sie wurden von den italienischen Herausgebern formuliert, um die Struktur des Gesamtwerks übersichtlicher zu gestalten. Für die großzügigen Abdruckgenehmigungen der Quellen möchten wir uns bei den folgenden Verlagen in alphabetischer Reihe bedanken: C. F. Müller Verlag GmbH (Heidelberg), Duncker & Humblot GmbH (Berlin), SpringerVerlag GmbH (Heidelberg), Universitätsverlag Winter GmbH (Heidelberg), Vittorio Klostermann GmbH (Frankfurt a.M.), Wolters Kluwer Deutschland

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

GmbH (Köln). Der Universität »Suor Orsola Benincasa« (Neapel) und ihrem Rektor, Professor Lucio d’Alessandro, möchten wir unseren Dank für die finanzielle Unterstützung aussprechen. Für die bisweilen schwierige Umwandlung der Originalbeiträge in ein digitales Textformat gebührt unser Dank Frau Marie Kösterke und Frau Jessica Nur Windel. Was die Übersetzung des Vorworts und der Einleitungen aus der italienischen Erstveröffentlichung anbelangt, bedanken wir uns bei Frau Christine Stazio-Feindt. Für die Unterstützung bei den Korrekturen des Einführungsbeitrags gilt unser Dank Frau Ina Krückeberg. Hannover, im August 2018

Die Herausgeber

Vorwort zur italienischen Ausgabe

Der vorliegenden Anthologie liegt ein zweifaches Anliegen zugrunde. An erster Stelle stand der Wunsch, dem interessierten Fachpublikum von Neuem eine Gruppe von Autoren und ihre theoretischen Ansätze vorzustellen, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entstanden sind und die wir hier kurz als »Juristische Hermeneutik« bezeichnen wollen. Die Schriften dieser Autorengruppe werden im Allgemeinen nicht zu den wesentlichen juristischen Strömungen des 20. Jahrhunderts gezählt, fanden aber in vielen Ländern – und nicht zuletzt in Italien – durchaus Beachtung. In Italien hat die Juristische Hermeneutik seit den 70er Jahren das Denken wichtiger Vertreter der Rechtsphilosophie maßgeblich beeinflusst, und seit den 90er Jahren befassen sich auch führende Strafrechtler eingehend mit ihren Inhalten. Das verbreitete Interesse an der Juristischen Hermeneutik, gerade in unseren Tagen, bildete den Anstoß für eine Zusammenstellung maßgeblicher Texte in einem Sammelband. Dabei wird das Ziel verfolgt, sie einem interessierten Fachpublikum gebündelt wieder zugänglich zu machen. Das große Verdienst der Autorengruppe ist der lebendige Austausch zwischen Rechtsphilosophie und Rechtspraxis. Hierin liegt auch schon der weitere Beweggrund für die Realisierung dieser Textanthologie: Die Grundprinzipien der Juristischen Hermeneutik spielen – bei angemessener Definition ihrer theoretischen Prämissen und nicht, wie das heute oft geschieht, mit einem allgemein gehaltenen Hinweis auf die zentrale Stellung der Auslegung in der Rechtsprechung – für die Rechtskultur auch heute noch auf verschiedenen Ebenen eine wichtige Rolle: – Auf rechtsphilosophischer Ebene könnte die Juristische Hermeneutik einige Aspekte der Rechtswirklichkeit aufzeigen, die von anderen Denkrichtungen außer Acht gelassen werden (konkrete Sachverhalte und die Inhalte, deren Träger sie ursprünglich sind). – Für die Rechtstheorie wiederum könnte sie einen Beitrag leisten, indem mittels Hermeneutik das »Wesen« der im Zusammenhang mit Rechtsanwendung

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Vorwort zur italienischen Ausgabe

stehenden Vorgänge aufgezeigt wird (z. B. der problematische Zusammenhang zwischen Beweis und Subsumtion). – Die Bedeutung der Juristischen Hermeneutik für die Rechtswissenschaft liegt in der Neukonfiguration der von Juristen angewandten Kategorien mit dem Ziel, sie der Wirklichkeit anzupassen, auf die sie einwirken will (z. B. Scheinkonkurrenz im Strafrecht, Unterscheidung von Revisionsinstanz und Tatsacheninstanz). – Für die Rechtspraxis endlich könnte ihre Bedeutung darin liegen, für alle in Rechtsberufen Tätigen – insbesondere gilt das für das Amt des Richters – eine Erinnerung daran zu sein, dass ein selbstreflektierendes Vorgehen bei der Berufsausübung unabdingbar ist, um der Komplexität der von ihnen zu bewältigenden Aufgaben gerecht zu werden. Unter dieser Prämisse sei hier aber auch betont, dass die Juristische Hermeneutik nicht im eigentlichen, strengen Sinne eine Schule ist: Weder kann der »Gründer« einer vermeintlichen Schule ausgemacht werden, noch lässt sich von »nacheifernden« Anhängern einer solchen sprechen. Die Juristische Hermeneutik kann allerdings sehr wohl als eine Strömung innerhalb des Rechtsdenkens bezeichnet werden, da allen Autoren eine gemeinsame Grundhaltung eigen ist. Aus dieser Grundhaltung heraus hat jeder von ihnen eigenständige Thesen und Kategorien entwickelt, die wir versucht haben, durch die Auswahl der Texte und Textstellen hervorzuheben und die wir der Einteilung in vier Kapitel zugrunde gelegt haben. Ausgehend von der These, dass die Rechtswirklichkeit sich durch die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element definiert, sind daraus folgende inhaltliche Felder entstanden: – Die Dialektik zwischen der normativen und faktischen rechtlichen Ebene, – das Vorverständnis von Rechtssätzen und die Sachverhaltsbildung als Antipoden dieser Dialektik, – die typologische Beschaffenheit von Rechtstatbeständen und die analogische Funktionsweise ihrer Anwendung, – die rechtliche Entscheidung als praktisches Handeln, das den Anspruch auf Richtigkeit und damit auch auf Richtlinien hat, die dieses gewährleisten. Diese Themenschwerpunkte haben auf unterschiedliche Art und Weise und von unterschiedlichen Ausgangspositionen aus die wichtigsten Autoren dieser Denkrichtung beeinflusst. Eine Untersuchung, die sich rückblickend auf die verschiedenen Profile und auf die (in der Tat höchst umfangreiche) Literatur dieser Autoren richtet, gestattet eine Rekonstruktion der Juristischen Hermeneutik um zwei Kernthesen herum.

Vorwort zur italienischen Ausgabe

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An erster Stelle steht ein allein dem Rechtsdenken entspringender Gedanke: Wenn nämlich Radbruch das Verdienst gebührt, die Grundidee der Dialektik zwischen normativem und faktischem Element und einiger damit zusammenhängender Thesen formuliert zu haben, dann ist es anderen Denkern und Rechtstheoretikern zu verdanken, dass sie diese Grundidee aufgenommen und in ein präzises theoretisches Gedankengerüst umgeformt haben. In diesem Zusammenhang drängt sich als erster Name der von Engisch auf, der aus der Dynamik des »Hin- und Herwanderns des Blickes« (Teil I) und der theoretischen Produktivität der Kategorie des Typus (Teil III) zwei entscheidende Kategorien der juristisch-hermeneutischen Grammatik entwickelt hat. Und es ist kein Zufall, dass sich so mancher Vertreter der Juristischen Hermeneutik in seinen Schriften auf Radbruch bezieht (hauptsächlich Kaufmann und sein Schüler Hassemer, aber vor allen Engisch selbst) und dabei fast immer Engischs Bild des Hin-und-her-Wanderns (im Original »Hin- und Herwandern«) des Blickes anführt (Larenz, Hruschka, Kriele, Kaufmann, Hassemer). Außerdem sehen viele von ihnen im Typus die Rechtsfigur, die am besten dazu geeignet ist, den Unterschied zwischen der hermeneutischen und der traditionellen Auffassung des Rechtstatbestandes klar herauszustellen (vgl. Engisch, Larenz, Kaufmann, Hassemer). Komplementär zu den Ideen Radbruchs findet seit den 60er-Jahren eine rechtswissenschaftliche Weiterentwicklung der Gadamer’schen philosophischen Hermeneutik statt, und zwar vor allem durch die Arbeiten von Esser, Kriele und Müller. Begriffe wie »Vorverständnis«, »Hermeneutischer Zirkel«, »Befragung der Texte« (Teil II) und »praktische Vernunft« (Teil IV), die vor allem Esser, Kriele und Müller aufgenommen und in ihre rechtstheoretischen Konzeptionen integriert haben, sind ganz ohne Zweifel von Gadamer’scher Prägung. Auch der späte Kaufmann anerkennt die Rolle Gadamers, seines »philosophischen Lehrers«, selbst wenn er seine Theorien unabhängig von diesem entwickelt hat. Das Grundprinzip der philosophischen Hermeneutik, dass nämlich Verständnis notwendig auch Anwendung ist, tritt auf dem Gebiet der rechtlichen Beurteilung besonders zu Tage. Hier korrespondiert das rechtliche Vorverständnis mit der Bestimmung des Sachverhaltes als Aussage, und beide treten in eine kreisförmige Wechselbeziehung. In letzter Konsequenz kann weder der Ansatz von Radbruch und Engisch (noch der Gadamer’sche) für sich eine ausschließliche Urheberschaft der Juristischen Hermeneutik in Anspruch nehmen, obwohl sie beide Grundlegendes zur Identität der Juristischen Hermeneutik beigetragen haben. Andererseits sind es auch und letztlich gerade die Fortsetzer beider Linien gewesen, die diese Ansätze fruchtbar weiterentwickelt haben. So wurde zum Beispiel die »Sachverhaltsbildung« (Teil II), die Radbruch nur ansatzweise ausgearbeitet hat und die von Engisch »lediglich« intuitiv angenommen wurde, vollends erst von

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Vorwort zur italienischen Ausgabe

Hruschka, Larenz und Hassemer zu Ende gedacht. Wenn in ähnlicher Weise Radbruch die semantische Unbestimmtheit von Rechtsbestimmungen noch auf herkömmliche Art als Mangel (Zweideutigkeit, Lückenhaftigkeit, Widersprüchlichkeit) ansieht, gelangt man erst in der Reifephase der Juristischen Hermeneutik (vor allem mit Hassemer) dazu, in diesem vermeintlichen Mangel eine Chance zu sehen, die es den Rechtstexten erlaubt, ihre ureigene Rolle, namentlich die Offenheit des Sinns von Normen auf die Wirklichkeit hin, zu übernehmen. Diese schrittweise Entfaltung der Ideen Radbruchs und Engischs gestattet es uns heute, ihre Bedeutung besser und mit einem gewissen Nachdruck zu erfassen. Es verhilft uns gleichzeitig zu einer tieferen und zeitgemäßen Einsicht in die Wirkungsgeschichte genannter Autoren der Juristischen Hermeneutik. Gadamers verdienstvolle Neuerungen in der Philosophie hingegen, die im Dialog mit Heidegger am deutlichsten zum Ausdruck kommen, waren nicht nur für sich genommen unzulänglich, um eine Rechtstheorie zu begründen, die den an sie gestellten Ansprüchen gerecht würde. Auch die Vielschichtigkeit der Begründung einer rechtlichen Entscheidung konnte mit ihr nicht abgebildet werden. Obwohl Gadamer die transzendentale (und eben nicht subjektivistische) Natur des Vorverständnisses und die dem Hermeneutischen Zirkel zugrunde liegende Dynamik sehr einleuchtend dargestellt hat, scheinen doch die antimethodische Vorgehensweise und eine gewisse Praxisuntauglichkeit dem allmählichen »Theorievergessen« Vorschub geleistet zu haben. Wie die jüngsten rechtswissenschaftlichen Veröffentlichungen zeigen, konnte mit Gadamer jedenfalls ein unspezifisches Daseins der Hermeneutik als reine »Mutmaßungen über die Psychologie des Interpreten« nicht verhindert werden. Dringlicher noch als eine, wenn auch sicherlich gebotene, genealogische Rekonstruktion erscheint, wie zu Beginn bereits angedeutet, eine Verteidigung der Juristischen Hermeneutik. Begegnet werden soll damit der Gefahr, dass sie in jener »familiären« – und aus diesem Grund sehr zwiespältigen – Harmonie eines rechtswissenschaftlichen Theoriepluralismus gänzlich untergeht. Kurz gesagt, wir brauchen unserer Meinung nach eine klare Abgrenzung von der Vorstellung, dass die Aktualität rechtshermeneutischen Denkens einzig und allein auf dem Gebiet der richterlichen Interpretation oder, allgemeiner gesagt, der Rechtsauslegung überhaupt liegt. Eine solche unangemessene Beschränkung der Juristischen Hermeneutik tritt häufig in Zeiten eines allzu optimistischen Nomozentrismus auf. Um dieser Tendenz Einhalt zu gebieten, scheint an erster Stelle der Rückbezug unmittelbar auf die »Gründungsschriften« der jüngeren Juristischen Hermeneutik angeraten zu sein. Die heute verbreitete Überzeugung, dass unsere Epoche das Zeitalter der Rechtsprechung sei, in dem der Richter die Aufgabe hat, das Recht der Realität anzupassen, und dabei zuweilen sogar so weit geht, sich selbst quasi als kon-

Vorwort zur italienischen Ausgabe

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kurrierende Rechtsquelle anzusehen, kommt nicht von ungefähr. Eine der Ursachen und gleichzeitig eine der Wirkungen dieser Überzeugung ist die Entstehung des Verfassungsstaates. In einer auf Rechtsgrundsätzen aufgebauten Rechtsordnung ist das Postulat der uneingeschränkten Autonomie des positiven Rechts nicht mehr haltbar. Immer häufiger ist der Richter dazu gezwungen, seine Entscheidungen auf der Grundlage einer Abwägung verschiedener Werte zu treffen, was immer ein Hinzuziehen von außerrechtlichen Größen mit sich bringt. In einem auf Prinzipien beruhenden Rechtssystem, das keine beliebigen, sondern »richtige« Entscheidungen verlangt, können diese hinzugezogenen Größen auch moralischer Art sein. Das Gesetzlichkeitsprinzip, in herkömmlicher Weise als Unterwerfung des Richters unter das Gesetz verstanden, wird zur Unterwerfung des Richters auch unter das Recht, wie es in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 heißt. Unter »Recht« versteht man also die Gesamtheit von Normen, Grundsätzen und Werten, die der Richter untereinander in Einklang bringen soll, um eine gerechte Lösung eines Falles zu gewährleisten. Dabei herrscht vor allem die Vorstellung, dass intersubjektivistische, aus dem konkreten Zusammenhang erwachsende Bindungen eine Gefahr der Willkürlichkeit bannen können, die durch das unentrinnbare Ermessen des Auslegenden entsteht. Vor diesem Hintergrund erstreben sowohl der »Neokonstitutionalismus« als auch die Hermeneutik analoge Ziele. Beiden gemeinsam ist außerdem die große Bedeutung, die sie der »interpretativen Wende« beimessen, wonach der Lehre der Auslegung eine zentrale Stellung und der Rang der Unabdingbarkeit innerhalb der Rechtsphilosophie zukommt. Die juristische Argumentationsform als logische Beweisführung für die Richtigkeit einer zu treffenden Entscheidung, die nicht aus streng logischen Ableitungsformeln besteht, hat innerhalb aller rechtsphilosophischen Studien eine immer größere Bedeutung erlangt und nimmt nunmehr eine unangefochtene Vorrangstellung ein. Könnte man sich ein fruchtbareres Zusammenspiel für die Juristische Hermeneutik vorstellen? Bei hellem Licht betrachtet wohl kaum. Daher ist es auch so wichtig, dieses günstige Klima zu nutzen, um der Juristischen Hermeneutik klare Konturen zu verleihen, die sie als einheitliche Bewegung mit einer inhaltlich klar umrissenen Identität erkennen lassen. Die Juristische Hermeneutik erhebt ja nicht den Anspruch, die für die Rechtsphilosophie einzig richtige Interpretationsmethode zu sein. Ein Korpus aus Fragestellungen und Lösungen, der, mag er auch komplex und heterogen sein, doch einen wertvollen Bezugspunkt und Orientierungsrahmen für jede »am hermeneutischen Denken« ausgerichtete theoretische Reflexion bietet, ist jedoch zweifelsohne entstanden. Mit anderen Worten: Da auch die interpretative Wende in den Rechtswissenschaften viele Ansätze der Hermeneutik aufgegriffen hat, drängt sich eine

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Vorwort zur italienischen Ausgabe

neuerliche Präsentation dieser Autoren förmlich auf. Eine Zusammenstellung bedeutender Schriften dieser Denker verspricht einen großen Nutzen, und mit dieser Anthologie soll der erste Schritt in die richtige Richtung getan werden. Wenn das große Verdienst der Juristischen Hermeneutik dadurch einen größeren Leser- und Interessenkreis erreicht, ist das wichtigste Anliegen, das ein Herausgeber haben kann, bereits erreicht. Den Aufbau dieser Anthologie und ihre Ausgestaltung haben beide Herausgeber gemeinsam konzipiert. Die Redaktion der Teile I und III lag in den Händen von Gaetano Carlizzi, während Teil II und Teil IV von Vincenzo Omaggio redigiert wurde. Besonderer Dank gilt unseren lieben Freunden Aldo Schiavello und Vito Velluzzi. Ihnen gebührt das Verdienst, dass der Band in so kurzer Zeit in der renommierten Reihe »Filosofie e filosofie del diritto« erscheinen konnte. Neapel, im August 2016

Vincenzo Omaggio und Gaetano Carlizzi

Stephan Meder / Christoph Sorge

Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik

I.

Einleitung

Juristische Hermeneutik im Sinne von Auslegung und Interpretation rechtlicher ›Gegebenheiten‹ ließe sich, frei nach Odo Marquard, wie folgt auf den Punkt bringen: »Hermeneutik ist die Kunst, aus einem [Rechts-]Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu – wenn man doch den Text hat – brauchte man sie sonst?«1 Während die klassische Methodenlehre der Rechtswissenschaft Auslegung überwiegend als reinen Erkenntnisprozess darstellt, deutet sich in der Aussage von Marquard ein produzierendes Element an: Wenn der Rechtsanwender etwas aus dem Text herausholt, was sprachlogisch nicht in ihm ›enthalten‹ ist, wird durch Gesetzesauslegung nicht nur Recht erkannt, sondern auch ein Sinnüberschuss erzeugt. Dieses schöpferische Moment ist keinesfalls die Ausnahme, sondern bildet den ubiquitären Regelfall, da der Jurist – vor allem in den Rollen des Dogmatikers oder Richters – Rechtsbegriffe, Tatbestände und Rechtsfolgen nicht als Selbstzweck begreift, sondern sie immer auf eine konkrete Situation applizieren und seine Anwendung gegenüber der Rechtsgemeinschaft rechtfertigen will. Eine Norm durch Auslegung zu verstehen, bedeutet daher, sie immer anders zu verstehen, nämlich im Hinblick auf den situativen Standpunkt, von dem aus »diese Regel in das Leben übergehen«2 muss. Mit dieser Kurzformel hat Savigny als Begründer der modernen juristischen Hermeneutik im 19. Jahrhundert schon zum Ausdruck gebracht, dass Auslegung des Rechts sich mit seiner Fortbildung in vieler Hinsicht überschneidet; denn beide sind Formen der Rechtserzeugung und insoweit produktive Tätigkeiten.3 Die auf den 1 O. Marquard, Frage nach der Antwort, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Zukunft braucht Herkunft, 2003, S. 72–101, 72. 2 F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 206. 3 Daher konvergiert in der Interpretation für Savigny auch die heute häufig angenommene Trennung zwischen dem Geschäft des praktischen Richters von dem des gelehrten Rechtsdogmatikers: »Interpretation ist Forschung, und zwar Anfang und Grundlage der Forschung, System und Geschichte sind Verarbeitung jenes zuerst gefundenen Stoffs zu Resultaten […].«

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Stephan Meder / Christoph Sorge

ersten Blick entgegengesetzten Arbeitsweisen – Auslegung einer in der Vergangenheit erlassenen Gesetzesnorm und Fortbildung des Rechts für die Zukunft – schließen sich im Prozess der Applikation zusammen, indem das eine lediglich heuristisch und graduell von dem anderen getrennt werden kann.

1.

Rechtsanwendung als Rechtserzeugung

Von dem Rechtsanwender wird eine Konkretisierungsaufgabe verlangt, wobei er eine doppelte Distanz zu überbrücken hat, nämlich einmal den vertikalen Abstand zwischen abstrakt-allgemeiner Norm und individuellem Sachverhalt und zweitens den horizontalen Abstand gegenüber den übrigen Teilnehmern der Rechtsgemeinschaft, da das Ziel von Auslegung immer auch auf Verständigung und Akzeptanz des Auslegungsergebnisses gerichtet ist. Dieser horizonterweiternde Brückenschlag vollzieht sich nicht linear, sondern über ein wechselseitiges Näherungsverfahren zwischen Norm und Faktum, auf dessen Basis der Sachverhalt durch die Norm ›konstituiert‹ und die Norm mit dem Sachverhalt ›konkretisiert‹ wird. Ein solch spiralförmiger Anwendungsprozess4 erschöpft sich jedoch nicht in einer solipsistischen Durchführung der Auslegungsmethoden. Die handwerkliche Explikation von Gesetzesnormen ist vielmehr in einen institutionellen Rahmen vorgängiger Applikationen eingebettet, wobei hier das ›Systemverständnis‹ an erster Stelle zu nennen wäre.5 So mag im Vorverständnis des Rechtsanwenders, welches sich aus überlieferter Rechtsdogmatik und erfahrungsgesättigter Rechtsprechung speist, der erste Brückenschlag längst vollzogen sein, bevor die ›nachkommende‹ Interpretation die Distanz F. C. v. Savigny, Einleitung zu den Pandekten 1841/1842, in: A. Mazzacane (Hg.), Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, 2. Aufl. 2004, S. 285. Eingehend dazu Meder, Ius non scriptum – Traditionen privater Rechtsetzung, 2. Aufl. 2009, S. 172ff.; ders., Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, 2004, S. 131ff. vgl. ferner M. Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, in: M. Fuhrmann/H. R. Jauß u. a. (Hg.), Text und Applikation (Reihe Poetik und Hermeneutik IX), 1981, S. 409–412, 409f., der das schöpferische Moment der Rechtsanwendung ebenfalls betont. 4 W. Hassemer, Juristische Hermeneutik, in: ARSP 72 (1986), S. 195–212, 208, und in diesem Band: ders., Die gegenseitige Entfaltung von Sachverhalt und Tatbestand (Teil I Nr. 4); K. Larenz, Die Jurisprudenz als verstehende Wissenschaft (Teil II Nr. 9); F. Müller, Applikation, topisches Vorverständnis und topische Hermeneutik (Teil II Nr. 7); siehe ferner T. GizbertStudnicki, Der Vorverständnisbegriff in der juristischen Hermeneutik, in: ARSP 73 (1987), S. 476–493, 480; M. Immenhauser, Wozu Hermeneutik im Rechtsdenken?, in: W. Wiegand/T. Koller u. a. (Hg.), FS E. Bucher, 2009, S. 297–332, 306–309. Vgl. dazu in diesem Band: G. Carlizzi, Die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element. Eine Grundlegung (Einleitung zu Teil I), und V. Omaggio, Das Vorverständnis von Rechtssätzen und die Bildung von Sachverhalten (Einleitung zu Teil II). 5 Auch diese Dimension kommt in Savignys Hermeneutik voll zum Tragen, vgl. dazu Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 138–143 mwN.

Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik

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zwischen Norm und Fall etwa über die Auslegung nach Sinn und Zweck einer Anspruchsgrundlage zu überwinden sucht. Die vornehmlich bei den sogenannten hard cases oder unbestimmten Rechtsbegriffen erforderliche Auslegung beschreibt dabei im Grunde genommen nur einen äußersten Grenzfall des juristischen Verstehens. Denn die methodengeleitete Dolmetscherleistung ist von der alltäglichen und routinierten Übersetzungsarbeit, die Richter oder Rechtswissenschaftler bei den easy cases erbringen, nicht kategorial, sondern nur graduell verschieden.6 Wenn solche Grenzfälle dennoch anmuten, als würde z. B. der Bundesgerichtshof mit einer neuen Grundsatzentscheidung über den Verbraucherwiderruf oder ein Rechtswissenschaftler mit einer Monografie über die Vertrauenshaftung seine Lösungen zum »Anfangspunkt der ganzen Wissenschaft« erheben, »welche von hier aus erfunden werden soll«,7 dann liegt darin – ungeachtet der intellektuellen oder stofflichen Durchdringungstiefe – jene schöpferische Anwendung von Recht begründet, die ein Amtsrichter bei einem Verkehrsunfall oder ein Universitätslehrer für einen Ausbildungsbeitrag ebenfalls leisten muss. In allen Fällen bringt die konkretisierende Vermittlung im Zuge der Rechtsanwendung etwas Neues hervor: Sie ist ein schöpferisches Verhalten und lässt sich nicht auf schlichte Rechtserkenntnis, also auf eine Reproduktion des schon Vorhandenen reduzieren.

2.

Auslegungsmethode und Rechtsgewinnung: Zur gegenwärtigen Lage und Diskussion

Unter dem Gesichtspunkt des schöpferischen Elements, das allen Rechtsanwendungsprozessen innewohnt und sowohl in methodengeleiteten Bahnen verläuft als auch auf praktischer Klugheit beruht, lässt sich ein frischer Blick auf die gegenwärtig erneut aufgekommenen Diskussionen über die Grundlagenforschung in der Rechtswissenschaft werfen.8 Auffällig ist dabei zunächst, dass die Disziplinen der Juristischen Hermeneutik im Allgemeinen und die Auslegungslehre im Besonderen in ein bemerkenswertes Hintertreffen geraten sind. 6 Zu Savignys Kritik der Regel ›In claris non fit interpretatio‹ siehe S. Meder, Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik, in: M. Senn/B. Fritschi, Rechtswissenschaft und Hermeneutik (ARSP Beiheft 117), S. 19–37, 24–26; eingehend ders., Mißverstehen (Fn. 3), S. 17–24, 126, 234–240. 7 F. C. v. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 30. 8 Noch einmal intensiviert wurde die Debatte mit der Empfehlung des Wissenschaftsrates, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, 2012, S. 36ff.; URL: https://www.wissen schaftsrat.de/download/archiv/2558-12.pdf (abgerufen am 16. 7. 2018). Vgl. dazu die Beiträge von S. Grundmann, T. Gutmann und M. Stolleis u.v.m. in: JZ 2013, S. 693ff.

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Stephan Meder / Christoph Sorge

Vergleicht man den Diskussionsstand der 1970er- und 1980er-Jahre9 mit der gegenwärtigen Lage, so muss das Ergebnis ernüchtern. Der fundamentale Zusammenhang von Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung und die Korrelate von Rechtsanwendung und Wissenschaft bilden nur noch selten ein eigenständiges Thema.10 Oftmals verschwinden sie als beiläufig erwähnte Probleme in anderen Debatten, die unter Stichworten wie »Dogmatik«11 oder »Grundlagenforschung«12 geführt werden. Muss ein Schwund – eine Zurückbildung oder gar ›Entdifferenzierung‹ der Juristischen Hermeneutik insgesamt verzeichnet werden, so gilt dies noch mehr für das Verhältnis von Rechtsanwendung und Interpretation sowie Rechtsquel9 Siehe dazu W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. 3, 1976, S. 757–760; E. Hilgendorf, Zur Lage der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland heute, in: W. Brugger/U. Neumann u. a. (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 111–133, 115ff.; M. Immenhauser, Hermeneutik (Fn. 4), S. 302–305; A. Kaufmann/D. v. d. Pfordten, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: W. Hassemer/U. Neumann u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, S. 23–142, 94–96 mit Note 256; U. Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in: D. Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 145–187, 160ff.; H. Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: H.-J Koch (Hg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7–30, insb. 7–14; ders., Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973, S. 32–51; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 13, S. 116–122; D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 94–96 – alle angegebene Beiträge jeweils mwN. 10 Ausnahmen etwa A. Bruns, Zivilrechtliche Rechtsschöpfung und Gewaltenteilung, in: JZ 2014, S. 162–171; H. Wiedemann, Richterliche Rechtsfortbildung, in: NJW 2014, S. 2407–2412 – beide primär anwendungsorientiert; ferner J. Eisfeld, Rechtserkenntnis durch begründetes Werten, ARSP 102 (2016), S. 551–598; A. Jansen, Die Kunst des Unterscheidens zwischen Recht und Gerechtigkeit, 2016, insb. S. 253ff.; J. Kaspers, Philosophie – Hermeneutik – Jurisprudenz, 2014, S. 141–169; B. Lodzig, Grundriss einer verantwortlichen Interpretationstheorie des Rechts, 2015, insb. S. 109ff.; A. Schiemann, Normative Auslegung oder wie sich Erklärungen selbst erklären und der Inhalt verschwindet, in: Rechtstheorie 44 (2013), S. 125–138; L. Schmid, Die Auslegung gesetzlicher Auslegungsregeln, in: Rechtstheorie 47 (2016), S. 199–216; M. Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, insb. S. 53f., 112–115, 132–134, der jedoch die Verbindungen zur Hermeneutik und Tradition einer pluralistischen Rechtsquellenlehre nur streift. Siehe ferner die Beiträge in: S. Meder/G. Carlizzi u. a. (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2013. 11 Vgl. nur C. Bumke, Rechtsdogmatik. Eine Disziplin und ihre Arbeitsweise, 2017, S. 48ff.; T. Kuntz, Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft und performative Rechtserzeugung, AcP 216 (2016), S. 866–910; T. Lobinger, Perspektiven der Privatrechtsdogmatik am Beispiel des allgemeinen Gleichbehandlungsrechts, in: AcP 216 (2016), S. 28–106, 40ff.; M. Goldmann, Dogmatik als rationale Rekonstruktion, in: Der Staat 53 (2014), S. 373–399; M. Jestaedt, Wissenschaft im Recht, in: JZ 2014, S. 1–12, 5ff.; R. Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechtsanwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert?, in: AcP 214 (2014), S. 7–54, 27ff., und die Beiträge in: G. Kirchhof/S. Magen u. a. (Hg.), Was weiß Dogmatik, 2012. 12 Vgl. nur M. Klatt, Integrative Rechtswissenschaft, in: Der Staat 54 (2015), S. 469–499, und die Beiträge in: E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Hg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015; C. Engel/W. Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007.

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lentheorie und juristischer Methodenlehre. Soweit ersichtlich, ist die letzte große Kontroverse hierzu unter dem Topos ›Richterrecht versus Gesetzesbindung‹ vor gut zehn Jahren geführt worden, damals unter maßgeblicher Beteiligung von Hassemer, Hirsch und Rüthers,13 während heute eher Spezialuntersuchungen das Feld beherrschen, die solche Grundsatzfragen mehr anwendungsorientiert im Rahmen eng begrenzter Sachgebiete erörtern.14

3.

Ursachen für die aktuelle Tendenz zur Entdifferenzierung der Juristischen Hermeneutik

Wer nach den Ursachen forscht, die zu einer verminderten Wahrnehmung der Juristischen Hermeneutik und Rechtsquellenlehre geführt haben, wird zunächst auf einen grundlegenden Wandel der Gesetzgebungstechnik, und zwar sowohl in nationalstaatlicher als auch in europäischer Hinsicht stoßen. Im Zuge europäischer Rechtsvereinheitlichung kommt ein legislativer Trend zum Ausdruck, der sich an einem Vollständigkeitsideal des äußeren Rechtssystems orientiert und – zugespitzt – als ›kasuistische Selbstsubsumtion‹ qualifiziert werden könnte. Dabei handelt es sich nicht lediglich um einen bestimmten Regelungsstil. Vielmehr dient die in Konditionalprogramme gegossene Kasuistik auch Erläuterungszwecken. Als Beispiel können vollharmonisierende Richtlinien mit ›offiziellen Auslegungshilfen‹ der europäischen Kommission angeführt werden.15 13 Vgl. einschließlich der Vorgeschichte und den Ausläufern: B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, in: JZ 2002, S. 365–371; ders./C. Höpfner, Analogieverbot und subjektive Auslegungsmethode, in: JZ 2005, S. 21–25; G. Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, in: JZ 2007, S. 853–858; W. Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, in: ZRP 2007, S. 213–219; B. Rüthers, Gesetzesbindung oder freie Methodenwahl?, in: ZRP 2008, S. 48–51; M. Kriele, Richterrecht und Rechtspolitik, in: ZRP 2008, S. 51–53; W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: Rechtstheorie 39 (2008), S. 1–22; G. Hirsch, Weder Diener des Gesetzes, noch Komponist, in: ZRP 2009, S. 253f.; B. Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, in: NJW 2011, S. 1856–1858. 14 So etwa P. O. Mühlbert, Einheit der Methodenlehre? – Allgemeines Zivilrecht und Gesellschaftsrecht im Vergleich, in: AcP 214 (2014), S. 188–300; und die auch auf judikative Rechtsfortbildung eingehenden Reihenbeiträge von C. Herresthal, Die richtlinienkonforme und die verfassungskonforme Auslegung im Privatrecht, in: JuS 2014, S. 289–298; B. Hecker, Die richtlinienkonforme und die verfassungskonforme Auslegung im Strafrecht, in: JuS 2014, S. 385–393; J. Kühling, Die richtlinienkonforme und die verfassungskonforme Auslegung im Öffentlichen Recht, in: JuS 2014, S. 481–490. 15 Vgl. etwa Art. 9 der Fluggastrechte-VO (EG) 261/2004, wonach Fluggäste bei Annullierung oder sonstigen Störungen der Beförderung einen Anspruch auf Betreuungsleistungen geltend machen können. In drei Absätzen wird bis ins Detail die Art und Weise der konkreten Betreuung geregelt, z. B. »Mahlzeiten«, »Erfrischungen«, »zwei Telefongespräche« oder »zwei Telefaxe«. Da sich schon kurz nach Inkrafttreten große ›Lücken‹ offenbarten, erließ die

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Solche legislativ-exekutiven Gesamtpakete verfolgen das politische Steuerungsziel, künftige Lebenssachverhalte entweder bereits in detaillierten Normprogrammen zu antizipieren, oder aber durch neue Formen ›authentischer Interpretation‹16 zu präjudizieren. Wie in Zeiten des absolutistischen Gesetzgebungsstaats wird Wissenschaft und Praxis suggeriert, dass die geschriebene Rechtsquelle (acquis communautaire) eine schöpferische Interpretation im konkreten Fall überflüssig mache. Während der Europäische Gerichtshof noch einen großen Freiraum in Anspruch nimmt, sich vor allem selbst zu dieser ›monistischen‹ Rechtsquelle zählt17 und daher auch nicht zögert, in einzelnen Fällen ›gesetzesübersteigende‹ Fortbildung durch Rückgriff auf die Auslegungsmaxime des effet utile zu betreiben,18 hat es die Wissenschaft schwerer, ihren Platz innerhalb des acquis communautaire zu behaupten. Zum anderen aber, und dies erscheint die wichtigere Ursache zu sein, wird der erwähnte ›Schwund‹ in der Theoriegeschichte der Juristischen Hermeneutik selbst zu suchen sein. So ist ein Bruch in der eigenen Traditionslinie erkennbar, der sich seit der ›Renaissance‹ der Juristischen Hermeneutik in den 1970erJahren im Grunde genommen noch vertieft hat. Aktuell stehen rechtsphilosophische Entwürfe einer allgemeinen Hermeneutik unverbunden neben einer Art von Spezialhermeneutik, die als ›Vulgärhermeneutik‹ in Gestalt eines Gebrauchswissens auf die bekannten juristischen Auslegungsmethoden aufbaut.19

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19

Kommission »Leitlinien für die Auslegung der VO (EG) 261/2004«, die nur die Rechtsprechung des EuGH systematisch kompilieren wollen, in Wirklichkeit aber auch konstruktive, schöpferische Ergänzungen der Richtlinie darstellen. Auf die fragwürdige rechtsstaatliche Legitimation weist hin: K. Riesenhuber, Auslegung, in: ders. (Hg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 10 Rn. 28. J. Neuner, Die Rechtsfortbildung, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 12 Rn. 8. Vgl. zu jüngeren Entwicklungen N. Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, 2011, S. 18–22. Interessant erscheint die historische Legitimation für ein europäisches Richterrecht aus Effizienzgesichtspunkten. So wird häufig der im common law für die Vertragsauslegung verwendete Grundsatz ut res magis valeat quam pereat herangezogen (vgl. C. Heinze, Effektivitätsgrundsatz, in: J. Basedow/K. J. Hopt u. a. [Hg.], Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 1, 2009, S. 337–341, 338). Dieses Prinzip geht auf die römisch-rechtliche Testamentsauslegung nach Billigkeitsgesichtspunkten zurück (insb. Julian, D. 34. 5. 12; dazu R. Knütel, Rechtseinheit in Europa und römisches Recht, in: ZEuP 1994, S. 244–276, 249f.). Führt eine Auslegung nach dem strikten Wortlaut zur Unwirksamkeit der letztwilligen Verfügung, so ist im Interesse des Erblassers von einer Interpretation auszugehen, die dem Rechtsgeschäft zu rechtlicher Geltung verhilft. Mit diesem Rekurs auf das schmale Fundament der römisch-rechtlichen Testamentsauslegung wird letztlich auch versucht, an die schöpferische Zeit des common law anzuknüpfen, bevor die sens clair-Doktrin die angloamerikanischen Richter zu einer reinen Buchstabenphilologie verpflichtet haben. Vgl. dazu Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 17–21; R. Zimmermann, Europa und das römische Recht, in: AcP 202 (2002), S. 243–316, 307–311. Für Beispiele aus den 1970er-Jahren siehe den Bericht von H. G. Hinderling, Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 149–156. Kritik an einem trivialisierten Verständnis von Juristischer

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Andererseits fehlt den Konzeptionen einer Juristischen Hermeneutik aus dem 20. Jahrhundert auch der theoriegeschichtliche Zusammenhang mit der Begründung der ›modernen‹ Interpretationslehre durch die frühe Historische Rechtsschule, insbesondere durch Friedrich Carl von Savigny. Die Folge ist, dass das Zusammenspiel von Auslegungs- und Rechtsquellenlehre nur noch selten reflektiert wird. Insgesamt bleibt sowohl das epistemologische als auch das historische Verhältnis zwischen allgemeiner und spezieller Hermeneutik der Jurisprudenz der Klärung bedürftig. Wirft man zunächst einen Blick auf die Blütezeit der jüngeren Juristischen Hermeneutik, zeigen die im vorliegenden Quellenband versammelten Beiträge ein fragmentiertes und heterogenes Theoriegebäude. Zwar ließe sich das weite Feld hermeneutischer Studien von Karl Engisch und Martin Kriele zur ›Idee der juristischen Konkretisierung‹ über Josef Essers Erinnerung an das ›Vorverständnis‹ der Juristen und die von Karl Larenz, Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer entwickelte ›Typuslehre‹ bis hin zu Joachim Hruschkas ›hermeneutischer Transpositivität des Rechts‹ abstecken und so auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Alle Autoren vereint nämlich die Überwindung von substanzontologischen Rechtstheorien (Naturrecht, Positivismus) zugunsten eines Rechtsdenkens in sprachlich vermittelten Verhältnissen und historisch gewachsenen Strukturen. In Frontstellung gegen einen eindimensionalen Nomozentrismus kritisieren sie das cartesianische Beobachtermodell, das den Rechtsanwender als Subjekt einer ›objektiven‹ Rechtsordnung gegenüberstellt. Bei genauerem Hinsehen, insbesondere unter Berücksichtigung der philosophischen Prämissen der ›Juristischen Hermeneutiken‹, können die Gemeinsamkeiten jedoch auch wieder in Frage gestellt werden. Denn die philosophischen Fundamente der Autoren gehen auf keine einheitliche Wurzel zurück und zeigen ein eher heterogenes, buntscheckiges Bild. Während etwa Helmut Coing in Erweiterung seiner wertorientierten Jurisprudenz an die Grundlegung der Hermeneutik von Emilio Betti anknüpft,20 orientiert sich Karl Larenz an dem Hermeneutik übt auch H.-G. Gadamer, Art. Hermeneutik, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 1061–1073, 168: »Innerhalb der modernen Rechtsdogmatik konnte sie [die Juristische Hermeneutik] nur eine kümmerliche Rolle spielen, gleichsam als der nie ganz vermeidbare Schandfleck an einer sich selbst vollendenden Dogmatik.« Aktuell wird die Juristische Hermeneutik wieder von all jenen Autoren auf ›gesetzestreue Rechtsanwendung‹ reduziert, die ihr die Kraft zur Rechtsschöpfung absprechen wollen (siehe unten III). 20 Vgl. H. Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, insb. S. 22–25; zusammenfasssend ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1993, S. 38f., 261–298; dazu M. Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 41–43. Die schon vor ›Wahrheit und Methode‹ entwickelte und von Gadamers Werk überschattete Hermeneutik von E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: W. Kunkel/H. J. Wolff, FS Rabel, Bd. 2, 1954, S. 79–168, 142,

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hermeneutischen Gegenentwurf von Gadamers ›Wahrheit und Methode‹ und verknüpft dessen Einsichten mit phänomenologischen Erkenntnissen und der materialen Wertethik Nicolai Hartmanns.21 Auch Josef Esser rezipiert die Gadamer’sche Hermeneutik, soziologisiert allerdings den Begriff des Vorverständnisses in Hinblick auf die richterliche Praxis so stark, dass einige Dimensionen hermeneutischer Reflexionsphilosophie auf der Strecke bleiben.22 Im Gesamtüberblick eröffnet sich ein Horizont des Eklektizismus, der Auf- und Übernahme verschiedenster Versatzstücke aus der allgemeinen hermeneutischen Philosophie, die nicht systematisch, sondern meist pragmatisch in die eigenen methodologischen Entwürfe eingeflochten werden. Dass der juristische Diskurs des 20. Jahrhunderts darüber hinaus nicht den Versuch unternommen hat, an die bis hinauf zu Savignys Hermeneutik reichende Traditionslinie wieder anzuknüpfen, dürfte – neben den Irrlehren über die ›Begriffsjurisprudenz‹ und den Spätfolgen einer ›Renaissance des Naturrechts‹ in den 1950er-Jahren – auch an dem einflussreichen Werk ›Wahrheit und Methode‹ (1960) von Hans-Georg Gadamer gelegen haben. In seiner Grundlegung kritisiert er bekanntlich nicht nur die Stellenhermeneutik der Aufklärung, sondern bringt ebenso die sich Anfang des 19. Jahrhunderts formierende ›moderne‹ Hermeneutik in Misskredit.23 Savignys Hermeneutik, mit Schleiermacher assoziiert, beschränke sich auf eine rein kontemplative Betrachtung von Rechtsaltertümern, Savigny habe Historismus betrieben ohne praktischen Anwendungsbezug oder Reflexion auf das Spannungsverhältnis mit der Gegenwart.24 Diese Kritik darf in doppelter Hinsicht als unzutreffend charakterisiert

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23 24

betont die Sonderstellung der juristischen Interpretation. Im Unterschied zu anderen textverstehenden Disziplinen habe die rechtliche Auslegungskunst nicht nur eine »rekognitive« und »reproduktive« Aufgabe, sondern vor allem eine »normative Funktion«. Diesen bedeutenden Unterschied übergeht nach Bettis Ansicht wiederum Gadamer, wenn er in der Applikation des Historikers ebenfalls eine solche Wertentscheidung sehen will. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 243–249. Vgl. nur J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 12f.; treffend herausgestellt und ›begrüßt‹ von R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation (1976), in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 106–145, 118. Problematisch ist Essers Soziologisierung allerdings, weil sie missverständlichen Deutungen Vorschub leistet, wie etwa bei E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2010, S. 312–317, der im Vorverständnis mehr eine persönliche ›Vorverurteilung‹ des Richters erblickt. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Hermeneutik I), 5. Aufl. 1986, S. 188–201. Siehe exemplarisch Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 331f. Eine Fernwirkung von dieser einseitigen Zuschreibung des Historismus findet sich selbst noch heute in einigen methodischen Werken, die Savignys ›Spezialhermeneutik‹ behandeln und ihn mit dem Zitat, sich ›in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers zu versetzen‹, als Vertreter einer rein subjektiven Auslegungslehre charakterisieren; so etwa B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 9. Aufl. 2016, § 22 Rn. 698–703; vgl. dagegen Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 125–129 u. ders., Grundprobleme (Fn. 6), S. 35–37.

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werden: Nach heutigem Forschungsstand hat Gadamer nicht nur Schleiermachers Hermeneutik zu Unrecht als überwiegend divinatorisch und psychologisierend herabgestuft;25 auch seine auf die überholten Untersuchungen von Ernst Forsthoff gestützten Aussagen über Savigny gehen in den meisten Punkten fehl.26 Bedingt durch die aufgezeigten Schwierigkeiten innerhalb des eigenen Theoriekonglomerats und durch Kritik von Seiten der Rechtsdogmatik27 sowie der analytischen und positivistischen Rechtstheorie,28 aber auch von Vertretern des kritischen Rationalismus29 sind die Diskussionen über ›Juristische Hermeneutik‹ seit den späten 1990er-Jahren zunehmend abgeflaut. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass viele hermeneutische Erkenntnisfrüchte aus der damaligen Auseinandersetzung inzwischen zum Gemeingut einer reflektierten und aufgeklärten Jurisprudenz geworden sind, sodass der theoriegeschichtliche Ursprung häufig nicht mehr erkennbar ist. In letzter Hinsicht scheint sich die 25 Siehe Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 191f.; ders., Zur Problematik des Selbstverständnisses, in: Wahrheit und Methode: Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 121–132, 123; dagegen K. Joisten, Philosophische Hermeneutik, 2009, S. 104; F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, 1990, S. 96f.; G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik, 1995, S. 122–125; ders., Was ist und seit wann gibt es ›hermeneutische Philosophie‹?, in: DiltheyJahrbuch 8 (1992/93), S. 93–119, 97–99; vermittelnd J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 2. Aufl. 2001, S. 108–112. Eine Revision der verkürzten Deutung von Gadamer hält auch schon E. Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 2. Aufl. 1972, S. 38–41 für notwendig. 26 Eingehend dazu Meder, Mißverstehen (Fn. 3) S. 2–6, 219–221, und zum Verhältnis zu Schleiermacher : S. 28–34; ferner : ders., Grundprobleme (Fn. 6), S. 27–29; daran anknüpfend: Immenhauser, Hermeneutik (Fn. 4), S. 302–305. 27 Vgl. nur in chronologischer Reihe: A. Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 39; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1968, S. 25; W. Fikentscher, Methoden des Rechts III (Fn. 9), S. 759f.; aus jüngerer Zeit etwa: E. Schumann, Eigenständigkeit und Vielfalt der juristischen Hermeneutik, in: A. Heldrich/J. Prölss u. a. (Hg.), FS C.-W. Canaris, Bd. 2, 2007, S. 1367–1401; Kramer, Methodenlehre (Fn. 22), S. 312–317; MünchKommBGB/F. J. Säcker, 7. Aufl. 2015, Einl. Rn. 96–114; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 191–194. 28 So z. B. O. Weinberger, Die logischen Grundlagen der erkenntniskritischen Jurisprudenz, in: Rechtstheorie 9 (1978), S. 125–142, 137–142; ferner H.-J. Koch, Vorbemerkung, in: ders. (Hg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 1–6 in Note 5 mwN, sowie die weiteren, im angegebenen Band enthaltenen Beiträge; differenzierte Kritik bei U. Neumann, Zum Verhältnis von philosophischer und juristischer Hermeneutik, S. 49–56, 52f., sowie U. Schroth, Philosophische Hermeneutik und interpretatorische Fragestellungen, S. 77–89, 87f. – beide Beiträge in: W. Hassemer (Hg.), FS A. Kaufmann, 1984; ferner Röhl/ Röhl, Allgemeine Rechtslehre (Fn 9), § 13, S. 118f. 29 Vgl. nur H. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: ders./N. Luhmann u. a. (Hg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft (Jahrb. f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2), 1972, S. 80–96, insb. S. 87–89, mit dem Gegenmotto: Der Jurist als Sozialingenieur solle besser ›kausal erklären‹ statt in einem Offenbarungsmodell ›interpretativ verstehen‹. Nochmals eingehend ders., Kritik der reinen Hermeneutik, 1994, S. 185–197; ferner C. v. Mettenheim, Recht und Rationalität, 1984, S. 46–61.

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bereits im Jahre 1981 geäußerte Befürchtung von Dieter Nörr bewahrheitet zu haben, nämlich, dass die »Grenzüberschreitungen der Hermeneutik« gegenüber juristischen Teildisziplinen mit einer Schwächung einhergingen, wodurch sie »gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Angriffen keinen ausreichenden Widerstand« mehr entgegensetzen konnte.30 Trotz des richtigen Gespürs von Gadamer, die »exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik«31 für sämtliche text- und handlungsbezogenen Geisteswissenschaften hervorzuheben, konnte sein großangelegter Wurf gerade in der Rechtswissenschaft nicht die erhofften Langzeitwirkungen entfalten. Vielleicht sind die vielen Hinweise von Gadamer auf die Rolle der Rechtsdogmatik, auf die Applikation von Recht oder auf die Bedeutung der Hermeneutik für die Rechtsgeschichte als Einmischungen oder Belehrungen der Rechtswissenschaft falsch verstanden worden. Andererseits könnte ein tieferer Grund für so manches Missverständnis auch darin zu sehen sein, dass Gadamer an Grundeinsichten des juristischen Denkens und Handelns appellierte, die in der Theoriegeschichte des Rechts im 20. Jahrhundert großteils verschüttet waren, also noch der eigenen Wiederentdeckung und erneuerten Anverwandlung harrten. Zur Beschreibung des Phänomens, nicht von ›außen‹ an die eigene Theorietraditionen erinnert werden zu wollen, liegt es nahe, an die Parallele der Beziehung zwischen Therapeut und Patient in der Psychoanalyse anzuknüpfen, eine Analogie, die in der Kontroverse zwischen Gadamer und Habermas eine große Rolle spielte.32 Ähnlich wie sich der Therapeut im Gespräch nicht über den Patienten, den er therapieren will, überheben, sondern mehr die Rolle des sokratischen Geburtshelfers übernehmen sollte, wäre die Bearbeitung der Juristischen Hermeneutik den Rechtswissenschaften selbst zu überlassen. Im Folgenden soll ein kleiner Mosaikstein für die vorstehend angedeutete, in weiten Teilen noch ausstehende Aufgabe gelegt werden (II). Im Anschluss an die eher theoriegeschichtlichen Erörterungen wird sodann der Faden zu der Juristischen Hermeneutik im 20. Jahrhundert aufzunehmen sein, um anhand des Applikationsbegriffs beide Elemente – Geschichte und Theorie – wieder zusammenzuführen (III).

30 D. Nörr, Triviales und Aporetisches zur Juristischen Hermeneutik, in: M. Fuhrmann/H. R. Jauß u. a. (Hg.), Text und Applikation (Reihe Poetik und Hermeneutik), 1981, S. S. 235–246, 241. 31 Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 330–346. 32 Siehe nur die Beiträge von Gadamer und Habermas in dem Band: J. Habermas/D. Henrich u. a. (Hg.), Theorie-Diskussion. Hermeneutik und Ideologiekritik, 1977, insb. S. 133–150 und S. 292–309.

Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik

II.

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Historische Streiflichter auf Konvergenzen von Juristischer Hermeneutik und Rechtsquellenlehre

Anhand von zwei Beispielen, der römischen und humanistischen Jurisprudenz, sollen im Folgenden Gebiete ausgelotet werden, in denen sich Interpretation und Rechtsquellenlehre berühren. Ziel dieses kurzen ideengeschichtlichen Abrisses ist eine Aktualisierung des gegenwärtig nur noch schwach ausgeprägten Bewusstseins, dass juristische Auslegung immer auch Anwendung und Applikation stets Schöpfung von Recht bedeutet. Der Umstand, dass den Epochen von klassisch-römischer und humanistischer Jurisprudenz ein etatistisches Gesetzgebungsmonopol fremd geblieben ist, begünstigt die Freilegung dieser produktiven Faktoren. Dabei wird sich zeigen, dass die schöpferische Rechtsanwendung keinesfalls nur ein rechtspolitisches Desiderat der Juristen gewesen ist. In erster Linie handelt es sich um ein schlichtes Faktum, weil der Rechtsanwender, soll eine »Regel ins Leben übergehen«, unablässig von seiner »Seite etwas dazu thun« muss.33 Die Notwendigkeit eines solchen ›Dazu-Tuns‹ ist zu allen Zeiten dieselbe geblieben. Rechtssätze verfolgen immer praktische Zwecke im Hinblick auf eine sich im Fluss befindende Gesellschaft. Tatbestände und Rechtsfolgen können nicht so ›rein‹ gehalten werden, wie die Verfechter einer rigorosen Gesetzesbindung, einer sich in ›Gesetzgebungskunde‹ erschöpfenden Rechtswissenschaft zu glauben scheinen. Die folgenden Erörterungen müssen auf einige ›Streiflichter‹ beschränkt bleiben, auf eine Darstellung also, die nur einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der Konvergenzen von Interpretationslehre und Rechtsquellentheorie behandeln kann.

1.

Römische Jurisprudenz

In der Geschichte der Jurisprudenz bildet die Hermeneutik – die Kunstlehre der Interpretation – seit ihren Anfängen im römischen Recht eine tragende Säule. Mit dem Einsetzen der Verschriftlichung rechtlicher Diskurse und einer professionellen Literaturproduktion ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. nimmt das Auslegen und Erklären eine bedeutende Rolle in der römischen Jurisprudenz ein. Erhielt sich anfangs noch ein Rest an pontifikalem Selbstverständnis, rechtliches Wissen geheim zu halten und Urteile apodiktisch zu sprechen,34 wandelt sich diese »innere Schriftlichkeit« spätestens mit dem großangelegten Kommentar 33 Savigny, System I (Fn. 2), S. 206. 34 M. Bretone, Geschichte des römischen Rechts, 2. Aufl. 1998, S. 81ff.; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Bd. I/1, 1988, § 36, S. 579–583.

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des Zwölftafelgesetzes von Sextus Aelius zu einer »äußeren Schriftlichkeit«.35 Um das schmale Gesetzesfundament rankt sich allmählich eine gewaltige Masse an Interpretationsliteratur, die das ius scriptum nicht bloß divinatorisch deutet, sondern produktiv den Bedürfnissen eines zu imperialer Größe angewachsenen Stadtstaates anpasst. Vor allem dient die Interpretation der Aufgabe, ökonomisch veränderte Verhältnisse normativ in den Griff zu bekommen. Das römische ›Grundgesetz‹, dessen Tatbestände auf eine überwiegend agrarische Siedlungsgemeinschaft zugeschnitten waren,36 wird angepasst an Fernhandel und Geldwirtschaft, an neue Erscheinungsformen von Familie, Arbeit und Produktion.37 Dadurch entsteht ein ius non scriptum, das den altertümlichen Buchstaben verpflichtet bleibt, aber den strengen Konditionalprogrammen des Zwölftafelgesetzes durch interpretatio legum frischen Wind einhaucht.38 So findet offiziell zwar eine »ideologische Abwertung aller außergesetzlichen Ius-Bildung«39 statt, was den Eindruck einer Gesetzesfixierung der vorklassischen Juristen erweckt. Unter der Oberfläche zeigt sich indes, dass die von den Juristen zum Ausgangspunkt genommenen leges – im Unterschied zum modernen Ideal der Gewaltenteilung – weder in einer erkenntnistheoretischen noch in einer politischen Distanz zu den Rechtsanwendern stehen.40 Der Buchstabe des Gesetzes ist kein ›Anderes‹, das den Juristen autoritativ gegenübertritt, sondern ein noch schweigender Dialogpartner, der durch sola prudentium interpretatio zum Sprechen gebracht werden muss. Daher ist die Gesetzesform weniger ein Erkenntnismittel als ein interpretatives Medium, das eine prinzipielle, vorgängige Werteordnung (der societas humana) sichtbar macht.41 Vor diesem Hintergrund 35 O. Behrends, Gesetz und Sprache. Das römische Gesetz unter dem Einfluß der hellenistischen Philosophie, in: M. Avenarius/R. Meyer-Pritzl u. a. (Hg.), Institut und Prinzip, Bd. 1, S. 91–224, 172 [zuerst ersch. in: O. Behrends/W. Sellert (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, 1995, S. 135–249]. 36 Bretone, Geschichte (Fn. 34), S. 74ff. Eine subsistenzwirtschaftliche Grundlage schließt freilich nicht typisch ›urbane‹ Rechtssätze aus, die bereits den Keim marktwirtschaftlicher Entwicklung in sich tragen; vgl. O. Behrends, Der Zwölftafelprozeß. Zur Geschichte des römischen Obligationenrechts, 1974, S. 1–10. 37 Zum Strukturwandel im 2. Jahrhundert v. Chr. vgl. G. Alföldy, Römische Sozialgeschichte, 4. Aufl. 2011, S. 60–84. 38 Vgl. Meder, Ius non scriptum (Fn. 3), S. 158–160, dort auch zu dem Streit u. a. zwischen Mayer-Maly und Waldstein auf der einen und Flume auf der anderen Seite um die Frage, ob ein römisches ›Juristenrecht‹ existierte, das auch im ius-Begriff enthalten war. 39 F. Wieacker, Ius civile und lex publica in der römischen Frühzeit, in: G. Baumgärtel/H.-J. Becker (Hg.), FS H. Hübner, 1984, S. 357–376, 375. 40 Ähnlich C. Baldus, Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 3 Rn. 24. 41 O. Behrends, Die fraus legis. Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation, 1982, S. 86–97; vgl. auch W. Flume, Gewohnheitsrecht und römisches Recht, S. 13ff.

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kann Jahrhunderte später Pomponius in seiner Rechtsquellentheorie das proprium ius civile vollständig auf Interpretation zurückführen, wenn er meint, dass »in unserem Gemeinwesen […] entweder nach dem [geschriebenen] Recht entschieden [wird], das heißt nach dem [Zwölftafel-]Gesetz, oder es gilt das eigentliche Zivilrecht, das als ungeschriebenes Recht allein auf der Auslegung der Rechtsgelehrten beruht […]«.42

Werden die bekannten Prinzipien bona fides oder aequitas berücksichtigt, so stellt sich heraus, dass diese handlungsleitenden Werte in der römischen Republik Ausdruck einer eigenständigen, mit griechischer Philosophie angereicherten Rechtstheorie sind.43 Die so für die Rechtspraxis über den Gesetzeswortlaut zugerichteten Wertungen sind nicht dem ius scriptum ›entnommen‹. Sie sind vielmehr den Sätzen des positiven Rechts argumentativ assoziiert und bringen – über ein sinnlich-körperliches Deutungsschema44 – auch empirischen Kontext in das ius hinein. Welche gestalterische Kraft die daraus hervorgehenden Rechtsschöpfungen zu jener Zeit besaßen, lässt sich gut an einem Vergleich mit der nur spärlichen ›Volksgesetzgebung‹ verdeutlichen, die sich überwiegend in Maßnahmegesetzen erschöpft oder politische Auseinandersetzungen beruhigt, in den seltensten Fällen aber an einer langfristigen Fortbildung des Zwölftafelgesetzes beteiligt war.45 Um noch einmal auf den Hochklassiker Pomponius zurückzukommen, lassen sich daher weniger die Gesetze als der schöpferische Kommentar von Aelius, die sogenannte Tripertita, als ›Wiege des Rechts‹ bezeichnen.46 Im Laufe der Zeit bildet sich mit dem Ediktkommentar ein neuer Kommentartypus heraus. Das Amtsrecht des Prätors, ein in jährlichen ›Bekanntmachungen‹ kondensiertes ius honorarium, löst nun den zuvor von Fachjuristen zwischen Abstraktum und Faktum, zwischen Buchstabe und gesellschaftlicher Wirklichkeit geschaffenen Ausgleich ab.47 Der Prätor, der das ius civile vorder-

42 Pomponius D. 1. 2. 2. 12. Übersetzung nach O. Behrends/R. Knütel u. a. (Hg.), Corpus Iuris Civilis, Bd. 2, 1995, S. 99. 43 Näher S. Meder, Der unbekannte Leibniz, 3. Kap. (im Erscheinen); O. Behrends, Die Wissenschaftslehre im Zivilrecht des Q. Mucius Scaevola pontifex, 1976, S. 291–300, für das Beispiel ›Treu und Glauben‹. 44 In Anverwandlung der stoischen Sprachphilosophie, vgl. dazu Behrends, Wissenschaftslehre (Fn. 43), S. 287f.; ders., Die geistige Mitte des römischen Rechts, SZ (RA) 125 (2008), S. 25–107, 44f. 45 Dies gilt jedenfalls für die archaische Zeit und ab Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis Augustus, während zwischenzeitlich etwa mit der lex Aequilia das Haftungsrecht (ca. 286 v. Chr.) oder mit der lex Cincia das Vermögensrecht (204 v. Chr.) teilweise reformiert wurde. Siehe H. Honsell/T. Mayer-Maly/W. Selb, Römisches Recht, 4. Aufl. 1987, § 5, S. 7–10. 46 Pomponius D. 1. 2. 2. 38: »cunabula iuris«. 47 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I/1 (Fn. 34), § 37, S. 616f.

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gründig nur als Diener ›anwendet‹, also lediglich viva vox iuris civilis48 ist, wird damit selbst zu einer ›Rechtsquelle‹,49 indem er das geltende Recht durch formulae in ius conceptae vermehrt, durch Gewährung von Einwendungen (z. B. exceptio doli) korrigiert oder mittels neu konzipierter Klagen auf Grundlage sozialer Gegebenheiten ›in factum‹ ergänzt.50 Was die vorklassischen Fachjuristen durch ›dialektische‹ Argumentation und Interpretation realisierten, nämlich das summum ius durch solidarische Rechtsprinzipien abzumildern, verwirklicht nun der Prätor durch eine – empirisch versicherte – naturalis aequitas, die er kraft seiner magistratischen Befehlszuständigkeit (imperium) dem strikten Recht entgegensetzen darf.51 Vor dem Hintergrund dieser progressiven, dynamischen Rechtsschicht52 des ius honorarium erklärt sich auch die neue Zurückhaltung der Juristen im Ediktkommentar. Das sich im Fluss befindende Amtsrecht soll zunächst nur in systematische Bahnen gelenkt und zur Darstellung gebracht werden. Insgesamt lässt sich in der entwickelten römischen Rechtsliteratur ein Trend zur Klassifizierung und Rationalisierung feststellen, eine Umstellung der zuvor weitausgreifenden interpretatio auf Grundlage von naturrechtlichen Werten zu einem strikten Regelformalismus, der auf handgreiflichen tatbestandlichen Strukturen und einem entsprechenden Rechtsprinzip, der aequitas im Sinne von Regelanwendungsgleichheit53 beruht.54 48 Marcian D. 1. 1. 8. 49 Explizit wird eine solche Charakterisierung in den Quellen des klassischen Rechts freilich nirgends vorgenommen. Ganz im Gegenteil ist stets von der Faktizität desjenigen Bereichs die Rede, über den der Prätor kraft seiner Befehlszuständigkeit herrscht, sodass auch er als ›Gewalthaber‹ keine personifizierte Rechtsquelle, sondern nur eine natürliche (aber den Rechtsprechungsunterworfenen höhergestellte) Person ist. Rechtstheoretisch wurden z. B. die actiones in factum indes selbstverständlich als Bestandteil des Privatrechts angesehen. Dazu O. Behrends, Die Gewohnheit des Rechts und das Gewohnheitsrecht, in: D. Willoweit (Hg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2000, S. 19–135, 46. 50 So die Tätigkeitsbeschreibung von Papinian D. 1. 1. 7. 1: Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam. Quod et honorarium dicitur ad honorem praetorum sic nominatum. Siehe Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I/1 (Fn. 34), § 26, S. 471f. 51 Behrends, Gewohnheit des Rechts (Fn. 49), S. 34. 52 Anders als die rasche Durchsetzung in der Rechtswirklichkeit findet eine ausdrückliche Anerkennung der ›Spruchtätigkeit‹ des Prätors als ius seitens der Juristen erst relativ spät statt, nämlich frühestens in der hochklassischen Epoche. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte I/1 (Fn. 34), § 26, S. 471. 53 Darunter wird einmal die civilis aequitas des römischen Stadtstaates verstanden, eine institutionell verfasste und auf formalen Grenzen beruhende Güterordnung, und zum anderen die naturalis aequitas, eine Art anthropologisch legitimierte Minimalethik des sozialen Verhaltens (z. B. fides als Worthalten). Zu dieser neuen Rechtstechnik vgl. J. Harke, Juristenmethode in Rom, in: K. Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 2 Rn. 19–34; Behrends, Gewohnheit des Rechts (Fn. 49), S. 32ff.; ders., Die rechtsethischen Grundlagen des Privatrechts, in: F. Bydlinski/T. Mayer-Maly (Hg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 1994, S. 1–33, 18ff.

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Interessant erscheint nun vor dem Hintergrund der Frage nach Konvergenzen von Auslegungs- und Rechtsquellenlehre, dass sich ungefähr parallel zum Aufkommen dieses neuen Kommentartypus eine semantische Verschiebung im Begriff commentarium bemerkbar macht. So hat Okko Behrends in Anknüpfung an etymologische Untersuchungen von Manfred Fuhrmann55 darauf hingewiesen, dass die Bedeutung von interpretatio weitgehend unverändert blieb, während die Jurisprudenz unter commentarium bald nur noch »Aufzeichnungen, Darstellungen, Buchabschnitte«56 verstand. Augenfällig wird der zum pädagogischen Lehrsystem herabgestufte Kommentarbegriff in der Selbstbezeichnung für einzelne »Bücher« von Gaius’ Institutionen.57 Der Göttinger Rechtsgelehrte Gustav Hugo wird im 18. Jahrhundert bei seiner Erklärung des Institutionenbegriffs dann auch genau die Semantik des klassisch-römischen commentarium treffen, wenn er schreibt: »Die Institutionen […] sind ein […] kurzes, und doch durch Beyspiele faßlich gemachtes, wie ein gewöhnliches Buch, […] [ein] abgefaßtes LehrBuch des Römischen Rechts […].«58

Gegenüber dieser eher systematischen Richtung steht die schöpferische interpretatio weiterhin hoch im Kurs. Zwar ist die Interpretation während des klassisch-römischen Rechts eng an die reine Wortlautauslegung herangerückt und bleibt eine Zeit lang unter restriktiven Bedingungen auf schlichte Erklärungen beschränkt. Doch gewinnt bereits mit einigen Vertretern aus der Schule der Prokulianer im 1. Jahrhundert n. Chr. die ursprüngliche schöpferische interpretatio wieder an Bedeutung und wird etwa von Neraz herangezogen, um die sozialethischen Prinzipien des vorklassischen Rechtsdenkens in das neue organisierte Institutionensystem zu integrieren.59 Beredtes Zeugnis hierüber legt Cicero ab, der in ›De Oratore‹ einen altehrwürdigen Juristen aus der Ahnenreihe der veteres, nämlich Crassus, gegen einen mit praktischer Urteilskraft begabten Redner namens Galba ausspielt.60 So erteilt Crassus einem um Rechtsrat ersuchenden Bürger ein responsum, das »mehr der Wahrheit angemessen als seinen Interessen dienlich war«. Auf die Frage von Galba, wie er denn zu einem solchen lebensfremden Urteil gelange und warum er 54 Eingehend zu dem Systemwechsel: Behrends, fraus legis (Fn. 41), S. 39–59. 55 M. Fuhrmann, Interpretatio. Notizen zur Wortgeschichte, in: D. Liebs (Hg.), Sympotica Franz Wieacker, 1968, S. 80–110. 56 O. Behrends, Der Kommentar in der römischen Rechtsliteratur, in: M. Avenarius/R. MeyerPritzl u. a. (Hg.), Institut und Prinzip, Bd. 1, 2004, S. 225–266, 251 [zuerst ersch. in: J. Assmann/B. Gladigow (Hg.), Text und Kommentar, 1995, S. 421–462]. 57 Vgl. nur Gai. Inst. II 23; II 145; IV 77. 58 G. Hugo, Lehrbuch der juristischen Encyclopädie, 8. Aufl. 1835, S. 194. 59 Behrends, Der Kommentar (Fn. 56), S. 250 in Note 69 mwN. 60 Cicero, De Oratore, I. Buch, 56, 239f.; zit. nach: H. Merklin (Übers. u. Hg.), 2006.

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für den Bürger nicht pro aequitate contra ius dicere über den Sachverhalt entschieden hätte, kommt Crassus in ärgste Verlegenheit. Obwohl Crassus die Argumente des Rhetors für »plausibel und beinahe [!] wahr« halten muss, kann er sich nicht von den Autoritäten lösen und stützt sich für die ›Wahrheit‹ auf den Kommentar des Sextus Aelius zum Zwölftafelgesetz. Der fiktive Dialog von Cicero bringt die geschwundene Überzeugungskraft eines Formats zum Ausdruck, das in Zeiten des allmählichen Übergangs zum römischen Kaiserreich nicht mehr geeignet war, auf soziale Probleme befriedigende Antworten zu geben. Mit dem Niedergang des naturrechtlich inspirierten Kommentartypus ist freilich nicht zugleich die Kunst der juristischen Interpretation verschwunden. Wie das Beispiel von Cicero verdeutlicht, wird die interpretatio lediglich von der spekulativen Höhe der Vorklassiker auf den empirischen Boden eines neuen Rechtsdenkens gezogen, um nicht zuletzt auch der rhetorischen Argumentationslehre die Hand reichen zu können. In der Folgezeit, nämlich bis zur spätklassischen Jurisprudenz, zeichnet sich das römische Recht durch die angedeutete Liaison von kasuistischem Problemdenken mit interpretativer Forschung einerseits und formaler Regelhaftigkeit und institutionellen Strukturen andererseits aus. Wissenschaftstheoretisch liegt der Erfolg einer solchen Konzeption darin, dass die Jurisprudenz als eine praktische Wissenschaft auftritt, die es auf der Mittelhöhe zwischen scientia und prudentia genauso mit zu deutenden Texten wie mit Sozialverhalten zu tun hat.61

2.

Humanistische Jurisprudenz

Das richtige Deuten autoritativer Texte rückt spätestens mit den Glossatoren und Kommentatoren wieder in den Mittelpunkt des juristischen Interesses. Die in Oberitalien verfasste ›Digestenvulgata‹ aus dem 11. Jahrhundert wird mit Interpretationslehren der theologischen und philologischen Textkritik verbunden, um den praktischen Erkenntnisauftrag zu verwirklichen, nämlich die antiken Schriften des römischen Rechts auf die gegenwärtige Situation des Mittelalters anzuwenden.62 Stehen diese interpretatorischen Bemühungen noch ganz im Zeichen der scholastischen Denkformen,63 so leiten die humanistischen Juristen 61 R. Gröschner, Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in einer dialogisch rekonstruierten Techne der Jurisprudenz, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 213–225, 217ff.; M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 17; vgl. auch in diesem Band: V. Omaggio, Urteilsrichtigkeit und praktische Vernunft (Einleitung zu Teil IV). 62 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 49. 63 Allerdings pochten die Glossatoren in ihren Werken stets auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der juristischen Disziplin von der Philosophie und Rhetorik, besonders für den Bereich der Interpretationskunst. Dieser Autonomieanspruch begünstigte wiederum, dass

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eine Phase der Erneuerung ein. Die Auslegungskunst wird praktischer und besinnt sich auch durch sprachlich bereinigtes Latein bewusster auf ihren entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang mit den antiken Rhetoriken eines Quintilian oder Cicero. Doch nicht nur die Techniken des kasuistischen Problemdenkens – Topik und Zetetik64 – rücken unter neuen Prämissen in den Vordergrund.65 Noch bedeutender für die Interpretationslehre dürfte die Übertragung des humanistischen Programms einer theoria cum praxi auf die zeitgenössische Rechtslehre sein – eine Aufgabe, der sich schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts angesehene Gelehrte wie Alciat oder Cujas verschrieben haben.66 Auf der anderen Seite steht die humanistische Auslegungslehre aber auch für sich auf einem gemeinsamen Gelehrtenverständnis auch Schulkontroversen entwickeln konnten, wie die Auseinandersetzung zwischen Bulgarus und Martinus exemplarisch verdeutlicht. So ist Bulgarus der Ansicht, das Auslegungsziel sei nur auf die Ermittlung der ratio legis des einzelnen Normtextes gerichtet, während Martinus eine auf aequitas beruhende Systemhermeneutik vertritt, wonach alle Rechtssätze stets vor dem Horizont des gesamten Corpus Juris Civilis ausgelegt werden müssen. Vgl. M. Avenarius, Art. Glossatoren, in: A. Cordes/H. Lück u. a., Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 2012, Sp. 408–412, 409f. Die daran anknüpfenden Kommentatoren verfeinern die überlieferten Schemata und entwickeln mit den Begriffspaaren verba und mens sowie interpretatio declaratoria und interpretatio extensiva eine wirkungsmächtige Methodenlehre, deren Gedankengut sich noch heute in der Auslegung nach dem Wortlaut und nach dem Sinn und Zweck sowie in der Analogie wiederfindet. Vgl. dazu H. Lange/M. Kriechbaum, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. 2, 2007, § 40, S. 339–345; zusammenfassend S. Lepsius, Art. Kommentatoren, in: A. Cordes/H. Lück u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 2012, Sp. 1974–1979, 1977f. 64 Zur topischen Methode siehe T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 31ff.; vgl. auch die ausgewogene Kritik von K. Lüderssen, Juristische Topik und konsensorientierte Rechtsgeltung, in: N. Horn (Hg.), FS H. Coing, Bd. 1, 1982, S. 549–564; zur Zetetik vgl. S. Meder, Zetetik versus Dogmatik? Eine Grundfrage der juristischen und theologischen Hermeneutik, in: ders./G. Carlizzi u. a. (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2013, S. 225–244; im Zusammenhang mit Rechtsanwendung: ders., Rhetorik als Element juristischer Entscheidungsfindung, in: G. Ueding/G. Kalivoda (Hg.), Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, 2014, S. 267–288. 65 Als Beispiel sei das Werk von Claudius Cantiuncula mit dem programmatischen Titel »Topica Legalia« (1520) genannt, vgl. G. Kisch, Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit, 1960, S. 158ff.; H. E. Troje, Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluss des Humanismus, in: H. Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II/1, 1977, S. 615–795, 732f. Zur topischen Methode siehe Viehweg, Topik (Fn. 64), S. 31ff.; vgl. auch die ausgewogene Kritik von Lüderssen, Juristische Topik (Fn. 64), S. 549–564; zum Begriff ›Zetetik‹ vgl. Meder, Zetetik (Fn. 64), S. 225–244. 66 »Theorie und Praxis feiern Hochzeit (›marriage‹)« – so das in Anlehnung an den Pariser Advokaten Loyseau (1564–1627) gewählte Passepartout von H. E. Troje, Arbeitshypothesen zum Thema ›Humanistische Jurisprudenz‹, in: ders., Humanistische Jurisprudenz, 1993, S. 519–563, 525 mit Note 11; ferner G. Kisch, Der Einfluss des Humanismus auf die Jurisprudenz, in: ders., Studien zur humanistischen Jurisprudenz, 1972, S. 17–61, 45ff.

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eine gewisse Kontinuität in Bezug auf die Legistik und die gemeinrechtliche Jurisprudenz. So lässt sich bei Zasius, Alciat und Donellus sogar eine verschärfte Fixierung auf den Wortlaut von Gesetzestexten gegenüber den mittelalterlichen Rechtsgelehrten des 13. und 14. Jahrhunderts feststellen. Denn die Legistik hatte ihre Interpretationslehren noch überwiegend am Statuarrecht entfaltet und sich dabei stets die Freiheit eingeräumt, den partikularen verba eines Gesetzes einen römisch-rechtlich fundierten sensus gegenüberzustellen, um das Gesetz entsprechend (um) zu deuten. In den humanistischen Auslegungsschemata ist für das ius scriptum dagegen der Wortlaut der entscheidende Dreh- und Angelpunkt, um die Gedanken des »Gesetzgebers« zu rekonstruieren, worunter auch der Sinn einer Norm (sententia legis) und das Regelungsziel (voluntas legis) gefasst wird.67 So könnte der Eindruck entstehen, dass die humanistischen Juristen auf einer Linie mit der Stellenhermeneutik des aufgeklärten Absolutismus liegen, deren Anhänger unter Auslegung und Interpretation letztlich nur die Vollendung eines logischen Zirkels verstehen: Unter den Stichworten »authentische Interpretation« und »Jeder ist seiner Worte bester Ausleger«68 lässt sich das Ideal der Aufklärungshermeneutik mit einer mechanischen Reproduktion des gesetzgeberischen Willens durch den Rechtsanwender auf den Punkt bringen.69 Diese unstreitig gegebenen Verbindungslinien können das innovative Moment der humanistischen Jurisprudenz im 16. Jahrhundert freilich leicht verdecken. Denn im Gegensatz zu den Auslegungslehren der absolutistischen Wohlfahrtsstaaten im 17. und 18. Jahrhundert entwickeln die Humanisten des 16. Jahrhunderts eine reflektierte Synthese zwischen Auslegungskunst und Rechtsquellenlehre. Das entscheidende Scharnier für die Verbindung von ›Rechtserkenntnis‹ und ›Rechtserzeugung‹ bildet das aus dem römischen Recht überlieferte Prinzip der aequitas, ein juristisches Argumentationsmedium zur Abmilderung und Vermeidung von unbilligen Härten bei der Anwendung eines strengen, weil abstrakten und konditionalen Rechtssatzes (ius strictum). Die eigentliche Neuerung der humanistischen Jurisprudenz besteht nun darin, dass sie mit der aequitas dem positiven Gesetzesrecht eine ungeschriebene Rechtsquelle an die Seite stellt, die – wie der flämische Jurist Matthias Wesenbeck (1531–1586) sich ausdrückt – »von unserem Recht abgesondert oder jedenfalls in keinem besonderen Recht ausgedrückt«70 ist. Billigkeit wird fortan nicht mehr 67 Dazu M. Kriechbaum, Verba und mens in den Interpretationslehren des Humanismus, in: J. Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, 2001, S. 47–72, insb. 55f., 64ff.; Meder, Grundprobleme (Fn. 6), S. 23f.; J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2. Aufl. 2012, § 14, S. 62ff. 68 So Christian Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, 1691, S. 164f., erneut abgedr. in: W. Schneiders (Hg.) Ausgewählte Werke, Bd. 9, 1998. 69 Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 108f.; ders., Grundprobleme (Fn. 6), S. 23f. 70 Siehe die Nachweise bei J. Schröder, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit,

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nur als singuläres Korrektiv bei der Auslegung einzelner Gesetze verstanden, sondern zur autonomen und produktiven Rechtsquelle, die mit der Herausbildung eines sogenannten Juristenrechts im 19. Jahrhundert durchaus Parallelen aufweist.71 Durch einen bewussten Rückgriff auf die aristotelische Epieikeialehre,72 wonach die Billigkeit den Mangel eines jeden abstrakten Rechtssatzes durch ein »besseres Recht«73 im Einzelfall kompensieren soll, erhält das ius ein zusätzliches Fundament.74 Aequitas gelangt dadurch unter das Dach einer ›Gesamtrechtsordnung‹ und wird nicht mehr in einen schroffen Gegensatz zum ius gebracht, sondern als eine anders geartete Rechtsquelle nur noch vom strikten Gesetzesrecht abgegrenzt.75

III.

Juristische Hermeneutik als Methode und als Reflexionsphilosophie

Wer versucht, die Juristische Hermeneutik im Fächerkanon der Rechtswissenschaften zu verorten, stößt auf Schwierigkeiten, die in der Doppeldeutigkeit der ›Kunst des Verstehens‹ liegen. Einerseits lässt sich Hermeneutik nämlich als Teilstück der auf Urteilen und Entscheiden angelegten Rechtsdogmatik begreifen.76 Hermeneutik in diesem Sinne soll dem Rechtsanwender ein methodisch

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in: Quaderni Fiorentini 26 (1997), S. 265–305, 270; näher S. Meder, Der unbekannte Leibniz, 3. Kap., II. 4, 2018 (im Erscheinen). Vgl. dazu Meder, Ius non scriptum (Fn. 3), S. 161–167. Zur Frage, inwieweit auch schon die Glossatoren und Kommentatoren eine solche aequitas non scripta kannten, die nicht nur als Ausnahme von tatbestandlicher Strenge im Einzelfall fungiert, sondern eine zusätzliche Rechtsquelle bildet, siehe die Nachweise bei ders., Der unbekannte Leibniz, 3. Kap., II. 3, 2018 (im Erscheinen). Dieser Rückgriff hängt auch damit zusammen, dass Graeca von Humanisten gelesen wurden, vgl. Troje, Arbeitshypothesen (Fn. 66), S. 533. Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch, Rn. 1137b 5, zit. nach: O. Gigon (Hg.), 8. Aufl. 2010, S. 227. S. Meder, Der unbekannte Leibniz, 3. Kap., II. 4, 2018 (im Erscheinen); Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 67), S. 17–19; ferner HKK/T. Duve, § 242 Rn. 17f. mwN. Sehr deutlich etwa bei Hugo Donellus (1527–1591), der in seinem Hauptwerk »Comentarii de iure civili« mit Rekurs u. a. auf Paul. D. 50. 17. 90 und Celsus D. 1. 3. 18 sowie C. 6. 61. 5. 1 in der aequitas sowohl ein Interpretationsmittel als auch eine Rechtsquelle erblickt und zugleich die aequitas scripta der Legistik verwirft. Vgl. G. Wesener, Aequitas naturalis, ›natürliche Billigkeit‹, in der privatrechtlichen Dogmen- und Kodifikationsgeschichte, in: M. Beck-Managetta/H. Böhm u. a. (Hg.), FS T. Mayer-Maly, 1996, S. 81–105, 88f. Vgl. nur T. M. J. Möllers, Juristische Methodenlehre, 2017, § 11 Rn. 6; Hassemer, Juristische Methodenlehre (Fn. 13), S. 15: »Vermittlungsfunktion« ähnlich, »Rechtslagenabhängigkeit« verschieden. Siehe ferner, auch mit kritischen Reflexionen: T. Vesting, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2015, S. 15 Rn. 23f. In aktuelleren Diskussionen werden Dogmatik und Auslegung häufig als zwei getrennte, voneinander unabhängige Teildisziplinen der Jurisprudenz diskutiert. Die Rolle der Interpretation wird dabei auf eine rein ›erkenntnismäßige‹ Erfassung eines ›Be-

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angeleitetes Verfahren zur Verfügung stellen, um Rechtstexte, vornehmlich Gesetze, richtig zu verstehen und für die Praxis anwendungstauglich zu machen.77 Der überkommene Methodenkanon von Wortlaut, Systematik, Telos und (historischem) Willen des Gesetzgebers wird dabei als Instrumentarium zur Herbeiführung einer juristischen Entscheidung angesehen.78 Eine solche »Spezialhermeneutik«79 mit Anweisungen zum richtigen Interpretieren findet sich auch in anderen Disziplinen, die es mit schriftlich fixierten Äußerungen zu tun haben (Theologie, Philologie, Literaturwissenschaften). Aber selbst die Sozialwissenschaften kennen methodische Auslegungslehren, wobei der wichtigste Bezugspunkt nicht der Text, sondern menschliches Verhalten ist.80

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obachters‹ von ›gegebenen‹ Gesetzesinhalten reduziert; vgl. nur C. Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition; S. Magen, Entscheidungen unter begrenzter Rationalität, beide Beiträge in: C. Engel/W. Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 205–240, 233ff., 303–310, 306 mwN; Klatt, Integrative Rechtswissenschaft (Fn. 12), S. 477ff.; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 147. Selbst bei Versuchen, beide Disziplinen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen, wird der konstruktiven Dogmatik eine diese rekonstruierende Meta-Hermeneutik entgegengestellt, so etwa Goldmann, Dogmatik (Fn. 11), S. 374–399, insb. S. 385ff. Wie eng dagegen methodengeleitetes Interpretieren mit einer produktiven Rechtsdogmatik verzahnt ist, hat zuletzt W. Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, in: G. Kirchhof/ S. Magen u. a. (Hg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 3–15, 5ff., noch einmal zu Recht hervorgehoben; im Zuge eines Hinausgehens über die bloße »Gebrauchsdogmatik« auch Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft (Fn. 11), S. 27f. Dreier, Verfassungsinterpretation (Fn. 22), S. 113. Vgl. statt aller Kramer, Methodenlehre (Fn. 22), S. 56ff.; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 312–365; O. Munthorst, Auslegung: Eine Einführung, in: JA 2013, 721–727 (mit Bezügen zur allgemeinen Hermeneutik, S. 722f.); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre (Fn 9), § 78, S. 613ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 24), § 22 Rn. 696–819 (mit starker Betonung des gesetzgeberischen Willens). Zu den fließenden Grenzen zwischen einer allgemein-philosophischen Hermeneutik und den einzelnen, historisch tradierten Spezialhermeneutiken siehe O. R. Scholz, Die Vorstruktur des Verstehens, in: J. Schönert/F. Vollhardt, Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, 2005, S. 443–461; L. Danneberg, Philosophische und methodische Hermeneutik, in: B. Kanitscheider/F. J. Wetz, Hermeneutik und Naturalismus, 1998, S. 194–214; F. Rodi, Traditionelle und philosophische Hermeneutik, in: ders., Erkenntnis des Erkannten, 1990, S. 89–101; speziell im juristischen Kontext: Immenhauser, Hermeneutik (Fn. 4), S. 305–309; Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 2–16; ders., Grundprobleme (Fn. 6), S. 20–23. Vgl. dazu R. Kurt/R. Herbrik, Sozialwissenschaftliche Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie, in: N. Baur/J. Blasius (Hg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2014, S. 473–491; grundlegend C. Taylor, Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen, in: H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, 1978, S. 169–226.

Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik

1.

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Hermeneutische Grundeinsichten

Von diesem technischen Konzept hebt sich ein anderes Verständnis von Juristischer Hermeneutik ab, das in der Tradition so verschiedener Autoren wie Schleiermacher, Savigny, Droysen, Dilthey, Husserl, Heidegger oder Gadamer steht und auf eine metajuristische Reflexionsphilosophie zielt.81 Hermeneutik als Reflexion über das Verstehen im Recht ist keine spezifische Technik, sondern eine universale Phänomenologie, die enge Beziehungen mit der allgemein-philosophischen Hermeneutik unterhält.82 Sprachlich vermitteltes Verstehen, Interpretieren oder Auslegen sind hier also weder auf den Gegenstand des Rechtstextes noch auf bestimmte Methoden und deren korrekte Anwendung beschränkt. Verstehen und Verständigung werden vielmehr als unhintergehbare Seinsweisen des juristischen Denkens, Sprechens und Handelns begriffen.83 Juristische Hermeneutik als Reflexion über die 81 Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 28–62, 219–240; ders., Grundprobleme (Fn. 6), S. 20, 19–29; C. Sorge, Zwischen Kritik, Konsens und Reflexion: Hermeneutisch-rhetorische Traditionen der Rechtsfindung, in: S. Meder/G. Carlizzi u. a. (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2013, S. 137–224, 187–224; zu den philosophiegeschichtlichen Hintergründen siehe Grondin, Einführung (Fn. 25), S. 99–193; ders., Art. Hermeneutik, in: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, 1996, Sp. 1350–1374, 1368–1374; Joisten, Hermeneutik (Fn. 25), S. 95–196. 82 In Anlehnung an Gadamer, Art. Hermeneutik (Fn. 19), Sp. 1072, kann Juristische Hermeneutik auch als Theorie der Rechtsanwendung beschrieben werden, die »offensichtlich Theorie und nicht Praxis«, aber keine »Technik oder Verwissenschaftlichung« der juristischen Tätigkeit darstellt. Vgl. G. Carlizzi, Historische und theoretische Hauptfragen der ›Gegenwärtigen Juristischen Hermeneutik‹, in: S. Meder/ders. u. a. (Hg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, 2013, S. 105–119; T. Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewusstsein der Juristen, in: Rechtstheorie 18 (1987), S. 344–367; Hassemer, Hermeneutik (Fn. 4), S. 195–198; Immenhauser, Hermeneutik (Fn. 4), S. 298–309; A. Kaufmann, Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik (1982), in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, 2. Aufl. 1993, S. 89–99; ders./v. d. Pfordten, Problemgeschichte (Fn. 9), S. 93–95; M. Klatt, Juristische Hermeneutik, in: E. Hilgendorf/J. C. Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 224–230; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 204–214, 243–249; U. Schroth, Juristische Hermeneutik und Norminterpretation dargestellt an Problemen strafrechtlicher Normanwendung, S. 243–271, 243–253 – beide in: W. Hassemer/U. Neumann u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016; F. J. Mootz, Interpretation, in: A. Sarat/M. D. Anderson (eds.), Law and the humanities – an introduction, 2010, S. 339–376; ders., The Ontological Basis of Legal Hermeneutics: A Proposed Model of Inquiry Based on the Work of Gadamer, Habermas and Ricoeur, in: Boston University Law Review 68 (1988), S. 523–620. 83 Zur Unterscheidung siehe Meder, Grundprobleme (Fn. 6), S. 20–22; daher in Abgrenzung zum Methodenbegriff auch häufig als ›existenziale‹ Hermeneutik bezeichnet; vgl. Hinderling, Rechtsnorm (Fn. 19), S. 138f.; ferner Sorge, Kritik, Konsens und Reflexion (Fn. 81), S. 138f.; auf die Unhintergehbarkeit der Alltagssprache hat schon der einflussreiche deutschamerikanische Jurist Francis Lieber Anfang des 19. Jahrhunderts hingewiesen, vgl. S. Meder, Interpretation und Konstruktion. Zur juristischen Hermeneutik von Francis Lieber (1800–1872), S. 529–538, 531–535.

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Strukturen von Verstehens- und Entscheidungsprozessen hat den Anspruch, »Vorverständnisse transparent« zu machen und dauerhaft durchsichtig zu halten, »neue Fragedimensionen« zu erschließen und »damit der methodischen Arbeit indirekt [zu] dienen«.84 Es geht mithin um Aufklärung über die »Bedingungen der Möglichkeit von Sinnverstehen im Recht überhaupt«.85 Hermeneutik formuliert also weder eine eigene Methodenlehre noch werden die traditionellen Kanones erweitert. Sie sucht in erster Linie, den Verstehensprozess in seiner ›Phänomenologie‹ zu verdeutlichen. Doch lässt sich auch ein normativer Einschlag feststellen, da sie die Unterschiede zwischen gelungenem und misslungenem Verstehen, zwischen legitimer und illegitimer Interpretation durchaus kennt.86 Werden die Subjekte der Rechtsentstehung und -anwendung mit einem hermeneutischen Fokus beleuchtet, so treten nicht nur die Aufgaben eines kritischen Bewusstseins, der historischen Vergewisserung und der Standortabhängigkeit von ›Rechtsexperten‹ in den Vordergrund. Es verändert sich auch die Auffassung von dem Objekt des Rechts. Denn Juristische Hermeneutik überschreitet das vom positiven, geschriebenen Recht vorgegebene Subjekt-ObjektSchema, wonach der Gesetzgeber das Recht setzt, während die Anwender dieses Produkt nur erläutern, erklären oder auf konkrete Fälle ›applizieren‹: Sie qualifiziert die Norm nicht als etwas dem Anwender Äußerliches, gleichsam Gegenüberliegendes, dem er sich voraussetzungslos nähert, um seinen Fall mithilfe der Subsumtion gefügig zu machen. Hermeneutische Einsicht lässt vielmehr zu kritischem Bewusstsein kommen, dass Rechtssätze, Tatbestände und Sachverhalte keine abgeschlossenen Dinge oder für sich seiende Daten, sondern sprachlich vermitteltes »Geschehen«, d. h. selbst subjekthaft sind und an der Welt des Rechtsanwenders teilhaben. Der Jurist konkretisiert die abstrakt-generelle Gesetzesnorm oder die zur Begründung herangezogene Rechtsprechung, indem er das historische Dokument auf seine aktuelle Forschungs- oder Entscheidungssituation bezieht. In diesem Wechselspiel der »Konkretisierung«87 zwischen ›Norm‹ und ›Fall‹ muss 84 H.-G. Gadamer, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 232–275, 248 [Hervorheb. v. Verf.]. 85 Kaufmann/v. d. Pfordten, Problemgeschichte (Fn. 9), S. 23, 95; ferner Betti, Zur Grundlegung (Fn. 20), S. 91ff.; Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein (Fn. 82), S. 347f.; Kaufmann, Grundlegung der juristischen Hermeneutik (Fn. 82), S. 89, 91ff. 86 Darauf weisen zutreffend hin: Gizbert-Studnicki, Das hermeneutische Bewußtsein (Fn. 82), S. 354f.; F. Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, 1966, S. 279; Rottleuthner, Richterliches Handeln (Fn. 9), S. 45–47. 87 Hassemer, Hermeneutik (Fn. 4), S. 195–212, 208–210; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 11. Aufl. 2013, Rn. 274–280; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 109. Siehe ferner die grundlegende Studie von K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und

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der Jurist, bevor er zur methodisch korrekten Anwendung schreiten kann, den Text mit dem Sachverhalt auf ›Augenhöhe‹ bringen. Erst in diesem »komplexe[n] Semantisierungsvorgang«88 wird aus dem gleichberechtigt neben dem Sachverhalt stehenden Normtext eine neue, nunmehr ›höherliegende‹ individuelle »Entscheidungsnorm« herausdestilliert.89 Um für das Besondere ein passendes Allgemeines zu finden, ist weniger der formallogische Abstand von sprachlichen Ausdrücken, sondern der historische Zeitenabstand zu überbrücken, der zwischen den ins Spiel gebrachten Texten liegt. Die vom Rechtsanwender zu erbringende Vermittlungsleistung, das tatsächliche Geschehen mit Rechtssätzen zusammenzubringen, kann folglich nur gelingen, wenn die autoritativen Texte ebenfalls zu einem ›Geschehen‹ verflüssigt und auf die eigene Situation bezogen werden. Dies gelingt weder durch den Rekurs auf einen verdinglichten Willen des Gesetzgebers noch dadurch, dass dieser Wille als historisch abgeschlossenes Datum behandelt wird.90 Ein solches Unterfangen würde auf die Scheingefechte zwischen »subjektiver« und »objektiver« Theorie der Auslegung hinauslaufen.91 Diese ›Theorien‹ beruhen auf der Fehlvorstellung, Rechtstexte seien instrumentell zu behandelnde Konditionalprogramme, die dem Rechtsanwender als monolithische Blöcke gegenübertreten. Die Hermeneutik macht darauf aufmerksam, dass in den Rechtsobjekten – seien es Gesetze, Entscheidungen oder dogmatische Konstruktionen – kulturelle, gesellschaftliche und historische Bildungsprozesse zusammenlaufen, die nicht ›gegenständlich‹,92 sondern dialogisch und intersubjektiv zu entschlüsseln sind.93 Dass dem Rechtsanwender durch eine Dialogisierung neue Horizonte aufgeschlossen werden, lässt sich im Übrigen nicht nur anhand der Entste-

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Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1968 (auszugsw. abgedr. in diesem Band: Teil I Nr. 2 u. II Nr. 13.). Müller/Christensen, Juristische Methodik I (Fn. 87), Rn. 214. Müller/Christensen, Juristische Methodik I (Fn. 87), Rn. 276f.; siehe in diesem Band: G. Carlizzi, Die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element. Eine Grundlegung (Einleitung zu Teil I). Meder, Grundprobleme (Fn. 6), S. 35–37. Vgl. dazu K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010, S. 160–172; G. Hassold, Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes – subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 94 (1981), S. 192–210; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 316–320; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre (Fn 9), § 79, S. 627–631; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 24), S. 435ff. Rn. 717–724; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, § 4 II, S. 17–19; zur insofern uneinheitlichen Rspr. vgl. Staudinger/H. Honsell, 2013, Einl. zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Rn. 135ff. Zum Spannungsverhältnis zwischen einer gegenständlichen Behandlung von Texten im naturwissenschaftlichen Sinne und einer hermeneutischen Perspektive, die auf einer verstehenden Teilhabe des Rezipienten am Text beruht vgl. Danneberg, Philosophische und methodische Hermeneutik (Fn. 76), S. 250ff. R. Gröschner, Kunst des Dialogs, in: M. Henkel/W. Kopke u. a. (Hg.), Dialogik des Rechts, 2013, S. 322–328, 322–324.

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hungsgeschichte eines Gesetzes veranschaulichen. Auch Rechtsprinzipien wie »Treu und Glauben« oder zeitlos-ontologisch verstandene Rechtsbegriffe wie das Forderungsrecht im Privatrecht können durch ›Verflüssigung‹ wieder zum Gegenstand des Rechtsgesprächs gemacht werden. Häufig stellt sich dabei heraus, dass der »letzte erkennbare Wille des Normgebers«94 gleichsam ein doppeltes Provisorium darstellt. Zum einen ist der »status nascendi«95 seines notwendig unvollständigen Gesetzesprodukts ein in die Zukunft wirkender Dauerzustand, mit dessen Entwicklung und Fortbildung sich Gerichte und Rechtsdogmatik tagtäglich zu beschäftigen haben. Zum anderen weist das Provisorium, wie eine Momentaufnahme, aber auch zurück in die Vergangenheit: Selbst wenn mit einem Gesetz ein Schlussstrich gezogen und bestimmte Traditionen abgewählt werden sollen, zeigt sich immer wieder, dass neben neuer Rechtsprechung, neuer Dogmatik oder neuen Gesetzen Traditionslinien fortwirken, die dem legislativen »Machen-Können« Grenzen aufzeigen.

2.

Pragmatisches Verstehen als Bedingung der Möglichkeit des Rechts

Während Hermeneutik im technischen Sinn ›Verstehen‹ als Funktionsbegriff auffasst, den sie in den engen Rahmen einer regelgeleiteten Methodenlehre zu pressen sucht, leistet Hermeneutik im weiten Sinn eine Reflexion auf praktische Verhaltensweisen im Umgang mit der »Sache Recht«,96 die – mit Aristoteles – mehr phrjnesis als epist8me, mehr prudentia als scientia ist.97 Nur am Rande sei bemerkt, dass die reflexive Hermeneutik zur etymologischen Wurzel des Ver94 So der strenge Anhänger einer subjektiven Auslegungstheorie H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948, S. 130. 95 G. Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, in: A. Kaufmann (Hg.), Rechtsphilosophie III. Gustav Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 3, 1990, S. 60–70, 69 (siehe in diesem Band: Teil III Nr. 12). 96 J. Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten. Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, 1971, S. 57, wobei er mit dem Begriff ›Sache Recht‹ keinesfalls eine substanzontologische Auffassung vertritt, sondern die außerpositive Voraussetzung des Rechtlichen bezeichnet und damit den relationalen, sprachlich vermittelten, geschichtlichdynamischen Charakter der Jurisprudenz betonen will (vgl. ferner ders. in diesem Band: Teil II Nr. 6 u. 10). 97 Dazu R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 48–69, insb. 48f.; Kriele, Recht und praktische Vernunft (Fn. 61), S. 17–21 (ferner in diesem Band: Teil IV Nr. 17); ders., Besonderheiten Juristischer Hermeneutik, in: M. Fuhrmann/H. R. Jauß u. a. (Hg.), Text und Applikation (Reihe Poetik und Hermeneutik), 1981, S. 409, 410f.; Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 264f.; S. Meder, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung, 1999, S. 105–130; Sorge, Kritik, Konsens und Reflexion (Fn. 81), S. 200–212. Vgl. eingehend in diesem Band: V. Omaggio, Urteilsrichtigkeit und praktische Vernunft (Einleitung zu Teil IV).

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stehensbegriffs zurückkehrt, die ebenfalls im juristischen Feld liegt und ursprünglich das Vertretenkönnen einer Angelegenheit vor Gericht bezeichnet, also ein »Sachverstehen […], das auf dem tätigen Umgang mit der betreffenden Sache beruht«.98 Ein breiterer Zugang zur Hermeneutik des Rechts bedeutet nicht nur eine Erweiterung des Forschungsgegenstands, sondern auch eine andere Sicht auf das Phänomen des juristischen Verstehens. Denn im Unterschied zur klassischen Methodenlehre geht die Juristische Hermeneutik im philosophischen Sinn von der Prämisse aus, dass sprachlich vermittelte Verstehensleistungen nicht erst dort erbracht werden müssen, wo z. B. unbestimmte Rechtsbegriffe oder unklare Gesetze dies erfordern. Bewusstes, methodengeleitetes Auslegen ist lediglich ein kleiner Teilausschnitt der verstehenden Wissenschaft und interpretativen Praxis des Rechts.99 Es gehört zu den Grundeinsichten einer reflexiven Juristischen Hermeneutik, dass der größte Teil des rechtlichen Verstehens keine gesteuerte, zweckrationale Leistung des Subjekts, kein instrumentelles Wissen, sondern eine immer schon vorhandene und fortwährend geübte Fähigkeit darstellt, über die jeder Teilnehmer verfügen muss, um juristisch überhaupt interagieren zu können.100 Dem methodisch bewussten Verstehensakt geht daher ein elementares ›Einverständnis‹ voraus, das notwendige Bedingung eines jeden Auslegungsvorgangs ist. Noch bevor ein Rechtstext ausgelegt wird, so könnte man mit Hruschka sagen, muss dieser »schon immer irgendwie verstanden sein«.101 Verstehen, bevor man richtig versteht, ließe sich daher als ein Anwenden der Norm im Geiste beschreiben, bevor man die Norm auf dem Papier für die Entscheidung anwendet. Dieses vorgängige Anwenden ist nicht wirklich durch ›Methode‹ gesteuert, obwohl es auch nicht völlig willkürlich oder irrational, sondern nach institutionellen und fachspezifischen Spielregeln abläuft.102 Wol98 R. Gröschner, Das Hermeneutische der juristischen Hermeneutik, in: M. Henkel/W. Kopke u. a. (Hg.), Dialogik des Rechts, 2013, S. 91; Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 265 Note 173. 99 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 80; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 204; ders., Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, in: E. Forsthoff/W. Weber u. a. (Hg.), FS E. R. Huber, 1973, S. 291, 296f. 100 A. Kaufmann, Die ›ipsa res iusta‹ – Gedanken zu einer hermeneutischen Rechtsontologie (1973), in: ders., Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, 2. Aufl. 1993, S. 53–64, 62; Müller, Normstruktur und Normativität (Fn. 86), S. 48f. (vgl. in diesem Band: Teil II Nr. 7). 101 Hruschka, Verstehen von Rechtstexten (Fn. 96), S. 91f. (vgl. in diesem Band: Teil II Nr. 6). 102 Hassemer, Juristische Methodenlehre (Fn. 13), S. 17–21. Zutreffend differenzieren Müller/ Christensen, Juristische Methodik I (Fn. 87), Rn. 495, dass sich ›vor‹ das Ich-spezifische Vorverständnis des einzelnen Rechtsanwenders einerseits »ein besonderes juristisches und rechtstheoretisches Vorverständnis« und andererseits ein mehr formal-bürokratisiertes »institutionelles« Vorverständnis schiebt [Hervorheb. i. O.]; ferner R. Christensen/H.

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len Juristen das »Recht zur Sprache bringen«,103 so können sie sich jedenfalls nicht von vornherein dem juristischen Dialog verweigern, sondern müssen einen institutionellen Hintergrund als ermöglichende Bedingung von Verständigung gelten lassen. Sie müssen sich also auf vorgeprägte Tatbestandsbedeutungen, gegebene Rechtsfiguren, auf die Geltung von Rechtsprinzipien und allgemeine Grundsätze – auf eine zwischen den geschriebenen Rechtssätzen verlaufende ›unsichtbare‹ Infrastruktur namens Rechtsdogmatik immer schon eingelassen haben. Wer interpretieren will, schreibt Savigny, braucht einen für andere Teilnehmer verständlichen Standpunkt, von dem aus er überhaupt zu interpretieren vermag, eine Grundlage also, »um sich zu orientiren [sic!], und mit den Gegenständen bekannt zu seyn, was nur durch Mittheilung schon gefundener Resultate in System und Geschichte geschehen kann«.104 Dieses, dem einzelnen Rechtsanwender nicht ohne Weiteres verfügbare Einverstandensein, das man auch als ›Vorverständnis‹ zu bezeichnen pflegt, darf nicht mit Naivität, Parteilichkeit, Befangenheit oder kognitiven Verzerrungen bei der Entscheidungsfindung verwechselt werden.105 Ein Vorverständnis im hermeneutischen Sinn, das nicht nur Rechtssatz-, sondern auch Sachverhaltsund »Ergebnis-Vorverständnis«106 sein kann, ist der gegebene Rahmen rechtswissenschaftlichen Handelns107 und zugleich transzendentale Voraussetzung für alles juristisch begründete Entscheiden, das Anspruch auf Nachvollziehbarkeit, Anerkennung und Kritik anmeldet.108 Vor diesem Hintergrund erscheint es zutreffend, wenn Gadamer zur Untermauerung seiner Universalitätsthese schreibt, dass »Einverständnis […] ursprünglicher als Mißverständnis«109 ist und auch die radikalste Kritik das Bestehende schon verstanden haben und somit – zumindest für eine juristische Sekunde – seine Geltung akzeptieren muss, um es zurückweisen zu können.

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Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 127–267; O. Hartwig, Sachverhaltsarbeit als Steuerungsinstrument im Zivilprozeß, 2010, S. 188–280. Hruschka, Verstehen von Rechtstexten (Fn. 96), S. 53; vgl. ferner in diesem Band: ders., Verständnis und Interpretation (Teil II Nr. 6). F. C. v. Savigny, Einleitung zu den Pandekten 1827–1842, in: A. Mazzacane (Hg.), Vorlesungen (Fn. 3), S. 286. Eingehend dazu Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 173ff. Deutlich herausgestellt und abgegrenzt von anderen Semantiken bei Gizbert-Studnicki, Vorverständnisbegriff (Fn. 4), S. 478ff.; ferner Betti, Zur Grundlegung (Fn. 20), S. 91ff. Looschelders/Roth, Juristische Methodik (Fn. 99), S. 77f. W. Kuhlmann, Reflexion und kommunikative Erfahrung, 1975, S. 43f. Esser, Vorverständnis (Fn. 22), S. 136–141 (in diesem Band: Teil II Nr. 8); Frommel, Rezeption der Hermeneutik (Fn. 20), S. 84–96; Sorge, Kritik, Konsens und Reflexion (Fn. 81), S. 191ff.; eingehend in diesem Band: V. Omaggio, Das Vorverständnis von Rechtssätzen und die Bildung von Sachverhalten (Einleitung zu Teil II). H.-G. Gadamer, Sprache und Verstehen, in: ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 184–198, 187.

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3.

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Vorverständnis und Reflexion im und über das Recht

Genauso wenig, wie es beim hermeneutischen Vorverständnis um psychologische oder soziale Defizite des Rechtsanwenders geht, ist mit dem ›Einverständnis‹ die ungeprüfte, inhaltliche Zustimmung eines von außen an den Rechtsanwender herangetragenen Anspruchs auf Geltung gemeint. Wenn es etwa der herrschenden Meinung entspricht, dass die Figur der ›Drittschadensliquidation‹ nur auf drei bestimmte Fallgruppen anwendbar ist, so besteht das hermeneutische Einverständnis darin, dass eine solche Konstruktion ernstgenommen und anerkannt wird, wobei die Reflexion auf den ›eigenen‹ Sachverhalt durchaus eine Kritik an der Beschränkung auf drei Fallgruppen herausfordern kann. Selbst der von ›außen‹ beobachtende und analysierende Rechtstheoretiker, dem es nicht um Gesetz oder dogmatische Konstrukte geht, weil er den institutionellen Rahmen von Gesetzgebungen, Rechtsdogmatik und -wissenschaft in Frage stellt, kann sich diesem ›Einverständnis‹ nicht gänzlich entziehen. Wie die ›Mitspieler‹ ist auch er auf die vorwissenschaftliche Erfahrung durch sprachlich vermittelte Interaktionen angewiesen. Die Möglichkeit eines Perspektivwechsels von einem juristischen Teilnehmer zu einem metajuristischen Beobachter bleibt stets rückgebunden an diese hermeneutische Grundvoraussetzung, sodass auch der analytische Rechtstheoretiker, dem es nur um den ›formalen Begriff des Rechts‹ geht,110 sich von der Praxis nicht abspalten kann, sondern bewusst oder unbewusst immer teilnimmt. Damit sollen die Unterschiede zwischen den Erkenntnis- und Entscheidungszielen von Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik oder Rechtsgeschichte keineswegs geleugnet werden. Worauf es ankommt, ist die Idee einer wechselseitigen Verschränkung von Theorie und Praxis, die Rechtserkenntnis ohne praktische Erfahrung ausschließt. Es geht um die »Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretandum«111 – um den Abschied von einem archimedischen Punkt der Beobachtung, von wo aus sich der Beobachter selbst einen privilegierten Zugang einräumt und Teilnehmer suspendiert, indem er sie nicht (mehr) als Dialogpartner und Subjekte, sondern als Objekte der eigenen Forschung behandelt.112 Die enge Verflechtung von Teilnehmern einer »institutionellen Handlungsgemeinschaft«113 und Beobachtern einer »praxisdistanzierten Interpretations110 Vgl. nur S. Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, S. 20; vgl. zur hermeneutischen Kritik in diesem Band: G. Carlizzi, Die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element. Eine Grundlegung (Einleitung zu Teil I). 111 H.-G. Gadamer, Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe, in: ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 301–318, 317. 112 W. Kuhlmann, Reflexion und kommunikative Erfahrung, 1975, S. 87. 113 D. Böhler, Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Methode, in: M. Fuhrmann/H.

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und Argumentationsgemeinschaft«114 ist das charakteristische Merkmal von juristischem Verstehen als Rechtsanwendung. Für Gadamer bildet der fließende Übergang zwischen den in der neopositivistischen Rechtswissenschaftstheorie115 streng getrennten Bereichen von Theorien über das Recht und der gelehrten oder handwerklichen Praxis des Rechts geradezu ein Modell für jegliche Geisteswissenschaft. Sprachliche Interaktion im und über das Recht sei ein auf geschichtlicher Erfahrung beruhendes »›Tun von Dingen mit Worten‹«116 und somit konstitutives Merkmal der auch die Jurisprudenz erfassenden studia humanitatis,117 womit einmal mehr die »exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik«118 hervorgehoben ist.119 Die Oszillation zwischen Theorie und

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R. Jauß u. a. (Hg.), Text und Applikation (Reihe Poetik und Hermeneutik), 1981, S. 483–511, 507. Böhler, Philosophische Hermeneutik (Fn. 113), S. 507, will hiermit dagegen auf den kategorischen Unterschied zwischen Theorie und Praxis hinweisen. Die gegenwärtig wohl einflussreichste, häufig aber nur als Hintergrundrauschen sich bemerkbar machende Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft sowohl im angloamerikanischen als auch im europäischen Raum dürfte aus Versatzstücken des logischen Empirismus bzw. Neopositivismus bestehen, eine auf den Wiener Kreis um Moritz Schlick Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgehende Amalgamisierung von Mathematik, Logik und Empirismus. Nahezu zeitgleich entstand mit dem Berliner Kreis, an dem u. a. der für Karl Popper maßgeblich gewordene Paul Oppenheim teilnahm, eine äquivalente Bewegung in Deutschland. Vgl. J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2011, S. 34–38; Hilgendorf, Grundlagenforschung (Fn. 9), S. 115 mit Note 8; F. Kaulbach, Das anthropologische Interesse in Ernst Machs Positivismus, in: J. Blühdorn/J. Ritter (Hg.), Positivismus im 19. Jahrhundert, S. 39–79 (mit Diskussionsbeiträgen von F. Wieacker, der auch eine Verbindung mit der Rechtswissenschaftsgeschichte aufzeigt); speziell zur Entstehungsgeschichte des Neopositivismus vgl. L. Kolakowski, Die Philosophie des Positivismus, 1971, S. 203–227; F. Stadler, Der Wiener Kreis, 2. Aufl. 2015, S. 29ff.; M. Stöltzner/T. Uebel, Einleitung, in: dies. (Hg.), Wiener Kreis, 2006, S. IX–XCIII. H.-G. Gadamer, Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe, in: ders., Wahrheit und Methode. Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 301–318, 310. Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 15–47; vgl. ergänzend G. Scholtz, Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften, in: ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, 1991, S. 17–35, 24ff. Die Konsolidierung des von Gadamer bemühten humanistischen Wissenschaftsverständnisses der Jurisprudenz, wonach die Sache des Rechts eine unentschiedene heuristische Mittelstellung zwischen scientia und prudentia einnimmt, lässt sich ideengeschichtlich mit einiger Sicherheit im 16. Jahrhundert verorten, dazu H. E. Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: J. Blühdorn/J. Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, S. 63–88; ferner Sorge, Kritik, Konsens und Reflexion (Fn. 81), S. 159ff. Zur Rehabilitierung der humanistisch tradierten prudentia in Savignys Lehre von der Entscheidungsfindung siehe Meder, Urteilen (Fn. 97), S. 105–130. Vgl. auch in diesem Band: V. Omaggio, Urteilsrichtigkeit und praktische Vernunft (Einleitung zu Teil IV). Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 330ff.; ferner ders., Klassische und philosophische Hermeneutik (S. 106ff.); Hermeneutik als theoretische und praktische Aufgabe (S. 310f.); Text und Interpretation (S. 345ff.); Hermeneutik und Historismus (399ff.) – alle Beiträge in: Wahrheit und Methode. Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 92–117, 301–318; 330–360, 387–424.

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Praxis, zwischen institutionell notwendigem Einverständnis in die ›Sache des Rechts‹ und ihrer kritischer Würdigung kann geradezu als der Dreh- und Angelpunkt der Juristischen Hermeneutik bezeichnet werden.120

4.

Rechtsanwendung als Paradebeispiel für die schöpferische Kraft der Hermeneutik bei Gadamer und Savigny

Dass Gadamer die Jurisprudenz für die hermeneutische Dimension der Geisteswissenschaften heranzieht, dass er das Recht also neben der Theologie als »Kronzeuge«121 in den Zeugenstand für die Bedeutung der Hermeneutik ruft, hängt mit dem Begriff der ›Applikation‹ zusammen. Gegen ein szientistisches Wissenschaftsverständnis, das kontemplative Erkenntnis und praktische Anwendung als zwei unvermittelte Momente begreift, rückt er die Applikation als ubiquitäres ›Vermittlungsgeschehen‹ in den Mittelpunkt.122 ›Applikation‹ darf nicht als nachträgliche Anwendung eines gegebenen Allgemeinen auf einen Fall verstanden werden.123 Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Anwendungsbegriff, der einem bestimmten Sachverhalt (ein Apfel fällt vom Baum) eine formale Regel (Schwerkraft) zuordnet, die den Fall kausal erklären kann, betont Gadamer für die Geisteswissenschaften den Zusammenhang von Verstehen und Applikation. Wer einen Text zu verstehen sucht, hat ihn bereits angewendet, nämlich im Hinblick auf eine konkrete Situation und eine bestimmte Sinnerwartung. Daraus folgt, dass die ›implizite‹ Anwendung nicht kategorial, sondern nur graduell von der ›expliziten‹, also einer regelgeleiteten Anwendung verschieden ist. Die Verwobenheit von Verstehen und Applikation zeige aber auch, dass die kognitive Ebene von der normativen nicht zu trennen ist. Daher sei die Applikationsleistung immer schöpferisch. Wer dage119 Daher ist die Kritik seitens der Diskurstheorie und der analytischen Rechtstheorie, Gadamer habe Einverständnis mit Zustimmung verwechselt, nur teilweise, nämlich hinsichtlich mäandernder Erklärungen und unscharfen Formulierungen, berechtigt. Getrübt ist die Formel vom Einverständnis insbesondere durch den Heidegger’schen Duktus, der Überschätzung von etymologischen Herleitungen und die argumentativ kaum zu widerlegenden quasi-spirituellen ›Eingebungen‹. Vgl. zu den Einwänden Böhler, Philosophische Hermeneutik (Fn. 113), S. 506ff.; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 1995, S. 195f. mit Note 218; Schroth, Philosophische Hermeneutik (Fn. 28), S. 77, 88. 120 Wissenschaftstheoretisch zu diesem Wechselspiel der »hermeneutischen Erfahrung« in Gestalt einer Spirale oder eines produktiven Zirkels siehe W. Kuhlmann, Reflexion und kommunikative Erfahrung, 1975, S. 169ff.; vgl. auch in diesem Band: V. Omaggio, Das Vorverständnis von Rechtssätzen und die Bildung von Sachverhalten (Einleitung zu Teil II). 121 F. Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (Philologisch-Historische Klasse), 1963, S. 21. 122 Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 311f. 123 Gadamer, Wahrheit und Methode I (Fn. 23), S. 346.

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gen behauptet, dass Verstehen, Interpretieren und Anwenden bloß reproduktive Vollzugsakte seien, schalte das schöpferische Element nicht aus, sondern verschleiere es lediglich. In der Jurisprudenz komme dieser gordische Knoten der Applikation, der den passiven Erkenntnisakt mit schöpferischer Wertung verknüpft, besonders klar zum Ausdruck: »Das Gesetz wie die Satzung bedarf für die praktische Anwendung stets der Interpretation, und das bedeutet umgekehrt, daß in jede praktische Anwendung Interpretation bereits eingegangen ist. Daher kommt Judikatur, den Präzedenzfällen oder der bisherigen Handhabung stets eine rechtsschöpferische Funktion zu. Insofern zeigt sich am juristischen Beispiel mit exemplarischer Deutlichkeit, wie sehr jede Erstellung eines Textes auf Interpretation, und d. h. auf richtige, sinngemäße Anwendung vorausbezogen ist.«124

Vor Gadamer hat schon Savigny betont, dass Juristische Hermeneutik und Rechtsetzung keine Gegensätze, sondern im Begriff der ›Anwendung‹ gemeinsam zu fassen sind.125 Ausführlicher als Gadamer befasst er sich mit dem bis heute umstrittenen Verhältnis zwischen Auslegung, Rechtserzeugung und -fortbildung. Konvergiert nämlich in der Anwendung die Rechtserkenntnis mit der Rechtserzeugung, so wäre zu fragen, wo die Grenze zwischen den Tätigkeiten des Gesetzgebers und des Richters (oder Gelehrten) verläuft. Für Savigny liegt es auf der Hand, dass sich beide Tätigkeiten unterscheiden lassen, obwohl sie eng verbunden sind: Auslegung produziert Recht nämlich nur »auf umgekehrte Weise, insofern sie das unabhängig von ihr entstandene Recht aufnimmt und zum bestimmten Bewußtseyn bringt«.126 Eingehender erörtert Savigny das schöpferische Moment der Applikation in den Passagen über das »wissenschaftliche Recht«.127 Zur Klärung der Frage, welche Aufgabe der Wissenschaft zukommt, differenziert er zwischen einer formellen und einer materiellen Tätigkeit des Interpreten. Beide Tätigkeiten sind auf ihre Art schöpferisch und fügen dem positiven Recht etwas Neues hinzu: Während die ›materielle Tätigkeit‹ eine autonome und unmittelbare Erzeugung von Normen sei, die aus heutiger Sicht mit staatlichen oder überstaatlichen Gesetzgebungsakten zu vergleichen wäre,128 ziele die formelle Interpretation auf 124 H.-G. Gadamer, Text und Interpretation, in: Wahrheit und Methode: Ergänzungen (Hermeneutik II), 1986, S. 330–360, 346. Siehe dazu die lesenswerten Ausführungen von L. Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica, 1996, S. 16–18 (unter dem Gesichtspunkt einer juristischen Applikationsstruktur). 125 Siehe eingehend Meder, Mißverstehen (Fn. 3), S. 64–79. Anwendung bildet aus seiner Sicht das Mittelglied zwischen Theorie und Praxis: Savigny, System I (Fn. 2), S. 87 (theoretische Seite), und S. 90 (praktische Seite), dazu Meder, Ius non scriptum (Fn. 3), S. 172–174; ders., Mißverstehen (Fn. 3), S. 64–72. 126 Savigny, System I (Fn. 2), S. 207. 127 Savigny, System I (Fn. 2), § 19; dazu Meder, Ius non scriptum (Fn. 3), S. 153–184. 128 Nach Savignys pluralistischer Rechtsquellentheorie hat Wissenschaft nicht nur die Aufgabe,

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eine systematische Darstellung der Rechtssätze. Nun könnte man meinen, dass diese Darstellung – das Aufzeigen der »Einheit in dem Mannigfaltigen« – lediglich die Kehrseite der »doctrinellen« Gesetzesauslegung, das »System also das Ziel der Interpretation, Interpretation die Grundlage des Systems« sei.129 Doch hat Savigny die Wechselwirkungen von materiellen und formellen bzw. rechtserzeugenden und rechtserkennenden Tätigkeiten keineswegs verkannt: Zwar erhalte die Wissenschaft den zu formenden Rechtsstoff von den ›Gesetzgebern‹ (Staat, Rechtsgemeinschaft) und sei daher in der Rolle des passiven Empfängers. Durch wissenschaftliche Interpretation »verarbeitet« der Gelehrte jedoch »auch die Gesetzgebung und vermittele den Übergang derselben in das wirkliche Leben«.130 Diese produktive Tätigkeit dürfe nicht mit der autonomen Rechtserzeugung verwechselt werden. Sie nehme aber eine den Rechtsquellen »ähnliche Natur an«, wenn sich unter den Gelehrten über einen längeren Zeitraum ein Konsens gebildet hat, wie es etwa bei der Doktrin »von den zwey Graden der Culpa« der Fall sei.131 Und in »diesem relativen Sinn also kann selbst eine theoretische Arbeit unter die Rechtsquellen gezählt werden […]«.132 Obwohl Savigny sich vorsichtig ausdrückt und die Differenz von erkenntnismäßiger Erfassung und schöpferischer Erzeugung wahrt,133 ist unverkennbar, dass beide Bereiche dicht beieinander liegen und fließend ineinander übergehen können. Savigny beschreibt die Kooperation von Theorie und Praxis – von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft nicht allein durch die Abgrenzung formaler Zuständigkeits- und Kompetenzbereiche; auf ein solches

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den Rechtsstoff zu durchdenken und zu systematisieren, sondern ist als stillschweigend legitimiertes Vertretungsorgan des Volks ebenfalls befugt, durch materielle Tätigkeit gänzlich neues Recht zu schaffen. Neben Gewohnheitsrecht und staatlicher Gesetzgebung war das wissenschaftliche Recht folglich eine dritte relativ autonome Rechtsquelle. Daher entspringt für ihn auch das Bedürfnis, gerade im Abschnitt über die Aufgabe der Rechtswissenschaft formelle und materielle Tätigkeiten auseinanderzuhalten. F. C. v. Savigny, Methodologie 1809, in: Mazzacane (Hg.), Vorlesungen (Fn. 3), S. 224; ders., System I (Fn. 2), S. 46. Savigny, System I (Fn. 2), S. 48 [Hervorheb. v. Verf.]. Savigny, System I (Fn. 2), S. 88, 90. Savigny, System I (Fn. 2), S. 89. Dies auch in Anerkennung eines hoheitlichen Gesetzgebungsprimats. Eine besonders wichtige Funktion sieht Savigny in dem Staat als ›Mittler‹, der bei sozialen Konflikten – ähnlich dem römisch-rechtlichen Modell der intercessio – durch Gesetzgebung oder über die Einrichtung der judikativen Gewalt dazwischentritt und den Streit schlichtet. Wie man sieht, muss die Idee von der Souveränität nicht in einen künstlichen Gegensatz zu einem pluralistischen Konzept gebracht werden. Näher dazu S. Meder, Savignys ›Politik‹: Die Lehre von den juristischen Personen, in: ders./C.-E. Mecke, Savigny global 1814–2014: Vom Beruf unsrer Zeit zum transnationalen Recht des 21. Jahrhunderts, 2016, S. 555–586, 581f.; eingehend ders., Doppelte Körper im Recht. Traditionen des Pluralismus zwischen staatlicher Einheit und transnationaler Vielheit, 2015, S. 164–190.

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Ideal von »Funktionsadäquanz«134 der mit Rechtsanwendung beauftragten Organe beruft sich heute das Prinzip der Gewaltenteilung.135 Er berücksichtigt darüber hinaus auch die durch Staatsorganisationsnormen nicht zu verhindernden faktischen Grenzübertritte. Zentral ist dabei seine Einsicht in die schöpferische Kraft der Interpretation, die sich bei allen Staatsorganen (im weiten Sinne) unvermeidbar äußert. Savignys Erörterungen des ›wissenschaftlichen Rechts‹, das mutatis mutandis mit ›Rechtsdogmatik‹ übersetzt werden kann, offenbaren also eine »Doppelnatur«, die zwischen Rechtsentstehungs- und Rechtserkenntnisquelle oszilliert.136 Nach alledem zeigt das schöpferische Moment der Interpretation durch Rechtsanwendung, dass es hierbei nicht bloß um die »Rolle des Richters im demokratischen Rechtsstaat«137 geht oder um die Erkenntnis, dass »Methodenfragen Verfassungsfragen sind«.138 Die Aufgabe steht im Raum, sich bewusst zu machen, dass ein positivistisches Bindungspostulat im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG in Wahrheit ein hermeneutisches Problem darstellt, und zwar sowohl für die Rechtsprechung als auch für die Wissenschaft.139

IV.

Applikation als schöpferisches Moment in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis

Obwohl die ›heilige Kuh‹ der Wortlautgrenze schon seit geraumer Zeit nur noch als ein Topos unter vielen in den Methodenlehren kursiert,140 wird immer noch versucht, die Gebiete von Auslegung und Rechtsfortbildung durch formallogische Regeln einzuhegen, anstatt sie durch hermeneutische Reflexion transparent zu machen. Die Bandbreite der Vorschläge sei kurz angeschnitten: So findet man entweder – in Anknüpfung an das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 –

134 Maunz/Dürig/Grzesick, GG, 82. EL 2018, Art. 20 V Rn. 51–56, 90–92 (Gewaltenteilung). 135 Vgl. nur C. Möllers, Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung, in: AöR 132 (2007), S. 493–538, 512–514, 500 (›Gliederung statt Trennung‹); F. J. Säcker, Richterliche Unabhängigkeit – Der Kern der Gewaltenteilung, in: NJW 2018, S. 2375–2380. Zum brüchig gewordenen Prinzip der Gewaltenteilung aufgrund fortschreitender Deparlamentisierung vgl. Meder, Doppelte Körper (Fn. 133), S. 216–247. 136 E. Bucher, Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, in: ZEuP 2000, S. 394–543, 471. Treffend beschreibt Bucher die Rechtsdogmatik daher auch als »supplementäre Rechtsquelle« (S. 469). 137 J. Wenzel, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: NJW 2008, S. 345–349, 349. 138 B. Rüthers, Hatte die Rechtsperversion in den deutschen Diktaturen ein Gesicht?, in: JZ 2007, S. 556–564, 560. 139 Vgl. bereits Larenz, Die Bindung des Richters (Fn. 99), S. 291–309. 140 Vgl. statt aller Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 24), § 22 Rn. 729–730a; Möllers, Methodenlehre (Fn. 76), § 4 Rn. 34–38.

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Auslegungsregeln für die Auslegung141 oder es wird mit der subjektiven Methode auf die Verbindlichkeit des (entstehungszeitlichen) ›Willens des Gesetzgebers‹ rekurriert.142 Andere formulieren wiederum diffizile Vorschriften, woran der Rechtsanwender sich halten soll, um neuralgische Fälle im Zwischenbereich von Erkenntnis und Erzeugung – etwa bei der Konkretisierung von Generalklauseln,143 der extensiven Interpretation144 oder der Lückenfüllung und Analogie145 – verfassungskonform entscheiden zu können.146 Wer das Anwendungsproblem dadurch lösen möchte, dass er die Urteilskraft weiteren Regeln unterwirft, würde, wie bereits Kant bemerkt hat, einen regressus ad infinitum in Gang bringen:147 Die Problematik lässt sich durch ein ›Mehr‹ an 141 So z. B. auch Adolf Merkl, der freilich zu dem Schluss kommt: »Wie ein Gesetz auszulegen sei, kann letzten Endes trotz allen gesetzlichen Auslegungsregeln nie das Gesetz selbst bestimmen, fällt vielmehr stets in die Kompetenz der das selbstherrlichste Recht zu ihrem Objekte wandelnden und damit dieses Objekt sich unterwerfenden, über das Recht erhabenen Wissenschaft.« (A. Merkl, Zum Interpretationsproblem, in: H. Klecatsky/R. Marcic u. a. (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd. 2, 1968, S. 1059–1077, 1077 [i.O. ersch. in: Grünhutsche Zeitschrift 42 (1916), S. 535–556]). Zu dem Meinungsstand aus jüngerer Zeit vgl. Schmid, Die Auslegung (Fn. 10), S. 199–216. 142 Vgl. nur Frieling, Gesetzesmaterialien (Fn. 27), S. 4–16, 131–136, 209f.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung (Fn. 76), S. 332–349, 351–358; M. Pelegrino da Silva, Nach dem Willen welchen Gesetzgebers?, in: ARSP 103 (2017), S. 180–192; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 24), § 22 Rn. 717–724, 778–794, 806–819; S. Seybold/J. Sandner/P. Weiß, Richterliche Selbstbindung durch Methodenlehren – eine Frage der Ethik, in: ARSP 101 (2015), S. 319–331, 326, 329–330. Hinzuweisen ist darauf, dass freilich keiner der genannten Autoren mit einem substanzontologischen Begriff des Gesetzgebers arbeitet, sondern um Auflösung dieser häufig ›chimärisch‹ behandelten Letztinstanz bemüht ist. 143 Zu dem besonderen Problem der Verfassungskonkretisierung siehe Jestaedt, Grundrechtsentfaltung (Fn. 76), S. 155–173. Vgl. ferner in diesem Band: G. Carlizzi, Typus und Analogie im Recht (Einleitung zu Teil III). 144 Vgl. nur Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 24), § 23 Rn. 904f.; Wiedemann, Rechtsfortbildung (Fn. 10), S. 2411 f; kritisch R. D. Herzberg, Kritik der teleologischen Gesetzesauslegung, in: NJW 1990, S. 2525–2530, 2526–2529; zum Problem siehe die Übersichten bei Engisch, Einführung (Fn. 91), S. 235–271, 298–306; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 353–356, 370–403. 145 Vgl. nur C.-F. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1982, S. 71–126, zusammenfassend S. 127f.; Kramer, Methodenlehre (Fn. 22), S. 192–212; P. Meier/F. Jocham, Rechtsfortbildung – Methodischer Balanceakt zwischen Gewaltenteilung und materieller Gerechtigkeit, in: JuS 2016, S. 392–398, 394–397; Möllers, Methodenlehre (Fn. 76), § 6 Rn. 82–114; F. Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, S. 249–264 Rn. 555–594; Röhl/ Röhl, Allgemeine Rechtslehre (Fn 9), § 80, S. 633–638; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn. 24), § 23 Rn. 889–896; M. Würdiger, Die Analogiefähigkeit von Normen, in: AcP 206 (2006), S. 946–979, 973–979. 146 Zu den grundsätzlichen Problemen vgl. Engisch, Einführung (Fn. 91), S. 298–306; Larenz, Methodenlehre (Fn. 21), S. 353–356. Siehe ferner in diesem Band: G. Carlizzi, Typus und Analogie im Recht (Einleitung zu Teil III); W. Hassemer, Typus und Analogieverbot im Strafrecht (Teil III Nr. 16); A. Kaufmann, Juristische Analogie zwischen Ähnlichkeit, Angleichung und ontologischem Typus (Teil III Nr. 15). 147 Vgl. Meder, Urteilen (Fn. 97), S. 32–34.

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Methoden nicht bewältigen. Werden rationale Regelwerke für die Rechtsanwendung zu komplex und damit unbeherrschbar, droht gar die Gefahr einer Kehre in den Dezisionismus.148 Weil die Diskussion über die juristische Methode aus dem engen Gehäuse eines nomozentrischen Subjekt-Objekt-Schemas nicht herauskommt, stößt sie immer wieder an die Decke des normativen Geltungsproblems. Zwischen dem, was sein soll, und dem, was nicht sein kann, klafft eine Lücke, die durch neue Regeln verdeckt, aber nicht geschlossen wird. Schöpferische Rechtsanwendung, die in allen Instanzen und Organen der Rechtspflege zum Tragen kommt, betrifft daher nur zum Teil die Frage »Was ist rechtens?«. Durch obrigkeitliche Normen ›verbieten‹ oder über mechanische Regeln ›ausschalten‹ lässt sie sich nicht. Von der geschilderten Methodendiskussion einmal abgesehen, ist in jüngerer Zeit wieder ein kritischer Trend zu beobachten, der von einer rechtstheoretischen Warte aus die strikte Dichotomie zwischen Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung in Frage stellt und sich einer hermeneutischen Sichtweise zumindest annähert. Während das schöpferische Element der Rechtsanwendung zumeist auf die Untersuchung des Phänomens ›Richterrecht‹ beschränkt bleibt,149 rückt bisweilen sogar das Problem einer produktiven Rechtsdogmatik wieder in den Fokus.150 Dabei wird behauptet, Hermeneutik könne zur Analyse der produktiven Elemente von Dogmatik nichts beitragen.151 In der Diskussion 148 In diese Richtung geht sogar eine ›Anregung‹ von Kuntz, Performative Rechtserzeugung (Fn. 11), S. 866–910, der jedoch vergisst, dass der einzelne Rechtsanwender seine Entscheidung nicht ex nihilo trifft, sondern sowohl Herstellung wie auch Darstellung in einem historisch gewachsenen Diskursraum, vor allem innerhalb eines erfahrungsgesättigten Rahmens von Rechtsdogmatik erfolgen. 149 A. Bruns, Zivilrichterliche Rechtsschöpfung und Gewaltenteilung, in: JZ 2014, S. 162–171; Grosche, Rechtsfortbildung (Fn. 18), S. 6–11, 123–137, 278–295; Herresthal, Auslegung im Privatrecht (Fn. 14), S. 289–298; A. Kellner, Verfassungsmäßige Abhängigkeit des Richters bei der Rechtsfindung? Eindrücke von der 58. Assistententagung Öffentliches Recht Regensburg, in: Rechtswissenschaft 9 (2018), S. 91–95 (Tagungsband noch nicht ersch.); M. Klose, Modernes Gewohnheitsrecht in: Rechtswissenschaft 8 (2017), S. 370–401; Payandeh, Rechtserzeugung (Fn. 10), insb. S. 25–45, 134–150, 451–459; Stürner, Die Zivilrechtswissenschaft (Fn. 11), S. 29; Wiedemann, Rechtsfortbildung (Fn. 10), S. 2407–2412; vgl. ferner die Beiträge in: C. Bumke (Hg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012. 150 Vgl. Bumke, Rechtsdogmatik (Fn. 11), S. 48–52, 131f., ders., Rechtsdogmatik, in: JZ 2014, S. 641–650, 646f.; Eisfeld, Rechtserkenntnis (Fn. 10), S. 598f.; N. Jansen, The making of legal authority, 2010, S. 88–94, 121–125, 136–141; M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: G. Kirchhof/S. Magen u. a. (Hg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 117–137, insb. S. 124–126; ferner ders., Wissenschaft im Recht, in: JZ 2014, S. 1–12, 7; Kuntz, Performative Rechtserzeugung (Fn. 11), S. 866–910. 151 Engel, Herrschaftsausübung (Fn. 76), S. 233–235; Magen, Entscheidungen unter begrenzter Rationalität (Fn. 76), S. 303, 306 – mwN. Von einem »Fehlschlagen des hermeneutischen Arguments« ist die Rede bei M. Auer, Privatrechtsdogmatik und Bereicherungsrecht, in: dies./H. C. Grigoleit u. a. (Hg.), FS C.-W. Canaris, 2017, S. 509–546, 517.

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um die Technologisierung des Rechts, wo häufig ein »digitaler Neopositivismus«152 herrschend ist, findet man mitunter sogar die Ankündigung eines algorithmischen Subsumtionsautomaten, dessen »Quasi-Quantentheorie der juristischen Sprache«153 jede humane Interpretation überflüssig machen soll. Andere Beiträge, die in der Traditionslinie des Kritischen Rationalismus stehen und die Jurisprudenz unter das Dach einer naturwissenschaftlichen Einheitswissenschaft ziehen wollen, stützen ihre These von der Untauglichkeit einer auf ›Sprache und Geist‹ beruhenden Hermeneutik auf ein Buch von Chrysostomos Mantzavinos.154 In seinem Werk »Naturalistische Hermeneutik«, einer Konzeption, die jegliche Handlungs- und Texterklärungen mit einer hypothetisch-deduktiven Methode aus Sicht des neutralen Beobachters ›rational‹ zu erfassen sucht, will Mantzavinos die Schwächen einer geisteswissenschaftlich fundierten Verstehenslehre aufzeigen.155 In der Kritik steht bei ihm vor allem der hermeneutische Entwurf von Gadamer, der Interpretation und Anwendung ›konfundiere‹.156 Mantzavinos Einwände beruhen freilich auf dünnen Beweisführungen, die in der Hauptsache auf eine petitio principii hinauslaufen.157 Für seine grundlegende These, dass sich Verstehen und Anwendung leicht auseinanderhalten ließen, verweist er zur »ausführliche[n] Behandlung«158 auf einen Abschnitt seines Buches, der freilich gerade diesen Punkt offen lässt.159 Dort heißt es apodiktisch, dass Textverstehen »automatisch und unbewusst wegen der Routinisierung« 152 Diskussionsbeitrag von Hoffmann-Riem, Symposium am 27. 10. 2016 an der Bucerius Law School, zit. nach: G. Buchholtz, Zwischen Positivismus und Postmoderne: Herausforderungen für das Recht im 21. Jahrhundert, in: Rechtswissenschaft 8 (2017), S. 96–102, 99. 153 A. Adrian, Der Richterautomat ist möglich – Semantik ist nur eine Illusion, in: Rechtstheorie 48 (2017), S. 77–121, 95–121; ein detaillierter Entwurf mit dem ›Gadget‹ einer »Auslegungshilfekomponente« ist zu finden bei O. Raabe/R. Wacker/D. Oberle/C. Baumann/ C. Funk, Recht ex machina. Formalisierung des Rechts im Internet der Dienste, 2012, S. 279–408, insb. S. 390–394; kritisch dagegen K. N. Kotsoglou, Subsumtionsautomat 2.0. Über die (Un-)Möglichkeit einer Algorithmisierung der Rechtserzeugung, in: JZ 2014, S. 451–457, insb. S. 454–456 (Plädoyer für die Rechtsdogmatik). 154 Engel, Herrschaftsausübung (Fn. 76), S. 205–240, 233–235; Magen, Entscheidungen unter begrenzter Rationalität (Fn. 76), S. 303, 306 – mwN. 155 C. Mantzavinos, Naturalistische Hermeneutik, 2006, S. 111–137. Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass sich Texte durch Rückführung auf Motive, Absichten oder Urteile kausal erklären lassen. Anders als etwa Schleiermacher empfiehlt Mantzavinos dafür kein einfühlendes ›Hineinversetzen‹ in die Rolle des Autors, sondern meint vielmehr, die kognitiven Zustände des Autors bei der Texterstellung durch Beobachtung von ›Invarianzen‹ sprachlicher Sequenzen ergründen zu können (zusammenfassend: S. 129, 138). 156 Mantzavinos, Hermeneutik (Fn. 155), S. 117. 157 Eine eingehende Kritik an Mantzavinos aus einer philosophischer Perspektive leistet W. Detel, Naturalismus und intentionaler Realismus, in: A. Becker/W. Detel (Hg.), Natürlicher Geist. Beiträge zu einer undogmatischen Anthropologie, 2009, S. 13–60, 34–36. 158 Mantzavinos, Hermeneutik (Fn. 155), S. 117 Note 6. 159 Mantzavinos, Hermeneutik (Fn. 155), S. 57.

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geschehe, Interpretation dagegen ausschließlich bewusst und nur bei Schwierigkeiten erfolge.160 Unbeantwortet bleiben die Fragen, aus welchem Grund das routinierte Verstehen keine schöpferische Anwendung ist und weshalb es eine historische Invarianz beim automatischen Verstehen geben soll. Mantzavinos sucht seine Trennungsthese also auf Prämissen zu stützen, die letztlich ohne Begründung bleiben und den Anforderungen der Wissenschaft insoweit nicht genügen.161

V.

Fazit

Ein überzeugendes Alternativmodell zur Juristischen Hermeneutik ist bislang nicht in Sicht. Mit einer hermeneutischen Reflexion auf die Rechtsanwendung lassen sich die fließenden Übergänge von Erkenntnis und Rechtserzeugung – die Bewegungen zwischen Vorverständnis, Auslegung, Konkretisierung und Fortbildung adäquat erfassen. Zu den Vorteilen dieses Ansatzes gegenüber den überkommenen Subjekt-Objekt-Modellen gehört die Einsicht, dass jede Rechtsanwendung Sinnüberschüsse generiert, die mehr oder weniger als schöpferische Produkte des verstehenden Juristen zu qualifizieren sind. In der wechselseitigen Annäherung von Norm und Faktum wird der Sachverhalt durch die Norm ›konstituiert‹ und die Norm mit dem Sachverhalt ›konkretisiert‹, wobei unweigerlich neue Rechtsinhalte zu Tage treten. Eine bloß reproduktive 160 Mantzavinos, Hermeneutik (Fn. 155), S. 57. De facto würde das zu einer Rückkehr der überwunden geglaubten In-claris-non-fit-interpretatio-Regel des 17. und 18. Jahrhunderts führen (siehe oben unter Abschnitt I. Note 6). 161 Diese ›neue‹ Kritik an Gadamer fällt also hinter die »naturalistische Alternative« aus den 1990er-Jahren von Hans Albert, Kritik der Hermeneutik, 1994, S. 95–112, weit zurück. Wenn im Übrigen von Seiten des Kritischen Rationalismus die geisteswissenschaftliche Hermeneutik in Frage gestellt werden soll, dann müsste die rationalistische Kritik zunächst ihre eigenen wissenschaftstheoretischen Prämissen reflektieren. Dies tut Mantzavinos indes nicht. Insbesondere wäre das Problem der nicht weiter rationalisierbaren Basissätze, die ein ›Beobachtungsergebnis‹ ausdrücken und eine Gesetzeshypothese widerlegen sollen, zu diskutieren. Diese Problematik ist der unthematisierte Ausgangspunkt und axiomatische Haken von Mantzavinos Reduktion sprachlich-geschichtlicher Phänomene auf beobachtbare ›Natur‹. Nur nebenbei sei erwähnt, dass Popper zur Lösung der nicht verifizierbaren empirischen Basissätze ausgerechnet auf die angloamerikanische Urteilsfindung verweist. Ähnlich wie die Jury bei der Beweiswürdigung in einem Gerichtsprozess sollten sich die Wissenschaftler durch Konsens darauf einigen, ob ein aus der Erfahrung stammender Sachverhalt (Basissatz) die in Rede stehende Gesetzeshypothese falsifizieren kann. Eine solche Analogie dürfte indes nur den hermeneutischen Zirkel von Gadamer bestätigen, anstatt ihn zu widerlegen. Vgl. eingehend dazu J. Habermas, Nachtrag zu einer Kontroverse (1963): Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, 5. Aufl. 1982, S. 15–44, 32–40. Die Stelle bei Popper spricht genau das hermeneutische Zentralproblem der »application« und »justification« an, freilich ohne es zu problematisieren, siehe The Logic of Scientific Discovery, 2002, S. 88–94, insb. S. 92.

Zur schöpferischen Kraft der Juristischen Hermeneutik

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und stets gleichbleibende Rechtsanwendung erweist sich so als rationalistische Illusion. Hermeneutik führt zu der Einsicht, dass Rechtstexte immer anders versteht, wer Recht überhaupt versteht. Dadurch fällt zugleich ein Licht auf die Lehre von den Rechtsquellen: Lässt man die Idee einer Monopolisierung des Rechts durch staatliche Gesetzgebung und das ›Richterrecht‹ einmal beiseite, so können unter hermeneutischen Prämissen auch gefestigte Lehrsätze, ungeregelte Prinzipien oder rechtsethische Grundsätze als Bestandteile des objektiven Rechts qualifiziert werden. Verschränkungen zwischen Hermeneutik und Rechtsquellenlehre gab es bereits im römischen und im mittelalterlichen Recht. Auf Basis des tradierten Prinzips einer aequitas non scripta hat dann die humanistische Jurisprudenz mit der »Billigkeit« den Schritt von einem bloßen Korrektiv im Rahmen der Auslegung zu einer selbständigen (ungeschriebenen) Rechtsquelle vollzogen. Diese Entwicklungslinie unterstreicht einmal mehr, wie eng die Juristische Hermeneutik, hier über die Billigkeit, mit der Rechtsquellenlehre verschränkt ist. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Denn nach wie vor herrscht die Überzeugung, dass die Billigkeit eine »allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung« bildet.162 Nach der Wende zum 21. Jahrhundert werden diese Erkenntnisse freilich nur noch selten zur Lösung rechtstheoretischer Probleme mit herangezogen. Der historische Abstand zum römischen Recht und zur humanistischen Jurisprudenz mag dies nahelegen. Warum aber soll die bedeutenden Entwürfe aus dem 20. Jahrhundert das gleiche Schicksal treffen? Dies muss schon deshalb verwundern, weil die Juristische Hermeneutik der im vorliegenden Band versammelten Texte nach wie vor große Aktualität besitzt. Der Grund hierfür liegt nicht nur darin, dass ihre Ergebnisse in jüngeren Arbeiten bisweilen noch durchschimmern. Denn solche ›Übernahmen‹ erfolgen meist nicht mehr in bewusster Anknüpfung an eine große Theoriegeschichte. Mit ihrer Blüte zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren hat die Juristische Hermeneutik künftigen Generationen ein reiches Erbe hinterlassen, hinter das heute keine Forschung mehr zurückfallen sollte. Die Texte wollen also wieder gelesen werden! Die Wiederentdeckung von Karl Engisch, Arthur Kaufmann, Joachim Hruschka, Josef Esser oder Winfried Hassemer verspricht für eine zeitgemäße Theorie der Rechtsanwendung wertvolle Bausteine zu liefern. Vielleicht ist es den Texten sogar vergönnt, in Zukunft eine Lücke zu schließen, um den großen Wurf einer Juristischen Hermeneutik für das 21. Jahrhundert zu wagen.

162 St. Rspr., siehe zuletzt zum Widerrufsrecht der Verbraucher BGH NJW 2016, 3512, 3517 Rn. 43 mwN. Sogar im europäischen Recht ist dieser Gedanke anerkannt, vgl. P. Mankowski, Verbraucherschützendes Widerrufsrecht und Rechtsmissbrauch, in: JZ 2016, S. 787–792, 789 mwN aus der Literatur.

Quellenverzeichnis

Zum ersten Teil 1. Gustav Radbruch, Rechtsidee und Rechtsstoff. Eine Skizze. In: A. Kaufmann (Hg.), Gustav Radbruch. Gesamtausgabe, Bd. 2/2. Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag 1993, S. 453–460 [i. O. ersch. in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 17 (1923/24), S. 343–350]. 2. Karl Engisch, Interpretation, Beweis und Subsumtion in der logischen Struktur des Rechtsurteils. Aus: Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., Heidelberg: Carl Winter. Universitätsverlag 1963 (1. Aufl. 1943), S. 3 u. 5–9, 13–21 u. 82–89, 92–100, 102f., 112–113 3. Arthur Kaufmann, Sachverhalt und Rechtssatz im Prozess der Rechtsverwirklichung. Aus: Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 2. Aufl., Heidelberg: R. v. Decker und C. F. Müller 1982 (1. Aufl. 1965), S. 10–16, 18, 37–43. 4. Winfried Hassemer, Die gegenseitige Entfaltung von Sachverhalt und Tatbestand. Aus: Tatbestand und Typus. Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, Köln, Berlin, Bonn, München: Carl Heymanns Verlag 1968, S. 102–108, 118–121.

Zum zweiten Teil 5. Martin Kriele, Lebenssachverhalte, Normhypothesen und Rechtssätze im Bereich der Rechtsgewinnung. Aus: Theorie der Rechtsgewinnung – entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl., Berlin: Duncker und Humblot 1976 (1. Aufl. 1967), S. 195–205. 6. Joachim Hruschka, Verständnis und Interpretation. Aus: Das Verstehen von Rechtstexten. Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1972, S. 46–48 u. 91–93.

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Quellenverzeichnis

Friedrich Müller, Applikation, topisches Vorverständnis und topische Hermeneutik. Aus: Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin: Duncker und Humblot 1966, S. 47–51, 54–60 u. 65–67. 8. Josef Esser, Bedingungen für die Rechtsanwendung. Aus: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1972 (1. Aufl. 1970), S. 137–141. 9. Karl Larenz, Die Jurisprudenz als verstehende Wissenschaft. Aus: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin und Heidelberg: SpringerVerlag 1991 (1. Aufl. 1960), S. 204–211. 10. Joachim Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles. Aus: Die Konstitution des Rechtsfalles. Studien zum Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung, Berlin: Duncker und Humblot 1965, S. 9–13, 20–25 u. 55–56. 11. Karl Larenz, Die Bildung und rechtliche Beurteilung des Sachverhalts. Aus: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin und Heidelberg: Springer-Verlag 1991 (1. Aufl. 1960), S. 278–283, 304–311.

7.

Zum dritten Teil 12. Gustav Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken. In: Arthur Kaufmann (Hg.), Gustav Radbruch. Gesamtausgabe, Bd. 3.: Rechtsphilosophie III, Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag 1990, S. 60–70 [i. O. ersch. in: Revue internationale de la th8orie du droit – Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 12 (1983), S. 46–54]. 13. Karl Engisch, Die Konkretisierung als Hinwendung zum »Typus« in Recht und Rechtswissenschaft. Aus: Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1968 (1. Aufl. 1953), S. 237–239, 262–267, 270–278, 281–290. 14. Karl Larenz, Arten von Typen und verschiedene Typusverständnisse im Recht. Aus: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin und Heidelberg: Springer-Verlag 1991 (1. Aufl. 1960) S. 457–469. 15. Arthur Kaufmann, Juristische Analogie zwischen Ähnlichkeit, Angleichung und ontologischem Typus. Aus: Analogie und »Natur der Sache«. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 2. Aufl., Heidelberg: R. v. Decker und C. F. Müller 1982 (1. Aufl. 1965), S. 1–9, 29–33, 35f., 44, 47–49, 51–53.

Quellenverzeichnis

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16. Winfried Hassemer, Typus und Analogieverbot im Strafrecht. Aus: Tatbestand und Typus. Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, Köln, Berlin, Bonn, München: Carl Heymanns Verlag 1968, S. 109–117, 160–165.

Zum vierten Teil 17. Martin Kriele, Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft. Aus: Recht und praktische Vernunft, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1979, S. 9–14, 44–46, 77–80 u. 96–102. 18. Josef Esser, Die rationale Kontrolle der Auslegung. Aus: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis, 2. Aufl., Frankfurt a. M.: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1972 (1. Aufl. 1970), S. 154–161. 19. Arthur Kaufmann, Vernunft und Form im Recht. Aus: Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik. Abgedr. in: Beiträge zur juristischen Hermeneutik sowie weitere rechtsphilosophische Abhandlungen, Köln, Berlin, Bonn, München: Carl Heymanns Verlag 1984, S. 84–88 [i. O. ersch. in: JZ 1975, S. 337–341]. Sowie aus: Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit. Abschiedsvorlesung, Heidelberg: Decker und Müller 1990, S. 12–14, 16–18, 22–23, 38–42. 20. Winfried Hassemer, Methodologie und Anwendungspraxis. Aus: Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik. Abgedr. in: Erscheinungsformen des modernen Rechts, Reihe: Rechtsprechung, Materialien und Studien. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Bd. 26, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2007, S. 119–152, 131–139.

Teil I: Die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element. Eine Grundlegung

Einleitung von Gaetano Carlizzi

Eines der wichtigsten Merkmale aller rechtsphilosophischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn nicht sogar ihr kleinster gemeinsamer Nenner, ist der Nomozentrismus, wenn es um die Grundsatzfrage geht: »Was ist Recht?«. Im Detail kann dabei die Frage zwar verschieden beantwortet werden: mit einer Engführung von Recht auf eine Gesamtmenge von Normen wissenschaftlichgewohnheitsrechtlichen (Historizismus), gesetzlichen (Rechtspositivismus), verfassungsrechtlichen (neokonstitutionalistische Strömungen) oder gerichtlichen Ursprungs (Realismus). Selbst die Gesamtheit von organisierten Institutionen auf der Grundlage von Kompetenz- und Verhaltensnormen (Institutionalismus) könnte den Rechtsbegriff definieren. Herzstück einer wie auch immer gearteten Rechtswirklichkeit bleibt am Ende jedoch stets der Rechtssatz, im weiteren Sinne verstanden als eine Aussage über einen – mit Ausnahme der neokonstitutionalistischen Denkschulen – eigenständigen Sollenszustand. Einerseits wird die Norm nämlich als Ausdruck von Verhaltenspflichten, -verboten und -vollmachten (Regeln) oder von Erfolgspflichten, -verboten und -vollmachten (Grundsätze) verstanden. Andererseits bilden Normen den einzig möglichen bzw., weitaus häufiger, einen der möglichen Inhalte, die vollkommen von einer Rechtsquelle festgelegt sind, ohne dass sie auf die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, auf die sie angewendet werden, zugeschnitten werden können und ebenso wenig ihrerseits auf sie einwirken können. Gerade diese unverrückbare Überzeugung von der vollkommenen Vorbestimmtheit von Rechtsnormen führt zu der Auffassung, dass Recht sich in eben diesen Rechtsnormen erschöpft und dass die Sachverhalte, die von den Rechtssätzen geregelt werden, lediglich ihr Gegenstand sind, und damit außerhalb des Prozesses der Rechtsbegründung stehen. Den Ursprung oder vielmehr die Vorurteile und Annahmen, die hinter diesem theoretischen Standpunkt stehen, zu ergründen, scheint ein ehrgeiziges Unterfangen zu sein. Es scheint nicht ganz abwegig, zu behaupten, dass der Nomozentrismus unter anderem das Bedürfnis widerspiegelt, die Funktionsweise der Rechtserfahrung auf einfache Art und Weise erklären bzw. vermitteln zu können.

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Einleitung von Gaetano Carlizzi

Wie der folgende metatheoretische Gedankengang zeigt, liefert der Nomozentrismus mit seiner Geradlinigkeit für die Rechtsphilosophie im 19. und 20. Jahrhundert ein höchst willkommenes Erklärungsmodell. Die bequemste Bewegungsrichtung des menschlichen Verstandes ist immer noch die unidirektionale: Auf ein »Zunächst« folgt unausweichlich immer ein »Danach«. Mit dieser Art von Verstandestätigkeit gerät jedoch leicht die Dynamik eines »das-eine-gleichzeitig-mit-dem-anderen« aus dem Blick. Anfällig ist dafür insbesondere der nomozentrische Ansatz der Rechtsauffassung, wonach in einem ersten Schritt das Recht abstrakt als Gesamtmenge aller geltenden Normen erfasst wird und erst in einem zweiten Schritt die Normen auf konkrete Sachverhalte angewendet werden sollen. Dynamiken im Rechtsfindungsprozess erstarren somit in einem linearen Modell. Unabhängig davon, ob diese These plausibel erscheint oder nicht, beruht die Originalität aller in diesem Band veröffentlichten Texte auf einem grundsätzlichen Hinterfragen des Nomozentrismus. Dieser Zweifel und die Betonung des dialektischen Elements bilden eine gemeinsame Grundlage für das Funktionieren des Rechtsbetriebs, ein Fundament für die Rechtspraxis und in gewisser Weise auch den »Zement« aller hier versammelten Schriften, die wie Steine eines Mosaiks zu dem zusammenfügt werden, das wir als »Juristische Hermeneutik« bezeichnen. Kurz: Die Grundthese der Juristischen Hermeneutik – und damit der ideelle Ursprung ebenso wie die jeweils unterschiedliche Art und Weise, in der die Autoren ihre Grundthese entwickelt haben – besteht darin, dass man erkannt hat, dass das Rechtssystem in einer beständigen Interaktion zwischen Rechtsnormen und Sachverhalten lebt, die aus dem Handeln der Akteure des Rechts, der Richter, gespeist wird. Die folgenden einleitenden Worte haben den Anspruch, eine synthetische und klare Darstellung dieses allen Autoren gemeinsamen Grundgedankens zu liefern: Das erste Werk, in dem der oben genannte Ansatz zum Tragen kommt, ist der Artikel »Rechtsidee und Rechtsstoff« aus dem Jahr 1923/24 von Gustav Radbruch. Ausgehend von der neukantianischen Auffassung, nach der sich Recht durch das Verhältnis zu der ganz spezifischen Idee von sich selbst definiert (in seiner »Rechtsphilosophie« von 1932 mit dem Begriff »Idee der Gerechtigkeit« bezeichnet), fragt Radbruch hier nach der Verfasstheit der Idee des Rechts. Seine Fragestellung hat also einen weitreichenden rechtsphilosophischen Horizont und zielt auf das Wesen der Rechtlichkeit selbst. Seine Antwort liegt in der Feststellung, dass die Idee des Rechts wie alle Wertideen einerseits durch eine Form (den jeweils erhobenen Anspruch) und andererseits durch einen Stoff (die gesellschaftliche Realität, auf die eingewirkt werden soll) gekennzeichnet ist, wobei beide Dimensionen in einem Verhältnis der ständigen Wechselwirkung zueinanderstehen. Die Dynamiken, die hier

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zwischen den beiden Polen entstehen, sind einerseits die »Stoffbestimmtheit der Idee« und andererseits die »Idealisierung des Wirklichen«. Wie Radbruch in seiner »Rechtsphilosophie« weiter ausführt, bedeutet dies, dass die Forderung nach Gleichbehandlung, die jeglicher Rechtserfahrung zugrunde liegt, sich auf konkrete Gegebenheiten des Zusammenlebens von Menschen bezieht und dass umgekehrt die Rechtlichkeit dieser Gegebenheiten von den ideologischen Entscheidungen des jeweiligen Gesetzgebers abhängt, die der Richter umzusetzen hat. Die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element besteht daher auch nicht nur auf rechtsphilosophischer Ebene, sondern findet ihren Ausdruck ebenso auf der Ebene von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Wenn es also auf der einen Seite wahr ist, dass es der Gesetzgeber ist, der durch die Beschreibung von gesetzlichen Tatbeständen die rechtserheblichen Merkmale von sozialen Sachverhalten festlegt, dann stimmt es auch, dass diese sozialen Sachverhalte in ihrem Wesen bereits eine rechtsrelevante Dimension haben (die »Natur der Sache«). Diese muss der Gesetzgeber wiederum bei besagter Beschreibung in irgendeiner Weise berücksichtigen, will er nicht Gefahr laufen, sich von der Realität zu entfernen. Auf der anderen Seite muss der Richter aber bei seiner Wahl der Rechtssätze für die jeweils unterbreiteten Tatbestände ihre Natur berücksichtigen. Erhellend ist in dieser Frage das Ende der oben genannten Abhandlung, wo Radbruch ausführt, dass der Rechtsstoff die Tatsachen sind, die durch soziale Begriffe dargestellt werden, und dass folglich Tatbestandsbegriffe von eben jenen sozialen Begriffen herrühren. Diese Entsprechung würde die Aufhebung der traditionellen Gegenüberstellung von Tatfrage, d. h. der Frage nach der Bewiesenheit der gerichtlich untersuchten Sachverhalte, und Rechtsfrage, d. h. der Frage nach der Subsumtion eben dieser Sachverhalte unter ganz bestimmte Tatbestände, bedeuten. Engisch kommt dabei das Verdienst zu, das Einfache an dieser skeptischen Sichtweise aufzudecken. Im Lichte des hier Dargestellten erhellen zwei charakteristische Postulate der Juristischen Hermeneutik, die bei Radbruch eine fundierte und einleuchtende Begründung erfahren. Eine von ihnen findet sich in dem hier im Folgenden abgedruckten Artikel, die zweite in der oben bereits zitierten »Rechtsphilosophie«, zu dem unser Artikel in gewissem Sinne die Vorbereitung darstellt: – Es handelt sich hier zuerst einmal um die Postulierung des transzendentallogischen Charakters der beschriebenen Dialektik. Normatives und faktisches Element können sich nicht allein gegenseitig bestimmen, da beide Größen völlig unterschiedlichen Wesensursprungs sind (erstere ist deontischen, allgemeinen und abstrakten Charakters, letztere im Sein verhaftet, an den Einzelfall gebunden, einmalig und konkret). Dazu bedarf es vielmehr des hermeneutischen Denkens.

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– Zum Zweiten ist es die Überzeugung (man möchte sagen, eine Leitidee der Juristischen Hermeneutik), dass »in der Tat Recht nicht die Gesamtheit aller Normen, sondern die Gesamtheit aller Entscheidungen« ist – eine These, die damit gerechtfertigt wird, dass das Moment der Entscheidung (über Sachverhalte ausgehend von Normen) den Angelpunkt der beschriebenen Dialektik bildet. Der juristisch-hermeneutische Ansatz Karl Engischs bewegt sich in einem enger umrissenen, rechtstheoretischen Rahmen und fragt nach der logischen Struktur eines »konkreten juristischen Sollensurteils«, besonders bei der strafrechtlichen Entscheidung. Die Fragestellung, von der seine in die vorliegende Anthologie eingegangenen »Logischen Studien zur Gesetzesanwendung«, erstmals erschienen im Jahr 1943, ausgehen, kann wie folgt zusammengefasst werden: Welches ist die minimalste Form, die eine Schlussfolgerung, von der (explizit oder implizit) eine Entscheidung herrührt, haben muss, damit sie einen rationalen Charakter erhält und so zur Rechtfertigung des Anspruchs auf Wahrheit der Entscheidung selbst beiträgt? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, widmet sich Engisch einer gewissenhaften Untersuchung der ideellen Struktur der Begründung einer richterlichen Entscheidung, die dem traditionellen logischen Modell des Syllogismus entspricht. Vereinfacht und auf den Punkt gebracht stellt diese Untersuchung die strafrechtliche Entscheidung als Schlussfolgerung (z. B. »Ein Mensch wird zum Tode verurteilt«) aus einer Deduktion dar, die folgende Elemente hat: – einen Obersatz, nämlich ein spezifisches Sollensurteil (gesetzt sei, einzig auf das Verhalten eines Menschen bezogen: »Wer mit Bombenwurf einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft«), welches durch die Subordination des jeweiligen Tatbestandes unter jenen des allgemeinen Sollensurteils gewonnen wurde (gesetzt sei: »Wer mit Mitteln, deren Anwendung und Auswirkung sich der Berechnung und Beherrschung durch den sie Anwendenden entzieht, einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft«), zu dem man durch die Interpretation der Strafnorm gelangt ist (gesetzt sei: »Wer einen Menschen mit gemeingefährlichen Mitteln vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft«); – einen Untersatz, nämlich einen Satz (im weitesten Sinne eine Subsumtion), der das Begehen des im Obersatz beschriebenen Verbrechens seitens des Angeklagten behauptet (gesetzt sei: »A hat B durch das Werfen einer Bombe getötet«), der in sich aber, wohlgemerkt, zwei unterschiedliche Sätze einschließt (die beide ihrerseits wiederum aus komplizierten logischen Operationen gewonnen wurden). Einer dieser Sätze besagt, dass die beklagte Tat in Wahrheit begangen wurde (»Tatsachenfeststellung« – gesetzt sei: »A hat B getötet, indem er ihm eine Granate MK3 vor die Füße geworfen hat«), der

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andere besagt die Zugehörigkeit dieser Tat zu den Fällen des besagten Tatbestandes (»eigentliche Subsumtion«, gesetzt sei: »Die Tötung von B, die A damit erreicht hat, dass er ihm eine Bombe vor die Füße geworfen hat, ist Tötung von einem Menschen durch Bombenwurf«). Wenn nun Engisch, der als Rechtstheoretiker vor allem an der typischen Struktur und am Zusammenhang zwischen den beiden im Untersatz beinhalteten Operationen interessiert ist, die Inhalte des Rechtssyllogismus – der Logik entsprechend – in einer linearen (vertikalen) Form darstellt, unterstreicht er andererseits, dass die Art und Weise der Feststellung dieser Inhalte für den Richter eine von Grund auf andere ist. In diesem Punkt offenbaren sich der – seitens seiner Kritiker oft nicht genügend anerkannte – Reichtum und die Originalität des juristisch-hermeneutischen Ansatzes Engischs und der Juristischen Hermeneutik im Allgemeinen. Zum einen bestehen sie darin, dass Engisch den entscheidenden Unterschied zwischen Phänomenologie und Logik des Urteils herausstellt: eine Sache ist die Dynamik der Herausbildung einer rechtlichen Entscheidung, eine andere die Statik der Rechtfertigung derselben. Zum andern gelingt es Engisch nicht nur, sich den Grundgedanken der Juristischen Hermeneutik zu eigen zu machen, indem er von der Feststellung ausgeht, dass die beschriebene Dynamik (also die Art und Weise, wie der Richter den Tatbestand, der dann im Obersatz ausgedrückt wird, und den Sachverhalt, der im Untersatz seinen Ausdruck findet, ermittelt) in dem bekannten »Hin- und Herwandern des Blickes« zwischen diesen beiden Elementen liegt. Vor allem aber hat er eine andere Besonderheit entdeckt, die Radbruch noch vernachlässigt hatte: den phänomenologischen Charakter der beschriebenen Dynamik. Dieser ist nämlich der Grund dafür, dass das oben beschriebene Prinzip nicht zu (logischen) Trugschlüssen gelangt. Ein weiteres Verdienst Engischs ist es, dass der Gießener Rechtstheoretiker und Strafrechtler durch seine Erweiterung der Logik der Subsumtion von Rechtssätzen erkennt, dass diese in der Gleichstellung des zu entscheidenden Falles mit bereits sicher diesem Rechtssatz zugeordneten Fällen besteht, und so der im Kern hermeneutischen These des analogischen Funktionierens der Rechtsanwendung den Weg bereitet. Zuletzt soll hervorgehoben werden, dass Engisch durch die Bestimmung der Bedingungen, die dazu führen, dass Tatsachenfeststellung und Subsumtion von Rechtssätzen sowohl unterschiedliche als auch übereinstimmende logische Formen haben können, zwei verschiedene Konstellationen zwischen faktischem und normativem Element ermittelt, die sich von der dialektischen Beziehung phänomenologisch-hermeneutischer Art unterscheiden. In den Auszügen aus »Analogie und ›Natur der Sache‹«, die für diesen Abschnitt gewählt worden sind, steht Arthur Kaufmann, treuester Schüler Rad-

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bruchs, klar in der juristisch-hermeneutischen Tradition seines Lehrers, vertieft seine Theorien aber und wählt einen anderen Ansatz. Seine Frage lautet nicht: »Was macht die Natur des Rechts (im Gegensatz zu anderen Kulturrealien) aus?«, sondern: »Was ist die Rolle der Analogie im Recht?« Trotzdem gelangt der Autor aber im Laufe seiner Abhandlung zwangsläufig auch zur ersten Fragestellung zurück, die er angeht, indem er eine ganze Reihe von Schlüsselbegriffen der Radbruch’schen Rechtsphilosophie miteinander verknüpft und so erstmals klar und einleuchtend das analogische Fundament und den prozessualen Charakter der Rechtswirklichkeit herausstellt. Schauen wir uns diesen synthetischen Kernsatz einmal genauer an: Kaufmann unterstreicht zunächst die Radbruch’sche These der zentralen Bedeutung der Rechtsidee (im weitesten Sinne verstanden als Gesamt universeller, übergeordneter Grundsätze des Rechts), der Rechtsnorm (Gesetzes- oder andere Norm) und der rechtlichen (und nicht nur richterlichen) Entscheidung für die Rechtsverwirklichung und formuliert dann zwei, seiner Meinung nach offensichtliche Thesen: – Eine antidezisionistische These, die besagt, dass jede einzelne der hier genannten Figuren notwendig ist, damit Recht sich in einem prozessartigen Vorgang verwirklichen könne, dessen einzelne Etappen durch die Formulierung von Normen auf der Grundlage von höheren Prinzipien und durch die Anwendung von auf Normen basierenden Entscheidungen entstehen. – Die zweite könnte man als anti-normativistische (besser noch: als anti-nomozentrische) These bezeichnen. Sie besagt, dass keine der beiden Etappen mechanisch ist, sich also nicht einfach durch ein Ableiten aus der nächsthöheren normativen Stufe (aus der Idee des Rechts oder aus dem Rechtssatz) ergibt. Für die Juristische Hermeneutik ist bei der zweiten These von herausragender Bedeutung, dass sich der Rechtsphilosoph und Strafrechtler aus Singen die Radbruch’sche Sichtweise dieses Grundprinzips der Juristischen Hermeneutik zu eigen macht. In der Tat können ja weder Rechtssätze mechanisch aus Wertvorstellungen abgeleitet werden noch Rechtsentscheidungen mechanisch aus Rechtssätzen. Dies hat seinen Grund darin, dass bei beiden Schritten ein faktisches Element ins Spiel kommt, das sich im Wesen grundlegend von dem entsprechenden normativen Element unterscheidet: ein Sachverhaltstypus, der geregelt werden muss, im ersten, und ein Einzelsachverhalt, der entschieden werden muss, im zweiten Fall. Vor diesem Hintergrund benötigt die Rechtsfindung ein »In-die-Entsprechung-Bringen«, eine »Angleichung«, eine »Assimilation«, kurz eine »Dialektik« (so Kaufmann, Larenz zitierend, kurz nachdem er das Bild Engischs des »Hin- und Herwanderns des Blickes« ins Feld geführt hat) zwischen zwei Elementen, die, um es noch einmal zu sagen, nur der Akteur der

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jeweiligen Phase (der Richter oder der Gesetzgeber) beleben oder aktivieren kann. Das ist auch der Grund, warum Recht hier als »Übereinstimmung zwischen Sein und Sollen« bezeichnet wird. Von hier aus gelangt Kaufmann zu diversen theoretischen »Entdeckungen«. Eine davon hat eminente Bedeutung, und zwar sowohl in Bezug auf die im genannten Artikel behandelte Thematik als auch für die gesamte Juristische Hermeneutik. Es ist eine Entdeckung, die ihre Wurzeln in Radbruchs Lehre hat und in den Engisch’schen Kategorien weiterentwickelt wurde – ein weiteres Indiz für die eben nicht nur scheinbare Einheit der Juristischen Hermeneutik. Gemeint ist die Definition der »Subsumtion« als »Gleichsetzung des als wirklich vorgestellten Sachverhalts mit den Sachverhalten, die im gesetzlichen Tatbestand gemeint sind« und das daraus folgende explizite Postulat des »analogischen Charakters der Subsumtion«, ein Postulat, das es an dieser Stelle einzuführen galt, dessen Problematik in Bezug auf die Strafrechtsentscheidung aber erst in Teil III weitergehend behandelt wird. Die Textpassagen aus »Tatbestand und Typus«, die in diesem ersten Teil unseres Sammelbandes vorgestellt werden sollen, sind das eigentliche Herzstück der theoretischen Studien, die Winfried Hassemer in seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 1967 (erschienen erst im Folgejahr) durchgeführt hat. In seiner Erörterung über den Prozess der Rechtsauslegung im strafrechtlichen Verfahren, genauer : über die Phänomenologie des Strafurteils, behandelt Hassemer vor allem in den vorliegenden Auszügen die Lehre Kaufmanns, dessen bevorzugter Schüler er war, und spiegelt dadurch auch Inhalte der Lehre Radbruchs wider. Bei Hassemer finden sich allerdings auch Ansätze anderer wichtiger Hermeneutiker seiner Zeit wie Engisch und Larenz, die er verarbeitet, aber nicht, ohne aus ihnen teils originelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Hassemers Denken geht, wie immer in der Juristischen Hermeneutik, von praktischen Erfahrungen unmittelbarer Evidenz im Rechtsbetrieb aus (»von den Sachen selbst«, wie man mit Husserl sagen könnte). Es hat wenig Sinn, so der Rechtsphilosoph und Strafrechtler Hassemer, bei der Frage nach der strafrechtlichen Erheblichkeit jeden einzelnen Aspekt eines Lebenssachverhalts zu berücksichtigen. Vielmehr seien nur Aspekte, die auch Merkmale desjenigen Tatbestandes sind, der als Maßstab herangezogen wird, von Bedeutung. Andererseits drückt der Tatbestand, wie Hassemer ihn definiert, also die Beschreibung der in der Strafnorm gemeinten Fälle, etwas aus, das sich in unzähligen ähnlichen Tatsachen ausdrücken könnte bzw. das in seinem Wesen der Wirklichkeit gegenüber offen ist, und also in jedem einzelnen Fall immer wieder Stück für Stück auf Übereinstimmung hin überprüft werden muss. Auf diese Weise leiden Tatbestand und Lebenssachverhalt, also normatives und faktisches Element, an einer ihnen ureigenen Unvollständigkeit (»Rohmaterial« wie Kaufmann es in seiner »Rechtsphilosophie« nennt). Eine solche Unvollständigkeit

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macht die direkte mechanische Subsumtion des einen unter den anderen unmöglich und ruft mit voller Macht die Aktivierung eines hermeneutischen Prozesses der gegenseitigen »Entfaltung« auf den Plan. Mit anderen Worten: Um zu entscheiden, ob ein Lebenssachverhalt einem bestimmten Tatbestand zuzuordnen ist, muss Schritt für Schritt auf der Grundlage des Tatbestandes festgestellt werden, welche Merkmale des Lebenssachverhaltes potentiell juristisch relevant sind (Bildung eines rechtlichen Sachverhaltes), um so, ebenfalls Schritt für Schritt, in Abhängigkeit dieses Lebenssachverhalts den normativen Sinn des Tatbestandes zu ergründen, der ja vorerst nur einem vorläufigen Verständnis entsprang (eine eingehende Untersuchung dieser beiden Begriffe findet sich in Teil II der vorliegenden Anthologie). Wie schon zuvor bemerkt, ist die Darstellung des hermeneutischen Prozesses als (gegenseitige) »Entfaltung« eine Wiederaufnahme des Bildes des »Hin- und Herwanderns des Blickes« (Engisch), ein dialektischer Prozesses (Larenz) und »ein Hand in Hand gehendes Hinübertasten vom Bereich des Seins in den Bereich des Sollens und vom Bereich des Sollens in den Bereich des Seins« (so Kaufmann, ein Bild, das zuerst Radbruch entworfen hat). Letzteres setzt Hassemer sogar im genauen Wortlaut ein. Wenn es bis hierher um Ideen gegangen ist, die auf die eine oder andere Art und Weise bereits in der Juristischen Hermeneutik entwickelt worden sind, so wollen wir uns jetzt daran machen, zu erklären, wo und inwieweit Hassemer Neues geschaffen hat und eigene Wege gegangen ist. Aus der Vielzahl der wirklich eigenen Denkimpulse sollen hier wenigstens drei aufgezeigt werden: – Zunächst einmal verfolgt er einen bereits bei Engisch zu findenden Gedankengang und zeigt auf, dass die oben beschriebene Dynamik nicht in einem Teufelskreis endet. Wenn nun aber Engischs Verteidigung des Prinzips lediglich implizit darauf abstellte, dass man nur auf logischer Ebene von einem Teufelskreis sprechen kann, während die Dialektik zwischen normativem und faktischem Element in den Bereich der Phänomenologie gehört, ist Hassemers Apologie breiter aufgestellt. Während im Fall einer petitio principii ein Schlusssatz von einer feststehenden Prämisse abgeleitet wird, die sie bereits selbst zur Gänze enthält, macht Hassemer dagegen deutlich, dass die gegenseitige Bestimmung von Tatbestand und Sachverhalt im hermeneutischen Prozess der Entfaltung immer nur vorläufig und annäherungsweise geschieht und dass diese fortschreitende Definition im Laufe des hermeneutischen Prozesses immer wieder neu anzugleichen ist. – Das ist auch der Grund, und damit kommen wir zum zweiten Punkt, warum Hassemer die Dynamik des dialektischen Prozesses zwischen normativem und faktischem Element in dem Bild einer Spirale sieht (und nicht wie seine Vorgänger eines einfachen Kreises). Das Bild von der hermeneutischen Spi-

Einleitung von Gaetano Carlizzi

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rale, in der viele nachfolgende Denker das einzige Verdienst Hassemers um die Hermeneutik sehen wollen, beschreibt, dass das Verständnis von Tatbestand und Sachverhalt als wechselseitiges Entfalten nicht auf derselben Stufe geschieht, sondern sich zwar im Kreis bewegt, aber dabei auf eine immer höhere Stufe gelangt. – Weil uns das Bedürfnis nach Rechtssicherheit beim hermeneutischen Prozess dazu zwingt, dem »Sich-in-die-Höhe-Winden« früher oder später ein Ende zu setzen, und zwar mithilfe derselben »Mitte«, die die schrittweise Annäherung von Tatbestand und Sachverhalt ermöglicht, postuliert Hassemer – als drittes innovatives Element – diese »Mitte« in der Kategorie des Typus (Gegenstand des III. Teils dieser Anthologie) und unterstreicht so die (gleichermaßen gefeierte wie noch unverstandene) »typologische« Orientierung der strafrechtlichen Auslegung.

1.

Rechtsidee und Rechtsstoff. Eine Skizze (Gustav Radbruch)

Die Idee erhebt den Anspruch, über den Stoff zu herrschen. Das heißt aber : sie gilt für einen bestimmten Stoff, ist auf diesen Stoff hingeordnet – ist also von dem Stoff, den sie beherrschen will, wiederum mitbestimmt. Wie die künstlerische Idee sich dem Material bequemt, eine andere ist, wenn sie in Bronce, eine andere, wenn sie in Marmor sich verkörpern will, so ist es jeder Idee eingeboren, materialgerecht zu sein. Wir nennen dies Verhältnis die Stoffbestimmtheit der Idee, indem wir uns den Doppelsinn dieser Bezeichnung – durch den Stoff bestimmt, weil für den Stoff bestimmt – bewußt zu eigen machen, und wir bezeichnen die Idee, insofern wir sie vor aller und unabhängig von aller Stoffbestimmtheit zu denken suchen, als die reine Form der Idee. Das Verhältnis, das wir meinen, darf nicht als ein empirisch-kausales Verhältnis mißverstanden werden. Ein solches kann nur zwischen zwei Tatsächlichkeiten bestehen; unter Idee aber verstehen wir nicht eine tatsächliche Wertvorstellung, sondern den überwirklichen Wert selber. Nicht von dem Einfluß von Umwelt, Geschichte, Charakter auf die Wertvorstellungen der Menschen ist hier die Rede, nicht in der soziologischen, historischen, psychologischen Welt spielt sich die hier zum Problem gestellte Beziehung ab, vielmehr in der logischen Sphäre. Aber sie stellt sich wiederum nicht als ein formallogisches Verhältnis dar, als ein Subsumtionsverhältnis etwa, das Form und Stoff miteinander eingehen, um als Schlußfolgerung die Idee zu begründen. Denn Form und Stoff sind nicht etwa fertige Gedanken, mit denen man nun formallogisch operieren könnte, vielmehr ist die Idee ohne Stoffbestimmtheit überhaupt nicht denkmöglich. Der systematische Ort für die Bestimmung der Idee durch ihren Stoff ist also jene Logik, die sich mit der Struktur der Denkgegenstände selber befaßt, die transzendentale Logik. Nun ist es aber der transzendentalen Logik eigentümlich, daß sie Denkgegenstände zwar analysieren, aber nicht produzieren kann. Sie kann nachweisen, daß in einem Kausalurteil sich die Form der Kausalität mit dem Stoff einer konkreten Ereignisfolge zusammengefunden hat, niemals aber selber Kausalform und Begebenheit zu einem Kausalurteil paaren. Die Anziehungskraft,

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Gustav Radbruch

durch welche sich die Kausalform zu bestimmten Begebenheiten hingezogen fühlt, wenn ein Kausalurteil gefällt wird, die Hinordnung der Kausalform auf ihren Stoff bleibt deshalb durchaus geheimnis-[454]voll, und so bleibt auch geheimnisvoll, in welcher Weise in der Idee die Form die Hinwendung auf diesen Stoff erfährt. Man muß sich darauf beschränken, festzustellen, daß gegebene Ideen durch eine Affizierung der reinen Form durch ihren Stoff zustande gekommen sind, ohne das formale Element stoffrein darstellen, seine Stoffbestimmung experimentell vornehmen und ihr Maß zuverlässig ermitteln zu können. Man kann das formale Element der Idee immer nur in seiner Beziehung auf das stoffliche Element denken, und so ergibt sich, daß die transzendentallogische Kritik der Ideen sich, zwar gewiß nicht in der Ebene der Wirklichkeit, aber auch nicht in einer purlauter überwirklichen Sphäre abspielt, vielmehr einem ununterbrochenen Hin und Her zwischen Form und Stoff gleichen muß, das ebensowohl als Idealisierung des Wirklichen, wie als Bestimmung der Wertidee mit Rücksicht auf ihr stoffliches Substrat beschrieben werden kann – eine Einsicht, die geeignet ist, das schroff methodendualistische Dogma in etwas zu mildern. Die Stoffbestimmtheit der Idee läßt sich an der Rechtsidee besonders lehrreich veranschaulichen. Der Streit zwischen Naturrechtslehre einerseits, Historismus und historischem Materialismus andererseits wird am besten begriffen als ein Streit über das Maß der Stoffbestimmtheit der Rechtsidee. Die Naturrechtslehre glaubt die Widerstandskraft des Stoffes gegen die Idee gleich Null setzen zu können. Der Stoff des Rechts wird von ihr völlig verflüchtigt. Sie betrachtet als Materie der Rechtsidee nicht eine bestimmte historische Lage, sondern den Naturzustand und schildert diesen Naturzustand nicht als ein soziologisches Verhältnis, vielmehr als ein ungeselliges Nebeneinander der Einzelnen, zwischen denen, durch keine vorhandene soziologische Bindung gehemmt, gesellschaftliche Beziehungen allererst zu stiften der Rechtsidee vorbehalten bleibt. Und weil die Naturrechtslehre keinen historischen oder soziologischen Stoffwiderstand kennt, leugnet sie die Wandelbarkeit der Rechtsidee, die ja nur aus ihrem stofflich-konkreten Element, nicht aus der ganz leeren und deshalb ganz allgemeinen reinen Form entspringen kann, behauptet sie ein ewig, überall gleiches Rechtsideal. Es ist oft geschildert worden, wie sich an der Naturrechtslehre der von ihr verleugnete Stoffwiderstand heimlich rächte, wie sie unter dem Schein einer Rechtsidee der zeitlosen Vernunft in Wahrheit nur die Rechtsidee des heraufkommenden individualistischen Zeitalters, des aufsteigenden dritten Standes verfocht. Und so wurde sie abgelöst durch den Historismus und später den historischen Materialismus, die in schroffem Gegensatze zu ihr das formale Element der Rechtsidee gleich Null setzten, die Rechtsidee le-[455]diglich als eine Erscheinungsweise des Rechtsstoffs auffaßten – heiße es nun Volksgeist

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oder Wirtschaft – , dem sie ohne eigengesetzliche Bewegung widerstandslos folge, durch und durch zeitlich und national bedingt. Aber selbst bei Friedrich Engels schleicht sich unversehen das Zugeständnis ein, daß Recht und Staat, die zunächst als nur »scheinbar« über den widerstrebenden Interessen, über der Gesellschaft stehend geschildert werden, doch »eine gewisse Selbständigkeit erhalten«, »sich der Gesellschaft mehr und mehr entfremden« können. So ergibt sich für das Verhältnis der Rechtsidee zum Rechtsstoff das Bild relativer Selbständigkeit bei relativer Abhängigkeit. Freilich befinden wir uns hier nicht eigentlich auf dem Boden unseres transzendentallogischen Problems, nicht das Verhältnis der reinen Form der überwirklichen Rechtsidee zu ihrem stofflichen Element steht in Frage, sondern das historische Verhältnis wirklich herrschender Rechtsauffassungen und Rechtsordnungen zu den gesellschaftlichen Wirklichkeiten ihrer Zeit. Aber es hatte sich ja schon in den früheren Ausführungen ergeben, daß dieses transzendentallogische Maßverhältnis nicht beweiskräftig festgestellt werden kann: es kann nur an dem empirischen Verhältnis der rechtlichen zu den sozialen Geschichtswirklichkeiten ihrer Zeit veranschaulicht werden. Es ist eine der vornehmsten Aufgaben einer Geschichtsphilosophie des Rechts, den wechselnden Spannungsgrad zwischen Rechtsform und Gesellschaftslage aufzuzeigen, das wechselnde Maß aufzuzeigen, in dem sich die Gesellschaftslage in der Rechtsform ausdrückt1. Die Geschichtsphilosophie des individualistischen Zeitalters, wie es in der Rezeption und der Aufklärung sich ausdrückt, wird einen überaus hohen Spannungsgrad zwischen Form und Stoff des Rechts feststellen müssen. Das überkommene Privatrecht sieht als ein Recht zwischen Gleichen bewußt von der sozialen Ungleichheit des Einzelnen ab, weiß z. B. nichts von den gegensätzlichen Typen des Unternehmers und des Arbeiters; es geht von einer Vertragsfreiheit aus, die sich in der Rechtswirklichkeit aufseiten des sozial Abhängigen in ihr Gegenteil verkehrt, wenn nicht eine Organisation hinter ihm steht;[456] und es weiß nur von Individualverträgen, die von den wahrhaft vertragschließenden Kollektivmächten, die dahinter stehen, nichts verraten. Ebenso fiktiv setzt das öffentliche Recht der Demokratie Gleichheit voraus, indem es jedem eine und nur eine Stimme gewährt, Freiheit, indem es die Stimmen als Ergebnis eigenster Entscheidung, Mehrheit und Minderheit nur als nachträglich 1 Wohl zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit sich der Rechtsstoff in der Rechtsform ausdrückt, von der andren, inwieweit der Rechtsstoff auf die Rechtsform wirkt. Jener Bedeutungszusammenhang und dieser Kausalzusammenhang fallen keineswegs zusammen. Die individualistische Rechtsauffassung drückt, wie der Text zeigt, inhaltlich die Gesellschaftslage ihrer Zeit nur mit starker Linienverschiebung aus, ist aber durch die Bedürfnisse des aufsteigenden Bürgertums, also durch den Rechtsstoff durch und durch kausal bestimmt. Für unsere Betrachtung, die letzten Endes der Rechtsidee, einer reinen Bedeutung gilt, kommt aber nur jener Bedeutungszusammenhang in Betracht.

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gezogene Summen zufällig gleicher Einzelentscheidungen betrachtet, Vertretbarkeit, indem es in der Volksvertretung das verkleinerte, aber getreue Abbild des Volksganzen, in der Beamtenschaft einen Apparat erblickt, der den verfassungsmäßigen Mehrheitswillen reibungs- und restlos verwirklicht. Demgegenüber zeigt die soziologische Betrachtung der demokratischen Gesellschaft Ungleichheit des Besitzes, der Bildung, der Anlagen, Führer und Geführte; Verbandsmenschen, die nicht aus freiem Individualentschluß, sondern unter dem Einflüsse mannigfachster Gruppensuggestionen wählen und stimmen; Mehrheiten, die nicht nachträgliche Summierungen freier Einzelentscheidungen sind, sondern soziologische Mächte verkörpern, welche die einzelne Stimmabgabe von vornherein bestimmen; Volksvertretungen, die keineswegs Abbilder des Volksganzen sind, sondern soziologische Sondergebilde mit sehr starker soziologischer Sonderbewegung, und eine Beamtenschaft, die keineswegs eine Maschinerie in der Hand der Parlamentsmehrheit, vielmehr ein soziologischer Organismus mit bedeutendem Eigenwillen ist. Demgegenüber bedeuten Sozialpolitik und Wirtschaftsdemokratie, – und würde eine berufsständische Gesamtverfassung2 bedeuten – eine Wiederannäherung der Rechtsform an den Rechtsstoff. Nicht mehr fiktive freie und gleiche Einzelwesen, sondern die wirklichen vergesellschafteten Menschen bilden jetzt den Ausgangspunkt der Rechtsordnung. Mannigfache Gruppierungen, welche die Gesellschaft hervorgebracht, das Recht aber bisher unbeachtet gelassen hatte, sind jetzt in seinen Gesichtskreis getreten. In der Listenwahl gewinnt das soziologische Gebilde der Partei juristische Realität. Bei der Besetzung der Gewerbe- und der Kaufmannsgerichte wird die Klassenzugehörigkeit der Laienrichter von der Rechtsordnung in Rechnung gestellt, die bei der Auswahl der Schöffen und der Geschworenen noch unbeachtet bleibt. Im Tarifrecht treten die großen Wirtschaftsverbände, die für die juristische Betrachtung bisher hinter den Kulissen standen, auf die Bühne, auf der bisher nur die Einzelkontrahenten agierten. Im Be-[457]triebsrätegesetz wird der Betrieb, für den Juristen bisher nur eine Vielheit von Arbeitsverträgen desselben Arbeitgebers mit untereinander durch keinerlei Rechtsband verbundenen Arbeitnehmern, zu einer rechtlich organisierten Einheit. Man wird hiernach bei der sozialen Rechtsidee im Vergleich mit der liberalen und demokratischen Rechtsidee einen stärkeren Grad an Stoffbestimmtheit feststellen müssen3.

2 Die vom Verf. trotz ihrer größeren Stoffnähe abgelehnt wird, wie die Demokratie trotz ihres fiktiven Charakters von ihm bejaht wird. Mit der Unterscheidung von Entfernung und Annäherung zwischen Rechtsform und Rechtsstoff ist ein Werturteil nicht verbunden. 3 Es müßte jedoch zum Zwecke einer zuverlässigen Feststellung dieser Art nicht nur das Verhältnis der rechtlichen Tatbestände zu den gesellschaftlichen Sachverhalten, sondern auch das

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Wir haben in den bisherigen Betrachtungen mit Form und Stoff der Rechtsidee wie mit zwei Unbekannten gerechnet. Es soll jetzt versucht werden, den Stoff der Rechtsidee oder, was auf das gleiche herauskommt, den Stoff des Rechts genauer zu bestimmen4. Welches ist das Substrat, auf das Recht und Rechtsidee Anwendung finden wollen? Nicht die sinnenfällige, kategorial noch ganz ungeformte Gegebenheit. Denn Rechtsanwendung bedeutet Subsumtion von Rechtsfällen unter Rechtssätze. Unter Begriffe subsumieren aber kann man nur eine begrifflich geformte Gegebenheit. Die Rechtswissenschaft setzt also eine begriffliche Vorformung ihres Stoffes voraus, ist nicht wie die Naturwissenschaft begriffliche Urproduktion, sondern Begriffsarbeit zweiten Grades. Die begriffliche Formung der Gegebenheit kann sich aber in verschiedener Richtung bewegen, die Gegebenheit ganz verschiedenen Begriffssystemen eingereiht werden. Welche dieser Formungen ist diejenige, die von der Rechtsordnung vorausgesetzt wird? Die Naturrechtslehre geht von der mittels naturalistischer Begriffe vorgeformten Gegebenheit aus. Sie kennt keine Gesellschaft, die nicht erst vom Recht gestiftet würde. Sie sieht von der vorrechtlichen Gesellschaft lediglich das, was ein nur mit naturalistischen Kategorien bewaffnetes Auge von ihr sehen kann: die atomisierte Summe der unverbundenen Einzelnen. Aber auch in der positiven Rechtswissenschaft spielt ein naiver Naturalismus eine Rolle, z. B. wenn als Eckstein des Strafrechts der Handlungsbegriff [458] angesehen und die Handlung als eine willentliche Körperbewegung bestimmt wird, die gewisse Veränderungen in der Außenwelt hervorgerufen hat. Der naturalistische Begriff der Handlung ist völlig ungeeignet, den weiteren Verbrechensmerkmalen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit, der Zurechenbarkeit zum Träger zu dienen. Man versuche einmal, den Tatbestand eines Verbrechens, die seine Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen und damit den Vorstellungsinhalt des Vorsatzes, der Fahrlässigkeit nur als Körperbewegung und Außenweltsveränderung bestimmter Art auszudrücken, eine Beleidigung etwa als eine Reihe von Kehlkopfbewegungen, Schallwellenerregungen, Gehörreizungen und Gehirnvorgängen – das wesentlichste: der sprachliche Sinn und die soziale Bedeutung der Beleidigung bliebe ganz außerhalb des so konstruierten Be-griffs! Verhältnis der an jene Tatbestände geknüpften Rechtsfolgen zu den sozialen Wirkungen dieser Sachverhalte geprüft werden. 4 Die reine Form der Rechtsidee soll in diesem Zusammenhang nicht bestimmt werden. Sie wäre jedoch einer Begriffsbestimmung fähig, da sie selbst von stofflichen Elementen nicht frei ist. Die reine Form der Rechtsidee stellt sich nämlich dar als die durch den Stoff »Recht« bestimmte Idee schlechthin. Die reine Form der Idee schlechthin kann nur noch bestimmt werden als die Eigenschaft, kraft deren die Idee eben Idee ist. (Lasks Lehre von der Bedeutungsdifferenzierung hat auf diese wie auf die gesamten Ausführungen Einfluß geübt.)

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Die Beleidigung und nicht anders die Mißhandlung, die Vorschubleistung zur Unzucht, die Urkundenfälschung, und welchen Tatbestand immer man wähle, läßt sich nicht als naturalistisch gedachte Handlung bestimmter Art auffassen, vielmehr von vornherein nur als ein Ereignis des Gesellschaftslebens begrifflich erfassen. Die Urstoffe des Strafrechts sind mittels sozialer Begriffe vorgeformte Gegebenheiten. Weiter : Zum Abschluß etwa eines Kaufes genügt es nicht, daß die Kontrahenten sich der Begegnung zweier konvergierender Reihen von Schallwellen bestimmter Art oder des Austausches zweier mit Tintenzügen bestimmter Art oder des Austausches zweier mit Tintenzügen bestimmter Linienführung versehener Papierstücke bewußt waren, sie müssen – zwar auch nicht den Inbegriff der Rechtssätze, die den Kauf im Rechtssinne ausmachen, wohl aber den Sachverhalt, der im gewöhnlichen Leben Kauf genannt wird, in ihren Willen aufgenommen haben. Wiederum bildet nicht ein naturalistisch gedachter Vorgang, vielmehr eine mittels sozialer Begriffe vorgeformte Gegebenheit den Inhalt: des Vertragswillens, den Urstoff des Vertragsrechts. Hiernach darf abschließend gesagt werden: Stoff des Rechts ist die mittels sozialer5 Begriffe vorgeformte Gegebenheit. Diese sozialen Begriffe sind vorrechtlicher Art, aber sie entsprechen rechtlichen Begriffen, besser : ihnen entsprechen rechtliche Begriffe, gewissermaßen begriffliche Greifzangen der Rechtsordnung, der Gestalt der sozialen Sachverhalte nach Kräften angepaßt, um diese packen und rechtlicher Behandlung zuführen zu können. Es sind dies die Begriffe, aus denen [459] die gesetzlichen Tatbestände aufgebaut sind6. Bei der Rechtsanwendung wird die mittels sozialer Begriffe vorgeformte Gegebenheit den diesen Begriffen nachgebildeten Tatbestandsbegriffen subsumiert. So erscheinen übereinstimmende Begriffe bei der Beantwortung der Tat und bei der Beantwortung der Rechtsfrage, es wird zu einer Sache des Beliebens, ob man die Anwendung solcher Begriffe als tatsächliche Feststellung oder als rechtliche Würdigung aufmacht, und die auf diesen Gegensatz gegründete Unterscheidung von Berufung und Revision erweist sich als ebenso undurchführbar, wie anerkanntermaßen die Scheidung zwischen Tat- und Rechtsfrage im schwurgerichtlichen Verfahren sich erwiesen

5 Soziale Begriffe nenne ich die sozialwissenschaftlichen Begriffe und die in das Gebiet der Sozialwissenschaft gehörigen vorwissenschaftlichen Begriffe. 6 Ich habe sie an anderer Stelle im Gegensatz zu den »Rechtsbegriffen i. e. S.«, welche die Rechtswissenschaft erst erzeugt, um sich den Verfügungsgehalt der Rechtssätze begrifflich zu eigen zu machen (Begriffe von Rechten, Pflichten, Rechtsverhältnissen) als »rechtlich relevante Begriffe« gegenüberstellt, weil sie von der Rechtswissenschaft nicht gebildet, sondern aus der Sozialwissenschaft oder Vorwissenschaft (mit den im Interesse der »Praktikabilität« erforderlichen rechtstechnischen Modifikationen) übernommen werden.

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hat, die infolgedessen der Scheidung zwischen Schuld- und Straffrage weichen mußte. Auch das Wesen des Subsumtionsirrtums gelangt in diesem Zusammenhang zur Klärung. Die Strafrechtswissenschaft rechnet den Subsumtionsirrtum vielfach dem Rechtsirrtume zu. In Wahrheit wird bei ihm verabsäumt, die Tat – nicht etwa den Tatbestandsbegriffen des Gesetzes zu subsumieren, dessen Dasein der Täter vielmehr überhaupt nicht gekannt zu haben braucht, vielmehr denselben Begriffen, denen auch das Gesetz sie unterordnet – eben jenen sozialen Begriffen, denen die gesetzlichen Tatbestandsbegriffe entsprechen. Der Subsumtionsirrtum ist also dem Tat- nicht dem Rechtsirrtum zuzugesellen. Vor allem aber erleuchtet die gewonnene Einsicht das Schlagwort von der »Natur der Sache«. Rechtsentscheidungen aus der Natur des Rechtsstoffs zu begründen, ist nur deshalb möglich, weil der Rechtsstoff eine sozialbegrifflich vorgeformte Gegebenheit darstellt, weil etwa Stoff der Rechtssätze über den Kauf der Kauf als Tatsache des sozialen Lebens ist. Nach der Natur der Sache entscheiden heißt, sich den Sinngehalt solcher sozialen Lebenstatsachen zu eigen machen und (phänomenologisch) zu Ende denken. Freilich kann man eine Rechtsentscheidung nur aus einer Sozialtatsache rechtlicher Art ableiten. In der Tat sind z. B. der Kauf, die Miete, die Ehe, wie sie den Stoff des Rechts bilden, Rechtstatsachen – und so scheinen wir zu dem Widersinn zu gelangen, daß zum Stoffe des Rechts – das Recht selber gehöre! [460] In Wahrheit liegt ein solcher Zirkel hier nicht vor. Denn das Recht, wie es in den Zusammenhang des Gesellschaftslebens unlösbar verflochten ist, und das Recht, das den Inhalt der Gesetze ausmacht, die Rechtswirklichkeit und die Rechtsordnung, Recht als Macht und Recht als Lehre (um mit Ad. Merkel zu reden), sind deutlich genug voneinander unterschieden, jenes eine unter anderen sozialen Tatsächlichkeiten, dieses eine Welt unwirklicher Bedeutungen. Mit gutem Sinne kann die Rechtswirklichkeit zum Stoffe des Rechts und der Rechtsidee gerechnet, die Frage nach der Stoffbestimmtheit der Rechtsidee auch dahin gewendet werden, inwieweit bestehendes Recht, erworbene Rechte, gegebene Rechtstatsachen für die Rechtsidee mitbestimmend seien. Eine Frage, die das Naturrecht nach der einen, das Legitimitätsprinzip nach der entgegengesetzten Seite extrem beantwortet, Goethe aber (in den Wanderjahren), indem er die jeweils gewonnene Staatsform weder ignoriert noch heiligt, vielmehr eben als gegeben hinnimmt, in geistreich prägnanter Zuspitzung so löst, daß er »die bürgerliche Gesellschaft, welcher Staatsform sie auch untergeordnet wäre, als einen Naturzustand anzusehen« heißt.

2.

Interpretation, Beweis und Subsumtion in der logischen Struktur des Rechtsurteils (Karl Engisch)

[3] Alles praktisch-juristische Interesse konzentriert sich letztlich auf die Gewinnung konkreter rechtlicher Sollensurteile1. […] [5] Indem das konkrete juristische Sollensurteil – als dessen vornehmstes Beispiel immerhin das richterliche Erkenntnis (als Denkgebilde) gelten kann – Anspruch auf Wahrheit, auf Richtigkeit erhebt, bedarf es der Begründung. Diese Begründung braucht nicht unbedingt dem Gesetz entnommen zu werden. Als Quelle der Rechtfertigung kann z. B. das Rechtsgefühl, das gesunde Volksempfinden benutzt werden, wobei immerhin zweifelhaft ist, wieweit auf diese Weise Wahrheit verbürgt werden kann. Das Gesetz ist die wichtigste Erkenntnisquelle für den Juristen der Neuzeit. […] Gegenstand der folgenden Untersuchung soll vielmehr die logische Struktur der Gesetzesanwendung auf den einzelnen Fall mit dem Ziel der Gewinnung eines begründeten juristischen konkreten Sollensurteils sein. […] [6] Dieses Thema soll allerdings – wie hier gleich bemerkt sei – nicht erschöpfend behandelt werden. Die Konkretisierung der im Gesetz möglicherweise nicht genau bestimmten Rechtsfolge soll nicht Gegenstand unserer Betrachtung sein, wie wir überhaupt die Sonderprobleme des »richterlichen Ermessens« nicht behandeln wollen. […] Unser Interesse gilt an dieser Stelle im Wesentlichen dem »Untersatz« des juristischen Schlusses und nur in diesem Sinne der »Begründung des konkreten juristischen Sollensurteils aus dem Gesetz«. […] [7] Die Begründung aus dem Gesetz vollzieht sich nun bekanntlich in Form eines Schlusses2. Es erhebt sich aber einmal die Frage, um was für eine Art von Schluß es sich hier 1 Vgl. zum folgenden namentlich Bierling, Jur. Prinzipienlehre IV, 1911, § 47, S. 3ff.; Sauer, Jur. Methodenlehre, 1940, S. 20/21. 2 Rumpf, Der Strafrichter I, 1912, S. 215/16 will überhaupt bestreiten, daß sich die Rechtsanwendung »in die enge Fessel eines formalen aristotelischen Subsumtionsschlusses« einzwängen lasse. Dies sei deshalb unmöglich, weil das Recht »vom Willen und Gefühl stark abhängig ist, also von zwei Faktoren, die mit einem formalen Subsumtionsschluß nie fruchtbar in Verbindung gebracht werden können«. Dagegen betont etwa Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, 1925, S. 356f., 377ff., obwohl er es an Berücksichtigung der Willensund Gefühlsmomente im Recht gewiß nicht fehlen läßt, mit Nachdruck die Unverzichtbarkeit der logischen Formen für das juristische Denken. S. namentlich S. 386.

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handelt, und dann die Frage, wie die betreffende Schlußweise im einzelnen wirksam wird, insbesondere wie die Vordersätze in ihr zustandekommen. […] [8] Wenn wir die Schlußweise als solche kennen lernen wollen, müssen wir ein ganz einfaches Beispiel wählen, wo es auf die innere Struktur der Prämissen selbst noch gar nicht ankommt, also etwa: Der Mörder wird mit dem Tode bestraft (= soll mit dem Tode bestraft werden) M ist Mörder M wird mit dem Tode bestraft (= soll mit dem Tode bestr. w.). […] [9] [S]o ist evident, daß es ohne Sinnänderung noch in einer anderen geläufigen Gestalt erscheinen kann, nämlich: Wenn jemand als Mörder einen Menschen tötet, so soll er … bestraft werden M hat als Mörder einen Menschen getötet M soll … bestraft werden. […] [13] Schopenhauer hat einmal gesagt: »Der gesunde Mensch ist gar nicht in Gefahr, falsch zu schließen, aber gar sehr, falsch zu urteilen. […] aber die Schwierigkeit und die Gefahr zu fehlen, liegt im Aufstellen der ›Prämissen‹«3. […] Untersuchen wir zunächst den Obersatz4. Wir sagten schon, daß nicht der gesetzliche Imperativ als solcher ihn bildet, sondern ein generelles Sollensurteil, das wir dem Gesetz entnehmen. [14] Dabei genügt gewöhnlich nicht eine einfache Verwandlung des Imperativs in ein Urteil, sondern es bedarf meist gedanklicher Operationen, um den für die Ableitung des konkreten Sollensurteils geeigneten Obersatz aus dem Gesetz zu gewinnen. Der Obersatz muß vermittels Auslegung oder sonstiger hier nicht näher zu behandelnder Methoden aus dem Gesetz entwickelt werden. Außerdem muß er regelmäßig erst aufgebaut werden aus eventuell weit zerstreuten Gesetzesvorschriften5. Beides können wir wieder an § 211 StGB studieren. Zur Beurteilung eines konkreten Falles genügt hier nicht die Umwandlung der Gesetzesvorschrift (»Der Mörder wird mit dem Tode bestraft«) in ein Sollensurteil (»Nach § 211 StGB, gilt: Der Mörder soll mit dem Tode bestraft werden«). Denn zunächst müssen wir einmal wissen, wer eigentlich ein Mörder ist. Und Hand in Hand mit der Aufklärung des Begriffs »Mörder« müssen wir andere Gesetzesvorschriften heranziehen. So gelangen wir etwa zu einem Obersatz wie diesem: »Der zurechnungsfähige Mensch (wozu §§ 51, 58 3 Vorlesungen über die gesamte Philosophie, hrsg. von Deussen (Sämtl. Werke, Bd. IX), 1913, S. 360/61 (zitiert auch bei Walder, Grundlehre jeder Rechtsfindung, 1928, S. 16). S. auch Schuppe, Grundriß der Erk.Theorie und Logik, 1894, S. 53. Kritisch Scholz, Bl. f. D. Philos. X, S. 268/69: »Immer noch ist der tiefliegende Schopenhauer’sche Irrtum nicht ausgerottet, daß das Schließen leicht und nur das Urteilen schwer ist«. 4 Dazu Bierling, Jur. Prinzipienlehre IV, 1911, S. 147ff., 205/06; Baumgarten, Wissenschaft vom Recht I, 1920, S. 204ff. 5 Hierzu Engisch, Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 26ff.; außerdem Stammler, Theorie der Rechtswissensch., 1911, S. 659ff.

Interpretation, Beweis und Subsumtion in der logischen Struktur des Rechtsurteils

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StGB, und JGG), der ohne Rechtfertigungsgrund (wie z. B. Notwehr, § 53 StGB) und ohne Entschuldigungsgrund (wie z. B. Notstand, § 54 StGB) einen andern Menschen vorsätzlich (§ 59 StGB) tötet und dabei aus Mordlust usw. handelt, soll als Mörder mit dem Tode bestraft werden«. Wieweit dabei die Ergänzung aus anderen für sich mehr oder minder unselbständigen Gesetzessätzen geht, wird schon mitbestimmt durch den besonderen Fall, den es zu beurteilen gilt. So werde ich die Notwehr im Obersatz nur erwähnen, wenn der konkrete Fall, für den das Sollensurteil gewonnen werden soll, irgendwie einen Hinweis auf die Möglichkeit einer Notwehr enthält. Damit erhebt sich natürlich wieder eine logische Frage6. Handelt es sich hier nicht um einen Zirkel? Einerseits werden nur diejenigen Momente in den Obersatz einbezogen, für die der konkrete Lebensfall die Heranziehung anregt, andererseits soll ja der konkrete Lebensfall erst anhand der juristischen Obersätze beurteilt, innerhalb seiner das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden werden (sodaß z. B. bei einem konkreten Mord unwesentlich ist, ob das Opfer ein krebsleidender Mensch war, der sowieso in Kürze gestorben wäre; der Obersatz stellt eben auf dieses Moment nicht ab). Zugespitzt: Für [15] den Obersatz ist wesentlich, was auf den konkreten Fall Bezug hat, am konkreten Fall ist wesentlich, was auf den Obersatz Bezug hat7. Sieht man aber näher zu, so handelt es sich nur um eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt, nicht dagegen um einen fehlerhaften Zirkel8. Wir sehen also, daß die Entwicklung des Obersatzes sowohl eine intensive wie eine extensive Seite hat. Einerseits gilt es, den Obersatz durch Auslegung usw. zu entfalten, andererseits gilt es, den Obersatz durch Zusammenfügung von zerstreuten Gesetzespartikeln, Berücksichtigung von Ausnahmevorschriften und dergl. mehr in die Breite zu entwickeln9. 6 S. dazu auch Bierling, Jur. Prinzipienlehre IV, 1911, S. 46/47: Rumpf, Der Strafrichter I, 1912, S. 160ff., S. 207f. 7 Es »scheint ein Widerspruch darin zu liegen, daß dieselben Normen, die nach erfolgter Tatbestandsfeststellung aufzusuchen und auf ihre Anwendbarkeit für den gegebenen Fall zu prüfen sind, dennoch zugleich maßgebend sein sollen für die erst vorzunehmende Feststellung des Tatbestandes« (Bierling, Jur. Prinzipienlehre IV, 1911, S. 46). »Beim Aufsuchen der relevanten Tatsachen ist stets die rechtliche Schablone zielweisend und umgekehrt ergibt nur das Tatsächliche, an welchen Rechtssatz zu denken ist« (Beling, ZgesStrW. 37 [1916], S. 365). Vgl. auch Hellwig, GerS. 82, S. 421/22, und Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, 1925, S. 390f. 8 S. dazu Bierling, Jur. Prinzipienlehre IV, 1911, S. 46f. u. ö. 9 Bei der Benutzung von Legaldefinitionen verknüpfen sich diese beiden Funktionen aufs engste. Die Legaldefinition des Mörders in § 211 Abs. 2 StGB ergibt Auslegungsmaterial für die Entwicklung des Mörderbegriffs, indem sie formal-extensiv die Bestimmung des § 211 Abs. 1 ergänzt, der sie gleichsam in Klammern einzufügen ist. Ebenso sind die oben im Beispiel des Textes in den Obersatz aufgenommenen Begriffe der »Zurechnungsfähigkeit«, der »Notwehr«, des »Notstandes«, des »Vorsatzes« näher zu entwickeln an Hand der dort ange-

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Schenken wir unsere Aufmerksamkeit noch einen Augenblick jener intensiven Entfaltung. Wir haben schon oben betont, daß wir die spezifisch methodologische Seite der Gesetzesanwendung, also die Verfahren der Auslegung, Analogie usw. hier nicht behandeln wollen. Wir wollen aber doch wenigstens am Beispiel der Auslegung zeigen, wie sich diese Verfahren in ganz bestimmte logische Formen kleiden, wenn es sich um die Fixierung der Ergebnisse im Obersatz handelt10. Es handele sich etwa um die Auslegung des Be-[16]griffes »Mörder«. »Mörder« ist u. A. auch derjenige, der eine vorsätzliche Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln ausführt. Wann sind Mittel gemeingefährlich? Die Auslegung lehrt uns: »Der Gemeingefahr ist wesentlich, daß ihre Ursache und ihre Auswirkung sich der Berechnung und Beherrschung durch den Urheber der Gefahr entziehen« (so Kohlrausch, Kommentar z. StGB, IX 7 zu § 211 n. F.). In diesem Sinne ist z. B. ein Bombenwurf ein gemeingefährliches Mittel. Wollen wir dieses Ergebnis im Obersatz fixieren, so müssen wir offenbar folgendermaßen vorgehen: Der Mörder wird mit dem Tode bestraft – Wer mit gemeinfährlichen Mitteln einen Menschen vorsätzlich tötet, ist Mörder – Wer mit gemeingefährlichen Mitteln einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft – Wer mit Mitteln, deren Anwendung und Auswirkung sich der Berechnung und Beherrschung durch den sie Anwendenden entziehen, vorsätzlich einen Menschen tötet, tötet e. M. vorsätzlich mit gemeingefährlichen Mitteln – Wer mit Mitteln, deren Anwendung und Auswirkung sich der Berechnung und Beherrschung durch den sie Anwendenden entziehen, e. M. vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft. Wer mit Bombenwurf einen Menschen vorsätzlich tötet, tötet einen Menschen vorsätzlich mit Mitteln, deren Anwendung und Auswirkung sich der Berechnung und Beherrschung durch den sie Anwendenden entziehen – Wer mit Bombenwurf einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit dem Tode bestraft. Jetzt haben wir den spezielleren Sollenssatz, den wir brauchen, um einen Menschen, der in concreto eine Bombe geworfen und auf diese Weise einen Menzogenen gesetzlichen Bestimmungen, die man sich wieder in Klammern den betreffenden Begriffen selbst beigegeben zu denken hat. 10 Wir besprechen hier also nicht die logische Form der Auslegung selbst, sondern die logische Form der Einstellung der Auslegungsergebnisse in den Obersatz, der zur Begründung des konkreten juristischen Sollensurteils dienen soll. Die Auslegung selbst vollzieht sich in Urteilen wie: »Mordlust bedeutet ….«, »Gemeingefährliche Mittel sind Mittel, welche …«, »Unter Gemeingefahr ist zu verstehen …«. Diese Urteile müssen dann aber in geeigneter Form mit dem Obersatz in Verbindung gebracht werden. Hiervon handelt der Text.

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schen vorsätzlich getötet hat, richtig zu beurteilen und zum Tode zu verurteilen. Es zeigt sich auch die Richtigkeit der früher zitierten Beobachtung von Überweg: »Liegt zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung eine maßgebende Interpretation in der Mitte, so ist bei dieser das Gesetz der Obersatz, eine Annahme des Gerichtshofs, wodurch die Bedeutung eines im [17] Gesetz angewandten Ausdrucks deklariert wird, der Untersatz, und eine auf einen vorliegenden Einzelfall direkt anwendbare Norm der Schlußsatz«. Überweg sieht diesen Schluß als modus barbara an, er kann aber auch als reiner hypothetischer Schluß gefaßt werden, also etwa (wenn wir die obige Schlußkette der Einfachheit halber verkürzen) folgendermaßen: – Wenn jemand e. M. vorsätzl. mit gemeingefährlichen Mitteln tötet, so … – Wenn jemand mit Bombenwurf e. M. vorsätzl. tötet, so tötet er e. M. vorsätzl. mit gemeingefährlichen Mitteln – Wenn jemand mit Bombenwurf e. M. vorsätzl. tötet, so … Wir dürfen hier gleich ein Weiteres feststellen: Auf die eine oder die andere Weise werden ersichtlich vermittels der Gesetzesauslegung speziellere Fallgruppen dem gesetzlichen Tatbestand untergeordnet. Diese Unterordnung wollen wir zwecks Unterscheidung von der Subsumtion eines konkreten Einzelfalles unter das Gesetz als »Subordination« bezeichnen und können also nun sagen: Bei der Auslegung der Gesetze werden bestimmte Fallgruppen dem gesetzlichen Obersatz subordiniert und auf diese Weise speziellere Sollensurteile gewonnen im Wege eines Schlußverfahrens, bei dem die praemissa major das unmittelbare (bzw. das unmittelbarere) dem Gesetz entnommene generelle Sollensurteil, die praemissa minor die Subordination speziellerer Fallgruppen unter die »Tatbestandsmerkmale des Obersatzes« und die conclusio das speziellere zur Anwendung auf den konkreten Fall reifere (noch nicht aber das letztlich gesuchte konkrete) Sollensurteil ist. Was hier für den »Tatbestand« des Obersatzes gezeigt wurde, gilt übrigens entsprechend auch für die »Rechtsfolge« des Obersatzes, wo diese näherer Erläuterung bedürftig ist (Todesstrafe durch Enthauptung oder durch Erhängen oder durch Erschießen?). […] [18] Soviel über die Gewinnung des Obersatzes bei der Begründung des konkreten Sollensurteils aus dem Gesetz. Wir wenden uns nun dem Untersatz zu, der die Hauptprobleme der Gesetzesanwendung birgt. Hier wollen wir über das Formallogische hinausgehend tiefer eindringen. Für uns ist es nunmehr gleichgültig, auf welche Weise der Obersatz gewonnen wurde, wir nehmen ihn als gegebene Größe hin. Ebenso ist es uns gleichgültig, ob der Schluß selbst ein modus barbara ist oder ein modus ponens, denn der Untersatz ist ersichtlich derselbe, ob ich formuliere: »wenn etwas X ist, so ist es Y; A ist X; also A ist Y« oder »X ist Y; A ist X; also A ist Y«. Uns interessiert jetzt das »A ist X«. Dieses »A ist X« enthält, einerlei, ob X aus einem oder mehreren

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Merkmalen11 besteht, die so-[19]genannte Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter den abstrakten Tatbestand des Gesetzes, genauer : unter den Vordersatz des generellen Sollensurteils, das im Obersatz steckt12. Bei dieser Subsumtion sind nun drei Elemente auseinander zu halten: 1. die Vorstellung des konkreten Lebensfalles, des »Sachverhalts«, 2. die Feststellung, daß dieser Sachverhalt sich tatsächlich zugetragen hat, 3. die Würdigung des Sachverhalts als eines solchen, der die Merkmale des Gesetzes d. h. genauer des Vordersatzes des Obersatzes bzw. des »Mittelbegriffs« aufweist. Dieses dritte Element birgt die eigentliche Subsumtion. Die Unterscheidung der Elemente 1) und 2), die etwa der von Meinung und anderen Logikern vollzogenen Unterscheidung von »Annahme« und eigentlichem »Urteil« entspricht13, gründet sich auf die gerade dem Juristen geläufige Beobachtung, daß wir mit »Fällen«, »Sachverhalten«, »Objektiven« (Meinung) gedanklich operieren können, auch ohne ihre Realität festgestellt zu haben oder auch nur von ihr überzeugt zu sein. Jeder bloß erdachte und dennoch wie ein wirklich geschehener rechtlich beurteilte »Übungsfall« liefert einen Beleg. Im Prozeß gehen der Feststellung des der Urteilsfindung unterworfenen Sachverhalts in verschiedenster Gestalt bloße »Annahmen« des Sachverhalts voraus. So wenn das Gericht prüft, ob es für die Beurteilung dieses Sachverhalts überhaupt zuständig ist, oder wenn es prüft, ob [20] die Klage »schlüssig« ist. Im zivilprozessualen Versäumnisverfahren ist bei Ausbleiben des Beklagten »das tatsächliche mündliche Vorbringen des Klägers als zugestanden anzunehmen« (sic!). Der so angenommene Sachverhalt wird dann darauf untersucht, wieweit er den Klageantrag juristisch rechtfertigt; hier kommt es also nicht einmal zur Tatsachenfeststellung, sondern die Annahme selbst ist die Grundlage der Urteilsfindung. Diese beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen, daß die Feststellung des 11 Über die Subsumtion bei Mehrheit von Merkmalen s. Sigwart, Logik I, 4. Aufl. 1911, § 56, S. 497; Wundt, Logik, 5. Aufl. 1924, I, S. 311ff. Falsch Walder, Grundlehre jeder Rechtsfindung, 1928, S. 13 (»Mehrheit von Syllogismen«). 12 Die Redeweise »Subsumtion (des konkreten Sachverhalts) unter das Gesetz« ist zunächst ein Bequemlichkeitsausdruck für »Subsumtion unter den abstrakten Tatbestand des Gesetzes«, diese letztere Redeweise wieder ein Bequemlichkeitsausdruck für »Subsumtion unter den Tatbestandsbegriff des als Obersatz fungierenden generellen rechtlichen Sollensurteils bzw. unter den Vordersatz des als Obersatz fungierenden hypothetischen rechtlichen Sollensurteils«. Wollen wir noch genauer sein, so müssen wir betonen, daß im Untersatz der konkrete Sachverhalt subsumiert wird unter einen Begriff, der identisch ist mit dem Tatbestandsbegriff des Obersatzes bzw. identisch mit dem Prädikat des Vordersatzes des (hypothetisch gefaßten) Obersatzes. Diese Feinheiten brauchen nun im folgenden nicht mehr explicite zum Ausdruck zu kommen. Wir bedienen uns also getrost solcher herkömmlichen Wendungen wie »Subsumtion des Falles unter das Gesetz« bzw. »Subsumtion unter den rechtlichen Obersatz« bzw. »Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand« usw. 13 S. dazu Meinong, Über Annahmen, 2. Aufl. 1910; Höfler, Logik, 2. Aufl. 1922, S. 29f., 398ff., 430ff.

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konkreten Lebenssachverhalts ein plus bedeutet gegenüber der bloßen Vergegenwärtigung eben dieses Sachverhalts und daß sich die rechtliche Würdigung des Sachverhalts (Element Nr. 3) genau so gut an einen bloß angenommenen wie an einen wirklich geschehenen und als einen solchen »erwiesenen« Sachverhalt anschließen kann. Doch wollen und brauchen wir weiteres zur bloßen »Annahme« nicht auszuführen. Bei der praktischen Gesetzesanwendung steht durchaus im Vordergrund der Fall, daß sich die rechtliche Beurteilung auf einen wirklich vorgekommenen Sachverhalt bezieht. Hier treten dann also zur Vergegenwärtigung des Sachverhalts die Feststellung seiner Wirklichkeit und die rechtliche Würdigung, die eigentliche »Subsumtion«, hinzu. Diese beiden letzteren Elemente der Gesetzesanwendung bergen logische Probleme, die wir im Folgenden untersuchen wollen, und die wir in der Reihenfolge, in der wir sie behandeln werden, so formulieren können: 1. Was bedeutet die Subsumtion selbst des konkreten Sachverhalts unter den gesetzlichen Tatbestand? 2. Was bedeutet und wie vollzieht sich die Feststellung, daß sich der konkrete Sachverhalt wirklich zugetragen hat? 3. Wie verhalten sich jene Subsumtion und diese Feststellung zueinander? Wieweit und unter welchen Bedingungen lassen sie sich trennen? Denn wenn auch – wie eben betont – die rechtliche Würdigung an bloß angenommene Sachverhalte anknüpfen kann und insofern gegenüber der Tatsachenfeststellung isolierbar ist, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß die Tatsachenfeststellung dort, wo sie stattfindet, bis zu einem gewissen Grade mit der rechtlichen Würdigung verschmilzt. Daß es rechtliche Würdigung ohne Tatsachenfeststellung gibt, bedeutet noch nicht, daß sich alle Tatsachenfeststellung ohne rechtliche Würdigung vollziehen läßt. Merkwürdig genug ist, daß viele Juristen und unter ihnen besonnene Methodologen bereits im ersten Ansatz die Bedeutung des Untersatzes verkennen. […] [21] In den zitierten Wendungen tritt die Meinung zutage, als ob der Untersatz nur die Feststellung des konkreten Lebenssachverhalts enthalte, während doch in Wahrheit bereits sehr viel mehr in ihm steckt, nämlich die Unterordnung jenes Sachverhalts unter die begrifflichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestands, des terminus medius, der einerseits Prädikat des Untersatzes, andererseits (bei hypothetischer Fassung) Prädikat des Vordersatzes des Obersatzes bzw. (bei kategorischer Fassung) Subjekt des Obersatzes ist14. [82] Die immer wieder betonte Notwendigkeit gedanklicher Verarbeitung des Wahrnehmungsmaterials, die allerdings über die gerade beim Indizienbeweis hervorgekehrte Einbeziehung dieses Materials in die Schlußformen weit hin14 Die zugleich Tatsachen feststellende und Tatsachen bewertende Funktion des Untersatzes betont Mannheim, Beitr. zur Lehre von der Revision, 1925, S. 38ff.

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ausgeht und in jeder erfahrungsmäßigen, begrifflichen und urteilenden Formung der äußeren Wahrnehmungen und inneren Erlebnisse (s. oben S. 57 [im Original]) steckt, leitet uns auf die letzte Frage hin, die im Rahmen der Lehre vom [83] juristischen Untersatz zu klären ist: Wie verhält sich die Tatsachenfeststellung genauer zur eigentlichen Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand des juristischen Obersatzes?15»In dem begrifflichen Erfassen tatsächlicher Vorgänge liegt vielfach ein Element rechtlicher Erwägung« (Schulz, zitiert bei Wehli). Lassen sich also Tatsachenfeststellung und Subsumtion (»rechtliche Erwägung«) immer klar und sauber trennen? Hier stecken Probleme, über die wir bisher hinweggingen, logische Probleme, die aber zugleich in die juristische Sphäre ingestalt der Unterscheidung von »Tat- und Rechtsfrage« hineinragen, eine Unterscheidung, die z. B. bei der Gegenüberstellung von Tatirrtum und Rechtsirrtum im Strafrecht oder von Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung in der Lehre von der Revision bedeutsam wird16. Freilich müssen auch hier wieder logische und juristische Fragestellung scharf auseinander gehalten werden17. Es ist zum mindesten nicht ausgeschlossen, daß der Jurist nicht so sehr nach rein logischen als vielmehr nach spezifisch juristisch-teleologischen Ge-[84]sichtspunkten Tat- und Rechtsfrage trennt. Und es ist weiter möglich, daß die Grenzziehung zwischen diesen beiden Fragen eine relative ist d. h. verschieden ausfällt, je nachdem um welchen rechtlichen Zusammenhang es sich handelt, ob also z. B. um den des Irrtums des Täters über seine Tat oder den der Revisibilität. Wir werden später sehen, daß diese Möglichkeiten tatsächlich 15 Die benutzte Literatur stellt nur eine Auswahl aus dem unermeßlichen Umfang einschlägiger Arbeiten dar. Da, wie im Text gleich zu betonen ist, die logische und die juristische Problemstellung auseinanderzuhalten sind, ist auch die juristische Literatur nur mit methodischer Behutsamkeit für unsere Frage zu verwerten. Herangezogen wurden: Außer den schon oben [im Original] erwähnten Lehrbüchern des Prozeßrechts: Stein, Das private Wissen des Richters, 1893, namentlich S. 103ff.; Bierling, Jur. Prinzipienlehre IV, 1911, S. 23ff.; Rumpf, Der Strafrichter I, 1912, namentlich S. 201ff.; Wehli, Beiträge zur Analyse der Urteilsfindung, Festschrift für Wach I, 1913, S. 405ff.; v. Kries, Logik, 1916, S. 568ff.; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß, 1918, passim; Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht I,1920, S. 202ff.; Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts, 1919, S. 64ff.; Radbruch, Rechtsidee und Rechtsstoff, Kantfestschrift des Arch. Rechtsphil., 1924, S. 183ff.; Mannheim, Beiträge zur Lehre v. d. Revision wegen materiellrechtlicher Verstöße im Strafverfahren, 1925; Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S. 498ff.; Schönfeld, Die logische Struktur der Rechtsordnung, 1927, S. 17ff., 52/53; Manigk, Die Revisibilität der Auslegung von Willenserklärungen, Reichsgerichtsfestgabe VI, 1929, S. 94ff.; Jaehner, Der Mythos vom Recht, 1933, S. 186ff.; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1935; Peters, Tat-, Rechts- und Ermessensfragen in der Revisionsinstanz; ZgesStrW. 57 (1937), S. 53ff. 16 Über weitere Anwendungsfälle des Gegensatzes s. z. B. Sommer, Das Reale und der Gegenstand der Rechtswissenschaft, 1929, S. 21ff.; Kohlrausch, StPO., 24. Aufl. 1936, 3 II zu § 337 StPO. 17 Vgl.hierzu auch Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S. 499. Innerhalb der juristischen Literatur tritt die logische Fragestellung besonders scharf in der vorzüglichen Abhandlung von Wehli hervor.

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zutreffen. Doch wenden wir uns zunächst dem logischen Problem für sich zu. Dieses Problem gilt es zunächst vor gewissen Verwechslungen zu bewahren. Zuvörderst ist noch einmal daran zu erinnern, daß wir für die logische Betrachtung des Untersatzes rechtliche Regeln, die die Beweiserhebung durch Grundsätze über Beweisbedürftigkeit, Vermutungen, Beweisverbote einengen, unberücksichtigt lassen […] Eine engere Verschlingung von Tat- und Rechtsfrage mag sich schon ergeben, wenn die prozessualen Beweisnormen die Art und Weise der Tatsachenfeststellung selbst betreffen, also z. B. die Art und Weise der Zeugenverwertung (Prinzip der Unmittelbarkeit!) oder der Beweiswürdigung (Beweisregeln!, bei denen aber zu beachten ist, daß sie, weit entfernt, etwas an den logischen Prinzipien zu ändern, diese geradezu voraussetzen und höchstens die Lebenserfahrung vergewaltigen). Aber auch mit dieser Verknüpfung von Tatund Rechtsfrage haben wir es jetzt nicht zu tun. […] [85] Die Frage, die wir im Sinne haben, bezieht sich gar nicht nur auf das Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Anwendung der Regeln des Prozeßrechts, sondern auch und in erster Linie auf das Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter das materielle Recht. […] Recht häufig vermischt man das hier zu beredende Problem mit dem des Verhältnisses von Sachverhalt und Rechtsnorm bei Abgrenzung der erheblichen Tatsachen und Ausscheidung der unwesentlichen Tatsachen18. Gewiß interessieren uns nur diejenigen Tatsachen, die im Hinblick auf die anzuwendenden rechtlichen Bestimmung »relevant« sind, wie uns umgekehrt nur diejenigen rechtlichen Obersätze interessieren, zu deren Heranziehung der konkrete Sachverhalt Anlaß zu bieten scheint. Aber logisch gesehen bezieht sich ja dieses Wechselspiel nur auf den hypothetisch angenommenen Sachverhalt als Beweisthema und geht somit der Feststellung der Tatsachen selbst voraus19. [86] […] Um die Frage des Verhältnisses der Tatsachenfeststellung selbst zur Subsumtion handelt es sich für uns, um die Frage, ob sich etwa jene Feststellung mit dieser Einordnung in den Umfang der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe unauflöslich verschlinge, oder ob es hier ein Prinzip der Grenzziehung gibt und gegebenenfalls, welches es ist. In diesem und nur in diesem Sinne stellen wir jetzt die Frage nach dem Verhältnis von Tatsachenfeststellung und »rechtlicher Erwägung«. Eine Anzahl von Beispielen mag das Problem beleuchten. Einigermaßen klar und sicher steht uns in folgenden Fällen der Gegensatz von »Tat- und Rechtsfrage« vor Augen: ob A (und nicht ein anderer) den X erschossen hat und 18 Siehe z. B. Hall, Deutsche Rechtswissenschaft VI, 1941, S. 307ff. Die Vermischung wird namentlich S. 310 Abs. 2 deutlich. 19 Treffend auch Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß, 1918, S. 167: »Die Behauptung der sog. Rechtserheblichkeit einer Tatsache bedeutet immer nur eine Frage an die Tatsachenwelt; mit der Tatsachenfeststellung als solcher hat diese Behauptung rein gar nichts zu tun«.

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ob er hierbei den X als Menschen erkannt und nicht mit einem Stück Wild verwechselt hat, das ist Tatfrage. Ob dagegen der A »vorsätzlich« getötet hat, wenn er mit der Möglichkeit rechnete, daß das von ihm für ein Stück Wild gehaltene Objekt ein Mensch sei und ihm dies gleichgültig war, das ist zweifellos Rechtsfrage. Ob ein Dieb 5 oder 10 oder 20 Flaschen Wein weggenommen hat, ist »Tatfrage«, ob aber die als weggenommen ermittelten 5 Flaschen Wein eine »geringe Menge« im Sinne des § 370 Ziff. 5 StGB, darstellen oder ob sie einen unbedeutenden »Wert« haben, darf man als »Rechtsfrage«, als Subsumtionsfrage ansehen. Wie aber steht es nun in folgenden Fällen? Ist die Frage, ob ein Diebstahl, der im Morgengrauen begangen wurde, bei »Dunkelheit« und deshalb »zur Nachtzeit« begangen ist, eine Frage der Tatsachenfeststellung oder der Subsumtion? Wenn eine Norm von roten oder gelben Fahnen spricht oder wenn zu Verdunkelungszwecken die Benutzung blau abgeblendeter Lampen vorgeschrieben ist, ist dann die Entscheidung der Frage, ob ein bestimmtes Fahnentuch rot oder gelb bzw. ob eine bestimmte Blende blau oder grün ist, eine Tatsachenfeststellung oder eine Subsumtion? Wenn ein Gericht aufgrund einer Zeugenaussage, daß jemand [87] mit seinem Wagen »ungewöhnlich schnell« gefahren sei, die Feststellung trifft, daß der Betreffende »übermäßig schnell« i. S. des § 366 Ziff. 2 StGB, gefahren ist, vollzieht es dann eine Tatsachenfeststellung oder eine Subsumtion? Handelt es sich bei dem Urteil, daß das Bellen eines Hundes »ruhestörend« sei, um ein Tatsachenurteil oder um eine Subsumtion? Welcher Art ist die Frage, ob eine bestimmte geistige Erkrankung bei jemandem einen derartigen Grad erreicht hat, »daß die geistige Gemeinschaft mit dem Ehegatten aufgehoben« ist? Weiter : Jemand hat die Sehschärfe auf einem Auge bis auf ein Fünfzigstel der normalen Sehschärfe eingebüßt. Ist die Frage, ob er damit »das Sehvermögen auf einem Auge verloren hat«, eine Tat- oder eine Rechtsfrage? (EntschStr. 71 S. 119/20). Ist die Frage der Abwendbarkeit einer konkreten Gefahr (vgl. § 52 StGB.) Tat- oder Rechtsfrage? Um was für eine Frage handelt es sich, wenn darüber zu urteilen ist, ob eine bestimmte Behauptung (etwa die, daß der Gefangenenaufseher A dem Gefangenen B Streichhölzer »zugesteckt« habe; siehe EntschStr. 35 S. 126/27) geeignet ist verächtlich zu machen. Wohin gehört die Ermittelung des Sinnes einer konkreten Äußerung? […] Und wie nun noch bei den Generalklauseln und Ermessensbegriffen? Ist es Tat- oder Rechtsfrage, ob im zu beurteilenden Einzelfalle ein Verstoß gegen Treu und Glauben, gegen die guten Sitten vorliegt, ob das gesunde Volksempfinden hier und jetzt Bestrafung fordert, ob ein »besonders schwerer Fall« vorliegt, ob ein »wichtiger Grund« zur Kündigung gegeben war oder ob ein »wichtiges Glied des Körpers« eingebüßt wurde? Oder noch spezieller : Ist es Tat- oder Rechtsfrage, ob das von einem Nachbargrundstück herüberdringende Geräusch einer Sägemaschine eine »wesentliche Beeinträchtigung der Benutzung des Grundstücks« darstellt? [88] Wir haben eine große Anzahl von Beispielen angeführt,

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um zu zeigen, daß es sich hier keineswegs um ein Problem handelt, das ausnahmsweise einmal auftaucht, sondern um ein solches, das sich häufig stellt. Manche haben angesichts seiner resigniert. Es gebe keine Möglichkeit, Tatsachenfeststellung und Subsumtion klar von einander zu scheiden. […] [89] Tatsächlich wird man wenigstens versuchen müssen, für die Fälle, in denen sich Tat- und Rechtsfrage klar von einander sondern lassen, das Kriterium der Trennung zu finden, und für die Fälle, wo alle Unterscheidungskunst versagt, den Grund dafür aufzudecken. Dabei müssen wir, wie schon betont, den Gesichtspunkt im Auge behalten, daß wir es jetzt nicht mit einer juristischen, sondern mit einer logischen Frage zu tun haben. […] Wir knüpfen an eines der obigen Beispiele an. Ob A und kein anderer einen bestimmten tödlichen Schuß auf X abgefeuert hat, ist zweifellos Tatfrage, desgleichen was A sich gegebenenfalls dabei gedacht und was er gefühlt hat. Ob dann diese Vorstellungen und Gefühle hinreichen, um den Vorwurf der vorsätzlichen Tötung gegen A zu erheben, ist Rechtsfrage. Natürlich liegt es gerade für uns nahe zu sagen: im einen Falle handelt es sich eben um Beweis im oben entwickelten Sinne, also um Wahrnehmung oder um Schlüsse von wahrnehmungsmäßig gegebenen Tatsachen auf andere Tatsachen vermittels Erfahrung. Im anderen Falle dagegen handelt es sich um Subsumtion, also nach dem oben Gesagten um Gleichsetzung des als wirklich vorgestellten Sachverhalts mit den Sachverhalten, die im gesetzlichen Tatbestand gemeint sind. […] [92] […] Juristische Beurteilung steckt eben nicht nur in der generell bedeutsamen Subordination, sondern auch in der auf den Einzelfall bezüglichen Subsumtion. Es ist ja auch leicht möglich, die konkrete Subsumtionsfrage zu einer allgemeinen Rechtsfrage zu verarbeiten und dadurch als solche sichtbarer zu machen, z. B. die Frage, ob in einem konkreten Falle übermäßig schnell gefahren wurde, dadurch zu generalisieren, daß man sie so formuliert: ist eine Geschwindigkeit von ca. 60 km auf einer sehr belebten 10 m breiten Straße mit 2 m breitem Bürgersteig, eine übermäßige Geschwindigkeit, wenn sich rechts und links in Abständen von 20 bis 30 Metern Nebenstraßen befinden, aus [93] denen heraus ebenfalls ein sehr lebhafter Verkehr stattfindet? Hier ist dann das Subsumtionsproblem zum Subordinationsproblem geworden und damit deutlich als Rechtsfrage gekennzeichnet; dabei sind gerade hier Tat- und Rechtsfrage genau trennbar. […] Die Schwierigkeiten sind also da zu suchen, wo die Feststellung, daß wirklich etwas so ist, nicht ohne Vergleich mit den vom Gesetz gemeinten Fällen vollzogen werden kann. Eben deshalb würde ich auch im Chauffeur-Beispiel die Untrennbarkeit von Tat- und Rechtsfrage nicht anerkennen, weil sich hier alle die zahlreichen Umstände des Einzelfalles wie Breite der Straße, Zahl der Nebenstraßen, Umfang des Verkehrs usw. sehr wohl feststellen lassen ohne »Subsumtion«. […] [94] Bei Entscheidungen wie: »dies ist übermäßig schnell gefahren«, »dies ist

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ruhestörender Lärm«, »dies ist süß«, »dies ist schmerzhaft« gehen Tatsachenfeststellung und Wertung Hand in Hand; ob diese Prädikate »wirklich« zutreffen, läßt sich nicht nur auf Grund von Wahrnehmungen und Schlußfolgerungen aus Wahrnehmungen ausmachen, sondern hierfür werden zugleich und unablösbar von der Wahrnehmung und Tatsachenvorstellung Wertungsmomente maßgeblich, die überdies durch subjektive Empfindlichkeit, persönliche Nervosität und sonstige individuelle Komponenten bestimmt sind. […] Wertungen gibt es auch außerhalb der juristischen Subsumtion und juristische Subsumtionen gibt es auch, ohne daß eigentliche Wertungen vollzogen werden. […] Umgekehrt gibt es Fälle, wo die gleichsetzende juristische Subsumtion keine Angelegenheit der Wertung, sondern der Erfahrung ist und doch unlösliche Verknüpfung mit der Tatsachenfeststellung besteht. So ist es m. E. nicht eine Frage vergleichender Wertung, sondern vergleichender Nutzung der Erfahrung20, ob man [95] sagen kann, daß ein bei einem Diebstahl obwaltender bestimmter Grad der Dämmerung für die Sichtverhältnisse der Dunkelheit gleichzuachten ist, oder ob zwei bestimmte Gegenstände zum Verwechseln ähnlich sind. Was hier und dann freilich auch bei den meisten Wertungen die Verschlingung von Tat- und Rechtsfrage, d. h. genauer von Tatsachenfeststellung und Subsumtion begünstigt, ist die Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe, unter die zu subsumieren ist. Weil und sofern Begriffe wie »ungebührlich«, »übermäßig schnell«, »ruhestörend«, »schmerzhaft«, »dunkel« usw. relativ unbestimmt sind, läßt sich bei der Entscheidung »dies ist wirklich so« unter Umständen nicht sagen, was daran Tatsachenfeststellung und was Gleichsetzung mit den vom Gesetz gemeinten Fällen ist. Reine Tatsachenfeststellung kann ich nur dort vollziehen, wo ich nicht bloß ohne Wertung, sondern auch ohne Rückgang auf die vom Gesetzgeber gemeinten Vergleichsfälle sagen kann: »dies ist so«, also z. B. »dies ist schmerzhaft«, »dies ist dunkel«, »dies ist ununterscheidbar«. Eben dort aber, wo die Rechtsbegriffe unbestimmt werden, wo unsicher ist, ob etwas noch durch sie erfaßt ist, muß die Tatsachenfeststellung (»dies ist so«) Hand in Hand gehen mit 20 Daß Erfahrungssätze nicht nur bei der Tatsachenfeststellung (etwa auf Grund von Indizien) sondern auch bei der subsumierenden Gleichsetzung eine Rolle spielen, ist sicher. Instruktive Beispiele hierfür auch bei Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1935, S. 179, 189/90 und bei Schönke, Zivilprozeßrecht, 1938, S. 317. Diese doppelte Funktion der Erfahrungssätze hat schon Stein, Das private Wissen des Richters, 1893, S. 103ff. (Beispiele S. 121ff.) hervorgehoben und hierauf auch eine unterschiedliche Stellungnahme zum Problem der Revisibilität des Vorstoßes gegen Erfahrungssätze gegründet. Das ist seitdem immer wieder geschehen, z. B. auch bei Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 1918, S. 170/71, 185/86 und Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision wegen materiellrechtlicher Verstöße im Strafverfahren, 1925, S. 75 Abs. 2, wozu noch zu vergleichen Schwinge, a. a. O., S. 180/81. Die logische Unterscheidung besteht dabei zu Recht, auch wenn es nicht gerechtfertigt ist, den logischen Gegensatz für das juristische Problem der Revisibilität zu verwerten. S. dazu unten [im Original] S. 116f.

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der vergleichenden Subsumtion. Also nicht dies, daß sich Tatsachenfeststellung und Bewertung miteinander kombinieren, ist ausschlaggebend für die Untrennbarkeit von Tat- und Rechtsfrage, obwohl natürlich nicht zu bestreiten ist, daß dort, wo ausgesprochene Wertprädikate auftauchen, von Tatsachenfeststellung nicht die Rede sein kann. […] [96] […] Hier zeigt sich also bereits, auf welche Weise man es dahin bringen kann, daß sich Tat- und Rechtsfrage voneinander unterscheiden lassen. Wenn der Gesetzgeber selbst genügend bestimmte mit klaren Tatsachenbegriffen identifizierbare Begriffe gebraucht oder wenn sich die unbestimmten Begriffe des Gesetzes im Wege der Definition auf genügend bestimmte natürliche und realitätsbezogene Begriffe reduzieren, in solche »auflösen« lassen, so treten auch Tat- und Rechtsfrage klar auseinander. Wird die »Nachtzeit« schon im Gesetz durch bestimmte Uhrzeiten festgelegt (§ 104 StPO., § 188 ZPO.), so ist die Frage, ob es vor oder nach oder während des fraglichen Zeitpunkts war, daß sich dieses oder jenes begab, reine Tatfrage, während die Feststellung, daß die betreffende Uhrzeit die vom Gesetz vorausgesetzte ist, Subsumtion darstellt und zur Rechtsfrage gehört. Wenn sich allerdings etwas zwischen dem ersten und letzten Schlag einer Uhr ereignete und sich nun der Zweifel erhebt, ob es für die Frage »vorher« oder »nachher« auf den ersten oder den letzten Schlag ankommt, so entsteht neuerlich eine Rechtsfrage. Aber auch dann ist die Frage, wann das Ereignis stattfand, [97] Tatfrage und nur die Frage, ob dieser Zeitpunkt dem gesetzlichen Zeitpunkt entspricht, Rechtsfrage. Kann ich behaupten, daß »übermäßige Geschwindigkeit« im Sinne des Gesetzes hier und jetzt eine Geschwindigkeit von 60 km ist, so ist diese Feststellung eine Subsumtion, dagegen die Feststellung, daß wirklich 60 km gefahren wurden, zweifellos Tatsachenfeststellung und zwar einerlei, ob diese Feststellung auf exakten Grundlagen aufgebaut wurde (etwa auf derjenigen des Zeigerstandes des Kilometermessers) oder nicht (ein Zeuge kann nur sagen: »der Wagen ist wie wahnsinnig gefahren«, woraus zu schließen ist, daß sicher mehr als 60 km gefahren wurden). Die Entscheidung, ob ein konkretes Verhalten unter der Voraussetzung eines bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrades der Erfolgverursachung eine »adäquate Bedingung« für den Erfolg ist, ist Subsumtionsaufgabe; ob dieser Wahrscheinlichkeitsgrad in concreto wirklich erreicht wurde, ist eine Tatfrage. […] [98] Auch was sich jemand bei einer Äußerung oder einer Tat gedacht hat, kann als Tatsache feststehen, während es dann Rechtsfrage ist, ob die Äußerung in diesem Sinne eine Beleidigung darstellt, eine Handlung mit solchen Vorstellungen und Gefühlen eine »vorsätzliche« Handlung bedeutet. […] [99] […] Mit der Subordination bestimmter durch Tatsachenbegriffe definierter Fallgruppen und der Subsumtion einzelner in Tatsachenbegriffen beschriebener Fälle ist die Rechtsfrage erledigt. Die Tatfrage hat sich von der Rechtsfrage getrennt. Hier schlägt dann auch nicht die Begründung durch, die

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Radbruch seiner These von der Undurchführbarkeit der Trennung von Tat- und Rechtsfrage gegeben hat: die Begriffe, aus denen die gesetzlichen Tatbestände aufgebaut sind, entsprechen sozialen Begriffen vorrechtlicher Art und »so erscheinen übereinstimmende Begriffe bei der Beantwortung der Tat- und bei der Beantwortung der Rechtsfrage, es wird zu einer Sache des Beliebens, ob man die Anwendung solcher Begriffe als tatsächliche Feststellung oder als [100] rechtliche Würdigung aufmacht«21. Die vorrechtlichen Begriffe, auf die die gesetzlichen Tatbestandsbegriffe zurückgeführt werden, müssen zwar dem Umfange nach mit diesen übereinstimmen, aber durch die Kunst der Definition und Beschreibung werden sie inhaltlich so bestimmt, daß sich diese Bestimmung als Lösung der Rechtsfrage von ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit selbst als Tatfrage klar abhebt. Alle juristischen Fragen sind durch die Reduktion auf die natürlichen Tatsachenbegriffe bereits erledigt, und es bleibt als Problem der Tatsachenfeststellung nur noch übrig, ob dies oder jenes geschehen ist, ob also z. B. fünf oder zehn Flaschen Wein weggenommen wurden oder 60 km gefahren wurden oder die Sehschärfe auf 1/10 oder 1/20 oder 1/50 herabgemindert ist usw. […] [102] […] Auf der anderen Seite lassen sich nun freilich Tatsachenfeststellung und Subsumtion dort nicht sauber trennen, wo der geschilderte Rückgriff auf vorrechtliche einigermaßen bestimmte realitätsbezogene Begriffe nicht gelingen will oder wenigstens praktisch nicht in Frage kommt. Meist ist es dabei so, daß sich die gesetzlichen Begriffe nur in einem gewissen Umfang oder bis zu einem gewissen Grade auf die geschilderte Weise ersetzen lassen. So läßt sich der Begriff der »Mißhandlung« im Wege der Subordination oder Subsumtion zwar ersetzen durch die einigermaßen deutlichen Tatsachenbegriffe »Schlag mit der Reitpeitsche ins Gesicht« oder »Ohrfeige«. Dagegen bedeutet die Unterordnung des »Stoßens« bzw. die konkrete Subsumtion eines »Stoßes« unter den Begriff der »Mißhandlung« keine Verwendung eines so präzisen Tatsachenbegriffes, daß hier Tat- und Rechtsfrage klar auseinander treten. Ob z. B. ein Sichplatzschaffen im Gedränge mit dem Ellbogen so empfindlich ausgefallen ist, daß von einem »Stoßen« im Sinne einer »Mißhandlung« die Rede sein kann, diese Entscheidung bedeutet zugleich Tatsachenfeststellung und Subsumtion; hier hilft uns dann auch der unpräzise vorrechtliche Begriff des »Stoßes« oder »Rip-[103]penstoßes« nicht weiter. Häufig sind es wieder Wertbegriffe, bei denen sich die Unauflöslichkeit von Tatsachenfeststellung und Subsumtion ergibt, wie gerade beim Begriff »Mißhandlung«. Aber doch nicht immer, wie das folgende Beispiel 21 Siehe übrigens gegen Radbruch auch, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten: Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts, 1. Aufl. 1919, S. 65/66; Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision, 1925, S. 63/64; Manigk, Die Revisibilität der Auslegung von Willenserklärungen, Reichsgerichtsfestgabe VI, 1929, S. 94, 133 Abs. 3.

Interpretation, Beweis und Subsumtion in der logischen Struktur des Rechtsurteils

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zeigt. Wenn in einem gesetzlichen Tatbestand der Begriff »rot« oder »blau« oder »gelb« vorkommt, so läßt sich schwerlich der betreffende Begriff für die juristische Praxis durch präzise Tatsachenbegriffe (etwa durch Angabe bestimmter Wellenlängen) ersetzen22. Wenn dann die Frage zu entscheiden ist, ob z. B. ein vorgelegtes orangeartiges Fahnentuch »rot« ist, so treten Tatsachenfeststellung und Subsumtion deshalb nicht klar auseinander, weil in der Frage, ob das Tuch so rot ist, wie es das Gesetz meint, Existenzialurteil und Gleichsetzung unauflöslich verknüpft sind. […] [112] […] Kehren wir wieder auf den Hauptweg unserer Untersuchung zurück, so können wir für die Frage des Verhältnisses von Tatsachenfeststellung und [113] Subsumtion folgende Ergebnisse als Ertrag festhalten: Tatsachenfeststellung und Subsumtion sind begrifflich streng geschieden. Jene hat es mit der Existenz von »wirklichkeitsartigen« Gegenständen zu tun, deren Vorhandensein letztlich auf Grund von Wahrnehmungen festgestellt wird. Die Subsumtion dreht sich dagegen um die Gleichsetzung des konkreten Falles mit den vom gesetzlichen Tatbestand gemeinten Fällen auf Grund von Wertung oder Erfahrung. Tat- und Rechtsfrage lassen sich auch in praxi dort trennen, wo die Frage, ob ein Fall den vom Gesetz gemeinten Fällen gleichzuachten ist, auf Grund einer einigermaßen präzisen Beschreibung jenes Falles in Tatsachenbegriffen gestellt und beantwortet werden kann, so daß für die Tatfrage nur noch übrig bleibt die Prüfung, ob diese bestimmten Momente in concreto vorliegen oder nicht, was durch die üblichen Beweismethoden aufzuklären ist. Dort dagegen, wo sich die Rechtsbegriffe nicht in dieser Weise durch tatsächliche Begriffe ersetzen lassen, sondern nur in unbestimmten Wendungen und Wertbegriffen umschreiben lassen, verschlingen sich häufig Tatsachenfeststellung und Subsumtion so, daß sie nicht mehr voneinander getrennt werden können.

22 Manchmal allerdings bringt der Gesetzgeber oder eine vom ihm bestimmte Stelle Muster heraus, die den gesetzlichen Vorschriften entsprechen und als Vorbild und Maßstab dienen sollen. Diese Muster erleichtern denn natürlich die Subsumtion und ihre Abtrennung von der Tatfrage.

3.

Sachverhalt und Rechtssatz im Prozess der Rechtsverwirklichung (Arthur Kaufmann)

I.

Der Prozess der Rechtsverwirklichung

Zunächst gilt es, sich eine grundlegende Tatsache deutlich vor Augen zu führen: Es gibt kein »überpositives Recht«, so wenig wir sonst in unserer Welt irgendeiner »überpositiven« Realität begegnen. Als »überpositiv« mag man die reinen Wesenheiten, die rein ideellen Gehalte bezeichnen, die jedoch als solche nicht wirklich sind, sondern nur Potentialitäten darstellen. Überpositiv also ist die Rechtsidee, sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze (Rechtsprinzipien), aber diese sind mangels Konkretheit und inhaltlicher Bestimmtheit nicht schon Recht im vollen Wirklichkeitssinne. Die hauptsächlich im Neuthomismus1, doch auch anderwärts2 anzutreffende Bezeichnung »Naturrecht« für diese überpositiven (»obersten«) Rechtsgrundsätze ist daher zumindest irreführend; sie erweckt nämlich den Anschein, als bestünden nebeneinander zwei Rechtsordnungen: das positive Recht und das Naturrecht. Indessen kann es für einen realen Lebenssachverhalt immer nur ein Recht geben, und dieses ist positiv : es ist konkret und geschichtlich. Aber – und das ist nicht weniger bedeutsam – dieses positive Recht, das seine volle Konkretheit und damit Wirklichkeit (wir nennen das die »materielle Positivität«) erst in der im Hier und Jetzt getroffenen Rechtsentscheidung (die keine richterliche zu sein braucht) erhält, ist nicht identisch mit der Gesetzesnorm (bzw. der Norm des »Gewohnheitsrechts« oder des »Richterrechts«), die ja generell gehalten und daher nicht materiell-konkret, sondern nur formal (nämlich: begrifflich) konkretisiert ist (wir sprechen darum hier von »formeller Positivität«). Freilich ist eine solche generelle Norm, eine »norma« in dem ursprünglichen und genauen Sinn des Wortes, nämlich ein Maßstab, eine Richtschnur, um der Gleichbehandlung des Gleichen und also der Vermeidung von 1 Typisch hierfür Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl. 1947. 2 Siehe vor allem Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts; Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts, 1947.

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Arthur Kaufmann

Will-[11]kür willen ganz unentbehrlich für die Rechtsentscheidung – sonst wäre es eben keine Rechtsentscheidung. Eine »freie Rechtsfindung« im Sinne einer normfreien Rechtsfindung gibt es nicht; findet sich die Norm nicht im Gesetz (bzw. im Gewohnheitsrecht), so kann doch nicht ohne Norm entschieden werden – fraglich ist nur, woher sie dann genommen werden soll: aus der Moral, der Sitte, den »herrschenden Kultur- und Wertanschauungen«, dem »Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden« oder einfach aus dem Rechtsgefühl und dem Gewissen des Entscheidenden selbst. Dem soll hier nicht nachgespürt werden. Uns genügt die Feststellung, daß jede Rechtsentscheidung eine Norm zur Voraussetzung hat. Das heißt indessen nicht, daß die Norm die Rechtsentscheidung schon fertig in sich enthielte, so daß diese aus jener nur herausgelöst, deduziert zu werden brauchte. Die Annahme, die Rechtsfindung sei ein solches rein deduktives Verfahren, ist zwar sehr verbreitet, doch deshalb keineswegs auch richtig. Die Norm ist immer nur ein Maßstab für viele mögliche Fälle, eben darum aber niemals die Entscheidung eines wirklichen Falles, das Gesetz also nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Möglichkeit von Recht – damit aus dem Gesetz Recht wird, bedarf es zusätzlicher Bausteine. Was für das Verhältnis von Recht und Gesetz gesagt wurde, gilt entsprechend für das Verhältnis von Gesetz und Rechtsidee. Was immer man auch vom relativistischen Standpunkt3 gegen die Absolutheit vorgegebner Rechtsgehalte einwenden mag: nicht zu bezweifeln ist, daß bei aller Gesetzgebung stets schon gewisse »allgemeine Rechtsgrundsätze« (Erik Wolf), »rechtsethische Prinzipien« (Larenz), »Maximen gerechten Handelns« (Wieacker), also Grundgebote der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit, des bonum commune als das zu Verwirklichende vorausgesetzt sind – etwa das Gleichheitsprinzip, der Grundsatz von »Treu und Glauben«, das Gebot »pacta sunt servanda«, das Schuldprinzip, der Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung (Prinzip der Wahl des kleineren Übels), die »goldene Regel«, um einige der bekanntesten Beispiele [12] zu nennen4. Nur muß man sich vor der Vorstellung hüten, als könnten das Gesetz oder gar konkrete Rechtsentscheidungen aus solchen meist sehr abstrakten (aber nicht, wie oft 3 Über den Relativismus und seine »relative« Berechtigung näher Arthur Kaufmann, Gedanken zur Überwindung des rechtsphilosophischen Relativismus, in: ARSP 46 (1960), 553ff.; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1972, S. 53ff. 4 Siehe Erik Wolf, Die Natur der Allgemeinen Rechtsgrundsätze, in: Deutsche Landesreferate zum VI. Internat. Kongreß für Rechtsvergleichung in Hamburg 1962; Rabels Zeitschr. f. ausländ. u. internat. Privatrecht 1962, S. 136ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 410ff.; Wieacker, Gesetz und Richterkunst; Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, 1958, bes. S. 10; Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, in: JZ 1957, 701ff.; Rechtsprechung und Sittengesetz, in: JZ 1961, 337ff. – Grundlegend: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, passim; auch Del Vecchio, Grundlagen und Grundfragen des Rechts; Rechtsphilosophie Abhandlungen, 1963, S. 164ff.

Sachverhalt und Rechtssatz im Prozess der Rechtsverwirklichung

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behauptet, völlig inhalts- und sinnleeren) Rechtsgrundsätzen einfach deduziert werden. Die neuere Rechtsprechung ist freilich dieser Vorstellung da und dort erlegen, indem sie es unternommen hat, aus den »allgemeinen Normen des Sittengesetzes« unmittelbar rechtliche Folgerungen abzuleiten, z. B. die strafrechtliche Unzüchtigkeit des Geschlechtsverkehrs unter Verlobten oder die Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung im Falle eines Selbstmordes5. Eine solche »Subsumtionsethik« gibt es jedoch nicht. Auch hier muß in Wahrheit noch aus anderen Quellen geschöpft werden. Richtig bleibt aber, daß es ohne allgemeine Wertgesichtspunkte nicht geht. Wir unterscheiden also im Prozeß der Rechtsverwirklichung drei Stufen: die erste Stufe sind die abstrakt-allgemeinen, überpositiven und übergeschichtlichen Rechtsgrundsätze; die zweite Stufe ist das konkretisiert-allgemeine, formell-positive, nicht übergeschichtliche, aber doch für einen mehr oder minder langen Zeitabschnitt (»Gesetzesperiode«) geltende Gesetz; die dritte Stufe ist das konkrete, materiell-positive, geschichtliche Recht. Oder kurz: Rechtsidee – Rechtsnorm – Rechtsentscheidung. Dabei darf man diese Reihenfolge aber nur als eine logische verstehen; ontologisch ist das Verhältnis umgekehrt, denn das konkrete Recht ist seinsnäher und seinshafter als die Rechtsidee. Für das weitere Verständnis sind nun zwei Thesen grundlegend, und beide sind von gleicher Wichtigkeit. Die erste These besagt, [13] daß im Prozeß der Rechtsverwirklichung keine der genannten Stufen entbehrlich ist. Das heißt also: keine Rechtsnorm ohne Rechtsidee (ohne Rechtsprinzipien), keine Rechtsentscheidung ohne Rechtsnorm. Die zweite These besagt, daß keine Stufe aus der (logisch) nächst höheren (allgemeineren, abstrakteren) einfach deduziert werden kann. Das heißt also: keine Rechtsnorm nur aus der Rechtsidee (nur aus den Rechtsprinzipien), keine Rechtsentscheidung nur aus der Rechtsnorm. Kurz: sowohl ein einseitiger »Dezisionismus« als auch ein einseitiger »Normativismus« ist abzulehnen6. Mit der ersten These distanzieren wir uns von allen jenen Auffassungen, die besagen, man könne zum Recht ohne einen vorgegebenen Wertgesichtspunkt gelangen. Dabei wollen wir hier mit dem Hinweis auf die Vor-Gegebenheit des Wertgesichtspunktes nur dies zum Ausdruck bringen, daß das Werthafte nicht 5 BGHSt 6, 46; 6, 147. Vgl. weiter etwa noch BGHZ 28, 375; BVerfGE 6, 389. Diese Rechtsprechung ist sehr umstritten. Siehe hierzu insbes. Weischedel, Recht und Ethik, 1956; Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: NJW 1960, 1688ff.; Wieacker, Rechtsprechung und Sittengesetz, in: JZ 1961, 337ff.; Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 34ff.; Zur rechtsphilosophischen Situation der Gegenwart, in: JZ 1963, 137ff., bes. S. 143 ff; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1. Aufl. 1972, S. 240ff., 191ff. 6 Vgl. hierzu die trotz zeitbedingter Irrtümer auch heute noch lesenswerte Schrift von Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934.

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eine Gegebenheit im Sinne des Empirisch-Faktischen ist und deshalb auch nicht einfach aus irgendeiner Faktizität destilliert werden kann. Freilich sind die Versuche, das Recht ausschließlich aus einem Faktum zu begründen, wohl so alt wie die Menschheit selbst – sei es, daß man das Recht als Ausfluß der Macht ausgibt: wie die Sophisten, wie Hobbes, wie die modernen Diktaturen – sei es, daß man im Willen (eines einzelnen oder einer Mehrheit) das rechtserzeugende Vehikel erblickt: wie etwa im Voluntarismus der Spätscholastik oder der Freirechtslehre7 – sei es, daß Interessen, Erwartungen, Verhaltensgewohnheiten, mitmenschliche Rollen oder andere soziologische Gegebenheiten als die ausschließlichen Kausalfaktoren des Rechts zitiert werden: wie in der älteren Interessenjurisprudenz, in der empirischen Rechtssoziologie und in mancher neueren Lehre von der »Natur der Sache«. Denn die Zauberformel von der »normativen Kraft des Faktischen« hat immer Faszinationskraft ausgeübt, scheint es doch so, als ob mit ihrer Hilfe der Sprung vom Sein zum Sollen, von der Wirklichkeit zum Wert, gelingen könnte. Aber diese »normative Kraft des Faktischen« existiert nicht – wo man echte normative Qualitäten aus [14] einem Faktum gewonnen zu haben vermeint, handelt es sich nie um ein rein empirisches Faktum, sondern um einen bereits zum Wert in Beziehung gesetzten Sachverhalt: um »sittliche« Macht, um »vernünftigen« Willen, um »wertvolle« Interessen8. Mit der zweiten These – und ihr gilt im folgenden unser Hauptinteresse – erteilen wir eine ebenso deutliche Absage aber auch allen jenen einseitig »normativistischen« Richtungen, die umgekehrt nur auf den Wertgesichtspunkt, die Idee, die Norm, das Sollen sehen und es für möglich erachten, man könne von hier aus ohne weiteres zum realen Recht gelangen. An solchen Versuchen hat es nicht weniger gefehlt, erscheint doch die »faktische Kraft des Normativen« als eine ebenso taugliche Zauberformel, um die Brücke von der Idee zur Wirklichkeit, vom Sollen zum Sein zu schlagen. In der Begriffsjurisprudenz ist dieser 7 Ganz typisch hierfür Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 34: alles Sollende ist ein Seiendes, denn Sollen ist Wollen. – Diese Argumentation erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. 8 Ganz deutlich bei Maihofer, Die Natur der Sache, in: ARSP 44 (1958), S. 164ff., sowie: Naturrecht als Existenzrecht, 1963, S. 21ff. Vgl. zum ganzen auch Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 18ff., und: Freirechtsbewegung – lebendig oder tot?; Ein Beitrag zur Rechtstheorie und Methodenlehre, in: JuS 1965, 1ff., bes. S. 5f.; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1. Aufl. 1972, S. 228ff., 251ff. – Daß man formallogisch nicht vom »Sein« (im Sinne der den naturwissenschaftlich-mathematischen Gesetzen unterliegenden Erfahrungswirklichkeit) auf das »Sollen« schließen kann, hat neuestens auch Klug wieder gezeigt: Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die formallogische Rechtfertigung der Kritik an dem Pseudoschluß vom Sein auf das Sollen, in: Essays in Honor of Hans Kelsen (University of Tennessee Press), 1954, S. 154ff. Damit ist freilich nichts darüber gesagt, daß zwischen Wirklichkeit und Wert nicht doch eine ontologische Beziehung bestehen könnte. Klug selbst erklärt die Rede von der »schroffen« Trennung zwischen Sollen und Sein für abwegig (S. 168).

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Gedanke am reinsten ausgeprägt. Nach ihr sind die Gesetzesbegriffe nicht nur Ordnungsfaktoren, sie stellen vielmehr lebendige Gebilde dar, die sich immer weiter entfalten (Puchtas »Genealogie der Begriffe«), die sogar fruchtbar sind, sich paaren, neue erzeugen und dadurch ein ständiges Wachstum des Rechts aus sich selbst heraus verursachen (die »naturhistorische Methode« des frühen Ihring9 [sic!]. […] [15] Heute besteht weithin die Auffassung, daß die Begriffsjurisprudenz im Grunde überwunden sei und der Vergangenheit angehöre. Dabei könnte man mit modernen Beispielen begriffsjuristischer Argumentationen in Gerichtsurteilen, in juristischen Schriftsätzen, in Rechtsgutachten und auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ganze Bände füllen. Auch heute noch gilt als die wichtigste Eigenschaft des fähigen Juristen die Kunst der begriffslogischen Konstruktion, jener vielgerühmte und vielgescholtene juristische Scharfsinn, der es vermag, mittels (schein-)logischer Prozeduren den Begriffen der Gesetzesnormen Rechtsentscheidungen zu entlocken, die bisher niemand, auch nicht der Gesetzgeber, in ihnen vermutet hat. Das Denken der meisten Juristen ist primär, wenn nicht ausschließlich, an der Norm orientiert. Und hier treffen sich wieder einmal die Naturrechtsdenker (im traditionellen Sinne) mit den Rechtspositivisten. Nach der rationalistisch-absolutistischen Naturrechtsdoktrin lassen sich aus obersten absoluten Rechtsgrundsätzen die positiven Rechtsnormen, nach dem normativistischen Rechtspositivismus10 lassen sich aus den positiven Rechtsnormen die Rechtsentscheidungen streng logisch erschließen. Diese Verwandtschaft zweier so erklärter Gegner wie das rationalistische Naturrecht und der Rechtspositivismus mag verwundern. Aber sie hat durchaus ihre inneren Gründe11. Gemeinsam ist beiden vor allem der Systemgedanke der rationalistischen Philosophie, wonach auf rein rationalem Wege ein geschlossenes System vollkommen adäquater und exakter Wirklichkeitserkenntnis errichtet werden kann. So traten die großen »naturrechtlichen« Kodifikationen des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts 9 Hierzu näher die klare Darstellung bei Larenz, Methodenlehre der Rechtwissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 20ff. Vgl. auch das oben zitierte Wort Bergbohms, wo er von der »inneren Fruchtbarkeit« und der »logischen Expansionskraft« des Rechts (verstanden als begrifflich fixierte Gesetzesnorm) spricht: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. I 1892 (unver. Nachdr., 1973), S. 387. 10 Heute am konsequentesten von Kelsen in seiner »Reinen Rechtslehre« vertreten; siehe sein so betiteltes Werk, 2. Aufl. 1960 (unver. Nachdr., 1976). 11 Darüber eingehender Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur des Rechts, in: Die ontologische Begründung des Rechts (Wege der Forschung, Bd. XXII), 1965. Vgl. auch Tsatsos, Zur Problematik des Rechtspositivismus, 1964, und Stone, »The Nature of Things« on the Way to Positivism?, in: ARSP 50 (1964), 145ff., bes. S. 164f. – Wichtig die Aufsatzsammlung: Naturrecht oder Rechtspositivismus? (Wege der Forschung, Bd. XVI), hrsg. von W. Maihofer, 2. Aufl. 1972.

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(Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, [16] Preußisches Allgemeines Landrecht, Code civil, österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch) allesamt mit dem Anspruch einer abschließenden Regelung der rechtlichen Verhältnisse auf. Und nicht anders gebärdete sich der Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts, der ohne Zögern dieses rationalistisch-naturrechtliche Erbe übernahm. Bergbohm, der doch seine Hauptaufgabe darin erblickt hat, »das Unkraut Naturrecht mit Stumpf und Stiel auszurotten«, kann sich gar nicht genug darin tun, die logische Geschlossenheit und Lückenlosigkeit der Rechtsordnung nachdrücklichst hervorzuheben12. Mittlerweile ist dieses Dogma von der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts allerdings längst als ein Irrtum erkannt. Daß alle Gesetze Lücken haben, ist nachgerade ein Gemeinplatz geworden. Aber immer noch herrscht die Meinung, daß man – abgesehen von wenigen Ausnahmefällen – das lückenhafte Gesetz durch Auslegung, Analogie, Umkehrschluß, teleologische Reduktion und dergleichen Argumentation aus sich heraus vervollständigen könne. Immer noch wird – von den Positivisten wie von den Naturrechtlern – behauptet, daß das Recht, jedenfalls in aller Regel, mit dem Gesetz identisch sei. Und darum gilt immer noch ganz überwiegend die alte Lehre, daß – zumindest im Normalfall – das Gesetz die alleinige Rechtsquelle für die Gewinnung konkreter juristischer Urteile darstelle. Über den unbequemen Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an »Gesetz und Recht« gebunden sind, hilft man sich mit der die ganze Verlegenheit der traditionellen Rechtstheorie offenbarenden Erklärung hinweg, »Recht« bedeute hier nichts anderes als »jede Rechtsnorm« (i. S. von Art. 2 EGBGB) und also genau das, was man schon immer als »Gesetz im materiellen Sinne« bezeichnet (womit dann implicite gesagt ist, daß die Hervorhebung des »Rechts« neben dem »Gesetz« in dem erwähnten Verfassungsartikel völlig überflüssig sei13. […] [18]

II.

Recht als Entsprechung von Sollen und Sein

Unsere zweite These besagt, daß, wie keine Rechtsnorm nur aus der Rechtsidee, so auch keine Rechtsentscheidung nur aus der Rechtsnorm gewonnen werden kann. Sind die Rechtsidee und das Gesetz mithin nur die Möglichkeit von Recht, 12 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. I, 1892 (unver. Nachdr., 1973), bes. S. 367ff. 13 Siehe (mit Schrifttumshinweisen) Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Existenz und Ordnung; Festschrift f. Erik Wolf zum 60. Geburtstag, 1962, S. 359f.; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1. Aufl. 1972, S. 137f.

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woraus erwächst dann aber seine volle Wirklichkeit? Darauf gibt es nur eine Antwort: aus den konkreten Lebensverhältnissen, die – nach Dernburgs klassischer Formulierung – ihr Maß und ihre Ordnung, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, schon in sich tragen14. Wie das Gesetz nur konkretisiert werden kann mit Rücksicht auf die zu regelnden möglichen Lebenssachverhalte, so kann das Recht nur realisiert werden mit Rücksicht auf den zu entscheidenden wirklichen Lebenssachverhalt. Die Norm als ein Sollen kann gar nicht aus sich heraus reales Recht hervorbringen, es muß ein Seinshaftes hinzutreten. Erst wo Norm und konkreter Lebenssachverhalt, Sollen und Sein, zueinander in Entsprechung treten, entsteht reales Recht. Oder kurz: Recht ist die Entsprechung von Sollen und Sein. Das Recht ist eine Entsprechung, das Gesamt des Rechts mithin kein Paragraphenkomplex, keine Einheit von Normen, sondern eine Einheit von Verhältnissen: eine Verhältniseinheit15. Verhältniseinheit, Entsprechung: das aber bedeutet Analogie16. […] [29]

III.

Das Gleichheitsproblem im Licht der Analogizität des Seins und der Erkenntnis*

[…] [37]

IV.

Rechtsfindung als Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm

Von hier aus wird nun auch erkennbar, daß jede Rechtserkenntnis, jede Rechtsfindung, jede sog. »Subsumtion«, die Struktur der Analogie aufweist. 14 Dernburg, Pandekten, Bd. I, 5. Aufl. 1896, S. 87. 15 Bei Radbruch finden wir diesen »Verhältnischarakter« des Rechts schon angedeutet, indem er das Recht als »wertbezogene Wirklichkeit« darstellt; siehe: Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 87ff., 114, 119, 217f. u. ö.; Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1965, S. 33f. Dazu auch Kwun, Entwicklung und Bedeutung der Lehre von der »Natur der Sache« in der Rechtsphilosophie bei Gustav Radbruch, Diss. Saarbrücken, 1963. 16 Siehe hierzu und zum folgenden Krings, Wie ist Analogie möglich?, in: Gott in Welt, Festgabe f. Karl Rahner, 1964, Bd. I, S. 97ff.; Transzendentale Logik, 1964, S. 294ff. * Siehe in diesem Band Teil III Nr. 15 unter II.

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Denn »subsumieren« heißt, daß Norm und konkreter Lebenssachverhalt zueinander »in Entsprechung gebracht« werden. Das aber ist nicht ohne weiteres, nicht durch einen einfachen Syllogismus möglich, da Norm und Sachverhalt nicht gleich sind: die Norm liegt auf der Ebene des begrifflich formulierten Sollens, der Sachverhalt auf der Ebene der empirischen Faktizität. Sie müssen daher, bevor der logische Syllogismus einsetzen kann, erst gleichgemacht werden, d. h. erst muß der im gesetzlichen »Tatbestand« begrifflich formulierte Normsachverhalt mit dem wirklichen konkreten Lebenssachverhalt in eine Relation gebracht werden, indem mittels eines »teleologischen« Verfahrens ihre Ähnlichkeit festgestellt wird. Das aber ist Analogie. Die sog. »Subsumtion« ist nichts anderes als ein »innertatbestandlicher Analogieschluß«17. Dabei kann in einfach gelagerten (»unproblematischen«) Fällen die Ähnlichkeit zwischen Normsachverhalt und Lebenssachverhalt so sehr in die Augen springen, daß man – insbesondere der erfahrene Jurist – sie sofort als Gleichheit erfaßt. Dennoch ist auch hier Rechtsfindung nicht bloße »Anwendung« des Gesetzes. Die Feststellung, daß der Lebenssachverhalt dem Normsachverhalt entspricht, ist immer eine »teleologische« Entscheidung. Denn nie gilt der bloße Buchstabe des Gesetzes, immer nur sein »Geist«. Ganz richtig sagt es Esser : »Jede ›Anwendung‹ des Gesetzes ist bereits Interpretation, denn schon die Entscheidung, der Wortlaut des Textes sei so eindeutig, daß er eine Auslegung überflüssig mache …, beruht auf einer [38] Interpretation … Rechtsfindung ist nie bloße Subsumtionsarbeit«18. Rechtsfindung ist also ein In-die-Entsprechung-bringen, eine Angleichung, eine Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm. Dabei vollzieht sich dieser Prozeß von zwei Seiten her. Auf der einen Seite muß der Lebenssachverhalt normativ qualifiziert, zur Norm in Beziehung gebracht, normgerecht gemacht werden; man muß, wie Radbruch es ausdrückt, »aus der Welt der Wirklichkeit in die Welt der Werte hinübertasten, um in ihr die sinngebende Idee für diese empirische Erscheinung zu finden«19. Engisch spricht in diesem Zusammenhang von der »Gleichsetzung des konkreten zu beurteilenden Falles mit den durch den gesetzlichen Tatbe17 Vgl. Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 87; Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 173. Sehr interessant in diesem Zusammenhang auch Tammelo, Sketch for a Symbolic Juristic Logic, in: Journal of Legal Education 1955, 277ff., bes. S. 298. 18 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 253f. Ebenso Larenz, Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung, in: Festschrift f. A. Nikisch, 1958, S. 279. Zum ganzen siehe auch Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Existenz und Ordnung; Feschrift f. Erik Wolf zum 60. Geburtstag, 1962, S. 381ff., bes. 388ff., auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1. Aufl. 1972, S. 157ff., 163ff. 19 Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift zu Ehren von Rudolf Laun, 1948, S. 33.

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stand zweifellos gemeinten Fällen«20, und er nennt diese Gleichsetzung die »eigentliche Subsumtion«21. Der analogische Charakter der »Subsumtion« kommt dabei ganz deutlich zum Ausdruck. »Subsumtion« wird hier nicht verstanden als logischer Syllogismus, sondern als Aufbereitung eines bestimmten Lebenssachverhalts unter normativen Gesichtspunkten. Und eben in dieser Fähigkeit, Lebenssachverhalte unter rechtlich-normativen Gesichtspunkten analysieren zu können, liegt der Schwerpunkt der Begabung des Juristen, nicht in erster Linie in Gesetzeskenntnissen. Aber woher kommt nun der Vergleichspunkt dieser »Gleichsetzung« von Lebenssachverhalt und Normsachverhalt, von der Engisch spricht? Darauf antwortet Engisch: aus der Auslegung. »Die Auslegung«, sagt er, »liefert nicht nur das Vergleichsmaterial für die Subsumtion, sondern zugleich auch die Beziehungspunkte für die Vergleichung«22. [39] Damit wird auf die andere Seite des Prozesses verwiesen: die Norm muß zum Lebenssachverhalt in Beziehung gebracht, sie muß sachgerecht gemacht werden. Das ist das, was man »Auslegung« nennt: die Ermittlung des rechtlichen Sinnes der Norm. Indessen steckt dieser Sinn nicht, wie die traditionelle Methodenlehre jedoch annimmt, nur im Gesetz, in den abstrakten und darum weitgehend sinnentleerten gesetzlichen Begriffen, man muß vielmehr, um diesen Sinn zu ermitteln, auf etwas Anschaulicheres zurückgreifen, auf die in Betracht kommenden konkreten Lebenssachverhalte. Der »Sinn des Gesetzes« läßt sich nie ermitteln ohne den Sinn, ohne die »Natur« der zu beurteilenden Lebenssachverhalte. Daher ist ja auch der »Gesetzessinn« nichts Feststehendes, er wandelt sich – trotz gleichbleibendem Gesetzeswortlaut – mit den Lebenssachverhalten, eben mit dem Leben selbst. Was etwa eine »Waffe« im Sinne des Strafgesetzbuchs ist, hängt davon ab, was man hic et nunc zur Tötung und zur Verletzung von Menschen verwendet; infolgedessen kann heute etwas »Waffe« sein, was es zur Zeit des Erlasses des Strafgesetzbuches noch gar nicht gab und was auch dem herkömmlichen »Begriff« der Waffe nicht unterfällt. Wenn man eine neue ätzende Chemikalie als »Waffe« im Sinne des § 250 StGB (schwerer Raub) bezeichnet, so folgt das also niemals einfach aus dem abstrakt definierten Begriff der Waffe, sondern weit mehr aus dem Sinn, aus der »Natur« der vom Gesetz zu regelnden Lebenssachverhalte. Oder man kann auch so sagen: »Waffe« wird hier nicht mehr als ein abstrakt definierter Begriff verstanden, sondern als ein 20 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 26; vgl. auch Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 56 sowie S. 214 Anm. 47 (»Subsumtion als Gleichsetzung«). 21 Engisch, Logische Studien (Fn. 20), S. 19. Die »Subsumtion« steckt danach im Grunde im »Untersatz« des logischen Schlusses; so ausdrücklich: Einführung (Fn. 20), S. 50. 22 Engisch, Einführung (Fn. 20), S. 57f.; Logische Studien (Fn. 20), S. 33. Vgl. dazu Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 141.

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»Sinnbegriff«, als ein »Funktionsbegriff«, eben als ein analoger Begriff, der noch ein vergleichsweise Ähnliches meint, als was man im eigentlichen Sinne unter Waffe versteht. Ganz ebenso ist »Urkunde« als analoger Begriff gemeint, wenn man auch »Beweiszeichen«, die stricto sensu keine Urkunden sind, als solche versteht. Oder wenn man sagt, das »Renommee« einer Aktiengesellschaft könne wie die »Ehre« eines Menschen beleidigt werden, so läßt sich das allenfalls damit begründen, daß man hier den Begriff der »Ehre« in einem – allerdings sehr ausgedehnten – analogen Sinne verwendet. Wenn demgegenüber das Reichsgericht, wie schon erwähnt, Elektrizität nicht als »Sache« angesehen hat, deren Entwendung als Diebstahl strafbar ist, so ist das deswegen nicht überzeugend, weil dabei der Begriff der Sache nicht im Sinn der zu regelnden Lebenssachverhalte verstanden worden ist. [40] Wir sprachen von den »zwei Seiten« des methodischen Prozesses der Rechtsfindung: einerseits Angleichung des Lebenssachverhalts an die Norm, andererseits Angleichung der Norm an den Lebenssachverhalt. Das darf nun aber nicht so verstanden werden, als ob es sich dabei um getrennte Akte handelte, um ein Nacheinander von Induktion und Deduktion, es ist vielmehr ein Zugleich. Es ist ein »Zug um Zug« vonstatten gehendes Sich-öffnen des Sachverhalts zur Norm und der Norm zum Sachverhalt hin, und eben in diesem »Sich-öffnen« liegt die der Analogie eigene »extensio«. Was man in der Jurisprudenz traditionell Analogie nennt, unterscheidet sich von der »normalen« Rechtsfindung und namentlich von der sog. »teleologischen Interpretation« nur durch den Grad der extensio, aber nicht durch die logische Struktur des Verfahrens. Auch die »gewöhnliche« Subsumtion ist eine Analogie. Man könnte Subsumtion und Analogie nur dann voneinander logisch scheiden, wenn es eine logische Grenze zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit gäbe. Aber diese Grenze gibt es nicht, denn materiale Gleichheit ist immer nur Ähnlichkeit, und formale Gleichheit kommt in der Wirklichkeit nicht vor, sie »existiert« nur im Bereich mathematischer (logistischer) Zahlen und Zeichen. An dieser Sachlage scheitert jegliches »Analogieverbot«, mag man es auch, da es sachlich nicht zu begründen ist, umso emphatischer beschwören. Das Gesagte klingt in den Ohren des Juristen nur deshalb befremdlich, weil wir hier das methodische Verfahren der Rechtsfindung beim wahren Namen nennen, weil wir seinen analogischen Charakter aufdecken. Im übrigen aber sagen wir nichts Ungewöhnliches. So spricht Engisch – unter Zustimmung von Viehweg – ganz in dem vorstehend dargelegten Sinne von einer »ständigen Wechselwirkung«, in einem »Hin- und Herwandern des Blickes« zwischen Norm und Lebenssachverhalt23. Larenz bezeichnet das Verhältnis von »Norm« und 23 Engisch, Logische Studien (Fn. 20), S. 15; siehe auch S. 27: »Wechselwirkung zwischen Auslegung und Subsumtion«; Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, S. 90. Vgl.

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»Entscheidung« als »dialektisch«: »Die Ent-[41]scheidung ist weder einfache ›Anwendung‹ der Norm, durch die diese unverändert bliebe, noch ist sie andererseits ein rein ›voluntaristischer‹ Akt, sondern Bewußtmachung, Verdeutlichung, somit nähere Bestimmung und dadurch mehr oder weniger auch schon eine Fortbildung oder weitere Gestaltung (›Konkretisierung‹) des der allgemeinen Norm immanenten Sinngehalts … Die Norm bedarf … fortgesetzt der Entscheidung, um als Norm (d. h. Richtmaß, ›allgemeines‹ Gesetz) in bestimmter Weise wirken zu können, die ›Entscheidung‹ bedarf ihrerseits der Norm oder doch eines Prinzips, an dem sie sich ausrichten kann, weil anders sie nicht als Recht Geltung beanspruchen könnte«24. Und schließlich sei, um noch einen letzten Zeugen zu benennen, Henkel angeführt, der in ganz ähnlicher Weise »die zwei Seiten des Rechtsbildungsprozesses« herausstellt: »1) die Gewinnung derjenigen Ordnungselemente, die von den ›Dingen‹ und ihren Gesetzlichkeiten oder Strukturen her zu erfassen sind, 2) diejenigen Normgestaltungsmomente, welche eine Ordnung auf die Ziele, Werte und Zwecke des Rechts hin, eine Hinordnung auf die Anforderungen der Rechtsidee, ermöglichen«25. Hier wird überall, wenn auch mit unterschiedlichen Worten, zum Ausdruck gebracht, daß man weder den »Obersatz« noch den »Untersatz« des sog. juristischen Schlusses isoliert je für sich ermitteln kann, daß darum Rechtsfindung nie einfach nur ein logischer Syllogismus ist, sondern ein Hand in Hand gehendes Hinübertasten vom Bereich des Seins in den Bereich des Sollens und vom Bereich des Sollens in den Bereich des Seins, ein Wiedererkennen der Norm im Sachverhalt und des Sachverhalts in der Norm. Die Tatsache, daß alle Rechtsfindung ein analogisches Verfahren darstellt und darum die Struktur der extensio aufweist, erklärt auch das immer wieder bestaunte Phänomen, »daß das Gesetz klüger ist als der Gesetzgeber«, daß aus dem Gesetz Entscheidungen herausgelesen werden können, die der Gesetzgeber gar nicht hineingelegt hat. Versteht man die Gewinnung konkreter juristischer Urteile einfach als »Gesetzesanwendung«, dann bleibt dieses Phänomen ein unlösbares Rätsel. Freilich glaubt man eine Erklärung in der sog. »objektiven Auslegungstheorie« zu besitzen, [42] die nicht am Willen des historischen Gesetzgebers, sondern an dem sich wandelnden »Sinn des Gesetzes« orientiert ist. ferner Coing, Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 22f. (das Verfahren der Rechtswissenschaft ist »nicht rein deduktiv«, sondern »topisch«), und Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschr. f. Ernst Rabel, Bd. II, 1954, S. 119f. (»Anpassung [Sinnadäquanz] des Verstehens«, »Abstimmung«, »Harmonie«). 24 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 118; siehe auch S. 135. Er zitiert Schönfeld, Die logische Struktur der Rechtsordnung, 1927, S. 51: »Gesetz und Richterspruch sind relativ aufeinander.« 25 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 297.

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Aber wieso wandelt sich der »Sinn des Gesetzes«, wenn der Gesetzeswortlaut derselbe bleibt? Das ist doch einzig und allein deshalb der Fall, weil dieser »Sinn des Gesetzes« gar nicht nur im Gesetz steckt, sondern ebenso in den konkreten Lebenssachverhalten, für die das Gesetz bestimmt ist. Die »objektive Auslegung« des Gesetzes ist also in Wahrheit gar nicht nur Auslegung des Gesetzes, sondern sie ist jener komplexe »deduktiv-induktive«: analogische Vorgang, jenes Hinund Herwandern des Blickes zwischen Gesetz und konkretem Sachverhalt, von dem oben die Rede war. Nur wegen dieser Analogizität, dieser »Polarität« von Lebenssachverhalt und Normsachverhalt lebt und wächst das Recht, hat es die Seinsstruktur der Geschichtlichkeit26. Wie das Verfahren der Rechtsfindung, der Gewinnung des konkreten juristischen Urteils, so hat auch schon das Verfahren der Gesetzgebung, der Gestaltung der Gesetzesnorm, analogischen Charakter. Es besteht darin, daß die Rechtsidee (bzw. die aus ihr fließenden allgemeinen Rechtsgrundsätze) und die zu regelnden möglichen, vom Gesetzgeber gedanklich antizipierten Lebenssachverhalte zueinander in Entsprechung gebracht werden (Angleichung, Assimilation). Die Rechtsidee einerseits muß zu den Lebenssachverhalten hin geöffnet, sie muß materialisiert, konkretisiert, »positiviert« werden – die Lebenssachverhalte andererseits müssen idealisiert, normativ-begrifflich geformt, »konstruiert« werden. Der Gesetzgeber faßt eine Gruppe von Lebenssachverhalten, die sich unter einem als »wesentlich« anzusehenden Gesichtspunkt (etwa einer spezifischen Interessenlage oder der Angriffsrichtung gegen ein bestimmtes Gut) als »gleich« erweisen, zu einem begrifflich formulierten »Tatbestand« zusammen und ordnet dafür eine Rechtsfolge an. Was so, um das Gleichheitsprinzip zu verwirklichen, im gesetzlichen Tatbestand einander gleichgesetzt wird, ist aber in Wahrheit niemals wirklich gleich: kein Diebstahl wird genau so begangen wie irgendein anderer, kein Mensch stimmt in seiner tatsächlichen Geschäftsfähigkeit oder in seiner tatsächlichen Schuld-[43]fähigkeit mit sonst einem Menschen überein, weil alle Menschen in ihren Kenntnissen, Fähigkeiten, Charakteranlagen, Verstandes- und Willenskräften verschieden sind27. In der Wirklichkeit gibt es nur eine mehr oder weniger große Ähn26 Erste Aufsätze, die Geschichtlichkeit des Rechts aus solcher »Polarität« zu begründen: Arthur Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957; Das Schuldprinzip; Eine straftrechtlichphilosophische Untersuchung, 2. Aufl. 1976, S. 86ff.; Die ontologische Struktur des Rechts, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts (Wege der Forschung, Bd. XXII), 1965, S. 470ff. Daselbst auch weiterführende Hinweise. 27 Darum hat auch das strafrechtliche Schuldurteil stets analogischen Charakter : der Richter vergleicht den Täter mit sich selbst (»stellvertretendes Gewissensurteil«) oder mit dem Verhalten anderer, bei denen die Umstände – Kenntnisse, Fertigkeiten, körperlich-seelischer Zustand, Situation usw. – ganz ähnlich gestaltet waren. Die eigentliche (»persönliche«) Schuld des Täters kann er nicht feststellen. Vgl. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip; Eine strafrechtlich-philosophische Untersuchung, 2. Aufl. 1976, S. 197ff., 212ff., 223ff. u. ö.

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lichkeit oder Unähnlichkeit; die in den gesetzlichen Tatbeständen erfolgten Gleichsetzungen (ein siebzehnjähriger Mensch ist genauso »beschränkt geschäftsfähig« wie ein siebenjähriges Kind) und Ungleichsetzungen (ein Mensch eine Minute vor Erreichung des Alters der vollen Geschäftsfähigkeit und eine Minute danach) sind künstlich erzeugt, sind das Ergebnis von Abstraktionen. Das Ursprüngliche ist die Analogizität des Seins. Bei der Bildung der Normen des »Gewohnheitsrechts« liegen die Dinge nicht anders, nur daß hier die Arbeit des Gesetzgebers von den »stillwirkenden Kräften« einer langandauernden, gleichmäßigen (: die Lebenssachverhalte unter dem Gesichtspunkt eines Rechtsprinzips gleichsetzenden) Übung geleistet wird. Und was die sog. »freie richterliche Rechtsfindung« angeht, die durch das Fehlen einer gesetzlichen bzw. gewohnheitsrechtlichen Norm gekennzeichnet ist, so kann auch hier der Akt der Normbildung nicht einfach übersprungen werden. Der Richter muß vielmehr, wie es in dem berühmten Art. 1 Abs. 2 des Schweizer Zivilgesetzbuchs heißt, bei solcher Sachlage zunächst die Rolle des Gesetzgebers übernehmen, d. h. er muß sich eine Norm (»Richterrecht«) erarbeiten, indem er den zu entscheidenden singulären Lebenssachverhalt durch Vergleich mit anderen – gedanklich vorgestellten – ähnlich gestalteten Lebenssachverhalten generalisiert (unter dem Aspekt eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes konstruiert); erst dann kann er zur konkreten Rechtsentscheidung gelangen. »Freie richterliche Rechtsfindung« ohne eine generelle Norm wäre keine Rechts-findung, sondern ein Willkürakt – wobei nicht geleugnet werden soll, daß ein Willkürakt auch einmal »gerechter« ausfallen kann als ein methodisch gewonnener Rechtsspruch.

4.

Die gegenseitige Entfaltung von Sachverhalt und Tatbestand (Winfried Hassemer)

Sehen wir etwas näher zu, wie das Verfahren der Tatbestandsauslegung zu denken und zu bewerkstelligen ist, dann wird das eben ausgesprochene Urteil noch deutlicher und nachdrücklicher bestätigt. Festgestellt ist schon die Relation zwischen Tatbestand und Tatbestandsmerkmalen. Beide konstituieren gegenseitig die hermeneutische Dimension des jeweils anderen: wie die Tatbestandsmerkmale den Tatbestand »ausmachen« und festlegen, wie er zu verstehen ist, was er bedeutet, so beeinflußt der Tatbestand als Ganzes den Wortsinn seiner Merkmale1. Dieses Faktum muß eine Bedeutung haben für die gerade im Gang befindliche Untersuchung, in der ja nach dem Verhältnis des Tatbestandes zum Sachverhalt gefragt wird. Wenn nämlich richtig ist, daß der Tatbestand nur von seinen Merkmalen her verstehbar ist, wenn weiterhin feststeht, daß er im Verfahren der Auslegung auf den Sachverhalt bezogen wird, dann stellt sich die Frage, ob der Sachverhalt, der dem Tatbestand entspricht, etwas aufweist, was den Tatbestandsmerkmalen entspricht, und wie dies, bejahten Falls, zu denken und aufzufinden ist. Die Antwort auf die erste Frage ist einfach: Soll ein Verhalten dem § 242 StGB »subsumiert« werden, so ist aufzuweisen, welcher Bestandteil dieses Verhaltens etwa als »Wegnahme« zu qualifizieren ist oder welcher Gegenstand als »Sache« usw. Alle strafrechtliche Auslegung geschieht auf diese Weise, der Sachverhalt wird aufgegliedert und als solcher den Merkmalen des Tatbestandes zugeordnet. Wir wollen solche Sachverhalts-[103]teile, um die Parallelität zum Tatbestand auch sprachlich zu verdeutlichen, wie oben2 Sachverhaltsmerkmale nennen. Dieses Auffinden von Sachverhaltsmerkmalen setzt ein anderes Problem schon als gelöst voraus, nämlich: nach welchen Kriterien der Sachverhalt 1 Siehe oben [im Original] S. 13 und 87f.; dasselbe gilt für die Verhältnisse Tatbestand/Tatbestandsmerkmal-Situation, Tatbestand/Tatbestandsmerkmal-System, und Tatbestand/Tatbestandsmerkmal-Konzeption, die bei dieser Untersuchung mitgemeint sind und mitbefragt werden. 2 Seite 55 Fn. 25 [im Original]; dort (S. 55ff.) wurde das Problem der Konstitution des Sachverhalts als Problem schon angeschnitten.

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überhaupt aufgeteilt werden kann und nach welchen Kriterien das für die Sachverhaltsentscheidung Relevante vom Irrelevanten zu scheiden ist – oder, um einen Terminus der Wissenschaftslehre zu verwenden, der in diesen Zusammenhang gehört: wie aus dem Lebensvorgang der Sachverhalt generalisierend abstrahiert werden kann. Das erste Problem bedeutet die Frage, wie ein Lebensvorgang zum Sachverhalt wird. Wo fängt der Sachverhalt an, wo hört er auf, wenn der A nach dem Genuß von fünf Flaschen Bier zwei Stunden durch die Stadt wandert, dann irgendwo ein fremdes Fahrrad wegnimmt, mit dem er leicht beschwingt, doch zielstrebig seine Wohnung erreicht, wo er sich zum Essen niedersetzt usw.? Wenn der Alkoholgenuß zum Sachverhalt gehört, warum dann nicht das Wandern durch die Stadt oder das Essen? Das gleiche Problem entsteht, wenn nach der Relevanz der Sachverhaltsteile gefragt wird, danach also, ob sie als Sachverhaltsmerkmale anzusehen sind. Das rote Hemd des Täters ist sicher irrelevant; schwieriger wird es schon bei dem Alter des Täters oder wenn sich das Geschehen um 20 Uhr im Februar abspielte3. Die letzten Beispiele weisen schon darauf hin, in welcher Richtung die Lösung des Problems zu finden ist: Wie ein Lebensvorgang zu einem Sachverhalt wird, wie sich Sachverhaltsteile aufzeigen lassen, wie diese Sachverhaltsteile zu Sachverhaltsmerkmalen werden, richtet sich nur nach dem Tatbestand und seinen Merkmalen4. Erst wenn eine Norm gefunden ist, welche auf einen Lebensvorgang angewendet werden soll, kann der Auslegende daran gehen, den Sachverhalt zu konstruieren5. Was Sachverhaltsmerkmal ist, läßt sich erst [104] dann sagen, wenn feststeht, was Tatbestandsmerkmal ist, was Sachverhalt, erst nach Klärung des Tatbestandes6. 3 Vgl. damit auch Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 173, der allerdings zu weit geht, wenn er das Rechtsgefühl als »irrationales« Relevanzkriterium nennt; siehe auch ebenda 350ff. 4 Ganz ähnlich Forsthoff, Recht und Sprache, 1940, S. 30f. (er verwendet den Terminus »Tatbestand« anstelle des hier gebrauchten »Sachverhalt«). 5 Insofern ist Konstruktion des Sachverhalts Abstraktion, verstanden als »Abblendung gegen das Unwesentliche«, als »Aufnahme der Hinsicht, die konstitutiv ist für …« (Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, 2. Aufl. 1965, S. 64). Siehe auch dens., Wortbedeutung und Begriff, in: Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache; Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik, 2. Aufl. 1958, S. 32. Vgl. dazu auch Popper, Logik der Forschung, 2. Aufl. 1966, S. 71ff. (»Theorie und Experiment«), bes. S. 74; Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 1965, S. 20ff.; in Andeutung auch wohl Scheuerle, Rechtsanwendung, 1952, S. 65ff. (vgl. bes. seine Ausführungen zu den von ihm so genannten »natürlich gewachsenen Begriffen«); ähnlich ebenda S. 72ff., S. 90ff. 6 Vgl. zur Konstitution des »Falls« auch Lipps, Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalles zum Gesetz, in: Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache; Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik, 2. Aufl. 1958, S. 48f.; übereinstimmend und ausführlicher neuerdings

Die gegenseitige Entfaltung von Sachverhalt und Tatbestand

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Nun war aber gezeigt, daß der Tatbestand und seine Merkmale nicht ohne den (geschehenen oder erdachten) Sachverhalt verstehbar sind (Problem des Wirklichkeitsbezugs); sie wären anders steril, nur vorverstanden und als hermeneutische Instrumente nicht adäquat erfaßt. Somit scheint strafrechtliche Auslegung ein zirkuläres Verfahren zu sein7. Gerade aber in dieser Paradoxie haben wir ein Essentiale der strafrechtlichen Auslegung erkannt. Der gleichzeitige Bezug der Faktoren macht ihre hermeneutische Qualität aus, erst so werden sie fruchtbar und sind zu handhaben. Deshalb darf man dies nicht, wie es etwa in einem formalen System Gebot wäre, als logische Antinomie auffassen und auszuschließen suchen. Insbesondere der Weg Russells, der hier naheliegt, ist für die strafrechtliche Hermeneutik nicht gangbar8. [105] Der Weg, auf dem die Lösung des Problems liegt, ist von der Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 1965, bes. 35ff., 46ff.; er spricht anstelle von »Konzeption« oder »Hinsicht« von der »Frage«. 7 Siehe dazu auch, ganz ähnlich, Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 14.; Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 1965, S. 56. 8 Gedacht ist an die Typenlehre, die besonders in den Principia mathematica von WhiteheadRussell, 2. Aufl. 1963, (siehe dort bes. I 37ff., 161ff.) ausgebaut wurde. Zwar meint Russell nicht exakt unser Problem (das Zirkelproblem geisteswissenschaftlicher Hermeneutik; siehe dazu grundlegend Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, bes. S. 250ff., 275ff.), vielmehr die logische Antinomie der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten darf, – aber wenn er davon spricht, daß »der in Frage stehende circulus vitiosus … aus der Annahme (entsteht), daß eine Menge von Gegenständen Objekte enthalten könne, die nur definiert werden können vermittels der Menge als Ganzem« (Principia mathematica I 37), so wird deutlich, daß sein und unser Problem ähnliche Grundstruktur haben; denn beidesmal geht es um Funktionen, zu deren Definitionsbereich die Funktion jedenfalls teilweise selber gehört, was logisch widersprüchlich ist; bei uns ist dies das Problem, daß der Sachverhalt sich offenbar selber dadurch mitentscheiden hilft, daß er hermeneutisch in den Tatbestand eingeht, damit dieser überhaupt zum geeigneten Entscheidungsinstrument für diesen Sachverhalt wird – und vice versa für den Tatbestand. Die formallogische Typenlehre löst die Antinomie dadurch, daß sie Individuenbereiche definiert, diese von Klassen von Individuen, diese wieder von Klassen von Klassen von Individuen trennt usw. Solche Klassen werden dann Typen erster, zweiter, dritter usw. Stufe genannt und für die logische Operation geschieden (vgl. bes. Principia mathematica I 48ff., 161ff.). Die Verbindung des Problems des hermeneutischen Zirkels mit der Konstruktion von Metasprachen (die Russellsche Typentheorie ist nichts anderes als ein System von Objekt-, Meta-, Metameta- … Sprachen) hat auch Lohmann, Philosophie und Sprachwissenschaften, 1965, S. 241, gezeigt. Für unser Problem ließe sich diese Lösung folgendermaßen denken: Die Glieder der Reihe Tatbestand – Subordination – Subsumtion – Sachverhalt wären aus ihrer gegenseitigen Bezogenheit zu lösen und in Klassen von Klassen (Typen) zu scheiden. Dann hätte etwa der Tatbestand mit der Subsumtion (und damit dem Sachverhalt) nur noch klassenlogisch zu tun, und der Zirkel wäre vermieden (zu dieser Operation vgl. auch Carnap, Einführung in die symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen, 2. Aufl. 1960, S. 83 über »Mehrsortige Sprachen« und zur Einbeziehung von Sätzen in ein Typensystem; Bochenski-Menne, Grundriß der Logistik, 2. Aufl. 1962, S. 74ff. (75); Prior, Formal Logic, 2. Aufl. 1962, S. 283ff.; Copi, Symbolic Logic, 2. Aufl. 1965, S. 339ff.; Becker, Einführung in die Logistik, 1951, S. 45ff. (46); ohne Hinweis auf die Principia auch Bochenski, Über die Analogie, in: The Thomist 11, 1948. Hier zitiert aus:

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neuesten rechtswissenschaftlichen Methodenlehre schon eingeschlagen, wenn auch nur in knappen Andeutungen und in Abwehr gegen die herrschende Meinung, welche mit dem Begriff »Subsumtion« die Auslegung auf ein deduktivlineares Vorgehen festlegt. Wie der Text, so geht auch Engisch von der Frage aus, ob es sich hier um einen fehlerhaften Zirkelschluß handle, und gibt die Antwort: »Sieht man aber näher zu, so handelt es sich nur um eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt«9. Larenz redet von einem dialektischen Prozeß zwischen Norm und Entscheidung und sieht in der Entscheidung »Bewußtmachung, Verdeutlichung, somit nähere Bestimmung und dadurch mehr oder weniger auch schon eine Fortbildung oder weitere Gestaltung (»Konkretisierung«) des der allgemeinen Norm immanenten [106] Sinngehalts»10. Arthur Kaufmann sieht in der Rechtsfindung keinen »logischen Syllogismus«, »sondern ein Hand in Hand gehendes Hinübertasten vom Bereich des Seins in den Bereich des Sollens und Bochenski, Logisch-philosophische Studien, 1959, S. 103, 110, 116 und ff., bei Einführung der metasprachlichen Zeichen »a« und »b«; vgl. aber auch ebenda 128; Carnap, Der logische Aufbau der Welt. Wiederabdruck zusammen mit Scheinprobleme der Philosophie, 2. Aufl. 1961, S. 39f.). Der Sachverhalt wäre Individuenbereich (Typus 0. Stufe), die durch Subordination des Tatbestandes sich bildenden Klassen von Verhalten wären, je nach ihrer Konkretheit und Allgemeinheit (der Nähe zum Sachverhalt), Klassen von Individuen (Typus 1. Stufe), Klassen von Klassen von Individuen (Typus 2. Stufe), der Tatbestand endlich, je nach der Anzahl der durch Subordination entstandenen Klassen, ein Typus n. Stufe. Ergebnis wäre ein formal-linearer Auf- und Abstieg von Stufe zu Stufe (Typus zu Typus) ohne funktionales Miteinbeziehen der benachbarten Stufen. Abgesehen von grundsätzlich überwindbaren Hindernissen (z. B. wie kann exakt eine durch Subordination entstandene Klasse von einer auf tieferer oder höherer Stufe gebildeten geschieden werden?), steht nach den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung fest, daß dieser Lösungsweg für die strafrechtliche Hermeneutik eine Sackgasse ist. Er führt nämlich, wie bisheriges formales Vorgehen auch, zu der letztlich unbeantwortbaren Frage, wie denn ohne funktionales Einbeziehen des Individuenbereichs etwa vom Typus 3. zum Typus 2. Stufe zu gelangen sei, oder, noch mehr an der Wurzel des Problems, wie denn hermeneutisch-konkret über die verschiedenen Typen zu reden sei ohne den Blick auf ihre Nachbarn und den Wirklichkeitsbereich, den sie meinen. Damit aber ist die Paradoxie des zirkulären Verfahrens nicht beseitigt, sondern gerade im Gegenteil als Essentiale strafrechtlicher Auslegung dargetan. 9 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1964, S. 15 (14f.). Allerdings führt Engisch diesen Erkenntnisansatz nicht konsequent durch, wenn er im folgenden (S. 15ff.) seiner Subordination des § 211 StGB ein lineares Verfahren zugrundelegt und geradezu von »deduktiven Schlüssen« spricht (17); ähnlich Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 12. Auch die Subordination eines Tatbestandes ist nicht rein deduktiv zu bewerkstelligen, der Blick muß auch hier »hin- und herwandern«; denn auch die Subordination setzt Verstehen des Tatbestandes voraus und damit hermeneutisches Einbeziehen der Wirklichkeit: der Sachverhalte, wie gezeigt ist. 10 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 112; ebenso Larenz, Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 2. Siehe zu dieser Fortbildung des Textes im Textverstehen auch Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 158ff., zur Hermeneutik Schleiermachers und Hegels (Rekonstruktion und Integration); dagegen Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, 1966, S. 180 u. ö.

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vom Bereich des Sollens in den Bereich des Seins, ein Wiedererkennen der Norm im Sachverhalt und des Sachverhalts in der Norm«11. In den zitierten Meinungsäußerungen ist enthalten, daß strafrechtliche Auslegung wesentlich »zirkulär« vorgehen muß. Die Norm kann nicht »für sich« verstanden, der Sachverhalt nicht »für sich« konstruiert werden; im »Hin und Her«, im »Herüber und Hinüber« versteht und vollzieht sich das eine am andern. Dies haben auch wir schon dargetan, ohne damit aber den Verdacht fehlerhaften Zirkelschließens ausräumen zu können. Wenn wir richtig sehen, so ist aber etwas Weiteres angedeutet. Wo von einem Überhaupt-erst-Verstehen oder auch nur von einem Besser-Verstehen des Tatbestandes am Sachverhalt und des Sachverhalts am Tatbestand die Rede ist, kann, streng genommen, nicht der Kreis, der circulus als Bild der hermeneutischen Schlußform gedacht sein. Dann nämlich wäre es so, daß mit dem Tatbestand der Sachverhalt feststeht und mit dem Sachverhalt der Tatbestand, daß der zu entscheidende Sachverhalt in die »Leerstellen« des Tatbestandes eingesetzt wird oder umgekehrt, wonach dann beide hermeneutisch abschließend zubereitet wären. Aber so haben wir das Verfahren der Auslegung gerade nicht gedacht. Das, was in die »Leerstellen« des noch nicht Verstandenen eingesetzt wird, ist ja ebenso ein noch nicht Verstandenes; anders ausgedrückt: wenn der Sachverhalt herangezogen wird, um den Tatbestand und seine Merkmale zu verstehen, dann ist der Sachverhalt ja noch nicht als solcher bereitgestellt, wie gezeigt war (wir haben hier deshalb erst von einem »Lebensvorgang« gesprochen). Wenn dies richtig ist, so folgt weiter, daß der Tat-[107]bestand nach dem ersten Blick auf den Sachverhalt (als Lebensvorgang) noch nicht verstanden sein kann, weil der Sachverhalt als Sachverhalt noch nicht verstanden war. Wenn, wie gezeigt, der 11 Kaufmann, Analogie und Natur der Sache; Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 1. Aufl. 1965, S. 32. Siehe auch ebenda S. 14: »Recht ist die Entsprechung von Sollen und Sein«, oder S. 33 für die Gesetzgebung, die so verfährt, »daß die Rechtsidee (bzw. die aus ihr fließenden allgemeinen Rechtsgrundsätze) und die zu regelnden möglichen, vom Gesetzgeber gedanklich antizipierten Lebenssachverhalte zueinander in Entsprechung gebracht werden (Angleichung, Assimilation)«. Weitere Anklänge bes. bei Schönfeld, Die logische Struktur der Rechtsordnung, 1927, S. 51; Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschrift für Ernst Rabel II, 1954, bes. S. 131ff. u. ö.; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie; Grundlagen des Rechts, 1964, S. 296f.; Esser, Juristisches Denken; Die Grenzen von Handwerk, Wissenschaft und Philosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 52, 1966, S. 263; Sax, Das strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, S. 50 u. ö.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S. 162ff., 197ff., 201ff., 203ff.; Hassemer, Der Gedanke der »Natur der Sache« bei Thomas von Aquin, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 49, 1963, S. 41f. Vgl. dazu auch die Deutung von Kants »reflektierender bzw. bestimmender Urteilskraft« bei Lauth, Die Frage nach dem Sinn des Daseins, 1953, S. 57 und S. 106 (»Rück-Sicht« von Wert und Wirklichkeit aufeinander bei Sinnverwirklichung).

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Winfried Hassemer

Lebensvorgang aber nur am Tatbestand zum Sachverhalt werden kann, so ist nun wieder der Rückblick auf den Tatbestand gefordert. Der aber war noch nicht ganz verstanden, weil er nur mit einem Lebensvorgang in Beziehung gebracht war und nicht mit dem gesuchten Sachverhalt usw. usw. Diese Vorstellung vom Verfahren der strafrechtlichen Auslegung liegt, wie wir glauben, auch den zitierten rechtstheoretischen Beiträgen zugrunde12. Sie ergibt sich für uns zwingend aus den zuvor erörterten Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen des Tatbestandes und Konstituieren des Sachverhalts (Konstruktion, »Abstraktion« des Sachverhalts aus dem Lebensvorgang)13. Strafrechtliche Auslegung vollzieht sich also, will man ein Bild heranziehen, nicht wie ein Kreis, sondern eher wie eine Spirale. Damit soll gesagt sein: Beide Faktoren des Auslegungsprozesses, Tatbestand und Sach-[108]verhalt, bestim12 Zur Verwiesenheit von Ausdruck und Verstehen des Ausdrucks vgl. auch Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften VII, 1927, S. 207f., 210ff.; Husserl, Logische Untersuchungen II, 2. Aufl. 1913, S. 23ff.; Heidegger, Sein und Zeit, 7. Aufl. 1953, §§ 17 und 18. Vgl. mit dem Text auch die Bestimmung der Bedeutung (auch eines Begriffs) als »unentfaltetes Innesein« bei Lauth, Die Frage nach dem Sinn des Daseins, 1953, S. 38. 13 Auch Radbruch, der mit Verweisung auf Jherings Präzipitation von einer »juristischen Konstruktion« spricht (Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift für Rudolf Laun zum 65. Geburtstag, 1948 [hier zitiert aus der Sonderausgabe 1960], S. 30ff. [31]), meint etwas Ähnliches wie wir. Er nennt »Konstruktion« »die fortschreitende Umformung eines Lebensverhältnisses in ein Rechtsverhältnis, eines Rechtsverhältnisses in ein Rechtsinstitut« und sagt: »Dieser Prozeß bedeutet die Herausarbeitung des juristischen Sinnes des Lebensverhältnisses«. Im Ziel dieses Verfahrens kommen wir überein, nicht aber, so scheint es, in der Beschreibung des Verfahrens selber. Radbruch sieht an dieser Stelle den Prozeß der Umformung im Grunde nur linear ; er spricht zwar von »fortschreitender Umformung« (31) und sagt, daß man »zum Zwecke der Erforschung … aus der Welt der Wirklichkeit in die Welt der Werte hinübertasten (muß), um in ihr die sinngebende Idee für diese empirische Erscheinung zu finden« (33; vgl. auch ebenda 14), realisiert also, um in der Sprache unseres Problems zu sprechen, die Verwiesenheit des Sachverhalts auf den Tatbestand (Wirklichkeit -> Wert: sinngebende Idee für die empirische Erscheinung), er beschreibt den Prozeß aber nicht zweiseitig; es fehlt hier die Verwiesenheit der Idee (scl. des Tatbestandes) auf die Wirklichkeit (scl. den Sachverhalt); erst diese doppelte Verwiesenheit kann die im Text beschriebene Dynamik des Auslegungsprozesses in Gang setzen. Was hier gemeint ist, wurde allerdings auch von Radbruch schon vorgedacht. An anderer Stelle (bes. Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift für Rudolf Laun zum 65. Geburtstag, 1948 [hier zitiert aus der Sonderausgabe 1960], S. 15ff.; Vorschule der Rechtsphilosophie [ed. Arthur Kaufmann], 3. Aufl. 1965, S. 22f.) spricht er von der »Stoffbestimmtheit der Idee«, dem »Hingelten des Sollens auf ein bestimmtes Substrat« (Lask) und meint damit, daß die Idee, soll sie als wirkende und als zu verwirklichende gedacht werden, ja soll sie überhaupt »gelten«, schon immer von dem, was sie meint und wofür sie gilt, geformt und bestimmt ist. Überträgt man dies auf seine Beschreibung der »juristischen Konstruktion«, so ist offenbar, daß diese nicht linear gedacht sein kann, weil auch die »Welt der Werte«, in die der Konstruierende »hinübertasten« muß, schon immer von der »Welt der Wirklichkeit« bestimmt ist. Da dann auch wieder das Umgekehrte gelten muß, ist der eigenartige, im Text beschriebene Prozeß begonnen.

Die gegenseitige Entfaltung von Sachverhalt und Tatbestand

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men sich gegenseitig nicht einmal und auf derselben hermeneutischen Ebene, sondern mehrmals und jeweils auf anderen, »höheren« hermeneutischen Ebenen14. Es ist nicht ein »Hinüber und Herüber« des Blicks, sondern es sind mehrere, und bei jedem neuen Hinsehen ist ein anderer (durch den Sachverhalt bzw. Lebensvorgang) besser verstandener Tatbestand und gleichzeitig ein anderer (durch den Tatbestand) besser verstandener Sachverhalt im Blick15,16. Und noch ein Drittes ist in unseren bisherigen Überlegungen und (undeutlich) im Bild der Spirale enthalten: Dieser Prozeß vollzieht sich nicht eigentlich in Stufen, sondern in »Windungen«; das »Hinüber und Herüber« erscheint nur in der logischen Analyse und der nachfolgenden Beschreibung als ein Nacheinander, als Deduktion und Induktion und Deduktion. In der Sache ist es ein »Zugleich«17, es ist eine Entfaltung18 von Tatbestand und Sachverhalt aneinander in der Kategorie der Gleichzeitigkeit, welchen Sprachgebrauch wir für treffender halten als den von Deduktion und Induktion19. 14 Vgl. damit auch Heidegger, Sein und Zeit, 7. Aufl. 1953, S. 7f., 152f., 314ff. »Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ›empfinden‹, heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen. … Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen. Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des Daseins selbst.« (153) (Hervorhebung von Heidegger). 15 Im Gegensatz dazu spricht Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962, S. 13 u. ö.; Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschrift für Ernst Rabel II, 1954, S. 95 u. ö., von einem bloßen »Nach-Denken« des Auslegers als Subjekt und läßt somit die eigenartige Neukonstitution des Verstandenen im Verstehen außer acht. 16 Von hier aus erhält ein berühmter Satz Radbruchs seine partielle Rechtfertigung und notwendige Korrektur (Einführung in die Rechtswissenschaft [ed. Konrad Zweigert], 11. Aufl. 1964, S. 166): »Die Auslegung ist also das Ergebnis – ihres Ergebnisses, das Auslegungsmittel wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht, die sogenannten Auslegungsmittel dienen in Wahrheit nur dazu, nachträglich aus dem Text zu begründen, was in schöpferischer Ergänzung des Textes bereits gefunden war …«. 17 So auch Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, S. 31; Hardwig, Die methodologische Bedeutung von Rechtsfällen für die Behandlung rechtswissenschaftlicher Probleme, in: JuS 7, 1967, S. 49ff., 51f. und passim; deshalb ist nicht ausgemacht und nicht auszumachen, wo, beim Tatbestand oder beim Sachverhalt, der Prozeß des Verstehens beginnt. Siehe dazu auch die Beispiele von Gadamer, Die Universalität des hermeneutischen Problems, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 73, 1965/66, S. 223; ähnlich wie hier und mit einer ausführlichen Beschreibung des auslegenden Vorgehens Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles; Studien zum Verhältnis von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung, 1965, S. 50ff. 18 Kaufmann spricht in Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, S. 31 von einem »Sichöffnen des Sachverhalts zur Norm und der Norm zum Sachverhalt hin«. Damit ist in der Sache dasselbe gemeint wie hier. 19 Es möge erlaubt sein, hier auf die Parallele der strafrechtlichen hermeneutischen Aktivität zur künstlerischen hinzuweisen, welche durch die Verwiesenheit von anzuwendendem Gebilde und Anwendung des Gebildes, Verstehen der Anwendung am Gebilde und des Gebildes

in der Anwendung begründet ist. Siehe dazu Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 111: »Das Spiel ist Gebilde – diese These will sagen: seinem Angewiesensein auf das Gespieltwerden zum Trotz ist es ein bedeutungshaftes Ganzes, das als dieses wiederholt dargestellt und in seinem Sinn verstanden werden kann. Das Gebilde ist aber auch Spiel, weil es – dieser seiner ideellen Einheit zum Trotz – nur im jeweiligen Gespieltwerden sein volles Sein erlangt. Es ist die Zusammengehörigkeit beider Seiten, was wir gegen die Abstraktion der ästhetischen Unterscheidung zu betonen haben.« Zum Textverstehen etwa des Historikers, dessen Nähe zur juristischen Auslegung deutlich ist, und zur Erfahrung von Kunst siehe Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 156. Zur exemplarischen Bedeutung der Kunst für die Hermeneutik dens., Die Universalität des hermeneutischen Problems, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 73, 1965/66, S. 215f.; Andeutungen auch bei Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 52.

Teil II: Das Vorverständnis von Rechtssätzen und die Bildung von Sachverhalten

Einleitung von Vincenzo Omaggio

Der Begriff des Vorverständnisses einer Rechtsnorm ist sicherlich der thematische Bereich, in dem der Einfluss der von Gadamer in »Wahrheit und Methode« entwickelten Thesen auf die Juristische Hermeneutik am deutlichsten sichtbar wird. Viele der von ihm geprägten Grundbegriffe, wie das Vorverständnis, der Hermeneutische Zirkel, die Befragung des Textes und die Antizipation des Sinnes, spiegeln sich übereinstimmend in den hier zusammengestellten, rechtstheoretischen Schriften so stark wieder, dass der Eindruck entstehen könnte, man habe es hier mit einer bloßen rechtswissenschaftlichen Rezeption der Gadamer’schen philosophischen Hermeneutik zu tun. Zwei Gründe sprechen jedoch gegen eine solche Sichtweise: – Zum einen trifft es eben nicht zu, dass das Moment des Vorverständnisses, wenn ihm auch eine durchaus wichtige Rolle zukommt, die einzige Komponente der Hermeneutik im Ganzen ist. Ebenso wenig besitzt das Vorverständnis eine wirkliche begriffliche Eigenständigkeit, wenn man es von dem entsprechenden Moment der Sachverhaltsbildung loslöst. Erst aus der Integration dieser beiden Begriffe lässt sich konkret jenes »Sich-gegenseitig-Bestimmen« von Rechtsnorm und Tatsache erklären, das für die Juristische Hermeneutik so kennzeichnend ist. – Auf der anderen Seite bedarf naturgemäß die Dichte des philosophischen Denkens Gadamers in Sachen Interpretation einer Umarbeitung vonseiten der Juristen auf der Ebene der Rechtswissenschaft und der Rechtsanwendung, da es als solches nicht ohne Weiteres Grundlage für die Rechtspraxis sein kann. Wie von Ulfrid Neumann bereits treffend angemerkt, kommt der sich auf die philosophisch-hermeneutische Tradition Gadamers berufenden Juristischen Hermeneutik für die Rechtspraxis eine klärende, aber keineswegs eine unmittelbar präskriptive Funktion zu. Gadamer hat in seinen Schriften äußerst einleuchtend dargelegt, dass »die Vorurteile und Vormeinungen, die das Bewusstsein des Interpreten besetzt halten, ihm nicht als solche zur freien Verfügung sind« (Wahrheit und Methode,

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Einleitung von Vincenzo Omaggio

S. 301), vielmehr sind sie die transzendentale Bedingung für das Verständnis: »Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität« (S. 298), sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Der hermeneutische Zirkel hat keine methodische Struktur, er kann nicht als »Forderung an die Praxis des Verstehens« (S. 271) verstanden werden, sondern beschreibt die ontologische Struktur des Verstehens, die Art und Weise also, wie der Verstehensprozess abläuft, wie er in uns »passiert« und was mit uns während dieses Prozesses »passiert, über unser Wollen und Tun hinaus«. Wie Joachim Hruschka unterstreicht, handelt es sich bei diesem Prozess nicht um eine juristische, sondern um eine phänomenologische Fragestellung, die sich damit beschäftigt, was passiert »schon vor aller Steuerung durch die Rechtssätze der traditionellen Auslegungstheorien« (Das Verstehen von Rechtstexten, S. 92). Karl Larenz wiederum geht davon aus, dass das Problem des Vorverständnisses ›nicht spezifisch juristisch ist‹. All dies heißt aber nicht, dass man von hier aus nicht eine sorgfältige Analyse derjenigen dynamischen Prozesse vornehmen könnte, die in den Bereich der Rechtsfindung fallen, wie das Kriele, Larenz, Hruschka, Esser und Müller in ihren hier erneut abgedruckten Beiträgen tun. Alle genannten Autoren anerkennen die Rechtsanwendung als grundlegendes Moment jeglichen Verstehens. Gadamer drückt diesen Grundsatz mit den Worten »Verstehen ist hier immer schon anwenden« (Wahrheit und Methode, S. 314) aus. Das Vorverständnis im Gadamer’schen Sinne sieht vor, dass jeder, der an die Auslegung eines Textes geht, mit einem ganz bestimmten Vorentwurf an den Text herantritt, der aus der Gesamtheit ganz bestimmter Erwartungshaltungen besteht, die einerseits sein Vorgehen beeinflussen, andererseits aber auch die notwendige Bedingung für den Interpretationsvorgang darstellen, ohne die der Text für den Interpreten stumm bleiben würde. Zum Verständnis gelangt man am Ende der Überarbeitung dieses Vorentwurfs, der selbstverständlich im Laufe der Analyse in Abhängigkeit zu den Antworten, die der Text dem Auslegenden auf seine »tendenziösen« Fragen liefert, ständig neue Formen annimmt. Der hermeneutisch gebildete Interpret ist dem Anderssein des Textes gegenüber aufgeschlossen, er verschließt sich nicht in dem Gedankenkonstrukt seiner eigenen subjektiven Vermutungen, sondern ist bereit, Antworten zu erhalten, die nicht seinen Erwartungen entsprechen. Er sucht die Schnittstelle beider Horizonte, desjenigen des Textinterpreten und desjenigen des Textes. Hier findet er, was beiden gemein ist, die »gemeinsame Sache«, in der Verstehen geschieht, die Sache, die wirklich zählt bei einer Interpretation, nicht wie in der romantischen Hermeneutik, die in der Wesensgleichheit mit dem Autor das höchste zu erreichende Ziel gesehen hat. Auf der Ebene der Rechtstheorie wenden sich die Autoren der Juristischen

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Hermeneutik explizit gegen den Rechtspositivismus, der gleich aus mehreren Gründen keine schlüssige Lösung für die Beschreibung der Prozesse von Rechtsfindung und -verwirklichung liefern kann. So schließt der Rechtspositivismus das Moment der Rechtsanwendung aus und stützt sich auf die Annahme der Offensichtlichkeit und Eindeutigkeit von Gesetzestexten. Ferner liegt ihm die Überzeugung der Schlüssigkeit von rechtlichen Syllogismen zugrunde, wonach konkrete Fälle mittels logischer Subsumtion unter eine allgemeine Rechtsnorm gestellt werden. Die Unzulänglichkeit des syllogistischen Modells und das Problem der Festlegung von Rechtshypothesen werden indes in der Juristischen Hermeneutik zum zentralen Kritikpunkt: Die Theorie des Syllogismus erhellt nur einen Teil des Argumentationszusammenhangs, nämlich jenen der Ableitung der Folgerungen aus den gesetzten Prämissen, während der schwierigere Teil, nämlich derjenige der Festsetzung eben jener Prämissen, außer Acht gelassen wird. Diese sind dann als solche auch nicht einfach gegeben, sondern stehen in einer dynamischen, als kreisförmig zu beschreibenden Beziehung mit den Lebenssachverhalten, die sie regulieren müssen. Das »Hin-und Herwandern des Blickes« zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm – eine Dynamik, die als Erster Karl Engisch so beschrieben hat – bestimmt grundlegend das Vorgehen eines Juristen, wenn er sich mit einem konkreten Fall konfrontiert sieht. Die erste im Raum stehende Frage ist diejenige nach den Rechtssätzen, welche für den jeweiligen Fall herangezogen werden sollen. Um dies zu entscheiden, muss man wissen, welche Tatsachen des jeweiligen gesamten Lebenssachverhalts relevant sind und welche es nicht sind. Um auch hierbei zu einer Entscheidung zu kommen, muss andererseits wiederum eine bestimmte Rechtsnorm zur Grundlage herangezogen werden (vgl. den Beitrag von Martin Kriele in diesem Teil). Diese Zirkel-(und nicht »Teufelskreis«-)Bewegung ist grundlegend für das Verständnis der Rechtsgewinnungsmethode. Die Bestimmung der Rechtsnorm (im richterlichen Syllogismus des Obersatzes) hängt in einem gewissen Grade vom Sachverhalt ab (Untersatz). Aber der Sachverhalt selbst muss ja auch erst einmal gebildet und beurteilt werden (siehe dazu die Beiträge zur Bildung des Sachverhaltes von Larenz und Hruschka). Rechtssätze, im Sinne der Bedeutung von rechtlichen Vorschriften, werden auf real vorgefallene Ereignisse (tatsächliche Geschehnisse) angewandt. Dies ist aber nur in dem Maße möglich, wie dieses Ereignis beschrieben werden kann (»Sachverhalt als Aussage«). Seine Beschreibung erfordert, dass es gelingt, aus dem gleichförmigen Strom der Geschehnisse ganz bestimmte für den Sachverhalt kennzeichnende Elemente herauszugreifen, d. h. ihre Rechtserheblichkeit festzustellen, die dank der (als passend angenommenen) Rechtssätze zum Vorschein tritt. Die zu Beginn gemachten Rechtshypothesen sind folglich beides zugleich: vorläufig und notwendig. Larenz findet folgende Formulierung: »Die Tätigkeit des Juristen setzt gewöhnlich nicht erst bei der rechtlichen Beurteilung

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Einleitung von Vincenzo Omaggio

des ihm fertig vorliegenden [Sachverhaltes], sondern schon bei der Bildung des seiner rechtlichen Beurteilung unterliegenden Sachverhaltes ein« (des Sachverhaltes als »Aussage«). Die von den vorläufigen Hypothesen ausgehende Festlegung der Rechtsnorm geht also einher mit der von dem rohen Faktenmaterial ausgehenden Sachverhaltsbildung als Endergebnis bzw. als Aussage. Im Laufe dieses mentalen Prozesses bildet sich aus dem »Roh-Sachverhalt« der »Sachverhalt als Aussage« heraus. Der Gesetzestext (Norm im »Rohzustand«) wird durch den Dialog mit den Hypothesen des Interpreten zum Rechtssatz, und die Normhypothesen werden gleichsam auf ihre Anwendbarkeit auf den jeweiligen Sachverhalt hin überprüft, der im Begriff ist, sich zu formen. Es handelt sich ganz offensichtlich um eine Kreisbewegung. Um einen »Sachverhalt als Geschehnis« beurteilen zu können, muss dieser zuerst in einen »Sachverhalt als Aussage« umgewandelt werden. Für diesen Vorgang sind allerdings die entsprechenden sprachlichen Werkzeuge vonnöten, die den Sachverhalt als Geschehnis von rechtlicher Seite qualifizieren. Die Art und Weise, wie dies geschieht, hängt wiederum ganz von dem zu bestimmenden Sachverhalt ab. Es drängt sich die Frage auf: Liegt hier ein Fehlschluss vor? Sicherlich könnte es dazu kommen, falls der Interpret in die Aussage über den Sachverhalt irrelevante oder im Sachverhalt als Geschehnis nicht beweisbare Elemente einbrächte oder wenn er die Bedeutung der von ihm als geeignet angenommen Normen abwandelte. Außerdem ist ja offensichtlich, dass die Sachverhaltsbildung nicht ohne Berücksichtigung des tatsächlich Geschehenen auskommt. Würde das also bedeuten, dass der Sachverhalt als Geschehnis in gewissem Maße gegenüber seiner Beschreibung eine Autonomie besitzt? Diese Frage wird von Hruschka in seinem Beitrag aufgeworfen, in dem er sich kritisch mit einigen einschlägigen Thesen aus Engischs »Logischen Studien zur Gesetzesanwendung« auseinandersetzt. Bei Engisch scheint der Tatsachenbeweis unabhängig vom jeweiligen anzuwendenden Rechtssatz erhoben zu werden (»den Fall als solchen, d. h. die zu beurteilenden Tatsachen feststellen«, heißt es bei Engisch), obwohl er durchaus die gegenseitige Beeinflussung von Tatsachenfeststellung und Rechtssatzermittlung anerkennt. Es handelt sich hier nach Engisch um eine einfache geschichtliche Untersuchung bestimmter Geschehnisse ohne Bezug auf einen normativen Rahmen. Larenz und Hruschka hingegen weisen darauf hin, dass die Tatsachenfeststellung ein Vorgang ist, der aus Beurteilung, Auswahl und Auslegung besteht. Der Vorgang als reine Tatsache ist gänzlich amorph und undefinierbar. Für seine Gestaltannahme als konkreter Tatbestand bedarf es eines »Hin-und Herwanderns des Blickes«. Dadurch kann der Richter (oder wem auch immer es obliegt, eine Aussage über die Tatsachen zu machen) aus der unspezifischen Masse von Begebenheiten diejenigen herausnehmen, welche den »Kern des Geschehens« angehen und die je nach einzelnen

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Situationszusammenhängen, Weltbildern, Wahrnehmungsweisen und Interpretationszusammenhängen mit Recht in Verbindung gesetzt werden können. Mithilfe von Beweismitteln muss der Urteilende die Tatsachen vor dem Prozess und während des Prozesses feststellen, aber die Frage, ob etwas wirklich vorgefallen ist, hat nur dann Sinn, wenn dieses »etwas«, das vorgefallen sein soll, auch beschrieben werden kann. Dies geschieht in der Tat mit Mitteln sowohl des alltäglichen als auch des juristischen Sprachgebrauchs, was auch der Grund dafür ist, dass »schon in die Stellung der Tatfrage etwas von rechtlicher Beurteilung einfließt« (Larenz). Mit anderen Worten: Ist einmal ein konkreter Tatbestand ermittelt, können alle zu beweisenden Begebenheiten auf der Grundlage eben dieses Tatbestandes untersucht werden. Eine so vorgenommene Beschreibung durch Auswählen und Aussondern durch den Urteilenden ist von einem grundlegenden Interesse geleitet, das die Grundlage für die Bildung des konkreten Tatbestandes liefert und die Richtschnur für die Bildung eines Rechtsfalls darstellt. Nach Hruschka ist das Werkzeug, das dem Urteilenden bei diesem Vorgang des Auswählens und Aussonderns hilft, das Stellen der richtigen Frage: Die richtige Fragestellung ist »die entscheidende Voraussetzung einer jeden Untersuchung«. Durch sie wird das Interesse geformt und die Untersuchung zu einer auf ihren Gegenstand hin gerichteten, aktiven Handlung verwandelt. Wie in den Fallbeispielen bei Hruschka aufgezeigt wird, bestimmt die aktive Tätigkeit des Fragens (z. B.: »Hat der Angeklagte den Diebstahl begangen oder nicht?«) die rechtliche Erheblichkeit oder Unerheblichkeit aller Fakten und Handlungen und ist ausschlaggebend für die Beweisführung. Die Beweismittel stellen das Rohmaterial dar, aus dem der Beurteilende nützliche Aussagen ableiten kann, um auf die Grundfrage zu antworten. Folgerichtig sind dann nach Hruschka »die leitende Frage und das Beweisthema mithin eine identische Frage – die Grundfrage – in verschiedenen sprachlichen Formen«. In hermeneutischer Sichtweise entwickelt sich der Rechtsprozess dann auch Schritt für Schritt durch die Ermittlung der Rechtserheblichkeit der konkreten Tatbestände: ein für die Juristische Hermeneutik als Denkrichtung charakteristisches Moment. Trotzdem ist die Gefahr noch nicht endgültig gebannt, dass das Hin- und Herwandern des Blickes, wenn auch nicht in einem Circulus vitiosus, so doch im Stillstand oder in einer Sackgasse endet, ohne zu konkreten Ergebnissen zu führen. Zwei wesentliche Momente dieses Prozesses der schrittweisen Konkretisierung kommen hier ins Spiel: – Auf der einen Seite erhält der Konkretisierungsprozess Orientierung aus dem Vorverständnis, verstanden als ethisch-materielle Einschätzung der vorauszusehenden Folgen der Entscheidung, die ihrerseits zuerst als möglicherweise zu akzeptierende Lösung angenommen und dann mit dem Wortlaut des Ge-

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setzestextes abgeglichen wird, der die sogenannte »Methodenwahl« (bei Esser finden wir »Richtigkeitskontrolle«) bestimmt. So gelingt es, die beständige Verbindung der Rechtswirklichkeit mit dem außergesetzlichen Wertezusammenhang aufrechtzuerhalten, der durch die Techniken gefiltert als Richtlinienrahmen fungiert – im Gegensatz zu formalistischen Ansätzen, die diese außergesetzlichen Kriterien aus ihrer Betrachtung ausschließen, nicht, weil sie etwa wirklich unbeachtet bleiben könnten, sondern weil sie nicht in das Bild dieser Denkrichtungen der Jurisprudenz als Wissenschaft passen. – Auf der anderen Seite erlangt die systematische Kontrolle der Verträglichkeit der Hypothesen mit dem bestehenden Rechtssystem enorme Wichtigkeit (»Stimmigkeitskontrolle«). Ausgeführt wird sie mit Mitteln der Rechtsdogmatik, bestehend aus theoretischem Vorwissen, rechtswissenschaftlichen und richterlichen Ausrichtungen, Anwendungsmaximen und Begriffen, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was Luigi Mengoni als »den spezifisch juristischen Kern des Vorverständnisses des Juristen« bezeichnet hat. Die unerlässliche Orientierungsfunktion des Rechtssystems hat Larenz unterstrichen, der davon spricht, dass »wer auch immer die auf einen bestimmten Sachverhalt anzuwendenden Rechtsnormen suchen sollte, sonst im Dunkeln tappen würde« und sich selbst überlassen wäre. Auf diese Art und Weise stellt die Hermeneutik einerseits fest, was sich in Wahrheit beim Rechtsfindungsprozess ereignet, nämlich, dass auch Werturteile eine Rolle spielen, stellt aber andererseits auch die notwendigen Werkzeuge zu seiner Überprüfung zur Verfügung, damit es nicht zu einem willkürlichen Vorgang kommt. Insbesondere wird verhindert, dass der Interpretierende nicht die Rechtsnormen mit den eigenen Vorurteilen verfälschen kann oder aber emotional geleitete Entscheidungen im Nachhinein zu stützen sucht. Ein hermeneutisch gebildeter Verstand stellt die Forderung nach Kontrollmechanismen, um die Rationalität der Auslegungspraxis zu gewährleisten. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist der abgedruckte Beitrag von Friedrich Müller. Er unterstreicht die Notwendigkeit, die das Vorverständnis bestimmenden und der rechtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Größen verstandesmäßig zu rechtfertigen und zu kontrollieren. Außerdem sei »innerhalb des Vorverständnisses zwischen der Schicht der vorgängig umfassenden Weltund Sprachauslegung und jener aus rechtlichen, zum Teil aus speziell rechtswissenschaftlichen und rechtstheoretischen Vormeinungen gebildeten Schicht hermeneutisch zu unterscheiden«. Müller warnt davor, dass der Auslegende sich von »Massensuggestionen« beeinflussen lässt, die eine bewusste Auseinandersetzung und wirkliche Nachkorrektur unmöglich mache, da nachvollziehbare und dadurch für die Kontrolle brauchbare Zwischenschritte bzw. -ergebnisse, anhand derer das Endergebnis zu hinterfragen wäre, fehlten.

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Gerade auf dem Gebiet des Verfassungsrechts, das Müller hier untersucht, erscheint die Verbindung von Topik und Hermeneutik in besonderem Maße ebenso nutzbringend wie auch problematisch und eröffnet ein weites Feld für weitere wissenschaftliche Beschäftigung und Auswertung. Aufgrund seines politischen Charakters und seiner grobmaschigeren und formal weniger festgelegten Struktur schwebe das Verfassungsrecht stets in der Gefahr, dass die »Topik hinter das Gesetz zurück und über es hinausgeht«, weil Letzteres keine effizienten Lösungen liefere. Verfassungsrechtler stehen nach Müller also vor der Aufgabe, »sogar in besonderer Deutlichkeit die Struktur des Problemdenkens aufweisen« zu müssen.

5.

Lebenssachverhalte, Normhypothesen und Rechtssätze im Bereich der Rechtsgewinnung (Martin Kriele)

I.

Juristisches und rechtspolitisches Denken

Die juristische Argumentation unterscheidet sich von der rechts- und verfassungspolitischen durch ihre Bindung an die Entscheidungen der rechtssetzenden Gewalt und durch ihre präsumptive Bindung an Präjudizien. Zwar muß, wie gesagt, auch die rechtssetzende Gewalt auf ihre eigenen früheren und ihr nun vorgegebenen Entscheidungen Rücksicht nehmen und neues Recht möglichst widerspruchsfrei in das bestehende einfügen, vor allem auch muß der Gesetzgeber sich im Rahmen der Verfassung halten. Für den Juristen aber sind die Grenzen viel enger gezogen. Die Frage, ob und unter welchen Umständen auch er die Entscheidungen der rechtssetzenden Gewalt als veraltet und korrekturbedürftig behandeln darf, sei in diesem Zusammenhang, als eine Frage für sich, zunächst einmal zurückgestellt. Sie ist unter besonderen Gesichtspunkten zu diskutieren. Gerade um diese klar herausstellen zu können, ist es erforderlich, vorerst davon auszugehen, daß die Entscheidungen der rechtsetzenden Gewalt für den Juristen strikt verbindlich seien. Juristische und politische Argumentation unterscheiden sich durch diese Verbindlichkeit und nicht durch irgendetwas anderes. Das ist der Aspekt, auf den es bei dieser ansonsten trivialen Feststellung ankommt. Das heißt also: Abgesehen von diesem Unterschied gleichen sich beide Argumentationsweisen in ihrer Struktur. Das ist eine Behauptung, die nicht ohne weiteres auf Zustimmung rechnen kann und die deshalb der Verteidigung bedarf. Sie ist eine Herausforderung des in der Staatsrechtslehre noch immer vorherrschenden Modells1: Juristisches Denken ziele auf Verstehen des Gesetzessinnes und auf Anwendung des Gesetzes auf einen Fall durch Subsumtion. Dieses Modell ist zwar nicht an sich falsch, aber es ist eine so grobe, einen Teilaspekt überbetonende Simplifikation, daß gerade die wesentlichsten Elemente des juristischen Denkens dabei aus dem Blick geraten sind. 1 Vgl. oben § 10 [im Original].

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Martin Kriele

[196] Seinem Ungenügen hat man durch den »Lückenbegriff« Rechnung zu tragen versucht: Durch das Anerkenntnis, daß es Gesetzeslücken gebe und daß der Richter sie zu schließen befugt sei. Der interessanteste Aspekt daran ist, daß auch da, wo an sich eine Klausel, auf die sich der Jurist stützen könnte, vorhanden ist, ein subsumtionsfähiger Rechtssatz durch bloßes »Verstehen« des Wortlauts nicht zu gewinnen ist. Die herrschende Schule der zivilrechtlichen Methodenlehre, die Interessenjurisprudenz, hat schon früh erkannt, daß die »Lücke« keineswegs, wie der Begriff nahelegt, die Ausnahme, sondern daß er die Regel ist. Philipp Heck, der klarsichtige, praktisch gesinnte und in diesem Jahrhundert wohl auch einflußreichste und bedeutendste Analytiker der juristischen Methode meinte, daß sich die Bestimmung der Gesetzesbegriffe »nach den legislativen Zwecken und Werturteilen vollziehen soll und daher … als Lückenergänzung zu bezeichnen ist«. Und er folgert treffend, »daß ein sehr großer Teil, vielleicht der weitaus größte Teil der zweifelhaften Rechtsfragen, auf dem Vorhandensein von Gesetzeslücken beruht«2. Heute sollte man vielleicht noch entschiedener dahin formulieren, daß das Vorhandensein eines Rechtssatzes, der durch bloßes »Verstehen« subsumtionsgeeignet wird, ein Grenzfall ist und daß der Lückenbegriff deshalb eher verwirrend als klärend wirkt. Er ist historisch zu verstehen als eine erste Herausforderung des Dogmas von der Geschlossenheit der Rechtsordnung und von der Lückenlosigkeit der Kodifikation. Er ist aber an diese polemische Situation gebunden und heute nur noch geeignet, die Methodenlehre auf eine längst überwundene Stufe der Auseinandersetzung zu fixieren3. Er hat seinen Ort da, wo das rechtstheoretische Denken von der Vorstellung eines »Rechtsetzungsmonopols« der gesetzgebenden Gewalt ausgeht, und wo es darum geht, dieser Vorstellung angesichts ihrer Irrealität Zugeständnisse abzulocken. Die gesetzgebende Gewalt hat aber kein Rechtsetzungsmonopol, sondern nur eine Rechtsetzungsprärogative4. Die Verwendung des Lückenbegriffs ist sinnvoll nicht im Zusammenhang mit den eigentlichen Stadien des juristischen Denkens, sondern mit der sekundären Legitimierung des Ergebnisses am Gesetzestext: In diesem Zusammenhang muß man sich entscheiden, ob man die Legitimierung zweckmäßig auf Auslegung einerseits oder auf Analogie bzw. teleologische Reduktion andererseits stützt5, mit anderen Worten ob man eine Generalklausel oder eine ausdehnend ausgelegte sonstige [197] Klausel der Analogie vorzieht, bzw. eine einschränkende 2 3 4 5

Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1, 174. Vgl. dazu auch schon oben S. 63 und 65 [im Original]. Vgl. oben § 14 [im Original]. Vgl. unten § 60 [im Original].

Lebenssachverhalte, Normhypothesen und Rechtssätze

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Begriffsauslegung der teleologischen Reduktion. Je nachdem spricht man dann von »Auslegung« oder »Lückenfüllung« (oder besser »Rechtssatzergänzung«). Davon muß unten noch die Rede sein. Das eigentliche Problem der Rechtsgewinnung ist, wie oben in § 11 dargelegt, die Gewinnung des Obersatzes. Es kommt vor, daß der Gesetzes- oder Verfassungstext auf das Problem, das mit dem Fall aufgeworfen ist, klar und eindeutig antworten, daß Gesetz- oder Verfassungsgeber die mit dem Fall auftauchenden Zweifelsfragen in einem ganz bestimmten Sinne abgeschnitten und das Problem entschieden haben; die Regel ist es nicht. Am wenigsten ist es im Recht der Grundrechte der Fall, wo lapidare Generalklauseln sich wechselseitig balancieren. Hier besteht das Problem der Rechtsgewinnung nicht nur in der zielgerichteten Festlegung der Begriffe, sondern auch in der Grenzziehung und Abwägung, oder in der Entscheidung über die Heranziehung oder Nichtheranziehung dieses oder jenes Artikels, Grundsatzes oder topos. Hier wird die Problematik der Rechtsgewinnung am augenfälligsten, hier zeigt sich am eindringlichsten, daß die Berufung auf einen angeblich vorgegebenen Rechtssatz bei Unterschlagung der möglich gewesenen Alternativen immer bedeutet, daß man die Gründe, welche in Wahrheit die Wahl bestimmt haben, verbergen kann. Eine Methodenlehre, die sich mit der Analyse der offenen Urteilsgründe begnügt, kann beim heutigen Stand der rechtstheoretischen Einsicht den Ansprüchen nicht mehr genügen. Es kommt vielmehr darauf an, die verdeckten, nämlich die eigentlichen Entscheidungsgründe ans Licht zu ziehen und rational kontrollierbar zu machen6.

II.

Das Hin- und Herwandern des Blicks, 1. Stufe

Das Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Lebenssachverhalt und Rechtsnorm (Engisch7) beherrscht das Denken des Juristen, dem ein Rechtsfall vorgelegt wird, von Anfang an. Denn die erste Frage ist, welche Rechtsnormen zur Regelung des Falles überhaupt in Betracht kommen; um das beurteilen zu können, muß er wissen, welchen Tatsachen aus der Fülle des Lebenssachverhalts relevant sind, die Relevanz läßt sich aber nur mittels einer Rechtsnorm bestimmen. Die Rationalität, die dieses Hin- und Herwandern des Blickes leitet, möglichst genau zu bestimmen, ist grundlegend für das Verständnis der Methode der Rechtsgewinnung. [198] Dabei mag ein Gedankenexperiment hilfreich sein, den entscheidenden Punkt klar zu fassen. Wenn man sich vorstellt, es gebe überhaupt noch keine 6 Vgl. dazu Kriele, Offene und verdeckte Urteilsgründe, Festschr. f. J. Ritter, 1965, S. 99–117. 7 Vgl. oben 161 [im Original].

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Rechtssätze, weder gesetzte noch gewohnheitsrechtlich verankerte, sondern sie sollten erst judiziell geschaffen werden und der Fall sei nur ein erster Anlaß dazu, dann begänne das Denken damit, daß man hypothetisch Rechtssätze entwürfe, die den Fall denkbarerweise regeln könnten. Man prüfte die Hypothesen kritisch, entwürfe andere, vergliche sie, entschiede sich schließlich für eine. Es wäre ein »mehr oder weniger methodisch festgelegtes Experimentieren« (Bierling)8. Jede dieser hypothetisch erwogenen Rechtsnormen unterschiede sich von der anderen a) entweder dadurch, daß sie mehr oder andere Tatsachen des Lebenssachverhalts für relevant erklärte (d. h. sie als rechtsfolgebedingende Merkmale in den Tatbestand aufnähme), oder b) dadurch, daß sie dieselben Tatsachen im Tatbestand mit Begriffen verschiedenen Abstraktionsgrad bezeichnete (z. B. wenn die Tatsache darin besteht, daß ein Hund etwas hat, mit dem Begriff »Hund« oder aber den Begriffen »Haustier«, »Tier«, »bewegliche Sache« oder dergleichen9 oder aber c) dadurch, daß demselben Tatbestand verschiedene Rechtsfolgen zugeordnet werden. Die Überlegungen, die einsetzen, wenn man sich fragt, welche Tatsachen in welchem Abstraktionsgrad welche Rechtsfolgen auslösen sollen, kann derjenige überhaupt nicht verstehen, der die vernunftrechtliche Grundlage des positiven Rechts leugnet. Denn der Richter kann in dieser hypothetisch gedachten, von allen vorgegebenen Rechtsnormen freien Situation, wenn er Gerechtigkeit walten lassen will, gar nichts anderes tun, als die einzelnen Varianten seiner Normhypothese unter dem Gesichtspunkt durchzuprüfen, wohin die eine und die andere führt, um dann die vernünftigste auszuwählen, d. h. diejenige, die dem Allgemeininteresse oder bei Gruppeninteressen dem relativ fundamentalsten dient. Seine Erwägungen entsprechen in ihrer Struktur also genau den rechtspolitischen. Bei diesen Überlegungen helfen ihm der konkrete Fall und die darin auftretenden Parteien. Denn der Prozeß kommt ja überhaupt nur dadurch zustande, daß der Kläger oder Ankläger der Meinung ist, man brauche sich eine solche Interessenbeeinträchtigung, wie sie ihm der Beklagte zugefügt hat, nicht gefallen zu lassen. Er tritt also schon mit einem mehr oder minder artikulierten Normenvorschlag vor den Richter. Indem er den Fall erzählt, hebt er gewisse Tatsachen hervor und stellt damit – explizit oder incidenter – die Frage: muß man sich »so etwas« [199] gefallen lassen? Aus der unendlichen Fülle der Ereignisse im Strom des Lebens hebt sich ein »Fall« überhaupt nur durch die Annahme heraus, daß gewisse Tatsachen als »juristisch relevant« seien. Tausend Einzel8 Bierling, Juristische Prinzipienlehre IV, 1911, S. 47; vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 203. 9 Abstraktionsstufen gibt es mit Beziehung nicht nur auf substantivische, sondern auch auf verbale Begriffe: z. B. ins Bein beißen, beißen, verletzen, schädigen.

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heiten des wer, wo, wann und wie kann man weglassen, nur auf gewisse Umstände kommt es an. Auf welche es ankommt, richtet sich nach der Normhypothese. Ohne Normhypothese also kann man einen »Fall« überhaupt nicht erzählen. Der Kläger oder Ankläger wird, wenn er gewandt ist, in düsteren Farben malen, wohin es ganz allgemein führen würde, wenn man sich »so etwas« gefallen lassen müßte und er wird seinen Fall nur als beispielhaften Beleg bringen. (Das ist ja die Argumentationsweise gerade der erfahrungs- und erfolgreichen Anwälte.) Auf diese Weise trägt er, indem er um sein subjektives Recht kämpft, zur Entstehung des objektiven Rechts bei, wie es Ihering in seiner klassisch gewordenen Schrift »Der Kampf ums Recht« meisterlich dargestellt hat. Was ihn überhaupt veranlaßt, einen Prozeß zu entfachen, ist eine vernunftrechtliche Überzeugung, und es ist das Gefühl, das eine vernunftrechtliche Norm verletzt wurde, die ihn mit Zorn erfüllt und ihm das Bewußtsein gibt, einen (objektiven) Anspruch gegen den Beklagten zu haben. Auf diese Weise werden dem Richter vom Kläger (oder vom Rechtsanwalt) in der rechtssatzfreien Welt bereits Normvorschläge unterbreitet. Mitunter haben sie eine solche Überzeugungskraft, daß sich selbst der Beklagte nur noch in Zynismus oder Zerknirschung oder in windige Ausrede flüchten kann. Mitunter aber kann der Beklagte (oder Angeklagte bzw. deren Anwälte) dem Normvorschlag des Klägers mit gewichtigen Argumenten entgegentreten oder er kann plausibel machen, daß die Norm, auf die sich der Angreifer beruft, zwar in der Regel gelten sollte, daß aber in einem »solchen Fall«, wie er vorliegt, eine Ausnahme anerkannt werden muß. Wenn er sich nicht auf das Bestreiten oder den Vortrag von Tatsachen beschränkt, sondern rechtlich argumentiert, so kann er jedenfalls nur vernunftrechtlich argumentieren. Das heißt, er erörtert, wo die von ihm angegriffene Norm bzw. die von ihm vorgeschlagene Ausnahmenorm hinführen und welche Interessen sie beeinträchtigen werde und gegebenenfalls welches Interesse das fundamentalere ist. Aber auch wenn er nur Tatsachen vorträgt (z. B.: zwar habe ich das gegebene Versprechen nicht gehalten, aber der Kläger hat mir gesagt, ich brauche es erst später als ursprünglich vorgesehen einzulösen), so will er damit doch sagen, daß eine vernunftrechtliche Norm diese Tatsachen relevant mache (in einem solchen Falle brauche man doch den vereinbarten Termin nicht einzuhalten). In allen Rechtssystemen brauchen zwar die Parteien nicht mehr als Tatsachen vorzutragen (da mihi facta, dabo tibi jus; jura novit curia). [200] Gleichwohl liegt im Tatsachenvortrag immer schon ein Normenvorschlag, insofern nämlich die vorgetragenen Tatsachen als relevant oder mindestens als möglicherweise relevant behandelt werden. Der Richter hat die Aufgabe, die explizit oder implizit vorgeschlagenen und auch die auf Grund des Tatsachenvortrags sonst möglicherweise in Betracht kommenden Rechtsnormen und ihre Varianten im Ab-

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straktionsgrad ihrer Begriffe sowie in den möglichen Rechtsfolgen vernunftrechtlich durchzuerwägen. Das kann mehr oder auch minder explizit oder auch intuitiv geschehen. Die Ansichten darüber, wohin die und die Norm führen würde und welches der Interessen das fundamentalere ist, kann sich aus reifer Erfahrung oder aus vorurteilsvoller Beschränktheit ergeben und je nachdem kann sich die Norm bewähren oder als korrekturbedürftig erweisen. Das Hin- und Herpendeln des Blicks ist nach alledem ein Prüfen von Rechtsnorm-Hypothesen an Hand des Falls. Die erste Hypothese wird von demjenigen aufgestellt, der den Fall vor den Richter bringt und damit Geschehnisse für rechtlich relevant erklärt, d. h. der behauptet, in Interessen beeinträchtigt zu sein, ohne daß das durch eine generelle Norm, die allgemeinen oder fundamentaleren Interessen dient, gerechtfertigt werden könnte. Weitere Hypothesen ergeben sich aus dem Vortrag des Gegners und aus richterlicher Erwägung der Frage, welche Tatsachen in welchem Abstraktionsgrad welche Rechtsfolgen haben sollten, damit die so artikulierte Norm den fundamentalsten Interessen entspricht. Die Normhypothesen werden am Fall durchprobiert, der Fall ist das erste konkrete Beispiel, das die Auswirkung der Norm unmittelbar anschaulich macht, wobei weitere Beispiele zur weiteren Klärung hinzugedacht werden können. In einer gesetzesfreien Welt des reinen Richterrechts würden sich also auf induktivem Wege Rechtsnormen nach denselben Vernunftgesichtspunkten, die die rechtspolitische Argumentation bestimmen, bilden10. [201]

III.

Der Einfluß der Gesetze auf die Problemfindung

Mit der Feststellung, daß es kein Rechtsetzungsmonopol der gesetz- und verfassungsgebenden Gewalt, sondern nur eine Rechtsetzungsprärogative geben 10 Der Vergleich der angelsächsischen richterlichen Rechtsfortbildung mit der kontinentaleuropäischen zeigt, wie vor allem Esser in seiner materialreichen Untersuchung (Grundsatz und Norm, 1965, S. 31, 336ff.) anschaulich gemacht hat, daß sich in beiden Rechtskreisen in wesentlicher Hinsicht ähnliche und gleiche Rechtsinstitute bilden. Er glaubt, hier auf induktivem Wege einem »jus gentium« auf die Spur zu kommen, worin ihm Wieacker ausdrücklich folgt (Gesetz und Richterkunst, 1958, S. 13). Diese Beobachtung ist nicht überraschend, wenn die angestellten Erwägungen über die Entstehung des Richterrechts realistisch sind. Sie bestätigt diese Erwägungen. Dabei wird deutlich, daß eine Unterscheidung zwischen zwei juristischen Methodentypen, nämlich dem »deduktiven« des kontinentaleuropäischen Kodifikationsrecht und dem »induktiven« des angelsächsischen Präjudizienrecht (so z. B. Allen, Law in die Making, 7. Aufl., Oxford 1964, S. 162) nicht durchgeführt werden kann. In beiden Rechtskreisen müssen sich das deduktive und das induktive Denken mischen. Dazu auch die »Theorie der Rechtsquellen« (1929) von Alf Ross, S. 282f., 436f.

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kann, ist gesagt, daß die Rechtsfindung im Gesetzes- und Verfassungsstaat nicht ganz prinzipiell verschieden von dem beschriebenen Modell der reinen richterlichen Rechtsschöpfung sein kann. Die Denkvorgänge, die nach diesem Modell kennzeichnend für das juristische Denken sind, sind für jedes juristische Denken unentbehrlich. Es ist unter allen Umständen unvermeidlich und unerläßlich, vernunft-rechtliche Normhypothesen zu bilden, denn nur auf Grund solcher Hypothesen kann man überhaupt einen »Fall« erzählen, d. h. aus dem unendlichen Strom des Lebens gewisse Tatsachen als wesentlich hervorheben. Und nur auf Grund von Normhypothesen gibt es überhaupt juristische Probleme. Ein juristisches Problem nämlich läßt sich durch die Frage charakterisieren: Wird die Normhypothese vom positiven Recht eingeschlossen oder ausgeschlossen? (Oder bei mehreren alternativen Normhypothesen: entspricht einer der Normhypothesen ein positiver Rechtssatz und gegebenenfalls welcher von ihnen?) Allerdings gibt es schon im Stadium der Problemfindung einen Unterschied zwischen dem Gesetzes- und dem gesetzesfreien Staat. Die Vorhandenheit vorgegebener Rechtssätze erleichtert nämlich die Problemfindung. Nach dem Modell der rechtssatzfreien Welt müssen die Probleme neu und induktiv gefunden werden. In der Wirklichkeit aber sind die Probleme schon meist ungezählte Male vorher aufgetaucht und haben zu Antworten geführt, die sich in den Rechtsinstituten niedergeschlagen haben und die in den Gesetzen aufgezeichnet sind. Kenntnis der Gesetze bedeutet also Kenntnis von Antworten auf Probleme, und damit Kenntnis von Problemen. Die subtilen Feinheiten z. B. des Vertragsrechts – betreffend Gewährleistung, Nichtigkeit, Anfechtung usw. – hat es nicht von Anfang an gegeben: Zunächst war das Recht grob-schematisch, und meist nur gelegentlich konkreter Fälle wurde man sich neuer Probleme bewußt. Diese entschied man und die Entscheidungen wurden in Form von Rechtssätzen bewahrt. Der Jurist wird sich deshalb mit der Fallerzählung durch den Laien in der Regel nicht zufrieden geben können, denn in dieser Erzählung sind nur die Tatsachen enthalten, die nach den vom Laien vermuteten Normhypothesen relevant sind. Der konsultierte Anwalt weiß aber aus seiner Rechtskenntnis, welche Fragen auch sonst noch relevant sein könnten, und er wird nach ihnen fragen. So wird der Fallbericht, den der Anwalt dem Richter gibt, durch die Vorgegebenheit des positiven Rechts beeinflußt. Daß uns aus der Kenntnis des positiven Rechts Probleme bewußt werden, ist eine nicht ganz korrekte Aussage: das positive Recht, das der [202] Jurist kennt, besteht aus Antworten auf Probleme, Problem und Antwort werden uns also zugleich bewußt, das Problem ist also erledigt und somit nicht mehr eigentlich als Problem zu bezeichnen. Die möglichen alternativen Normhypothesen, die das Problem kennzeichnen, sind von vornherein abgetan. An diesen Umstand orientiert sich die Theorie des Subsumtionspositivismus.

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Aber mit jeder hinzugewonnenen Kenntnis von beantworteten Problemen eröffnen sich neue Perspektiven auf immer neue Probleme. So wie auch in anderen induktiven Wissenschaften, wie in den Naturwissenschaften, jede gewonnene Erkenntnis zugleich neue Horizonte aufreißt, neue Probleme sichtbar und drängend macht, so bringt auch dem Juristen jede neue Gesetzeslösung neue Probleme zur Geltung. Je kenntnisreicher der Jurist, desto intensiver sein Problembewußtsein. Daß zu allen möglicherweise in Betracht zu ziehenden Normhypothesen das positive Recht eine bejahende oder verneinende oder auswählende Antwort gibt, ist zwar nicht selten, aber doch ein Grenzfall. Stellt sich z. B. die Frage, wer ernennt eigentlich die Bundesminister : der Bundestag, der Bundespräsident, der Bundeskanzler oder wer sonst?, so gibt Art. 64 GG darauf eine eindeutige Antwort, und alle Kontroversen darüber, ob das die richtige Lösung sei, sind für den Juristen einstweilen abgeschnitten. (Sie hätten nur noch Sinn, wenn er eine Verfassungsänderung vorschlagen wollte.) Aber ein Fall solcher Art ist für den Juristen schon deshalb ein Grenzfall, weil es darüber – jedenfalls im öffentlichen Recht – selten zum Rechtsstreit kommt: Solche Vorschriften werden im allgemeinen befolgt. (Anders im Zivil- und Strafrecht: Es werden Morde begangen und Verträge nicht eingehalten, und die Richter haben Gelegenheit, sich als »Mund des Gesetzes« zu betätigen.) In allen Rechtsgebieten taucht immer von neuem das Problem auf: Werden Normhypothesen, die sich aus vernunftrechtlichen Erwägungen aufdrängen, vom positiven Recht umfaßt oder nicht? Fast alle Entscheidungen, die im Verfassungsrecht inzwischen ergangen sind, haben auf eine Frage dieser Struktur zu antworten11. Hat der Bundespräsident das Recht, die Ernennung eines vom Kanzler vorgeschlagenen Ministers aus Gründen der politischen Moral, der politischen Richtung, der fachlichen Fähigkeiten des Kandidaten abzulehnen? Mit Fragen solcher Art hat es der Jurist zu tun, d. h. mit Kontroversen, die der Gesetz- oder Verfassungsgeber nicht abgeschnitten hat, die der Jurist also unter den Gesichtspunkten, die die rechts- oder verfassungspolitische Argumentation bestimmen, zu erwägen hat, nämlich, welche Konsequenzen die generelle Entscheidung haben würde. [203] Er muß also, wenn er juristisch richtig entscheiden will, seine Entscheidung als mit präjudizieller Wirkung ausgestattet ansehen: Er entscheidet nicht nur einen konkreten Fall, sondern setzt eine einstweilen gültige Norm und muß deshalb die Konsequenzen dieser Norm bedenken. Es genügt also nicht, über das Recht der Ablehnung einer Ministerernennung nur im Hinblick auf eine konkrete Situation zu befinden, in der Präsident und Kanzler über die Grundzüge der Politik nur graduelle Meinungsverschiedenheiten haben. Man muß so entscheiden, daß auch im Falle 11 Vgl. Beispiele oben, S. 52 [im Original].

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prinzipieller Meinungsverschiedenheiten die ratio decidendi angewandt werden kann, also auch dann, wenn Präsident und Kanzler den entgegengesetztesten Flügeln im Spektrum parteipolitischer Gegensätze angehören. Insofern ist das juristische Denken in der Welt der Gesetze und der Verfassung von dem in der rechtssatzfreien Welt herrschenden der Struktur nach gleich. Da, wie gezeigt, sehr oft »Lücken« bestehen, hat der Richter sehr oft »wie der Gesetzgeber« zu denken, wie das Schweizer ZGB in seinem berühmten § 1 Abs. II fordert12. Aber es besteht doch ein ganz erheblicher Unterschied.

IV.

Das Hin- und Herwandern des Blicks, 2. Stufe

Der Unterschied zwischen juristischem und rechtspolitischem Denken im Falle von Lücken besteht darin, daß im Zuge der juristischen Erörterung der Kontroverse Unterkontroversen auftauchen, die ihrerseits durch den Gesetz- oder Verfassungsgeber abgeschnitten sind. Z. B. kann der Jurist nicht, wie der Grundgesetzgeber, ganz unbefangen über die Vor- und Nachteile eines Präsidialsystems, in dem der Präsident durch ein Recht zur Ablehnung der Minister auf die Richtlinien der Politik Einfluß nehmen könnte, diskutieren. Für den Juristen ist die Frage, was dafür und was dawider spricht, abgeschnitten. Er hat davon auszugehen, daß der Kanzler die Richtlinien der Politik bestimmt (Art. 65 I 1). Er kann allerdings Ausnahmen in Betracht ziehen, er kann Art. 64 I und Art. 65 I GG in ein Spannungsverhältnis zueinander setzen, das der Entscheidung bedarf, aber er kann nicht über die in Art. 65 I formulierte Entscheidung einfach hinweggehen. In schwierigeren Fällen sind mehrere Unterprobleme abgeschnitten und es gibt damit wieder neue Fragen, gewissermaßen Unter-Unter-probleme. Dabei sind dann meistens zu diesen Unterproblemen präjudizielle Entscheidungen ergangen, die zwar nicht als verbindlich, aber doch als präsumptiv verbindlich behandelt werden. Die unten zu erörternden Beispiele werden das anschaulicher machen. [204] Immer aber hat das juristische Denken diese Struktur : Im Anfang steht die Normhypothese, die zur Kennzeichnung vermutlich relevanter Tatsachen und damit zum Bericht eines »Falls« Voraussetzung ist. Soweit man die Gesetze kennt, braucht man keine Hypothese zu bilden. Meist aber entsteht, jedenfalls im öffentlichen Recht, der juristisch relevante Fall nicht aus eindeutigen Gesetzesverletzungen, sondern aus rechtlich zweifelhaften Fragen. Dann ist die Bildung von Normhypothesen unentbehrlich: Der Blick wandert hin und her zwischen Lebenssachverhalt und Normhypothesen, um auf diese Weise einerseits die in 12 Vgl. dazu Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951.

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Frage kommenden alternativen Normhypothesen, andererseits den durch diese gekennzeichneten Fall zu bestimmen. In einem zweiten Akt werden die Normhypothesen mit den positiv-rechtlichen Rechtssätzen verglichen. Denn der Jurist hat zwar, wie die rechtsetzende Gewalt, die Kontroversfragen, welche Konsequenzen die Setzung oder Nichtsetzung der Normhypothesen als Norm haben würde, zu erwägen, aber er hat dabei sämtliche Entscheidungen der rechtsetzenden Gewalt hinzunehmen. Sein Blick wandert also wiederum hin und her, diesmal zwischen Normhypothese und Rechtssätzen. Auf Grund der Normhypothesen weiß er, wo er in den Gesetzen blättert und die möglicherweise einschlägigen Rechtssätze zu suchen hat. Hat er sie gefunden, so wandert der Blick zurück, um zu prüfen, ob der Rechtssatz wirklich einschlägig und anwendbar ist. Sind Rechtssatz und Normhypothese genau gleich, so ist der Fall entschieden. Sind sie nicht gleich, so stellt sich die Frage, ob die Normhypothese dennoch vom positiven Recht eingeschlossen wird: Eine Frage, die entschieden werden muß, sei es durch entsprechende Bestimmung von Gesetzesbegriffen, sei es durch Rechtssatzergänzung. In beiden Fällen liegt, nach der Heckschen Terminologie13 eine »Lücke« vor. Die Frage nach dem Ein- oder Ausschluß der Normhypothese kann nur beantwortet werden, indem man die eigentliche rechts- oder verfassungspolitische Frage, d. h. die Frage nach der Rechtfertigungsfähigkeit der Normhypothese, aufgreift: Man muß also zunächst fragen, wohin es führen würde, wenn sie als Rechtssatz anerkannt (oder nicht anerkannt) würde. Das ist ein Problem, das sich in unzählige Einzelprobleme verzweigt und viele von diesen sind vorentschieden. Diese Entscheidungen behandelt der Jurist als verbindlich, soweit sie von der rechtsetzenden Gewalt, und als präsumptiv verbindlich, soweit sie präjudiziell entschieden sind. Sein Problem heißt also nicht mehr generell: Kann die hypothetische Norm als Rechtssatz gerechtfertigt werden?, sondern: Kann sie das unter der Voraussetzung der Unterstellung, daß alle ver-[205]bindlichen und unwiderlegten präsumptiv verbindlichen Entscheidungen gerechtfertigt werden können? In diesem Zusammenhang muß also sein Blick ständig von der Normhypothese zu den in Frage kommenden Rechtssätzen und wieder zurück wandern. Das »Hin- und Herwandern des Blicks« geschieht also auf zwei Stufen: einmal zwischen Lebenswirklichkeit und Normhypothese, sodann zwischen Normhypothese und Rechtssätzen. Die Vorstellung, daß der Blick nur zwischen Rechtssatz und Lebenssachverhalt hin und her wandere, eine Vorstellung, die also das Zwischenglied »Normhypothese« übersieht, hat zur Folge, daß das Kernstück des juristischen Denkens: die rationale Erwägung der Normhypothese verkannt wird. Da man 13 Vgl. oben § 52 [im Original].

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spürt, daß etwas fehlt, versucht man das Fehlende anderweit unterzubringen: Sei es in einer »oberhalb« des Rechtssatzes stehenden, in mehr oder weniger ausgeformten Grundsätzen artikulierten »Rechtsidee«, die »von oben« in den Rechtssatz »hineinwirken« soll, sei es in einem »teleologisch« oder »analogischen« Element der Wortinterpretation, in einem Einfluß der »Natur der Sache«, oder sonst in einer ähnlichen Weise. Alle solche Vorstellungen sind nicht an sich falsch, sie sind nur notwendigerweise vage und unkonturiert. Letztlich sind [s]ie Appelle an die Erfahrung des Juristen, der intuitiv weiß, daß entscheidende Stadien seines Denkens noch nicht beschrieben sind. Sie dienen also der Evozierung eines dumpf-intuitiven Wissens, aber nicht der Klärung, der Artikulation und Hebung dieses Wissens ins Bewußtsein14.

14 Solche Vorstellungen führen deshalb zu Umschreibungen des juristischen Denkprozesses, die man nur akzeptieren kann, wenn man davon ausgeht, daß sie nicht wörtlich gemeint sind, sondern daß sie nur eine Intuition evozieren sollen. So beschreibt z. B. A. Kaufmann (Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, S. 31) das Hin- und Herwandern des Blicks als gleichzeitigen Doppelprozeß: »einerseits Angleichung des Lebenssachverhalts an die Norm, andererseits Angleichung der Norm an den Sachverhalt«. Das kann so nicht gemeint sein, denn das wäre die Beschreibung einer Rechtsbeugung durch unkorrekte Feststellung sowohl des Sachverhalts als auch der Norm. Diese zweimalige »Angleichung« ist die Umschreibung einer Wirklichkeit, die darin besteht, daß verschiedene Normhypothesen durchprobiert und einerseits mit dem Lebenssachverhalt, andererseits mit den positiven Rechtssätzen verglichen werden.

6.

Verständnis und Interpretation (Joachim Hruschka)

I.

Hermeneutische Konsequenzen

[…] [46] Zum Verstehen gehört durchaus und notwendig die Infragestellung der eigenen Sachansicht und die Bereitschaft, sich im Verständnis der Sache vom Text her berichtigen zu lassen. Doch ändert auch die Modifizierbarkeit der Sachansicht nichts daran, daß solche Sachansicht erst einmal gegeben sein muß; sie setzt sie vielmehr gerade voraus. In dieser auf der Sachbezogenheit allen Verstehens beruhenden Voraussetzung liegt auch das, was in der heutigen Hermeneutik das Vorverständnis genannt wird, das allem Verstehen vorangeht. Wer immer schon in einem Lebensverhältnis zu der besprochenen Sache steht, der trägt eben schon eine bestimmte Sinnantizipation an den Text heran – und zwar nicht eine bloß allgemeine Sinnerwartung (die etwa auch derjenige hat, der bar jeder Vorkenntnis an die Entzifferung von Texten herangeht, die aus (noch) unbekannten Schriftzeichen bestehen), sondern eben eine bestimmte, mit konkreten Ansichten über die Sache. Das braucht freilich nicht immer bewußt zu sein, meistens ist es durchaus unbewußt. Erst eine Reflexion vermag das Vorverständnis inhaltlich ausdrücklich zu machen, womit es dann auch kritisierbar und durch den Text korrigierbar wird, und gerade daher rechtfertigt sich die oft mißverstandene Forderung nach einer expliziten Ausarbeitung der eigenen Sinnantizipationen. Sie soll verhindern, daß die eigenen Vor-Meinungen sich unerkannt ins Spiel bringen und ein Verstehen des Textes unmöglich machen. Revision und Suspension sachunangemessener Vorurteile werden eben nur durch ihre Abhebung und Klärung möglich. Wer sich statt dessen aber lieber auf das berufen möchte, was »dasteht«, der trägt nichts weiter als seine »selbstverständliche« und »undiskutierte Vormeinung«1 an den Text heran, die ein Textverstehen schon zum Scheitern bringt, ehe es wirklich begonnen hat. 1 Heidegger, Sein und Zeit, 9. Aufl. 1927/1960, S. 150; Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 250ff.

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Joachim Hruschka

Der Vorgang des solcherweise gelingenden Verstehens wird von Gadamer als »Horizontverschmelzung« beschrieben2. Die Aufgabe des Lesers oder Hö[47]rers, eine voreilige Angleichung des Textes an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen, wird in der Abhebung der Vorurteile gelöst. Abhebung enthält aber immer eine »Wechselbeziehung«. »Was zur Abhebung kommen soll, muß sich von etwas abheben, das umgekehrt sich selber von ihm abheben muß. Alle Abhebung läßt daher das, wovon etwas sich abhebt, mit sichtbar sein.« In den abzuhebenden Vorurteilen aber zeigt sich der »Horizont der Gegenwart«. Denn sie sind das, »über das hinaus man nicht zu sehen vermag«. Damit werden zwei Horizonte einander gegenübergestellt: der Horizont, in dem der Verstehende lebt, und der Horizont, aus dem der Text herkommt (oder aber der Horizont, in dem der Gesprächspartner steht). Doch werden damit nicht starre Grenzen bezeichnet: Es ist nicht ein »fester Bestand von Meinungen und Wertungen, die den Horizont der Gegenwart bestimmen und begrenzen«. Vielmehr ist der Horizont der Gegenwart »in steter Bildung begriffen« – eine Bildung, die auch durch die Auseinandersetzung mit dem zu verstehenden und verstandenen Text geschieht, dessen Horizont bei wirklichem Verstehen aufgenommen wird in den eigenen des Verstehenden. Gerade dadurch gelangt der Leser oder Hörer über seine ursprüngliche Fragestellung und das ursprüngliche Vorverständnis hinaus und läßt sich – d. h. seine ursprünglichen Vormeinungen – von dem Text her in Frage stellen. Diese Verstehensphänomenologie hat ihre Spitze nicht nur darin, daß sie die aus dem 19. Jahrhundert überkommene und auf die Hermeneutik Schleiermachers zurückgeführte (psychologische) Deutung des Verstehens als einer Einfühlung in Fremdseelisches, in fremde Individualität, zurückweist. Sie zeigt darüber hinaus auch die Grenzen heute vielleicht näher liegender (mehr soziologisch bestimmter) Theorien. Verstehen kann auch nicht bloßes Sich-miteinander-Verstehen, nicht bloße Kommunikation sein. Soweit vielmehr eine Übereinstimmung entsteht und besteht, ist sie stets eine Übereinstimmung in etwas. Jedenfalls verflüchtigt sich die Vorstellung von einer Übereinstimmung zwischen (zwei oder mehreren) Personen völlig, wenn die jeweiligen Sachen als Medien solcher Verständigung weggedacht werden. Es könnte dann außer der leeren und damit sinnlosen Behauptung, eine Übereinstimmung bestehe, überhaupt nichts weiteres mehr angegeben werden. So heißt zwar Verstehen zunächst Sich-miteinander-verstehen, und Verständnis heißt zunächst Einverständnis. Aber Verständigung ist immer Verständigung über etwas, Sich-Verstehen stets ein Sich-Verstehen in etwas. Schon die Sprache sagt es, »daß das Worüber und Worin nicht bloß ein an sich beliebiger Gegenstand der Rede ist, von dem unabhängig sich das wechselseitige Sich-Verstehen seinen Weg suchte, 2 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 289f.

Verständnis und Interpretation

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sondern vielmehr Weg und Ziel des Sich-Verstehens selber«.3 In der Tat gewinnt das Verstehen erst damit [48] seine eigene Rationalität, kann es zur Sprache gebracht und in Auslegungen weitergegeben werden, wird es intersubjektiv nachprüfbar. Denn wann immer die Ansicht oder Meinung eines Textes interpretiert wird, geschieht das dadurch, daß die im Text behandelten Sachen erneut zur Darstellung kommen – nach der Intention des Interpreten diese Sachen zwar vielleicht in der Perspektive des Textes, aber doch eben diese Sachen und sonst nichts. Die hermeneutische Grundthese des Rechtspositivismus fällt damit in sich zusammen. Ohne Rückgriff auf die außersprachlichen, in den zu verstehenden Texten zur Sprache gebrachten Sachen können diese Texte nicht verstanden werden, und die Rechtstexte bilden darin keine Ausnahme, auch diejenigen nicht, die als »geltendes« Recht besonders hervorgehoben werden. Erst der Hinblick auf die in ihnen ausgelegten Sachen macht es möglich, daß ihr Sinn erfaßt werden kann, und ohne einen Hinblick auf jene Sachen können sie überhaupt nicht verstanden werden. Das »Rechtliche« wird mithin durch die positiven Rechtstexte nicht »selbständig« bestimmt, die Texte sind im Gegenteil ein Ausdruck dieses »Rechtlichen«, das ihnen prinzipiell jenseitig ist – jedenfalls muß man davon ausgehen, solange man die Rechtstexte überhaupt noch für verstehbar hält. Das Dogma vom Insichselberstehen des positiven Rechts zeigt sich daher an seiner verstecktesten, aber darum wohl auch zentralsten Stelle als unhaltbar. […] [89]

II.

Zur Problematik von Objektivität und Subjektivität des Rechtsdenkens

[…] [91] […] Die Basis für die »Auslegung« ist der Rechtstext, der »ausgelegt« werden soll. Das aber kann er nicht sein als ein bloß körperliches Gegenüber der Wörter und Zeichen auf dem Papier, zu dem der Urteiler, bar jeder Beziehung, eine Beziehung erst herzustellen hätte. Vielmehr muß der Urteiler, bevor er zur »Auslegung« überhaupt ansetzen, bevor er einen Weg der »Auslegung« in Richtung auf sein Ziel einschlagen kann, auch schon den Sinn des »auszulegenden« Rechtstextes erfaßt haben, und sei es auch in einer noch so fragmen3 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 168.

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Joachim Hruschka

tarischen Weise. Denn andernfalls hätte er gar keine Möglichkeit, mit der »Auslegung« zu beginnen. Der bloße Hinweis auf das »Gesetz« als den selbstverständlichen Ausgangspunkt allen »Auslegens« genügt also nicht. Ausgangsbasis für alle – im Sinne der traditionellen Theorien begriffene – Auslegungsarbeit ist vielmehr ein schon immer irgendwie verstandenes »Gesetz«. Damit aber zeigt sich, daß die Problematik schon mit aller Schärfe an einem Punkte einsetzt, die die herkömmlichen Auslegungstheorien noch übergehen, denn es stellt sich doch die Frage, was es heißt, daß das »Gesetz« schon immer [92] irgendwie verstanden sein muß, ehe die Auslegungsarbeit überhaupt beginnen kann. Was für Voraussetzungen verbergen sich hinter diesem Immerschon-verstanden-haben? Weder die objektive noch die subjektive Theorie gibt auf diese Frage eine Antwort, und die beiden Theorien können auch gar keine Antwort geben, weil sie ihr Augenmerk auf die Ziele und Methoden der »Auslegung« richten und den Ausgangspunkt für den Weg zum Ziel hin gar nicht in ihre Fragestellung einbeziehen. Mit ihrer quasi-juristischen Problemstellung haben sie sich von vornherein die Möglichkeit verbaut, auch die Frage nach der Ausgangsbasis einer rational begründeten Antwort zuzuführen. Die Frage, was der Urteiler voraussetzt und mitbringt, was er voraussetzen und mitbringen muß, um die Auslegungsarbeit beginnen zu können, ist eben keine Rechtsfrage; sie hat notwendig einen anderen Charakter. Sie ist eine phänomenologische Frage, indem sie nicht nach dem fragt, was sein soll, sondern nach dem, was im Verstehen von Rechtstexten eigentlich geschieht. Es geht ihr um die Analyse jener spezifischen Erkenntnisleistung, die schon vor aller Steuerung durch die Rechtssätze der traditionellen Auslegungstheorien erbracht wird, erbracht werden kann und erbracht werden muß. Mit der abgewiesenen Verrechtlichung der Methodenproblematik hängt die Verselbständigung des Begriffs der Auslegung gegenüber dem grundlegenderen Begriff des Verstehens zusammen. Die Rechtsauslegung kann aber nicht ohne ein Verstehen des Rechts gedacht werden, sie ist vielmehr ein unselbständiges, nämlich das »äußere« Moment des Verstehens. Das Verstehen als der Akt eines Erkenntnisversuchs, in dem der wirkliche oder vermeintliche Sinn eines Textes zur Gegebenheit kommt, und das Auslegen als der Akt einer sprachlichen Objektivierung des im Verstehen bewußt gewordenen Sinnes und demgemäß als der Versuch, diesen Sinn greifbar, zugänglich und mitteilbar zu machen, sind damit einander gegenübergestellt. Die Unterscheidung dieser beiden Momente bedeutet aber nicht ihre Trennung im Prozeß der Sinnerkenntnis. Verstehen und Auslegen können nicht als ein mechanisches Nacheinander begriffen werden, vielmehr verhalten sie sich – um ein Bild zu gebrauchen – wie Lichtquelle und Lichtstrahl, die erst zusammen Licht ergeben. Denn erst im Auslegen kommt das Verstehen zu sich selbst, nicht nur deshalb, weil es erst im Auslegen in eine Form gebracht, gefestigt und damit auch gesichert wird, sondern auch deshalb, weil

Verständnis und Interpretation

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erst im Auslegen der Verstehende sich selbst den Sinn des verstandenen Textes vermitteln kann. Auslegung ist daher ein notwendiges Moment des Verstehens selbst; das Verstehen von Sprache ist immer auch schon ein Verstehen durch Sprache. Verstehen und Auslegen von Recht beziehen sich mithin in gleicher Weise auf einen »Sinn«. Einen Sinn haben Texte indessen nur, wenn sie sich auf eine [93] Sache beziehen, die grundsätzlich außerhalb ihrer liegt, und sie werden nur verstanden und können nur verstanden werden, wenn und soweit die ihnen zugrunde liegende Sache erfaßt wird. Die Texte wären sinnlos, wenn sie nichts be-deuteten und nichts be-sagten, also in des Wortes genauer Bedeutung nichtssagend und ein leeres System von »Zeichen« wären. Die sich daraus für die Hermeneutik der Rechtstexte ergebende Konsequenz ist die, daß die Rechtstexte einen Sinn nur dann besitzen, wenn sie durch außerpositive Rechtsphänomene hindurch letztlich auf ein außerpositives Prinzip Recht verweisen. Das ist nicht im Sinne eines rechtsontologischen Postulats zu verstehen. Nicht allein ein metaphysischer, auch der semantische Sinn würde ihnen fehlen, wenn diese Voraussetzung unzutreffend wäre, und sie könnten dann überhaupt nicht mehr (nicht einmal mehr »falsch«) verstanden werden.

7.

Applikation, topisches Vorverständnis und topische Hermeneutik (Friedrich Müller)

Die Eigenart juristischer Interpretation ist für den Versuch einer allgemeinen philosophischen Hermeneutik beispielhaft1. Die Problematik unangemessener Übertragung allgemein geisteswissenschaftlicher Ergebnisse auf die Jurisprudenz besteht hier nicht; das genannte Modell der Applikation ist vor allem am Beispiel der [48] juristischen Normwissenschaft entwickelt worden. Es zeigt nicht ein technisches Verfahren des Verstehens, sondern die Bedingungen, unter denen Verstehen grundsätzlich geschieht. Das Erarbeiten methodischer Einzelheiten muß die Jurisprudenz selbständig bewältigen, ohne dabei die Verschiedenheit der Rechtsdisziplinen zu verwischen. Die erörterte normative und sachliche Eigenart des Verfassungsrechts läßt diese grundsätzlich »offene« Struktur der Konkretisierung besonders deutlich hervortreten. Damit ist noch keine Minderung der Normativität positiven Rechts verbunden. Es wird als Sache konkreter Methodik zu untersuchen sein, wieweit Normativität und hermeneutische Normstruktur speziell im Verfassungsrecht einander bedingen müssen. Auch die Methodik als das Verfahren juristischer Hermeneutik im einzelnen muß die Tatsache widerspiegeln, daß Interpretation im Recht nicht nur okkasionell als Kunstgriff in besonders schwierigen Fällen aufgefaßt werden kann. Die überwiegende Meinung in Lehre und Praxis steht anscheinend auf diesem Standpunkt. Als Aufgabe der Interpretation wird die Beseitigung von Unklarheiten angesehen2. Dagegen ist die Schärfe aufschlußreich, mit der Savigny die 1 Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, v. a. S. 280, 290ff., 315, 323; zur Beispielhaftigkeit der juristischen Hermeneutik ebd., S. 307ff.; zur Wesensbeziehung zwischen juristischer Hermeneutik und Rechtsdogmatik unter Vorrang der erstgenannten ebd., S. 313; zur Aufgabe der philosophischen Hermeneutik: XV, S. 279. – Vgl. a. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno, in: Logik der Sozialwissenschaften, Hrsg. E. Topitsch, 1965, S. 291ff., 293, 304f. 2 Vgl. Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 1ff., 5f., 40; anders zu Recht Viehweg, Zur Geisteswissenschaftlichkeit der Rechtsdisziplin, Studium Generale 11 (1958), S. 334ff., 338, 340; Stern, Interpretation – eine existenzielle Aufgabe der

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Rechtfertigung juristischer Auslegung gerade in ihrer allgemeinen Notwendigkeit sieht; sie habe keineswegs »die zufällige Natur einer bloßen Abhülfe von einem Übel« und sei »bey jedem Gesetze, wenn es in das Leben eingreifen soll, nothwendig«3. Savigny geht dabei von der Auslegung als der Rekonstruktion des dem Gesetz innewohnenden Gedankens aus. Vor dem Hintergrund der skizzierten neueren Entwicklung der juristischen Hermeneutik wird die Allgegenwart von Interpretation in der Jurisprudenz noch deutlicher, sei sie unreflektiert, verschwiegen oder in den rationalen Begründungszusammenhang eingeführt. Dieses Ergebnis bestärkt die hier vertretene These zum Verhältnis von Norm und Wirklichkeit im Recht, wonach dieses Problem so lange zu relativ unfruchtbarer Allgemeinheit verurteilt bleibt, als es nicht hermeneutisch in Richtung auf Normativität und Normstruktur untersucht wird. Die angedeuteten Grundlagen der neueren juristischen Interpretationslehre sind genuin hermeneutisch. Sie gipfeln in zwei Fragenkreisen, die für das Thema bedeutsam sind: Vorverständnis und Topik. Diese wurden überwiegend im Zivilrecht erarbeitet; die Möglichkeit ihrer [49] Übertragung auf das öffentliche Recht ist durchaus nicht selbstverständlich4. Auch hierbei handelt es sich nicht um so und nicht anders auffindbare Gegebenheiten im Sinn »natürlicher« Gegenstände, sondern um theoretisch mehr oder weniger einleuchtende, funktionell mehr oder weniger sinnvolle, praktisch sich mehr oder weniger bewährende Sichtweisen. Die Frage sollte nicht so sehr dahin gestellt werden, ob die Jurisprudenz eine durchgängig topische Struktur habe5, als dahin, ob und wieweit eine topische Behandlungsart des Rechts für dessen verschiedene Disziplinen angemessen erscheint. Damit sind in erster Linie hermeneutische, nicht rechtspolitische Erwägungen gemeint. Sie werden nicht nach absoluten Gegensätzen, sondern nach rational bestimmbaren Akzentverschiebungen zu fragen haben. Das Problem des Vorverständnisses ist nicht spezifisch juristisch; aus der Lehre von den allgemeinen Bedingungen geisteswissenschaftlicher Erkenntnis reicht es auf spezifische Weise auch in die juristische Hermeneutik. Es äußert sich unter anderem darin, daß Wertungen »subjektiven« Ursprungs ebenso wie subjektiv vermittelte Wertmaßstäbe aus der Wissenschaft nicht auszuschließen sind. Diese Erkenntnis bewahrte die Diskussion der zwanziger Jahre um die Jurisprudenz, NJW 1958, S. 695ff.; Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241ff., 261 m. Nw. 3 v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 206ff., 207; auch ebd., 318f.; ebenso in: Juristische Methodenlehre, Hrsg. Wesenberg, 1951, S. 19f. Zur Kennzeichnung der Auslegung vgl. z. B. System I, S. 212ff. 4 So allg. zu Recht Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 24f.; in der Folgerung allerdings zu pauschal. 5 Hierzu Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53ff.

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Vorurteilslosigkeit der Wissenschaft vor dem Abgleiten in positivistischen Begriffsrealismus6. Max Weber hat es als naive Selbsttäuschung des Fachgelehrten bezeichnet, den Einfluß der von ihm unbewußt an den Stoff herangetragenen Wertideen auf Auswahl und Umgrenzung der wissenschaftlichen Untersuchung zu übersehen. Die neuere Lehre vom Vorverständnis setzt radikaler an. Zum »Vorverständnis« gehört als hermeneutisch differenzierender Faktor gewiß auch die Fragestellung, von der die Auslegung geleitet wird. Doch gibt es schon grundsätzlich kein voraussetzungsloses Verstehen. Verstehen und Entscheidung, Verstehen und sein Vollzug als eigener Akt des Verstehenden hängen in der Geschichtlichkeit der Existenz zusammen. Das unzulängliche Schema von Subjekt und Objekt, von dem noch Max Weber ausgeht, ist den Anforderungen einer am Sprachproblem orientierten allgemeinen Hermeneutik nicht gewachsen. Das Vorverständnis erscheint grundsätzlich als das Lebensverhältnis des Verstehenden zu der zu verstehenden Sache, das die Möglichkeit von Verstehen überhaupt erst begründet7. Deutung im einzelnen fällt mit menschlicher [50] Selbst- und Weltdeutung nicht zusammen, ist aber zumindest in den Geisteswissenschaften von ihr nicht ablösbar. Der »Vorbegriff« als Gattungserfahrung ist nicht durch Reflexion erworben; er kommt aus dem Ganzen der Weltauslegung in einer bestimmten Umwelt und ist vor allem bereits in und mit der Sprache gegeben. Konkretisierung von Recht, die außerhalb der Sprache nicht möglich ist, wird von diesem allgemeinen, vor-rechtlichen Horizont des Verstehens stets mitgeprägt. Der Text, auch der normativ gemeinte Text des Rechtssatzes, vermittelt neben dessen Interpretationsproblemen zugleich einen vorgängigen Sachbezug des Interpreten zu diesen Problemen. Vor-Urteile in diesem Sinn, die allgemeine Vormeinung des Sprachgebrauchs wie auch inhaltliche Vorverständnisse, müssen in ihrer produktiven Funktion als Voraussetzung und Bedingung des Verstehens gesehen werden8. Der herkömmliche Begriff des hermeneutischen Zirkels hat hier eine Begründung, die über ein bloßes Subjekt-Objekt-Verhältnis von Interpret und Text weit hinausgeht. Damit ist alles andere als Beliebigkeit des Vorverständnisses gemeint. Die hermeneutische Aufgabe, die es stellt, geht von selbst im konkreten Fall in die sachliche Fragestellung über, von der es immer schon mitbestimmt ist9. Das wird von dem 6 Vgl. Max Weber, Die »Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hrsg. Winckelmann, 2. Aufl. 1951, S. 146ff., z. B. 149, 151, 180ff. 7 Ebeling, Hermeneutik, in: RGG 3. Aufl., III, Sp. 242ff., 256f.; Weischedel, Die Tiefe im Antlitz der Welt. Entwurf einer Metaphysik der Kunst, 1952, S. 36ff.; ders., Recht und Ethik, 1956, S. 9; Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, z. B. S. 314f., 250ff., 261ff. 8 Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, S. 250ff., 261ff. 9 Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, S. 252f., vgl. auch S. 365f.

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zu verstehenden Text, von der zu konkretisierenden Rechtsnorm bewirkt. Überhaupt ist der Jurisprudenz dieser Aspekt, soweit sie nicht wie der Rechtspositivismus die Sachhaltigkeit von Rechtssätzen ignoriert, schon immer geläufig gewesen. Auch insofern konnte die juristische Interpretation einer allgemein geisteswissenschaftlichen Hermeneutik als Vorbild dienen; auch insofern ergeben sich keine Probleme der Übertragung rechtsfremder Gesichtspunkte auf die Rechtswissenschaft. Die konkreten Schwierigkeiten beginnen dort, wo die produktiven Vorurteile, die das Verstehen sachlich ermöglichen, von denjenigen zu scheiden sind, die richtiges Verstehen, normgerechtes Konkretisieren verhindern. Diese Scheidung kann nicht vorgängig geschehen; sie erfolgt im Verstehen selbst. Das Reflektieren und Rationalisieren der – von der Norm aus gesehen – produktiven wie der destruktiven Vorbegriffe wird somit gleichfalls zu einer Aufgabe konkreter juristischer Hermeneutik. Die Elemente des Vorverständnisses müssen rationalisiert und kontrollierbar in den juristischen Begründungszusammenhang eingeführt werden, sollen sie nicht unkontrollierbare, weil irrationale Fehlerquellen bleiben; damit wäre kein Schritt über den Positivismus hinaus getan, der sie übersah oder verschwieg10. [51] Die Aufgabe, das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit hermeneutisch aufzuschlüsseln, weist neben dieser grundsätzlichen Korrektur der positivistischen Anwendungsdoktrin noch auf die weitere Frage hin, innerhalb des Vorverständnisses zwischen der Schicht der vorgängig umfassenden Welt- und Sprachauslegung und jener aus rechtlichen, zum Teil aus speziell rechtswissenschaftlichen und rechtstheoretischen Vormeinungen gebildeten Schicht hermeneutisch zu unterscheiden. Vor allem in diesem letztgenannten Sinn ist das Vorverständnis bisher in der Jurisprudenz beachtet worden. Das der Massensuggestion zugängliche Unterbewußte als sich selbst nicht deutliche Quelle politischer Optionen muß inhaltlich bewußt und damit thematisiert werden, um diskutierbar und korrigierbar sein zu können11. In der Lehre von der Natur der Sache im Recht wird die Rolle des Vorverständnisses gleichfalls mit rechtlicher Thematisierung hervorgehoben. Die Entscheidung über den Sinn eines Lebensverhältnisses oder die Ordnungsaufgabe einer Institution, allgemein über das »Richtige«, wird jeweils schon von einem oft unbewußten Vorverständnis 10 Zur kritischen Klärung des Vorverständnisses vgl. Ebeling, Hermeneutik, in: RGG 3. Aufl., III, Sp. 242ff., 257 m. Nw.; Weischedel, Die Tiefe im Antlitz der Welt. Entwurf einer Metaphysik der Kunst, 1952, S. 36ff., 38: Kritik im hermeneutischen Zirkel; für die Sozialwissenschaften z. B. Streeten, in: Myrdal, Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft und Dialektik, 1965, S. 13ff., 34ff., 42, und Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Logik der Sozialwissenschaften, Hrsg. E. Topitsch, 1965, S. 291ff., 293, 296, 304f.; allg. auch Bollnow, Objektivität und Allgemeingültigkeit, in: Objekt und Objektivität in der Wissenschaft, Protokolle der Mainzer Universitätsgespräche 1959/60, S. 31ff., 33, 35. 11 Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 3. Aufl. 1950, S. 86f.

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geleitet, dessen Wertgesichtspunkte aus der Fülle ontischer Daten die rechtlich relevante »Natur der Sache« herausheben. Sachlogische Zusammenhänge kommen überhaupt nur unter bestimmten Gesichtspunkten in den Blick; soweit das Vorverständnis diese Wertaspekte liefert, ist es von der Reflexion zu formulieren. Der Wertgesichtspunkt wird dabei in einem unauflösbaren, wenn auch von ihm selbst her relativen Zusammenhang gesehen. Das schließt auf der einen Seite Beliebigkeit der Wertungen aus; auf der anderen Seite verdeutlicht es die insoweit rechtsbezogene Natur des Vorverständnisses12. Auch im Zivilrecht ist das Vorverständnis von seinem Bezug zum Recht her gesehen worden. Das Problem kann nicht isoliert behandelt werden; es wird als solches überhaupt nur aus einem, wenn auch häufig uneingestandenen, Ableitungszusammenhang heraus sichtbar und in der Folge lösbar. Die sich topisch verstehende Jurisprudenz betont die Konstanz des Problems als festen Ausgangspunkt; er ruht seinerseits auf einem »vorsystematischen Seinszusammenhang und vorwissenschaftlichen Verständnis«13. […] [54] […] Das gewiß wirksame existentiale Vorverständnis braucht umgrenzbare Zwischenstufen, wenn es hermeneutisch erfaßbar, entschärfbar und verwertbar werden soll. Deren eine ist das bisher untersuchte rechtliche, hier vor allem: verfassungstheoretische Vorverständnis. Es ist nicht nur in seinen Einzelheiten zu erörtern, etwa in der Frage nach der Funktion der Grundrechte als Vorverständnis der Konkretisierung von Grundrechten; vielmehr enthält auch der ursprüngliche, allgemeinste Entwurf des Staatsbildes letztlich Aussagen zum jeweiligen hermeneutischen Spielraum. Die Staatsbilder wirken als Aufbereitung und Begründung bestimmter Typen von Vorverständnissen. Sie geben, soweit sie folgerichtig sind, den für die auftauchenden Einzelfragen bewußt oder unbewußt verbindlichen Horizont des Verstehens an. Sie liefern Instrumentarium und Rechtfertigung für »Lücken«, das heißt für nicht genügend rationalisierbare Fragen und Wertungen im einzelnen Entscheidungsvorgang. […] [55] […] Problemsichten vorrechtlicher Relevanz spielen auch dann ihre Rolle bei der Konkretisierung, wenn der Interpret, um eine zusätzliche Kontrollmöglichkeit, eine zusätzliche Instanz spezifisch juristischer Objektivität zu schaffen, sein Vorverständnis in Richtung der Frage rationalisiert, wie die behandelte Sache rechtlich relevant werden könne. Die Rationalisierung, welche die Verrechtlichung der Vormeinungen mit sich bringt, ist somit schon im Grundsatz nur begrenzt; die Diskrepanz zwischen unausgesprochener Vorgabe und dargelegten Entscheidungsgründen kann sich dadurch noch verschärfen, auch wenn die Einsichtigkeit und Redlichkeit des rechtlichen Vorverständnisses 12 Vgl. Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der »Natur der Sache«, 1957, S. 13, 24f. 13 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, S. 47; ferner ebd., S. 107ff., 110, 111, 117, 201, 235ff., 262.

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und seiner Darlegung vorausgesetzt werden. Die Lehre von der Verfassungstheorie als verfassungsrechtlicher Hermeneutik bedarf für die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Wirklichkeit einer methodischen Ergänzung, die anzugeben erlaubt, wieweit und auf welchem Weg Elemente der »Wirklichkeit«, also auch solche des vor-rechtlichen, nicht-rechtlichen Vorverständnisses, für die Normkretisierung wirksam und in ihr durch begriffliche Fassung und Differenzierung kontrollierbar [56] werden können. Die Frage nach spezifisch juristischer Objektivität, ihren Bedingungen und Grenzen läßt sich auch hier hermeneutisch als die nach der praktischen Entsprechung von Normativität und Normstruktur stellen. Dasselbe gilt für das Problem der Topik in der Jurisprudenz, da das (vorrechtliche wie rechtliche) Vorverständnis Norm- und Problemstruktur erschließen oder verschließen kann. Betrachtet man die Normstruktur des Rechtssatzes und die Sachstruktur des Problems als zwei je in sich abgeschlossene Pole, so mag es genügen, allgemein das Verschwinden des einen im anderen oder ihre zuordnende Dialektik oder Wechselbezüglichkeit zu formulieren. Hermeneutisch, für die Einzelheiten praktischer Konkretisierung muß im Interesse von Rechts- und Methodenklarheit nach einer verbindlichen Priorität von Norm oder Problem gesucht werden; kann das Verhältnis beider ebensowenig in einem vagen »Sowohl-Als-auch« verbleiben wie bei dem gleichfalls bisher zu allgemein formulierten Wechselbezug von Methode und Gegenstand. Beide Fragen sind noch nicht hermeneutisch präzisiert, so wie jene nach dem Vorverständnis erst für das Vorverständnis im engeren Sinn, für das rechtliche bzw. verfassungstheoretische. Diese Aufgaben verschränken sich zunächst in bezug auf die Topik. Deren sich gegen geschlossen-systematisches, axiomatisches Denken entschieden absetzenden Regeln14 interessieren hier bezüglich der Stelle, welche die Norm in topischer Rechtsfindung einnimmt. Die Elemente der Konkretisierung entstammen nur zum Teil der Norm. Die topoi als meinungsmäßig diskutierbare, die Entscheidung möglichst überzeugend begründende Gesichtspunkte sind in ihrer Auswahl auf das Problem bezogen; es dürfen nicht sachfremde, wohl aber normfremde topoi herangezogen werden. Die auf scheinlogische Deduktion 14 Zur Topik allg. vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1965; Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, z. B. S. 7, 47, 85 Fn. 244, 239; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 26ff., 331; Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, 1963, S. 89ff. (Topik und Politik); A. Kaufmann, Analogie und »Natur der Sache«, 1. Aufl. 1965, S. 39; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 133ff.; Siebert, Die Methode der Gesetzesauslegung, 1958, S. 13; Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 10 (1957), S. 173ff. m. Nw.; v. Pestalozza, Grundrechtsauslegung, in: Der Staat, Bd.2 (1963), S. 425ff., 429 m. Nw.; Ballweg, Natur der Sache, 1960, S. 68ff.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53ff., z. B. 551, 60.

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verzichtende, auf den Sach- und Problemgehalt der Aspekte abstellende, ein »offenes« System anzielende topische Rechtsfindung fragt notwendig über die Norm hinaus und will damit die Struktur jeder Interpretation aufdecken, die auch dann den formellen Quellen nicht entnehmbare Einsichten als Teile des [57] positiven Rechts auszugeben gezwungen ist, wenn sie angeblich den Rahmen des »gegebenen« Gesetzesinhalts nicht verläßt15. Für das Verfassungsrecht ist es wegen seiner Eigenart als fundamentalen, positivrechtlich nicht weiter abgestützten Rechts besonders fraglich, ob topische Rechtsfindung in der Tat über eine erkennbare, konkretisierbare Norm hinweggehen, ob sie zum Beispiel auch gegen den klaren Wortlaut einer Verfassungsnorm entscheiden darf, wenn dieser für eine sinnvolle Problemlösung keinen Ansatzpunkt bietet16. Schon für eine rechtsvergleichend orientierte Zivilistik ist es zweifelhaft, ob es ausreicht, die Richtung nur axiomatischen oder nur topischen Denkens einzuschlagen. Esser hat überzeugend herausgearbeitet17, daß sich problematisches und deduktiv-begriffliches Vorgehen schon wegen des Zusammenhangs von Rechtslehre und Fallpraxis notwendig ergänzen; daß um der Rationalität willen auch eine »offene« Problementwicklung eines relativ systematischen Ableitungszusammenhangs ebensowenig entraten kann wie »geschlossene« Axiomatik der Erweiterung durch Problemdenken und Prinzipienbildung im Sinn des Fallrechts. Es fragt sich freilich, wo der Akzent gesetzt wird; ob letztlich das Problem über die insofern unzulängliche Norm hinwegzugehen rechtfertigt, oder ob die konkretisierbare Norm das topisch entwickelte Problem auch bei unbefriedigender Lösung beherrscht. Angemessenere Problemerkenntnis wäre im Fall dieser topischen Normkonkretisierung, dieser »topischen Hermeneutik« Sache des demokratischen Gesetzgebers. Reine Topik fragt auch im Verfassungsrecht18 »hinter das Gesetz zurück und

15 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privarechts, 1. Aufl. 1956, S. 102; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 56, 62; gegen das Dogma von der Geschlossenheit des Rechtssystems bereits, wenn auch auf anderer Grundlage, G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1960 (7. Neudr.), S. 353, 358. 16 Vgl. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 60, zu BVerfGE 2.347. 374f. (Art. 32 Abs. 3 GG) 17 Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, S. 7, 85 Fn. 244, 239; vgl. ferner ebd. S. 24, 45ff., 193ff., 307ff. – So auch Diederichsen, Topisches und systematisches Denken in der Jurisprudenz, NJW 1966, S. 697ff. Trotz seiner Kritik an Viehwegs Ansatz topischen Rechtsdenkens räumt auch Diederichsen der Topik gerade im Bereich der juristischen Interpretation zu Recht eine unentbehrliche Funktion ein, wobei er zugleich die Unumgänglichkeit systematischer Interpretation betont, ebd., bes. S. 704f. – Zur Ergänzung von Problem- und Systemdenken s. Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, 1965, S. 21f. 18 Vgl. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 26ff.; Ehmke, Prinzipien der Verfas-

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über es hinaus«19. Verfassungsrechtliches Denken soll sogar in besonderer Deutlichkeit die Struktur des Problemdenkens aufweisen. Die Knappheit seiner Normtexte, die Weite und relative Unbestimmt-[58]heit seiner Norminhalte zeigen in der Tat besonders deutlich die Notwendigkeit der Normkonkretisierung als Rechtsfortbildung. Auch trifft es zu, daß zum verfassungsrechtlichen Material zahlreiche Interpretationsgesichtspunkte ohne umschriebene Normqualität gehören. Damit ist aber noch nicht die topische Struktur des Verfassungsrechts erwiesen. Zwar sind die Aufgaben rationaler Konkretisierung im Verfassungsrecht zum Teil ungleich schwieriger als in Rechtsgebieten mit konkreter und dichter gearbeiteten Normzusammenhängen; doch ist damit noch keineswegs gesagt, der hermeneutische Primat müsse von der Norm auf das Problem übergehen. Auch die »Probleme« sind im Verfassungsrecht von besonderer Art, den in der Regel deutlicher hervortretenden »Problemen« etwa im Zivilrecht nicht gleichzusetzen. Die Eigenart des Verfassungsrechts betrifft Norm- und Problemstruktur und ist mit der bündigen Option für Topik im Verfassungsrecht nicht hinreichend in Rechnung gestellt. Die gerade für das Verfassungsrecht zuweilen naiv wirkenden Operationen des konstruktiven Positivismus, das Argumentieren aus einem vorgegebenen, geschlossen-axiomatischen System nach dem Schema »Befehl-Anwendung« hat mit Konkretisierung im hier verstandenen Sinn nichts zu tun. Diese aber ist noch nicht mit einer Topik identisch, welche die charakteristisch weit gefaßten Verfassungsnormen und ihre Begriffe nur als »Momente der in der ›Situation‹ aufgegebenen, in topischer Argumentation anzustrebenden Synthese oder ›concordantia disconcordantium‹« behandelt20. Die berechtigte Ablehnung eines naturwissenschaftlich verdinglichten geschlossenen Systems und der Vorstellung von der Rechtsnorm als fertigem Befehl oder als logifiziertem hypothetischen Urteil rechtfertigt noch nicht ein Vorgehen, das um sinnvoller Problemlösung willen im Zweifelsfall über die Norm hinweggeht, die nur als ein topos unter topoi erscheint und die an ihrem Problembezug gemessen wird, statt daß die Relevanz der Problemgesichtspunkte sich am normativen Spielraum der zu konkretisierenden Vorschrift auszuweisen hat. Der Hinweis auf freie Diskussion im Bereich des Meinungsmäßigen, auf die erhoffte Durchsetzung des sachlich Überzeugenden, auf den Konsens und seine traditionsbildende Kraft ist gerade im Verfassungsrecht allein nicht zulänglich, wenn einerseits grundlegende hermeneutische Fragen noch ungeklärt sind, andererseits die verfassungsrechtliche sungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53ff., 54ff., 61ff.; v. Pestalozza, Grundrechtsauslegung, in: Der Staat, Bd. 2 (1963), S. 425ff., 429. 19 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 54; auch S. 60, 99; zum folgenden S. 62f. 20 So aber Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 26ff., 34; vgl. auch S. 36, 30f.: Gleichsetzung von Konkretisierung mit Topik.

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Norm zur Disposition der Problemerörterung gestellt wird. Der politische Charakter des Verfassungsrechts macht skeptisch gegenüber dem Optimismus, die sachlich richtige Lösung werde den Inhalt des Konsenses bestimmen. Damit ist dessen Bedeutung und seine Eigenständigkeit gegenüber naturwissenschaftlicher Objektivität nicht bestritten. Wohl aber kann ein hermeneutisches Grundproblem wie die [59] Frage nach der Verbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit konkretisierbarer Verfassungsnormen nicht allein vom Hinweis auf Vorverständnis, topische Synthese in der »Situation« und Konsens bewältigt werden. Dabei wird hier die Topik nicht im Sinn bloß rhetorischer, unjuristischer Gemeinplätze oder der Beliebigkeit im rhetorischen Raum verstreuter topoi verstanden21. Die Arbeiten zu Topik und Jurisprudenz haben über den rhetorischen Ansatz hinaus überzeugend topische Elemente aller Rechtskonkretisierung nachgewiesen. Beliebigkeit der topoi soll durch ihren notwendigen Bezug auf das Rechtsproblem ausgeschlossen werden. Die Frage, ob überhaupt die Norm zur Verfügung des Problemfelds und einer topisch sinnvollen Lösung im Einzelfall stehen kann, ist damit allerdings noch nicht beantwortet22. Auf der einen Seite können topoi auch Elemente des allgemeinen vorrechtlichen Vorverständnisses erfassen; andererseits ist damit über Möglichkeiten und Grenzen der Einbeziehung von Wirklichkeit in die Rechtsfindung hermeneutisch noch nichts gesagt23. Die Norm wird mit ihren Lösungshinweisen für die Topik zum topos unter anderen; das Problem hingegen, das sie in der Rolle des letzten Bezugspunkts der Rechtsfindung ersetzen soll, ist gleichfalls nichts Vorgegebenes. Auch das Problem ist von der Mehrdeutigkeit des Verstehens betroffen, die durch Formulierungen wie »Recht und Wirklichkeit«, »Gegenstand und Methode«, durch die Vorstellungen vom hermeneutischen Zirkel und vom Vorverständnis umschrieben wird. Im Verfassungsrecht erscheint es zusätzlich fraglich, ob nicht die von ihm zu leistende Ordnung des staatlichen Gesamtlebens einen Gesamtentwurf erfordert, der auf eine nur problem- und nicht mindestens in gleicher Weise auch normbezogene Ansammlung von topoi nicht 21 So aber von Flume, Richterrecht im Steuerrecht, Steuerberater-Jahrbuch 1964/65, S. 67, und Lerche, Stil, Methode, Ansicht. Polemische Bemerkungen zum Methodenproblem, DVBl. 1961, S. 690ff., 697; vgl. a. Diederichsen, Topisches und systematisches Denken in der Jurisprudenz, NJW 1966, S. 697ff. 22 Insoweit zu Recht skeptisch Flume, Richterrecht im Steuerrecht, Steuerberater-Jahrbuch 1964/65, S. 67; vgl. auch allg. Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20, 1963, S. 1ff., 28f., zur primären Normorientierung der Verfassungsinterpretation, allerdings unter abstrakt-unhermeneutischer Absetzung gegenüber der »Wirklichkeit«; ferner Hesse, Besprechung von: Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, JZ 1963, S. 485ff. 23 Vgl. hierzu etwa den bei Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, S. 262, angedeuteten Dualismus von »Gesetz« und »Faktischem« unter dem Gesichtspunkt der hier nicht erörterten principia iuris et artis.

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reduziert werden kann. Zwar ist auch Problemdenken auf Interpretation angewiesen, da einmal zugelassene topoi von relativ großer Konstanz sind und damit in erhöhtem Maß interpretiert werden müssen24. Doch wird diese Annäherung an normgebundene Rechtskonkretisierung im Verfassungsrecht schon dadurch in ihrer Bedeutung abgeschwächt, daß hier sowohl die Dichte der einzelnen topoi als auch der Vorrat an Problemlösungen weit geringer sind als im Zivilrecht. In diesem sind Probleme wie Mög-[60]lichkeiten der Problemlösung auch geschichtlich viel konstanter als im »politischen« Recht der Verfassung25. […] [65] […] Ohne die Fortschritte der neueren juristischen Hermeneutik aufzugeben, kann jedenfalls für Staats- und Verfassungsrecht grundsätzlich am Primat der Normbindung gegenüber dem topischen Problembezug festgehalten werden. Im einzelnen ist diese Position vor allem am Verhältnis von Norm und Normtext noch darzulegen. Die Abkehr von reiner Topik im Verfassungsrecht wird hier zunächst allgemein von dessen Eigenart her und im besonderen für das Thema einer hermeneutischen Formulierung von »Recht und Wirklichkeit« erläutert26. [66] Diese hermeneutische Formulierung leitet, wie zu zeigen sein wird, auf das Verhältnis von Normativität und Normstruktur über. Damit ist eine Position bezogen, die als Bezugspunkt konkretisierender Bemühungen die Rechtsnorm festhält. Die Problemstruktur des zu lösenden Falles oder Falltyps wird als integraler, unentbehrlicher und für das Normverständnis mitkonstitutiver Faktor, nicht aber als letztlich entscheidender Richtpunkt der Rechtsfindung behandelt. Das zu entwickelnde Normverständnis hat mit positivistischer Axiomatik oder Systematik nichts zu tun. Andererseits strebt es auf eine Weise nach juristischer Rationalität, die auch von reiner Topik unterschieden ist. Auch deshalb ist diese Sicht der Rechtsnorm mehr als eine bloß sprachliche Verschiebung topischen Vorgehens »in« die Norm selbst. Als Grundlage dient ein Verständnis von Hermeneutik, das von der Frage ausgeht, wie sich ein Rechtssatz angemessen konkretisieren lasse. »Hermeneutik« meint das Verfahren normgebundener Applikation27. Die Norm ist nicht fertig und »anwendbar«. Ihr Sinn vollendet sich jeweils erst in der Konkretisierung. Der Interpret ist in diesen Vorgang normativ-sachgebundener Integration rechtlichen Sinnes ebenso einbezogen wie die Problem24 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 2. Aufl. 1963, S. 23f. 25 So zu Recht Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), 53ff., S. 64f. 26 Wegen dieser Fassung des Themas ist auf die konstruktiven Vorschläge zur verfassungsrechtlichen Interpretation, die vor allem Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53ff. gemacht hat, nicht näher einzugehen. Wie dort, z. B. 72f., werden im Text die »Prinzipien« der Verfassungsinterpretation als materiell verstandene, sachbezogen-relative Hilfsmittel im hermeneutischen Geschäft der Verfassungstheorie gesehen. 27 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, z. B. S. 315.

Applikation, topisches Vorverständnis und topische Hermeneutik

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struktur des Falles oder Falltyps. Dennoch wird in der Aufgabe der Applikation keine grundsätzliche Freiheit gegenüber der Norm gesehen. Da aber die Norm als unfertig und konkretisierungsbedüftig verstanden wird, ist diese Sicht von der topischen nur im Akzent unterschieden. Die deutlichste praktische Differenz wird sich bei der Rolle des Wortlauts zeigen. Im Interesse verfassungsrechtlicher Klarheit und rechtsstaatlicher Bestimmtheit muß unter näher zu bezeichnenden Umständen der Text der Vorschrift als Grenze der Konkretisierung behandelt werden. Da aber der Normtext nicht mit der Norm gleichgesetzt werden kann, diese wiederum nicht als vorgegeben »anwendbar« ist, zeigt sich auch diese Grenzlinie zur reinen Topik, der Eigenart juristischer Objektivität entsprechend, als nur relativ. Juristische Hermeneutik im hier gemeinten Sinn ist damit nicht gleich juristischer »Interpretation« im Sinn von Esser28, der das Gesetz als einen Teilfaktor topischer Problemlösungen sieht und insofern einen weiteren hermeneutischen Horizont entwirft, als er der Konkretisierung zukommt. Die Verengung der Frage in unserem Zusammenhang erscheint sowohl durch die Eigenart des Verfassungsrechts mit seinem im Vergleich zum Zivilrecht weit weniger zuverlässigen Bestand an topoi und seinen fundamentaleren Normativitätsansprüchen als auch vom Thema »Recht und Wirklichkeit« aus gerechtfertigt. Die Normbindung verhindert jedoch nicht und soll [67] auch nicht verhindern, daß »Grundsätze« im Sinn der Topik sich sowohl bei der die Norm vollendenden Applikation als auch bei der Einarbeitung des Vorverständnisses mit ins Spiel bringen. Die Applikation, also die Abkehr von positivistischer »Anwendungs«-Doktrin zugunsten konstitutiven Charakters der Interpretation (bzw. der Konkretisierung), verbindet topisches und hermeneutisches Denken trotz der Verschiedenheit des Ansatzes. Sobald die Verabsolutierung juristischer Methoden als unangemessen erkannt ist, sind auch bei grundsätzlicher Normbindung die relativen Kunstregeln richterlicher Entscheidungspraxis von topoi nicht unterscheidbar. Topische Normkonkretisierung, also im hier gemeinten Sinn topische Hermeneutik, sieht jedoch das Gesetz nicht nur als Teilfaktor sachgerechter Problemlösung. Jedenfalls im Verfassungsrecht, dessen normativer Gehalt sich noch weit weniger als jener des Zivilrechts in konkreter Fallgerechtigkeit erschöpft, bleibt die Norm primärer Richtpunkt. Das »Gesetz« im Sinn von Art. 20 Abs. 3 GG kann in diesem Bereich nicht vom »Recht« überspielt werden, mag das Gesetz auch alles andere sein als eine unproblematisch vorgegebene Größe. Darin zeigt sich, daß Topik und topische Hermeneutik in der für den Sinn von Rechtswissenschaft entscheidenden Praxis aufeinander angewiesen sind. Die schon von Esser betonte Notwendigkeit gegenseitiger Ergän-

28 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, passim.

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Friedrich Müller

zung von deduktiv-begrifflichem und problembezogenem Denken29 wird für das Verfassungsrecht nicht in Richtung auf deduktive Begriffsaxiomatik, wohl aber in weiterem Zusammenhang auf prinzipielle Bindung an die zu konkretisierende Rechtsnorm hin akzentuiert. Der Mangel an deduktiv arbeitender Systemgläubigkeit kennzeichnet die Einzelheiten hermeneutischer Bewegung als topische; sie treten nicht als absolute Methoden, sondern als problem-, sach- und normbezogene, möglichst praktikable und rationale Hilfsgesichtspunkte ohne hierarchische Rangfolge auf. Weitere hermeneutische Hilfsgesichtspunkte – hier zum Thema »Recht und Wirklichkeit« – sind noch zu erarbeiten; dies auch deshalb, um das Votum gegen reine Topik und für topische Hermeneutik noch näher zu belegen als aus der allgemeinen Eigenart verfassungsrechtlicher Normativitätsanforderungen. Aus zwei Gründen sagen die Lehren vom Vorverständnis und von topischer Rechtsfindung zu diesem Thema nichts Spezifisches: ihr Ansatz geht nicht von grundsätzlicher Normbindung aus und das Verhältnis von »Recht und Wirklichkeit« wird von ihnen nicht hermeneutisch reflektiert. Aus beiden Gründen werden sie im vorliegenden Zusammenhang anders akzentuiert und in den Dienst der Normativität der Verfassung gestellt. So gewendet, können sie ihrerseits als Hilfsaspekte für die Frage dienen, wie die Struktur verfassungsrechtlicher Normen zugunsten möglichst dichter und konkreter Normgehalte zu fassen sei.

29 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, S. 7, 85, 239.

8.

Bedingungen für die Rechtsanwendung (Josef Esser)

Was die juristische Interpretation betrifft, so steht auch bei ihr bislang meist noch die Sprache im Vordergrund des analytischen Interesses und der Kritik von Interpretationsmöglichkeiten und -grenzen. Aber in dieser Sprachfrage erschöpft sich die Bedeutung der juristischen Hermeneutik keinesfalls. Sie ist als solche nicht von so grundsätzlicher Verschiedenheit gegenüber geschichtlicher oder literarischer Hermeneutik, daß sie eine eigene juristische Hermeneutik verlangen würde. Natürlich ist die Sprache ein Schlüssel des Zugangs zur Verstehensfrage, der andere Anstrengungen verlangt als schlichte semantische Festlegungen. Es bedarf keiner erneuten Ausführungen darüber, daß die geschichtliche Offenheit der Sprache zusätzliche Interpretationsprobleme gegenüber der Semantik von Symbolbegriffen aufweist. Sie werden notwendig in Kauf genommen, da nur mit dieser Offenheit die Wandlungsfähigkeit von Entscheidungsprogrammen anhand bestimmter Modellvorstellungen gewahrt bleibt. Alle Differenzierungsleistungen der Jurisprudenz sind an die Kunst sprachlicher Verfeinerung gebunden. Indessen würde das Interpretationsproblem der Rechtssprache keine neuartigen Schwierigkeiten gegenüber der allgemeinen Sprach-Hermeneutik bilden, käme nicht eine Besonderheit hinzu: die Zielsetzung der Sprache in der Übermittlung von Entscheidungsmustern, Werten und Handlungsanweisungen. Die Welt der Wertungs- und Handlungssystematik und damit die Fragwürdigkeit ihrer Sprache beginnt ja erst jenseits der Bedeutung von Aussagen, seien sie wissenschaftlich oder künstlerisch oder anderweitig qualifiziert. Im Recht sind sie Ordnungsanweisungen, ob in dogmatisierter oder offener Sprache vorgelegt, nicht schlicht sinnbeladene Mitteilungen, sondern Aufforderungen zu norm-entsprechender Wertung und Entscheidung. Eben diese Entsprechung ist hier das hermeneutische Problem. Der »hermeneutische Zirkel« liegt dabei in dem Verhältnis von Fragestellungen und Antworten qua Normverständnis, also in der Tatsache, daß ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt wird: die gerechte Lösung.

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Josef Esser

Wertungsaussagen sind durch Wertungsfragen bedingt und diese durch Wertungsmöglichkeiten, welche erst durch die Entdeckung der Regelungsbedürftigkeit erkannt werden. So wird das Interesse im ursprünglichen Sinn zum Initiator der Befragung und zum Moderator des interpretativen Verstehens von Normen. Die Sprache als solche ist nicht deutlicher oder undeutlicher als in anderen Disziplinen und bietet die gleichen Interpretationsfragen wie in jeder Geistes- oder Kulturwissenschaft. Es ist nur die »kritische Grenze« sprachlicher Eindeutigkeit weit schneller erreicht, weil die »zweifelsfreie« Bedeutung textlicher Weisungen hier abhängt von den Wertungsbeziehungen und Wertungszusammenhängen, die das Vorverständnis an jene Begriffe heranträgt. Das gilt selbst von den scheinbar fixen technischen Begriffen wie Willenserklärung oder Stellver-[138]tretung, die keine andere Bedeutung haben als die, welche aus einem bestimmten Ordnungsproblem und -zusammenhang hic et nunc folgt, ihre Verwendung verlangt und »sinnvoll« macht. Von jeder Vokabel der Umgangssprache gilt das noch erhöht: daß sie dem Juristen erst aus dem Rechtskontext bedeutsam wird. Die allgemeine linguistische Hermeneutik kann hier nichts leisten. Es wäre hoffnungslos, auch nur einen ganz elementaren Ausdruck rein sprachlich interpretieren zu wollen. Kriele exemplifiziert das an Art. 1 II GG hinsichtlich der Worte »Würde« und »unantastbar«1. Solches vergebliche Unterfangen macht deutlich, daß die juristische Textauslegung nur relevant sein kann, wenn sie zuvor die konkreten Probleme »richtig« versteht und aus diesem Verständnis heraus den Text befragt. Das Herantragen einer bestimmten Ordnungsfrage im Hinblick auf die mögliche Weisungs-Bedeutung des befragten Textes ist der entscheidende Akt, ohne den sich der Regelungssinn eines Ausdrucks der Gesetzessprache überhaupt nicht erschließen kann. Um eben dieses »Herantragen« geht es in der juristischen Hermeneutik. Wenn eine Sprachformulierung mit Rücksicht auf eine endgültig klar abgegrenzte Ordnungsfrage in sich definitiv und eindeutig wäre, würde die Problemherantragung keine Rolle spielen. In Wahrheit ist aber regelmäßig weder eine Formulierung so definitiv noch eine Regelungsaufgabe von vornherein so abgegrenzt, daß nicht mit je neuen Varianten je neue Kriterien der Lösungsmuster sichtbar würden2. Das liegt schon an der Allgemeinheit und an dem Allgemeinheitsanspruch rechtlicher Normierung. Es liegt aber natürlich auch am Zeitfaktor. Indem eine Frage aus der Gegenwart an den als aktuell sinnvolle und verbindliche Norm zu verstehenden Text herangetragen wird, wird ein Problem-

1 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 213. 2 Vgl. Arthur Kaufmann, Die Geschichtlichkeit im Lichte der Hermeneutik, Festschrift für Karl Engisch, 1969, S. 243 (254); vgl. denselben auch schon in: Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, S. 4.

Bedingungen für die Rechtsanwendung

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Vorverständnis dieses Textes gefordert, das nicht mit dem historischen Vorverständnis zusammentrifft. Gadamer hat in großer Eindringlichkeit die Unvermeidbarkeit eines unhistorischen Vorverständnisses gezeigt und dieses als einen erkenntnistheoretisch notwendigen Teil des Verstehensprozesses dargetan3. Er rechtfertigt das damit an das befragte Objekt herangetragene Vorurteil darüber, was das Objekt sinnvollerweise bedeuten könnte, als Bedingung des »Verstehens«. Permanent gültige Handlungsanweisungen können nur funktionieren, wenn die aktuelle Textbefragung in ihrem Vorverständnis die historisierende Dimension hinter sich läßt. Das Vorverständnis von der aktuellen Ordnungsfrage her ist mehr noch als nur Bedingung des Verstehens, es ist Voraussetzung für ein als Entscheidungsgrundlage brauchbares Verstehen. Das wird beim Interpretationsvorgang im Recht zur zentralen Frage, während das Interpretieren von Kulturzeugnissen im Lichte »historischer Wahrheit« eine solche praktische Aufgabe nicht einschließt. Bei der historischen Fragestellung spielt das Vorurteil lediglich die Zir[139]kelrolle, welche die behauptete historische Distanz oder Neutralität stets mit sich bringt angesichts einer schlechterdings historisch ebenso festgelegten Erkenntnis- und Verständnismöglichkeit. Auch die bloße logische Zirkelbedeutung der Definition ist noch nicht das Entscheidende, wenn man nämlich für die rein definitorische Auslegung (etwa zwecks einer Übersetzung) schon den Vorgriff auf das mögliche Äquivalent machen muß: Man muß von dem, was man definieren will, eben schon vorher »einen Begriff haben«. Diese allgemeinen Fragen des Vorverständnisses sind heute weithin bekannt. Es handelt sich für den Juristen nicht um sie und nicht darum, daß eine präzise Begriffsbestimmung schon immer ein wie auch korrekturbedürftiges Vorverständnis voraussetzt. Für die Interpretation im Recht wird vielmehr ausschlaggebend, daß ja mit einer bestimmten Erwartung an die Lösungsmöglichkeit von Konfliktsfragen an jene zu interpretierenden Texte herangetreten wird und daß diese Erwartung die Interpretationsmöglichkeiten begrenzt und erschließt. Die juristische Hermeneutik ist für die philosophische Hermeneutik gerade dadurch »exemplarisch« geworden, daß hier ein konkreter Anwendungsakt oder doch die Konfrontation des zu bewältigenden Entscheidungsproblems mit dem befragten Text den Verstehensvorgang »von vornherein und im Ganzen mitbestimmt«4. Der Jurist begreift den vorgegebenen Text weder in seiner historischen Relevanz noch soziologisch als Produkt bestimmter Kräfte, er interessiert ihn nicht als Meinungszeugnis, sondern als ein für seine Entscheidung sinnvolles Weisungsmuster. Er will nichts anderes, als den Text daraufhin verstehen, ob er 3 Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. 1965, S. 252ff. 4 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 307.

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Josef Esser

anhand seiner ratio seine »befriedigende« Entscheidung fällen kann oder nicht. In diesem Sinne ist der Anwendungsakt von der Verständnismöglichkeit abhängig und die Verständnismöglichkeit von der Anwendungsvorstellung. Diesen Zirkel, den man nach dem Gesagten als Anwendungszirkel einer dogmatischen Interpretation verstehen darf5, präzisiert unsere Auffassung von dem Einfluß finaler Entscheidungsvorstellungen auf die Rechtsanwendung: Es werden mögliche Ergebnisse vorweg ins Auge gefaßt, und an ihnen wird die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht. Auch das geschieht nicht mit »Methode«, sondern im Vorverständnis, welches in der Konfrontierung von Normbedeutung und Fallproblematik die Texte befragt. Der Rechtsanwender kann sich dem Anwendungs- und Entscheidungszwang, unter dem er steht, nicht entziehen. Seine Normbefragung steht unter diesem entscheidungsbezogenen Vorverständnis der Konfliktsituation. In ihm erscheint letztere nicht als die persönliche Situation des Rechtschutzsuchenden, sondern als eine »typische Fallsituation«, die eine normative Behandlung erfordert, welche über die Einzelentscheidung hinaus befriedigen muß. Die Entscheidung muß generell »sachgerecht« sein und auch im Einklang mit dem gesamten Ordnungssystem stehen. [140] Damit ist die Frage offengelegt, welche Elemente den Rechtsanwender zu einer bestimmten Fragestellung an den Text bewegen. Die Erwartungen nicht des einzelnen Rechtssuchenden, sondern der anderweitig bereits anerkannten Interessen hier potentiell beteiligter weiterer Rechtssuchender in ihrer Konfliktslage mit den Gegenerwartungen bilden einen Erwartungshorizont um den Rechtsanwender, aus dem er nicht heraustreten kann. Dieser Erwartungshorizont ist kein subjektiver, sondern ein allgemeiner ; er repräsentiert das Rechtsverständnis ganzer gesellschaftlicher Gruppen, mit dem der Richter sich bei seiner Interpretation auseinandersetzen muß. Solche Auseinandersetzung tritt nicht nachträglich zum Rechtsfindungsakt hinzu, sie bestimmt vielmehr dessen Richtung und Verlauf im Hinblick auf den zu erwartenden gesellschaftlichen Konsens für eine »vernünftige« Entscheidung. Von dieser Erwartung her werden die Regelungsmuster auf ihren möglichen Sinn für den gegebenen Konflikt befragt. Diese Befragung ist also durch den Erwartungsstand gekennzeichnet, der die richterlichen Vorstellungen mitbestimmt, nämlich davon, was das betreffende Muster »hergeben müßte« – oder umgekehrt, was es allenfalls als »noch sinnvoll« erscheinen läßt. Das bedeutet im Positiven wie im Negativen das Abtasten und Vorwegnehmen möglicher Auslegungen nach Gesichtspunkten der Überzeugungskraft, deren vorgreifliche Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Worauf es im Augenblick ankommt, ist die Möglichkeit, Motive für solche vorgreifliche Normbeurteilung erkennbar zu machen. Sie liegen sicherlich 5 Gadamer spricht vom applikativen Vorverständnis (Vorwort 2. Aufl. S. XIX).

Bedingungen für die Rechtsanwendung

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großenteils in einem mit der Ausbildung und praktischen Erfahrung erworbenen Überblick und einem hoffentlich gleichzeitig erstarkten sicheren »Judiz«. Sie liegen aber auch in dem Bewußtsein einer Planungs- und Vermittlungsaufgabe vor jenem Erwartungshorizont, der in den Anforderungen und Argumenten der Betroffenen sichtbar wird, und dem dogmatisierten System mit seiner stets nur partiellen Verfestigung. In dieser Rolle des Interpreten als Vermittler zwischen den Notwendigkeiten eines stabilen Systems und einer aktuell gerechten Einarbeitung und Anerkennung neuer Erwartungshorizonte liegt die Problematik der »Rechtsanwendung«, aber auch der Schlüssel für das vielfältige und willkürlich erscheinende Gebrauchen und Außerachtlassen einzelner Interpretationselemente. Die Rolle des Interpreten als Vermittler zwischen gesellschaftlichem Bewußtsein und dogmatischer Ordnungstradition im System seines Rechts bestimmt seinen Willen und Zugang zum Textverständnis: Die Antizipation von Sinn, die sein Textverständnis leitet, wird aus einem Verhältnis zum Überlieferten bestimmt, das nicht sein persönliches ist, sondern sich auch in seinem Bewußtsein als das der gesellschaftlichen »Gemeinsamkeit« solchen Verhältnisses darstellt und folglich »mit diesem in beständiger Bildung begriffen ist«6. Oder in der Sprache der ideologiekritischen Wissenschaftstheorie: »Hermeneutisches Verstehen ist die Auslegung von Texten in Kenntnis schon ver[141]standener Texte; es führt zu neuen Bildungsprozessen aus dem Horizont bereits vollzogener Bildungsprozesse; es ist ein neues Stück Sozialisation angeknüpft an eine schon durchlaufende Sozialisation – indem es Tradition aneignet, setzt es sie fort«7. Da indessen Tradition ihrerseits nur zeit- und gesellschaftsabhängig begriffen wird, ist auch die dogmatische Einstellung des Interpreten nicht fixiert, sondern jenseits des »applikativen Vorverständnisses« noch eingespannt in die allgemeinen Veränderungen der Bewußtseinslage. Von da aus erklärt sich, daß auch streng normativ erscheinende Determinanten des Rechts, apriorische Grundsätze wie auch Verweisungen auf Vernunftmaßstäbe, dem Verständniswandel unterworfen sind. Erstere sind schon ihrer Art nach weniger bestimmend als begrenzend angelegt und formaler Natur. Sie sind schon von der Intention her sachlicher Maßstabsänderung zugänglich, was auch auf neuentworfene Prinzipien zutrifft, wie z. B. das der Verhältnismäßigkeit. Diese Prinzipien haben wieder ihren eigenen Zirkel in der Verweisung auf Wertvorstellungen und Standards, die letztlich der Interpret selbst aus seiner Konsenserwartung auswählen muß, wie das »gesunde« sittliche Empfin-

6 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 277. 7 Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Philos. Rundschau, Beiheft 5 (1967), S. 3–195, 157. Vgl. auch denselben über »Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung« in seinem Sammelwerk »Theorie und Praxis«, 2. Aufl. 1967, S. 231.

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Josef Esser

den oder das Sittenbewußtsein »aller vernünftig und gerecht Denkenden«8. Wer sich damit nicht abfinden will, hat die Wahl zwischen einem streng dogmatisierten und einem voll ideologisierten Recht. Beides führt zur instrumentalen Denaturierung der Justiz. Ein politisch uniformiertes Rechtsverständnis führt Wahrheitsmonopole ein, aus denen jedes nicht ideologisch kontrollierte Vorverständnis als »falsches Bewußtsein« verurteilt wird. Die totale Systemautonomie des Rechts dagegen verbietet jede kritische Reflexion des Interpreten über Bedingungen und Motivationen seines Vorverständnisses, damit aber auch jede rationale Richtigkeitskontrolle, und führt gerade das ideologisch abgedichtete und sich autonom gebärende Rechtssystem in die Arme der politischen Manipulation.

8 S. schon oben S. 22 [im Original]. Zum Zirkelproblem vgl. Esser-Stein, Werte und Wertewandel in der Gesetzesanwendung, Schriften der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau Heft 68 (1966); insbes. zu den »Guten Sitten« S. 20ff., 28ff., zur »Werteordnung« S. 58ff., 69.

9.

Die Jurisprudenz als verstehende Wissenschaft (Karl Larenz)

I.

Verstehen durch Auslegen

Es geht, wie aus dem Bisherigen deutlich geworden ist, in der Jurisprudenz weithin um das Verstehen von sprachlichen Äußerungen, des ihnen zukommenden normativen Sinnes. Um sprachliche Äußerungen handelt es sich sowohl bei Gesetzen, wie bei Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten, regelmäßig auch bei Verträgen. Das Verstehen sprachlicher Äußerungen geschieht nun entweder unreflektiert, durch das unmittelbare Innewerden des Sinnes der Äußerung, oder in reflektierter Weise, durch Auslegen1. Dabei ist stets die Vermittlung durch die sinnliche Wahrnehmung (der Laute oder Schriftzeichen) schon vorausgesetzt. Unreflektiert ist das Verstehen dann und solange, wie dem Hörenden und Verstehenden aufgrund seiner Kenntnis der Sprache der Sinn der Rede nicht problematisch wird, er sich der Möglichkeit verschiedener Deutungen nicht bewußt wird. Sobald das der Fall ist, wird der gemeinte oder sonst »zutreffende« Sinn zum Gegenstand einer Reflexion und damit einer »Auslegung«. »Auslegen« ist ein vermittelndes Tun, durch das sich der Auslegende den Sinn eines Textes, der ihm problematisch geworden ist, zum Verständnis bringt2. Worin besteht dieses vermittelnde Tun? Der Auslegende vergegenwärtigt sich die verschiedenen möglichen Bedeutungen eines Ausdrucks oder einer Wortfolge und fragt sich, welche hier die »richtige« sei. Zu diesem Zwecke befragt er den Textzusammenhang, seine eigene Kenntnis von der Sache, von der im Texte die Rede ist, prüft die Situation, die den Anlaß zu dem Text oder der Rede gegeben hat, sowie andere »hermeneutisch bedeutsame« Umstände, die sich als Indizien 1 Anders wohl Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 312. Für ihn ist Verstehen »immer Auslegung«. 2 Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 6 meint, Auslegung sei kein Erkenntnisvorgang, sondern ein sprachlicher Akt, als solcher die »Außenseite« eines Erkenntnisvorgangs, seine Artikulation und Objektivation. Gewiß artikuliert sich das Verständnis in einer Aussage, doch sehe ich nicht ein, warum nicht der ihr zugrundeliegende Erkenntnisvorgang selbst als »Auslegung« sollte bezeichnet werden können.

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Karl Larenz

für die gesuchte Bedeutung verwerten lassen. Der Schluß, zu dem er gelangt, ist kein logisch zwingender Schluß, sondern eine durch hinreichende Gründe motivierte Wahl zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Einen Text »auslegen«, heißt also, sich für eine unter mehreren möglichen Deutungen aufgrund von Überlegungen zu entscheiden, die gerade diese Deutung als die hier »zutreffende« erscheinen lassen. Die Jurisprudenz ist eben darum eine Wissenschaft – sieht man einmal von dem Einwand der Anhänger des »scientistischen« Wissenschaftsbegriffs ab –, weil sie Rechtstexte grundsätzlich problematisiert, d. h. sie auf verschiedene Deutungsmöglichkeiten hin befragt. Rechtstexte sind in dieser Weise problematisierbar, weil sie in der Umgangssprache oder doch in einer an sie angelehnten Fachsprache abgefaßt sind, deren Ausdrücke – von Zahlen, Eigennamen und bestimmten techni-[205]schen Ausdrücken abgesehen – einen Bedeutungsspielraum lassen3, der zahlreiche Bedeutungsvarianten möglich macht. Eben in der Fülle dieser Bedeutungsvarianten besteht ja der Ausdrucksreichtum der Sprache und ihre Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Situation. Es wäre also ein Irrtum, anzunehmen, Rechtstexte bedürften nur dort der Auslegung, wo sie besonders »dunkel«, »unklar« oder »widersprüchlich« erscheinen; vielmehr sind grundsätzlich alle Rechtstexte der Auslegung sowohl fähig wie bedürftig4. Ihre Auslegungsbedürftigkeit ist kein »Mangel«, dem man durch möglichst präzise Fassung endgültig abhelfen könnte, sondern wird so lange bestehen bleiben, als nicht alle Gesetze, gerichtlichen Urteile, Beschlüsse und selbst Verträge ausschließlich in einer symbolisierten Zeichensprache abgefaßt sein werden. Daß nicht nur Gesetze und Verträge, sondern auch gerichtliche Entscheidungen der Interpretation bedürfen, wird oft übersehen. Dreier5 ist der Meinung, da ein großer Teil des faktisch geltenden Rechts heute in den Entscheidungen der Gerichte zu finden sei und die Jurisprudenz (unter anderem) die Aufgabe habe, das in einer Rechtsgesellschaft empirisch geltende Recht zu »beschreiben«, so könne sie sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe der »empirisch-analytischen« Methode bedienen. Wenn das heißen soll, die Jurisprudenz könne sich damit begnügen, die »Leitsätze« der Entscheidungen als »gegebene« einfach hinzunehmen und in irgendeine äußere Ordnung zu bringen, interpretativer Methoden bedürfe es dazu nicht, dann wäre das ein Irrtum. Die bloße Wiedergabe von Entscheidungen – etwa in einem Praktiker-Kommentar – ist 3 Hart (The Concept of Law, 1961, S. 121ff.) spricht deshalb von der Offenheit (»open texture«) des Rechts. 4 Dazu Mayer-Maly in Salzburger Studien zur Philosophie, Bd. 9, S. 127 [wohl fehlerhafte Angabe; korrekte Stelle konnte nicht ermittelt werden]. 5 Dreier, Recht – Moral – Ideologie, 1981. – Neues Naturrecht oder Rechtspositivismus, in Rechtstheorie, Bd. 2 (1987), S. 37, 43.

Die Jurisprudenz als verstehende Wissenschaft

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noch keine Jurisprudenz; jede juristische Bearbeitung von Entscheidungen aber beginnt mit ihrer Interpretation; darüber hinaus ordnet sie sie in weitere rechtliche Sinnzusammenhänge ein. Was die Frage betrifft, wann eine Auslegung als »zutreffend« angesehen werden kann, so kommt es darauf an, zu welchem Zweck ein Text ausgelegt werden soll. Im täglichen Leben kommt es entweder darauf an, die Meinung des Urhebers einer Rede, eines Briefes oder einer sonstigen Aufzeichnung zu erkennen, oder aber darauf, mit Hilfe des Textes die Sache (besser, genauer, umfassender) zu verstehen, von der im Text die Rede ist. Das ist z. B. der Fall bei mündlichen oder schriftlichen Erklärungen von technischen Objekten, Gebrauchsanweisungen, Sachbüchern oder Zeitungsberichten. Die Meinung des Urhebers interessiert hierbei nur soweit, als sie zum Verständnis der Sache beitragen kann. Dagegen ist sie das Auslegungsziel etwa bei literarischen Selbstzeugnissen, bei Äußerungen, die eine persönliche Stellungnahme enthalten, die der Ausleger erfahren möchte, bei der Schilderung persönlicher Erlebnisse. Je nach dem Auslegungsziel werden andere Umstände »hermeneutisch bedeutsam«. Geht es um die Meinung des Urhebers, so kommt es u. a. auf den Anlaß der Äußerung, die Situation, die der Redende vor Augen hatte, seine Beziehung zum Angesprochenen, auf eine ihm eigene Ausdrucksweise, z. B. auf seine Neigung, seine Meinung zu verschlüsseln, zu übertreiben oder sich ganz bestimmter Ausdrücke zu [206] bedienen, an. Geht es dagegen um die dargestellte Sache, so können anderweit erlangte Informationen über sie ebenso wie das im Fortgang bereits erzielte Verständnis zu Hilfe genommen werden. Woraufhin juristische Texte auszulegen sind, ist eine der Hauptfragen der Methodenlehre und an anderer Stelle ausführlich zu erörtern. Es macht, wie sich zeigen wird, einen bedeutenden Unterschied, ob es sich bei diesen Texten um Gesetze, um gerichtliche Entscheidungen oder um Rechtsgeschäfte handelt.

II.

Die »Zirkelstruktur« des Verstehens und die Bedeutung des »Vorverständnisses«

Die Auslegung eines Textes – gleich viel, welcher Art – hat es nicht nur mit dem Sinn einzelner Worte, sondern mit dem einer Folge von Worten und Sätzen zu tun, die einen durchgehenden Gedankenzusammenhang zum Ausdruck bringen6. Zwar ergibt sich der durchgehende Sinn erst aus dem Verständnis der einzelnen Worte und Sätze, indessen ist die Bedeutung der einzelnen Worte in der allgemeinen Sprache regelmäßig nicht in solcher Weise festgelegt, daß sie 6 Vgl. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 140: es geht um die »Ganzheit der Rede in ihrem semantischen Wert«.

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Karl Larenz

stets in genau der gleichen Bedeutung gebraucht würden. Vielmehr weist die Bedeutung der meisten Worte eine mehr oder minder große Variationsbreite auf; welche Bedeutung die gerade hier gemeinte oder zu verstehende ist, ergibt sich nicht zuletzt aus der Stellung eines Wortes im Satz und weiter aus dem gesamten Sinnzusammenhang, innerhalb dessen es an dieser Stelle der Rede oder des Textes steht. Daraus ergibt sich eine Eigentümlichkeit des Verstehensprozesses, die unter der Bezeichnung des »hermeneutischen Zirkels« bekannt ist7. Damit ist, vereinfachend gesagt, folgendes gemeint: weil die jeweilige Bedeutung des Wortes erst aus dem Sinnzusammenhang des Textes, dieser aber endgültig erst aus der – hier zutreffenden – Bedeutung der ihn bildenden Wörter und Wortzusammensetzungen zu entnehmen ist, muß der Interpret – und überhaupt jeder, der einen zusammenhängenden Text oder eine Rede verstehen will – bei den einzelnen Worten schon auf den von ihm erwarteten Sinn des Satzes und des Textes im ganzen voraus-, von diesem aus aber wenigstens dann, wenn sich Zweifel einstellen, auf die von ihm zunächst angenommene Wortbedeutung zurückblicken und gegebenenfalls entweder diese oder sein weiteres Textverständnis so lange berichtigen, bis sich eine durchgehende Übereinstimmung ergeben hat. Dabei hat er die erwähnten »hermeneutisch bedeutsamen Umstände« zur Kontrolle und als Auslegungshilfen heranzuziehen. Das Bild vom »Zirkel« trifft die Sache insofern nicht genau, als die Kreisbewegung des Verstehens nicht einfach an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt – dann würde es sich um eine Tautologie handeln –, sondern das Verständnis des Textes auf eine neue Stufe hebt. Stimmt die von dem Interpreten zunächst angenommene [207] Bedeutung eines Wortes nicht mit dem Sinnzusammenhang des Textes überein, wie er sich dem Interpreten im Fortgang erschließt, so berichtigt er seine erste Annahme; ergeben die möglichen (hier denkbaren) Wortbedeutungen einen anderen als den vom Interpreten zuerst erwarteten Sinnzusammenhang, so berichtigt er seine Erwartung. Der Prozeß des Vorausund Zurückblickens kann dabei mehrfach zu wiederholen sein, zumal wenn zunächst nur ein Teil des ganzen Textes – etwa ein einzelner Satz oder Absatz – in den Blick genommen war. Auch dann, wenn sich seine anfängliche Sinn-Erwartung im vollen Maße bestätigt, steht der Interpret nicht mehr an dem gleichen Punkt, da sich seine bloße Vermutung oder Annahme nunmehr in Gewißheit verwandelt hat. Die Sinn-Erwartung8 hat den Charakter einer Hypothese, die durch eine gelungene Auslegung bestätigt wird9. 7 Heidegger, Sein und Zeit, 16. Aufl. 1986, § 32; Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 5. Aufl. 1986, S. 270ff.; Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 219ff.; 613ff. 8 Der »Vorbegriff« im Sinne Pannenbergs (Wissenschaftstheorie und Theologie, 1987, S. 195, 201). 9 Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 107, vergleicht den Verstehensprozeß daher nicht

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Der Verstehensprozeß verläuft also nicht lediglich in einer Richtung, »linear«, wie ein mathematischer Beweis oder eine logische Schlußkette, sondern in Wechselschritten, die eine wechselseitige Erhellung des einen durch das andere (und dadurch eine Annäherung mit dem Ziele weitgehender Deckung) bezwecken. Diese Art des Denkens, die den »exakten« Wissenschaften fremd ist und von den meisten Logikern vernachlässigt wird, ist in der Jurisprudenz von sehr großer Bedeutung. Sie tritt nicht nur bei der Auslegung von Texten gemäß dem Bedeutungszusammenhang (Kap. 4, 2 b) und der – wenigstens zum Teil mit Hilfe eben des Textes ermittelten – »ratio legis« auf, sondern auch im Prozeß der Anwendung der Norm auf einen bestimmten Sachverhalt (Kap. 3, 1). Engisch10 spricht in diesem Zusammenhang von einem »Hin- und Herwandern des Blicks« (zwischen dem Tatbestand der Norm und dem Sachverhalt). Besonders deutlich ist diese Denkweise bei der Konkretisierung ausfüllungsbedürftiger Bewertungsmaßstäbe im Hinblick auf »typische« Fälle und Fallgruppen (Kap. 3, 3 d). »Lineares« Denken behauptet sich dem gegenüber im »Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung« (Kap. 2, 5 a) und, soweit diese reicht, in der Subsumtion (Kap. 2, 5 b). Am Beginn des Verstehensprozesses steht regelmäßig eine, wenn auch mitunter noch vage, Sinnerwartung, die sich bei einem ersten, noch flüchtigen Hinsehen einzustellen pflegt. Der Interpret ist dazu in der Lage aufgrund eines »Vorverständnisses«11, mit dem er an den Text herantritt. Dieses Vorverständnis bezieht sich auf die Sache, von der der Text handelt, und auf die Sprache, in der er von ihr spricht. Ohne jegliches Vorverständnis in der einen wie in der anderen Hinsicht würde sich eine »Sinnerwartung« nur schwer oder gar nicht bilden. Der Interpret bedarf seiner, [208] um in den Verstehensprozeß hineinzukommen. Es kann sich im Laufe dieses Prozesses als unzulänglich erweisen und ist von ihm dann entsprechend zu berichtigen. Je länger und je eingehender sich jemand mit einer Sache beschäftigt, je tiefer er in sie eingedrungen ist, umso reicher ist sein Vorverständnis, umso eher wird sich bei ihm eine adäquate Sinnerwartung bilden und umso schneller der Verstehensprozeß ablaufen. Wer von Mathematik keine Ahnung hat, wird einem mathematischen Lehrbuch zunächst einigermaßen ratlos gegenüberstehen. Auch wer noch nie mit rechtlichen Fragen zu tun gehabt hat, wird sich mit dem Verständnis eines Gesetzestextes oder einer Urmit einem Kreis, sondern mit einer Spirale. Ebenso spricht Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 179, von einem »spiralenförmigen Fortschreiten der Bedeutungsanalyse«. Vgl. auch A. Kaufmann, in: Festschr. f. Gallas, 1973, S. 20. Achterberg (Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, S. 181) spricht zutreffend von der »hermeneutischen Dialektik«. Er betont, daß sie zumal dem Richter »immer wieder erneut aufgegeben« sei. 10 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1942, 2. Aufl. 1960, S. 15. 11 Dazu Gizbert-Studnicki, Der Vorverständnisbegriff in der juristischen Hermeneutik, ARSP 73 (1987), S. 476.

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teilsbegründung schwer tun. Der Jurist, der ein Gesetz oder auch einen Vertrag interpretiert, tritt an seine Aufgabe mit seinem gesamten Wissen um rechtliche Probleme, Problemzusammenhänge, Denkformen und dadurch bedingte Lösungsmöglichkeiten des geltenden Rechts und nicht zuletzt um die Sprache heran, deren sich der Gesetzgeber, aber auch – im Falle eines Vertrages – rechtskundige Bürger zu bedienen pflegen. Sein »Vorverständnis« ist das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses12, in den sowohl die während seiner Ausbildung oder später erworbenen Kenntnisse, wie mannigfache berufliche und außerberufliche Erfahrungen, nicht zuletzt solche über soziale Tatsachen und Zusammenhänge, eingegangen sind. Die Bedeutung dieses Vorverständnisses als Vorbedingung adäquaten Verstehens kann nicht wohl [wohl nicht] überschätzt werden. Es kann allerdings mißverstanden werden, wenn führende Hermeneutiker, wie Gadamer, das Vorverständnis und die durch es ermöglichte konkrete Sinnerwartung (bezüglich eines bestimmten Textes) wohl im Anschluß an die Terminologie Heideggers auch als Vor-Urteil bezeichnen. Denn damit drängt sich nach unserem Sprachgebrauch fast unabweisbar die Vorstellung auf, es handle sich dabei um ein »falsches« Urteil, das dem rechten Verständnis hindernd im Wege steht. So aber ist es gerade nicht gemeint. »Vorurteil«, sagt Gadamer, »heißt also durchaus nicht: falsches Urteil, sondern in seinem Begriff liegt, daß es positiv und negativ gewertet werden kann«13. Dem Vorurteil schreibt Gadamer eine maßgebliche Bedeutung als hermeneutische Bedingung jedes Verstehens zu14. Gadamer versteht das Verstehen eines Textes nach Analogie der Verständigung im Gespräch. Der Text bringt eine Sache zur Sprache15 ; er spricht nur zu dem, der seine Sprache und die Sache, von der er spricht, schon so weit versteht, daß ihm der Zugang zu dem, was der Text sagt, offen steht. Die gemeinsame Basis, die den Text mit dem Interpreten verbindet und diesem den Zugang zu dem gestattet, was der Text sagt, ist für Gadamer die Sprache und darüber hinaus der Überlieferungszusammenhang, in dem beide stehen. Die große Bedeutung, die Gadamer dem Überlieferungszusammenhang und der darin eingeschlossenen »Wirkungsgeschichte« eines historischen Vorgangs, einer historischen [209] Leistung für den Verstehensprozeß zuerkennt, wird daraus erklärlich, daß es ihm vor allem um das Verständnis überlieferter Texte, sprachlicher und anderer Zeugnisse der Vergangenheit geht. Auf die Jurisprudenz übertragen, ist der »Überlieferungszusammenhang« vornehmlich derjenige, in dem die heute geltenden Normen und anerkannten juristischen Denk12 13 14 15

Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 10. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 275. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 270ff. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 391.

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formen mit der voraufgegangenen Arbeit vieler Juristengenerationen stehen, durch die sie ihre heutige Gestalt erlangt haben oder von der sich die gegenwärtige Jurisprudenz losgemacht hat16. In der Tat bildet dieser Überlieferungszusammenhang, in dem nicht nur Gesetze, sondern vor allem auch Gerichtsentscheidungen und dogmatische Erkenntnisse (oder Irrtümer) stehen, den Hintergrund jeder juristischen Interpretation – ob sie nun »historisch«, oder systematisch und teleologisch verfährt. Vor allem für das Verständnis der Gerichtsentscheidungen ist er unentbehrlich. Das Vorverständnis, dessen der Jurist bedarf, bezieht sich nicht nur auf die »Sache Recht«, die Sprache, in der von ihr die Rede ist und den Überlieferungszusammenhang, in dem die Rechtstexte, die Gerichtsentscheidungen, die gebräuchlichen Argumente immer stehen, sondern ebenso auf die sozialen Zusammenhänge, auf die Interessenlagen, die Strukturen der Lebensverhältnisse, auf die sich die Rechtsnormen beziehen17. Sie enthalten ja nicht nur eine Regelung, die rechtliche Geltung beansprucht, sondern sie regeln bestimmte soziale Beziehungen, Abläufe und Verhaltensweisen, an denen der Umstand, daß sie vom Recht geregelt sind, wiederum nur einen der Aspekte darstellt, unter denen sie sich darbieten. Der Jurist, der von den anderen Aspekten nichts in den Blick bekommt, wird auch ihre rechtliche Regelung nicht verstehen. Ein Mietvertrag über eine Wohnung z. B. hat für den Mieter in erster Linie den Aspekt, daß er ihm dazu dient, sein Wohnbedürfnis zu befriedigen. Für den Vermieter steht der Aspekt im Vordergrund, daß er den Wohnraum, den er selbst nicht unmittelbar nutzen kann oder will, vielleicht (auf seine Kosten) zum Zwecke solcher Verwertung erstellt hat, auf diese Weise mittelbar nutzt. Zu diesen mehr »privaten« Aspekten der unmittelbar Beteiligten, ihrer »Interessenlage«, kommen allgemeine, sozialpolitische und gesamtwirtschaftliche Aspekte: bei dem Wohnbedürfnis breiter Bevölkerungsschichten handelt es sich um eines jener Elementarbedürfnisse, an deren bestmöglicher Befriedigung ein öffentliches Interesse besteht; dieses verlangt nach Regelungen, die einmal den Mietern Schutz gegen Übervorteilung und kurzfristige Kündigung gewähren, anderseits dem Interesse der Vermieter, ihr Kapital in Wohnungen zu investieren und dabei auf ihre Kosten zu kommen, Rechnung tragen. Das heutige Wohnmietrecht ist nur dem verständlich, der es als den Versuch versteht, diesen verschiedenen Aspekten in einer »ausgewogenen«, den Verhältnissen auf dem Wohnungsmarkt Rechnung tragenden Regelung so weit als möglich gerecht zu werden. Um zu diesem Verständnis zu gelangen, bedarf es auch eines gewissen »Vorverständ16 Auch ein solcher negativer Bezug kann für das Verständnis von großer Bedeutung sein. So wirkt in der heutigen Lehre vom »Anspruch« die (durch sie überwundene) Lehre von der actio, im »finalen« Handlungsbegriff der »kausale« (als Gegenposition) nach. 17 Den »Normbereich« im Sinne von Friedrich Müller.

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nisses« hinsichtlich dieser [210] Aspekte und der ihnen zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse. Nicht immer sind die für eine Regelung relevanten tatsächlichen Verhältnisse so leicht erkennbar wie in diesem Beispiel. Dem Juristen mangelt es häufig an dem nötigen Vorverständnis hinsichtlich solcher Materien, mit denen er vielleicht nur in seltenen Fällen zu tun hat. Von ihm wird aber verlangt, daß er sich gegebenenfalls die nötigen Vorkenntnisse verschafft. Daß hier auch gewisse Mängel in der Ausbildung vorliegen, ist zweifellos. Nach Esser ermöglicht dem Richter sein »Vorverständnis« nicht nur eine bestimmte Sinnerwartung hinsichtlich des Verständnisses der Norm, sondern der Richter bildet sich aufgrund seines durch lange berufliche Erfahrung angereicherten Vorverständnisses, mittels eines »Durchgriffs auf Evidenzmöglichkeiten in der vordogmatischen Bewertung« eine »Richtigkeitsüberzeugung«, auch hinsichtlich der von ihr zu treffenden Entscheidung, noch bevor er mit der »schulgerechten« Gesetzesinterpretation oder mit »dogmatischen« Erwägungen beginnt18. Diese dienen ihm lediglich zu einer nachträglichen »Stimmigkeitskontrolle«19, die den Nachweis der Verträglichkeit der bereits gefundenen Entscheidung mit dem positiven Rechtssystem bezweckt. Da Esser der Meinung ist, daß die Methoden der Gesetzesinterpretation beliebig gegeneinander austauschbar seien (oder doch: von den Gerichten für beliebig austauschbar gehalten würden), so liegt es nahe, daß der Richter dann jeweils diejenige Auslegungsmethode wählt, die es ihm erlaubt, die von ihm für richtig erachtete Entscheidung als gesetzeskonform hinzustellen. Das Vorverständnis des Richters setzt nach dieser Auffassung also nicht nur den Verstehensprozeß in Gang, an dessen Ende die erst zu findende Entscheidung steht, sondern steuert, über die »Methodenwahl«, den Prozeß auf das in der »Richtigkeitsüberzeugung« des Richters vorweggenommene Ergebnis hin. Es mag sein, daß manche Richter in der von Esser beschriebenen Weise verfahren. Aber für legitim können wir ein derartiges Verfahren nicht ansehen. Es steckt darin, was Esser nicht bemerkt zu haben scheint, ein gutes Stück richterlicher Überheblichkeit – der Richter, der so verfährt, hält sich aufgrund seines »Vorverständnisses« für klüger als das Gesetz und die an es anknüpfenden Ergebnisse der jurisprudentiellen Interpretation. Mit der »Bindung an Gesetz und Recht«, wie sie unsere Rechtsverfassung dem Richter auferlegt, ist es, wenn man sie ernstnimmt, nicht vereinbar20. Denn diese verlangt, daß der Richter 18 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972; vgl. dazu besonders das Kap. VI. 19 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 19. 20 Dazu Rupp, Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: NJW 1973, S. 1769, meine Abhandlung über »Die Bindung des Richter als hermeneutisches Problem« in der Festschr. f. Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 291, und Picker, Richterrecht oder Rechtsdogmatik – Alternativen der Rechtsgewinnung?, in: JZ 1988, S. 3ff.

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seine Entscheidung primär an den Maßstäben der Rechtsordnung orientiert, und zwar auch und gerade dann, wenn er wertet21. Zu diesem Zwecke muß er sich um den hier jeweils maßgeblichen [211] Sinn dieser Maßstäbe immer wieder in einem Verstehensprozeß bemühen, der von ihm die Bereitwilligkeit verlangt, seine Vor-Meinung von dem sich ihm erschließenden Sinn her in Frage stellen und berichtigen zu lassen. Daran fehlt es nur zu leicht, wenn er seine VorMeinung, noch bevor er in diesen Prozeß eintritt, sich bereits zu einer »Richtigkeitsüberzeugung« verfestigen läßt. Freilich setzt dies voraus, daß die Methodenwahl nicht schlechthin in sein Belieben gestellt ist, und daß ihm die Rechtsordnung, wenn er sie in der richtigen Weise befragt, wenigstens für die Masse der Fälle eine – im Sinne eines Mindestmaßes an Entscheidungsgerechtigkeit – »vertretbare« Antwort gibt. Der Ausdruck »Vorverständnis« wird heute manchmal noch in einem anderen Sinne als dem der Hermeneutik gebraucht22. Man meint dann nicht ein noch vorläufiges Verständnis der Sache, das nicht mehr als eine erste Orientierung ermöglicht, den Verstehensprozeß in Gang setzt und weiter treibt, als vielmehr die Befangenheit des Urteilenden in Vorurteilen, die seiner sozialen Umwelt, seiner Herkunft und Erziehung entstammen und sein Urteil vermeintlich determinieren23. So sicher es ist, daß niemand frei von derartigen Vorurteilen ist, so verkehrt wäre es, in ihnen eine absolute, unübersteigbare Schranke zu sehen. Ihre Überwindung ist aber gar nicht anders möglich als in einem lebenslangen Prozeß der Selbstprüfung und der immer erneuten Bemühung um »die Sache selbst«. Die Bereitschaft dazu ist die erste Forderung, die an den Richter wie an den Wissenschaftler gestellt werden muß. Das Vorurteil in diesem negativen Sinne, als eine in der Bemühung um die Sache abzuarbeitende Schranke der Erkenntnis, darf aber nicht mit dem »Vorverständnis« im Sinne der Hermeneutik, als einer (positiven) Bedingung der Möglichkeit des Verstehens der Sache, um die es geht, verwechselt werden.

21 Vgl. dazu die Ausführung von P. Badura über »Grenzen und Möglichkeiten des Richterrechts« in der Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. X, 1973. Die Bindung des Richters an das Gesetz bedeute, sagt Badura, »die verfassungsrechtlich vorgesehene Funktion des Gesetzes mit den Mitteln der juristischen Argumentation und Begründung bei der Findung einer gerechten Entscheidung zur Geltung zu bringen«. 22 Esser versteht den Begriff eindeutig im Sinne der Hermeneutik. Dazu vgl. den Bericht von Kötz in AcP 172 (1972), S. 172, 175. 23 Trefflich hierzu Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, S. 350ff.

10. Die Konstitution des Rechtsfalles (Joachim Hruschka)

I.

Die Konstitution des Rechtsfalles als Auswahl- und Deutungsproblem

Der rechtsanwendende Jurist, der sich vor die Aufgabe gestellt sieht, »einen praktischen Fall« einer rechtlichen Beurteilung zu unterziehen, hat ein Dreifaches zu untersuchen: Er muß 1. den Fall als solchen, d. h. die zu beurteilenden Tatsachen feststellen, er muß 2. die in Betracht kommenden Rechtssätze sammeln, und er hat 3. die festgestellten Tatsachen und die ausgesonderten Rechtssätze zueinander in Beziehung zu setzen. Die dritte Aufgabe ist das eigentliche Geschäft der Rechtsanwendung, doch setzt sie die vorbereitende Tatsachenfeststellung und Rechtssatzermittlung voraus. Diese beiden Tätigkeiten sind aber wiederum so aufeinander bezogen, daß die eine nicht ohne die andere gedacht werden kann. Die Tatsachen können nur im Hinblick auf die Rechtssätze ermittelt werden, die Rechtssätze indessen sind nur im Hinblick auf die Tatsachen auffindbar. Diese Sachlage ist schon lange bekannt. Sie hat ihre geläufigste Formulierung bei Engisch gefunden1, der das dabei notwendig einzuschlagende Verfahren gleichzeitig gegen den Vorwurf verteidigt, es handele sich um einen fehlerhaften logischen Zirkel: »Für den Obersatz« – d. i. das durch die Auslegung der Rechtssätze ermittelte, auf den Fall bezogene allgemeine Sollensurteil – »ist wesentlich, was auf den konkreten Fall Bezug hat, am konkreten Fall ist wesentlich, was auf den Obersatz Bezug hat.« Diese gegenseitige Bedingtheit stellt nach Engisch indessen keinen circulus vitiosus dar, sondern es handelt sich um »eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt.« »In diesem Hin- und Herwandern des Blickes werden der zunächst nur gleichsam in einem Rohzustande gegebene Sachverhalt und diejenigen Rechts-

1 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 14f.

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Joachim Hruschka

sätze, deren Tatbestände bei einer noch flüchtigen Hinsicht als möglicherweise anwendbar erscheinen, einander so weit angenähert, bis die rechtliche Beurteilung gelingt2.« Lenkt man den Blick von dieser »wechselseitigen Durchdringung zwischen den Akten der Tatsachenfeststellung und denen der rechtlichen [10] Qualifizierung«3 besonders auf die Seite der Tatsachenfeststellung, so ist es nach den angeführten Stellungnahmen offenbar unbestritten, daß bei der endgültigen Formung des Sachverhalts durch den Urteiler die anzuwendenden Rechtssätze zumindest im Hintergrund eine gewisse Rolle spielen. Wie ist diese Rolle indessen zu verstehen? Engisch postuliert trotz seiner Anerkennung der wechselseitigen Bedingtheit von Tatsachenfeststellung und Feststellung der anzuwendenden Rechtssätze eine weitgehende Unabhängigkeit der Sachverhaltsermittlung. Für ihn ist die Tatsachenfeststellung »nur geschichtliche Untersuchung der Vorgänge« gerade »ohne Beziehung zu deren Einreihung in bestimmte Typen«4. Was darunter genauer verstanden werden soll, zeigt Engisch bei der Erörterung der Problematik, die in der Auswahl der schließlich in den Sachverhalt aufzunehmenden Tatsachen liegt: Uns »interessieren« zwar »nur diejenigen Tatsachen, die im Hinblick auf die anzuwendenden rechtlichen Bestimmungen relevant sind, wie uns umgekehrt nur diejenigen rechtlichen Obersätze interessieren, zu deren Heranziehung der konkrete Sachverhalt Anlaß zu bieten scheint. Aber logisch gesehen bezieht sich ja dieses Wechselspiel nur auf den hypothetisch angenommenen Sachverhalt als Beweisthema und geht somit der Feststellung der Tatsachen selbst voraus5.« Und er zitiert zustimmend die These von Mezger : »Die Behauptung der sog. Rechtserheblichkeit einer Tatsache bedeutet immer nur eine Frage an die Tatsachenwelt; mit der Tatsachenfeststellung als solcher hat diese Behauptung rein gar nichts zu tun6.« Die Rechtsbezogenheit einer Tatsache hat nach dieser Meinung also zwar zur Folge, daß sich der Urteiler überhaupt damit näher befaßt und daß diese Tatsache schließlich in die Darstellung des Falles aufgenommen wird. Ist aber durch das Hinsehen auf die anzuwendenden Rechtssätze eine Tatsache erst einmal in den Blick gekommen, dann bestimmt sich das weitere Verfahren der Tatsachenermittlung ganz ohne Beziehung auf diese Rechtssätze. Die Begründung dafür geht eben dahin, daß die Tatsachenfeststellung als Tätigkeit des Urteilers eine »geschichtliche Untersuchung der Vorgänge« sei, wobei die geschichtliche Untersuchung gerade der »rechtlichen Würdigung«7 ausschließend 2 3 4 5 6 7

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 203. Scheuerle, Rechtsanwendung, 1952, S. 23. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 89. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 85. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 85 Anm. 4. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 89.

Die Konstitution des Rechtsfalles

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gegenübergestellt wird. Was dabei unter »geschichtlicher Untersuchung« zu verstehen ist, erhellt eine Bemerkung von Engisch an anderer Stelle8, wonach »rein logisch genommen« »die Tatsachenfeststellung im gerichtlichen Verfahren nahe verwandt der historischen Tat-[11]sachenfeststellung« sei. »Wie der Historiker auf Grund der ihm zu Gebote stehenden Quellen geschichtliche Tatsachen ermittelt, so werden im gerichtlichen Prozeß auf Grund der Erklärungen des Angeklagten selbst … und mit Hilfe der sog. Beweismittel … rechtserhebliche Tatsachen erschlossen.« Genügt indessen die bloße Bezugnahme auf die Arbeitsweise des Historikers, um das aufgeworfene Problem hinreichend zu klären? Offenbar nicht. Denn die Prinzipien der geschichtlichen Methode werden nicht gleichzeitig untersucht. Das aber ist Voraussetzung für ein Urteil über die These, nach welcher übereinstimmend mit der geschichtlichen Tatsachenfeststellung die forensische Ermittlung der Fakten der rechtlichen Würdigung der festgestellten Fakten gegenüberstehen soll. Es könnte sogar sein, daß Engisch mit dieser Bezugnahme über seine eigenen Interpretationen hinausweist. Nun geht es um die Rechtsbezüglichkeit der Sachverhaltsbildung vor aller Rechtsanwendung. Daher ist zunächst noch zu fragen, was der Urteiler in der Sachverhaltsbildung eigentlich bewirkt. Reicht es überhaupt aus, diesen Vorgang im wesentlichen als einen Ausleseprozeß zu verstehen? Larenz, der die Formel vom Hin- und Herwandern des Blickes aufgreift9, beschreibt die Tatsachenermittlung als ein »Urteils-, Deutungs- und Ausleseverfahren«, »das entweder von dem Urteiler selbst, oder schon von demjenigen, der ihm die Tatsachen oder einen Teil derselben mitteilt (z. B. einem Tatzeugen) oder sie behauptet und unter Beweis stellt, vorgenommen wird«10. »Noch vor aller rechtlichen Beurteilung« ist der »Sachverhalt« demnach das Ergebnis eines komplizierten Denkprozesses. In diesem Prozeß findet nicht nur eine Auslese der Einzelfakten statt, so daß »nur das, was nach der Meinung des Urteilers oder des Erzählenden zu dem Kern des Geschehens irgendeinen Bezug aufweist und was einer rechtlichen Beurteilung unterliegt«11, in die Darstellung des Falles aufgenommen wird, sondern darüber hinaus ordnet der Sachverhalt die Fakten bereits in »gewisse Ordnungszusammenhänge und Deutungsschemen«12 ein. Dadurch wird das »tatsächliche Geschehen«, auf das dieser Prozeß abzielt, für das weitere Verfahren – die eigentliche Rechtsanwendung – erst greifbar und handlich gemacht. Denn nicht dieses Geschehen »in seiner Unmittelbarkeit«, »das reine factum«, ist Gegenstand der »spezifisch rechtlichen Beurteilung«, sondern ein »durch das Bewußtsein schon vorge8 9 10 11 12

Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1. Aufl. 1956, S. 50f. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 203. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 201. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 201. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 202.

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formtes«, »auf Wahrnehmungen gegründetes«, »kategorial geordnetes« und gedeutetes »Vorstellungsbild«, der »bereits in bestimmten Allgemeinvorstellungen und Ordnungsbegriffen gefaßte [12] Sachverhalt«13. In diesen Denkprozeß gehört die Erkenntnisbewegung. die als »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« beschrieben wird, so weit hinein, als sie zur Bildung des Sachverhalts beiträgt. Erkenntnis, Auswahl und Deutung der Fakten sind die Leistungen der Tatsachenfeststellung, an deren Ende der fertige Sachverhalt steht. Um terminologischen Schwierigkeiten zu begegnen, ist es erforderlich, hier genaue Unterscheidungen zu treffen. In einer leichten Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch, die aber als durch die Sache selbst gerechtfertigt erscheint, wird als »Sachverhalt« nur das oben angesprochene Vorstellungsbild verstanden, das bereits eine Ordnung und Deutung der Tatsachen enthält. Ist der Sachverhalt sprachlich formuliert, dann ist er eine Beschreibung von Fakten und nicht diese Fakten selbst. Er ist das, was der Richter in sein Urteil, der Staatsanwalt in seine Anklageschrift aufnimmt, das Produkt der Erkenntnisse des Urteilers. Von ihm muß der »Lebensverhalt« als der reine, ungegliederte und unausgegrenzte Vorgang oder Zustand in der Tatsachenwelt unterschieden werden. Der Lebensverhalt ist das Faktum, so wie es »an sich« ist oder war. Er ist somit als die bloße Möglichkeit eines Sachverhalts zu verstehen; aus seinem Begriff ist sorgfältig alles das herauszuhalten, was irgendwie schon ein ordnendes oder deutendes Element darstellt. Die Ordnung und Deutung finden erst mit Beginn und im Verlaufe der Sachverhaltsbildung statt. In dieser wird mit der Entstehung des Sachverhalts der »Rechtsfall« festgestellt. Der Rechtsfall ist das ontische Korrelat des Sachverhalts; er ist das in der Beschreibung Beschriebene, das in der Vorstellung Intendierte, das durch den Sachverhalt aus dem Lebensverhalt Herausgehobene. Der Rechtsfall ist mithin der Lebensverhalt, soweit er gegliedert und geordnet wird, der Lebensverhalt, wie ihn der Urteiler sieht. An Hand dieser Unterscheidungen läßt sich zunächst das angeschnittene Problem präzisieren. Der Gegenstand, der in der Sachverhaltsbildung bearbeitet wird, liegt nicht so ohne weiteres fest. Offenbar hängt die Bestimmung des Rechtsfalles mit der Erkenntnis, Auswahl und Deutung der Fakten zusammen. Dann aber muß sich bei einer Untersuchung dieser Denkleistungen auch die Frage nach der Konstitution des Rechtsfalles beantworten lassen. Wie wird überhaupt der Fall als Rechtsfall konstituiert? Was ist das Bestimmende an diesem Prozeß, von welchen Prinzipien wird er geleitet, und wie geht er im einzelnen vor sich? Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden. Es handelt sich dabei um (Teil-)Fragen nach der erkenntnistheoretischen, logischen und methodologischen Grundlegung juristischer Arbeitsweise, wobei es 13 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 200f.

Die Konstitution des Rechtsfalles

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nicht um das Denken des Urteilers als solches geht – das wäre eine psychologische Fragestellung, sondern [13] um das Denken des Urteilers in seiner Beziehung auf den Gegenstand dieses Denkens, den Rechtsfall14. Die Frage, wie und wodurch der Gegenstand seiner Untersuchungen konstituiert wird, stellt sich in der aufgezeigten Weise nicht dem rechtsanwendenden Juristen allein. Wer die Methodologie der Geschichte betrachtet, steht ähnlichen Problemen gegenüber. Wie die angeführten Stellen zeigen, hat Engisch auf die nahe Verwandtschaft der forensischen und der historischen Tatsachenfeststellung hingewiesen15, ein Hinweis, der gelegentlich auch in der neueren geschichtsmethodologischen Literatur auftaucht16 ; und schon Leibniz hat sich zur Begründung seiner methodischen Forderungen an die Geschichtsschreibung auf diesen Zusammenhang von Historiographie und gerichtlicher Tatsachenfeststellung berufen17. In der Tat gehen beide – Jurist und Historiker – immer von irgendwelchen Materialien, d. h. von gegebenen Fakten aus, die sie in der Gegenwart vor sich haben und welche sie der Erforschung vergangener Vorgänge und Zustände zugrunde legen. Dabei richten sich beide insofern auf ähnliche Ziele, als es ihnen jeweils um individuelle Vorgänge zu tun ist. Diese Ähnlichkeit der Ausgangspunkte, der Verfahrensweisen und der Ziele empfiehlt es, bei einer Untersuchung der angeschnittenen Fragen die Methode der Geschichte stets im Blick zu behalten. Das hat den Vorteil, daß von der gerichtlichen Tatsachenfeststellung in Analogie zu oder in Abgrenzung von der historischen Tatsachenfeststellung ein genaueres Bild gewonnen werden kann. Zugleich wird damit auch sichergestellt, daß die Fragestellung metajuristisch bleibt, d. h. die Bedingungen rechtlicher Probleme untersucht, und nicht auf juristische Fragen selbst abgleitet. Vor allem bleiben ausgeschlossen spezifisch prozeßrechtliche Fragen nach dem Beweisrecht im Prozeß und nach dem Revisionsrecht, das auf der Unterscheidung von »Tatfrage« und »Rechtsfrage« beruht. Solche Rechtsfragen sind nicht Gegenstand methodologischer Untersuchungen über die Ermittlung von Sachverhalten.

14 Vgl. dazu Collingwood, The Idea of History, 1946, zit. nach der Übersetzung von Gertrud Herding: Philosophie der Geschichte, 1955, S. 8f. 15 Zuletzt Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 6. 16 Collingwood, The Idea of History, 1946/1955, S. 280. 17 Vgl. Conze, Leibniz als Historiker, 1951, S. 36 u. S. 53 und Holz, Leibniz, 1958, S. 107.

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II.

Joachim Hruschka

Die Logik der Tatsachenfeststellung

[…] [20]

III.

Die Frage als Voraussetzung der Sachverhaltsbildung

Die unausgesprochenen Voraussetzungen der beschriebenen Methode, an deren Richtigkeit – soweit die Beschreibung reicht – gar nicht gezweifelt werden kann, gilt es in einem neuen Ansatz zu untersuchen. Die Darstellung dieser Methode setzte ein bei der Wahrnehmung und kategorialen Verarbeitung des schon bereitgestellten Materials, von dem aus auf den rechtlich relevanten Sachverhalt reduktiv geschlossen werden soll. Wahrnehmung und kategoriale Verarbeitung des Materials werden zusammengefaßt in – ausgesprochenen oder unausgesprochenen – Aussagen des Urteilers, welche die Möglichkeiten für Schlußfolgerungen bieten. Von diesen Aussagen ausgehend können dann Schlüsse gezogen werden auf andere Aussagen, die sich auf relevante Tatsachen beziehen. Bei dieser Beschreibung des reduktiven Verfahrens ist jedoch außer acht gelassen, was der Urteiler als das handelnde Subjekt der Untersuchung und des Beweisverfahrens selbst, von sich aus – bewußt oder unbewußt – zum Fortgang der Tatsachenermittlung beiträgt und beitragen muß, wenn so etwas wie ein Sachverhalt überhaupt zustande kommen soll. Die Erkenntnistheorie belehrt darüber, daß das »Interesse«, welches der Urteiler an der Untersuchung und an dem Ziel der Untersuchung nimmt, erste und wichtigste Voraussetzung aller Untersuchung ist. Dieses Interesse enthält eine Art »Vorentscheidung«, daß dieses oder jenes Faktum »bemerkenswert«, »beachtenswert« ist. Denn notwendige Bedingung aller Erkenntnis ist, daß die zu erkennende Tatsache »in den Lichtkegel der Relevanz« gerät18. Das gilt unabhängig von allen Theorien über Wesen und Fortgang des Erkennens. Damit ist noch nichts über die Art des Interesses gesagt; vor allen Dingen wird nicht die Behauptung aufgestellt, der Urteiler nehme nur das wahr, was auf seinen Fall Bezug hat. Er nimmt selbstverständlich noch viel mehr und anderes wahr. Aber in jedem Falle bedarf es dazu eines Interesses. Alle Tatsachen, die nicht in irgendeiner Weise bedeutsam sind, geraten gar nicht in seinen Gesichtskreis. Das Interesse des Urteilers scheidet die wahrnehmbaren Fakten in wahrge18 Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus (Akademie der Wissenschaften und der Literatur ; Abhandlungen der geistesund sozialwissenschaftlichen Klasse), 1954, S. 41.

Die Konstitution des Rechtsfalles

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nommene und nicht-wahrgenommene. So kann es in der Umgebung des Urteilers eine Fülle von Tatsachen geben, die er noch nie entdeckt hat und die er nie bemerken wird, einfach weil er sich für sie nicht interessiert, [21] weil er nicht mit seiner Aufmerksamkeit bei ihnen ist. Ihnen gegenüber steht der Kreis der apperzipierten Fakten. Nur mit diesen kann der Urteiler arbeiten. Mithin findet hier eine erste Auslese statt; das Interesse des Urteilers entpuppt sich als maßgebend und richtungweisend für die Bereitstellung des Materials, das schließlich untersucht werden kann. Die Auslese ist abhängig vom Interesse des Urteilers, und dieses wiederum ist von Urteiler zu Urteiler verschieden. Das Interesse hängt nicht nur ab von den geschichtlichen Zeitumständen. Diese sind für alle Urteiler derselben Gegenwart in unserem Bereich dieselben, so daß im folgenden von solchen Bedingungen abgesehen werden kann. Das Interesse ist vor allem bedingt durch den Bildungs- und Wissensstand, zum anderen durch den Standort des Urteilers – Standort verstanden nicht nur im unmittelbaren Sinne des räumlichen Standorts, sondern auch im übertragenen Sinne grundsätzlicher Vorentscheidungen. Ein Arzt etwa kann im Gesicht eines Kranken mehr und anderes entdecken als ein Nichtfachmann, der über Einzelheiten hinwegsieht; ein geschulter Polizeibeamter wird im Trubel des Straßenverkehrs auch dann, wenn er nicht besonders aufmerksam ist, vieles wahrnehmen, was anderen entgeht. Mit dem Interesse hängt auch die stets erforderliche erste Deutung des Materials zusammen. Der Urteiler muß den gerade in den Blick gekommenen Aspekt des wahrgenommenen Faktums einordnen können, und das heißt praktisch: er muß ihn benennen können. Die Notwendigkeit, Wahrnehmungen mitteilen zu müssen, mit ihnen arbeiten zu müssen, zwingt zu sprachlicher Formulierung. Der Gebrauch der Sprache aber bringt eine Stellungnahme zum gedeuteten Phänomen mit sich. Der Urteiler geht mit seinen Vorstellungsbildern, mit seinen Erfahrungen an die Fakten heran, um sie zu bezeichnen und dadurch für eine weitere Verarbeitung und Benutzung erst verwendbar zu machen. Auch hier spielen Ausbildung und Standort eine große Rolle. Den Lichtschein, den der eine nicht weiter deuten kann, wird der andere als einen »Blitz« erkennen; das »undefinierbare Geräusch« kann sich als das »Summen eines Staubsaugers« herausstellen usw. Die aufgezeigten Bedingungen gelten für jede deutende Wahrnehmung, für alles Erkennen schlechthin. Die juristische Tatsachenfeststellung ist jedoch nicht nur Wahrnehmung und kategoriale Verarbeitung der Wahrgenommenen – auch nicht in den ersten Stadien ihrer Arbeit. Sie ist vielmehr Wahrnehmung für bestimmte Zwecke, ist Untersuchung. Das soll heißen, daß der Urteiler stets »systematisch« an die Arbeit herangehen wird, daß er nicht darauf wartet, was das Material, das ihm zur Verfügung steht, bereitwillig aussagt; er wird vielmehr versuchen, das aus dem Material herauszuholen, woran er ein spezifisches Interesse hat. Das »Mittel«, das er dazu anwendet, ist die präzise Frage. Von dieser

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muß daher ausgegangen werden. Die Fragestellung ist die entscheidende Voraussetzung aller Untersuchung. Mit ihr wandelt sich das Interesse des Urteilers in eine [22] aktive Haltung gegenüber seinem Untersuchungsobjekt. Jede Sachverhaltsbildung beginnt daher mit einer Fragestellung, und ohne eine Frage wird keine Tatsache festgestellt werden können, die als zugehörig zu dem zu beurteilenden Fall erkannt und deshalb in die Darstellung des Falles aufgenommen wird. Die Frage ist somit Voraussetzung allen schlußfolgernden Denkens, das in sinnvoller Weise Schlüsse ziehen will. Darüber hinaus wird durch die Frage das Interesse in eine bestimmte Richtung gelenkt und vertieft. Die Frage ist die formulierte Spezifizierung des Interesses: Der Urteiler muß wissen, was er wissen will. Denn die Untersuchung ist gerade nicht auf ein zufälliges Finden abgestellt, sondern man sucht etwas. Man muß wissen, was man suchen will, erst dann findet man etwas19. Nicolaus Cusanus formuliert: »Quicunque quaerit, quid quaerit. Si enim nec aliquid seu quid quaereret, utique non quaereret20.« Der Urteiler befindet sich hier in derselben Situation wie der Historiker. Droysen hat – als erster, wie es scheint – den Gedanken entwickelt, daß allen geschichtlichen Forschungen eine leitende Frage vorangeht, die er die »historische Frage« nennt21. Jahrzehnte später, aber wohl unabhängig von Droysen, hat Collingwood22 diesem historischen Fragen ein tieferes erkenntnistheoretisches Fundament zu geben gesucht. In der Idee einer Erweiterung der Logik zu einer »Logik von Frage und Antwort« glaubte er den Schlüssel zum kritischen Verständnis der Geschichtsschreibung gefunden zu haben23. Welchen Einfluß hat die Frage nun auf den Verlauf der Untersuchung? Das soll an einem Beispiel aus einem strafgerichtlichen Verfahren erörtert werden. Gerade ein Strafverfahren eignet sich hierfür besonders, weil der Richter selbst alle Schlüsse zu ziehen und selbst alle Beweismittel in der Hauptverhandlung zu prüfen hat, um zu einer Entscheidung zu kommen. Der Fortgang der Tatsachenfeststellung wird sich dabei in einer neuen Perspektive, in der oben angesprochenen zweiten Möglichkeit der Betrachtung zeigen. Wie der Richter seine Fragen aufwirft, das soll dabei so beschrieben werden, wie es sich dem unbe19 Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. Rudolf Hübner, 4. Aufl. 1960, S. 35. 20 Nicolaus Cusanus: De Apice Theoriae, zit. Nach Pöppel, Die Docta Ignorantia des Nicolaus Cusanus als Bildungsprinzip, 1956, S. 45. 21 Droysen, Historik, 4. Aufl. 1960, S. 31ff., S. 332 § 20. 22 Collingwood, An Autobiography, 1939, zit. nach der Übersetzung von Hans-Joachim Finkeldei: Denken. Eine Autobiographie, 1955, S. 30ff., The Idea of History, 1946/1955, S. 281ff.; vgl. dazu Finkeldei, Grund und Wesen des Fragens, 1954, S. 68ff. 23 Dazu besonders Gadamer, Wahrheit und Methode, 1. Aufl. 1960, S. 344ff. und S. 351ff.; zur Theorie der Frage ferner : Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hrsg. v. Ludwig Landgrebe, 2. Aufl. 1954, S. 371ff. und S. 375ff., Rombach, Über Ursprung und Wesen der Frage, in: Symposion. Jahrbuch für Philosophie, Bd. III, 1952.

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fangenen Beobachter zunächst darstellt. Die Beschreibung trägt daher in gewisser Hinsicht den Stempel bloßer Vorläufigkeit. Denn es muß in der Folge erst noch nachgeprüft werden, ob die Unbefangenheit des Beobachters nicht von unbegründeten Vorurteilen durchsetzt ist. Jedenfalls soll mit dieser Deskription nicht dem endgültigen Ergebnis der Untersuchung vorgegriffen werden. [23] Im Beispielsfalle wird dem Angeklagten A ein Einbruchsdiebstahl vorgeworfen. Der Richter muß sich die Frage stellen, ob A für Handlungen verantwortlich ist, die als »Wegnahme fremder beweglicher Sachen in der Absicht rechtswidriger Zueignung« und zwar als »Wegnahme aus einem Gebäude mittels Einbruchs oder Einsteigens« beurteilt werden können. Der Richter steht mithin vor der Aufgabe, einen Sachverhalt zu bilden, der eine Entscheidung darüber zuläßt, ob A einen Einbruchs-(Einsteige-)Diebstahl begangen hat oder nicht. Er hat also gerade bei der Hauptverhandlung ein spezifisches Interesse an bestimmten Begebenheiten der Vergangenheit, in welchen A eine bestimmte Rolle spielt. Im Hinblick auf diese Begebenheiten stellt sich der Richter die Frage: »Kann der Angeklagte der Wegnahme fremder beweglicher Sachen in rechtswidriger Zueignungsabsicht usw. beschuldigt werden oder nicht?« Diese Ausgangsfrage ist juristisch und nicht kriminalistisch. Der Polizeibeamte stellt, an den Tatort gerufen, fest, daß in einem bestimmten Hause das Fenster eingeschlagen ist, er sieht Fußspuren am Boden und läßt sich vom Eigentümer des Hauses erzählen, daß eine Brieftasche mit Geldscheinen fehlt. Er glaubt es mit einem Einbruchsdiebstahl zu tun zu haben und fragt nunmehr : »Wer war der Täter?« Diese Frage ist kriminalistisch. Der urteilende Richter dagegen hat einen Angeklagten vor sich, den der Staatsanwalt als den Täter beschuldigt, und er muß sich nicht nur fragen, ob dieser Angeklagte mit dem Einbruch in Verbindung zu bringen ist, sondern auch, ob es sich überhaupt um einen Diebstahl handelt. Das aber ist eine Frage, und nur die Not der sprachlichen Formulierung läßt das Problem als zwei Fragen erscheinen. Der Urteiler hat es mit diesem besonderen Angeklagten zu tun. Dessen Tat muß er beurteilen. Selbst wenn ein anderer äußerlich dieselben Handlungen begangen hat, kann seine Tat doch ganz anders charakterisiert werden. Deshalb bilden beide Fragen eine Einheit, und die Frage nach dem handelnden Subjekt kann nicht ohne weiteres von der Gesamtfrage gelöst werden. Die kriminalistische Frage nach dem Täter setzt die Beantwortung der juristischen Frage schon voraus, wenn auch diese Antwort der Natur der Sache gemäß nur vorläufig sein kann. Denn die Frage nach dem »Täter« stellt sich erst, wenn die Möglichkeit einer »Tat« ins Blickfeld gerückt ist. Die juristische Frage ist also grundlegender als die kriminalistische. Darüber hinaus fällt auf, daß die Beantwortung der Ausgangsfrage bereits eine Beantwortung der »Tatfrage« und der »Rechtsfrage« wäre; die Antwort würde nicht nur die Bildung des Sachverhalts, sondern auch dessen rechtliche Beur-

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teilung darstellen. Gleichwohl ist diese Frage die leitende auch für die Tatsachenfeststellung. Die Frage, ob der Angeklagte einen Diebstahl begangen hat oder nicht, macht den ganzen Sinn der weiteren richterlichen Untersuchung aus. Nur von ihr her ist daher der Fortgang des Verfahrens zu verstehen. Die Tatbestände der §§ 242, 243 [24] StGB sind gewissermaßen die Brille, durch die der Richter im weiteren Verlauf der Verhandlung alles betrachtet. Was durch diese Brille nicht gesehen werden kann, ist für den Urteiler irrelevant. Nur scheinbar droht hier die Vermengung von Tatfrage und Rechtsfrage. Denn die Scheidung von Tatsachenfeststellung und rechtlicher Beurteilung im Sinne der Differenz von Tatfrage und Rechtsfrage ist – im Gegensatz zur Formulierung Tat»frage« und Rechts»frage« [–] ein Problem, das, wenn es von seiner logischen Seite her angegangen wird, die Logik der Aussagen, nicht die Logik des Fragens betrifft. Liegen Sachverhalte fertig vor, d. h. sind festgestellte Tatsachen in Aussagen formuliert, dann kann eine Unterscheidung von Tatsachenbeschreibung und rechtlicher Beurteilung der beschriebenen Tatsachen gemacht werden: Dann ist Rechtsfrage, ob die Geschwindigkeit eines Wagens von 60 km/h bereits »übermäßige Geschwindigkeit im Sinne des Gesetzes« ist oder nicht, Tatfrage dagegen, ob der betreffende Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h – oder darüber oder darunter – gefahren ist24. Aber der fragende Richter hat zunächst noch gar keine formulierte Aussage. Denn er darf sich für seinen Beweis ja nur auf Aussagen stützen, die er in der Hauptverhandlung ermittelt hat. Er muß also eine solche Aussage über die Geschwindigkeit erst schaffen. Die Logik der Frage liegt vor aller Aussagenlogik – Aussagenlogik immer verstanden als Gegensatz zur »Logik von Frage und Antwort«, nicht etwa in der engen Bedeutung eines logistischen Aussagenkalküls25. Das zeigt, daß die leitende Frage in erster Linie eine Entscheidungsfrage26 ist, die – verkürzt – lautet: »Hat der Angeklagte am … in … einen Diebstahl begangen oder nicht? Hat er gestohlen oder nicht?« Sie ist also keine Bestimmungsfrage, die etwa dahin ginge: »Was hat A getan?« »Was hat er sich dabei gedacht?« usw. Der erste Anschein geht zwar dahin, die leitende Frage der Sachverhaltsbildung als eine Bestimmungsfrage anzusehen. Denn der Richter hat doch »unvoreingenommen« die Tatsachen festzustellen! Doch kann der untersuchende Richter nicht einfach so hinfragen, was A getan habe. Selbst wenn er seine Frage in dieser Weise sprachlich formuliert, meint er damit doch stets das angezielte Delikt. Schon wenn er fragt, was A an diesem oder jenem Tage in diesem oder jenem Hause getan habe, ist immer vorausgesetzt, daß das Tun des 24 Beispiel von Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 97. 25 Vgl. Collingwood, An Autobiography, 1939, S. 36 und dort Anm. 1. 26 »Entscheidungsfrage« meint hier nicht etwa eine Frage, die zu »existenzieller Entscheidung« aufruft, wie bei Rombach, Über Ursprung und Wesen der Frage, in: Symposion. Jahrbuch für Philosophie, Bd. III, 1952, S. 143 und S. 195ff.

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A zu diesem Zeitpunkt und an diesem Orte irgendwie erheblich ist für die Beantwortung der leitenden Frage. Denn sonst würde der Richter die Frage nicht stellen. [25] Nun bleibt der Richter bei der ersten Frage nicht stehen. Er wird sich die Frage präziser stellen. Er formuliert als Frage das eigentliche Beweisthema: »Hat der Angeklagte A am 30. 1. 1963 um 22.00 Uhr im Hause Z-Straße 12 in München im vollen Bewußtsein dessen, was er tat, ein Fenster eingeschlagen, hat er dann von außen das Fenster geöffnet, ist er durch das Fenster in ein Zimmer des Hauses eingestiegen und hat er dort vom Schreibtisch eine Brieftasche geholt, die dem X gehörte und deren Inhalt er für sich verbrauchen wollte? Oder hat er das nicht getan?« Diese Frage ist genauer, »der Sache angemessener« als die leitende Frage. Aber jeder Jurist sieht sofort, daß hier alle Tatbestandsmerkmale des Einbruchsdiebstahls verarbeitet sind, daß in der neuen Formulierung die alte Frage zwar genauer ausgeführt, aber nicht abgelöst ist. Die leitende Frage und das Beweisthema sind mithin eine identische Frage – die Grundfrage – in verschiedenen sprachlichen Formen. Sie sind dieselbe Frage, weil sie sich auf denselben Fall richten. Eine Art Sachverhalt ist mit dieser voll entwickelten Grundfrage vorgegeben, und die Tatsachen werden daran geprüft. Das Interesse des untersuchenden Richters konzentriert sich jetzt auf diese Prüfung. Alle Fakten, die im Hinblick auf diese Frage bedeutsam sind, müssen nunmehr herangezogen werden. Bis zu diesem Moment hat der Richter lediglich die Grundfrage ausgearbeitet, die es durch das erfassende und schlußfolgernde Denken zu beantworten gilt. Aber bei dieser Frage kann er nicht stehenbleiben. Zur Beantwortung seiner Grundfrage stehen dem Richter bestimmte Beweismittel zur Verfügung. Diese Beweismittel – d. h. die für den Richter wahrnehmbaren schriftlichen oder mündlichen Aussagen des Angeklagten oder der Zeugen, die für den Richter wahrnehmbaren Augenscheinsobjekte usw. – bilden das Rohmaterial, aus dem der Richter Aussagen gewinnen kann, welche ihrerseits die Ausgangsbasis für die aussagenlogischen Denkoperationen darstellen, die zur Bildung des Sachverhalts führen. […] [46]

IV.

Der Einfluß der Rechtssätze auf die Grundfrage

[…] [55] […] Diese Überlegungen werfen ein Licht auf die Erkenntnisbewegung, die Engisch als das »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt« beschrieben hat, wobei wesentlich für den Sachverhalt ist,

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was auf den Obersatz Bezug hat, wesentlich für den Obersatz, was sich auf den Sachverhalt bezieht. Der Fall wird als Rechtsfall dadurch konstituiert, daß mit dem Anstoß durch das praktische Interesse eine rechtlich bestimmte Regelungsweise im oben beschriebenen Sinne in den Blick kommt, aus welcher heraus nach bestimmten Fakten als für diesen Sachverhalt wesentlichen Momenten gefragt werden kann. Die für den Sachverhalt bedeutsamen Fakten können und müssen also zunächst erfragt werden, ohne daß ein Obersatz ausdrücklich erkannt ist. Dieser Obersatz kann als das rechtliche Moment dann von dem Sachverhalt abgelesen werden. Er wird regelmäßig – soweit [es um] eine gesetzliche allgemeine Regelung geht – in der Form der Tatbestände solcher genereller Regelungen dargestellt werden, weil die Tatbestände eben Ausdruck des Rechtssinnes von Sachverhalten sind. Diese Tatbestände ihrerseits sind in den Blick gekommen, als mit dem Fragen nach Lebensverhalten – ein Fragen, das stets die rechtliche Relevanz des Erfragten als Sinnmoment zum Inhalt hat – dieses Sinnmoment zum ersten Male greifbar wurde. Da die Tatbestände und die sonstigen Rechtsfolgevoraussetzungen aus solchen Sinnmomenten erwachsen sind, bedarf es dazu nur der Fähigkeit des Urteilers, die einschlägigen Bestimmungen im System des Gesetzes auch aufzufinden. Bis zu einem gewissen Grade können bloße Rechtskenntnisse zur Auffindung dieser Bestimmungen beitragen. Sind die Tatbestände mitsamt den auf sie aufbauenden Rechtsfolgen erfaßt, dann wirkt das auf die Grundfrage zu-[56]rück; denn wesentlich ist jetzt nur noch, was bedeutsam für Regelungen ist, die sich im Rahmen der gesetzlichen Rechtsfolgen halten. Es können ferner aber weitere Fakten wesentlich werden, wenn sich – wie oben dargestellt – aus der Rechtsidee selbst keine eindeutige Regelung ergibt. Dabei handelt es sich immer um die Ausarbeitung der Grundfrage; der Sachverhalt als festgefügte fertige Antwort spielt hier überhaupt keine Rolle. Das schon deshalb nicht, weil durch das Hin- und Herwandern des Blickes der Sachverhalt – ebenso wie der Obersatz – in seinem Inhalt und in seinen Grenzen erst festgelegt werden soll. Aus diesem Grunde kann auch nicht die Rede davon sein, daß die Bewegung zwischen dem werdenden Sachverhalt und dem werdenden Obersatz eine fehlerhafte Zirkelbewegung darstelle. Denn von einem logischen Zirkel kann nur gesprochen werden, wenn von einer Aussage auf eine andere Aussage geschlossen wird, die indessen selbst wiederum eine logische Voraussetzung der ersten Aussage bildet. Ein circulus vitiosus ist ein aussagenlogischer Denkfehler. Mit der weiteren Logik von Frage und Antwort hat er nichts zu tun. Der Streit, der sich in der Gegenwart an Heideggers Analysen zur Zirkelhaftigkeit des Verstehens entzündet hat27, wird damit nicht berührt. Da es 27 Heidegger, Sein und Zeit, 9. Aufl. 1960, S. 142ff., S. 148ff.; Löwith, Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, 2. Aufl. 1960, S. 72ff.; Kuhn, Begegnung mit dem Sein. Meditationen zur

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sich ja hier um die Ausarbeitung einer Frage handelt, bleibt das Gefragte immer noch fraglich, womit auch eine an der erfragten Sache selbst orientierte neue Fragestellung möglich bleibt. Daß das Hin- und Herwandern des Blickes vornehmlich eine Fragebewegung darstellt, das sieht auch Viehweg, wenn er die Sachverhaltsbildung als Betätigungsfeld der Topik in Anspruch nimmt28. Denn die Topik betrifft in erster Linie ein Fragen und nicht ein Antworten; Viehweg spricht von der Topik als einer »Techne des Problemdenkens«29. Ob allerdings die Sachverhaltsbildung wirklich auch eine topische Struktur hat, das muß hier offenbleiben. Jedenfalls erscheint es angesichts der Fülle stets neuer rechtlich relevanter Besonderungen an den einzelnen Fällen als zweifelhaft, ob ein ausreichender »Topoikatalog von Gesichtspunkten« für die Bildung von Sachverhalten im vorhinein entworfen werden kann. Die rechtliche Perspektive eines Urteilers wird sich vielmehr erst nachträglich in einem Katalog einfangen lassen.

Metaphysik des Gewissens, 1954, S. 162ff.; Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1960, S. 250ff.; Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962, S. 38ff. 28 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 2. Aufl. 1963, S. 60f. 29 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 2. Aufl. 1963, S. 15.

11. Die Bildung und rechtliche Beurteilung des Sachverhalts (Karl Larenz)

I.

Der Sachverhalt als Geschehnis und als Aussage

Rechtssätze sollen auf tatsächliche Vorgänge, auf einen geschehenen Sachverhalt »angewandt« werden. Wie wir bereits gesehen haben, ist das nur möglich, indem der geschehene Sachverhalt ausgesagt wird. Was im Tatbestand eines Urteils als »Sachverhalt« erscheint, ist der Sachverhalt als Aussage. Das Geschehene muß zu diesem Zweck benannt, und das Benannte in eine gewisse Ordnung gebracht werden. Aus der unübersehbaren Fülle, dem ständigen Fluß des tatsächlich Geschehenen nimmt der Sachverhalt als Aussage stets eine Auswahl vor ; bereits diese Auswahl trifft der Beurteiler im Hinblick auf die mögliche rechtliche Bedeutsamkeit der einzelnen Fakten. Der Sachverhalt als Aussage ist also dem Beurteiler nicht von vorneherein »gegeben«, sondern er muß von ihm in Hinblick auf die ihm bekannt gewordenen Fakten einerseits, deren mögliche rechtliche Bedeutung anderseits erst gebildet werden. Die Tätigkeit des Juristen setzt gewöhnlich nicht erst bei der rechtlichen Beurteilung des ihm fertig vorliegenden, sondern schon bei der Bildung des seiner rechtlichen Beurteilung unterliegenden Sachverhaltes, des Sachverhaltes »als Aussage«, ein. Bei der Bildung des Untersatzes des Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung unterscheidet Engisch1 drei Elemente, nämlich: 1. Die Vorstellung des konkreten Lebensfalles, des (geschehenen) Sachverhaltes, 2. die Feststellung, daß dieser Sachverhalt sich tatsächlich zugetragen hat, 3. die Würdigung des Sachverhalts als eines solchen, der die Merkmale des Gesetzes, d. h. genauer des ersten Gliedes des Obersatzes (des gesetzlichen Tatbestandes) aufweist. Die »Vorstellung«, die sich der Beurteiler von dem geschehenen Sachverhalt macht, muß von ihm, um sie mit den Merkmalen des gesetzlichen Tatbestandes 1 Engisch Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1942, 2. Aufl. 1960, S. 19.

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vergleichen zu können, artikuliert, der geschehene Sachverhalt von ihm in einer Sprache, die der des Gesetzes konform ist, ausgesagt werden. Die Würdigung des Sachverhalts als eines solchen, der den Merkmalen des gesetzlichen Tatbestandes entspricht (oder nicht entspricht), folgt nicht der Bildung des Sachverhalts (als Aussage) zeitlich erst nach, sondern begleitet sie, da die Sachverhaltsbildung, wie gesagt, bereits mit Rücksicht auf die mögliche Bedeutung der einzelnen Fakten [279] erfolgt. Es bleibt die davon zu sondernde Feststellung, daß »dieser Sachverhalt sich tatsächlich zugetragen hat«, daß der Sachverhalt als Aussage den geschehenen Sachverhalt, die tatsächlichen Vorgänge, zutreffend wiedergibt. Hierauf werden wir am Schluß des Kapitels zurückkommen. Der Jurist, der einen Rechtsfall beurteilen soll, geht zumeist von einem »RohSachverhalt« aus, der ihm in Form einer Erzählung vorgelegt wird. In dieser Erzählung werden zunächst viele Einzelbegebenheiten und Umstände vorkommen, die für die rechtliche Beurteilung am Ende bedeutungslos sind und daher von dem Beurteiler im Verlauf seiner Überlegungen aus dem endgültigen Sachverhalt (als Aussage) wieder ausgeschieden werden. Die Frau, die von dem Hund des Nachbarn in die Hand gebissen wurde, als sie ihm einen Knochen hinhielt, wird vielleicht erzählen, daß der Hund ihr leid getan habe, weil er so mager gewesen sei, daß sie nicht auf die Reaktion des Hundes gefaßt gewesen sei, weil der Hund sie doch gekannt, sie ihm schon öfters etwas gegeben habe, und ähnliches mehr. Sie wird aber vielleicht nicht erzählen, daß der Nachbar sie gewarnt hatte, dem Hund etwas zu geben, weil er noch jung und etwas ungebärdig sei. Dieser Umstand kann rechtlich von Bedeutung sein, weil sich daraus ein Mitverschulden der Frau im Sinne des § 254 BGB ergeben kann. Ein anderer Umstand, dessen mögliche rechtliche Bedeutung sich aus § 833 BGB ergibt, ist der, ob der Nachbar den Hund aus Liebhaberei oder zu Berufs- oder Erwerbszwecken hält. Der Jurist, der den Fall rechtlich beurteilen soll, wird also nach solchen Umständen, auf die es für die Beurteilung nach den in Betracht kommenden Rechtsnormen ankommen kann, fragen, wenn sie ihm nicht sogleich mitgeteilt werden. Er wird auf solche Weise die ursprüngliche Erzählung, den »Roh-Sachverhalt«, so weit teils verkürzen, teils vervollständigen, daß der endgültige Sachverhalt nur noch diejenigen, aber auch alle diejenigen Elemente des tatsächlichen Geschehens enthält, die im Hinblick auf die möglicherweise anwendbaren Rechtsnormen von Bedeutung sind. Der (endgültige) Sachverhalt ist somit das Ergebnis einer gedanklichen Verarbeitung, in der die rechtliche Beurteilung bereits vorweggenommen ist. In ihm werden einzelne Tatsachen oder Geschehnisse durch Ausdrücke – wie Hund, Biß, Verletzung der Hand – gekennzeichnet, die sich den Begriffen des Gesetzes – Tier, Verletzung des Körpers – leicht subsumieren lassen; die als Warnung gemeinten Worte des Nachbarn werden in dieser ihrer Bedeutung angegeben. Schließlich enthält der Sachverhalt sogar schon eine, wenn auch nur vage angedeutete rechtliche Beziehung in den

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Worten: »Der Hund des Nachbarn«. Denn mit diesen Worten wird gesagt, daß der Hund zum Haushalt, zum Herrschaftsbereich des Nachbarn gehört; damit wird bereits nahegelegt, auch wenn dies noch näher zu prüfen bleibt, daß der Nachbar als »Tierhalter« im Sinne des § 833 BGB anzusehen sei. Das Wort »Tierhalter« kommt dagegen in der Sachverhaltsschilderung noch nicht vor, da die Beantwortung der Frage, wer hier »Tierhalter« war, erst das Ergebnis der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts sein kann, der, um dieses Urteil zu ermöglichen, falls das erforderlich ist, um weitere Fakten ergänzt werden muß. Von ähnlicher Struktur sind alle rechtlich beurteilten Sachverhalte; sie stellen keine reine Aufzählung von Fakten dar, sondern sind das Ergebnis einer gewissen Auslese, Deutung und Verknüpfung der Fakten im Hinblick auf das, was daran rechtlich bedeutsam sein kann. [280] Das angeführte Beispiel kann uns noch etwas mehr darüber lehren, nach welchen Gesichtspunkten die Auswahl der in dem Sachverhalt als Aussage aufzunehmenden Fakten erfolgt. Der geschehene Sachverhalt hat gewissermaßen einen »Kern«, der den Anlaß dazu gibt, eine rechtliche Frage daran zu knüpfen2. Den Kern bilden hier der Hundebiß und die dadurch der Frau zugefügten Schmerzen und sonstigen Nachteile; wie etwa Aufwendungen für den Arzt, Verdienstausfall. Die Rechtsfrage, die aufzuwerfen der Fall Anlaß gibt, ist die, ob die Frau für diese Nachteile von dem Hundebesitzer oder einem anderen Schadensersatz verlangen könne. Der Jurist wird diese Frage aufwerfen, weil er den § 833 BGB kennt. Die verletzte Frau, die den Juristen um Rat fragt, braucht indessen solche speziellen Kenntnisse nicht zu haben3. Sie hat einmal ein Interesse an einer Schadloshaltung. Zum anderen weiß sie vielleicht von anderen Fällen, in denen der von einem Hund Verletzte Schadensersatz von dem Hundehalter erlangt hat. Schließlich sagt ihr ihr »Rechtsgefühl«, daß es hier einen Ausgleich geben müsse. Ist somit einmal die Rechtsfrage gestellt, dann bedarf es zu ihrer Beantwortung nun allerdings der Kenntnis derjenigen Rechtssätze, die darauf eine Antwort geben können. Es sind das solche Rechtssätze, die an bestimmte Tatbestände als Rechtsfolge eine Pflicht zum Schadensersatz knüpfen. Die Tatbestände dieser Rechtssätze enthalten eine Reihe in allgemeiner Weise gekennzeichneter Umstände, von deren Vorliegen oder Nicht-Vorliegen im Einzelfall die Entscheidung abhängt. Soweit es auf solche Umstände ankommt und der Beurteiler ihr Vorliegen oder Nicht-Vorliegen in dem zu beurteilenden Fall in Erfahrung bringen kann, wird er sie in seine Schilderung des Sachverhalts, den Sachverhalt als Aussage, aufnehmen. Aber bewegen wir uns damit nicht wieder in einem Zirkel? Um den Sachverhalt, wie er geschehen ist, rechtlich beurteilen zu können, muß ihn der Be2 Zur Bedeutung der Frage für die Sachverhaltsbildung vgl. Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 1965, S. 20ff. 3 Vgl. Hruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles, 1965, S. 48.

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urteiler zuvor auf die Form einer Aussage bringen, in die er alles das (und nur das) aufnimmt, was für die rechtliche Beurteilung von Bedeutung sein kann. Was für die rechtliche Beurteilung bedeutsam ist, ergibt sich aus den auf den Sachverhalt möglicherweise anwendbaren Rechtssätzen. Der Beurteiler geht also von dem ihm geschilderten Sachverhalt aus, prüft, welche Rechtssätze möglicherweise auf ihn anwendbar sind, vervollständigt danach den Sachverhalt im Hinblick auf die Tatbestände dieser Rechtssätze, die er ihrerseits wieder, soweit sie keine glatte Subsumtion ermöglichen, im Hinblick auf solche Umstände, wie sie hier vorliegen, konkretisiert. Der Sachverhalt als Aussage erhält seine endgültige Fassung erst im Hinblick auf die Rechtssätze, nach denen er beurteilt wird; diese aber werden ihrerseits ausgewählt und, soweit erforderlich, konkretisiert im Hinblick auf den zu beurteilenden Sachverhalt. Um einen fehlerhaften logischen Zirkel würde es sich hierbei nur dann handeln, wenn der Beurteiler in den Sachverhalt als Aussage etwas hineinlegen würde, was in dem geschehenen Sachverhalt keine Bestätigung findet, oder wenn er den Rechtssatz so [281] »zurechtbiegen« würde, daß er die von dem Beurteiler gewünschte Folgerung erlaubt. Das eine wie das andere wäre unzulässig. Engisch4 spricht von einem »Hin- und Herwandern des Blickes zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt«, Scheuerle5 von einer »wechselseitigen Durchdringung zwischen den Akten der Tatsachenfeststellung und denen der rechtlichen Qualifizierung«. Es handelt sich wiederum um den uns bekannten Vorgang der wechselseitigen Erhellung, eine Erscheinungsform des »hermeneutischen Zirkels«6. Das »Hin- und Herwandern des Blickes« zwischen Sachverhalt und Rechtssatz darf man sich nicht so vorstellen, als ob nur der Betrachter seine Blickrichtung änderte, vielmehr handelt es sich um einen gedanklichen Prozeß, in dessen Verlauf der »Roh-Sachverhalt« zum endgültigen Sachverhalt (als Aussage), der Normtext (gleichsam der Rohzustand der Norm) zu der für die Beurteilung dieses Sachverhalts hinreichend konkretisierten Norm umgeformt wird. Dieser Prozeß ist durch die Stellung der Rechtsfrage so angelegt, daß er mit ihrer endgültigen Beantwortung – im bejahenden oder verneinenden Sinne – sein Ende findet. Für die methodologische Analyse ist es dennoch notwendig, die einzelnen Phasen dieses in sich zusammenhängenden Prozesses gesondert zu betrachten. Daraus darf nicht geschlossen werden, daß sie im Vorgang der Normanwendung, der ebenso ein Vorgang der Normkonkretisierung ist, immer getrennt werden könnten. Wir befassen uns in diesem Kapitel nur mit der Bildung des (endgültigen) Sachverhalts und seiner rechtlichen Würdigung. In den Sachverhalt als Aussage dürfen, so sagten wir, nur solche Tatsachen und Vorgänge aufgenom4 Engisch, Logische Studien, 2. Aufl. 1960, S. 15. Vgl. oben, S. 207 [im Original]. 5 Scheuerle, Rechtsanwendung, 1952, S. 23. 6 Vgl. oben Kap. 1, 3 b [im Original].

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men werden, die in dem tatsächlich Geschehenen ihre Grundlage finden. Wir stellen die Frage, wie der Beurteiler feststellt, was tatsächlich geschehen ist, vorläufig zurück und wenden uns zunächst der Frage nach der Auswahl der für die rechtliche Würdigung und damit auch für die Bildung des endgültigen Sachverhalts maßgebenden Rechtssätze zu.

II.

Die Auswahl der der Sachverhaltsbildung zugrunde gelegten Rechtssätze

Die Auswahl der für die rechtliche Beurteilung und damit für die Bildung des endgültigen Sachverhalts maßgeblichen Rechtssätze geschieht zuerst in der Weise, daß der Beurteiler, ausgehend von dem »Roh-Sachverhalt«, die auf ihn möglicherweise anwendbaren Rechtssätze gleichsam durchprobiert, diejenigen ausscheidet, die sich bei näherem Zusehen als unanwendbar erweisen, andere hinzunimmt, die danach in Betracht kommen. So wird er, wenn er z. B. erkannt hat, daß ein Erfüllungsanspruch hier nicht gegeben ist, prüfen, ob vielleicht ein Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens oder ein Bereicherungsanspruch gegeben ist. Um den Sachverhalt unter diesem Gesichtspunkt erschöpfend würdigen zu können, wird er [282] vielleicht weiterer, bisher unbeachtet gelassener Tatsachen bedürfen und den endgültigen Sachverhalt um diese ergänzen. Bierling7 spricht von einem »mehr oder weniger methodischen fortgesetzten Experimentieren«, mit dem sich die Praxis, bewußt oder unbewußt, behelfe. Indessen wäre ein wahlloses Probieren und Experimentieren bei der großen Fülle von Rechtssätzen, aus denen die Rechtsordnung besteht, ein kaum aussichtsreiches Unterfangen. Der Beurteiler würde zudem jeder Gewähr dafür entbehren, alle in Betracht kommenden Rechtssätze gefunden zu haben. Hier nun liegt die große praktische Bedeutung des aus abstrakten Allgemeinbegriffen, nach mehr oder weniger formalen Einteilungsgesichtspunkten, gebildeten »äußeren« Systems. Ihm kommt, wie im letzten Kapitel dargelegt werden soll, zwar kein oder nur ein geringer Erkenntniswert, wohl aber ein bedeutender Wert als Orientierungshilfe zu. Ohne ein solches System würde derjenige, der zu einem ihm gegebenen Sachverhalt die für ihn passenden Rechtsnormen sucht, hilflos umhertappen. Das System allein ermöglicht es, bei der Aufsuchung der in Betracht zu ziehenden Rechtssätze bis zu einem gewissen Grade methodisch vorzugehen. Zunächst einmal vermag der Beurteiler, der sich in dem System zurechtfindet, den Fall gleichsam einzukreisen, indem er das Gebiet erkennt, dem die anzuwendenden Normen zu entnehmen sind. Denken

7 Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 4, 1911 (Nachdr. v. 1961), S. 47.

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wir an den Fall des Hundebisses. Der Jurist, der gewöhnt ist, mit dem System des geltenden Rechts zu arbeiten, erkennt zunächst, daß es sich bei der Frage, ob der Frau ein Schadensersatzanspruch gegen den Hundebesitzer zusteht, nur um eine Frage des Privatrechts handeln kann. Weiter weiß er, daß unser Privatrecht Schadensersatzansprüche aus verschiedenen Gründen kennt, unter denen hier, da es an einer vertraglichen Beziehung zwischen der Frau und dem Hundebesitzer fehlt, nur unerlaubte Handlung und Gefährdungshaftung, also die §§ 823ff., insbesondere aber § 833 BGB in Betracht kommen. Auf § 833 wird er geführt, weil die Verletzung der Frau durch den Hund, also »ein Tier«, zugefügt wurde. Ihm ist weiter bekannt, daß das BGB über Schadensersatzansprüche allgemeine Vorschriften in den § 249 ff enthält. Sobald er diese Vorschriften ins Auge faßt, wird er auch auf den § 254 BGB und damit auf die Frage eines möglichen Mitverschuldens der Frau geführt. Er wird sodann fragen, für welche Schäden die Frau Ersatz verlangen kann. Hierüber geben ihm die §§ 249ff. BGB und, da es sich um einen Anspruch handelt, der auf § 833 BGB gestützt wird, der § 847 BGB Auskunft. Liegt der Vorgang schon einige Zeit zurück, so wird er weiter auch an die Verjährungsvorschriften, und hier insbesondere an § 852 BGB denken. Dagegen weiß er von vornherein, daß Vorschriften über Schuldverträge, solche des Sachenrechts und des Familien- und Erbrechts hier nicht zur Anwendung kommen können. Er sucht also nicht planlos im gesamten BGB und allen sonstigen privatrechtlichen Gesetzen herum, sondern beschränkt sich von vorneherein auf diejenigen Regelungsbereiche, die hier überhaupt in Betracht kommen können. Der Vorgang der Auswahl der anzuwendenden Rechtssätze ist selbstverständlich nicht immer so einfach wie in dem Beispielsfall. Fälle, die lebensmäßig einfach zu [283] liegen scheinen, können unter ganz verschiedenen rechtlichen Aspekten zu sehen sein, etwa einem schuldrechtlichen und einem sachenrechtlichen oder familienrechtlichen. Die Frage, ob hier öffentliches Recht oder Privatrecht anzuwenden sei, kann zweifelhaft sein. Auch in einem solchen Fall kommen aber nicht alle Normen aus beiden Rechtsgebieten in Betracht, sondern immer nur einige. Der Beurteiler, der sich im Zweifel ist, ob hier öffentliches Recht oder Privatrecht anzuwenden ist, wird zunächst nach den Kriterien fragen, die für die Abgrenzung dieser Regelungskomplexe maßgebend sind. Er wird danach alle diejenigen Umstände des geschehenen Sachverhalts in Erfahrung zu bringen suchen, die im Hinblick auf diese Kriterien von Bedeutung sein können. Diese Umstände wird er in den von ihm zu bildenden Sachverhalt als Aussage aufnehmen, weil sie für seine weiteren Überlegungen und damit auch für die Endentscheidung relevant sind. Bietet dagegen der Sachverhalt, wie in unserem Fall des Hundebisses, keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß er nach dem Privatrecht zu beurteilen ist, dann werden weitere Fragen und Erwägungen in dieser Richtung unterbleiben. Erneut zeigt es sich, daß die endgültige Bildung des

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Sachverhalts als Aussage von der Auswahl der auf ihn möglicherweise anzuwendenden Rechtsnormen, diese aber wiederum einerseits von den dem Beurteiler bis dahin bekannt gewordenen Umständen, anderseits von seiner Kenntnis weiterer und engerer Normenkomplexe abhängt, in deren Regelungsbereich der Sachverhalt fällt oder, bei erstem Hinsehen, fallen kann. […] [304]

III.

Der geschehene Sachverhalt

[…] Die Aufgabe des Richters ist es, geschehene, nicht nur erdachte Sachverhalte rechtlich zu beurteilen. Die Bildung des Sachverhalts und seine rechtliche Beurteilung orientieren sich daher auf der einen Seite an den Tatbeständen der möglicherweise hier anwendbaren Rechtssätze und den in ihnen enthaltenen Beurteilungsmaßstäben, auf der anderen Seite an den tatsächlichen Geschehnissen, soweit der Richter diese festzustellen vermag. Der Sachverhalt als Aussage soll den geschehenen Sachverhalt im Medium der Sprache und der ihr zur Verfügung stehenden Ausdrucksformen so, wie er sich aufgrund des Prozesses dem Gericht darstellt, widerspiegeln; er sagt ihn als einen solchen aus, der sich so und nicht anders zugetragen habe. Welche Mittel stehen dem Gericht zur Verfügung, um einen Sachverhalt als einen solchen zu erkennen, der sich tatsächlich so zugetragen hat? [305]

1.

Zur Feststellung der Tatsachen im Prozeß

Der Richter, der sich vor die Frage gestellt sieht, ob ein ihm vorgetragener Sachverhalt sich tatsächlich so zugetragen hat, hat die Tatsachen in der Regel nicht selbst wahrgenommen, sondern ist auf die Wahrnehmungen anderer angewiesen. Allerdings ist es möglich, daß er nachträglich bestimmte zum Sachverhalt gehörige Objekte, z. B. ein Tatwerkzeug, die Urkunde, um deren Auslegung die Parteien streiten, den Ort des Unfalls, Reste einer zerstörten Sache selbst in Augenschein nimmt. Aber vergangene Geschehnisse – und um solche handelt es sich in der Regel – sind jetzt nicht mehr wahrnehmbar. Es ist nur möglich, daß diejenigen, die sie damals wahrgenommen haben, sie aus der Erinnerung sich wieder vergegenwärtigen und dem Gericht bezeugen. Jedoch weiß jeder praktische Jurist, wie unsicher Zeugenaussagen meist sind: Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erinnerungsfehler, Ungenauigkeit des Ausdrucks, oft

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auch mehr oder minder unbewußte Parteinahme des Zeugen – von bewußt falscher Aussage ganz abgesehen – beeinträchtigen ihren Wert. Der Richter kann daher, um ein zutreffendes Bild des Geschehenen zu gewinnen, nicht ohne weiteres der Aussage eines Zeugen oder gar eines am Rechtsstreit selbst Beteiligten folgen, sondern muß diese Aussagen auf ihre Glaubwürdigkeit beurteilen. Dies ist um so [sic!] schwieriger für ihn, als er den Zeugen meist nicht kennt, der äußere Eindruck oft täuscht, eine vielleicht bestehende Voreingenommenheit nicht sogleich in die Erscheinung tritt, der Zeuge sich vielleicht ungeschickt ausdrückt, eingeschüchtert ist usw. Die Schwierigkeit zu erkennen, wie es wirklich gewesen ist, wird noch größer, wenn kein Zeuge einen bestimmten Vorgang aus eigener Wahrnehmung mitteilen kann. Das Mittel, mit dessen Hilfe der Richter dann doch versuchen wird, ein zutreffendes Bild von den Vorgängen zu gewinnen, ist die Schlußfolgerung aus sogenannten Indizien. Vorgänge des Seelenlebens, wie eine bestimmte Absicht, Motive, guter oder böser Glaube, können, da sie fremder Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich sind, überhaupt nur aus Indizien erschlossen werden. Unter »Indizien« versteht man solche Tatsachen oder Vorgänge, die selbst nicht Teil des zu beurteilenden Sachverhaltes sind, aber auf einen dazu gehörenden Vorgang einen Schluß gestatten8. Als »Obersatz« fungiert bei einem solchen Schluß in der Regel ein sogenannter »Erfahrungssatz«, ein Naturgesetz oder eine Wahrscheinlichkeitsregel9, als Untersatz die indizierende Tatsache, die ihrerseits entweder im Prozeß zugestanden oder durch Augenschein oder durch glaubwürdiges Zeugnis gesichert ist. Nur wenn der Obersatz ein Naturgesetz oder eine Folgerung aus den Naturgesetzen ist, ist der Schluß auf die zu beweisende Tatsache zwingend. Steht fest, daß A sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgehalten hat, [306] dann kann er sich nicht zur gleichen Zeit an einem anderen Ort befunden haben, da der Obersatz, daß niemand sich zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten befinden kann, als absolut gesichert gelten kann. Meist ist der Obersatz aber nur eine Wahrscheinlichkeitsregel, die oft noch nicht einmal hinreichend gesichert ist. Dann kann der Schlußsatz auch nur besagen, daß die zu beweisende Tatsache (in einem mehr oder minder hohen Maße) wahrscheinlich sei10. Wenn jemand zu nächtlicher Stunde in der Nähe des Geschäfts, in das ein Einbruch verübt wurde, mit einem 8 Als eine solche Tatsache gilt jedoch nicht die Aussage eines Zeugen, Sachverständigen oder Beteiligten, wenngleich der Richter auch aus ihr seine Schlüsse zieht. Anders Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1942, 2. Aufl. 1960, S. 64ff., der auch solche Aussagen zu den »Indizien im weiteren Sinne« zählt. 9 Koch/Rüssmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 285ff., sprechen im 1. Fall von deterministischen, im 2. Fall von statistischen Erfahrungssätzen. 10 Vgl. Koch/Rüssmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 287ff., zur Geltung statistischer Erfahrungssätze dort S. 332ff.

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verdächtigen Paket unter dem Arm gesehen wurde, ohne hierfür eine einleuchtende Erklärung geben zu können, dann begründet das wohl eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß er der Täter war ; sicher ist das keineswegs. Die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, wenn andere Indizien hinzukommen; bei dem Verdächtigen wird z. B. ein Einbruchswerkzeug der Art gefunden, wie es benutzt wurde. In den meisten Fällen begnügt sich der Richter mit einem sehr hohen Grade von Wahrscheinlichkeit, um daraus die Überzeugung zu gewinnen, daß es so und nicht anders gewesen sei. Zwar genügt ein noch so hoher Grad an Wahrscheinlichkeit nicht als »Beweis« im mathematischen oder streng naturwissenschaftlichen Sinne. Aber »beweisen« heißt in der Sprache des Prozeßrechts: »dem Gericht die Überzeugung von der Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung verschaffen«11. Diese Überzeugung kann der Richter auch dann gewinnen, wenn aufgrund der vorliegenden Indizien nur ein sehr hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß eine Tatsachenbehauptung zutrifft. Welches Maß von Wahrscheinlichkeit zur Begründung einer solchen Überzeugung erforderlich und genügend ist – die Juristen sprechen von einer »an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit« – läßt sich nicht exakt, etwa durch eine Prozentzahl – angeben12. Der Richter, der nach heutigem Prozeßrecht die Beweise »frei« zu würdigen hat, muß sich freilich seine Überzeugung gewissenhaft, unter Ausschaltung aller ihm erkennbaren Fehlerquellen, bilden. Auf die Mitwirkung der menschlichen Persönlichkeit, eine vom richterlichen Ethos geprägte sorgfältige Weise der Beurteilung, kann auch hier wieder nicht verzichtet werden. Der Feststellung dessen, wie es wirklich gewesen ist, sind aber nicht nur von den Schranken des menschlichen Erkenntnisvermögens her, sondern, so überraschend das manchem zunächst klingen mag, auch vom Prozeßrecht her Grenzen gesetzt. Das gilt vor allem im Bereich des sogenannten Verhandlungsgrundsatzes im Zivilprozeß. Nach ihm darf das Gericht nur solche Tatsachen berücksichtigen, die von einer Partei (in Form der Behauptung) vorgebracht, damit Gegenstand der Verhand-[307]lung geworden oder bei Gericht »offenkundig« sind. Tatsachenbehauptungen, die von der Gegenpartei bestritten werden, bedürfen des Beweises; Tatsachenbehauptungen, die von der Gegenpartei zugestanden oder nicht bestritten sind, hat der Richter als zutreffend zu unterstellen, auch wenn er von ihrer Richtigkeit nicht überzeugt ist. Der Richter kann so unter 11 Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1985, § 66, I; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl. 1986, § 113, I. 12 Nach Koch/Rüssmann (Juristische Begründungslehre, 1982, S. 308) ist das eine Frage »des Maßes, mit dem man insbesondere Risikozuteilungen vorzunehmen wünscht«. Es handelt sich hier um das Risiko eines Fehlurteils; dieses hat der Richter so klein wie irgend möglich zu halten. Das Risiko, daß die vorgebrachten Tatsachen nicht dazu ausreichen, dem Richter die Überzeugung von der Richtigkeit der zur beweisenden Behauptung zu verschaffen, trägt alle Male der, den die Beweislast trifft.

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Umständen rechtlich dazu genötigt sein, seiner Beurteilung einen Sachverhalt zugrunde zu legen, von dem er persönlich überzeugt ist, daß er sich so nicht zugetragen hat. Dieses zunächst befremdlich erscheinende Ergebnis erklärt sich aus dem Bestreben der Zivilprozeßordnung, es den Parteien zu überlassen, was sie vorbringen und worüber sie eine Erörterung herbeiführen wollen. Der Verhandlungsgrundsatz ist jedoch im heutigen Zivilprozeß vor allem durch das richterliche Fragerecht (§ 139 ZPO) erheblich eingeschränkt. Aber auch da, wo der »Untersuchungsgrundsatz« gilt, vor allem also im Strafprozeß, sind der Wahrheitsfindung durch das Gericht gewisse Grenzen gesetzt. Bestimmte Personen haben ein Zeugnisverweigerungsrecht; die Verwertung heimlich gemachter Tonbandaufnahmen sowie solcher Aussagen des Beschuldigten, die unter Verletzung gesetzlicher Vorschriften erlangt wurden, ist grundsätzlich unzulässig. Solche Schranken der gerichtlichen Wahrheitsfindung dienen dem Schutze anderer als vorrangig erkannter Rechtsgüter, insbesondere unverzichtbarer Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten und schutzwürdiger Interessen Dritter13. Die Wahrheitsfindung ist zwar ein sehr wichtiger Zweck des Prozeßrechts, aber nicht sein einziger Zweck. Wie jeder Rechtszweck kann er in gewissem Umfang hinter andere, noch wichtigere Rechtszwecke zurücktreten müssen.

2.

Die Unterscheidung der »Tat-« und der »Rechtsfrage«

Herkömmlicherweise unterscheidet man die Frage, was tatsächlich geschehen ist, als die »Tatfrage« von der Frage, wie das Geschehene gemäß den Kriterien der Rechtsordnung einzuordnen ist, als der »Rechtsfrage«. Die Beantwortung der Rechtsfrage wird meist mit der sogenannten Subsumtion des angenommenen Sachverhalts unter den Tatbestand eines Rechtssatzes gleichgesetzt. Es handelt sich dabei jedoch, wie wir gesehen haben, nur zu einem geringeren Teil um logische Subsumtion; in weitem Umfang geht es um die Beurteilung nach Erfahrungssätzen, um die Deutung menschlicher Handlungen und Erklärungen, um typologische Zuordnung oder um eine Bewertung im Rahmen eines konkretisierungsbedürftigen Maßstabes. Die Unterscheidung der Tat- und der Rechtsfrage durchzieht das gesamte Prozeßrecht; insbesondere der Verhandlungsgrundsatz setzt diese Unterscheidung voraus. Über die »Tatfrage« urteilt der Richter aufgrund des Vorbringens der Parteien und der Beweisaufnahme, die Rechtsfrage entscheidet er, ohne daß es auf das Vorbringen der Parteien ankäme, aufgrund seiner eigenen Rechts- und Gesetzeskenntnis, die er sich zu verschaffen 13 Vgl. Heinrich Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 269; Karl Michaelis in Festschrift für Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 326f.

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hat (»jura novit curia«). Nur Tatsachen, d. h. tatsächliche Zustände und Geschehnisse sind des Beweises fähig und bedürftig; die [308] rechtliche Beurteilung der Tatsachen ist nicht Gegenstand des von einer Partei zu erbringenden Beweises, sondern allein der richterlichen Erwägung und Entscheidung. Die Unterscheidung spielt ferner eine erhebliche Rolle bei der Frage, wie weit ein Urteil mit dem Rechtsmittel der Revision angegriffen werden kann. Unter »Tatsachen« im Sinne der Unterscheidung zur Rechtsfrage sind auch psychische Vorgänge und Handlungen mit Einschluß ihrer »inneren« Seite zu verstehen14 ; man kann wohl sagen, alles das, was eine bestimmte Stelle in der Zeit hat. Nur auf den ersten Blick scheint die Unterscheidung indessen unproblematisch zu sein. In der Tat ist es in hohem Maße streitig, ob und auf welche Weise sie sich durchführen läßt15. Die Schwierigkeit rührt daher, daß die Frage, ob etwas tatsächlich geschehen ist, sinnvoll nur gestellt werden kann, wenn das »Etwas«, nach dem gefragt wird, in irgendeiner Weise beschrieben werden kann. Beschrieben werden kann es nur in Ausdrücken, die entweder der allgemeinen Sprache oder bereits der Gesetzessprache angehören. Im letzteren Fall fließt, so scheint es wenigstens, schon in die Stellung der »Tatfrage« etwas von rechtlicher Beurteilung ein. Indessen sind viele Ausdrücke der Gesetzessprache und der Umgangssprache gemeinsam, wobei der Ausdruck in der Gesetzessprache nur für wenige »Randfälle« eine präzisere Bedeutung erhalten hat. Hier liegt, von den Randfällen abgesehen, in der Verwendung des betreffenden Ausdrucks bei der Stellung der Tatfrage noch nichts von einer rechtlichen Beurteilung. In unserem früheren Beispiel vom Hundebiß würde die Tatfrage etwa so lauten: Ist es tatsächlich geschehen, daß Frau A an dem und dem Tage von dem Hunde des N in die Hand gebissen und dadurch körperlich verletzt wurde? Erst die weitere Frage, ob dadurch der Tatbestand des § 833 Satz 1 BGB erfüllt wurde, ist eine Rechtsfrage. Dabei ergibt sich, daß der Hund ein »Tier«, Frau A ein »Mensch« ist, im Wege einfacher Subsumtion; problematischer ist die Frage, ob N »Tierhalter« ist. Um diese Frage zu beantworten, muß nach weiteren Tatsachen gefragt werden, die ihrerseits in Ausdrücken beschrieben werden können, die der allgemeinen Umgangssprache angehören; z. B. es wird gefragt, ob N den Hund in seinem Hausstand, auf seine 14 Zum Begriff der Tatsache Mitsopoulos, Studi in Onore di Tito Canacini, 1984, S. 441. 15 Vgl. hierzu: Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Aufl. 1960, S. 82ff.; Henke, Die Tatfrage, 1966; Rechtsfrage oder Tatfrage – eine Frage ohne Antwort, ZZP 81 (1968), 196; Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellung in der Revisionsinstanz, 1964; Mitsopoulos, La distinction du fait et du droit, in: Revue Hell8nique de Droit international, 20. Jg. 1968, S. 3; Scheuerle, Beiträge zum Problem der Trennung von Tat- und Rechtsfrage, AcP 157 (1958/59), 1; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. Aufl. 1960; Nierwetberg, Die Unterscheidung von Tatfrage und Rechtsfrage, JZ 83, 237.

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Kosten und zu seinem Nutzen oder Vergnügen hält. Daß diese Fragen so gestellt werden, geschieht zwar im Hinblick auf die gefragte rechtliche Beurteilung (»war N Tierhalter?«); ihre Stellung nimmt aber die Beantwortung der Rechtsfrage noch nicht vorweg. Wo daher lediglich danach gefragt wird, ob bestimmte Tatsachen vorliegen oder sich ereignet haben, die in Ausdrücken der Umgangssprache, auch soweit diese in die Gesetzessprache eingegangen sind, beschrieben werden, da läßt [309] sich die Trennung der Tat- von der Rechtsfrage sehr wohl durchführen. Zur Rechtsfrage gehören insbesondere die Einordnung des Geschehenen mit Hilfe solcher Ausdrücke, deren spezifischer Bedeutungsgehalt im vorliegenden Zusammenhang sich erst aus der Rechtsordnung ergibt, insbesondere aufgrund einer typologischen Zuordnung, einer »Abwägung« divergierender Gesichtspunkte und einer rechtlichen Bewertung im Rahmen eines konkretisierungsbedürftigen Maßstabes. Tatfrage ist, was die Parteien beim Vertragsschluß gesagt haben und was sich die eine und die andere dabei gedacht hat; Rechtsfrage, in welcher Bedeutung jede Partei ihre Erklärung gelten lassen muß, die Frage der normativen Auslegung der Willenserklärungen. Hat A dadurch einen Unfall verursacht, daß er auf regennasser Straße in einer Kurve ins Schleudern gekommen ist, so ist Tatfrage der Zustand der Straße und die Geschwindigkeit, mit der A in die Kurve gefahren ist; ob seine Fahrweise unter diesen Umständen »fahrlässig« war, ist Rechtsfrage. Über diese Frage kann daher, so wenig wie über die als rechtlich maßgeblich zu erachtende Bedeutung eine[r] Erklärung, im Prozeß [kein?] Beweis erhoben werden. Dagegen kann und muß gegebenenfalls Beweis erhoben werden über alle die tatsächlichen Umstände, von deren Vorliegen die Beantwortung der Rechtsfrage abhängt. In einigen Fällen allerdings liegen die Tat- und die Rechtsfrage so nahe beieinander, daß sich ihre Trennung in der Praxis nicht mehr durchführen läßt. Das ist einmal der Fall, wenn ein Sachverhalt gar nicht anders beschrieben werden kann als in solchen Ausdrücken, die bereits eine rechtliche Wertung enthalten. Ob jemand »ruhestörenden Lärm« verursacht habe, ist, wenn nicht die Lautstärke exakt gemessen wurde, schwerlich anders zu beschreiben als durch die Angabe, daß eben die Ruhe gestört worden sei. Das Urteil, der Lärm sei »ruhestörend« gewesen, enthält zugleich die Beschreibung des Geschehenen so, wie es für die Stellung der Tatfrage nötig ist, wie seine rechtliche Beurteilung im Sinne einer Wertung. Anders, wenn die Lautstärke vorher exakt gemessen und nun die Frage zu entscheiden ist, ob eine derartige Lautstärke als »ruhestörend« zu beurteilen ist. In diesem Fall ist das Geschehene noch vor seiner rechtlichen Beurteilung in physikalischen Begriffen exakt bestimmt; die Frage, wie dieses im Sinne des gesetzlichen Urteilskriteriums (»ruhestörend«) zu beurteilen sei, ist reine Rechtsfrage. Rechtsfragen spielen auch in die Stellung der Tatfrage hinein, wenn es sich darum handelt, ob A, als er dem B eine Summe Geldes schickte, ihm diese habe schenken, ihm ein Darlehen geben oder eine Kaufpreisschuld be-

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zahlen wollen. Die Frage, ob in der Handlungsweise des A die Erklärung eines bestimmten Willens (durch »schlüssiges Verhalten«) liegt, die er, vorbehaltlich der Irrtumsanfechtung, gegen sich gelten lassen muß, ist jedenfalls reine Rechtsfrage. Die Möglichkeit der Unterscheidung der Tat- und der Rechtsfrage scheitert auch nicht etwa daran, daß alle Sachverhaltsbildung letztlich auf die Beantwortung der Frage nach den möglichen Rechtsfolgen angelegt ist. Der gedankliche Vorgriff auf die rechtliche Beurteilung des Geschehenen hindert den Beurteiler in der Regel nicht daran, dieses Geschehene zunächst noch unabhängig davon, wie es rechtlich zu beurteilen ist, mit Hilfe der natürlichen Erfahrung und der auf ihr aufbauenden Umgangssprache in seinem So-Sein zu erfassen und sprachlich wiederzugeben. [310] Freilich wird sich daran sofort die rechtliche Beurteilung anschließen, die ihrerseits die Stellung weiterer Tatfragen erforderlich machen kann. Wenngleich die Stellung der Tatfrage immer wieder von der Rechtsfrage her veranlaßt wird, läßt sie sich doch in den meisten Fällen so formulieren, daß sich die Rechtsfrage von ihr sondern läßt. In der Frage, wann ein Urteil mit dem Rechtsmittel der Revision angegriffen werden kann, stellen unsere Gesetze zwar auch auf die Unterscheidung der Tat- und der Rechtsfrage ab. Die Revision kann nur darauf gegründet werden, daß »eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist« (§ 550 ZPO). Die Rechtsnorm ist nicht richtig angewendet worden, wenn dem Gericht bei der rechtlichen Beurteilung des zuvor festgestellten Sachverhalts, bei der Beantwortung der Rechtsfrage also, ein Irrtum unterlaufen ist. Indessen wird diese Unterscheidung von der Rechtsprechung nicht konsequent durchgeführt. So sieht sie beispielsweise die Beurteilung eines bestimmten Verhaltens als »fahrlässig« als eine durch das Revisionsgericht nachprüfbare Rechtsfrage an, die Beurteilung dagegen, ob es nur »leicht« oder »grob« fahrlässig war, als eine nicht nachprüfbare »Tatfrage«. Das ist inkonsequent. Beide Male handelt es sich um eine Wertungsfrage, also um eine Rechtsfrage. Die Auslegung einzelner Willenserklärungen, auch soweit es sich dabei um die Ermittlung der rechtlich maßgeblichen Bedeutung, also um eine normative Auslegung handelt, sieht sie als nicht revisibel an, es sei denn, daß ein Verstoß gegen allgemeine Grundsätze der Auslegung, gegen Denkgesetze oder allgemein anerkannte Erfahrungssätze vorläge. Das kann gewiß nicht damit begründet werden, es handle sich hierbei noch um die »Tatfrage«16. Wenn die Möglichkeit der Revision in diesen Fällen verneint wird, dann ist dafür offenbar nicht die Abgrenzung zwischen »Tat-« und »Rechtsfrage« maßgeblich, vielmehr sind hier andere Erwägungen im Spiele. Dort, wo die letzte Beantwortung der Rechtsfrage von der Berücksichtigung zahlreicher Einzelheiten des Sachverhalts abhängt, die von Fall zu Fall verschieden liegen, also bei der Auslegung indivi16 Vgl. hierzu Henke, Die Tatfrage, 1966, S. 188ff.

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dueller Verträge und bei der Konkretisierung eines allgemeinen Maßstabes mit Rücksicht gerade auf die Umstände des Einzelfalls, hat der Richter der Tatsacheninstanz die größere Sachnähe, da er imstande ist, durch Ausübung seines Fragerechts den Sachverhalt weiter aufzuklären, während der Revisionsrichter auf den ihm von dem Tatrichter übermittelten Sachverhalt angewiesen ist. Hier verschlingen sich die Tat- und die Rechtsfrage in schwer lösbarer Weise: Wie der Richter diesen individuellen Vorgang letztlich beurteilt, das hängt weitgehend davon ab, welche Umstände er bei seinem Urteil berücksichtigt und daher gegebenenfalls aufzuklären sucht; die Auswahl der zu berücksichtigenden Umstände hängt wiederum davon ab, ob er ihnen für die Beurteilung eine Bedeutung zumißt oder nicht. Ander[er]seits tritt dort, wo es wesentlich auf die individuellen Einzelheiten des Falles ankommt, nicht aber auf dessen typische Züge, die in anderen Fällen wiederkehren, der Rechtsvereinheitlichungszweck der Revision zurück. Es kann daher angebracht sein, in solchen Fällen dem Richter der Tatsacheninstanz einen gewissen Beurteilungsspielraum zu überlassen, innerhalb dessen seine Beurteilung [311] der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen bleibt. Mit der logischen und methodologischen Unterscheidung von Tat- und Rechtsfrage hat das aber nichts mehr zu tun.

Teil III: Typus und Analogie im Recht

Einleitung von Gaetano Carlizzi

Wenn es in der Einleitung zu Teil I um das dialektische Grundprinzip ging, das die Rechtswirklichkeit der Juristischen Hermeneutik grundlegend von den nomozentrischen Rechtsphilosophien des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet, so geht es in diesem Teil nun darum, zwei eng miteinander verbundene rechtstheoretische Thesen zu vertiefen, die von den Hermeneutikern im Geiste dieses Grundprinzips vertreten werden. Bevor auch hier aufgezeigt wird, auf welche Art und Weise die Thesen, namentlich der Tatbestand als Typus und das analogische Verfahren der Rechtsanwendung, von den einzelnen Rechtsgelehrten der Juristischen Hermeneutik abgewandelt werden, ist zunächst einmal klarzustellen, in welchem Verhältnis sie zum Grundprinzip der Dialektik stehen. Schauen wir uns zu diesem Zweck in einem ersten Schritt den herkömmlichen Ansatz an. Da die rechtsphilosophischen Auffassungen des 19. und 20. Jahrhunderts (mit einigen Ausnahme der Neokonstitutionalismus) die Norm in den Mittelpunkt der Rechtswirklichkeit stellen, orientieren sie sich innerhalb des Prozesses der Rechtsfindung an normativen Komponenten (Tatbestand und Rechtsfolge) als vorgeschriebene, feststehende Größen, sodass es zu einem einseitigen Einwirken der Rechtsphilosophie auf die Theorie der rechtlichen Auslegung kommt: Thesen und wissenschaftliche Kategorien der Letzteren werden in passiver Konformität zum Nomozentrismus der Ersteren entworfen. Der rechtliche Tatbestand wird so im Allgemeinen als abstrakter Begriff dargestellt, d. h. als Summe von starren Merkmalen, die in einem ersten Schritt durch abstrakte Auslegung definiert und in einem zweiten durch konkrete Auslegung auf den Einzelfall angewandt werden müssen. In Übereinstimmung damit werden die auf der Ausweitung der Auslegung beruhende Rechtsanwendung und die auf Analogie beruhende Rechtsanwendung als in ihrem Wesen unterschiedliche Vorgänge aufgefasst. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass der Tatbestand als abstrakter Begriff die Summe ganz bestimmter starrer Kriterien ist, die folglich nur eine einzige Form der Verwirklichung finden können, dann würde nur im zweiten Fall, dem analogischen Verfahren, die Anwendung des Rechtssatzes rein auf einer Ähnlichkeit beruhen. Dies wäre nämlich eine Ähn-

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lichkeit zwischen den Sachverhalten, die unter den Tatbestand des jeweiligen Rechtssatzes fallen, und jenen, die nicht hierzu zu rechnen sind, welche aber trotzdem die gleiche Rechtsfolge nach sich ziehen. Im ersten Fall der Ausweitung sind hingegen sowohl die unmittelbar dem Tatbestand zugeschriebenen Sachverhalte als auch diejenigen, die ihm erst nach seiner Ausweitung zugeschrieben werden können, gleichermaßen Anwendungsfälle der Norm. Anstatt sich auf vorgefasste, rechtsphilosophische Lehrsätze zu stützen und, ausgehend von diesen, eine Auslegungstheorie zu entwickeln, ist die Juristische Hermeneutik Rechtsphilosophie, indem sie Auslegungslehre betreibt, und Auslegungslehre, indem sie Rechtsphilosophie betreibt. Schon hier zeigt sich das dialektische Prinzip, auf dem die Juristische Hermeneutik aufgebaut ist. Mit dem Ausgangspunkt der offensichtlichen Bedeutung von Rechtssätzen für die Rechtswirklichkeit macht sich die Juristische Hermeneutik auf die Suche nach wesentlichen Kriterien für die Rechtsanwendung (insbesondere für die richterliche), wodurch nach und nach gänzlich neue und interessante Ergebnisse nicht nur für die Rechtsphilosophie (Prinzip der Dialektik), sondern auch für die Auslegungslehre heranreifen. Und darin liegt auch der Kern der beiden Thesen, die oben bereits genannt wurden und hier zu untersuchen sind: – In der Sichtweise der ersten These (Tatbestand als Typus) kann der rechtliche Tatbestand nicht als abstrakter Begriff dargestellt werden. Denn ein abstrakter Begriff negiert die Offenheit zur Realität hin, die für eine rechtliche Bestimmung des Tatbestands charakteristisch ist. Der Tatbestand wird also in neuer Gestalt gegeben, und zwar als Typus, also eines Gebildes, das deutlich macht, dass die im Typus ausgedrückte Charakteristik (z. B. Diebstahl) in einer unendlichen Reihe von Sachverhalten vorliegen kann, die untereinander eine bloße Ähnlichkeit aufweisen. Zwar ist es wahr – wie noch zu zeigen sein wird –, dass die Vertreter der Juristischen Hermeneutik mit Typus keinesfalls immer dasselbe bezeichnen und ihre Definition desselben zuweilen sogar so obskur und verschwommen ist, dass man ihre Schriften mit großer Aufmerksamkeit lesen muss. Doch trifft es ebenso zu, dass die aus den Thesen zu Tatbestand und Typus zu gewinnenden Ergebnisse auch äußerst aufschlussreich sein können. – Für die zweite These (analogisches Verfahren der Rechtsanwendung) folgt hieraus: Die Normanwendung folgt in der Regel einer analogischen Funktionsweise. Denn wie aus der ersten These hervorgeht, beruht auch die durch Auslegung gerechtfertigte Normanwendung, vor allem im extensiven Fall, auf einer Gleichstellung der zu entscheidenden Tatsachen mit Fällen, die mit Sicherheit zum Tatbestand gehören. Und hierin liegt genau der Punkt, wo sich die aus der Gültigkeit des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips unserer liberalen Rechtsordnungen entstehende, heikle Frage ergibt nach der Unter-

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scheidung zwischen zulässiger und nicht zulässiger Analogie von richterlichen Entscheidungen. Auch in seinem 1938 erschienenen Artikel »Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken« leistet Radbruch Pionierarbeit. Er liefert hier als Erster aus juristisch-hermeneutischer Sicht eine Analyse des vielgestaltigen Begriffs des Typus. Obwohl dieser Begriff seinerzeit schon gut vier Jahrzehnte in der Diskussion stand und von Giganten des juristischen Denkens wie Georg Jellinek, Max Weber und Carl Schmitt verwendet wurde, ist Radbruch der erste, dem es gelingt, die Elastizität des Typusgedankens umfassend aufzuzeigen. Bezugnehmend auf eine Monografie von Carl G. Hempel und Paul Oppenheim aus dem Jahr 1936, die er in einigen Zügen etwas eigenwillig diskutiert, stellt er fest, dass die Definition eines Begriffs mit den Mitteln der herkömmlichen Logik in Form des Klassenbegriffs (nur) starre Merkmale enthält, die in immer gleicher Form in Erscheinungen der Wirklichkeit vorliegen. Dieser Begriff fasst alle Erscheinungen, die diese Merkmale besitzen, in einer geschlossenen homogenen Gruppe zusammen. Der Klassenbegriff setzt sich über die Wirklichkeit hinweg, die nur fließende Übergänge kennt, nämlich zwischen den verschiedenen Klassen, aber auch innerhalb derselben Klasse. Die Bestimmung eines Begriffs als Ordnungsbegriff dagegen enthält (auch) elastische Merkmale, die in der einen oder anderen Erscheinung mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können. Je nach Intensität können somit auch lange Reihen von Abstufungen entstehen. Wenn bei dieser Aufreihung, z. B. im mittleren Bereich oder an ihren Polen, besonders ausgeprägte auftauchen (Idealtypen oder Häufigkeitstypen), so kommt diesen eine gewisse Orientierungsfunktion für alle anderen reellen Phänomene zu. Aus einem Ordnungsbegriff kann somit ein Typenbegriff werden. Ein Typus, wie er hier verstanden wird, ist also vor allem eine herausragende ideelle Größe mit einem jeweils ausgezeichneten Merkmal, das auch in anderen Formen auftreten kann. Nach dieser Einleitung untersucht Radbruch die Frage, welche Rolle die Typenbegriffe bei der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung spielen können. Dabei zeigt er die scheinbare Vorliebe des zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens für eine klassifikatorische Logik, die durch das Bedürfnis nach Rechtssicherheit bedingt ist. So hält sich der Gesetzgeber immer öfter an Definitionen, die auf starren Merkmalen beruhen wie z. B. in Bezug auf die Altersgrenze zur Volljährigkeit. Oder er orientiert sich an Begriffen, die eine Bestimmung mit Ordnungsbegriffen nicht zulassen (»verminderte Zurechnungsfähigkeit«). In diesem Zusammenhang ist es dann dem Richter auch nur selten ausdrücklich gestattet, zur Rechtfertigung seiner Entscheidungen Typenbegriffe heranzuziehen. Dies soll in der Regel nur dort zulässig sein, wo der

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Gesetzgeber selbst den Richter damit beauftragt, eine Reihenbildung vorzunehmen, z. B. im Bereich der Strafzumessung. Ganz anders sieht die Sache hingegen in bestimmten Bereichen des angelsächsischen Rechts aus, wo das Prinzip des verbindlichen Präzedenzfalls gilt. Hier ist es die Ratio decidendi in ihrer Funktion eines Rechtssatzes, der sich dadurch herausbildet, dass Anschluss an einen Vorgänger gesucht wird, der einen solchen Fall schon einmal entschieden hat. Bei einem solchen Entscheidungsverfahren hängt es von der größeren oder geringeren Nähe zu dem präjudiziellen Fall ab, ob in Zukunft in dem einen oder anderen Fall eben dieser Rechtssatz zur Anwendung kommt oder nicht. Kurz: Die Ratio decidendi fungiert hier eigentlich als Typusbegriff. Bei eingehenderer Betrachtung wird aber deutlich, dass im Grunde genommen das kontinentaleuropäische Recht gar nicht so anders verfährt. Auch auf dem europäischen Festland geht der Gesetzgeber dergestalt vor, dass er von bestimmten paradigmatischen, typischen Anwendungsfällen ausgeht, von denen die richterliche Rechtsanwendung geleitet sein muss. Am Ende bleibt festzuhalten: Weder das Denken in Typenbegriffen noch ein Denken in Klassenbegriffen kann in isolierter Form bestehen. Vielmehr müssen sich beide durch beständige Interaktion in einem Dialog befinden. Die Darstellung der Beschaffenheit eines Tatbestandes, so wie sie auf Grundlage der typischen Fälle entstanden ist, muss destilliert werden zu genaueren Definitionen, die dann bei zukünftigen Fällen dieses Typus wieder neu betrachtet werden usw., in einer endlosen Reihe von Abgleichungen. Wenn Radbruch der geniale Inspirator der Juristischen Hermeneutik ist, dann ist Engisch ihr schärfster Geist. Davon zeugt der hier aufgenommene Auszug aus dem letzten Kapitel seiner bekannten Monografie »Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit« (1. Aufl. 1953). Engischs Betrachtungen über den Prozess der Rechtsfindung gehören zu den brillantesten Schriften zum Thema und haben ihren Gegenstand in der besonderen Position des Typus als eine Mittelstellung zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten, zwischen dem herkömmlichen Begriff und einzelnen Erscheinungen. Der Typus besitzt nämlich Merkmale, die den verschiedenen Bedeutungen des Begriffes »konkret« entsprechen (von Engisch in den vorangehenden Kapiteln untersucht), vereint aber in sich trotzdem eine Vielzahl von Erscheinungen. Der Begriff »Typus« hat allerdings unter Juristen einen solchen Beliebtheitsgrad erreicht, dass neben den von Engisch am Ende selbst offengelegten Missverständnissen einige weitere Punkte geklärt werden müssen. Mit seinen unterschiedlichen Einteilungen der Typen führt uns Engisch an eine wesentliche Fragestellung heran. Ausgehend von dem Postulat, dass die Frage »Was ist ein Typus an sich?« eine wesentlich andere Frage ist als »Was ist der Typus X?« (z. B. der Typus der mittelalterlichen Stadt), sind die vielgestal-

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tigen Antworten auf die erste der beiden Fragen letztlich auf eine einzige zu reduzieren. Der Typus ist in erster Linie ein logisches Gebilde. Er ist die Darstellung einer ganzheitlichen Eigenschaft, die alle Einzelerscheinungen (lebende Wesen, Dinge oder Tatsachen) kennzeichnet, als vielgestaltige Eigenschaft, worin sich eine endlose Gestaltenvielfalt ausdrückt. In dieser Weise verstanden spiegelt sich in dem Gedankenkonstrukt »Typus« die Erfassung eines Denkens von Wirklichkeit wider. Es umreißt eine spezifische Art des Begreifens, die sich noch einmal kardinal von dem begrifflich-abstrakten Begreifen unterscheidet. Die Verfasstheit jener Denkstruktur zu beschreiben, ist die Hauptaufgabe der Typustheorie. Dies ist jedoch ein äußerst schwieriges Unterfangen, umso mehr, da man im übertragenen Sinn und gewissermaßen irreführend von Typus sowohl dann spricht, wenn es um eine Reihe von Konkretionen geht, die die jeweilige Ausgestaltung aufweist, als auch wenn es um einige Vertreter des Typus geht, bei denen diese Gestaltungsmerkmale besonders stark ausgeprägt vorliegen. Allem Anschein zum Trotz stellen andere, in der rechtswissenschaftlichen Literatur vorzufindenden Charakterisierungen des Typus keine wirkliche Alternativen dar. Sie erweisen sich vielmehr als miteinander kompatible Erklärungen der obengenannten einheitlichen Definition des Begriffs (z. B. Spezifität, Anschaulichkeit) bzw. beziehen sich auf sekundäre, mehr oder weniger kontroverse Aspekte des Typus (z. B. rein empirischer oder ideeller Ursprung). Das Hauptaugenmerk von Engisch als Jurist liegt auf der Frage nach der Rolle des Typus im Recht (hier im eigentlichen Sinn als logisches Gebilde verstanden). Zu diesem Zweck nimmt Engisch eine äußerst nützliche und von Radbruch nur z. T. angewandte Unterteilung vor, die sich in Typen zu gesetzgeberischen, exegetischen und zu systematischen Zwecken gliedert. So werden, selbst wenn der Gesetzgeber fast nie das Wort »Typus« verwendet, in der Rechtswissenschaft trotzdem viele gesetzliche Begriffe wie »typologische« Begriffe behandelt. Außerdem wird oft auf den Typus zurückgegriffen, um rechtswissenschaftliche Begriffe einzuordnen. Im nachstehenden Textauszug aus dem erwähnten Werk geht es Engisch zunächst einmal darum, Ersteres aufzuzeigen. In der Tat werden rechtliche Tatbestände (z. B. Diebstahl) im Unterschied zu rechtswissenschaftlichen Begriffen im eigentlichen Sinn (z. B. Verbrechen) in der Rechtswissenschaft »Typen« anstatt »Begriffe« genannt. Und dies hat für Engisch in der Hauptsache durchaus seine Berechtigung, da ausschließlich rechtliche Tatbestände einige Besonderheiten aufweisen, die für den Typus geeignet sind (besonders: Spezifität, Individualität, Anschaulichkeit und Ganzheitlichkeit). Umstrittener sind zwei andere Merkmale, die oft dem Typus zugeschrieben werden, nämlich der empirische und der ordnende Charakter. Als Frage formuliert: Ist davon auszugehen, dass rechtliche Tatbestände sich immer perfekt in der gesellschaftlichen Realität widerspiegeln und gemäß einer Stufenlogik

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funktionieren? Engisch widmet sich beiden Fragen mit der ihm eigenen Geistesschärfe: – Bezüglich des empirischen Charakters des Typus zeigt er auf, dass nicht alle Tatbestände gleicher Natur sind. Einige stammen aus gesetzgeberischer Tätigkeit, andere sind zur Gänze auf soziale Typen zugeschnitten, wieder andere sind aus Letzteren gewonnen, aber dergestalt beschrieben, dass sie auch für gesellschaftlich atypische Fälle gelten. Ob und inwieweit sich Rechtsbestimmungen nach sozialen Typen richten, hängt also zum Großteil von den Entscheidungen des Gesetzgebers ab; für den Interpreten stellen sie nur eine grundsätzliche Orientierungshilfe dar. – Was die Stufenlogik betrifft, so spricht Engisch, auch hier Hempel und Oppenheim folgend, Tatbeständen den Charakter von ordnenden Begriffen und somit von Typen ab, und bezeichnet sie allenfalls als »unscharfe Klassenbegriffe«. Für jeden Einzelfall ist ja notwendig zu entscheiden, ob der Ordnungsbegriff unter einen Tatbestand fällt oder nicht. Dies aber impliziert die Annahme, dass der Tatbestand als Ordnungsbegriff fungiert, d. h., dass eine kategorische Einordnung gar nicht möglich ist und so der besagten Notwendigkeit entgegensteht. Hier wird also eingeräumt, dass Sachverhalte in einem Grenzbereich zwischen zwei Tatbeständen zum Stillstand kommen (z. B. zwischen Diebstahl und Betrug) oder sogar in einem Zwischenbereich zwischen der Rechtserheblichkeit und der Rechtsunerheblichkeit bleiben. Auf diese Art und Weise lässt Engisch allerdings die Bildung bipolarer Reihen mit Hilfe typologischer Ordnungsbegriffe unberücksichtigt, wie es Hempel und Oppenheim angenommen haben. In den hier zusammengestellten Abschnitten aus der einflussreichen »Methodenlehre der Rechtswissenschaft« (1. Aufl. 1960) untersucht Larenz die Kategorie Typus erklärtermaßen auf der Grundlage der Hegel’schen Philosophie, wobei er die in den 1840er-Jahren im Rahmen der posthum (in den »Werken« 1832–1845) veröffentlichten Artikel heranzieht (Larenz benutzt die auf den »Werken« fußenden »Sämtlichen Werke«. Neu hg. von H. Glockner. Stuttgart 1927–1940; Nachdruck in 4. Auflage 1961–1968). Dabei geht er insbesondere von der Hegel’schen Antinomie aus, wonach der abstrakte Begriff in traditioneller Auffassung dem »konkret-allgemeinen« Begriff des Idealismus gegenüberstellt wird und den Larenz in der Nähe des Typus ansiedelt. Der abstrakte Begriff ist die Summe von unabhängigen Eigenschaften, denen eine Vielzahl von Einzelerscheinungen entspricht und die aus Letzteren herauskristallisiert wurden, um sie zu kennzeichnen. Beim abstrakten Begriff des »Eigentums« im deutschen Zivilrecht wäre ein solches Destillat etwa »umfassendes Herrschaftsrecht an einer Sache«. Ein abstrakter Begriff ist inhaltsleer, er gibt uns nicht zu verstehen, welche praktischen Möglichkeiten hierin enthalten sind, die er einschließt. Im

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Gegensatz dazu ist der konkret-allgemeine Begriff nach Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 458) »ein Ganzes sinnvoll aufeinander bezogener ›Momente‹, die nur in ihrer wechselseitigen Verbundenheit den Begriff ausmachen«. Wiederum auf das Beispiel des Eigentums bezogen bedeutet ein konkret-allgemeines Verständnis, dass »es der Person die freie Gestaltung ihrer dinglichen Umwelt ermöglicht« (S. 460). Dieser Begriff ist inhaltsreich, da derjenige, der die zugehörigen Elemente in eine Beziehung zum Ganzen stellt und umgekehrt (hermeneutischer Zirkel), zivilrechtliche Handlungs- und Gestaltungsspielräume ausmachen kann, die dem Begriff des Eigentums immanent sind. Wie bereits erwähnt, ist der Typus für Larenz analog zum konkret-allgemeinen Begriff zu verstehen, liegt er doch genau wie dieser zwischen Abstraktem und Konkretem. Larenz vertieft dieses Thema und erstellt eine mehr unsystematische Übersicht, bei der die in der Literatur gebräuchlichen »Bedeutungen des Ausdrucks ›Typus‹« (S. 461) nach drei Gruppen klassifiziert sind. Auf der Grundlage der zu Beginn des Kapitels in Anlehnung an Engisch herausgearbeiteten Leitgedanken schlägt Larenz folgende Dreiteilung vor: – Zunächst den Typus als logisches Gebilde, der entweder von der Realität (empirischer Typus) oder einem Gedankengebilde (Idealtypus) festgelegt wird, Letzterer nur in erkenntnistheoretischer (logischer Idealtypus) oder präskriptiver Funktion (normativer oder axiologischer Idealtypus). – In zweiter Hinsicht kann der Typus als logisches Gebilde nur durch subjektive Anschauung voll erfasst werden, während seine Vermittlung durch Beschreibung erfolgt, die notwendigerweise unvollständig und elastisch ist. Darunter wird von Larenz eine Beschreibung durch Merkmale verstanden, die in größerer oder kleinerer Anzahl und Intensität vorliegen und immer in Beziehung zueinander gedacht werden müssen. – Schließlich kann der Typus in einer Nebenbedeutung und auch hier zu erkenntnistheoretischen bzw. präskriptiven Zwecken als (Unter)gruppe von Einzelerscheinungen aufgefasst werden, die den häufigsten und ganz ähnlichen Verwirklichungen der gleichen Eigenschaft entsprechen (Durchschnittsoder Häufigkeitstypus). Natürlich steht auch für Larenz vor allem der »Sinn«, wie der Typus in der Rechtswissenschaft und besonders im Zivilrecht gebräuchlich ist, im Mittelpunkt des Interesses. Dabei führt er das für unseren Zusammenhang wichtige Beispiele der sog. Standards an, also Verhaltensmodelle, die aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben abgeleitet sind (z. B. Sozialmoral) und zu normativen Zwecken genutzt werden (z. B. Erfordernisse der Gültigkeit von Verträgen, vgl. auch die Verbindung der Paragrafen 1343–1418 des italienischen Zivilgesetzbuches). Diese Standards sind folglich den axiologischen Durch-

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schnittstypen zuzuordnen. Weiterhin diskutiert Larenz den Prima-facie-Beweis des Kausalitätszusammenhangs, der an die Rechtsfigur der sogenannten allgemeinen Kausalität im italienischen Strafrecht erinnert. Dieser kommt bei empirischen Durchschnittstypen zur Anwendung, die, solange nicht der Beweis des Gegenteils angetreten ist, für erwiesen gelten und auf einer kausalen Verbindung von jeweils zu beurteilenden ähnlichen Verhaltensweisen und damit verbundenen Folgen bestehen. Das dritte Beispiel sind gesetzgeberische Kategorien, die nur dann verständlich werden, wenn man die gleichnamigen sozialen Begriffe im Lichte des Zwecks der entsprechenden Norm und der Grundidee der jeweiligen umfassenderen Regelung herausarbeitet (z. B. »Tierhalter«, vgl. § 2052 des italienischen Zivilgesetzbuches im Zusammenhang mit außervertraglicher Haftung). Hierbei handelt es sich um »normative Realtypen«. Ähnliches gilt auch für gewisse subjektive Rechte (z. B. Persönlichkeitsrecht) sowie für Schuldverträge. Auf dem Gebiet der Schuldverträge arbeitet Larenz auch einen besonders für die Rechtswissenschaft interessanten Typus heraus, der nach unserer Ansicht in keinem anderem Rechtsgebiet vorzufinden ist, erst recht nicht im Strafrecht. Gemeint ist der »rechtliche Strukturtypus«, dessen Elastizität nicht nur für den gesetzlichen Tatbestand äußerst praktikabel ist, sondern sich auch im Rahmen von privatautonomen Vereinbarungen bewährt (z. B. der Typus »Gesellschaftsvertrag« im deutschen Recht). Die beiden letzten Texte, die im Zusammenhang mit den Auszügen aus den bereits in Teil I zitierten Artikeln von Kaufmann und Hassemer (»Analogie und ›Natur der Sache‹« und »Tatbestand und Typus«) stehen, sollen hier gemeinsam vorgestellt werden. Dies liegt zum einen darin begründet, dass beide Autoren über weite Teile auf die hier bereits beschriebenen Typenbegriffe Bezug nehmen (Kaufmann auf Radbruch, Hassemer auf Hempel-Oppenheim). Zum anderen ist eine gemeinsame Vorstellung geeignet, da sich die Herangehensweise an die Problematik von beiden ähnelt. Im Ergebnis allerdings gelangt Hassemer zu völlig anderen Schlüssen als sein Lehrer Kaufmann, was sogar zu einer Replik seitens Kaufmanns im hier nicht mehr abgedruckten Nachwort zur zweiten Auflage seiner »Analogie« führt. Die beiden Rechtsphilosophen und Strafrechtler verbindet nicht nur das Interesse an dem Begriff des Typus im Allgemeinen, der aufgrund seiner Elastizität die unverzichtbare Offenheit von Rechtsbestimmungen zur Wirklichkeit gewährleisten kann. Beide Denker sind vielmehr auch um Lösungen der komplizierten Frage des strafrechtlichen Analogieverbots bemüht, soweit die Auffassung des Tatbestands als Typus vertreten wird. Aber bereits bei der Typusfrage gehen die Meinungen von Kaufmann und Hassemer auseinander. Wenn nämlich auf der einen Seite beide den Typus, und insbesondere den Typus im Strafrecht, als logisches Gebilde ansehen, dann hat dieser für Kaufmann einen ontologischen Charakter, während Hassemer ihm eine normative Natur zuspricht. Für

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Kaufmann hat jeder Typus eine über die geschichtliche Realität hinausgehende, eigenständige Identität und bleibt als solcher auch maßgeblich in dem Moment, wo er in Rechtsbestimmungen aufgenommen wird (z. B. bleibt dann im Strafrecht der Typus »Waffe« immer ein Typus »Waffe«, unabhängig von Ort und Zeit). Für Hassemer hingegen entsteht ein Typus nicht nur zu einem gewissen Zeitpunkt in einer ganz bestimmten Gesellschaft und entwickelt sich weiter, ist also gänzlich eingebettet in einen geschichtlichen Zusammenhang. Der Hassemer’sche Typus erfährt vielmehr auch eine mehr oder weniger starke Umwandlung in dem Moment, wo der Gesetzgeber einen sozialen Typus rezipiert und ihn für seine Zwecke einsetzt, d. h. wenn der Typus zum normativen Typus wird. Entsprechend stimmen auch die von beiden Autoren vertretenen Standpunkte in Bezug auf das Verbot der Analogie zu Ungunsten des Angeklagten über weite Strecken nur scheinbar überein. Zweifelsohne erkennen Kaufmann und Hassemer die notwendige Offenheit der Normen des Strafgesetzes und damit einhergehend die Unmöglichkeit an, Rechtsauslegung zu umgehen, weil man meint, sich auf von vornherein feststehende Bedeutungen berufen zu können. Beide gehen deshalb auch generell von einem analogischen Verfahren bei der Rechtsanwendung aus. Kaufmann ist jedoch der Meinung, dass der ontologische Typus in seiner zeitlosen, »irenischen« Dimension für die gesetzgeberische Beschreibung des strafrechtlichen Tatbestands eine Richtschnur bildet. Dementsprechend könnte auch der richterlichen Auslegung in eben dieser Beschreibung Grenzen gesetzt werden. Auf diese Art und Weise vernachlässigt Kaufmann aber nicht nur das von Hassemer klar erkannte, nicht von der Hand zu weisende Einwirken des gesetzgeberischen Ermessens auf die Bildung der strafrechtlichen Tatbestände. Er verliert ferner auch aus dem Blickfeld, dass eine Beschränkung des richterlichen Handlungsspielraumes durch ontologische Typen letztlich die Tragweite der Norm bei Entscheidungen ausdehnt und gerade nicht eingrenzt (dies anerkennt Kaufmann im oben genannten Nachwort dann auch in aller Freimütigkeit). Hassemer vermeidet diese extreme Sichtweise, indem er darauf hinweist, dass der Typus, wie immer man ihn versteht, niemals außerhalb des hermeneutischen Prozesses definiert werden kann. Deswegen vermag der Typus auch nicht als für sich allein stehende Größe den Auslegungsprozess in seiner Freiheit einzuschränken. Von hier aus gelangt Hassemer zu der bedeutenden Schlussfolgerung, die bei orthodoxen Strafrechtlern seit jeher ein gewisses Unbehagen hervorruft: Das Analogieverbot im Strafrecht stellt eine zwar nicht ausdrücklich postulierte, jedoch nicht zu ignorierende Mahnung für den Richter dar, die getroffene Entscheidung ständig selbst zu kontrollieren und zu hinterfragen. Das Analogieverbot ergänzt also in gewisser Weise die Sicherungsfunktion der gesetzlichen Beschreibung, indem es drei Aufgaben vorgibt:

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1. die Bestimmung der einem strafrechtlichen Typus zuzuordnenden Fälle und die Begründung ihrer Zugehörigkeit zum besagten Typus; 2. das hiervon ausgehende Gebot der Distanzwahrung zwischen typischen Fällen und dem zu entscheidenden Fall; 3. die umso kritischere Überprüfung der gewählten anzuwendenden Norm, je größer der zuletzt beschriebene Abstand ist. Nach alledem ergibt sich: Ob eine Rechtsanwendung zuungunsten des Angeklagten gegen das Analogieverbot verstößt oder nicht, kann der Richter freilich keinesfalls mit exakten Auslegungsmitteln feststellen, gefordert ist hier vielmehr eine sich selbst permanent infrage stellende Haltung.

12. Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken (Gustav Radbruch)

Die traditionelle Logik hat in unserer Zeit mancherlei Anfechtung zu bestehen. Ihren Begriffen wird vorgeworfen, daß sie dem Leben Gewalt antun. Das Leben kennt nur fließende Übergänge, aber der Begriff zieht quer durch solche Übergänge scharfe Grenzen. Wo das Leben nur ein »mehr oder minder« zeigt, verlangt der Begriff eine Entscheidung: »entweder-oder«. Im Leben ruht das Interesse vornehmlich auf der Breite des Normalen, das den Kern des Begriffes bildet, dagegen interessiert sich das begriffliche Denken überwiegend für die abnormen Fälle, die peripheren, die Grenzfälle, an denen sich zu erproben hat, ob der Begriff richtig begrenzt (»definiert«) worden ist. Nicht das »Begreifen« erscheint als Hauptleistung des Begriffes, das Umfassen eines bestimmten Denkgehalts, sondern das »begrenzen«, die Wehrmauer, mit der sich der Begriff nach außen gegen andere Denkgehalte abschließt. Kurz: das traditionelle begriffliche Denken ist ein »Trennungsdenken«, das die Ganzheiten des Lebens zersetzt und zerstört. Angesichts dieser Zeitstimmung muß der Versuch einer Methodenlehre, die den fließenden Übergängen des Lebens besser gerecht wird, besonderes Interesse erregen, zumal wenn es sich nicht um die Anpreisung einer irrationalistischen, begriffsfeindlichen Wunderarznei handelt, sondern um eine Neuerung im Rahmen des begrifflichen Denkens selbst. Es handelt sich, schlagwortmäßig ausgedrückt, um die Entdeckung des Komparativs für die wissenschaftliche Methodenlehre. Die Denker, von deren Arbeit hier gesprochen werden soll, Paul Oppenheim und sein Mitarbeiter Carl G. Hempel1, stellen den Begriffen der traditionellen Logik, die sie wegen ihrer klassifikatorischen Aufgabe Klassenbegriffe nennen, eine andere Art von Begriffen gegenüber, die Ordnungsbegriffe. Die Klassenbegriffe sind zusammengesetzt aus Merkmalen, 1 Carl G. Hempel und Paul Oppenheim: Der Typusbegriff im Licht der neuen Logik, Leiden 1936; P. Oppenheim: Von Klassenbegriffen zu Ordnungsbegriffen, Travaux du IX CongrHs International de Philosophie, Paris, 1–6 ao0t 1937; Andeutungen schon bei P. Oppenheim: Die natürliche Ordnung der Wissenschaften, 1926, S. 221ff.

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die man einer Einzelerscheinung nur entweder zu- oder absprechen kann, die Ordnungsbegriffe dagegen enthalten abstufbare Eigenschaften, Eigenschaften, die man einer Einzelerscheinung in verschiedenem Maß, in höherem oder geringerem Grad, zuerkennen kann. Der sprachliche Ausdruck jener Merkmale ist der Positiv, von [61] diesen Eigenschaften aber redet man im Komparativ : Quarz ist härter als Kalkspat. Die Ordnungsbegriffe sprechen also ein Maßverhältnis zwischen zwei oder mehr Erscheinungen aus, bringen also diese Erscheinungen in eine Reihen- und Rangordnung, ordnen z. B. die Mineralien ihrer Härte nach in einer fortlaufenden Reihe, und drücken so jene fließenden Übergänge begrifflich aus, welche die Klassenbegriffe gewalttätig durchschneiden. Enthält ein Ordnungsbegriff eine abstufbare Eigenschaft, so ergibt sich auf dieser Grundlage eine lineare Reihenordnung, enthält er mehrere solcher Eigenschaften, so wird die Reihenordnung mehrdimensional – man kann die Mineralien nicht nur ihrer Härte, sondern auch ihrer Schwere und ihrer chemischen Zusammensetzung nach in Reihenordnungen bringen. Solche Reihenordnungen sind besonders fruchtbar, wenn sie sich mit anderen Reihenordnungen in kausale Beziehungen setzen lassen. Denn wie auf Grund von Klassenbegriffen kann man auch auf Grund von Ordnungsbegriffen zur Entdeckung von Gesetzen gelangen. Werden jene nach dem Schema »wenn – dann« ausgedrückt, so diese nach dem Schema »je – desto«, z. B.: je höher die Getreidepreise, desto häufiger die Diebstähle. Unter den Einzelerscheinungen, die in eine Reihenordnung gebracht sind, kann man bestimmte vor den anderen auszeichnen – wie Meilensteine, durch die man den Ort der zwischen ihnen befindlichen Erscheinungen feststellen kann. So hat man zehn Mineralien von verschiedener Härte zu einer Härteskala zusammengestellt und damit ein Maßschema gewonnen, in das man die anderen Mineralien ihrer Härte nach einordnen kann. Dieses Verfahren bildet den Übergang zu der wichtigsten Form der Ordnungsbegriffe, zu den Typenbegriffen. Man wählt innerhalb der Reihe gewisse besonders ausgeprägte, reine, klassische Erscheinungen aus, seien es nun Extremformen oder umgekehrt Durchschnittsformen, um an ihnen die anderen Erscheinungen zu messen. Nicht notwendig braucht jedoch diesen Typen eine empirische Einzelerscheinung zu entsprechen, im Gegenteil sind sie meist konstruierte Gebilde, die unter bestimmten Gesichtspunkten wesentliche Eigenschaften verschiedener empirischer Erscheinungen zusammenfassen. Mag nun dieser Gesichtspunkt die Häufigkeit des Auftretens jener Eigenschaften sein oder mögen sie nach Maßgabe einer vorschwebenden Idee ausgewählt werden, in beiden Fällen entfernen sich die Typen von den Einzelerscheinungen der Wirklichkeit – die ersteren, die Durchschnittstypen, kaum weniger als die letzteren, die sogenannten Idealtypen. Die Typen wollen auch gar nicht Wirklichkeitserkenntnisse darstellen, sie wollen nur Mittel sein zur Erkenntnis der wirklichen

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Einzelerscheinungen, sie bilden nur das Netz, in das die Einzelerscheinungen einge-[62]ordnet werden. Wie die Klassenbegriffe bilden auch die Typenbegriffe Mittel zur Ordnung der Erscheinungen – die Entgegensetzung der Ordnungsbegriffe zu den Klassenbegriffen erscheint deshalb terminologisch nicht ganz glücklich. Freilich ist die erstrebte Ordnung bei den beiden Begriffsarten sehr verschiedener Art. Die Einzelerscheinungen werden unter die Klassenbegriffe subsumiert, aber sie werden zwischen die Typenbegriffe eingeordnet. Sie werden gekennzeichnet durch ihren mehr oder weniger großen Abstand von diesem oder jenem Typusbegriff, einen Abstand, der meist nur intuitiv geschätzt, manchmal an der Hand objektiver Kriterien bestimmt, in den glücklichsten Fällen sogar metrisch, zahlenmäßig bewertet werden kann. Klassenbegriffe sind durch scharfe Grenzen voneinander geschieden, Typenbegriffe gehen durch verschwimmende Grenzen ineinander über wie die Farben im Farbenkreis: Klassenbegriffe trennen, Typenbegriffe verbinden. Oppenheim und Hempel halten sich von jeder Überschätzung ihrer Entdeckung erfreulich fern, sie lassen den Klassenbegriffen ihr Recht, obgleich sie in den verschiedenen Wissenschaften eine Entwicklung von Klassenbegriffen zu Ordnungsbegriffen feststellen zu können meinen. Sie selbst zeigen die Entwicklung an der Psychologie und an der Konstitutionsforschung und fordern zu ähnlichen Untersuchungen für andere Gebiete der empirischen Forschung auf. Es wäre reizvoll, die typologische Denkweise Goethes an seinem Begriff des Urphänomens, besonders der Urpflanze, aufzuweisen2. Näher an die methodologischen Gegenwartsprobleme führt die ausführlich begründete Verwendung von Typusbegriffen in Georg Jellineks Staatslehre3 und, nach diesem Vorbild, in Max Webers Gesellschaftslehre4. Jellinek unterscheidet Durchschnittstypen und Idealtypen, in den späteren Auflagen empirische und ideale Typen. Der ideale Typus ist ein Sollens- und Wertgebilde, der empirische Typus ein Seins- und Wirklichkeitsgebilde, gewonnen durch die Heraushebung der gemeinsamen Merkmale, welche die große Mehrzahl der Einzelfälle darbietet. Dagegen sind bei Max Weber die Idealtypen nicht etwa ideale Vorbilder – es können auch Idealtypen verwerflicher Erscheinungen, z. B. der Prostitution, aufge-[63]stellt werden –, sie sind vielmehr ideelle Schemata einer von individuellen Zufälligkeiten gereinigten, folgerichtig durchkonstruierten und des2 Vgl. etwa H. Siebeck: Goethe als Denker, 4. Aufl., 1922, S. 44ff., 57ff. 3 G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1921, S. 34ff. Dazu W. Windelband: Über Norm und Normalität, Aschaffenburgs Monatsschrift für Kriminalpsychologie, 3. Bd., 1907, S. 1ff.; H. Heller : Staatslehre, 1934, S. 61ff. 4 Max Weber : Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Archiv für Sozialwissenschaft, 19. Bd., 1904, S. 43ff. Dazu K. Jaspers: Max Weber, 1932, S. 46; B. Pfister: Die Entwicklung zum Idealtypus, 1928; A. v. Schelting: Max Webers Wissenschaftslehre, 1934.

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halb einseitig gesteigerten Wirklichkeit. Die Weberschen Idealtypen halten als wertbezogene Begriffe im Sinn Rickerts die Mitte zwischen Jellineks bewertenden Idealtypen und Jellineks wertfrei empirischen Durchschnittstypen – man würde sie weniger mißverständlich ideelle Typen nennen. Die Typusbegriffe sind nach Max Weber nicht Ziel, sondern Mittel des Erkennens, rein ideelle Grenzbegriffe, an welchen die Wirklichkeit gemessen, mit denen sie verglichen wird; sie lehren nach Jellinek die Einzelerscheinung erst gründlich verstehen, da diese erst dadurch gleichsam ihren Standort im ganzen Gebiet der sozialen Prozesse erhält. Das ist nichts anderes als der noch tastende Ausdruck für den von Oppenheim und Hempel ausgeführten Gedanken der typologischen Reihenordnung. Was die Rechtswissenschaft betrifft, so erklärte Oppenheim für die Formulierung von Rechtsgesetzen Ordnungsbegriffe für »ausgesprochen unzweckmäßig«. »Denn diese haben ja nicht den Vergleich mehrerer Tatbestände miteinander zum Endziel, sondern die Beurteilung eines einzelnen Tatbestandes, die dadurch erfolgt, daß diesem ein bestimmtes Merkmal entweder zu- oder abgesprochen wird5«. Diese Begründung geht fehl, denn die Beurteilung des einzelnen Tatbestandes – sei es durch den Gesetzgeber, sei es durch den Richter – setzt gerade voraus, daß zahlreiche mehr oder weniger verwandte Fälle vergegenwärtigt und verglichen werden, um die Tragweite des der beabsichtigten Entscheidung zugrunde zu legenden Rechtssatzes für andere Fälle zu prüfen. Ob trotzdem Oppenheims Auffassung der juristischen Methode im Ergebnis zutrifft, soll im folgenden untersucht werden. Diese Untersuchung ist um so nötiger, da in jüngster Zeit der Übergang von Klassenbegriffen zu Ordnungsbegriffen auch für die Rechtswissenschaft nachdrücklich vertreten worden ist – denn nur dies kann der Sinn von Carl Schmitts schnell zum Schlagwort gewordener Formel vom »konkreten Ordnungsdenken« sein. Die Norm, so sagt Carl Schmitt, setzt eine normale Situation und normale Typen voraus, typisch zu unterstellende konkrete Figuren des gerecht zu beurteilenden Lebens, z. B. den tapferen Soldaten, den pflichtbewußten Beamten, den anständigen Kameraden usw. Eine Norm mag sich noch so unverbrüchlich geben, [64] wie sie will, sie beherrscht eine Lage nur insoweit, als die Lage nicht völlig abnorm ist und solange der als normal vorausgesetzte Typus nicht verschwunden ist6. Schmitt deutet also die scheinbaren Klassenbegriffe der gesetzlichen Tatbe5 Oppenheim: IXe CongrHs de Philosophie, S. 73f. Wenn Oppenheim in seinem früheren Buch: Die natürliche Ordnung der Wissenschaften, S. 117ff., die Rechtswissenschaft zu den typischen Wissenschaften rechnet, so denkt er offenbar nicht an Typusbegriffe der später von ihm entwickelten Art, sondern gerade an klassifizierende Allgemeinbegriffe. 6 C. Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 22, 10, 21, 23. Dazu E. Schwinge und L. Zimmerl: Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht, 1937.

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stände als Normaltypen und will deshalb atypische Fälle statt nach dem Gesetz nach der »Natur der Sache« beurteilt wissen – denn so nannte man bisher jene den Einzelfall typisierende und aus dem Typus heraus beurteilende Denkweise, die Schmitt jetzt als konkretes Ordnungsdenken bezeichnet7. Das heute noch herrschende Rechtsdenken steht im Einklang mit Oppenheims Ansicht und im Gegensatz zu Schmitts Forderung grundsätzlich auf der Seite der klassifizierenden Methode. Ganz bewußt arbeitet die Gesetzgebung mit Begriffen, die durch die fließenden Übergänge des Lebens scharfe Schnitte legen, man denke an die auf Tag und Stunde bestimmten Altersgrenzen, welche die Allmählichkeit des Reifens von der Kindheit zur Jugend, von der Jugend zum Mannesalter bewußt unbeachtet lassen. Gerade diese Inadäquanz der juristischen Begriffe zur Wirklichkeit, diese Ignorierung aller Zwischentöne, jedes holden Ungefährs, die schroffe Ablehnung jedes »sowohl – als auch« oder »mehr oder minder«, diese harte Denkweise des »entweder – oder« sind es ja, welche vielen, gerade in dieser Zeit, das Recht, zumal das römische Recht8, so abstoßend machen. Aber dieses alles ist unentbehrlich aus Gründen der »Praktikabilität«, d. h. der zweifelsfreien Anwendung des Rechts, also der Rechtssicherheit, – aber auch der Gerechtigkeit, deren Göttin nicht ohne Grund die Augenbinde trägt, nämlich weil sie in ihrem Gleichheitsstreben nicht nur »ohne Ansehen der Person« richtet, sondern auch andere (»irrelevante«) Unterscheidungen der Wirklichkeit nicht beachtet. Wenn es aber nach der Überwindung des orthodoxen Liberalismus eine Tendenz unserer Zeit ist, das Recht dem Leben inniger anzuschmiegen, so geschieht auch dies regelmäßig durch Bildung spezieller Klassenbegriffe, nicht durch Typenbegriffe und Reihenordnung. Charakteristisch dafür ist, gerade weil sie auf einen abstufbaren Ordnungsbegriff hinzudeuten scheint, die »verminderte Zurechnungsfähigkeit«. Auch nach ihrer gesetzlichen Anerkennung ist der Rechtsbrecher nicht etwa mehr oder weniger zurechnungsfähig, sondern [65] er ist entweder zurechnungsfähig oder zurechnungsunfähig, und im ersten Fall entweder voll oder vermindert zurechnungsfähig. Die Zurechnungsfähigkeit ist kein Reihenbegriff, sondern ein Klassenbegriff und auch die verminderte Zurechnungsfähigkeit nur der Begriff einer Unterklasse. In manchen Fällen freilich hält der Gesetzgeber es für unmöglich, durch spezialisierende Klassifizierung der Mannigfaltigkeit der Einzelfälle gerecht zu werden. Er überläßt in solchen, immer häufigeren Fällen die Anpassung der Rechtswirkungen an den Einzelfall dem richterlichen Ermessen. Dies ist das 7 Über den einer besonderen Bearbeitung sehr bedürftigen Begriff »Natur der Sache« H. Isay : Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 78ff. 8 Ob dieser Vorwurf gerade gegen das römische Recht mit Fug erhoben werden kann – davon später!

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Gebiet, auf dem wir erwarten können, Typenbegriffe und Reihenordnungen zu beobachten. Ein besonders lehrreiches Beispiel bietet die richterliche Strafzumessung innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen. Sie stellt den Richter vor die Aufgabe, die Einzelfälle zwischen zwei Extremtypen – den denkbar schwersten und den denkbar leichtesten Fall dieses Verbrechens – nach dem Maß ihres größeren oder geringeren Abstandes von diesen Typen einzureihen. In Zukunft soll diese Einreihung nicht, wie bisher, der Intuition des Richters überlassen bleiben, vielmehr durch objektive Kriterien geleitet werden. Der letzte Entwurf eines Reichsstrafgesetzbuches9 nennt als solche Maßstäbe der richterlichen Strafzumessung: den verbrecherischen Willen des Täters, das Schutzbedürfnis der Volksgemeinschaft, die Gefahr und den Schaden, die der Täter verschuldet hat, sein Verhalten nach der Tat. Aus jedem dieser Strafzumessungsgründe ergibt sich eine Reihenordnung, in jeder dieser Reihenordnungen ist der einzelnen Straftat, für die die Strafe bemessen werden soll, ihr Platz anzuweisen und in jeder dieser Reihenordnungen kann die Rangstelle, die ihr angewiesen wird, höher oder niedriger als in den anderen Reihenordnungen sein. Es handelt sich um eine mehrdimensionale Reihenordnung der Strafwürdigkeitsgründe. Aber die möglichen Strafmaße bilden nur eine eindimensionale Reihe, sie sind lediglich schwerer oder leichter. Es entsteht deshalb die schwierige Aufgabe, die mehrdimensionale Reihenordnung der Strafwürdigkeitsgründe auf eine eindimensionale Reihe zu reduzieren10. Der Gesetzgeber des Entwurfs hat dieses Problem auch erkannt, er faßt die verschiedenen Maßstäbe der Strafwürdigkeit in der einheitlichen Formel zusammen: »Die Strafe soll nach Art und Maß der Schuld des Täters entsprechen.« Aber er zeigt damit nur das Problem, nicht den Weg zu seiner Lösung, und für den Gesetzgeber ist wohl auch nichts anderes möglich. Es bleibt der Intuition des Richters überlassen, ob er im einzelnen Fall die verschiedenen Reihenordnungen als gleichwertige oder ungleichwertige Elemente der [66] Schuld betrachten will und in welchem Verhältnis als ungleichwertig, ob also, algebraisch gesprochen, der Schuldgrad für die einzelne Straftat durch Summierung der einfachen Rangnummern in den verschiedenen Reihen gewonnen werden oder ob für bestimmte Reihen ein Vielfaches dieser Rangnummer angesetzt werden soll. Die so gewonnene Reihe der Strafwürdigkeiten bildet die Grundlage für eine entsprechende Reihe der Strafmaße, ist mit ihr durch ein »ordnendes Gesetz« nach dem Schema »je mehr – desto mehr« verknüpft (das freilich nicht ein empirisches Gesetz ist, sondern ein Sollensgesetz, eine Norm), und zwar ist dies Gesetz, freilich nicht auf der Seite des Schuldgrades, wohl aber auf der Seite des Strafmaßes, metrischer, zahlenmäßiger Erfassung fähig. So lassen sich 9 Gürtner : Das kommende deutsche Strafrecht, Allg. Teil, 2. Aufl., 1935, S. 175. 10 Hempel und Oppenheim: Der Typusbegriff im Licht der neuen Logik, Leiden 1936, S. 70.

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an der Strafzumessung die Probleme der Reihenordnung nahezu restlos illustrieren. Und das gleiche Beispiel ist auch belehrend für das Verhältnis der Reihenbildung zur Klassenbildung im Bereich der Rechtswissenschaft. Man hat die Strafzumessung auf den Verbrechensbegriff selbst gründen, die Strafzumessungsgründe aus den Verbrechensmerkmalen ableiten wollen. Die Verbrechensmerkmale Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit seien abstufbar und deshalb das Verbrechen selbst ein »Steigerungsbegriff«, dessen verschiedenen Graden die verschiedenen Strafmaße entsprächen11. Das ist in der Sache richtig und fruchtbar, aber die logische Form dieser Aussage bedarf einer Korrektur. So wie die Lehre vorgetragen wird, besagt sie, daß derselbe Verbrechensbegriff, mittels dessen Verbrechen und Nichtverbrechen voneinander geschieden werden, auch als Maßstab für den Grad der Strafwürdigkeit diene. Aber mit Recht ist gesagt worden, daß ein abstufbarer mit einem klassifizierenden Begriff niemals identisch sei, daß der Komparativ nicht etwa eine klassifizierende Unterklassenbildung des Eigenschaftsbegriffes bedeute, daß der Klassenbegriff und der gleichnamige Ordnungsbegriff vielmehr ganz verschiedene Begriffe seien12. Das ergibt sich schon aus der verschiedenen Abgrenzung beider Begriffe: Der klassifizierende Verbrechensbegriff hat ganz scharfe und geschlossene Grenzen, abzugrenzen gegen das Nichtverbrechen ist sogar seine einzige Funktion; das Verbrechen als abstufbarer Begriff dagegen hat verschwimmende, offene Grenzen, die den Abstieg von höheren zu immer niedrigeren Schuldgraden und schließlich über den Schuldgrad 0 sogar den Aufstieg zu geringeren und immer höheren Graden des Verdienstes frei geben. Er will ein Glied sein in einer fortschreitenden Reihe, er will Tatsachen miteinander in Verbindung bringen, nicht wie der klassifizierende Begriff voneinander tren-[67]nen. So besteht zwischen den beiden Verbrechensbegriffen geradezu ein Gegensatz: in dem fließenden Übergang von Verbrechen zu Nichtverbrechen, den der abstufbare Verbrechensbegriff eröffnet, bedeutet der klassifizierende Verbrechensbegriff eine Staustufe an einem, unter dem Gesichtspunkt der weiterfließenden Kontinuität, willkürlichen Punkt. So findet die Abstufung des abstufbaren Verbrechensbegriffs ihre Schranke an der Grenze des klassifizierenden Verbrechensbegriffs, obgleich sie ihrem eigenen Sinn nach fortgesetzt werden könnte. Dieses Übergewicht des klassifizierenden über den ordnenden Begriff bezeugt wiederum den grundsätzlich klassifikatorischen Charakter der Rechtswissenschaft. Es wurde bereits gezeigt, daß der überkommene klassifikatorische Charakter der Rechtswissenschaft (bei C. Schmitt und seinen Anhängern) wachsendem 11 Mezger : Strafrecht, 2. Aufl., 1933, S. 498ff. 12 Hempel und Oppenheim: Der Typusbegriff im Licht der neuen Logik, Leiden 1936, S. 40.

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Widerspruch begegnet. Jener Charakter beruht, wie wir sahen, auf dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit – so drückt sich in diesem Widerspruch eine verringerte Schätzung der Rechtssicherheit, nicht nur ihrer Wirksamkeit, sondern überhaupt ihres Wertes aus. Es liegt außerhalb unserer Aufgabe, uns mit dieser Auffassung auseinanderzusetzen, wir wollen nur ihre Konsequenzen für die juristische Methodenlehre würdigen. Hatte die überkommene Rechtslehre um der Rechtssicherheit willen auf die individualisierende Berücksichtigung der konkreten Lage weitgehend Verzicht leisten müssen, so steht diese Forderung nunmehr, nach der Entwertung der Rechtssicherheit, im Vordergrund des Rechtsdenkens. Daher die sichtliche Hinneigung mancher Rechtsdenker zu einem Fallrecht nach der Art des englischen und amerikanischen case law. Es soll deshalb jetzt untersucht werden, welche Rolle Typologie und Reihenordnung im case law spielen13. Der angelsächsische Richter findet (soweit nicht statute law gilt) das Recht für den konkreten Fall, jedoch mit der Wirkung, daß der Rechtssatz, den er seiner Entscheidung zugrunde gelegt und als ratio decidendi ausgesprochen hat, auch in künftigen gleichgelagerten Fällen Anwendung findet. Dennoch bleibt es in weitem Umfang ungewiß, auf welchen engeren oder weiteren Kreis von Fällen sich der neugewonnene Rechtssatz erstrecken wird. Dem Richter steht angesichts eines neuen Falles ein ganzes Arsenal von Abwehrmitteln zur Verfügung, wenn er die ratio decidendi des präjudiziellen Falles für den neuen Fall ungeeignet findet. Er kann zeigen, daß der neue Fall in tatsächlicher Hinsicht von dem früheren wesentlich [68] abweiche und deshalb eine andere rechtliche Behandlung heische. Er kann aber auch zeigen, daß die ratio decidendi des früheren Falls weiter gefaßt sei, als es für die Entscheidung des damaligen Falls notwendig war, und insoweit ein bloßes unverbindliches »dictum« sei; er wird dann den der Entscheidung wirklich zugrunde liegenden und allein verbindlichen engeren Rechtssatz herausarbeiten, das »principle of the law«. Die Entwicklung kann aber auch im entgegengesetzten Sinn verlaufen. Der Richter eines späteren Falles mag zu der Ansicht gelangen, daß der Rechtsgedanke der früheren Entscheidung auch für den vorliegenden, etwas abweichenden Fall Geltung verlange, obgleich er in der ratio decidendi des früheren Richters einen engeren Ausdruck gefunden hat; er wird dann dem Rechtssatz in seiner eigenen Entscheidung eine allgemeinere Fassung geben. Nach einer Reihe ähnlicher, vorsichtig weitertastender Entscheidungen wird dann vielleicht anläßlich eines neuen Falles ein Richter den in jener Reihe stufen- und stückweise herausge-

13 Zum Folgenden Llewellyn: Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933; Goodhart: Determining the Ratio decidendi of a case, Essays in Jurisprudence, 1933; de Boor : Die Methode des englischen Rechts und die deutsche Rechtsreform, 1936.

Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken

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arbeiteten Rechtsgedanken abschließend zu zusammenfassender Darstellung bringen. Und nun fragen wir, wie der in einer Entscheidung aufgestellte, in seiner Fortentwicklung noch nicht übersehbare Rechtssatz logisch zu charakterisieren sei. Llewellyn14 hat ihn mit wenigen Worten unübertrefflich gekennzeichnet: »Bei jedem Rechtssatz liegt dreierlei vor: ein ganz fester Gehaltskern von schon Dagewesenem und schon konkret Beabsichtigtem ; dann ein flüssiger Grenzsaum, der der Ausdehnungsmöglichkeiten, welcher auch durch den zufälligen Wortlaut des Satzes mitbedingt ist; endlich eine Tendenz hinsichtlich dieser Möglichkeiten, welche teils durch den festen Kern, teils durch benachbarte Rechtssätze, teils durch den Gang nichtrechtlicher Verhältnisse, durch den jeweiligen Bedarf der Rechtsinteressenten bedingt ist.« Also ein Gedankengebilde, dessen Geltung für eine Reihe zentraler Fälle zweifellos ist, während nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, inwieweit es auch auf Fälle Anwendung heischt, die seiner verschwimmenden Grenze, diesseits oder jenseits, nahe liegen; und ringsum ähnliche Gebilde mit festem Kern und fließenden Rändern, die ganz allmählich zu einer scharfen Scheidelinie gegen das Nachbargebilde erstarren oder umgekehrt mit ihm zu einem Gebilde zusammenfließen. Uns will scheinen, daß diese Denkgebilde logisch nicht anders charakterisiert werden können denn als Typenbegriffe und daß unter den an ihnen geübten Operationen auch Reihenordnungen eine Rolle spielen. Freilich sind diese Typusbegriffe nur Durchgangsformen auf dem Weg zu den als Endform erstrebten Klassenbegriffen, Klassenbegriffe in statu nascendi. Aber dieser [69] status nascendi ist in Wahrheit ein Dauerzustand, der niemals endgültig überwunden wird. Die Unberechenbarkeit gegenwärtiger und künftiger Fälle sorgt dafür, daß die festen Grenzen scheinbar endgültig erreichter Klassenbegriffe immer wieder in Frage gestellt werden, immer wieder als fließende sich erweisen. Aber nicht nur das case law des angelsächsischen Richters, auch der kontinentale Gesetzgeber findet das Recht in Wahrheit für konkrete Fälle, Fälle freilich, die ihm nicht zu wirklicher Entscheidung hic et nunc vom Leben vorgelegt werden, die ihm vielmehr von seiner Erinnerung oder von seiner Einbildungskraft geliefert werden. Wilhelm Wundt hat gezeigt, daß allgemeine Begriffe in der Wirklichkeit des Seelenlebens durch »repräsentative Vorstellungen« von Einzelfällen vertreten werden15. Diese repräsentativen Vorstellungen aber haben (wie wohl vorwissenschaftliche Begriffe überhaupt) den Charakter von »Typen ohne feste Grenzen«. So schweben auch dem Gesetzgeber, der ja weder die Gesamtheit aller Fälle überblicken noch sich mit der abstrakten Allgemeinheit 14 Llewellyn: Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, S. 79. 15 Wundt: Grundriß der Psychologie, 3. Aufl., 1898, S. 315.

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Gustav Radbruch

unanschaulicher Denkschemata begnügen will, typische Einzelfälle vor, seien es die häufigsten oder die auffälligsten Fälle. Allzu leicht bewahren dann die klassifikatorisch gemeinten Begriffe des Gesetzes heimlich und unbewußt den Charakter von Typusbegriffen. Das Gesetz, wie es aus der Hand des Gesetzgebers kommt, vor aller Interpretation, das Gesetz, von dem noch nicht feststeht, ob es extensiv oder restriktiv ausgelegt, ob Analogie oder argumentum e contrario darauf angewendet werden wird, stellt sich als ein typologisches Gebilde mit noch flüssigen Grenzen dar. Jene Schilderung Llewellyns trifft wie auf das case law auch auf diesen Urzustand des Gesetzesrechts zu. Freilich ist auch hier die Typologie nur eine Vorform erstrebter Klassenbegriffe, der Ausgangspunkt logischer Operationen, die vom Typusbegriff zum Klassenbegriff führen sollen. Ist für den modernen Gesetzgeber der Typusbegriff sozusagen nur ein Nebenprodukt einer nach Klassenbegriffen strebenden Methode, so begnügte sich der römische Gesetzgeber ganz bewußt mit Typenbegriffen und überließ es der Interpretation, diese Typenbegriffe zu Klassenbegriffen fortzubilden. In den Digesten (1,3) wird in immer neuen Wendungen (1, 3–6, 10) dem Gesetzgeber eingeschärft, sich bei seinen Normierungen nur durch das leiten zu lassen, »quae plerumque accidunt, quae et frequenter et facile eveniunt«, nicht durch das, »quae perraro eveniunt, quae forte uno aliquo casu accidere possunt«. Es sei dann die Aufgabe der Auslegung und der Rechtsprechung, den aus dem Gesetze erhellenden Rechtsge-[70]danken (sententia) auf ähnlich gelagerte Fälle zu erstrecken (ad similia procedere) (1, 12) und so für Fälle, auf die derselbe Zweckgedanke Anwendung heischt wie für die ausdrücklich geregelten Fälle (quae tendunt ad eandem utilitatem), das Gesetz zu ergänzen (supplere) (1, 13). Aber auch die Interpretation wird zur Behutsamkeit bei der Bildung von Klassenbegriffen ermahnt: »omnis definitio in jure civili periculosa est« (1, 202 D, 50, 17). Der Römer hegt dieselbe weise Abstraktionsscheu, die das Wesen des englischen Rechtsdenkens bestimmt16. Man sieht: das Problem »Klassenbegriffe oder Typusbegriffe« ist für die Rechtswissenschaft nicht einfach zu beantworten, es ergibt sich ein kompliziertes Zusammenspiel klassifikatorischer und typologischer Denkformen. Die Andeutungen, die hier gemacht wurden, wollen jedoch das Thema keineswegs erschöpfen, sie wollen nur zum Nachdenken über das vielleicht wichtigste Problem unserer Methodenlehre einladen.

16 F. Schulz: Prinzipien des römischen Rechts, 1934, S. 27ff.

13. Die Konkretisierung als Hinwendung zum »Typus« in Recht und Rechtswissenschaft (Karl Engisch)

[…] Augenfällig ist, daß den Konkretisierungstendenzen der letzten Jahrzehnte im juristischen Bereich eine zunehmende Vorliebe für den »Typus« parallel läuft. Überhaupt ist ja der Typus in neuerer Zeit1 in allen Wissenschaften zum Modebegriff geworden. Die Spezialliteratur zu ihm schwillt an2. Es ist bezeichnend und auch berechtigt, daß die Zeitschrift »Studium generale« innerhalb eines Jahres zwei Hefte dem Typus gewidmet hat3. […] [238] […] Auf den ersten Blick erscheint es nun freilich als befremdlich, daß der Typus eine Affinität zum Konkreten besitzen soll. Immer wieder wird betont, der Typus sei wie der Begriff oder wie das Gesetz ein Allgemeines4. Man spricht auch davon, daß er auf Abstraktion beruhe, wobei man ihm allerdings zum Teil eine besondere Art von Abstraktion zuordnet, etwa eine ideierende oder poin1 Auf die Geschichte in sprachlicher, logischer und einzelwissenschaftlicher Hinsicht kann ich hier nicht eingehen. Zur Bedeutungsgeschichte s. z. B. Heyde, Forschungen und Fortschritte XVII, 1941, S. 220ff., Seiterich, Die logische Struktur des Typusbegriffs bei W. Stern, E. Spranger und M. Weber, Freib. Diss., 1930, S. 14ff., Haller, Typus und Gesetz in der Nationalökonomie, 1950, S. 13ff. 2 Mit der logischen Klärung des Typus befassen sich namentlich E. Seiterich, Die logische Struktur (Fn. 1), K. Helfrich, Die Bedeutung des Typusbegriffs im Denken der Geisteswissenschaften, Gieß. Diss., 1938, H. Haller, Typus und Gesetz (Fn. 1). Eine im »Westkulturverlag« angekündigte Schrift von August Seiffert, Die kategoriale Stellung des Typus, lag bei Ausarbeitung dieses Kapitels noch nicht vor 3 Jahrgang IV Heft 7 (August 1951) mit Beiträgen von K. L. Wolf (Urbildliche Betrachtung), W. Troll (Biomorphologie und Biosystematik als typologische Wissenschaften), A. Remane (Das Problem des Typus in der morphol. Biologie), E. Kretschmer (Der Typus als erkenntnistheoretisches Problem), K. Strunz (Zur Methodologie der psychol. Typenforschung), E. Lewy (Die Lehre von den Sprachtypen), sodann Jahrgang V Heft 4 (Mai 1952) mit Beiträgen von H. J. Wolff (Typen im Recht und in der Rechtswissensch.), J. v. Kempski (Zur Logik der Ordnungsbegriffe, besonders in den Sozialwissenschaften), W. Knapp (Möglichkeit und Ziel einer Typol. in der Burgenkunde), Th. Schieder (Der Typus in der Geschichtswissensch.), J. E. Heyde (Typus. Ein Beitrag zur Typologik), F. Brock (Die Bedeutg. des Typusbegriffes f. d. biol. Eigenweltforschg.). In diesen Aufsätzen findet man weitere Literatur. Ein Nachzügler : B. Zittel, Der Typus in der Geschichtswissenschaft Stud. gener. V Heft 6 (1952), S. 378ff. 4 Heyde, Typus. Ein Beitrag zur Typologik, Stud.[ium] gen.[erale] V 4 (1952) § 3.

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tierende oder anschauliche Abstraktion5. Eben dies letztere läßt freilich sofort den Verdacht aufkommen, daß der Typus in der Welt des Allgemeinen oder des Abstrakten eine Sonderstellung einnimmt, vielleicht eine Mittelstellung zum Konkreten hin. In der Tat stehen wir ja beim Typus vor folgender Frage6 : allgemein und abstrakt [239] sind Begriff und Gesetz; soll nun auch der Typus allgemein und abstrakt sein, wodurch unterscheidet er sich dann vom Begriff oder vom Gesetz? Wir antworten: im heutigen Gebrauch ganz wesentlich dadurch, daß er vergleichsweise konkret ist. […] [262] […] Allen modernen Auffassungen vom Typus, allen Gegenüberstellungen von Typus und Allgemeinbegriff liegt zugrunde die Idee, daß der Typus auf die eine oder andere Weise, aber auch: auf die eine und die andere Weise7 »konkreter« ist als der Begriff. Wir wollen mit dieser These das [263] »Wesen« des Typus nicht erschöpft haben8. Es genügt uns, daß wir dasjenige Wesens5 Über Typus und Abstraktion s. z. B. H. Maier, Philos.[ophie] d.[er] Wirklichk[ei]t. I, 1926, S. 180f., II, 1934, S. 564ff., Strunz, Stud.[ium] gen.[erale] IV 7 (1951), S. 410ff., v. Kempski, Stud.[ium] gen.[erale] V 4 (1952), S. 209f. (mit Hinweis auf Eucken). 6 Vergl. Heyde, Typus. Ein Beitrag zur Typologik, Studium generale V 4 (1952), S. 240, Haller, Typus und Gesetz in der Nationalökonomie, 1950, S. 15/6. 7 Außer bei H. Maier konnten wir Kombinationen verschiedener Arten des Konkreten am Typus namentlich wahrnehmen bei Dilthey (der Typus ist ganzheitlich und individuell), Troll (der Typus ist real, anschaulich und spezifisch), sowie Heyde (der Typus ist anschaulich und ganzheitlich). Mehr über »Mischformen« auszuführen, ist wohl nicht nötig, da die Bemerkungen über die Mischformen des Konkreten in Kap. 1 sinngemäß auch hier gelten. 8 Nur anmerkungsweise können wir den Blick noch lenken auf die Unterschiedlichkeit in der logischen Handhabung von Typus und Allgemeinbegriff. Öfters wird betont, daß unter den Typus nicht in gleichem Sinne »subsumiert« werden könne wie unter den Allgemeinbegriff. S. z. B. Burkamp, Logik, 1932, § 180 (»Ein Typus soll nicht als exakter Subsumtionsbegriff dienen, sondern als Richtpunkt für Individuen bestimmter Art«) oder Jaspers, Psychopathol., 4. Aufl., 1946, S. 363 Abs. 2, und Die Schuldfrage, 1946, S. 38/9 (Charakteristiken von Volksgruppen »treffen nie Gattungsbegriffe, unter denen die einzelnen Menschen subsumiert werden können, sondern Typenbegriffe, denen sie mehr oder weniger entsprechen«), oder Strunz, Studium generale IV 7 (1951), S. 412 1. (unter den Klassenbegriff sind viele Individuen »subsumierbar«, der Typus »stellt nur ein Vergleichsmaß gegenüber der Wirklichkeit dar«. »Die Verifizierbarkeit beschränkt sich jetzt auf wenige, sog. reine Fälle.«). Vergl. ferner Heyde, Studium generale V 4 (1952), S. 235, 242, Zittel, Stud.[ium] gen.[erale] V 6 (1952), S. 379 1. und auch schon hier : H. J. Wolff Stud.[ium] gen.[erale] V 4 (1952), S. 195, 201/2. Man wird natürlich zu überlegen haben, für welche Gestalt von Typus dies jeweils gemeint ist. Für den Idealtypus sagt M. Weber ebenfalls ausdrücklich, daß er kein »Schema, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte«, ist (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, S. 194). Ebenso erklärt Larenz für seinen konkret-allgemeinen Begriff, daß unter ihn das Besondere und Einzelne »nicht subsumiert, sondern nur ihm eingegliedert oder aus ihm entwickelt wird« (Deutsche Rechtswissenschaft 5 [1940], S. 285, vergl. ferner S. 287, 297f.). Über die Eigentümlichkeiten der Abstraktion und Repräsentation beim Typus sprachen wir schon. Aber auch die Definition und Division des Typus bedürfte näherer Beleuchtung. So wird man bei Typeneinteilungen eher als bei Einteilungen von Allgemeinbegriffen damit rechnen dürfen oder müssen, daß sich die Einteilungsglieder gegenseitig nicht ausschließen oder daß die Einteilung nicht erschöpfend ist. Beides läßt sich z. B. an der

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element herausgehoben haben, das den Typus mit dem Generalthema unserer Abhandlung verknüpft. Es liegt uns nun ob, die Verwendung des Typus im Recht und in der Rechtswissenschaft daraufhin zu untersuchen, wieweit die im »Typus« steckenden Momente der Konkretisierung hier wirksam werden. Zuvor aber ist es tunlich, einige terminologische Klärungen vorzunehmen und noch einen Überblick über die allgemeine Struktur der Objekte zu gewinnen, die sich nach bisheriger philosophischer Lehre überhaupt für die Anwendung des »Typus« eignen. Blicken wir zurück, so konnten wir – um nun kurze charakterisierende termini einzuführen – unterscheiden: I. den Realtypus mit den Unterarten des Urbildtypus, des empirischen Typus (insbesondere des Durchschnittstypus und des Häufigkeitstypus), des Ordnungstypus und des repräsentativen Typus, II. den Anschauungstypus, III. den ganzheitlichen [264] Typus, IV. den Arttypus, der insbesondere auch am »Idealtypus« vorfindbar ist, V. den Individualtypus. Bei allen diesen verschiedenen »Typen« wird man aber bei Gebrauch des vieldeutigen Wortes »Typus« als jeweils darunter verstanden noch streng zu unterscheiden haben zwischen9 : 1) Dem Typus als solchen, dem »Typus schlechtweg« (Heyde), wie er Gegenstand der »Typologik« ist, und den besonderen Typen, wie sie Gegenstand der verschiedenen Typologien oder Typenlehren sind (Typus des Schizothymen usw. nach der Kretschmerschen Typenlehre). 2) Dem Typus als logischer Figur neben Allgemeinbegriff und Individualbegriff einerseits und dem Typus als Objektsbereich, auf den jener erstere abzielt, andererseits. Man spricht dort auch von »Typusbegriff«10. Doch ist dieser Ausdruck als in sich widerspruchsvoll beanstandet worden, weil der Typus ja gerade im Gegensatz zum Begriff stehe11. Unterscheidet man aber zwischen einem Begriff im weiteren Sinne und einem Begriff im engeren Sinne (der letztere als Gegensatz zum Typus im logischen Sinne verstanden, als reiner Allgemeinbegriff oder Klassenbegriff oder Gattungsbegriff), so kann man auch den Typus im Sinne der logischen Figur als Typusbegriff, nämlich als Begriff im weiteren Sinne (im Gegensatz zum Objektsbereich) bezeichnen. Kretschmerschen Typenlehre demonstrieren. Schließlich fungiert ev. der Typusbegriff auf andere Weise im Schlußverfahren als der strenge Begriff. Man wird z. B. darauf achten müssen, daß typisierende Urteile möglicherweise nur partikuläre Dignität besitzen. Ober »die Fähigkeit der Vergangenheitstypen, in einer gewissen Art von Syllogismen die Rolle der Mittelbegriffe zu übernehmen«, s. Maier, Philosophie der Wirklichkeit II, 1934, S. 568f. Selbstverständlich soll nicht behauptet werden, daß es ein eigenartiges typisierendes Schlußverfahren gibt. 9 Hierzu besonders verdienstlich Heyde, Typus. Ein Beitrag zur Typologika, Studium generale V 4 § 3 (1952), S. 235ff. 10 So z. B. Hempel-Oppenheim. 11 Heyde, Typus. Ein Beitrag zur Typologika, Studium generale V 4 § 3 (1952), S. 235, 240.

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3) Innerhalb des Objektsbereichs »Typus« muß man wieder auseinanderhalten den Typus als Gruppe von Objekten (z. B. »der Deutsche«, »die mittelalterliche Stadt«, »die Stadtwirtschaft«) und das einzelne der Gruppe zugehörige, evtl. besonders repräsentative Objekt (z. B. »Rothenburg, der Typus der mittelalterlichen Stadt«, »Napoleon, der Typus des Eroberers«12. Bis zu einem gewissen Grade spiegelt sich diese Unterscheidung bereits in der früher behandelten Unterscheidung zwischen Typus im Sinne der ganzen Reihe und Typus im Sinne eines repräsentativen Punktes innerhalb der Reihe. Jedoch gibt es den repräsentativen Typus, wie wir sahen, auch als Abschnitt, und innerhalb dieses Abschnitts kann es dann wieder einen einzelnen »Träger« geben, der dann als »Typus« den ganzen Abschnitt repräsentiert. Hier ist auch des häufig gebrauchten Wortes »typisch« zu gedenken. Das Typische ist das Einzelne, das als besonders repräsentativ dem betreffenden Typus zugehört, es ist der vorzugsweise charakteristische Fall des Typus, ist also im Grunde identisch [265] mit dem eben an zweiter Stelle genannten Typus (wir können daher auch sagen: »Napoleon ist der typische Eroberer«13. […] [266] [S]o dürfen wir nunmehr den Versuch machen, die Hauptanwendungen des Typus in Recht und Rechtswissenschaft diesem Gesichtskreis einzufügen und dabei zu ermitteln, wieweit die mit dem Typus verknüpften Konkretisierungsideen bemerkbar werden. Wir werden dabei als Ariadnefaden in der Hand behalten den tatsächlichen Gebrauch des Wortes »Typus«, ohne uns doch nur an ihm zu orientieren. In der Sprache des Gesetzgebers kommt die Vokabel »Typus« unmittelbar kaum vor. Dennoch werden von der Wissenschaft gewisse Gesetzesbegriffe mit soviel Nachdruck als Typenbegriffe angesprochen, daß wir mit dem Vorkommen von solchen auch im Recht selbst rechnen müssen. Umgekehrt ist in der Rechtswissenschaft als solcher fast eine Inflation des Wortes »Typus« zu befürchten, obwohl man zur Vermutung neigen möchte, daß diejenigen, die sich des »Typus« in gelehrten Untersuchungen bedienen, dies mit einiger Bewußtheit 12 Vergl. Heyde, Typus. Ein Beitrag zur Typologika, Studium generale V 4 § 3 (1952), S. 235, 236/ 7. Ein weiteres Beispiel bei Dilthey, Einleitg. i. d. Geisteswissensch., Ges. Schr. I, 6. Aufl. 1966, S. 351, (»Ein solcher Typus ist Petrarca, der mit Recht als der erste Repräsentant des modernen Menschen…aufgefaßt wird«). Vergl. auch Peters, Einheitsstrafe bei Verbrechensmehrheit, FS f. Kohlrausch, 1944, S. 199: Typus ist für ihn bald eine Gruppe von Objekten, die bestimmte Merkmale gemeinsam haben, bald der Träger der Merkmale. 13 Über eine etwas andere Verwendungsweise des Wortes »typisch« vergl. Heyde, Typus. Ein Beitrag zur Typologika, Studium generale V 4 (1952), S. 235, 238: einzelne Eigenschaften (z. B. oval) können typisch sein im Sinne von kennzeichnend für einen Typus als Objektsbereich (z. B. für Barockbauten). Das jener Eigenschaft entsprechende begriffliche Merkmal (oval) ist dann ein besonders »wesentliches« Merkmal des betr. Typusbegriffs (des Barockbaus). Zu »typisch« vergl. ferner noch Wellek, Typus und Struktur, in: Archiv für die gesamte Psychologie 100 (1938), und H. Maier Philosophie der Wirklichkeit II, 1934, S. 570.

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tun. Ein Zurückschneiden der Auswüchse eines Schwelgens in »Typen« wird man sich vorbehalten müssen. Treten wir zunächst an das Recht selbst und seine Begriffe heran, so bietet gleich das Muster einer Typisierung das Strafrecht. Hören wir den Protagonisten des Typusgedankens im Strafrecht: Ernst Beling! »Die [267] Zeiten sind vorüber, in denen jede rechtswidrige schuldhafte Handlung ohne weiteres die Strafdrohung entfesselte. Das verschwommene Epitheton … ›mit Strafe bedroht‹ gewinnt feste Gestalt erst, wenn wir uns darüber klar werden, daß heute nur fest umrissene Verbrechenstypen unter die Strafdrohung fallen können.« […] Das ist auch der eigentliche Sinn des Grundsatzes nullum crimen sine lege. […] [270] Allgemein darf nun gesagt werden: Das Recht, sei es Gesetzesrecht, sei es Gewohnheitsrecht14, strebt nach Typisierung. Es entspricht dies, wie wir schon einzelnen Zitaten oben […] entnehmen konnten, der Normennatur des Rechts. Aber während es dort um den Gegensatz der typisierenden Normierung und der individualisierenden Gerechtigkeit ging, müssen wir uns jetzt die Frage stellen, warum man so gerne von Typen und Typisierung und nicht von Begriffen und Generalisierung spricht. Warum nennt man z. B. Mord, Diebstahl, Hehlerei, oder Dienstbarkeit, Hypothek, Grundschuld, oder Kauf, Miete, Darlehen usw. usf. »Typen« und nicht einfach Deliktsbegriffe, Sachenrechtsbegriffe, Schuldvertragsbegriffe usw.? Während man bei »Verbrechen«, »Handlung«, »Kausalzusammenhang«, »Rechtswidrigkeit«, »Schuld«, »subj. Recht«, »Güterstand«, »Rechtsgeschäft«, »Vertrag«, »Unmöglichkeit«, »Gläubiger« usw. von »Rechtsbegriffen« spricht. Der Grund scheint mir sehr einfach darin zu liegen, daß dort, wo immer wieder von Typen die Rede ist, gewisse konkretisierende Momente gegeben sind, wie wir sie früher als mit dem »Typus« wesentlich verknüpft kennen gelernt haben. H. J. Wolff allerdings meint, die Verbrechenstypen seien keine eigentlichen Typen im engeren Sinne, sondern »multiple Klassen«, offenbar, weil jene Typen »keine fließenden Übergänge zwischen Verbrechen und Nicht-Verbrechen oder auch nur zwischen den verschiedenen Verbrechensarten« kennen15. Er meint weiter, die Vertragstypen, die allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Typen des Ehegüterrechts und dgl. mehr seien gleichfalls nicht Typen im engeren wissenschaftlichen Sinne, sondern nur Typen im Sinne von »Muster«16. Aber unter dem Blickwinkel der anderen oben herausgestellten Typusbedeutungen liegt genügend Grund vor, von »Typen« zu sprechen. Am stärksten fällt in die Augen, daß die Deliktstypen, Vertragstypen usw. – und zwar 14 Zur gewohnheitsrechtl. Schaffung v. Verbrechenstypen in der Vergangenheit Beling, Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 22. 15 Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale V 4 (1952), S. 195, 203. 16 Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale V 4 (1952), S. 195, 201.

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als Gedankengebilde, als Typenbegriffe verstanden – eine spezifische Bedeutung haben und insofern als relativ konkret unterhalb solcher Allgemeinbegriffe wie »Unrecht«, »Schuld«, »Schuldverhältnis« usw. stehen17. »Das Verbrechen« ist ein Allgemeinbegriff, [271] »der Mord« dagegen ein Typus. Auch darum wird man geneigt sein, bei den Deliktstypen, Vertragstypen usw. von »Typen« zu sprechen, weil es sich hier überall um rechtshistorisch gewachsene Individualitäten auf der Begriffsebene handelt18. Im Gegensatz zu den Allgemeinbegriffen »strafbare Handlung«, »Rechtsgeschäft«, die sich mehr als Produkt einer juristischen Abstraktion und Kunstsprache darstellen! Als bei einzelnen Völkern mit jeweils besonderem Gehalt geprägte Begriffe bilden jene Typen gleichsam historische Individualitäten höherer Ordnung und nehmen damit jene »Mittelstellung« ein, die wir als dem Typus eigen kennen lernten. Kein Zweifel kann auch sein, daß den Deliktstypen, Vertragstypen usw. eine relative Anschaulichkeit zukommt19. Larenz legt beim rechtlichen »Typus« besonderes Gewicht auf die Ganzheitlichkeit: der Typus ist »nicht nur eine Summe abstrakter Merkmale, sondern ein sinnbestimmtes Ganzes«20. In diesem Sinne sind z. B. nach Larenz die verschiedenen Eigentumstypen verschiedene Ausgestaltungen »des Sinnes von, etwas innerhalb der Gemeinschaft zu eigen haben«21. Ob man allerdings dieses Charakteristikum überall dort wahrnehmen kann, wo von Typen zum Unterschied von Rechtsbegriffen gesprochen wird, ist immerhin zweifelhaft. Bei Larenz22 schwingt auch der Gedanke mit, daß dem Typus ein »innerer Sinn« und eine »Funktion innerhalb eines größeren Ganzen« im Sinne gleichsam einer juristischen Entelechie innewohnt. Dann würden wir mit unseren Deliktstypen usw. auch in die Nähe des Realtypus als des Bauplans gelangen23. Indessen ist diese schon einigermaßen rechtsmetaphysische Auffassung nicht in dem Maße bindend und für die bisher ins Auge gefaßten Typen zu wenig allgemeingültig, als 17 Vergl. dazu auch Larenz, Gegenstand und Methode des völk. Rechtsdenkens, 1938, S. 43ff. Hier findet man die charakteristische Bemerkung über den Typus: »sein Anwendungsbereich ist enger, sein Inhalt aber reicher« als der des »abstrakt-allgemeinen Begriffs«. Über Eigentumstypen als spezifische Gebilde s. bereits Kap. 6, S. 153f. [im Original]. 18 Vergl. Kap. 7, S. 231ff. [im Original]. 19 Für die »Unrechtstypen« fordert »konkrete und anschauliche Tatbestände« Dahm, Deutsches Recht, 1944, S. 430. 20 Larenz, Gegenstand und Methode des völk. Rechtsdenkens, 1938, S. 45. S. a. den Aufsatz über typologisches Rechtsdenken im Arch. Rechtsphilos. XXXIV, 1940/1, S. 20–30. (Der Typus ein »Gefüge«, ein »sinnvoll strukturiertes Ganze«. S. 20). 21 Gegenstand usw. S. 50. 22 Larenz, Gegenstand und Methode des völk. Rechtsdenkens, 1938, S. 45. 23 Anklänge an diesen Gedanken finden wir auch bei Radbruch, wenn er – allerdings mit Bezug auf den Weberschen Idealtypus – meint, daß in den Typen »das Wesentliche, der Sinn empirischer Erscheinungen und so auch die Natur der Sache erfaßt wird«. Launfestschrift, 1948, S. 172; s. daselbst auch S. 162 und 164/5. Über den Zusammenhang zwischen Typus und Natur der Sache s. ferner Coing, Grundz. d. Rechtsphilos., 1. Aufl. 1950, S. 121.

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daß sie die Neigung, von Deliktstypen, Vertragstypen usw. zu sprechen, erklären und tragen könnte. Wie aber verhält es sich mit den Beziehungen der genannten Typen zu jenen anderen [272] Realitäten, die dazu berechtigen könnten, von »Realtypen« zu reden? Sind unsere rechtlichen Typen etwa empirische Typen oder – was wir H. J. Wolff namentlich für die Verbrechenstypen bezweifeln sahen – Ordnungsbegriffe? Wir sahen kurz zuvor, daß die Vertragstypen nicht deduktiv, sondern induktiv gefunden werden. Entsprechendes gilt für die Deliktstypen24 und andere ähnliche Typen. Das Rechtsleben selbst hat die fraglichen Typen geboren, mag dann auch der Gesetzgeber sie in die Schule nehmen und den entsprechenden rechtlichen Tatbeständen durch bestimmte Merkmale eine festere Gestalt geben. Häufig ist das rechtlich Typische vor wie nach der Typisierung als ein »typisches« Geschehen in der Wirklichkeit anzutreffen, was besagt, daß dem rechtlichen Typusbegriff ein empirischer Geschehenstypus, ein Häufigkeitstypus von bald höherem bald geringerem Ausmaße entspricht. Nicht durchweg, aber häufig nimmt der Drang nach rechtlicher Gestaltung der Lebensverhältnisse (Vertragstypen, Güterstandstypen!) oder auch der eigensüchtige Drang nach Verletzung fremder Rechtsgüter (Deliktstypen!) den Weg, der in den rechtlichen Typen beschrieben ist. Und wo das Rechtsleben neue Typen schafft, wo also das scheinbare Paradoxon typischer »atypischer« Verträge entsteht25, folgt der Gesetzgeber vielfach den vom Leben vorgezeichneten Spuren, wie er umgekehrt dort, wo das Leben ihm nicht oder nicht mehr folgt, einen Typus aus seinem Katalog streichen mag. Andererseits ist es immer eine Frage für sich, ob und wieweit die rechtlichen Typen sich innerlich abhängig machen von der Typizität der Lebenserscheinungen. Es gibt rechtliche Typen, die als solche Bestand haben, obwohl sie lebensfremd sind, sich also so, wie der Gesetzgeber es sich vorgestellt hat, niemals oder nur ganz selten realisieren, es gibt ferner rechtliche Typen, die auf gewisse typische Daseinsgestaltungen hingeprägt sind, die dann aber auf Grund ihrer vom Gesetzgeber vorgenommenen begrifflichen Umschreibung auch auf atypische, anormale Fälle, auf »Grenzfälle« zutreffen. Angesichts gerade dieser letzteren Möglichkeit bricht noch einmal die Frage auf nach dem Verhältnis von Recht und Leben, von rechtlichem Typusbegriff nämlich und empirischer Typizität, wir können auch sagen: von Norm und Normalität. Können etwa die rechtlichen Tatbestände derart gedeutet werden, daß sie nur auf die ihnen in 24 S. z. B. Dahm, Deutsches Recht, 1944, S. 433 u.: »Begriffe wie Mord oder Diebstahl werden vom Gesetzgeber nicht erst erfunden, sondern er zeichnet sie nach.« 25 Vergl. Heck, Schuldrecht, 1929, S. 245: »Daraus, daß ein Vertrag im Gesetze nicht geregelt ist, folgt natürlich nicht, daß auch das Leben ihn nicht mit einem gewöhnlichen typischen Inhalt ausstattet. Das Gegenteil ist sehr häufig. Die im Gesetzessinne atypischen Verträge sind sehr häufig verkehrstypisch.« Beispiele daselbst.

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typischer Weise gemäßen Erscheinungen zur Anwendung gebracht werden? [273] Dies ist nun schon ein neuer, recht weitläufiger Fragenkreis, denn wir berühren damit den Problemkomplex der Interpretationsmethoden. Wir müssen uns zurückhalten und uns auf das für unseren Zusammenhang Wesentliche beschränken. Wir fassen zunächst einzelne Beispiele ins Auge, an denen sich zeigen läßt, wie etwa ein rechtlicher Typusbegriff seinem Gehalt nach an der empirischen Typizität orientiert sein kann. Wir gehen dabei wieder nach Sachgebieten vor. Innerhalb des Strafrechts wird man heute vielleicht in erster Linie denken an die Ausrichtung gewisser Rechtstypen und Rechtsinstitute an Menschentypen, Persönlichkeitstypen, kriminellen Typen26. Wir denken da etwa an den »Jugendlichen«, den »Überzeugungsverbrecher«, den »Landstreicher«, den »gefährlichen Gewohnheitsverbrecher«. […] [274] Wir halten uns an das Paradebeispiel des Gewohnheitsverbrechers. In welchem Sinne können wir hier von einem »Typus« sprechen? Sicher nicht im Sinne des Idealtypus, denn unser Verbrechertyp ist nicht konstruiert, sondern empirisch bestimmt27. Wir müssen einen Häufigkeitstypus annehmen und zwar in dem Sinne, daß bei der species der mehrfach Rückfälligen, wie sie der § 20a StGB umschreibt, erfahrungsgemäß der »eingewurzelte Hang zum Verbrechen« häufig ist, so daß also dieser Hang für den mehrfach Rückfälligen typisch ist28. Innerhalb der Verbrecherart der Rückfälligen bildet der Gewohnheitsverbrecher einen empirischen Häufigkeitstypus, und zwar offensichtlich zunächst im Sinne eines Typus als eines besonderen Objektsbereichs29. Auf diesen Lebenstypus nimmt dann aber der rechtliche Typusbegriff des Gewohnheitsverbrechers in § 20 a (und § 42 e) mit der Maßgabe Bezug, daß sich der Richter bei Anwendung des Begriffs des Gewohnheitsverbrechers am Lebenstyp orientieren soll: er soll den Rechtsbegriff nur dort anwenden, wo der Delinquent dem Lebenstypus des Gewohnheitsverbrechers zugehört. Dieser Typusbegriff dürfte zugleich dank seiner relativen

26 Man spricht gerne von einer »Tätertypik« zum Unterschied von einer »Tattypik«. S. z. B. Mezger, Tatstrafe und Täterstrafe, ZStrW 60 (1941), S. 358ff. Doch interessiert hier weder das Verhältnis von Tat und Täter noch das von Tattypik und Tätertypik als solches. Es geht uns jetzt da wie dort nur die Beziehung der Rechtstypen zu den Lebenstypen an. Das Ausgehen von der Tätertypik im Text hat also keine systematische Bedeutung. 27 Immerhin meint Exner, Schweiz. Z.[eitschrift] f. Strafr.[echt] 38 (1925), S. 11, der Verbrechertypus, dem ein Individuum vom Richter eingeordnet werde, bedeute »einen Idealfall«, dies aber nur im Hinblick darauf, daß eine »konkrete« Persönlichkeit niemals in vollkommener Weise die Merkmale des Typus verwirkliche, außerdem auch immer atypische Merkmale aufweise. Dieses Verhältnis von Einzelfall und Typus kann aber auch dann obwalten, wenn der Typus empirisch gefunden ist und nicht im logisch strengen Sinne ein Idealtypus ist. 28 Vergl. oben S. 242 Anm. 21 [im Original]. 29 Vergl. oben S. 264 Zr. 2. [im Original].

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Prägnanz Anschauungstypus sein. Zu denken wäre gerade hier auch an die »komparativ-anschau-[275]liche Abstraktion« H. Maiers […]. [276] […] Das gleiche können wir aber schließlich auch beobachten im Rahmen der sogenannten eigentlichen »Tattypik«. Gerade soweit die gesetzlichen Tatbestände »Unrechtstypen« sind, erweisen sich die Typenbegriffe in aller Regel als auf Lebenstypen bezüglich. Das tritt z. B. deutlich da hervor, wo die gesetzlichen Begriffe implicite oder explicite auf die Verkehrs-[277]sitte und dergleichen hinweisen. Wenn etwa verkehrsübliche Drohungen zur Erreichung eines Zwecks keine Nötigung oder Erpressung bedeuten, oder der Verkehrssitte entsprechende Geschenke an einen Beamten keine Bestechung (§ 331) darstellen, oder wenn indizierte und kunstgerecht durchgeführte Operationen zu Heilzwecken in Übereinstimmung mit der alltäglichen Anschauung keine Körperverletzung sind, oder wenn sich die »Beweisbestimmung« einer Urkunde (§ 267 StGB) danach bemißt, ob die Beweisbestimmung für eine solche Urkunde »typisch« ist30, so bequemt sich hier überall der gesetzliche Typus der Typizität der Lebenserscheinungen an. Wenn weiter der Gesetzgeber sich in § 185 StGB über den Unrechtstypus »Beleidigung« ausschweigt, so ist sicher, daß er erwartet, daß die Auslegung und Anwendung des Begriffs ganz wesentlich im Hinblick auf den Lebenstypus der Beleidigung geschieht, daß also von Rechts wegen das als Beleidigung gilt, was nach der maßgeblichen Lebensanschauung eine »typische« Beleidigung ist, weshalb z. B. bloße Takt- und Rücksichtslosigkeiten sowie abfällige Äußerungen über Dritte im engsten Familienkreise nicht als »Beleidigungen« anzusehen sind. Damit soll beileibe nicht ein asylum ignorantiae eingerichtet werden. Das »Leben« hat seine Gründe, wenn es seine Typen schafft. Diesen Gründen soll man nachgehen, z. B. den Gründen dessen, daß eine Äußerung im Familienkreise nicht als typische Beleidigung angesehen wird. Man soll diese Gründe formulieren und die Typusbegriffe entsprechend definieren. Entscheidend ist, daß wir uns bei der Auslegung der rechtlichen Typusbegriffe nach der Typik der Lebensphänomene umsehen und richten. Eine derartige Orientierung kann auch übergreifen auf Rechtsbegriffe von einer gewissen Allgemeinheit, die wir als solche gewöhnlich nicht mehr Typen nennen, die aber dadurch, daß sie mit den besonderen Unrechtstypen in Verbindung treten, an deren Bezüglichkeit auf die Lebenstypen teilhaben. Ich denke hier an Begriffe wie Kausalität, Begehung durch Unterlassung, erlaubtes Risiko, sozial-adäquates Verhalten, Außerachtlassung der im Verkehr geforderten Sorgfalt, Unzumutbarkeit. Indem die Kausalität als Merkmal der gesetzlichen Tatbestände und damit als einen Unrechtstypus mitbegründend verstanden wird, erscheint es als gerechtfertigt, sie – mit der sogenannten Adaequitäts-

30 Siehe zum letzten Kohlrausch-Lange, Strafgesetzbuch, 39./40. Aufl. 1950, III 5 zu § 267.

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theorie – auf typische Kausalverläufe einzuschränken31, oder sie – mit Beling – nur auf solche [278] Kausalverläufe zu beziehen, die nach dem »Lebenssprachgebrauch« und »dem Vorstellungsbilde, das der jeweils in Rede stehende gesetzliche Tatbestand mit sich bringt«, durch den »Deliktstypus« sinnvoll betroffen sind32. […] [281] […] Bisher haben wir aber den Zusammenhang von Rechts- und Lebenstypus nur an einzelnen Beispielen bzw. Beispielsgruppen demonstriert. Es fragt sich, ob eine Verallgemeinerung statthaft ist, ob also behauptet werden darf, daß immer und überall oder wenigstens in bestimmten Bereichen der Gesetzgeber mit dem Rechtstypus33 auf einen Lebenstypus [282] ziele. Carl Schmitt hat in seinen »Drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens« (1934) die These aufgestellt: »Wir wissen, daß die Norm eine normale Situation und normale Typen voraussetzt … Eine gesetzliche Regelung setzt Normalbegriffe voraus … Eine Norm mag sich so unverbrüchlich geben wie sie will, sie beherrscht eine Lage nur soweit, als die Lage nicht völlig abnorm geworden und solange der als normal vorausgesetzte konkrete Typus nicht verschwunden ist. Die Normalität der konkreten, von der Norm geregelten Lage und des von ihr vorausgesetzten konkreten Typus ist … ein inneres, juristisches Wesensmerkmal der Normengeltung und eine normative Bestimmung der Norm selbst. Eine reine, situationslose und typenlose Norm wäre ein juristisches Unding«34. Mit diesen Gedanken steht nun Schmitt keineswegs allein. Man findet ähnliche 31 Über den Zusammenhang von Adaequität und Typizität s. z. B. von Bar, Gesetz und Schuld II, 1907, S. 182/83, Frank, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 18. Aufl., 1931, S. 12/13, LisztSchmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 26. Aufl., 1932, S. 168 (Die Theorie der adaequaten Verursachung betrachtet »nur die typische Verursachung als Verursachung im Rechtssinne«. »Der konkrete Verlauf muß dem aus der menschlichen Erfahrung gewonnenen typischen Bilde adaequat … sein«). Selbstverständlich ist die Typizität hier im Sinne eines Häufungstypus zu verstehen. 32 Beling, Grundzüge des deutschen Strafrechts, 11. Aufl. 1930, S. 36/37. Vgl. auch Wegner, Strafrecht, Allg. Teil, 1951, S. 8/9. »Typus« ist hier nicht nur ein empirischer Typus, sondern zugleich auch wieder ein Anschauungstypus. 33 Übrigens nicht notwendig nur mit dem einzelnen Rechtstypus als solchem, sondern auch bei Bestimmung des Verhältnisses verschiedener Rechtstypen zueinander. Ist z. B. für die Bestimmung des Verhältnisses von Münzdelikt und Betrug oder von Einbruchsdiebstahl und Hausfriedensbruch nicht das typische d. h. regelmäßige Zusammentreffen in dem Sinne maßgebend, daß um dessentwillen der Betrug im Münzdelikt oder der Hausfriedensbruch in Einbruchsdiebstahl aufgeht? S. z. B. aus neuerer Zeit Peters, Einheitsstrafe bei Verbrechensmehrheit, FS f. Kohlrausch, 1944, S. 222: Es kommt nicht darauf an, »daß der eine Tatbestand den anderen stets umfaßt, sondern darauf, daß die von dem Tatbestand erfaßten konkreten Lebensvorgänge in ihren typischen Erscheinungsformen auch dem anderen unterliegen«. Allerdings müssen hier an die Typizität des Zusammentreffens ganz besonders hohe Anforderungen gestellt werden. 34 C. Schmitt, Drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 22f. S. ferner daselbst S. 10 und S. 20f. Der Zusammenhang läßt erkennen, daß dabei C. Schmitt den Typus als ein Reales, Spezifisches und auch relativ Anschauliches ansieht.

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Formulierungen bei Zitelmann, Sauer, Welzel, Dahm, und auch noch nach 1945 bei Jagusch, Jerusalem, Müller-Erzbach und Coing35. Etwas zurückhaltender sagt jetzt H. J. Wolff: »Oft bleiben die sozialen Typen in [283] den Rechtssätzen enthalten«36. In der Tat muß man sich vor Übertreibungen hüten. Auch das Atypische kann einem gesetzlichen Tatbestand (im weitesten Sinne) unterfallen, sofern es sinngemäß getroffen ist. Dieser Gedanke kam schon bei der Kritik der steuerrechtlichen Typenlehre durch Bühler und Wolff zum Durchbruch. Er gilt aber auch sonst. Es ist z. B. nicht einzusehen, warum besonders raffiniert ausgeklügelte Verbrechen (Tötungen, Betrügereien usw.) nicht auch von den strafgesetzlichen Tatbeständen erfaßt werden sollten, obwohl sie nicht lebenstypisch sind […]. Insofern ist es vielleicht doch richtig, zwischen Adäquität und Typizität des Kausalverlaufs zu unterscheiden und letztlich auf jene abzustellen: lebens- und verkehrstypische Kausalverläufe mögen zwar grundsätzlich adäquat, d. h. zur Bewirkung des Erfolges nach Erfahrungsregeln geeignet sein, es gibt aber auch adäquate und damit zurechenbare Kausalverläufe, die im Verkehrssinne atypisch, abnorm, ungewöhnlich sind […]. Sodann: Wie wir früher schon sahen, gibt es in Grenzen auch eine »Individualisierung« im Recht. Sie konkurriert mit der Typisierung. Das Billigkeitsrecht, die unbestimmten Begriffe, die normativen Tatbestandselemente, die Generalklauseln und Ermessensspielräume werden zwar von der Rechtspraxis in weitem Umfange typisierend ausgewertet37, aber sie können auch dazu dienen, der besonderen Eigenart, 35 Zitelmann, Lücken im Recht, 1903, S. 23 (Der Gesetzgeber hat »das Typische der Fälle vor ihrer Einzelgestaltung sehend den allgemeinen Satz geschaffen«); Sauer, Jur. Methodenlehre, 1940, S. 159ff. (Das Gesetz »kann … nur den Durchschnitt der Fälle seiner Regelung zugrundelegen«. »Das Gesetz rechnet nicht mit Idealmenschen, sondern mit Durchschnittsnaturen; es schafft Typen, wie den Normal- oder Durchschnittsmenschen, den Durchschnittsbeamten …«); Welzel, Studien zum System des Strafrechts, ZStrW. 58 (1939), S. 517, 527ff.; Dahm, Der Tätertyp, 1940, S. 23 (Die Rechtsbegriffe sind so zu gestalten, daß sie »nur das Typische in sich vereinen, oder doch das Unvergleichbare und Untypische ausschließen«), S. 35 (»jede Norm auf typische Sachverhalte gerichtet«, daher hat der Richter die Aufgabe, »auch ohne besondere Ermächtigung durch das Gesetz die untypischen … Lebenserscheinungen von der Gesetzesanwendung auszuschließen«); derselbe Deutsches Recht, 2. Aufl., 1951, S. 174 (Den Generalklauseln sind »durch einschränkende, auf typische Lebensverhältnisse beschränkte Entscheidungen Grenzen zu ziehen«, so entsteht »typisches Lebensrecht …«); Jagusch, Rechtsnorm und Normsituation, SJurZt [Schweizerische Juristenzeitung] 1947, S. 295ff. (»jede Gesetzes- oder Vertragsnorm inhaltlich an die ihr zugrundeliegende typische Normsituation gebunden«; Beispiele aus der Nachkriegszeit!); Jerusalem, Kritik d. Rechtsw., 1948, S. 21ff. (vergl. aber auch S. 239f.); Müller-Erzbach, D.[ie] Rechtsw. im Umbau, 1950, S. 2, 53/4, 66/7 (es sind »die typischen Lebensmöglichkeiten, auf welche das Recht … abstellen muß«), S. 68f., usw.; Coing, Grundz. d. Rechtsphilos., 1. Aufl. 1950, S. 17 (»Die Rechtsordnung interessiert sich nicht für Individualitäten, sondern nur für das Typische …«). 36 Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale V 4 (1952), S. 195, 200. 37 Insofern also ganz richtig Dahm, Deutsches Recht. Die geschichtlichen und dogmatischen

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der Einzigartigkeit eines Rechtsfalles auf die früher beschriebene Weise gerecht zu werden. Schließlich ist zu bedenken, daß das Recht zum Teil dazu berufen ist, gegen den Strom zu schwimmen, dem gewöhnlichen Lebenstypus entgegenzutreten, einen neuen Typus zu formen. […] [284] Weder die Individualität noch der Lebenstypus noch der im letzterwähnten Sinne normative Typus ist schlechthin maßgeblich, sondern bald das eine, bald das andere. Bei der Erörterung des Typus im Recht und seiner Anwendung blieb bisher im Hintergrund der Typus als »Ordnungsbegriff«, obwohl ja gerade auch er in den Bannkreis des Problems Recht und Leben gehört. Aber er bedarf angesichts seiner Bedeutung und Komplexität abgesonderter Betrachtung. Zunächst möchten wir betonen, daß uns nunmehr nicht die Fragen interessieren, ob und wieweit die Rechtstypen selbst (die Verbrechenstypen, die Vertragstypen usw.) untereinander in einer Reihe angeordnet werden können, inwieweit das Übergehen eines Rechtstypus in den andern irgendwelchen Regeln folgt. Diese Fragen sind zwar wichtig und interessant, führen aber zu sehr ins Spezielle der juristischen Typologie38. Von grundsätzlicher Bedeutung ist aber die Frage, ob die einzelnen rechtlichen Typenbegriffe für sich genommen mit Bezug auf die zugehörigen Erscheinungen »Ordnungsbegriffe« sind, wobei wir jetzt wegen ihrer besonderen Exaktheit die Hempel-Oppenheimsche Fassung Grundlagen des geltenden Rechts, 2. Aufl. 1963, S. 174 (vergl. oben S. 282 Anm. 183 [hier Fn. 34]). 38 Hingewiesen sei aber darauf, daß Heck, wenn er von einer »Typenreihe« der Vertragstypen spricht (oben S. 269 [i. O.]), damit gerade keine exakte Reihe, sondern einen bloßen Katalog meint. Strengere Anforderungen an eine »Typenreihe« stellt Larenz, Gegenstand und Methode des völk. Rechtsdenkens, 1938, S. 47ff., der eben deshalb »die einzelnen Arten des schuldrechtlichen Vertrags, wie Kauf, Schenkung, Darlehen …« keine Typenreihe in seinem Sinne sein läßt. Was Larenz für eine Typenreihe verlangt, ist dies, daß ein Typus in den anderen durch »Abwandlungen, die auf der Änderung einzelner bedeutsamer Momente beruhen«, übergeht. S. a. denselben ArchRPhilos. XXXIV [Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (1940)], S. 21: »Dieser stufenförmige Übergang, die Abwandlungsfähigkeit, die ›Metamorphose‹ der Typen ermöglicht die Aufstellung einer Typenreihe, deren erstes und letztes Glied vielleicht, äußerlich gesehen, wenig Gemeinsames aufweisen, die aber durch die Reihe der Zwischenglieder kontinuierlich miteinander verbunden sind und denen letzthin doch ein einheitlicher Sinn zugrundeliegt.« Beispiele a.a.O. Für die strafrechtlichen Deliktstypen läßt sich wenigstens eine Reihe nach der Schwere der Strafdrohungen denken, was für eine Reihe im Sinne von Hempel-Oppenheim bereits genügen würde und auch möglicherweise praktische Bedeutung (z. B. für § 73 StGB) hätte. Auf höherer Ebene lassen sich die Auffassungen von der Zuordnung der Deliktstypen zum trichotomischen Schema des § 1 StGB in eine Art Typenreihe ordnen: Zwischen einer extrem »abstrakten« und einer extrem »konkreten« Betrachtungsweise gibt es mehr oder minder abstrakte bzw. konkrete Lehren als Zwischenstufen. So unterscheidet z. B. Lange im Kohlrauschschen Kommentar zum StGB, 1950, VI zu § 1, fünf Ansichten, die sich sehr wohl in eine Reihe ordnen lassen. Auf diese Weise entsteht ein »Ordnungsbegriff« (Reihenbegriff), den man nennen könnte: »Ordnungsbegriff der Konstruktion der strafbaren Handlung der Schwere nach« (welche Konstruktion »mehr oder minder« abstrakt oder konkret ausfallen kann).

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des Typusbegriffs als Ordnungsbegriffs zum Ausgang nehmen. Wir müssen uns dann eingestehen – was [285] wir ja auch schon von H. J. Wolff a.a.O. S. 203 betont sahen […] –, daß die rechtlichen »Typenbegriffe« häufig keine Typenbegriffe in diesem Sinne, also keine »Steigerungsbegriffe« sind. Zwar sind die meisten der oben erwähnten rechtlichen Typenbegriffe, z. B. die Deliktstypen oder der gesetzliche Typus des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers Begriffe mit unscharfen Grenzen ihres Anwendungsbereichs, indem z. B. die Grenzen zwischen Mord und Totschlag, Diebstahl und Unterschlagung, Raub und Erpressung, Gewohnheitsverbrecher und Gelegenheitsverbrecher, ferner auch die Grenzen zwischen den Deliktstypen und straflosem Verhalten (z. B. Tötung auf Verlangen und strafloser Beihilfe zum Selbstmord oder Urkundenfälschung und bloßer »Kennzeichen«-Fälschung) undeutlich und verschwommen sind. Aber unsere Gesetzgebung gestattet uns nicht, diesen Übergangserscheinungen in der Weise Rechnung zu tragen, daß wir eine Tat nur in bestimmtem Grade, mehr oder minder als Mord usw. qualifizieren könnten. Vielmehr gibt es hier stets nur ein entweder-oder. Hempel-Oppenheim nennen diese Begriffe darum nicht »Ordnungsbegriffe«, sondern »unscharfe Klassenbegriffe«. Die Spannung zwischen Recht und Leben bleibt auch bei ihnen erhalten. Der »Begriffskern« (Heck) deckt freilich gerade die vom Gesetzgeber in erster Linie »angeschauten« typischen und das heißt hier teils: besonders häufigen, teils: irgendwie repräsentativen Fälle der betreffenden Art39. Aber der »Begriffshof« umschließt auch Fälle, die an der Peripherie liegen, die sogenannten »Grenzfälle«, die nur in abgeschwächtem Sinne dem Typusbegriff zugehören, vom »Kern« her gesehen atypisch sind40. So kann »Mörder« auch derjenige sein, der ein lungenkrankes 39 Vergl. Radbruch (Zitat unten [hier bei Fn. 41]). »Repräsentative Fälle« dürften namentlich solche Fälle sein, an denen alle Merkmale des Typus besonders deutlich in Erscheinung treten. Das gilt häufig für die sogenannten Schulfälle, auch wenn sie praktisch selten sind. 40 Übrigens gilt dies nicht nur für die ausdrücklich so genannten rechtlichen Typenbegriffe, sondern auch für viele andere Rechtsbegriffe, die man als solche und nicht als »Typen« zu bezeichnen pflegt. Man denke z. B. im Strafrecht nur an die unscharfen Grenzen zwischen Vorbereitung und Versuch, freiwilligem und unfreiwilligem Rücktritt, Handlungseinheit und Handlungsmehrheit, Tatirrtum und Unrechtsirrtum, außerstrafrechtl. und strafrechtl. Rechtsirrtum. Hier überall mögen die »Begriffskerne« gut faßbar und klar von einander unterscheidbar sein, aber mancher konkrete Anwendungsfall liegt dort, wo sich die Begriffshöfe überschneiden, womit dann u. U. mehrere »in abstracto« wohl geschiedene Begriffe »bis zu einem gewissen Grade« zutreffen. Der Gesetzgeber kennt aber wieder nur das aut-aut, nicht das sowohl als auch, nicht das teilweise und gradweise Zutreffen. Bemerkenswert ist, daß wir auch bei solchen verschwimmenden Rechtsbegriffen, die wir an sich nicht »Typen« nennen, doch eben angesichts der fließenden Grenzen und Übergänge, der »Begriffshöfe«, zwischen »typischen« (im Begriffskern liegenden) und weniger typischen bzw. »atypischen« Anwendungsfällen unterscheiden. Es gibt z. B. »typische« Fälle des Versuchs (zum Unterschied von der bloßen Vorbereitung), typische Fälle des Tatirrtums usw. Wird damit nicht wenigstens der Begriffskern zum »Typus« und zwar zu einer Art von repräsentativem Typus? Dies aber nun doch nicht so, daß nur die in diesen Begriffskern,

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Mädchen schwängert in der Absicht, sie auf diese Weise ums Leben zu bringen (Beispiel von H. Mayer), oder der Denunziant, der den Denunzierten einer gefesselten Terrorjustiz ausliefert (Fall Puttfarken, wozu Radbruch, SJurZtg. 1946, S. 105ff.). Körperverletzung kann man nicht nur durch Schlagen, Stechen usw., sondern auch [286] durch Erschrecken begehen. Demgemäß kann Radbruch in der Auswertung der Schrift von Hempel-Oppenheim für das Rechtsdenken sagen41: »Gerade diese Inadäquanz der juristischen Begriffe zur Wirklichkeit, diese Ignorierung aller Zwischentöne, jedes holden Ungefährs, die schroffe Ablehnung jedes ›sowohl-als auch‹ oder ›mehr oder minder‹ sind es ja, welche vielen … das Recht, zumal das römische Recht, so abstoßend machen.« »Das heute noch herrschende Rechtsdenken steht … grundsätzlich auf der Seite der klassifizierenden Methode.« Die Kritik der klassifizierenden Methode dehnt dann Radbruch aber auch aus auf diejenigen Begriffe, die »durch die fließenden Übergänge des Lebens scharfe Schnitte legen«, wie z. B. die auf Tag und Stunde bestimmten Altersgrenzen, welche der Allmählichkeit des Reifens nicht Rechnung tragen. Dabei handelt es sich aber nun wieder um eine andere »Inadäquanz« als die zuvor behandelte der – mit den Ordnungs-(Steigerungs-)Begriffen so leicht verwechselten – »unscharfen Klassenbegriffe«, die ungeachtet ihrer »fließenden Übergänge« zu den Nachbarbegriffen oder den negativen Gegenbegriffen doch nur ein aut-aut der Anwendung oder Nichtanwendung kennen und damit eine innere logische Spannung aufweisen. Radbruch denkt jetzt auch an die Inadäquanz des scharfen Klassenbegriffs zum Leben. Hier ist immerhin eine Angemessenheit, eine »Adäquanz« nicht zu leugnen, nämlich die der Begriffsfunktion an den Anwendungsbereich. Bei scharfen Klassenbegriffen ist das Verlangen, entweder unter sie zu subsumieren oder die Subsumtion abzuweisen, angesichts eben der scharfen Konturen dieser Begriffe jederzeit sinngemäß zu erfüllen: jemand ist entweder bereits 14 Jahre alt geworden oder er ist es noch nicht usw., hier gibt es tatsächlich kein »mehr oder minder«. Zwischen der immanenten Unvollkommenheit des unscharfen und der gleichsam transzendenten Unvollkommenheit des scharfen – jedoch dem »Leben« inadäquaten – Klassenbegriffs besteht aber allerdings Übereinstimmung im Ungenügen insofern, als wir uns denken und wünschen können, die (scharfen oder unscharfen) Klassenbegriffe jeweils durch Steigerungs-[287]begriffe zu ersetzen, die durch ihre Graduierbarkeit dem Mehr oder Minder der Lebenserscheinungen, evtl. deren kontinuierlichen Übergängen besser entsprechen. Zu unterscheiden bleibt aber die »Inadäquanz« jedes diesen Typus, hineinfallenden Sachverhalte dem Begriffe zugehörten. Begriff und Typus decken sich hier nicht, wie sie dies z. B. beim »normativen Tätertyp« tun sollen. Der Begriff als solcher erstreckt sich auch auf den Begriffshof, der Typus dagegen nur auf den »Kern«. 41 Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Intern. Z. f. Theorie des Rechts XII, 1938, S. 46ff. (49).

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Klassenbegriffs gegenüber den fließenden Übergängen des Lebens von der Inadäquanz des unscharfen Klassenbegriffs mit seinem Anspruch auf eindeutige Subsumtionsentscheidung gegenüber der Verschwommenheit seiner grenzbestimmenden Merkmale. Speziell beim unscharfen Klassenbegriff droht Verwechslung mit dem jetzt zur Erörterung stehenden echten »Ordnungsbegriff« als einer Art »Typus«, zumal man beim unscharfen Klassenbegriff durch willkürliche Entscheidung über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit einzelner »Grenzfälle« den falschen Anschein der Angemessenheit an die fließenden Übergänge der Wirklichkeit erwecken kann. […] Aber gibt es denn keinerlei Steigerungsbegriffe, keine echten Ordnungsbegriffe und so geartete »Typenbegriffe« im Recht? Der Kriminalist wird hier in erster Linie an den Schuldbegriff denken, den z. B. Frank ausdrücklich als »Steigerungsbegriff« bezeichnet42. Zwar erscheinen die »Schuldelemente« Zurechnungsfähigkeit, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Unentschuldbarkeit (Zumutbarkeit) auf den ersten Blick auch nur als unscharfe Klassenbegriffe: jemand ist innerhalb verschwimmender Grenzen zurechnungsfähig oder nicht, handelt fahrlässig oder nicht usw. Liegen aber alle Schuldelemente vor, so ergibt sich eine Schuld höheren [288] oder geringeren Grades, nach der sich die Höhe der Strafe richtet. So kann die Zurechnungsfähigkeit »vermindert« sein mit der Folge einer entsprechenden Strafmilderung (§ 51 II)43. Desgleichen kann der Vorsatz oder 42 Frank, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 18. Aufl., 1931, S. 137 und die dort Zitierten. Wertvoll über die Schuld als Steigerungsbegriff Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, S. 161ff. passim. Über Schuld und Unrecht als Steigerungsbegriffe s. neuerdings auch Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStrW 63 (1951), S. 63. 43 Wenn Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Intern. Z. f. Theorie des Rechts XII, 1938, S. 46, 50, auch die verminderte Zurechnungsfähigkeit nur als »Begriff einer Unterklasse« und nicht als einen »abstufbaren Ordnungsbegriff« gelten läßt, so ist daran soviel richtig, daß über Verurteilung oder Freisprechung und auch über die Möglichkeit der Strafmilderung zunächst einmal das Vorhandensein oder NichtVorhandensein der Zurechnungsfähigkeit bzw. ihrer »erheblichen Verminderung« entscheidet. Ist aber die Zurechnungsfähigkeit als vorhanden und doch zugleich erheblich vermindert festgestellt, so erscheint sie insofern als abstufbarer Ordnungsbegriff, als die ihre Herabminderung bestimmenden variablen Momente die Strafzumessung zu lenken berufen sind. Das liegt im Sinne des gesetzlichen Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Vergl. a. Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, S. 173 und Nagler, Leipziger Komm.[entar], 6. Aufl., 1944, S. 405, 407 Zr. 2. Radbruch wirft S. 51 allgemeiner die Frage auf, ob Begriffe, die innerhalb des Verbrechensbegriffs als Klassenbegriffe fungierten (wie z. B. die Schuldhaftigkeit), zugleich Ordnungsbegriffe sein könnten, und er verneint diese Frage, es sei »ein abstufbarer mit einem klassifizierenden Begriff niemals identisch«. Dieser habe scharfe und geschlossene Grenzen, jener verschwimmende, offene Grenzen. Der letztere sei nur ein Glied in einer fortschreitenden Reihe, während der Klassenbegriff eine »Staustufe an einem … willkürlichen Punkt« sei. M. E. kann sich aber, wie das Beispiel der Zurechnungsfähigkeit zeigt, ein Steigerungsbegriff sehr wohl im Rahmen eines Klassenbegriffs entfalten. Der Täter ist im Sinne des Klassenbegriffs zurechnungsfähig oder nicht, im Bejahungsfalle ist er in einem bestimmten (ev. verminderten) Grade zurechnungsfähig, oder :

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die Fahrlässigkeit verschieden schwer sein oder der seelische Druck, unter dem der Täter stand (auch wenn er nicht entschuldigt), den Vorwurf gradweise mildern. Dieses Mehr oder Minder an Schuld muß bei der Bemessung der Strafe in Rechnung gestellt werden – übrigens neben anderen abstufbaren Momenten, die für die Strafzumessung evtl. eine Rolle spielen, wie unterschiedlicher Unrechtsgehalt, unterschiedliche Beeinflußbarkeit durch das Strafübel und dgl. mehr44. Es gibt also eine Mehrdimensionalität variabler Strafzumessungsgründe, eine Mehrheit von Reihenbegriffen in den Voraussetzungen der Strafzumessung. […] [289] Wir verfolgen den Steigerungsbegriff im Recht nicht weiter durch Aufsuchen neuer Beispiele45. Wir blicken vielmehr an dieser Stelle kurz zurück, um einige kritische Bemerkungen zur Terminologie zu machen. Es ist ja offensichtlich so, daß sich die präzise Bestimmung des Typenbegriffs, wie sie HempelOppenheim und v. Kempski anstreben, indem sie den Typusbegriff zum Ordnungsbegriff erheben, in der juristischen Terminologie nicht einzubürgern scheint. Die meisten so genannten »Typenbegriffe« sind keine Steigerungsbegriffe, und die Steigerungsbegriffe, die man antrifft, heißen nicht »Typen«. Es scheint sich der Gebrauch des Wortes »Typus« gerade in der falschen Richtung auszubreiten. Indessen ist bekannt, daß ein terminus, der einmal in Mode gekommen ist, seine natürliche Lebenskraft und unbezähmbare Wachstumstendenz besitzt, auch wenn es dabei ohne Ausartungen nicht abgeht. Die Methodenlehre ist selten in der glücklichen Lage, den Redestrom in ein festes Bett lenken zu können. Sie muß schon zufrieden sein, wenn es gelingt, überhaupt noch ein Prinzip des Sprachgebrauchs zu entdecken und einigermaßen festhalten zu können. Und da scheint es mir eben das mehr oder minder bewußte oder unbewußte und auch leidlich begründete Bestreben zu sein, von »Typen« im Recht dort zu sprechen, wo das vergleichsweise Konkrete, sei dieses nun das Reale oder das Anschauliche oder das Ganzheitliche oder das Spe-[290]zifische oder das Individuelle, innerhalb der juristischen Begriffswelt zum Durchbruch drängt.

der Täter ist der Fahrlässigkeit schuldig oder nicht, bejahendenfalls mit einem bestimmten Grad von Leichtfertigkeit. Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe sind hier den Merkmalen nach identisch, der Ordnungsbegriff wächst aus dem Klassenbegriff heraus, indem gewisse Merkmale des letzteren abstufbar sind. Allerdings ist der Klassenbegriff formal eine einstellige, der Ordnungsbegriff eine zweistellige »Satzfunktion«, aber diese ist inhaltlich im Kern die gleiche. 44 Zur Abstufbarkeit des Unrechtsgehalts Zimmerl, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930, S. 41ff., Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStrW. 63 (1951), S. 63 und jetzt Kern, Grade der Rechtswidrigkeit, ZStrW. 64 (1952), S. 255ff. 45 Vergl. übrigens auch Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale V 4 (1952), S. 198 rechts und § 5 das.

14. Arten von Typen und verschiedene Typusverständnisse im Recht (Karl Larenz)

I.

Das »äußere« oder abstrakt-begriffliche System

[…] [457]

Exkurs: Hegels Unterscheidung des abstrakten und des konkreten Begriffs Wenn im folgenden einige Denkformen näher untersucht werden sollen, deren sich die Jurisprudenz neben der des abstrakten Begriffs zunehmend bedient, nämlich die Denkformen des Typus, des konkretisierungsbedürftigen Rechtsprinzips und des funktionsbestimmten Begriffs, so ist mit dem Einwand zu rechnen, alle diese Denkformen seien »unwissenschaftlich«, da sie mit elementaren Anforderungen der Logik nicht zu vereinbaren seien. Es erscheint demgegenüber als bemerkenswert, daß Hegel in seiner Logik durchweg dem »abstrakten Begriff«, dessen unentbehrliche Rolle im Denken er nicht verkennt, einen ganz anders gearteten, den »konkreten« oder »konkret-allgemeinen« Begriff gegenüberstellt, der die zentrale Denkform seiner Philosophie, auch seiner Rechtsphilosophie, darstellt. Wenn darauf hier kurz eingegangen werden soll, dann deshalb, weil es sich auch hier um einen Versuch handelt, Sinnhaftes in der Fülle seiner Bezüge auf eine ihm angemessene Weise zu denken. Es wird sich zeigen, daß die Denkformen des Typus und des funktionsbestimmten Begriffs mit Hegels »konkretem Begriff« einige Züge gemeinsam haben, ohne deshalb mit ihm gleichgesetzt werden zu können. Es geht allemal um die Erfassung von Sinnzusammenhängen, die durch die isolierende Methode der Bildung abstrakter Begriffe abgeschnitten werden. Nur die Denkform des »konkreten Begriffs« soll hier zur Sprache gebracht werden, nicht die Hegelsche Denkweise im übrigen, wenngleich wir uns dessen bewußt sind, daß bei Hegel alles miteinander zusammenhängt, der »konkrete Begriff« in seinem Sinne daher nicht

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außerhalb seiner Philosophie verwendet werden kann. Gewisse Parallelen sind aber unverkennbar und machen deutlich, daß hier das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen ist. [458] »Wenn vom Begriff gesprochen wird«, lesen wir bei Hegel1, »so ist es gewöhnlich nur die abstrakte Allgemeinheit, welche man dabei vor Augen hat, und der Begriff pflegt auch wohl (als) eine allgemeine Vorstellung definiert zu werden. Man spricht demgemäß vom Begriff der Farbe, der Pflanzen, des Tieres usw., und diese Begriffe sollen dadurch entstehen, daß bei Hinweglassung des Besonderen, wodurch sich die verschiedenen Farben, Pflanzen, Tiere usw. voneinander unterscheiden, das denselben Gemeinschaftliche festgehalten werde. Dies ist die Weise, wie der Verstand den Begriff auffaßt, und das Gefühl hat recht, wenn es solche Begriffe für hohl und leer, für bloße Schemen und Schatten erklärt. Nun aber ist das Allgemeine des Begriffs nicht bloß ein Gemeinschaftliches, welchem gegenüber das Besondere seinen Bestand für sich hat, sondern vielmehr das sich selbst Besondernde (Spezifizierende) und in seinem anderen in ungetrübter Klarheit bei sich selbst Bleibende. Es ist von der größten Wichtigkeit, sowohl für das Erkennen als auch für unser praktisches Verhalten, daß das bloß Gemeinschaftliche nicht mit dem wahrhaft Allgemeinen, dem Universellen, verwechselt wird.« Das »wahrhaft Allgemeine oder Universelle«, das der konkret-allgemeine Begriff meint, stellt sich dem Denken nicht als eine bloße Addition isoliert gedachter Merkmale, sondern als ein Ganzes sinnvoll aufeinander bezogener »Momente« dar, die nur in dieser ihrer wechselseitigen Verbundenheit den Begriff ausmachen. Wir können uns das verdeutlichen am Begriff »Mensch«. In zoologischer Betrachtung kann man den Menschen definieren als ein Lebewesen, das eine Reihe von Merkmalen aufweist, die es zum Teil mit den ihm nahestehenden Tiergattungen gemeinsam hat, während es sich durch einige andere von ihnen unterscheidet. So erhält man einen »abstrakten Begriff«. Versteht man den Menschen dagegen »konkret«, was jetzt nicht heißen soll: einen bestimmten einzelnen Menschen, sondern den Typus »Mensch« in der Fülle aller seiner Möglichkeiten, dann sieht man ihn zugleich als ein leibliches, seelisches und geistiges Wesen, das sich in diesen drei Dimensionen auf mannigfache Weise verwirklicht und sich neue Möglichkeiten erschließt. Der so verstandene konkrete Begriff des Menschen ist gemeint, wenn wir dem Menschen als solchen einen besonderen Wert, eine Würde, und im Hinblick auf seine Stellung im Recht bestimmte Fähigkeiten, wie die Rechtsfähigkeit, die Handlungs- und die Verantwortungsfähigkeit zuschreiben. Allein mit einem zoologischen Begriff des Menschen wäre hier nichts gewonnen. Weiter bemerkt Hegel2, daß wir den konkreten Begriff, anders als den ab1 In der »Kleinen Logik« im Rahmen des »Systems der Philosophie«, Sämtliche Werke (Ausg. Glockner), Bd. 8, S. 358f. (§ 163 Zusatz 1). 2 Hegel, System der Philosophie, § 163 Zusatz 2 (Ausg. Glockner, Werke 8, 4. Aufl. 1964), S. 360.

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strakten, nicht mehr oder minder willkürlich bilden, daß der Begriff »vielmehr das wahrhaft Erste ist«, und daß »die Dinge das, was sie sind, durch die Tätigkeit des ihnen innewohnenden und in ihnen sich offenbarenden Begriffs« sind. Der Begriff im Sinne Hegels ist also nicht lediglich ein Gedankenprodukt, sondern wirkendes, bildendes und gestaltendes Prinzip; Hegel sagt3, er sei »das Prinzip allen Lebens und damit zugleich das schlechthin Konkrete«. Diese Auffassung, die auf der [459] »idealistischen« Weltdeutung Hegels beruht – und daher von den Anhängern des materialistisch umgedeuteten Hegelschen Systems nicht übernommen werden kann –, ist für den Bereich der Natur stets auf Widerspruch gestoßen und sicher nicht erweislich. Für den Bereich der geistigen Schöpfungen, zu denen auch das Recht gehört, trifft es aber zu, daß hier eine Idee, eine Konzeption, ein leitender Gedanke vor der Einzelausführung steht und erst in ihr, auch für den schöpferisch Tätigen selbst, vollkommen deutlich und faßbar wird. Deshalb geht es nicht an, Hegels Konzeption des »konkreten Begriffs« auch für den geistigen Bereich deshalb von vorneherein abzuweisen, weil es sich bei ihr um bloße Metaphysik handelte. Daß ein Begriff im Sinne Hegels »konkreter Begriff« ist, bedeutet ferner, daß »die Momente des Begriffes nicht abgesondert werden können«, daß vielmehr »jedes seiner Momente unmittelbar nur aus und mit den anderen gefaßt werden kann«4. Daraus folgt weiter, daß sich das Denken dieses Begriffs nur versichern kann, indem es den Begriff einmal in seine Momente entfaltet und zum anderen von diesen Momenten aus immer wieder auf den Zusammenhang reflektiert, in dem jedes derselben mit allen anderen steht. Es ist, sagt Hegel5, »die Natur des Begriffs, sich in seinem Prozeß als Entwicklung seiner selbst zu erweisen«. In der Bewegung des Denkens werden die Momente unterschieden und damit deutlich gemacht, expliziert, die in dem Begriff von vorneherein, als impliziert mitgedacht waren; die »Entwicklung« des Begriffs ist eine gegenläufige Bewegung, die zwischen dem noch unentfalteten, in Gedanken vorweggenommenen Begriff und seinen ihn gerade in ihrer Verbindung konstituierenden Momenten hinund her läuft. In der Tat handelt es sich um eine ähnliche »Kreisbewegung des Denkens«, wie sie uns in dem sogenannten »hermeneutischen Zirkel« wiederholt begegnet ist. Als Beispiel dafür, daß ein Denken in »konkreten Begriffen« dem »allgemeinen Sprachgebrauch keineswegs so fremd ist, als dies zunächst der Fall zu sein scheint«, führt Hegel eines aus der Rechtswissenschaft an6. »Man spricht von der Ableitung eines Inhalts, so zum Beispiel der das Eigentum betreffenden 3 4 5 6

Hegel, System der Philosophie, § 160 Zusatz (Ausg. Glockner, Werke 8, 4. Aufl. 1964), S. 353. Hegel, System der Philosophie, § 164 (Ausg. Glockner, Werke 8, 4. Aufl. 1964), S. 361. Hegel, System der Philosophie, § 161 (Ausg. Glockner, Werke 8, 4. Aufl. 1964), S. 356. Hegel, System der Philosophie, § 160 Zusatz am Ende (Ausg. Glockner, Werke 8, 4. Aufl. 1964), S. 355.

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Rechtsbestimmungen aus dem Begriff des Eigentums und ebenso umgekehrt von der Zurückführung eines solchen Inhalts auf den Begriff. Damit aber wird anerkannt, daß der Begriff nicht bloß eine an sich inhaltlose Form ist, da einerseits aus einer solchen nichts abzuleiten wäre und andererseits durch die Zurückführung eines gegebenen Inhalts auf die leere Form des Begriffs derselbe nur seiner Bestimmtheit würde beraubt, aber nicht erkannt werden.« Betrachten wir dieses Beispiel etwas näher. Im Rahmen des abstrakt-begrifflichen Systems, das dem BGB zugrunde liegt, definiert man das Eigentum als das umfassendste Herrschaftsrecht, das nach der geltenden Rechtsordnung an einer Sache möglich ist. Diese Definition gründet sich auf den § 903 BGB, demgemäß der Eigentümer einer Sache, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit ihr nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen kann. Ein solcher Begriff des Eigentums sagt nichts über seinen [460] rechtlichen Sinn, über seine Funktion im Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung aus. Man kann nichts aus ihm ableiten, was man nicht bereits in ihn hineingelegt hat. Der Hinweis darauf, daß das Eigentum das »umfassendste« mögliche Recht an einer Sache sei, dient lediglich der Abgrenzung zu den »beschränkten dinglichen Rechten«, ist sonst aber nichtssagend. Allerdings fehlt nicht der Hinweis auf Schranken, die sich aus dem Gesetz oder Rechten Dritter ergeben. Diese Schranken aber scheinen zufällig und beliebig zu sein; der Umfang des Eigentums könnte danach auf eine »leere Menge« reduziert werden. Mit einem solchen Eigentumsbegriff ist nichts anzufangen, wenn es etwa um die Eigentumsgarantie des Artikels 14 GG geht. Was dem Grundgesetzgeber vor Augen gestanden hat, ist offenbar nicht der abstrakte Begriff des BGB, sondern eine bedeutend inhaltsreichere Vorstellung, die hier nicht weiter entwickelt werden kann. Sucht man auch nur das Eigentum im Sinne unseres Sachenrechts nach der Weise Hegels als einen sinnhaltigen Begriff zu erfassen, dann muß man von seinem rechtlichen Sinn ausgehen, daß es der Person die freie Gestaltung ihrer dinglichen Umwelt ermöglicht, ihr, wie Hegel7 sagt, »eine äußere Sphäre ihrer Freiheit« von Rechts wegen gewährt. Von hier aus wären dann die einzelnen Momente oder Bestimmungen dieses konkreten Begriffs, die sich in den Bestimmungen des positiven Rechts mehr oder weniger deutlich oder verhüllt wiederfinden, zu entwickeln. Dazu gehören die dauernde Zuordnung einer Sache zu einer Person, die deren Befugnis zur unmittelbaren Sachherrschaft (zum Besitz), zur Einwirkung auf die Sache und zur rechtlichen Verfügung über das Eigentum einschließt; als die Kehrseite hiervon der Ausschluß Dritter von jeder Einwirkung, der rechtlichen Schutz durch Klagemöglichkeiten und, im Verletzungsfall, durch Schadensersatzansprüche, schließlich die sich aus den Notwendigkeiten des Zusammenlebens und der wechselseitigen Rücksichtnahme oder der freiwilli7 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 41 (Ausg. Glockner, Werke 8, 4. Aufl. 1964).

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gen Selbstbeschränkung des Eigentümers zu Gunsten eines Dritten ergebenden Schranken seiner Befugnisse. Durch die Rückbeziehung aller dieser Bestimmungen auf die Sinneinheit des »konkreten Begriffs« werden sie aus ihrer Isolierung befreit und wird das Zusammenspiel der verschiedenen, das Sacheigentum betreffenden Normen des positiven Rechts verständlich gemacht. Wer die heutigen Lehrbücher des Sachenrechts daraufhin ansieht, wird in der Tat Ansätze zu einer solchen Betrachtungsweise im Zusammenhang mit den Erörterungen der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie finden. Die Bemerkung Hegels, eine derartige Denkweise sei »keineswegs so fremd«, trifft, bezieht man sie auf die heutige Jurisprudenz, durchaus zu. Diese operiert keineswegs nur mit abstrakt-allgemeinen, sondern auch mit solchen sinnhaltigen Begriffen oder auch mit Typen, die mit dem »konkreten Begriff« Hegels jedenfalls das gemeinsam haben, daß sie keine Gattungs- oder Klassenbegriffe sind. Man ist sich dessen nur nicht immer bewußt. [461]

II.

Typen und Typenreihen

1.

Die Denkformen des »Typus« im allgemeinen

Wo der abstrakt-allgemeine Begriff und das logische System dieser Begriffe für sich allein nicht zureichen, um eine Lebenserscheinung oder einen Sinnzusammenhang in der Fülle seiner Ausprägungen zu erfassen, da bietet sich zunächst die Denkform des »Typus« an. Zahlreiche Wissenschaften bedienen sich heute dieser Denkform, wenn auch nicht immer genau in dem gleichen Sinne8. In die Sozialwissenschaft hat sie Max Weber, in die allgemeine Staatslehre Georg Jellinek eingeführt. H. J. Wolff meint9, daß es in der Rechtswissenschaft »mindestens vier verschiedene Verwendungsarten von Typen« gibt, nämlich: 1. »Die Typen der allgemeinen Staatslehre, der historischen und der vergleichenden 8 Die Zeitschrift »Studium Generale« hat in den Jahren 1951 und 1953 zwei Hefte der Verwendung der Denkform des »Typus« in verschiedenen Wissenschaften gewidmet. Hervorzuheben sind die Aufsätze von J. E. Heyde über den Begriff »Typus« als solchen (Bd. 5, S. 235) und von E. Kretschmer über den Typus als erkenntnistheoretisches Problem (Bd. 4, S. 399), die Aufsätze über die Verwendung des Typus in der Rechtswissenschaft von Hans Julius Wolff (Bd. 5, S. 195), in den Sozialwissenschaften von J. v. Kempski (Bd. 5, S. 205). Andere Aufsätze behandeln die Verwendung des Typus in der Biologie, der Psychologie, der Sprachwissenschaft und der Geschichtswissenschaft. Die logische Struktur des Typusbegriffs haben Hempel und Oppenheim in der Schrift »Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik« (1936) untersucht. Weiteres Schrifttum bei Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., S. 308f. (Nachtrag zum 8. Kapitel); Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, Schrifttumsverzeichnis, S. 194ff. 9 Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: Studium Generale 5 (1952), S. 195.

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Rechtswissenschaft«, 2. die »allgemein-rechtlichen, in engerem Sinne juristischen Typen«, 3. die strafrechtlichen und 4. die steuerrechtlichen Typen. Hinzu kämen noch »die der Systematisierung dienenden, im engeren Sinne rechtswissenschaftlichen Typen«. Uns interessieren neben den zuletzt genannten vornehmlich die »allgemein-rechtlichen, im engeren Sinne juristischen Typen«. Engisch hat der »Hinwendung zum Typus in Recht und Rechtswissenschaft« ein Kapitel seines Buches über die »Idee der Konkretisierung« gewidmet10. Nach ihm liegt »allen modernen Auffassungen vom Typus«, so unterschiedlich sie im einzelnen sein mögen, und »allen Gegenüberstellungen von Typus und Allgemeinbegriff« der Gedanke zugrunde, daß »der Typus auf die eine oder andere Weise, aber auch: auf die eine und die andere Weise, konkreter ist als der Begriff«11. Unter den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks »Typus« lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit12, folgende unterscheiden: 1. Der von Engisch so genannte »Durchschnitts- oder Häufigkeitstypus« einerseits, der »Ganzheits- oder Gestalttypus« andererseits. Den ersteren meinen wir, wenn wir von den typischen Reaktionen eines Menschen oder einer Menschenmenge [462] in einer bestimmten Situation sprechen oder wenn wir etwa sagen, eine gewisse Wetterlage sei für diese Gegend und Jahreszeit typisch. Dabei meint das Wort »typisch« soviel wie »nach dem gewöhnlichen Verlauf zu erwarten«, »üblicherweise«. Sprechen wir dagegen von einem »typischen Mittelgebirge«, einem »typischen niedersächsischen Bauernhaus« (Beispiele von Heyde), so meinen wir eine mehr oder minder große Zahl von Eigenschaften, charakteristischen Zügen, die ein derartiges Gebilde in ihrer Gesamtheit charakterisieren, ohne deshalb in jedem Fall notwendig sämtlich vorliegen zu müssen. Diese »Züge« können an dem einzelnen Gebilde, das wir dem Typus zuordnen, in unterschiedlicher Stärke, in verschiedenen Abwandlungen und Mischungen hervortreten; sie hängen untereinander zusammen und konstituieren gerade so, in ihrer Verbindung miteinander, die als »Typus« erfaßte Gestalt eines derartigen Gebildes. Vom Typus in diesem Sinne kann man mit Kretschmer13 sagen, er sei ein »komparativ anschauliches Allgemeinbild«. Noch deutlicher sagt Heyde14, es handle sich um »ein Merkmal-Ganzes, das heißt um 10 Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968, S. 237ff. 11 Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 2. Aufl. 1968, S. 262. 12 So lassen wir die von Schieder im Studium Generale (Bd. 5 [1952], S. 228ff.) herausgearbeitete Unterscheidung von »Strukturtypen« und »Verlaufstypen« als vornehmlich für die Geschichtswissenschaft bedeutsam hier außer Betracht. 13 Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, S. 400. 14 Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, S. 238.

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ein ganzheitlich aufzufassendes Allgemeines«. Beide Arten von Typen sind empirische Typen, das heißt, die betreffenden Gebilde oder Verläufe sind durch Erfahrungen bestätigt. Derartige Gebilde, die die angegebenen Züge, mehr oder minder ausgeprägt, aufweisen, sind in der Wirklichkeit meist in verschiedenen Exemplaren anzutreffen. 2. Der nur vorgestellte und der gedanklich erfaßte, in seiner Besonderheit erkannte Typus. Den empirischen Gestalttypus vermag ich mir anschaulich vorzustellen, wobei gewöhnlich ein Exemplar, das die Züge des Typus in besonders ausgeprägtem Maße zeigt, gewissermaßen als Leitbild fungiert. Daran denken diejenigen, die betonen, daß der Typus anschaulich aufgefaßt werde, nicht ein Begriff sei, sondern ein »Bild«. Die Anschauung vermag indessen nur sinnliche Eindrücke zu einem Gesamtbild zu vereinigen; sie unterscheidet nicht die einzelnen Züge oder wird sich doch der Unterschiedlichkeit nicht bewußt. Soll daher ein Typus nicht nur angeschaut und in der inneren Anschauung reproduziert, sondern in dem, was ihn in seiner Besonderheit charakterisiert und von anderen Typen unterscheidet, erkannt werden, dann muß von dem nur angeschauten zum gedanklich erfaßten Typus fortgeschritten werden. Den ersten Schritt auf diesem Wege hat, das muß betont werden, das Denken in Typen mit dem abstrahierenden Denken gemeinsam. Es hebt von dem konkreten Gebilde, um das es zu tun ist, bestimmte allgemeine Eigenschaften, Verhältnisse oder Proportionen ab und bezeichnet sie mit einem Namen. Während aber das Denken in abstrakten Begriffen solche Eigenschaften zu isolierten Merkmalen verfestigt und aus diesen Merkmalen durch Weglassen immer allgemeinere Begriffe bildet, beläßt das Denken in Typen die Merkmale des Typus in ihrer Verbindung und bedient sich ihrer lediglich zum Zwecke der Beschreibung des Typus als eines Merkmals-Ganzen. Es sucht auf diese Weise die Ganzheit des in der Anschauung gegebenen Bildes auch auf der Stufe der gedanklichen Erfassung zu bewahren. Daher die immer wiederkehrende Aussage, der Typus stehe »gleichsam [463] in der Mitte« zwischen dem Individuellen, Anschaulichen und Konkreten auf der einen und dem »abstrakten Begriff« auf der anderen Seite15 ; er sei »konkreter als der Begriff«. 3. Der empirische Typus, der logische Idealtypus und der normative Idealtypus. Die bisher betrachteten empirischen Gestalttypen sind insofern zugleich Durchschnittstypen, als sie – man denke an das »niedersächsische Bauernhaus« – in einer mehr oder minder großen Zahl von Exemplaren in wenn auch unterschiedlicher Weise ausgebildet und in der Wirklichkeit anzutreffen sind. Der 15 Vgl. Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, S. 400 (»In der Mitte zwischen Individuum und Begriff«); Engisch, Konkretisierung, 1953, 2. Aufl. 1968, S. 238 (»Mittelstellung zum Konkreten hin«), S. 251 (»Mittelstellung des Typus zwischen abstrakter Allgemeinheit und Individualität«), S. 260 (»Mittelhöhe der Abstraktion im Typus«).

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»logische Idealtypus« im Sinne Max Webers ist zwar auch aus der Empirie abgeleitet, braucht aber in keiner empirischen Erscheinung in seiner »Reinheit« verwirklicht zu sein. Er ist insofern in stärkerem Maße als die bisher betrachteten Typen ein Produkt des Denkens, als es sich bei ihm um eine Modellvorstellung handelt, die durch Steigerung einzelner in der Wirklichkeit beobachteter Züge und Weglassung anderer gewonnen und als Vergleichsmaßstab benutzt wird. Weber selbst bezeichnet ihn16 als ein »Gedankengebilde«, das durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch den Zusammenschluß einer Fülle »hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandener Einzelerscheinungen«, die sich jenen Gesichtspunkten fügen, gewonnen wird. Solche Idealtypen, wie zum Beispiel der der »freien Marktwirtschaft« und einer »total gelenkten Wirtschaft«, dienen dazu, gewisse für sie jeweils »typische« Abläufe am Modell zu verdeutlichen und danach die in der Realität angetroffenen Mischformen durch Vergleich mit den »reinen« Typen besser zu verstehen. Wenn sich freilich mit solchen »Idealtypen« die Meinung verbindet – der Max Weber jedenfalls nicht war17 –, daß einem solchen Idealtypus ein Wertvorzug gegenüber dem anderen und gegenüber den verschiedenen Mischformen zukomme, dann nimmt der logische Idealtypus den Charakter eines axiologischen Idealtypus, eines normativen Typus an. Der normative Idealtypus will nicht »Abbild« der Wirklichkeit, sondern »Vorbild« oder auch »Urbild« sein. In diesem Sinne ist etwa der platonische Staat ein »normativer Idealtypus«. Das gleiche gilt von der zum Vorbild erhobenen athenischen Demokratie, wobei man von manchen Zügen der historischen Wirklichkeit (zum Beispiel von der Sklaverei) absieht, auch von den Idealtypen des »wahren«, seiner Aufgabe vollkommen gerecht werdenden Staatsmannes, Richters, Arztes, Erziehers, Christen usw. Es handelt sich hier um ein Vor- oder Zielbild, dem man [464] nachstreben soll, mag es auch in voller Reinheit nicht zu verwirklichen sein. Der Mensch bedarf offenbar solcher Zielbilder, um daran sein Handeln zu orientieren; sie nehmen den Charakter von Utopien an, wenn sie sich allzuweit von der Wirklichkeit entfernen und nicht mit dem Menschen rechnen, wie er »typischerweise« ist. Wir wollen nun sehen, in welchen Bedeutungen sich die Rechtswissenschaft des »Typus« bedient.

16 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (hrsg. v. J. Winckelmann), 7. Aufl. 1988, S. 191; vgl. auch Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1 (hrsg. v. J. Winckelmann), 4. Aufl. 1956, S. 9ff. 17 Der Gedanke des Seinsollenden, Vorbildlichen sei von diesen in rein logischem Sinne »idealen« Gedankengebilden »sorgsam fernzuhalten«, betont Weber ausdrücklich (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. J. Winckelmann, 7. Aufl. 1988, S. 192). Mit Recht bezeichnet Engisch (Konkretisierung, 1953, 2. Aufl. 1968, S. 253) den Idealtypus im Sinne Max Webers als »logischen Idealtypus zum Unterschied vom axiologischen Idealtypus«.

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2.

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Die Bedeutung des Typus in der Rechtswissenschaft

Um eine regelmäßig zu erwartende Verhaltensweise, also um einen empirischen Häufigkeitstypus, handelt es sich dort, wo die Rechtsnormen auf die Verkehrssitte oder den Handelsbrauch verweisen. Verkehrssitten sind »sozialtypische Verhaltensformen«, die von den Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe im allgemeinen geübt werden und sich unmittelbar oder mittelbar auf den Geschäftsverkehr beziehen18. Sie werden zu »Normen« dadurch, daß das Gesetz oder, im Einzelfall, ein Vertrag auf sie verweist. Bei der »herrschenden Sozialmoral«, auf die in der Formel der »guten Sitten« wenigstens teilweise Bezug genommen wird19, handelt es sich dagegen um Regeln, die im Bewußtsein derer, die sie befolgen oder nach ihnen urteilen, bereits einen normativen Charakter haben. Zu Rechtsnormen werden sie jedoch ebenfalls erst dadurch, daß die Rechtsordnung auf sie verweist, und nur insoweit, als sie mit den Prinzipien und den Wertungsgrundlagen der geltenden Rechtsordnung übereinstimmen. Verkehrssitten, Handelsbräuche und »Sozialmoral« gewinnen insoweit für den Juristen die Bedeutung von »Standards«, das heißt von »in der sozialen Wirklichkeit akzeptierten Normalmaßstäben korrekten sozialen Verhaltens«20. Derartige »Standards« sind, wie Strache21 zutreffend bemerkt, keine begrifflich ausgeformten Regeln, unter die man im syllogistischen Schlußverfahren einfach subsumieren könnte, sondern »bewegliche« Maßstäbe, die aus dem als »typisch« erkannten Verhalten erschlossen und in ihrer Anwendung auf den zu beurteilenden Fall immer erneut konkretisiert werden müssen. Der »Standard« ist nach Strache22 »zwar Realtypus, aber zugleich immer axiologischer Idealtypus«. Dies freilich nicht im Sinne des Ganzheits- oder Gestaltstypus, sondern des zur Norm erhobenen Häufigkeits- oder Durchschnittstypus. Der Durchschnitts- oder Häufigkeitstypus spielt ferner eine große Rolle bei dem sogenannten Prima-facie-Beweis. Hier geht es darum, daß der Beweis für einen Kausalverlauf dann als erbracht angesehen wird, wenn ein solcher Kausalverlauf nach den festgestellten Umständen dem »typischen Geschehensablauf« entspricht und keine Umstände erwiesen sind, die hier die Möglichkeit eines andersartigen, nicht typischen Geschehensablaufs nahe legen. Den »typischen Geschehensablauf« [465] folgert das Gericht aus »Erfahrungssätzen«, die ihrerseits aus der »allgemeinen Lebenserfahrung« gewonnen werden23. 18 Vgl. Sonnenberger, Verkehrssitten im Schuldvertrag, 1970, S. 107. 19 Vgl. meine Abhandlung »Grundsätzliches zu § 138 BGB« im Juristen-Jahrbuch, Bd. 7 (1966), S. 98ff. und oben Kapitel 3, 3d [im Original]. 20 So Strache, Das Denken in Standards, 1968, S. 16. 21 Strache, Das Denken in Standards, 1968, S. 17f. 22 Strache, Das Denken in Standards, 1968, S. 94. 23 Vgl. J. Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, 1966, S. 14ff.

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Derartige Erfahrungssätze vermögen immer nur einen mehr oder minder hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu begründen, da bei ihrer Bildung niemals alle Umstände berücksichtigt werden können, die im Einzelfall eine Rolle zu spielen vermögen. Der Beweis, es könne sich gerade im konkreten Fall anders verhalten haben, muß daher offen bleiben. Sprechen aber im konkreten Fall keine Umstände für einen ungewöhnlichen Verlauf, so wird angenommen, daß der tatsächliche Verlauf in diesem Fall der nach dem »typischen« Verlauf zu erwartende war. Von noch größerer Bedeutung für das Recht und die Rechtswissenschaft ist aber ein Typus, dem von vornherein ein normatives Element innewohnt. Das Gesetz bedient sich seiner einmal zur Kennzeichnung einer Personengruppe im Hinblick auf ihre soziale Rolle, die sich einer begrifflichen Festlegung entzieht. Dahin gehören, wie wir früher […] sahen, der »Tierhalter«, der »Verrichtungsgehilfe«, der »Besitzdiener«, wohl auch der »Handelsvertreter« und der »leitende Angestellte«. Es handelt sich bei ihnen um Typenbezeichnungen und nicht um Begriffe, weil die zur Kennzeichnung angegebenen Merkmale – wie das der Weisungsgebundenheit oder der »sozialen Abhängigkeit« – jeweils in unterschiedlicher, nicht generell festzulegender Stärke zutreffen können und es insgesamt weniger auf solche einzelnen Merkmale als auf das gesamte »Erscheinungsbild« ankommt24. Dieses »Erscheinungsbild« ist aus der Erfahrung gewonnen; ihm liegt ein empirischer Typus zugrunde. Die Auswahl der maßgeblichen Erscheinungen und die nähere Umgrenzung des Typus werden aber durch den Normzweck und den hinter der Regelung stehenden Rechtsgedanken mit bestimmt. Sie erfolgen unter einem normativen Gesichtspunkt. In die Bildung des Typus und daher auch in die jeweilige Zuordnung zu ihm gehen sowohl empirische wie normative Elemente ein; die Verbindung dieser beiden Elemente macht geradezu das Wesen dieses Typus aus, den ich daher als »normativen Realtypus« bezeichnen möchte. Die Denkform des Typus dient der Rechtswissenschaft auch zur näheren Kennzeichnung bestimmter Arten von Rechtsverhältnissen, insbesondere von subjektiven Rechten und von vertraglichen Schuldverhältnissen. Die vom BGB anerkannten und geregelten »Typen« von Sachenrechten sind freilich in abstrakt-begrifflicher Weise gekennzeichnet; sie sind »Klassen«, nicht »Typen«. Mit »Typen« subjektiver Rechte sind hier vielmehr solche Typen wie Persönlichkeitsrechte, Herrschaftsrechte, Gestaltungsrechte, Mitwirkungsrechte und Anwartschaftsrechte gemeint, die sich nicht im strengen Sinne definieren lassen. Bei den gesetzlich geregelten Typen der Schuldverträge handelt es sich, wie oben 24 Peter Ulmer, Der Vertragshändler, 1969, S. 187ff., unterscheidet Merkmale, die beim Vertragshändler stets zutreffen, und solche, die in unterschiedlicher Intensität vorliegen können. Die ersten sieht er als Begriffs-, die zweiten als Typenmerkmale an.

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[…] bereits dargelegt wurde, zumeist um echte Typen, mag auch das Gesetz einzelne von ihnen durch eine Definition begrifflich festgelegt haben. Die begriffliche Abgrenzung [466] versagt, worauf schon hingewiesen wurde, sobald Elemente mehrerer Vertragstypen in einem konkreten Vertrage – auf einmalige oder wiederum auf eine »typische« Weise – miteinander verbunden werden. Erinnert sei an die »gemischte Schenkung«, die »partiarischen Verträge«, das »Leasing« und die verschiedenen Typen des Abzahlungskaufs. Für die hier überall vorliegenden »Typenmischungen« ist charakteristisch, daß in ihnen Elemente verschiedener Grundtypen in bestimmter Weise zu einer in sich sinnvoll zusammenhängenden Regelung verbunden sind. Solche »Mischtypen« gehören der Stufe eines stark differenzierten Wirtschafts- und Handelsverkehrs an; jene Grundtypen dagegen – wie Kauf, Tausch, Miete, Leihe – finden sich auch in weniger differenzierten Verhältnissen und erhalten sich als der Abwandlung fähige Grundtypen durch lange Zeiträume. Typen von Rechtsverhältnissen, insbesondere Vertragstypen, sind in der Rechtswirklichkeit entstandene »rechtliche Strukturtypen«, da sie die jeweils besondere Struktur rechtlicher Gebilde betreffen. Ich bezeichne sie als [Normaltypen?]. Einige von ihnen, so die der subjektiven Rechte, sind Produkte der Rechtswissenschaft; die meisten von ihnen, so wohl alle Schuldvertragstypen, verdanken ihre Entstehung dem Rechtsverkehr. Soweit der Gesetzgeber sie geregelt hat, hat er sie in der Wirklichkeit des Rechtslebens vorgefunden, in ihrer Typizität erfaßt und diejenigen Regeln hinzugefügt, die er einem solchen Vertragstyp als angemessen erachtete. Er hat sie nicht »erfunden«, sondern »gefunden«, sofern er sie nicht einfach aus der rechtlichen Überlieferung übernommen hat. Auch in letzterem Fall dürften sie ursprünglich einmal im Rechtsleben entstanden sein25. Der Gesetzgeber braucht den Typus freilich nicht genau in der Weise zu übernehmen, in der er sich im Rechtsleben herausgebildet hat; er kann ihm durch seine Regelung neue Züge hinzufügen, andere verdrängen. Maßgebend für den vom Gesetz gemeinten Typus ist die Regelung, die er im Gesetz gefunden hat. Die von den Parteien im Einzelfall getroffene vertragliche Regelung kann hiervon mehr oder weniger abweichen; aus solchen Vereinbarungen können sich im Rechtsleben neue, außergesetzliche Vertragstypen entwickeln. Ob gesetzlich oder außergesetzlich, auf jeden Fall handelt es sich um typische Regelungen; dadurch unterscheiden sich die rechtlichen Strukturtypen von den oben sogenannten normativen Realtypen. Typenbildend

25 So auch Engisch, Konkretisierung, 1953, 2. Aufl. 1968, S. 269 und 272. Koller, Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht (Freiburg/Schweiz, 1967), S. 63ff. meint, lediglich die Gesellschaft mit beschränkter Haftung sei in der Schweiz eine künstliche Schöpfung des Gesetzgebers; alle anderen Gesellschaftsformen habe der Gesetzgeber »nicht erfunden, sondern in der Rechtswirklichkeit gefunden und ins Gesetz übernommen«.

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ist hier die Struktur, das heißt der sinnhafte Zusammenhang einer Regelung im »Zusammenspiel« ihrer Elemente.

3.

Die Erfassung des rechtlichen Strukturtypus

Von den verschiedenen eben genannten Typen, die für die Rechtswissenschaft von Bedeutung sind, verdienen die rechtlichen Strukturtypen unsere besondere Beachtung, weil ihnen für die Aufdeckung rechtlicher Sinnzusammenhänge und für [467] das Verständnis bestimmter Teilregelungen ein bedeutender Erkenntniswert zukommt. Wir wollen uns zunächst verdeutlichen, auf welche Weise derartige Typen erfaßt werden. Nehmen wir als Beispiel den Typus »Gesellschaftsvertrag«, und zwar den »Normaltypus«, wie ihn offenbar der Gesetzgeber des BGB im Auge gehabt hat. Die äußerst vage und daher als Definition ungeeignete Charakterisierung des Gesellschaftsvertrages in § 705 BGB gibt nicht mehr als einen ersten Hinweis. Es handelt sich danach um einen Zusammenschluß mehrerer Personen zur Erreichung eines ihnen gemeinsamen Zwecks. Die nähere Art dieses Zusammenschlusses ergibt sich erst aus der Regelung, die das Gesetz ihr gegeben hat. Die Bestimmungen über die Geschäftsführung, die Kündigung und die Auflösung der Gesellschaft durch den Tod eines Gesellschafters lassen erkennen, daß es sich dabei um eine Vereinigung verhältnismäßig weniger Personen handelt, die einander kennen und vertrauen. Diese Bestimmungen passen deshalb auf den nicht rechtsfähigen Verein nicht. Sie machen den Fortbestand der Gesellschaft von der Zugehörigkeit jedes einzelnen Gesellschafters abhängig, und sie sehen für den Regelfall eine gemeinschaftliche Führung der Geschäfte durch alle Gesellschafter vor, erfordern also ein enges Zusammenwirken. Dies deutet auf die Notwendigkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses hin. Daraus ergeben sich persönliche Verhaltenspflichten, die über die im Gesetz genannte Pflicht zur Leistung vereinbarter Beiträge weit hinausgehen. Daß die Mitgliedschaft in der Gesellschaft an die Person gebunden ist, wird durch die Nichtübertragbarkeit der Ansprüche aus dem Gesellschaftsverhältnis (§ 717 BGB) unterstrichen. Dem entspricht, daß ein Gesellschafter nicht über seinen Anteil an dem Gesellschaftsvermögen verfügen kann und nicht berechtigt ist, dessen Teilung zu verlangen (§ 719 BGB), das Gesamthandsprinzip. Freilich sind fast alle diese Bestimmungen abdingbar, was zu einer großen Variabilität des Typus führt; für den »Normaltypus« ist gleichwohl das Bild maßgebend, das sich aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen ablesen läßt. Versucht man, die Hauptzüge des Typus hiernach zu bestimmen, so wird man als solche neben der Verpflichtung zur Beförderung des gemeinsamen Zwecks das unter den Mitgliedern bestehende Vertrauensverhältnis, die Beteiligung aller an den gemeinsamen Angelegenheiten und den

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Ergebnissen, die Abhängigkeit des Fortbestandes der Gesellschaft von der Zugehörigkeit gerade dieser Mitglieder und die Bindung der mitgliedschaftlichen Rechte, insbesondere der Beteiligung am gemeinsamen Vermögen, an die Mitgliedschaft in der Gesellschaft nennen müssen. Es ist nicht zu verkennen, daß zwischen diesen Zügen, die in ihrer Gesamtheit den Typus ausmachen, eine sinnhafte Beziehung derart besteht, daß sie einander bis zu einem gewissen Grade bedingen oder fordern, mindestens aber miteinander verträglich sind. Wie das Beispiel lehrt, nimmt die Erfassung eines rechtlichen Strukturtypus ihren Ausgang von der gesamten Regelung, die dieser Typus, sei es im Gesetz, sei es, falls es sich um einen außergesetzlichen Vertragstypus handelt, in den betreffenden Verträgen gefunden hat26. Die im Gesetz vorangestellte Kennzeichnung, die keine [468] abschließende und hinreichend genaue Definition darstellt, bedarf der Ergänzung durch eine Vielzahl von Zügen, die sich durch Rückschluß aus der gesetzlichen Regelung ergeben. Dieser »Rückschluß« steht unter der Voraussetzung, daß die gesetzlichen Regeln dem gemeinten Typus adäquat sind, daß sie auf ihn »passen«. Zutreffend bemerkt Leenen27, die häufig anzutreffende Bestimmung der Tatbestandsmerkmale von der sachlichen Angemessenheit der angeordneten Rechtsfolgen her sei »ein legitimes Verfahren der Typengewinnung als Vorbereitung wertender Zuordnung«. Dabei ist aber stets festzuhalten, daß eine konkrete vertragliche Regelung die typischen Züge eines Gesellschaftsvertrages in mehr oder minder starker Ausprägung zeigen kann, wobei einzelne dieser Züge auch ganz fehlen können. So braucht z. B. die Gesellschaft kein gemeinsames Vermögen zu haben, einzelne Gesellschafter können von der Geschäftsführung ausgeschlossen sein, für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters kann der Fortbestand der Gesellschaft unter den übrigen Gesellschaftern im Gesellschaftsvertrag vereinbart werden. Falsch wäre es indessen, bei der Zeichnung des Gesamtbildes des Typus alle Züge wegzulassen, die im Einzelfall fehlen können, da man dann wieder nur einige isolierte Merkmale erhalten würde, die, so gesehen, mehr oder minder nichtssagend wären und zum Verständnis der Regelung nicht beitragen könnten. Dementsprechend kommt es bei der Zuordnung eines bestimmten Vertrages zum Vertragstypus nicht so sehr auf die Übereinstimmung in allen Einzelzügen, als auf die des »Gesamtbildes« an. Erhebliche Abweichungen vom Gesamtbild des »Normaltypus« wird man als Sondertypen oder als »atypische Gestaltungen« einstufen. Wo jeweils die Grenze liegt, bis zu der hin eine Zuordnung zu diesem Typus noch möglich ist, läßt sich nicht generell angeben; wo die Grenzen flie-

26 Vgl. Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 171, 179ff.; Harm Peter Westermann, Vertragsfreiheit und Typengesetzlichkeit im Recht der Personalgesellschaften, 1970, S. 105f. 27 Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 181.

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ßend sind, wie das beim Typus regelmäßig der Fall ist, da ist die Zuordnung immer nur möglich auf Grund einer Gesamtbewertung. Anders als für die Erfassung und die nähere Bestimmung des rechtlichen Strukturtypus muß sich der Jurist für die Ermittlung der oben so genannten Standards, wie der Verkehrssitte oder den Handelsbräuchen, der Mithilfe des empirischen Sozialforschers bedienen, soweit ihm das Material hierfür nicht von sachkundigen Stellen, wie den Handelskammern, zur Verfügung gestellt wird. Seine Aufgabe bleibt, zu prüfen, ob die betreffenden Sozialregeln von der gesetzlichen Verweisung erfaßt, damit zu Rechtsregeln erhoben sind. Bei der Erfassung eines »normativen Realtypus«, wie zum Beispiel des »Handelsvertreters« oder des »leitenden Angestellten«, hat der Jurist seinen Blick von vorneherein ebensowohl auf die soziale Realität zu richten, der der vom Gesetz gemeinte Typus angehört, wie auf die Regelungszwecke, die die Auswahlkriterien für die nähere Bestimmung des gesetzlichen Typus liefern. Auch der Rechtssoziologe bedient sich vielfach der Typenbildung28. Der soziologische Typus, etwa des Beamten, des Kaufmanns oder des Handwerkers, braucht sich aber mit dem entsprechenden gesetzlichen Typus keineswegs zu decken. Der Soziologe wird an seinen Typen möglicherweise Züge hervorheben, die für den Juristen bedeutungslos sind, andere vernachlässigen, auf die [469] der Jurist ein entscheidendes Gewicht legt. Es kommt eben für die Auswahl der als maßgeblich betrachteten Züge immer auf den leitenden Gesichtspunkt an, unter dem die Bildung der Typen erfolgt. Der leitende Gesichtspunkt, unter dem der Gesetzgeber seine Typen bildet, ist stets ein normativer ; nur im Hinblick auf normative Gesichtspunkte kann daher der gesetzliche Typus verstanden werden. Rechtliche Strukturtypen sind in der sozialen Wirklichkeit anzutreffende Gebilde, wie die ihnen entsprechenden Regelungen. Sie zu erfassen, obliegt allein der Jurisprudenz. Sie kann dabei nur so verfahren, daß sie die gesetzlichen Normen auf das gerade in ihrer sinnvollen Verbindung sichtbar werdende »Leitbild« des Typus hin befragt, von dem aus dann die einzelnen Normen wieder ausgelegt werden müssen. Es handelt sich bei den hier ablaufenden Denkprozessen wieder um eine Erscheinungsform des »hermeneutischen Zirkels«: Der Typus wird aus den einzelnen Bestimmungen in ihrer sinnhaften Verbindung erschlossen und dient seinerseits dazu, diese Bestimmungen, ihre Tragweite und ihre Bedeutung für die Zuordnung zum Typus besser zu verstehen, zutreffender abzuschätzen29. Handelt es sich um einen außergesetzlichen Vertragstypus, der sich im Rechtsverkehr entwickelt hat, so treten an die Stelle der gesetzlichen Regeln zunächst die gebräuchlich gewordenen Vertragsmuster. 28 Vgl. Ernst E. Hirsch, Das Recht als soziales Ordnungsgefüge, 1966, S. 323ff.; Ryffel, Rechtssoziologie, 1974, S. 215f. 29 Ebenso Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 181.

Arten von Typen und verschiedene Typusverständnisse im Recht

253

Sie sind auf dem Hintergrund der von den Parteien verfolgten wirtschaftlichen Zwecke, ihrer »typischen« Interessenlage und der von den Parteien in Betracht gezogenen Risiken zu sehen. Danach können die für die vertragliche Regelung kennzeichnenden Züge herausgehoben und in ihrer Bedeutung gewürdigt werden. Durch den Vergleich mit anderen Vertragstypen lassen sich dann Unterschiede wie Gemeinsamkeiten feststellen und daraus Folgerungen für die rechtliche Beurteilung ziehen30.

30 Einige solcher im Rechtsverkehr entwickelter neuer Vertragstypen habe ich in meinem Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 2: Besonderer Teil, 12. Aufl. 1987, § 63 dargestellt.

15. Juristische Analogie zwischen Ähnlichkeit, Angleichung und ontologischem Typus (Arthur Kaufmann)

I.

Die Analogie – ein unbewältigtes Problem der Rechtswissenschaft

Bei Puchta kann man den Satz lesen: »Wenn der Richter sich von den äußeren Quellen verlassen findet, so hat er den anzuwendenden Rechtssatz aus den Prinzipien des bestehenden Rechts … zu schöpfen; ausgehend von der Natur der Sache erhält er ihn auf dem Wege der juristischen Konsequenz und der Analogie«1. Puchta setzt hier ganz deutlich die »Natur der Sache« in eine funktionale Beziehung zur Analogie, die »Natur der Sache« dient ihm gleichsam als Mittel und Kriterium analoger Rechtsanwendung, und dies – was ebenfalls bemerkenswert ist – unter Rückgriff auf die »Prinzipien des bestehenden Rechts«. Diese Verbindung von »Natur der Sache« und Analogie ist auffallend, werden doch in der modernen Rechtstheorie und Methodenlehre beide Denkformen als völlig selbständig und unabhängig voneinander angesehen und dargestellt. So schreibt Larenz: »Handelt es sich um eine offene Gesetzeslücke, so geschieht ihre Ausfüllung zumeist im Wege der Analogie oder des Rückgangs auf ein im Gesetz angelegtes Prinzip. Möglich ist auch eine Orientierung an der ›Natur der Sache‹«2. Hier werden also ganz unverkennbar »Natur der Sache« und Analogie als verschiedene Mittel der juristischen ars inveniendi verstanden, und das darf derzeit als die allgemeine Auffassung gelten3.Was Puchta noch gesehen hat: das Zusammenspiel von analogischem Rechtsfindungsverfahren und Denken aus

1 Puchta, Pandekten, 1883 [korrekt: 1838], S. 22 (zitiert nach Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 102). 2 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 366 (siehe aber auch Fn. 29, wo Larenz dem im Text Gesagten zustimmt). Vgl. auch Larenz, Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung, in: Festschr. f. A. Nikisch, 1958, S. 275ff. 3 Statt vieler weiterer Nachweise sei jetzt nur noch Engisch genannt, der in seiner Einführung in das juristische Denken (7. Aufl. 1977) Analogie (S. 146ff.) und »Natur der Sache« (S. 196f.) völlig getrennt voneinander behandelt.

256

Arthur Kaufmann

der »Natur der Sache« (schon [2] zu seiner Zeit stand er damit ziemlich allein), ist heute den meisten – es gibt freilich Ausnahmen4 – aus den Augen entschwunden. In einem negativen Punkt allerdings erkennt man Analogie und »Natur der Sache« eine Gemeinsamkeit zu: in ihrem extraordinären Charakter als Notbehelfe, die erst dann zum Zug kommen sollen, wenn die »normale« Methode der Gewinnung konkreter juristischer Urteile, nämlich Interpretation und Subsumtion, nicht zum Ziel führt, weil das Gesetz lückenhaft ist. Darin zeigt sich das Bestreben, möglichst ohne logisch so verdächtige Denkoperationen auszukommen, wie sie der sog. Analogieschluß und die Argumentation aus der »Natur der Sache« darstellen, und man glaubt auch tatsächlich, daß man ihrer außer zur Ausfüllung von Gesetzeslücken nicht bedarf5. Es besteht weithin die Vorstellung, daß im »Idealfall« der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts Analogie und »Natur der Sache« vollkommen entbehrlich wären. In dieser Vorstellung ist noch ein gutes Stück vom Geist des alten Gesetzespositivismus lebendig. Bergbohm, der Klassiker des Gesetzespositivismus, hat ganz richtig erkannt, daß es vom positivistischen Standpunkt aus so etwas wie »Natur der Sache« und Analogie nicht geben darf. […] [3] Bergbohms Auffassung, so übertrieben sie uns heute auch erscheinen mag, ist doch nur eine ganz logische Konsequenz des Positivismus-Dogmas, wonach Gesetz und Recht identisch sind6. Für den orthodoxen Positivisten existiert das Recht allein im Gesetz und nirgendwo sonst (daher die verbreitete Vorstellung, das Recht bestünde aus Paragraphen), was nicht im Gesetz geregelt ist, ist mithin auch rechtlich ungeregelt, fällt also in den »rechtsleeren Raum«7. Und das Recht finden, heißt demzufolge nichts anderes als das Gesetz anwenden, heißt subsumieren unter die Begriffe des Gesetzes. Für eine Ergänzung des Ge4 Hier ist insbesondere Baratta zu nennen: Juristische Analogie und Natur der Sache, in: Festschr. f. Erik Wolf zum 70. Geburtstag, 1972, S. 137ff. Sodann: Bullinger, Die Mineralölfernleitungen, 1962, S. 71ff., bes. S. 76 (mit Hinweis auf Triepel); W. Hassemer, Der Gedanke der »Natur der Sache« bei Thomas von Aquin, in: ARSP 49 (1963), S. 29ff., bes. S. 40ff.; Schambeck, Der Begriff der »Natur der Sache«, 1964, S. 88. Vgl. auch das Binding-Zitat bei Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschr. zu Ehren von Rudolf Laun, 1948, S. 157ff.; im folgenden zitiert nach der selbständigen Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, 1960, hier : S. 37f. 5 In betontem Gegensatz hierzu jetzt aber Maihofer, der in der »Natur der Sache« eine dem Gesetz mindestens ebenbürtige »außergesetzliche Rechtsquelle« erblickt: Die Natur der Sache, in: ARSP 44 (1958), S. 145ff., bes. S. 172; auch in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts (Wege der Forschung, Bd. XXII), 1965, S. 52ff. Siehe auch Maihofer, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: Annales Universitatis Saraviensis, Serie Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Vol. VIII, 1960, S. 5ff., bes. S. 25f. 6 Siehe hierzu Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Existenz und Ordnung; Festschr. f. Erik Wolf zum 60. Geburtstag, 1962, S. 357ff.; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1. Aufl. 1972, S. 135ff. 7 Vgl. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. I, 1892 (unveränd. Nachdr., 1973), S. 375ff. u. ö.

Juristische Analogie

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setzes durch Konstruktionen aus Analogie und »Natur der Sache« ist schlechterdings kein Raum. Ja, genau genommen, ist noch nicht einmal für eine Interpretation des Gesetzes Raum; denn wenn man sich gemäß dem strikten Rechtsschöpfungsverbot den Richter als einen Gesetzesunterworfenen zu denken hat, dessen Aufgabe nach Montesquieu nur in der »genauen Kopie des Gesetzes« besteht8, dann müssen die Gesetzes-[4]begriffe einen streng eindeutigen Inhalt haben, an dem es nichts zu »deuteln« gibt. So hat man ja auch zur Zeit des klassischen Gesetzespositivismus ausdrückliche Auslegungs- und Kommentierungsverbote aufgestellt. In einem bayerischen Reskript vom 19. Oktober 1813 beispielsweise ist allen Staatsdienern und Privatgelehrten verboten worden, einen Kommentar zum Strafgesetzbuch von 1813 drucken zu lassen – ganz im Sinne Feuerbachs, des Schöpfers dieses Strafgesetzbuchs, der nicht nur amtliche, sondern auch private Kommentare angesichts der Klarheit des Gesetzbuchs für überflüssig, als Polster richterlicher Bequemlichkeit für gefährlich, kurz für ein »wahres Grab der neuen Gesetzgebung« erklärt hatte9. Heute bezeichnet man diese Auslegungsverbote als »Denkmäler gesetzgeberischer Naivität«10, und das sind sie auch ganz gewiß. Aber wie steht es denn mit dem sog. strafrechtlichen Analogieverbot, das man ganz überwiegender Meinung zufolge noch immer aus dem Grundsatz »nullum crimen sine lege« glaubt ableiten zu müssen11? Ist es nicht auch eine Naivität, anzunehmen, man könne zwar die Gesetzesinterpretation, auch die erweiternde, zulassen, aber die Analogie verbieten? Man lese doch einmal in der einschlägigen Literatur nach, was zur Unterscheidung von erlaubter Interpretation und verbotener Analogie gesagt wird: es ist das Eingeständnis der völligen Undurchführbarkeit einer praktikablen Abgrenzung12. Und dabei handelt es sich keineswegs nur um Schwierigkeiten innerhalb eines verhältnismäßig engen Grenzbereichs, vielmehr ist die Ununterscheidbarkeit prinzipieller Natur. Denn wenn man sagt, die Auslegung reiche bis zum »möglichen Wortsinn«13, so ist man ja bereits mitten in der Analogie, weil dieser »mögliche [5] Wortsinn« weder ein Univokes noch ein Äquivokes und also nur ein Analoges sein kann. Die Bemerkung Engischs, daß 8 9 10 11

Montesquieu, De l’esprit des lois, Liv. XI, Chap. 6. Nach Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach – Ein Juristenleben, 3. Aufl. 1970, S. 85. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 93. Dazu etwa Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes »nulla poena sine lege«, in: ZStW 76 (1964), 1ff. 12 Vgl. z. B. Schönke/Schröder/Eser, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 20. Aufl. 1980, Rdn. 26ff. zu § 1; Maurach/Zipf, Strafrecht All. T. – 1,5. Aufl. 1977, S. 133ff.; Baumann, Strafrecht Allg. T., 8. Aufl. 1977, S. 155ff. 13 So oder ähnlich u .a. Jeschek, Methoden der Strafrechtswissenschaft, in: Studium Generale 12 (1959), 107ff., 113; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 83 (mit zahlreichen weiteren Hinweisen); Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, in: MDR 1958, 394ff.

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eigentlich nur dort noch von »Auslegung« die Rede sein könnte, wo sie im Rahmen des »klaren und eindeutigen Wortsinnes« bleibt14, enthält eine contradictio in adiecto, weil es einen »eindeutigen Wortsinn«, univoke »Sinnbegriffe«, gar nicht geben kann. Univok können nur sinnleere Begriffe sein (streng genommen nur Zahlbegriffe15), sobald in sie ein Sinn »hineingedeutet« wird, sind sie nicht mehr univok, sondern analogisch. Abgesehen davon wäre ja wohl die »Klarstellung« eines »klaren und eindeutigen Wortsinnes« gerade nicht das, was man »Auslegung« nennt. Denn die Auslegung (die »interpretatio«, das ist wörtlich: die »Vermittlung«, die Bestimmung der rechten »Mitte«) beginnt doch erst da, wo keine Eindeutigkeit mehr gegeben ist – folglich liegt sie immer (da Äquivozität ausscheidet) im Bereich des Analogischen (nur hier gibt es eine »Mitte«, die durch die »interpretatio« zu bestimmen ist). Schon Hermann Kantorowicz hat ganz klar erkannt, daß »auch die extensive Interpretation kein anderes Motiv und Vehikel besitzt als die Ähnlichkeit der Fälle« und daß sie darum »der gleichen Kritik unterliegt wie die Analogie, deren Rolle man sie oft genug spielen läßt, wenn das Auftreten der Analogie untersagt ist«16. So wird denn auch, sieht man genau zu, nirgendwo mit dem »Analogieverbot« wirklich ernst gemacht, liefe doch ein striktes Analogieverbot eben auch auf ein Interpretationsverbot hinaus17, dessen völlige Wirkungslosigkeit die geschichtliche Erfahrung lehrt. [6] Es kann sich also bei dem sog. »Analogieverbot« immer nur darum handeln, ob es möglich ist, innerhalb der Analogie mittels brauchbarer Kriterien eine einigermaßen zuverlässige Grenze zu ziehen. Nur von dieser Fragestellung aus ergibt sich überhaupt ein Zugang zu der eigentlichen Problematik des Nullum-crimen-Grundsatzes. Wer an der Vorstellung festhält, dieser Grundsatz enthalte die Forderung nach eindeutiger (»exakter«) Bestimmung des strafbaren 14 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 82. Engisch setzt freilich selbst die Worte »klar und eindeutig« in Anführungszeichen. 15 Vgl. Engisch selbst: Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 108. 16 Kantorowicz (»Gnaeus Flavius«), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 23 (Neuabdruck in: Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie; Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Th. Würtenberger, 1962, S. 13ff.). – Kritisch gegenüber dem sog. Analogieverbot auch schon Exner, Gerechtigkeit und Richteramt, 1922, S. 39ff.; Germann, Zum sogenannten Analogieverbot nach schweizerischem Strafgesetzbuch, in: SchwZStrR [Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht] 61 (1946), 119ff.; Waiblinger, Die Bedeutung des Grundsatzes »Nullum crimen sine lege« für die Anwendung und Fortentwicklung des schweizerischen Strafrechts, in: Rechtsquellenprobleme im schweizerischen Recht; Festgabe d. Rechts-u. Wirtschaftswiss. Fakultät der Univ. Bern f. d. Schweizerischen Juristenverein, 1955, S. 215ff. Weitere Hinweise, auch auf ausländisches Recht, bei Schönke/ Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl. 1965, Anm. 1ff. zu § 2. 17 Interessanterweise erklärt Welzel die Analogie im Rahmen der Gesetzesauslegung (!) für zulässig; siehe: Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 22. Ähnlich Mezger, Strafrecht; Ein Lehrbuch, 3. Aufl. 1949, S. 83f.

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Verhaltens (mittels streng »definierter«: scharfe Grenzen gebender Begriffe) und demzufolge das Verbot jeglicher Analogie, muß notwendig an der Wirklichkeit scheitern. Denn wo finden wir im Recht – und insbesondere im Strafrecht – eine solche eindeutige Bestimmtheit? Es gibt doch buchstäblich keine einzige Straftat, deren Konturen im Gesetz wirklich festgelegt sind – nach allen Seiten sind die Grenzen offen. Das weiß jeder, und doch weigert man sich allenthalben, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Dabei fehlt es durchaus nicht an rechtstheoretischen Untersuchungen, die schon sehr viel zur Klärung dieses Fragenkomplexes beigetragen haben. In neuerer Zeit haben sich insbesondere Sax und Heller eingehend und mit der nötigen Unvoreingenommenheit dem Problem der Analogie gewidmet, und beide sind dabei zu dem Resultat gelangt, daß es ein Verbot jeglicher strafbegründender bzw. strafschärfender Analogie im Strafrecht nicht gibt18. Das ist bis jetzt nirgendwo widerlegt worden. Aber man nimmt diese Untersuchungen und ihre Ergebnisse auch nicht zur Kenntnis, sondern geht mehr oder weniger stillschweigend über sie hinweg. Wie ist das zu erklären? Der eine und sicher hartnäckigste Grund, warum man sich gegen bessere Erkenntnis sträubt, ist ganz vordergründiger Natur : das strafrechtliche Analogieverbot ist ein Tabu. Wer daran rührt, muß auf den Vorwurf gefaßt sein, daß er noch von dem bösen Geist der Analogienovelle des Jahres 1935 besessen ist. Die unseligen Jahre der Diktatur belasten noch heute bei uns die wissenschaftliche Diskussion in einer Weise, daß vielfach nicht sachliche Gründe, [7] sondern Hemmungen und Verklemmungen den Ausschlag geben. […] Das ist nicht gerade ein Kompliment für die deutsche Rechtswissenschaft. Es ist sehr an der Zeit, daß wir aus dieser Sackgasse endlich herausfinden. Ein zweiter, tieferer, Grund dafür, warum man an dem strafrechtlichen Analogieverbot glaubt festhalten zu müssen, wurde bereits angedeutet: es ist die vom Positivismus ausgehende logische Verdächtigung der Analogie. Dabei ist nicht zu bestreiten: der sog. Analogieschluß führt immer nur zu einem problematischen Urteil und kann daher niemals gesicherte Ergebnisse liefern. Aber was besagt das gegen die Bedeutung der Analogie im Recht? Wir vermögen ihr wahres Gewicht nur deshalb nicht zu erfassen, weil wir noch immer von dem positivistischen Dogma, das Recht stecke allein im Gesetz, geblendet sind und infolgedessen die Rolle, die das Gesetz beim Rechtserkenntnisprozeß spielt, erheblich überschätzen. Das führt dazu, daß alle die anderen an diesem Prozeß beteiligten Momente entweder überhaupt nicht gesehen oder so zurechtgebogen werden, daß sie in das gewohnte Vorstellungsbild passen, man habe das Recht 18 Sax, Das strafrechtliche »Analogieverbot«; Eine methodologische Untersuchung über die Grenze der Auslegung im geltenden deutschen Strafrecht, 1953, bes. S. 35, 152ff.; derselbe, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte; Handb. d. Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. III, 2, 1959, S. 909ff., bes. 992ff.; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, bes. S. 135ff., 142.

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ausschließlich dem Gesetz entnommen. Was ideologisch hinter diesem Gesetzesmonopol (Gesetzesabsolutismus) im Denken des Juristen steht, ist nichts anderes als die Idee des Rechtsstaates, wie sie im vorigen Jahrhundert geprägt worden und noch heute bei uns, wenn auch nicht mehr ungebrochen, lebendig ist. Dieser Rechtsstaat ist seinem Wesen nach Gesetzesstaat, ist der Staat, in dem allein dem Gesetz die Funktion zugeschrieben wird, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit in der Gesellschaft zu garantieren, und in dem folgerichtig die Aufgabe, das Recht zu gestalten, auch nur dem Gesetzgeber, nicht auch den anderen Staatsgewalten und schon gar nicht dem einzelnen Staatsbürger anvertraut wird. Die Lehre von der Gewaltenteilung wird [8] im Gesetzesstaat also dahin interpretiert, daß alle rechtsschöpferische Tätigkeit der Legislative vorbehalten bleiben muß, die richterliche »Gewalt« hat sich darauf zu beschränken, das vom Gesetzgeber geschaffene Recht lediglich »anzuwenden« (daher ist sie nach Montesquieu auch nur ein »pouvoir neutre« und »en quelque facon nulle«). Von daher ergibt sich, fast zwangsläufig, daß alle außer- und übergesetzlichen Kriterien und Erwägungen, insbesondere jede rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters, als eine Gefahr für den Rechtsstaat und als eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips angesehen werden. So begegnen Argumentationen aus Analogie und »Natur der Sache« gerade auch vom Rechtsstaatsgedanken aus äußerstem Mißtrauen. Nun wäre es ganz falsch, das Gesagte dahin zu verstehen, daß dieses Mißtrauen völlig unberechtigt wäre und daß man etwa den Grundsatz »nullum crimen, nulla poena sine lege« ganz über Bord werfen sollte. Vor einer gesetzesfreien Rechtsfindung, wie sie heute vor allem von gewissen Richtungen des Existentialismus und der Situationsethik vertreten und gefordert wird19, vor einem nur-existenziellen, situationsbestimmten Recht, das keine allgemeinverbindliche Norm, sondern einzig die Bindung des Menschen an den Selbstentwurf der je einmaligen Situation kennt, kann nicht nachdrücklich genug gewarnt werden20. Das wäre in der Tat das Ende des Rechtsstaats. Aber das heißt andererseits nicht, daß das Recht, daß der Rechtsstaat, daß die Magna Charta der staatsbürgerlichen Freiheit nur im Gesetz zu suchen wären. Es ist ein Verhängnis, daß man bei uns meist nur die Alternative sieht: entweder »Gesetzespositivismus« oder »Naturrechtsstandpunkt«, entweder Entscheidung nach »positivem Gesetz« oder nach »überpositivem Recht«, entweder »Normativismus« oder »Dezisionismus«, entweder »Gesetzesstaat« oder »Richterstaat«. Aber diese Al-

19 In diesem Sinne insbes. Cohn, Existenzialismus und Rechtswissenschaft, 1955. 20 Eingehender Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Existenz und Ordnung; Festschr. f. Erik Wolf zum 60. Geburtstag, 1962, S. 368ff., bes. 372f.; Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 21ff., 40; Zur rechtsphilosophischen Situation der Gegenwart, in: JZ 1963, 137ff., 144; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1 Aufl. 1972, S. 145ff., 230ff., 172ff.

Juristische Analogie

261

ternativen sind falsch, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Darauf [9] muß, wenn auch in der hier gebotenen Kürze21, noch etwas näher eingegangen werden. […] [10]

II.

Der Prozeß der Rechtsverwirklichung

[…] [18]

III.

Recht als Entsprechung von Sollen und Sein*

[…] [29]

IV.

Das Gleichheitsproblem im Licht der Analogizität des Seins und der Erkenntnis

Wir haben gesehen: Bei aller Analogie handelt es sich um eine Gleichsetzung von Ungleichem unter einem sich als wesentlich erweisenden Gesichtspunkt, um eine Gleichheit nach Maßgabe eines bestimmten Verhältnisses. Damit aber ist das Gleichheitsproblem aufgeworfen, das Kernproblem des Rechts überhaupt. Denn die Rechtsidee, die Gerechtigkeit, fordert ja Gleichbehandlung des Gleichen und Verschiedenbehandlung des Ungleichen. Aber was ist gleich und was ist ungleich? […] »Gleichheit«, sagt Radbruch, »ist nicht eine Gegebenheit, die Dinge und Menschen sind so ungleich, ›wie ein Ei dem andern‹, Gleichheit ist

21 Auch hier muß ich zur Ergänzung des Textes auf anderweitige eigene Ausführungen verweisen: Die ontologische Struktur des Rechts, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts (Wege der Forschung, Bd. XXII), 1965, S. 470ff.; auch in: Rechtsphilosophie im Wandel, 1 Aufl. 1972, S. 104ff. Ferner : Das Schuldprinzip; Eine strafrechtlich-philosophische Untersuchung, 2. Aufl. 1976, S. 41ff.; Gesetz und Recht (Fn. 20), bes. S. 381ff. * Beide gekürzten Abschnitte siehe in diesem Band: Teil I Nr. 3 unter I. und II.

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immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkt«22. […] [30] Unmittelbar gegeben ist nicht die Gleichheit oder Verschiedenheit, sondern die Analogie des Seienden; denn noch bevor ein Prinzip der Gleichsetzung oder Ungleichsetzung bewußt wird, werden die Dinge in ihrer Ähnlichkeit respektive Unähnlichkeit erfaßt23. […] Ordnung, auch Rechtsordnung, gibt es nur auf Grund der Analogie des Seins, die eine Mitte ist zwischen Identität und Widerspruch, zwischen Gleichheit und Verschiedenheit24. [31] So sind auch die analogen Begriffe eine Mitte: die Mitte zwischen den univoken, eindeutigen, und den äquivoken, mehrdeutigen, Begriffen (im streng logischen Sinne darf man freilich nur die univoken Begriffe überhaupt »Begriffe« nennen25). Die univoken Begriffe drücken etwas Identisches aus. Wie wir schon hervorgehoben haben, sind univok im strengen Sinne nur die Zahlbegriffe; der Begriff »18jähriger Mensch« hat den eindeutigen Inhalt: ein Mensch, der das 18., aber noch nicht das 19. Lebensjahr vollendet hat. Bei den äquivoken »Begriffen« fehlt jede Übereinkunft: das Wort »Strauß« für einen Vogel, für ein Blumengebinde und für einen Kampf. Bei den analogen Begriffen hingegen besteht weder völlige Eindeutigkeit des Inhalts, noch liegt pure Mehrdeutigkeit vor, vielmehr handelt es sich gleichsam um eine bildhafte, symbolische, metaphorische Ausdrucksweise26 : die »Tiefe« der Seele, die »Krankheit« der Kunst, die »lachende« Flur, die »weiche« Musik, das »harte« Getränk. Der analoge Begriff weist einerseits ein Element der Einheit, einen festen »Kern« auf, sonst ließe sich mit ihm nichts »begreifen«, andererseits aber muß er auch verschiedene Bedeutungen annehmen können (darum spricht man hier gelegentlich auch von »relativen Begrif-

22 Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 122. Vgl. auch Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 30ff. 23 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 231. – Siehe zum ganzen auch noch A. Brunner, Erkenntnistheorie, 2. Aufl. 1948, S. 172ff., 191f. 24 Ganz in diesem Sinne Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956, S. 64, der »Ordnung« als ein »Gefüge von Entsprechungen« bezeichnet. Ebenso viel früher bereits Thomas von Aquin, Summa theologica I, 116, 2 ad 3: Ordo non est substantia, sed relatio. 25 Vgl. Bochenski, Formale Logik, 1956, S. 205ff.; derselbe, Gedanken zur mathematisch-logischen Analyse, in: Studium Generale 9 (1956), S. 121. 26 Siehe hierzu Söhngen, Analogie und Metapher ; Kleine Philosophie und Theologie der Sprache, 1962, passim, S. 57ff.; Gadamer, Wahrheit und Methode; Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. Aufl. 1975, S. 71, 407 u. ö.; Fischl, Logik, 2. Aufl. 1952, S. 57ff.; Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus; Logisch-philosophische Abhandlung, Ed. Suhrkamp, 1963, 2.1. – Vgl. ferner auch Sax, Das strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, S. 107, sowie: Über Rechtsbegriffe, in: Festschrift für Hermann Nottarp, 1961, S. 143ff.

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263

fen«27), sonst würde ihm die Fähigkeit fehlen, das mannigfaltige Ähnliche zu verbinden28. […] [32] Dabei ist zu bedenken, daß praktisch alle juristischen Begriffe, auch die sog. deskriptiven, analoge Begriffe sind, weil sie nie etwas nur Anschauliches, sondern immer (zumindest auch) einen geistigen, einen spezifisch rechtlichen Sinn zum Ausdruck bringen. So hat schon Radbruch darauf hingewiesen, daß alle Begriffe, die das Recht aus dem anschaulichen Leben übernimmt, niemals in dieser ihrer ursprünglichen anschaulichen Bedeutung beibehalten und festgehalten werden, sondern stets eine »teleologische Umformung« erfahren29. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Begriffe, mit denen die gesetzlichen Tatbestände gebildet werden, analogischen Charakter haben, oder, wie der gängige Sprachgebrauch lautet, »Sinnbestandteile« des Gesetzes, »Funktionsbegriffe«, darstellen (ausgenommen nur die seltenen Fälle, in denen das Gesetz reine Zahlbegriffe verwendet). […] [33] Der sog. Analogieschluß selbst ist kein logischer Schluß, so sehr man sich auch bemüht hat – Drobisch, Wundt30, neuerdings vor allem Bochenski31 –, exakte Analogieschlüsse nachzuweisen. Entweder handelt es sich bei diesen Schlüssen in Wahrheit nicht um zwingende Schlüsse, oder sie sind zwar exakt, dann aber keine Analogieschlüsse mehr. Bei bündiger logischer Begründung geht der sog. Analogieschluß in einen reinen Syllogismus über32. Solche bündige logische Begründung des Urteils ist aber immer erst dann möglich, wenn die Ähnlichkeit der Analogate schon bekannt, d. h. bereits festgesetzt ist. […] [35] Das Gesagte läßt sich ohne weiteres auf den geläufigen juristischen Analogieschluß übertragen. […] [36] Der Schluß geht also auch hier über ein Allgemeines, über eine latente

27 Vgl. Engisch, Die Relativität der Rechtsbegriffe, in: Deutsche Landesreferate zum V. Internat. Kongreß für Rechtsvergleichung in Brüssel, 1958, S. 59ff. 28 Vgl. Krings, Wie ist Analogie möglich?, in: Gott in Welt, Festgabe für Karl Rahner, Bd. I, 1964, S. 102. – Auf die alte Unterscheidung von Attributionsanalogie (»gesunder« Körper – »gesunde« Nahrung) und Proportionalitätsanalogie (6:3 = 4:2; Flossen der Fische wie Flügel der Vögel) können wir hier nicht näher eingehen. Letzten Endes beruht alle Analogie auf Proportionalität, Verhältnismäßigkeit, Entsprechung. 29 Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 215f.; Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1965, S. 10. 30 Zu ihnen vgl. Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. 1966, S. 176ff., der in diesem Zusammenhang freilich nicht von Analogie, sondern von »Teleologik« spricht. 31 Bochenski, Formale Logik, 1956, S. 205ff.; Gedanken zur mathematisch-logischen Analyse der Analogie, in: Studium Generale 9 (1956), S. 121ff.; Logisch-philosophische Studien, 1959, S. 107ff. – Gegen ihn Juhos, Über Analogieschlüsse, in: Studium Generale 9 (1956), S. 126ff. 32 Siehe Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 118ff., 144.

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Prämisse: die Identität der »ratio legis« bzw. der »ratio iuris«33. Die Rationalität der Norm muß sich mit der Rationalität der Sache decken, es muß eine Identität des Sinnverhältnisses bestehen. […] Dazu bedarf es eines tertium comparationis. Dieses Tertium ist das eigentlich Problematische an der Analogie. […] [44]

V.

»Natur der Sache« und Typus: vermittelnde Mitte zwischen Normgerechtigkeit und Sachgerechtigkeit

[…] Dieses Tertium, dieser Mittler des Gesetzgebungs- wie des Rechtsfindungsverfahrens ist der »Sinn«, in dem Rechtsidee bzw. Gesetzesnorm und Lebenssachverhalte identisch sein müssen, damit sie zueinander »in Entsprechung« gebracht werden können (Identität des Sinnverhältnisses). Man nennt diesen Sinn auch die »Natur der Sache«. Die »Natur der Sache« ist der Topos, in dem sich Sein und Sollen begegnen, sie ist der methodische Ort der Verbindung (»Entsprechung«) von Wirklichkeit und Wert34. […] [47] die »Natur der Sache« verweist auf den Typus. Das Denken aus der »Natur der Sache« ist typologisches Denken35. So mündet eines der aktuellsten Probleme der gegenwärtigen Rechtsphilosophie: die »Natur der Sache«36 in eines der aktuellsten Probleme der gegenwärtigen Rechtstheorie: den »Typus«37. 33 Die übliche Unterscheidung von »Gesetzesanalogie« und »Rechtsanalogie« spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle. Sie ist ohnehin sehr fragwürdig. 34 Vgl. Tammelo, The Natur of Facts as a Juristic Tjpos, in: ARSP, Beiheft Nr. 39 N. F. (1963), S. 236ff.; Kwun, Entwicklung und Bedeutung der Lehre von der »Natur der Sache« in der Rechtsphilosophie bei Gustav Radbruch, Diss. Saarbrücken, 1963, S. 24; siehe auch S. 18, 26, 38f., 48. 35 Siehe schon Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, in: Internat. Zeitschr. f. Theorie des Rechts 12 (1938), 46ff., bes. S. 49; wieder abgedruckt in: Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Nachdruck der Ausgabe von 1904, 1967, S. 167ff.; Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschr. zu Ehren von Rudolf Laun, 1948, S. 30ff. Sodann auch Maihofer, Recht und Existenz, in: Vom Recht, 1963, S. 170; Naturrecht als Existenzrecht, 1963, S. 23; Larenz, Wegweiser zur richterlichen Rechtsfortbildung, in: Festschr. f. Nikisch, 1958, S. 288; Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 406ff.; Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der »Natur der Sache«, 1957, S. 22. 36 Zur Problemgeschichte der »Natur der Sache« eingehend Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre; Versuch einer Orientierung, 3. Aufl. 1964, S. 107ff. 37 Zum Typusproblem in der Rechtstheorie siehe außer Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, in: Internat. Zeitschr. f. Theorie des Rechts 12 (1938), 46ff.: H. J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: Studium Generale 5 (1952), 195ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. 1968, S. 237ff. (mit vielen weiteren Literaturhinweisen); Larenz, Methodenlehre der

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Der Typus bildet die Mittelhöhe zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, er ist ein vergleichsweise Konkretes, ein universale in re. So unterscheidet sich der Typus auf der einen Seite vom abstrakt-allgemeinen Begriff, der durch eine begrenzte Anzahl isolierender »Merkmale« »definiert« (: begrenzt) und daher – nach Kant – der Anschauung entgegengesetzt ist. Der Typus in seiner größeren Wirklichkeitsnähe, Anschaulichkeit und Gegenständlichkeit ist demgegenüber nicht definierbar, sondern nur »explizierbar«, er hat zwar einen festen Kern, aber keine festen Grenzen, so daß von den für einen Typus charakteristischen »Zügen« auch der eine oder andere fehlen kann, ohne daß damit die Typizität eines bestimmten Sachverhalts in Frage gestellt zu sein braucht. […] [48] Übertragen wird das Gesagte auf die Ebene des Rechts, so erweist sich der Typus – gemeint als normativer Typus, nicht als Durchschnitts- oder Häufigkeitstypus, auch nicht als »Idealtypus« im Sinne von Max Weber – als die Mitte zwischen Rechtsidee und Lebenssachverhalt, um die letztlich alles Rechtsdenken kreist: die Mitte zwischen Normgerechtigkeit und Sachgerechtigkeit. Er ist zugleich Vorbild der flüchtigen Erscheinung und Fürbild der Idee. Er empfängt sein Licht von beiden und ist darum einerseits inhaltlich reicher und anschaulicher als die Idee und andererseits gültiger, geistiger, dauerhafter als die Erscheinung38. Zwar ist der Typus in seinen Konturen nichts Starres, Unwandelbares, aber er ist weitgehend unserer Disposition entrückt. Wir können nicht beliebig Typen bilden. Der Typus ist die Ur-Sache, das »Urphänomen« im Sinne Goethes. [49] So ist der Typus dasjenige, was aller Gesetzgebung und Rechtsgestaltung vorgegeben ist. Des Gesetzgebers Aufgabe ist es, Typen zu beschreiben. Dabei mag er einen gewissen Spielraum haben; er kann z. B. den Mord als die mit Überlegung begangene Tötung oder aber auch als die in hinterlistiger oder gefährlicher Weise oder aus niedrigen Beweggründen ausgeführte Tötung bestimmen – über den Typus des Mordes als der besonders schweren Form der vorsätzlichen Tötung kann er sich nicht hinwegsetzen. […] Erfolg und Mißerfolg der Gesetzgebung wie der Rechtsfindung hängen von der richtigen Erfassung der Typen ab. Unsere heutige Unsicherheit – Rechtsunsicherheit – rührt in erster Linie nicht daher, daß die Gesetze begrifflich schlechter gefaßt wären als ehedem; wir sind vielmehr der hinter den Gesetzesbegriffen stehenden Typen nicht mehr Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 443ff.; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 471ff. – Vgl. auch Esser, der von »Standards« als den lebendigen Leitbildern im Rechtsverkehr spricht: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Aufl. 1974, S. 95ff. u. ö. Siehe ferner Philipps, Zur Ontologie der sozialen Rolle, 1963, bes. S. 31ff. – Über das typologische Rechtsdenken in der chinesischen Philosophie vgl. Kwun, Entwicklung und Bedeutung der Lehre von der »Natur der Sache« in der Rechtsphilosophie bei Gustav Radbruch, Diss. Saarbrücken, 1963, S. 49ff. 38 Vgl. Ernst Jünger, Typus Name Gestalt, 1963, S. 28, 82.

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sicher39 ! Wir wissen nicht mehr so recht, was ein »ordentlicher Kaufmann«, ein »gerechter Richter«, ein »vorbildlicher Familienvater« ist. Hätten wir noch mit intuitiver Sicherheit das Bild des »gewissenhaften Arztes« vor uns, so wäre uns die ärztliche Aufklärungspflicht oder die künstliche Unfruchtbarmachung nicht so sehr zum Problem geworden. Wir leben in einer Zeitenwende, und Zeitenwenden sind Zeiten des Umbruchs und daher der Unsicherheit. Die überkommenen Typen und Gestalten haben für uns weitgehend ihre überzeugende Kraft eingebüßt. […] [51] Wir haben schon früher gesehen, daß der Begriff ursprünglich analog ist. Der univoke, eindeutige, streng definierte Begriff ist erst das Ergebnis einer gedanklichen Operation, einer Abstraktion. Soll dieser Begriff dann auf die Wirklichkeit »angewendet«, im Urteil konkretisiert werden, so muß er seine Abstraktheit und damit Eindeutikeit wieder verlieren. Im konkreten Urteil tritt der abstrakt-definierte Begriff nicht auf40. Deshalb lehrt ja auch die Strafrechtsdogmatik, daß Vorsatz nicht eine Subsumtion des Tatgeschehens unter die abstrakten Gesetzesbegriffe bedeute, erforderlich sei vielmehr eine »Subsumtion nach Laienart«, eine »Parallelwertung in der Laiensphäre«, eine »Parallelbeurteilung im Täterbewußtsein« oder wie immer diese Formeln lauten mögen. Das heißt aber gar nichts anderes, als daß der Täter, soll man ihm vorsätzliches Handeln zum Vorwurf machen können, seine Tat dem vom Gesetz gemeinten Unrechtstypus zugeordnet haben muß. Beim Prozeß der Rechtsverwirklichung haben wir es also mit einem ständigen Schließen und Öffnen und wieder Schließen der Gesetzesbegriffe zu tun – man könnte es fast eine Dialektik von [52] »Begriffsjurisprudenz« und »Interessenjurisprudenz« nennen (womit anerkannt ist, daß beide einen richtigen Aspekt enthalten). Der Gesetzgeber versucht, die typischen Lebenssachverhalte möglichst präzis in Begriffen zu fassen; die Rechtsprechung muß dann aber diese Begriffe, da sie sich als zu begrenzt (»definiert«) erweisen, wieder sprengen, um den Lebenswirklichkeiten gerecht werden zu können; sofort aber beginnt der rückläufige Vorgang, indem nunmehr – etwa von den Gesetzeskommentatoren – eine neue, »korrigierte« Definition des betreffenden Begriffs gegeben wird, die ihrerseits angesichts der Mannigfaltigkeit des Lebens doch auch wieder nur für eine mehr oder minder lange Zeit genügen kann – ein nie zu Ende kommender Prozeß41. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür liefert der Begriff des »Ge-

39 Ernst Jünger, Typus Name Gestalt, 1963, S. 44ff., spricht geradezu von der heute allenthalben zu beobachtenden »Hinfälligkeit der Typen und Charaktere«, von einem »Typenschwund« und der daraus resultierenden Einbuße an Autorität. 40 Übereinstimmend Krings, Wie ist Analogie möglich?, in: Gott in Welt, Festgabe für Karl Rahner, Bd. I, 1964, S. 104f. 41 Vgl. Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, in: Internat. Zeit-

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wahrsams« (Diebstahl als Bruch fremden Gewahrsams), der seit Bestehen des geltenden Strafgesetzbuches unzählige Male neu definiert und korrigiert worden ist, ohne daß es aber je gelungen wäre, eine solche Definition zu finden, die den gemeinten Typus – Gewahrsam als die Friedenssphäre einer Person – genau trifft42. Von hier aus wird nun auch ersichtlich, was der Grundsatz »nullum crimen sine lege« in Wahrheit besagt. Er kann nicht ein striktes Analogieverbot bedeuten, denn ein solches hätte zur Voraussetzung, daß das Delikt im gesetzlichen Tatbestand durch eindeutige Begriffe abschließend definiert werden kann. Das aber ist unmöglich43. Der Grundsatz »nullum crimen sine lege« besagt vielmehr, daß der Typus der strafbaren Handlung in einem formellen Strafgesetz fixiert, d. h. mehr oder weniger vollständig beschrieben werden muß. Darum findet die Analogie im Strafrecht ihre Grenze an dem dem gesetzlichen Tatbestand zugrundeliegenden Unrechtstypus44. Was jenseits liegt, ist freie Rechtsfindung (unzulässig [53] wäre also z. B. die Bestrafung der weiblichen Homosexualität per analogiam nach § 175 StGB, denn diese Strafbestimmung betrifft zweifellos nur den Unrechtstyp der männlichen Homosexualität). Wer diese These, daß im Strafrecht die Analogie bis zur Grenze des Unrechtstypus erlaubt ist, für bedenklich hält, möge statt von Analogie von »ideologischer Interpretation« sprechen – an der Sache ändert es nichts.

schr. f. Theorie des Rechts 12 (1938), S. 46, 53; auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 445. 42 Vgl. dazu Figlesthaler, Untersuchungen zum Gewahrsamsbegriff im Strafrecht, Diss. Saarbrücken 1963, bes. S. 49ff. 43 Insofern unrichtig Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes »nulla poena sine lege«, in: ZStW 76 (1964), S. 1ff., der von einer »strikten Befolgung« des Analogieverbots spricht (S. 15). Irrig auch Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, S. 78ff. Zutreffend dagegen Kielwein, Grundgesetz und Strafrechtspflege, in: Annales Universitatis Saraviensis, Serie Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Vol. VIII, I960, S. 127ff., bes. S. 133f. – Siehe auch oben Fn. 17, 18 und 19 [im Original]. 44 So richtig Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte; Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. III, 2, 1959, S. 1008f.; vgl. auch schon Das strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, S. 148ff.

16. Typus und Analogieverbot im Strafrecht (Winfried Hassemer)

I.

Die Typizität des Tatbestandes

Nach der Untersuchung der Grundstruktur strafrechtlicher Auslegung können Aussagen über die Werkzeuge erarbeitet werden, deren sich der Auslegende bedient; denn es bedarf keiner weiteren Argumentation, um zu zeigen, daß der hermeneutische Charakter der Auslegung vom hermeneutischen Charakter dessen bestimmt wird, was ausgelegt wird. Ist aber geklärt, wie dieses Werkzeug beschaffen ist, so kann auch abschließend gesagt werden, wie die Auslegung als »Entfaltung von Tatbestand und Sachverhalt aneinander« vonstatten geht, m. a. W., welches konkrete Verfahren sich hinter dem beschreibenden Terminus »Entfaltung« verbirgt. […] Wir haben gesehen, daß und wie der Tatbestand des Sachverhalts (ob geschehen oder erdacht) bedarf, damit er hermeneutisch fruchtbar, d. i. verstehbar und auslegungsfähig wird; denn er hat, wie auch seine Merkmale und durch sie, Wirklichkeitsbezug. Dieser Wirklichkeitsbezug muß vom Auslegenden realisiert werden: Die Sachverhaltsentscheidung ist dann und nur dann richtig, wenn der Tatbestand richtig auf den Sachverhalt, die Tatbestandsmerkmale richtig auf den Sachverhalt und die Sachverhaltsmerkmale bezogen sind. Dem liegt zugrunde, daß Tatbestand und Tatbestandsmerkmale hermeneutisch unfertig, daß sie nach der Wirklichkeit hin offen sind. Von diesem Wirklichkeitsbezug ist auf zweierlei Weise zu sprechen. Einmal so, wie es bisher geschah, daß Tatbestand und Tatbestandsmerkmale Richtung zur Wirklichkeit haben, von ihr hermeneutisch mitkonstituiert werden und in ihrer Auslegung von ihr her auch Richtigkeitskriterien beziehen. Dies bedeutet, daß sie nicht das Allgemeine, die Gattung bezeich-[110]nen können; sie bezeichnen, im Gegenteil, ein immer Neues, sie nehmen als Sprachgebilde teil an der Lebendigkeit und dem Fluß der Dinge, und diese Teilnahme vollzieht sich, wie wir gesehen haben, bei der Sprache allgemein in einer immerwährenden Ausdehnung und Restriktion des Wortsinnes, bei der strafrechtlichen Gesetzessprache im besonderen in einer hermeneutischen Veränderung von Tatbe-

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Winfried Hassemer

stand und Tatbestandsmerkmal gerade in ihrer und durch ihre Auslegung und Anwendung auf den Fall. Bis dahin ist aber der Charakter dieser Gebilde nur einseitig bezeichnet. In einer zweiten Weise bedeutet der Wirklichkeitsbezug der Tatbestände, daß sie durch ihre Funktion von der Wirklichkeit in einer bestimmten Weise abgesetzt sind. Dies deshalb, weil sie Wirklichkeit nicht beschreiben, sondern bewertend »richten« sollen1. Sie vermitteln, und das ist letztlich ihre Aufgabe, dem Auslegenden nicht eine Information über Wirklichkeit, sondern vielmehr eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit; mit ihrer Hilfe soll Wirklichkeit in einer bestimmten Weise hermeneutisch konstituiert werden, etwa ein Lebensvorgang als Diebstahl oder als Verfügungshandlung im Sinne des Gesetzes. Dies aber bedeutet, daß sie bestimmte Strukturen aufweisen müssen, die sich aus dieser ihrer Funktion ergeben, daß sie beeinflußt sein müssen durch die Bedingungen von strafrechtlicher Auslegung und Anwendung. Wenn oben gesagt wurde, daß sie nicht das Allgemeine, die Gattung meinen, so ist jetzt festzustellen, daß sie andererseits auch nicht das Einzelding – die Wirklichkeit als Faktum oder Angeschautes – bezeichnen. Sie meinen vielmehr die Eigen-Art des Dinges, oder genauer : das Ding in seiner Relevanz für das, was »in Frage steht«; dies aber ist nichts anderes als die Bedeutung, welche das Ding für das Strafrecht hat, seine Gestalt unter dem Blick des Strafrechts. Der Tatbestand und seine Merkmale haben demnach einen Wirklichkeitsbezug eigener Art; sie meinen weder das Ding als factum brutum noch seine Gattung, sondern nur das Ding in seiner strafrechtlichen Relevanz. Sie nehmen zwar den Bezug zur Wirklichkeit auf, sehen aber diese Wirklichkeit nur als vermittelte und als verformte. Sie sind zwar hermeneutisch unfertig und zur Wirklichkeit hin offen, vermitteln aber immer schon eine bestimmte Sicht gerade dieser Wirklichkeit. Folgt man dem Sprachgebrauch, welcher dem allgemeinen Begriff deshalb nur Potentialität zuspricht, weil er über das reale Vorkommen der Dinge, die er bezeichnet, nichts aussagt (er setzt sie immer nur als möglich voraus), dem Ding aber Aktuali-[111]tät2, so ergibt sich aus dem bisher Gesagten, daß die sprachlichen Gebilde, mit denen wir es hier zu tun haben, weder reine Potentialität noch reine Aktualität sind. Sie stehen gewissermaßen zwischen dem Allgemeinbegriff und dem bezeichneten Seienden, haben – sit venia verbo – durch Potentialisierung eingeschränkte Aktualität bzw. durch

1 Ähnlich auch Krawietz, Das positive Recht und seine Funktion; kategoriale und methodologische Überlegungen zu einer funktionalen Rechtstheorie, 1967, S. 70ff. (71), 86ff. 2 Vgl. dazu Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1. Aufl. 1953, S. 241f.; auch Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, 2. Aufl. 1959, S. 54: der Begriff ist »schematische Treffmöglichkeit«.

Typus und Analogieverbot im Strafrecht

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Aktualisierung eingeschränkte Potentialität. Will man danach den Tatbestand und seine Merkmale begriffslogisch einordnen, so muß man sie Typen nennen3. Das Schrifttum über den Typus ist mittlerweile sehr reichhaltig. Dennoch – oder vielleicht auch deshalb – ist wissenschaftlich noch nicht klar, was ein Typus genau ist4. Einigkeit scheint im wesentlichen lediglich darüber zu bestehen, daß er in Hinsicht seiner begrifflichen Abstraktion zwischen dem Namen und dem abstrakten Begriff einzuordnen ist5, daß er merkmalreich und wirklichkeitsbezogen, daß er in seinen Grenzen fließend ist. Wir haben uns nicht vorgenommen, über den Typus zu handeln, sondern über den strafrechtlichen Tatbestand als Typus, werden diesen also immer nur in seiner Funktion als Faktor des strafrechtlich-hermeneutischen Instrumentariums in den Blick nehmen. Insbesondere werden wir uns nicht die Mühe machen, die verschiedenen Typen von Typen, welche bisher in der Literatur unterschieden wurden6,7, nachzuzeichnen und zu unter-[112]scheiden. Allerdings soll hier 3 Ähnlich auch Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 191f. 4 »Über den Weberschen Idealtypus haben sich Ströme von Tinte ergossen, ohne daß abzusehen wäre, wann seine Abklärung erreicht sein wird.« (Kempski, Zur Logik der Ordnungsbegriffe, in: Studium Generale 5 [1952], S. 205, 207). Ähnlich Heyde, Typus; Ein Beitrag zur Typologie, in: Studium Generale 5 (1952), S. 235, 236; Strunz, Zur Methodologie der psychologischen Typenforschung, in: Studium Generale 4 (1951), S. 402ff. Janoska-Bendl, Methodologische Aspekte des Idealtypus; Max Weber und die Soziologie der Geschichte, 1965, bes. S. 39ff. 5 Vgl. Erik Wolf, der – obwohl er die Bezeichnung »Typus« sonst eher im Sinne einer Klasseneinteilung versteht – den Typus zwischen Genus und Spezies lokalisiert (Die Typen der Tatbestandsmäßigkeit, in: Festschrift für Max Pappenheim, 1931, S. 379, 381f.). Ähnlich Mezger, Das Typenproblem in Kriminologie und Strafrecht, 1955, bes. S. 4 zu »Wertwelt« und »Tatsachenwelt« und S. 3 zum Verhältnis von »Klassifikation« und »Typologie«. Siehe auch Radbruchs Unterscheidung zwischen »Begriff« und »Leben«, »entweder – oder« und »mehr oder minder« (Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, in: Internat. Zeitschr. f. Theorie des Rechts 12 [1938], S. 46 und ff.); bei Jünger, Typus Name Gestalt, 1963, S. 91, ist der Typus der Brennpunkt zwischen Gestalt und Erscheinung. 6 Vgl. dazu bes. Engisch, Die Idee der Konkretisierung, 1. Aufl. 1953, S. 239ff., und Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 333ff. Sie sprechen u. a. von empirischen, repräsentativen, Real-, Durchschnitts-, Häufigkeits-, Idealtypen und deren Mischformen. 7 Aus dem Schrifttum zum Typus seien besonders genannt: Rüstow, Der Idealtypus, oder die Gestalt als Norm, in: Studium Generale 6 (1953), S. 54–59; Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: Studium Generale 5 (1952), S. 195–205; Kempski, Zur Logik der Ordnungsbegriffe, in: Studium Generale 5 (1952), S. 205–218; Schieder, Der Typus in der Geschichtswissenschaft, in: Studium Generale 5 (1952), S. 228–234; Heyde, Typus; Ein Beitrag zur Typologik, in: Studium Generale 5 (1952), S. 235–247; Zittel, Der Typus in der Geschichtswissenschaft, in: Studium Generale 5 (1952), S. 378–384; Oppenheimer, Die Logik der soziologischen Begriffsbildung mit besonderer Berücksichtigung von Max Weber, 1925, S. 36ff., 98ff.; Mezger, Das Typenproblem in Kriminologie und Strafrecht, 1955, mit Hinweisen besonders zur Tätertypologie und -typologik; Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, in: Internat. Zeitschr. f. Theorie des Rechts 12 (1938), S. 46; Weber, bes. Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in:

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auch ein Beitrag zur Lehre vom Typus insofern versucht werden, als seine Struktur und Leistungsfähigkeit auf dem begrenzten Feld der strafrechtlichen Hermeneutik untersucht wird. Was hier unter dem Typus verstanden wird, hat die bisherige Untersuchung schon weitgehend geklärt. Er ist begriffslogisch abgesetzt gegenüber dem Allgemeinbegriff durch seinen notwendigen Wirklichkeitsbezug. Wenn wir das Bisherige zusammenfassen wollen, so können wir sagen, daß der Typus ein hermeneutisches Instrument ist, welches nicht systemimmanent adäquat verstanden und gehandhabt werden kann8. Damit ist zweierlei impliziert: Zum einen, daß zum Verstehen des Typus systemtranszendente Daten heranzuziehen sind; zum zweiten, daß diese systemtranszendenten Daten die aktuelle hermeneutische Dimension des Typus im Augenblick ihrer Anwendung mitkonstituieren. Der Typus transzendiert das System, in dem er formuliert ist, insofern, als er auf Wirklichkeit außerhalb dieses Systems verweist9. Diese Verweisung ist von eigener Art, weil der Ausschnitt und die Beschaffenheit der Wirklichkeit, auf welche verwiesen ist, vor der Verweisung niemals zur Hand sind, sondern in der Verweisung erst konstituiert werden. Somit schafft der Typus das, was für sein Verstehen notwendige Bedingung ist, selber. Er schafft dies aber nicht gänzlich und nicht souverän. Denn wie bei der Theorie der Entfaltung gezeigt wurde, ist das Verhältnis von hermeneutischem Instrument und Wirklichkeit ein polares. Wenn sich der Typus an der Wirklichkeit, die Wirklichkeit aber am Typus konstituiert und entfaltet, so bedeutet dies, daß auch die Wirklichkeit den Typus konstituiert dadurch, daß er sie meint und gerade auf sie hin und durch sie verstanden wird. Für die strafrechtliche Auslegung ist dies gezeigt an der Veränderung der hermeneutischen Dimension der Tatbestände und ihrer Merkmale durch jede Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (ed. Johannes Winckelmann), 2. Aufl. 1951, S. 190ff.; Seiffert, Die kategoriale Stellung des Typus, 1953; Janoska-Bendl, Methodologische Aspekte des Idealtypus; Max Weber und die Soziologie der Geschichte, 1965; auch Lipps, Das Urteil, in: Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache; Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik (ed. Evamaria von Busse), 2. Aufl. 1958, S. 18f.; in sachlicher Nähe wohl auch Goldschmidts »gebundene Worte« (Einige rechtstheoretische Probleme im Lichte der linguistischen Erkenntnistheorie, in: Internat. Z. f. Theorie des Rechts 9 [1935], S. 24–36, bes. 35); zu typologischer Hermeneutik in der Theologie siehe Fuchs, Hermeneutik, 2. Aufl. 1958, S. 192ff. 8 Vgl. damit auch die Darstellung des Max Weberschen Idealtypus bei Oppenheimer, Die Logik der soziologischen Begriffsbildung mit besonderer Berücksichtigung von Max Weber, 1925, S. 37ff. 9 Mit dieser Aussage ist impliziert, daß Wörter im strafrechtlichen Tatbestand, welche – ohne Wirklichkeitsbezug – lediglich die Normstruktur festlegen (wie »wenn-so«, »und«, »oder« etc.; siehe dazu schon oben S. 43 Fn. 76 [im Original]), nicht als Typen anzusehen sind. Deren hermeneutische Bedeutung konnte schon im deduktiv-formalen Teil dieser Untersuchungen geklärt werden. Ähnlich Brusiin, Über das juristische Denken, 1951, S. 69.

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Auslegung und Anwendung auf Sachverhalte. Jede Sachverhaltsent-[113]scheidung bedeutet ja ein Neu- und damit Anders-Verstehen des angewendeten Tatbestandes. Wenn dies richtig ist, so muß man sagen, daß die »Fälle« oder Konkretionen von Typen – als das reale Substrat des Typus als eines hermeneutischen Instruments – die Typen mitkonstituieren, ebenso wie etwa in der Psychologie die konkreten Fälle von Athletikern den hermeneutischen Typus des Athletikers mitkonstituieren, und zwar ausnahmslos immer dann, wenn dieses Instrument auf einen dieser Fälle angewendet wird. Typen werden am Fall und auf den Fall hin einer wissenschaftlichen Eignungsprüfung unterzogen, wie ja auch der Fall am Typus geprüft wird, nicht im Sinne einer gleichzeitigen Induktion und Deduktion, sondern einer Entfaltung beider am jeweils anderen10. Man kann also durchaus vom Typus als von einer »Mitte« sprechen11, einer gleichzeitigen Wirklichkeits- und Normbezogenheit12, womit er zum hermeneutischen Instrument bei der Denkform der Natur der Sache wird13,14. [114] 10 Vgl. damit Bollnow, Das Verstehen. Drei Aufsätze zur Theorie der Geisteswissenschaften, 1949, bes. S. 22, der, in umfassenderem Zusammenhang, die ausfüllende und korrigierende Funktion der hermeneutisch bezeichneten Wirklichkeit betont, »mit der sogar das im Werke noch Unausgesprochene, ja selbst das Verfehlte und schief Dargestellte erkannt und wieder zurechtgerückt werden kann«. Ähnlich auch ebenda 56. Siehe auch Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 35f.; Lipps, Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalles zum Gesetz, in: Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache; Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik (ed. Evamaria von Busse), 2. Aufl. 1958, S. 49f.: die »an dem einzelnen Fall auf die Probe gestellten Lehrbegriffe« (50); Schönfeld, Die logische Strukur der Rechtsordnung, 1927, S. 41, zu »Rechtsbegriff« und »neue Erfahrung«; Larenz, Fall – Norm – Typus, in: Rationalität – Phänomenalität – Individualität. Festgabe für Hermann und Marie Glockner (ed. Wolfgang Ritzel), 1966, S. 149–164, 161f. 11 So etwa Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, bes. S. 38 (»Mitte zwischen Rechtsidee und Lebenssachverhalt«); ders., Freirechtsbewegung bes. S. 7; Engisch, Die Idee der Konkretisierung, 1. Aufl. 1953, S. 238: »Mittelstellung zum Konkreten hin«; auch ebenda 251 und 260; Larenz, Methodenlehre der Rechtwissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 335; ders., Fall – Norm – Typus (Fn. 10), S. 158; Wellek, Typus und Struktur, in: Archiv für die gesamte Psychologie 100 (1938), S. 465, 477: »mittelhoher Bereich der Abstraktion«; Seiffert, Die kategoriale Stellung des Typus, 1953, S. 4f.; Kretschmer, Der Typus als erkenntnistheoretisches Problem, in: Studium Generale 4 (1951), S. 399, 400 (mit weiteren Zitaten): »Mitte zwischen Individuum und Begriff«; vgl. auch die interessanten Mitteilungen über das »Prinzip der Mitte« (Tschung Yung) bei Konfuzius und seine Verbindung mit der dem Typus verwandten Denkform der Natur der Sache bei Kwun, Entwicklung und Bedeutung der Lehre von der »Natur der Sache« in der Rechtsphilosophie bei Gustav Radbruch, 1964, S. 57. Siehe auch ebenda zu I King 55f. 12 Vgl. dazu bes. die Realidealisation und Idealrealisation von Sinn bei Lauth, Die Frage nach dem Sinn des Daseins, 1953, S. 70ff., 94, 103ff. 13 Vgl. zu dieser Verbindung von Typus und Natur der Sache bes. Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift für Rudolf Laun zum 65. Geburtstag, 1948 [zit. nach Sonderausg. 1960], S. 31f. (wenn auch unausgeführt); ganz deutlich Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, S. 37 (»die ›Natur der Sache‹ verweist auf den Typus.

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Aber noch in einem zweiten Sinn verwirklicht der Typus die Denkform der »Mitte« und setzt sich dadurch vom allgemeinen Begriff ab. Wenn, wie gezeigt wurde, Tatbestand und Tatbestandsmerkmale als Typen hermeneutisch nie »zur Hand« sind – was ja auch für den Sachverhalt gilt – , sondern sich immer erst im Prozeß der Auslegung und Anwendung auf Lebensvorgänge entfaltend konkretisieren, so kann – im Gegensatz zum allgemeinen Begriff – außerhalb dieses konkreten Auslegungsprozesses nur inadäquat und annäherungsweise von ihrem Umfang und Inhalt geredet werden, nämlich nur davon, was sie ganz sicher oder ganz sicher nicht bedeuten oder zum Inhalt haben. Diese Grenzen sind notwendigerweise immer weiter als der Bedeutungsumfang eines Typus in und nach dem Prozeß der Auslegung. So umfaßt, um bewußt ein auf den ersten Blick nicht signifikantes Beispiel herauszugreifen, die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals »Mensch« in § 212 StGB ganz sicher den Mann von 32 Jahren und ganz sicher nicht die Leibesfrucht im 3. Monat15. Ob und wie weit etwa der Geburtsakt fortgeschritten sein muß, damit vom »Menschen im Sinne des § 212 StGB« die Rede sein kann, ist hier noch nicht ausgemacht. Das gleiche Problem finden wir dann wieder bei den Fällen, wo nicht

Das Denken aus der ›Natur der Sache‹ ist typologisches Denken«), und seine Hinweise auf Radbruch, Maihofer, Larenz und Stratenwerth. 14 Es ist vielleicht nicht überflüssig, besonders darauf hinzuweisen, daß hier unter »Typus« nicht die bezeichnete Sache, sondern die Bezeichnung der Sache verstanden wird, was streng zu trennen ist. »Typus« ist das hermeneutische Instrument, welches die Wirklichkeit nennt, er ist nicht die Wirklichkeit selber ; diese nennen wir »Fall« oder »Konkretion eines Typus«. Dies ist nicht nur nominale Sprachregelung, es hat auch sachliche Relevanz. Vollzieht man nämlich diese Unterscheidung nicht, dann ist damit vorausgesetzt, daß Typen ohne die hermeneutisch-konstruierende Aktivität des erkennenden Subjekts als ontische Gegebenheiten greifbar sind, auf die im Tatbestand nur verwiesen zu werden braucht. Aber diese Voraussetzung ist falsch (vgl. zur näheren Klärung unten S. 153ff. [im Original]). Vgl. auch »Idealtypus« und »idealtypisches Beispiel« (»historische Tatsache«) bei Max Weber (vgl. etwa Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, ed. Johannes Winckelmann, 2. Aufl. 1951, S. 190f.): Oppenheimer, Die Logik der soziologischen Begriffsbildung mit besonderer Berücksichtigung von Max Weber, 1925, S. 58. Weiterhin Heyde, Typus; Ein Beitrag zur Typologik, in: Studium Generale 5 (1952), S. 235, bes. 237 (zwei Begriffe von »Typus«: »t« und »T«); Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 2. Aufl. 1961, S. 24 (»Zeichenbeziehung«). 15 Dies letztere aber auch nur wegen der Existenz des § 218 StGB – gäbe es diese Norm nicht im Strafgesetzbuch, so wäre das »ganz sicher nicht« anders und schwieriger zu bestimmen; ohne den Grenzbegriff »Leibesfrucht« wäre der Begriffsumfang von »Mensch« in § 218 größer ; – ein weiteres Beispiel für die vorher besprochene Relation Tatbestand-Systemzusammenhang (oben S. 87ff. [i. O.]). Vgl. dazu auch Müller-Erzbach, Die Relativität der Begriffe und ihre Begrenzung durch den Zweck des Gesetzes; Zur Beleuchtung der Begriffsjurisprudenz, 1913, S. 8f. mit Hinweis auf RGSt 35, 436.

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gefragt wird, ob schon, sondern ob überhaupt von einem »Menschen« gesprochen werden kann (beim sog. Monstrum)16. Begründet ist diese Eigenschaft des Typus darin, daß zu der Einordnung seiner Konkretionen keine adäquate Metrik angegeben werden kann, nach welcher der Bedeutungsinhalt und -umfang des Typus vor dem Verfahren der Auslegung eindeutig festzulegen wäre17. Der Wortsinn sagt nur [115] (grob), was der Typus ganz sicher umfaßt und was er ganz sicher nicht umfaßt. Dieses Urteil reicht nicht für die gesamte zur Beurteilung stehende Wirklichkeit aus. Zwischen dem »ganz sicher« und dem »ganz sicher nicht« ermittelt der Auslegungsprozeß interpolar den voll verstandenen Typus. Wir haben also ein abstufbares hermeneutisches Instrument, mit dessen Hilfe nicht – wie beim allgemeinen Begriff – im Sinne eines »entweder-oder«, sondern nur im Sinne eines »mehr-oder-weniger« geurteilt werden kann18. Die Konkretionen des Typus bilden nicht festumrissene Klassen, sondern eher bipolare Reihen19 mit fließenden Übergängen, wie etwa, beim Typus »Nachtzeit« des § 243 I 7 StGB, heller Tag – Dämmerung – beginnende Dunkelheit – Mondhelle – Dunkelheit – Finsternis20. Dazwischen wären noch beliebig viele Schattierungen zu nennen, wenn die Sprache Wörter zur Verfügung hätte. Wir haben es – nach dem Sprachgebrauch von Hempel-Oppenheim21 – mit dichten (bipolaren) Reihen zu tun22. […] 16 Viel deutlicher sind natürlich Beispiele wie »Nachtzeit«, »Waffe«, »Urkunde«, »wegnehmen« usw. usw. 17 Dazu auch Sigwart, Logik II: Die Methodenlehre, 5. Aufl. 1924, S. 735ff. 18 Ebenso Larenz, Fall – Norm – Typus (Fn. 10), S. 158f. 19 Vgl. dazu Hempel-Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, 1936, S. 79 u. ö.; Rüstow, Der Idealtypus, oder die Gestalt als Norm, in: Studium Generale 6 (1953), S. 54, 55ff., obwohl dort nicht zwischen Bezeichnung der Sache und bezeichneter Sache unterschieden wird (siehe oben S. 113 Fn. 134 [im Original]). 20 Vgl. damit § 104 III StPO, welcher für eine nächtliche Hausdurchsuchung das Merkmal »Nachtzeit« in eindeutiger Metrik bestimmt. Zu Recht weist Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, S. 96, darauf hin, daß die Vorschrift des StGB handlungsbezogen und deshalb bewußt »ungenau« formuliert ist; siehe auch Larenz, Fall – Norm – Typus (Fn. 10), S. 160. 21 Typusbegriff siehe S. 33f. [im Original]. 22 Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 2. Aufl. 1961, S. 20f., hat – übernimmt man seinen Strukturbegriff (siehe ebenda 13ff.) – zwar recht, wenn er sagt, daß »jede wissenschaftliche Aussage grundsätzlich so umgeformt werden kann, daß sie nur noch eine Strukturaussage ist« (20) – wir haben Ähnliches versucht – , der These aber, »daß die eindeutige Kennzeichnung (scl. eines Gegenstandes) durch bloße Strukturangaben möglich ist« (19), muß widersprochen werden. Im Text ist gezeigt, daß Gegenstandskennzeichnung durch Typen nicht eindeutig sein kann, sich vielmehr erst in der Anwendung der Kennzeichnung herstellt, daß aber dennoch eine sinnvolle Unterscheidung der Typenkonkretion möglich ist. Daß diese Unterscheidung eine »wissenschaftliche« ist, wird sich (unten S. 130ff. [im Original]) ergeben, wenn die Frage der Verifizierung von Entscheidungen nach Maßgabe der Typen behandelt wird.

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[116] Kommt jedoch allen Tatbeständen und Tatbestandsmerkmalen des Strafgesetzbuchs die dargelegt Qualität zu? Man könnte der Meinung sein, dies beträfe nur die sog. normativen Tatbestandsmerkmale oder die »unbestimmten Wertbegriffe«23, welche, als werthaltige, anders und komplizierter aufgebaut und auszulegen seien als die deskriptiven. Wenn wir richtig sehen, ist damit die ganz herrschende Ansicht ausgesprochen. Es ist gezeigt, daß nicht die Unbestimmtheit von Tatbeständen und Tatbestandsmerkmalen oder allgemeine Schwierigkeiten bei ihrer Auslegung ihre typologische Qualität begründen, sondern vielmehr ihre Systemtranszendenz, begründet durch ihren notwendigen Wirklichkeitsbezug, mit all den genannten hermeneutischen Konsequenzen. Damit ist ausgesagt, daß systemimmanentes Schließen, formale und lineare Subsumtion ausgeschlossen sind. Ob die Auslegung als Entfaltung schwieriger oder »unexakter« ist, bleibt sekundäre Frage und ist nicht notwendige Folge der typologischen Qualität. Danach sind alle diejenigen Tatbestände bzw. Tatbestandsmerkmale des Strafrechts Typen, welche eine Wirklichkeit außerhalb des Strafgesetzsystems als Kodifikation meinen, nennen, beurteilen und deshalb erst im Prozeß der Entfaltung an dieser Wirklichkeit voll verstehbar werden24, nicht aber diejenigen, welche nur innerhalb des Systems verweisen und systemimmanent angewandt werden können. Dazu gehört etwa § 1 StGB, der (im Gegensatz zur herrschenden Tatbestandslehre) insofern als »Tatbestand« bezeichnet werden kann, als er zur Qualifikation von Verhalten beiträgt. […] [117] Daß mit der Typizität der Tatbestände nicht notwendig auch eine Unsicherheit und Uneindeutigkeit der Auslegung gegeben ist, liegt darin begründet, daß die Wirklichkeit außerhalb des kodifikatorischen Systems, auf welche das Strafrecht verweist, selber schon mehr oder weniger metrisiert ist und daß diese Metrik von den strafrechtlichen Normen genannt und übernommen wird, wie wir es etwa bei § 1 JGG finden, welcher die Metrik der Zeit, oder bei Geldstrafenandrohungen, welche die Metrik des Geldwerts für relevant erklären25. 23 Vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 344 Fn. 4, zum Charakter der Tatbestandsmerkmale des § 211 StGB. 144 In derselben Richtung liegt die Argumentation von Larenz, Fall – Norm – Typus (Fn. 10), S. 159. 24 In derselben Richtung liegt die Argumentation von Larenz, Fall – Norm – Typus (Fn. 10), S. 159ff. 25 Auch diese Metrik wird jedoch vom Recht nicht unvermittelt und unverformt übernommen. Auch wenn dies nicht auf der Hand liegt, ist eine solche Übernahme nur unter den Kategorien des Rechts zu denken, die nach der Übernahme ein Auslegen und Anwenden der Metrik nach ihren Gesichtspunkten bestimmen und deshalb auch die Metrik selbst verändern. Diese hermeneutische Tatsache übersieht z. B. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1948, S. 218, wenn er erklärt, der Gewerbetreibende mache sich strafbar, falls er erst mit dem letzten und nicht schon mit dem ersten Glockenschlag der gesetzlich festgesetzten Stunde seinen Laden schließt. Daß dies juristisch absurd ist, läßt sich nur dann exakt begründen, wenn erkannt ist,

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Da gibt es dann Abstufungen bis hin zu »Nachtzeit«, »Waffe« oder »Urkunde«, einer nur unbestimmt metrisierten oder in ihrer Metrik durch die strafrechtliche Axiologik nur undeutlich veränderten Wirklichkeit26. Daß diese letzteren Fälle die ungleich häufigeren sind, darf nicht zu dem Schluß verleiten, Typizität der Tatbestände sei gleich Uneindeutigkeit der Auslegung27. […] [160]

II.

Zum Analogieverbot im Strafrecht

Tatbestandsauslegung und Sachverhaltsentscheidung geschehen nicht per subsumtionem aus dem Tatbestand, sondern per analogiam in Entfaltung von Tatbestand und Sachverhalt aneinander. Wie das Wort im Satz, der konkrete Begriff, so ist auch der Typus als Tatbestand oder Tatbestandsmerkmal ein Gebilde zwischen Univozität und Äquivozität. Seine begrifflichen Grenzen sind nicht schon immer bestimmt, sondern werden erst im Auslegungsprozeß bestimmbar. Art 103 II GG und § 2 I und II 1 StGB, die gesetzlichen Grundlagen des sog. daß die Übernahme auch relativ eindeutiger (naturwissenschaftlicher) Metriken durch das Recht diese Metriken nach den Konzeptionen des Rechts verformt und verändert. Vgl. hierzu auch die treffende Polemik von Brusiin, Über das juristische Denken, 1951, S. 65f. gegen Jan-Magnus Jansson: »Sobald sie (scl. die nicht spezifisch-juristischen Wörter) aber innerhalb der juristischen Sprache als Träger von juristischen Begriffen auftreten, ist ihre Bedeutung eine spezifisch-juristische.« (ebenda 65). Besonders auch Müller-Erzbachs Schrift »Die Relativität der Begriffe und ihre Begrenzung durch den Zweck des Gesetzes«, 1913, ist hier zu nennen; er weist an vielen Beispielen die Relativität und Relationalität der Wörter im Tatbestand nach; vgl. bes. S. 8ff., 17ff., 23ff.; allerdings wäre hier nicht von »begrifflichen Vergewaltigungen« (ebenda 17) o. ä. (ebenda etwa 23) zu reden, sondern von »juristischer Begriffskonstitution«. Insofern also sind alle Tatbestände und Tatbestandsmerkmale des Strafrechts von einem »normativen Gespinst« überzogen; sie enthalten nur strafrechtliche (nicht »reine« – wenn es so etwas überhaupt gibt) Deskription; siehe dazu auch Radbruch, Rechtsphilosophie (ed. Erik Wolf), 6. Aufl. 1963, S. 219f. 26 Man kann hier mit einem gewissen Recht von »offenen« und »geschlossenen« Typen reden (vgl. bes. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 343 ff, und seine Literaturhinweise; auch dens., Kennzeichen geglückter Rechtsfortbildung, 1965, S. 14 Fn. 31), muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß nur ein quantitativer, nicht aber ein qualitativer Unterschied in der typologischen Qualität gegeben ist. Insbesondere darf unter einem geschlossenen Typus (welcher immer notwendigen Wirklichkeitsbezug hat und ohne dessen Realisierung nicht zu verstehen und zu handhaben ist) nicht der allgemeine Begriff verstanden werden, welcher durchaus ohne Aufnahme eines Wirklichkeitsbezugs gebraucht und angewendet werden kann. 27 Dies liegt deutlicher als im Strafrecht bei einer typologischen Auslegung des Zivilrechts zutage. Vgl. dazu Jahr, Funktionsanalyse von Rechtsfiguren als Grundlage einer Begegnung von Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, in: Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik (ed. Ludwig Raiser, Heinz Sauermann, Erich Schneider), 1964, S. 14–26 passim, bes. S. 24ff.

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strafrechtlichen Analogieverbots, schreiben vor, daß Strafbarkeit einer und Strafe für eine Tat vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt sein müssen (nullem crimen, nulla poena sine lege). Daraus folgert die ganz herrschende Meinung das Verbot analoger Anwendung der Tatbestände des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs zuungunsten des Täters28. Wie lassen sich unsere Erkenntnisse zu Tatbestand und Tatbestandsauslegung mit diesem Grundsatz vereinbaren? Arthur Kaufmann hat, angesichts der analogischen Struktur von Tatbestand und Auslegungsverfahren, die Deutung des Prinzips »nullum crimen sine lege« als »striktes Analogieverbot« abgelehnt29. Es beinhalte vielmehr die Aufforderung an den Gesetzgeber, den Typus der strafbaren Handlung in einem formellen Strafgesetz mehr oder weniger vollständig zu beschreiben (zu fixieren). Die Analogie finde bei der Auslegung im Straf-[161]recht »ihre Grenze an dem dem gesetzlichen Tatbestand zugrundeliegenden Unrechtstypus«30. Sicherlich kann ein striktes Verbot analoger Auslegung im hier verwandten Sinne des Wortes durch § 2 StGB nicht ausgesprochen sein31, weil damit nach unseren Ergebnissen Auslegung überhaupt verboten wäre32. Fraglich wird aber

28 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung des Analogieverbots bes. Maurach, Deutsches Strafrecht. AT, 2. Aufl. 1958, S. 91f.; zum Problem grundlegend Sax, Das strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, bes. S. 25ff.; ders., Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann/ Nipperdey u. a. (ed.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, III, 2, 1959, S. 992ff.; Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes »nulla poena sine lege«, in: ZStW 76 (1964), S. 1ff.; Heller, Logik und Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, bes. S. 135ff.; Kielwein, Grundgesetz und Strafrechtspflege, in: Annales Universitatis Saraviensis. Serie Rechts- und Wirtschafswissenschaften 8 (1960), S. 127, 133f. Zu den ausländischen Rechten bes. Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 12. Aufl. 1965, § 2 Anm. 45 und 46. 29 Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 1. Aufl. 1965, S. 41: »… denn ein solches hätte zur Voraussetzung, daß das Delikt im gesetzlichen Tatbestand durch eindeutige Begriffe abschließend definiert werden kann. Das aber ist unmöglich.« 30 Ebenda. 31 Vgl. dazu aber Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satze »nulla poena sine lege«, in: ZStW 76 (1964), S. 1, 15, und Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz; Zur Verfassungsmäßigkeit der Strafen und sonstigen strafrechtlichen Maßnahmen, 1960, S. 78ff. 32 Siehe auch Germann, Auslegung und freie Rechtsfindung, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 55 (1940), S. 134, 153. Es ist jedoch höchst fraglich, ob bei dieser Auslegung des nullum-crimen-Prinzips der Begriff »Analogie« im technischen Sinne verstanden wird; in diesem Fall wären die Vertreter dieser Ansicht nämlich einem Denkfehler zum Opfer gefallen, weil sie gleichzeitig etwas verboten und gefordert wissen wollen: Auslegung des Strafgesetzes. Es scheint, vergleicht man etwa den Streit um die Abgrenzung von erlaubter extensiver Interpretation und verbotener »Analogie« (siehe dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl. 1964, S. 148f.; Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, in: MDR 1958, S. 394ff. passim; Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 12. Aufl. 1965, § 2 Anm. 45f.), unter »Analogie« nicht mehr und nichts Genaueres verstanden zu sein als so etwas wie »Auslegung über den natürlichen Wortsinn hinaus« o. a. (siehe dazu Jescheck, Methoden der Strafrechtswissenschaft, in: Studium Ge-

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dann, wo die Grenze verläuft, die § 2 der Auslegung ziehen will, ja, ob es diese Grenze überhaupt gibt. Es scheint sehr zweifelhaft, ob ein dem Gesetz vorgängiger oder ihm zugrundeliegender Unrechtstypus vom nullum-crimen-Prinzip als Grenzelement der Auslegung gemeint sein kann. Denn auch dieser Unrechtstypus ist nicht unmittelbarer Anschauung zugänglich, sondern das Ergebnis hermeneutischer (sprachlicher) Konstruktion, eines Einschnitts in das Kontinuum der Lebensvorgänge, einer Heraushebung relevanter und einer Beseitigung irrelevanter Züge (»idealtypische Steigerung«, wie Max Weber es nennt), damit überhaupt von »Verhalten« oder »Unrechtstypus« gesprochen werden kann33. Daß diese Konstruktion der strafrechtlichen durchaus vorgängig und zugrundeliegend ist, daß sie auf der sprachlichen Ebene in der Regel ohne hermeneutisches Bewußtsein und ohne Reflexion geschieht, ändert nichts daran, daß sie nur unter einem axiologischen Prinzip und in analogischer Struktur vorgenommen werden kann34. [162] Man entgeht der Analogie also nicht durch den Verweis auf ontische Daten, denn auch diese sind hermeneutisch-analogisch angeeignet und konstruiert. Ist das aber richtig, dann kann ein dem Gesetz vorgängiger Unrechtstypus nicht als Grenzelement der Auslegung Auslegungsfaktor sein (ganz davon abgesehen, daß wegen der ebenfalls analogischen Konstruktion dieses Unrechtstypus dem § 2 StGB nicht Genüge getan wäre). Denn wodurch ist die sprachlich-hermeneutische Konstruktion für die Grenzbestimmung der erlaubten Auslegung qualifizierter als die strafrechtlich-hermeneutische Konstruktion des Verhaltenstypus? Im Gegenteil: Wie alle Lebensvorgänge als Objekte strafrechtlicher Auslegung, so unterliegen auch diese ihre Grenzelemente einer strafrechtlichen Reflexion und Konstruktion, nicht einer dieser vorgängigen oder zugrundeliegenden. Erst unter den Aspekten und axiologischen

nerale 12 [1959], S. 107, 113f.). Insofern ist diese Lehre nicht falsch, sondern allenfalls unexakt formuliert. Der richtige Kern ist aufzufinden. 33 Ähnlich Larenz, Fall – Norm – Typus (Fn. 10), S. 151ff. 34 Dies ergibt sich aus den Erkenntnissen zum Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit (oben S. 74ff. [i. O.]) und zum Problem der »Richtigkeit« der Sprache (oben S. 80ff. [i. O.]). Außerhalb der Sprache ist der »vorgängige« Unrechtstypus nicht zur Hand, innerhalb der Sprache aber ist er immer axiologisch qualifiziert. »Es ergibt sich das Paradox: Wenn überhaupt, so könnte nur sprachlich etwas Verbindliches über Außer- bzw. Nichtsprachliches geltend gemacht werden. Wir scheinen, sofern wir auf verbindlichem und kontrollierbarem Wissen bestehen, aus dem Bannkreis der Sprache gar nicht heraus zu können.« (Zellinger, Wissenschaftlicher Empirismus und Erfahrungswissenschaft, in: Gott in Welt, Festgabe für Karl Rahner, Bd. I, 1964, S. 3–38, 4; siehe auch 10ff.). Vgl. auch Adornos Kritik an den »Sachen selbst« der Phänomenologie, Metakritik der Erkenntnistheorie, 1956, S. 203f. Wittgenstein: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« (Tractatus logico-philosophicus, 1963, Nr. 5.6); dazu auch Hartnack, Wittgenstein und die moderne Philosophie, 1962, S. 40; Schaff, Sprache und Erkenntnis, 1965, S. 132f.

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Gesichtspunkten (Konzeptionen) des Strafrechts sind diese Unrechtstypen Faktoren (Grenzelemente) strafrechtlicher Auslegung. Welchen Sinn hat aber dann das nullum-crimen-Gebot überhaupt noch, wenn keine Daten außerhalb einer hermeneutisch-analogischen Konstruktion aufweisbar sind als Grenzelemente des analogischen Verfahrens der Auslegung, wenn also der Kreis der Analogie auch bei § 2 StGB nicht verlassen werden kann? Die Antwort ergibt sich aus den Feststellungen zur Struktur des Auslegungsverfahrens und zur Problematik der Richtigkeit seiner Ergebnisse und der Evidierbarkeit. Dem Prinzip des § 2 StGB als einem Auslegungsfaktor kann keine größere Exaktheit und seinen Anwendungen keine sicherere Nachprüfbarkeit zukommen als allen anderen Faktoren der Auslegung (wie den Tatbeständen und ihren Merkmalen), weil es eben nicht außerhalb des Auslegungsverfahrens steht. Auch das nullum-crimen-Gebot ist nur Faktor des Entfaltungsprozesses von Tatbestand und Sachverhalt, auch die Ergebnisse der Anwendung des § 2 StGB sind (wie die der Anwendung etwa des § 266 StGB) nur durch die Vollständigkeit der Reflexion und Argumentation als richtig zu erweisen und durch kein »exakteres« Verfahren. Diese These ist nur deshalb befremdlich, weil man seit dem Erlaß des Analogieverbots glaubte, hiermit etwas »Exaktes« gefunden zu haben, um [163] die Garantiefunktion des Tatbestandes eindeutig zu gewährleisten35. Es sollte in diesen hermeneutischen Untersuchungen nachgewiesen werden, daß dieses »Exakte« nicht auffindbar ist36, weil die Bestimmung der Grenze der Auslegung wie auch die 35 Möglicherweise wird diese These nicht nur als befremdlich, sondern auch als gefährlich erscheinen – »Eine Kritik der Syllogismustheorie wird hier (scl. im Bereich einer »liberalen Rechtsideologie«) als etwas Gemeinschädliches, etwas, was die Rechtssicherheit der Staatsbürger gefährdet, abgelehnt.« (Brusiin, Über das juristische Denken, 1951, S. 114) –. Die wirkliche Gefährdung staatsbürgerlicher Rechtssicherheit liegt allerdings nicht in der Erkenntnis einer notwendig rechtsunsicheren Situation, sondern – im Gegenteil – in der Selbsttäuschung über den Grad der Sicherheit juristischen Urteilens. Wie sich hier gezeigt hat, kann die Erkenntnis der Entscheidungssituation – und nur sie – über die Aufdeckung der Gefahren für die Rechtssicherheit zu einer optimalen Ausschöpfung der Sicherungsmöglichkeiten führen. 36 Vgl. damit auch Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 233, 248, der, wenn auch etwas zu pointiert, in unserem Sinne sagt: »Denn obwohl wir unsere Theorien nicht rational rechtfertigen und nicht einmal als wahrscheinlich erweisen können, so können wir sie rational kritisieren. Und wir können bessere von schlechteren unterscheiden.« Ähnlich wi[e] der Text auch Brecher, Scheinbegründungen und Methodenehrlichkeit im Zivilrecht, in: Festschrift für Arthur Nikisch, 1958, S. 227, 229f., und Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 21f.; zu den Folgen eines rigoros verstandenen Analogieverbots siehe Ehrlich, Die juristische Logik, 1918, S. 221, 226. Zu weitgehend in der Skepsis gegenüber einer Objektivität der Rechtsanwendung Scheuerle, Rechtsanwendung, 1952, S. 129ff., der das Problem ins Individuell-Psychologische verschiebt und damit die Sachverhaltsentscheidungen einer objektivierenden, weil argumentierenden, Kritik fast völlig entzieht.

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Kritik einer bestimmten Auslegung immer noch Auslegung sind und nicht von einem archimedischen Punkt aus betrieben werden können37. Die Grenze erlaubter Auslegung ist nicht zu errechnen oder aus Ontischem zu ersehen, sondern, trotz § 2 StGB und Art. 103 II GG, nur hermeneutisch zu reflektieren. Wenn die Garantiefunktion des Tatbestandes somit nicht bedeuten kann, daß verbotene Auslegung nach § 2 StGB clare et distincte und außerhalb eines analogischen Prozesses als solche erkannt zu werden vermag38, [164] so ist damit durchaus nicht dargetan, daß man auf § 2 StGB verzichten kann, weil er wirkungslos ist. Er hat vielmehr eine außerordentlich wichtige theoretische und praktische Funktion – »wichtig« freilich nur im Horizont eines typologisch gedachten hermeneutischen Verfahrens39 : Er ist notwendiger Bestandteil der richterlichen Reflexion und Argumentation bei der Auslegung jedes Tatbestandes, die in den Bereich eines »Analogieverbots« gehören könnte. Mehr als diese Notwendigkeit als Bedingung der Vollständigkeit kann überhaupt zur Sicherung der hermeneutischen Ergebnisse nicht gefordert werden, wie sich gezeigt hat. § 2 StGB besagt nicht die Garantie eines bestimmten Auslegungsergebnisses, sondern die Garantie der Beachtung von Begrenzungen der Auslegung in einer bestimmten Richtung (nämlich zuungunsten des Täters): Es muß reflektiert und ausgewiesen werden, daß und wodurch eine extensive Interpretation – hier verstanden als deutliche Entfernung von der bisherigen sprachlich-strafrechtlichen Auslegung eines Tatbestandes oder seiner Merkmale40 – hermeneutisch gerechtfertigt werden kann. 37 Anders offenbar Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962, S. 18f., zu »Analogie und Fortbildung«: Analogie als Aufgabe einer »Fortbildung und Applikationsleistung, die darauf abzielt, die Rechtsnormen … in bereits vorgebildeten Lebensstrukturen planmäßig weiterzuentwickeln und sie der heutigen Lebensaktualität näherzuführen« (18). Betti übersieht hier, daß die Rechtsnormen außerhalb der »bereits vorgebildeten Lebensstrukturen« und der »heutigen Lebensaktualität« hermeneutisch nicht zur Hand sind, sondern nur immer innerhalb dieses Denkhorizonts. Nur in einer das Auslegungsverfahren begleitenden oder ihm nachfolgenden Reflexion ist beides zu trennen, jedoch nicht so, daß zwei Rechtsnormen auseinanderzuhalten wären: einmal die von »bereits vorgebildeten Lebensstrukturen« her verstandene und einmal die von der »heutigen Lebensaktualität« her verstandene. Die Norm ist immer nur von der »heutigen Lebensaktualität« her verstanden. Siehe aber auch ebenda S. 19f. und dens., Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, in: Festschr. f. E. Rabel II, 1954, S. 79, 113. 38 Beachte auch die Ausführungen Bochenskis, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 2. Aufl. 1959, S. 138, zur Unzulänglichkeit einer »einfachen Lösung der Erkenntnisfrage« in den modernen Wissenschaften. 39 »Die Preisgabe einer schematischen Sicherheitsidee macht erst den Weg dazu frei, die tieferen Rechtsgarantien juristischen Denkens, dogmatischer Selbstkontrolle und lege artis gebildeter Grundsätze und Traditionen zu erforschen.« (Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. 1964, S. 27). 40 Wenn es zu einem Tatbestand oder Tatbestandsmerkmal noch keine »bisherige Auslegung« gibt, so könnte man »extensive Interpretation« weniger eindeutig, aber doch immerhin noch

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Insofern ist also die Bezeichnung »möglicher Wortsinn« als Auslegungsgrenze durchaus sinnvoll41; sie leistet freilich nicht eine Unterscheidung zwischen »analoger Anwendung« und »extensiver Interpretation«42. Zu dieser Unterscheidung ist zu sagen, daß sie qualitativ nicht nachgewiesen werden kann, jedoch durchaus graduell. Freilich ist vom Boden unserer Erkenntnisse aus die Anordnung der beiden Begriffe umgekehrt als nach allgemeiner Übung vorzunehmen. »Analog« ist jede Rechtsanwendung; aber nicht jede ist extensio im Sinne einer deutlichen – das ungenaue Wort entspricht der mangelnden Genauigkeit der Unterscheidung in der Sache – Entfernung von der herkömmlichen Anwendung der Tatbestände und ihrer Merkmale. Eine Auslegung vom Kreis der durch § 2 StGB verbotenen wäre über-extensiv oder, einfacher gesagt, unzulässig [165] bzw. falsch wegen Unvollständigkeit der Reflexion bzw. wegen Verletzung der Garantiefunktion der Tatbestände. § 2 spricht also kein Analogieverbot aus, sondern ein Verbot der Verletzung der Garantiefunktion durch unzulässig übertriebene extensive Interpretation43. Insofern geht die sachliche Forderung des § 2 StGB in den gesamten Reflexions-, Argumentations- und Prüfungsprozeß der strafrechtlichen Auslegung ein und unterliegt all deren Kriterien und Garantien – aber auch nur diesen. Ohne das nullum-crimen-Prinzip wären die richterliche Reflexion und Argumentation und deshalb auch ihre Ergebnisse durchaus andere: Sie wären in Richtung einer Garantiefunktion zugunsten des Täters nicht notwendig reflektiert und ausgewiesen. Was dies praktisch bedeutet, haben die Unrechtsurteile und ihre Begründungen in der Vergangenheit gezeigt – obwohl theoretisch nie nachgewiesen werden konnte (weil es nicht nachzuweisen war), wie verbotene »Analogie« und erlaubte extensive Interpretation der Qualität nach zu unterscheiden sind, hat die zeitweilige Aufhebung des Analogieverbots sehr greifbare praktische Folgen gehabt. Positive Garantien für die Richtigkeit der Auslegung gibt es nicht außerhalb des Auslegungsprozesses selber. »L’homme est donc si heureusement fabriqu8 qu’il n’a aucun principe juste du vrai, et plusieurs excellents du faux.« (Pascal, Pens8es 40) sinnvoll, als »deutliche Entfernung vom sprachlichen Wortsinn« verstehen und an so etwas denken wie »Wortkern«, »Begriffskern«, »ganz sicher Gemeintes« etc. (vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960, S. 241ff.). 41 So auch Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, in: MDR 1958, S. 394–396, bes. S. 396. 42 Wenn Sax, Das strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, S. 80f., mit weiteren Hinweisen, auf die mangelnde Eindeutigkeit des Terminus verweist, ist ihm zuzustimmen. Gerade daraus aber folgt nicht seine Unverwendbarkeit für die juristische Argumentation, wie sich zeigt. 43 Siehe dazu auch Germann, Auslegung und freie Rechtsfindung, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 55 (1941), S. 134, 154f., 160; Sax, Das strafrechtliche »Analogieverbot«, 1953, S. 87f.

Teil IV: Urteilsrichtigkeit und praktische Vernunft

Einleitung von Vincenzo Omaggio

Um die in diesem Abschnitt zusammengestellten Texte richtig einordnen zu können, ist es angebracht, den philosophischen Hintergrund noch einmal in Augenschein zu nehmen. Denn die Philosophie ist bei der Thematik der praktischen Vernunft und ihrem Wiederaufleben im 20. Jahrhundert besonders im Hinblick auf die juristische Hermeneutik wieder in den Mittelpunkt des zeitgenössischen Denkens gerückt. So ist die Debatte über die Rehabilitierung der Praktischen Philosophie in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit bedeutenden Texten wie »Wahrheit und Methode« von Hans-Georg Gadamer (1960), »Vita activa« von Hannah Arendt (1958), »Politik und praktische Philosophie« von Wilhelm Hennis (1963) und »Metaphysik und Politik« von Joachim Ritter (1969) in Deutschland wieder angestoßen worden. Alle Schriften dieser zeitgenössischen Debatte haben auf unterschiedliche Art und Weise zu der Wiederentdeckung des Aristotelischen Begriffs des praktischen Wissens beigetragen. Zeitgleich haben sich andere wichtige Autoren (K. Held, K. H. Ilting, M. Riedel, H. Vollrath) wieder auf Kants ethisches, juristisches und politisches Denken bezogen, und zwar als Alternative zu oder in Kombination mit der aristotelischen Lehre. Die Ursache einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie lag in dem Wunsch begründet, ein neues Modell der praktischen Vernunft zu schaffen, das in der Lage sein sollte, die rigorose Wertfreiheit der Sozialwissenschaften zu überwinden. Gegen das Postulat der Wertfreiheit setzte man die Notwendigkeit der Differenzierung von Rationalitätsparadigmen, um so auch für die praktische Vernunft einen Freiraum zu schaffen, der für das Handeln ein erkenntnistheoretisches Fundament liefert und das rein Beschreibende und Konstatierende moderner Ethik und Politik überwinden soll. Für die hier abgedruckten Texte spielt Gadamers »Wahrheit und Methode« eine wichtige Rolle. Besonders relevant ist das Kapitel, welches der »hermeneutischen Aktualität« der aristotelischen Ethik und jener Form praktischer Erkenntnis gewidmet ist, einer Erkenntnisform also, die Aristoteles als phronesis, als praktische Weisheit bezeichnet. Phronesis bildet dabei ein praktisch-

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moralisches Wissen, das Orientierung für das Handeln und für Entscheidungen gibt. Gadamer sieht in dem »praktischen Wissen« des Aristoteles, wo Allgemeines und Besonderes sich gegenseitig durchdringen, ein Paradigma, das in der Lage ist, das hermeneutische Problem der Anwendung zu lösen, bei dem ja von Anfang an ein Prozess der gegenseitigen Bestimmung von Allgemeinem und Besonderem stattfindet. Neben diesem grundlegenden Werk sind in unserem Zusammenhang aber auch andere Autoren bedeutsam, die in ihren Schriften die Identitätskrise der Politikwissenschaft (W. Hennis und O. Pöggeler) und der Rechtswissenschaft (Th. Viehweg und Ch. Perelman) untersucht haben. Insbesondere werden in den Schriften die Schemata der Topik und der Rhetorik für den Bereich der Rechtswissenschaften wieder aufgegriffen. Ausgehend von seiner Schrift »Metaphysik und Politik« versucht Joachim Ritter wiederum eine Rehabilitierung des »Ethos«, indem er die aristotelische Vorstellung des praktischen Wissens und die Bestimmtheit der Hegelschen Sittlichkeit verbindet. Ritter stellt folglich die konkrete Sittlichkeit der abstrakten Universalität der Moralität gegenüber. Mit diesem Thema hat sich Martin Kriele in seiner Abhandlung »Recht und praktische Vernunft« besonders intensiv auseinandergesetzt. Er geht hier der Frage der sittlichen und rationalen Rechtfertigung von Recht nach. Recht ist für ihn immer »etwas Bedingtes und Abhängiges«, das »sich nicht selbst trägt und rechtfertigt«. Die Theorien der Kommunikationsethik, die konstruktivistischen und prozeduralen Theorien und die Konsensustheorie (Apel, Habermas, Rawls, Lorenzen) ergeben das Gesamtbild jenes »schillernden Rationalitätsbegriffes«, wie wir es in den hier abgedruckten Seiten von Arthur Kaufmann dargestellt finden. Erst auf dem Gebiet des Rechtsurteils indes tritt die praktische Vernunft mit der Hermeneutik in eine enge Verbindung. Hier erscheint die ganze Bedeutung der praktischen Vernunft im Zusammenhang mit modernen Rechtsordnungen, die auf politischer Demokratie, Einschränkung der Staatsgewalt durch bestehendes Recht, auf Konstitutionalismus, Gewaltenteilung und die Gewährleistung der Rechte der Bürger aufbauen. Ein Urteil ist das Bestimmungs- und Entscheidungsvermögen, und zwar jeweils in einem konkreten, ganz besonderen Fall. Es besitzt von Natur aus Anwendungscharakter, der von der Besonderheit der jeweiligen Situation abhängt, auf die das Urteil angewandt wird. Die staatlichen Grundeinrichtungen hingegen brauchen ein formalisiertes Wissen, das von dem Besonderen losgelöst ist und auf die allgemeine und abstrakte Logik des Gesetzes zählen kann. Gibt es einen Weg, zwischen diesen beiden Polen eine Kompatibilität herbeizuführen? Länder mit einer rechtsstaatlichen Ordnung, die sich für eine Kodifikation entschieden haben, gehen vor dem Hintergrund dieser Problemstellung immer von einer Bindung der Richter an die Gesetze aus. Dort hingegen, wo Gesetz-

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gebung und Rechtsprechung getrennt sind, kann eine solche Bindung des Richters an das Gesetz lediglich erwartet werden. Mit anderen Worten: Wer mit Winfried Hassemer Gesetze will, will zugleich, dass Richter sich an diese halten, und der »Traum« einer streng deduktiven Rechtsmethode, wonach die Rechtsinhalte in den Entscheidungen der Richter transparent werden sollen, ist so alt, wie das Gesetz selbst. Der hehre Versuch aber, den Beitrag der Interpreten des Rechts zum Rechtsfindungsprozess als neutral darzustellen, ist definitiv fehlgeschlagen. Ist mit ihm auch das Ideal der Bindung des Richters an die Gesetze obsolet geworden? Wenn es stimmt, wie die tägliche Auslegungspraxis zeigt, dass Gesetze nie vollständig und eindeutig für ihre Offenheit auf die Zukunft hin formuliert werden können, weil Gesetzestexte ein Vorhersehen aller konkreten, im realen Leben zu regelnden Tatbestände nicht gestatten und dies auch gar nicht anstreben, dann folgt daraus, dass man sich nicht auf eine axiomatisierte Rechtslogik verlassen kann, die den Gesetzesinterpreten von seiner Aufgabe, zu handeln, befreit. Zu berücksichtigen ist ferner der von Josef Esser und Winfried Hassemer in ihren hier abgedruckten Schriften erwähnte Umstand, dass es keine Auslegungsmethoden gibt, die mit wissenschaftlicher Objektivität anzuwenden wären. Die den Auslegungsmethoden innewohnende Rationalität ist immer unvollständig, weil sie der Komplexität des Entscheidungsbereiches der zu regelnden Sachverhalte nicht gerecht werden kann und ein Fehlen von Regeln und Anwendungsbeispielen unausweichlich zu einer freien Methodenwahl und den entsprechenden Ergebnisse führt. Wir wissen jedoch, dass das Gesetz in dem und durch den jeweiligen Fall konkretisiert und verstanden werden muss. Mit dem Terminus »Rechtsfortbildung« wird in der deutschen juristischen Literatur die Gesamtheit aller vom Richter vollzogenen Schritte zur Vervollständigung und Verbesserung des Rechts bezeichnet. Eine solche Vervollständigung passiert in dem Moment, in welchem Recht angewandt wird, da Rechtsfindung und Rechtsanwendung keine unabhängig voneinander stattfindenden Ereignisse sind. Die vorherrschende Meinung der Fachwelt erkennt heute ohne Zögern an, dass bei jeder Auslegungsbemühung, sei das Rechtsproblem auch noch so unbedeutend, die Rechtsfortbildung im Vordergrund steht. Anerkannt ist auch, dass die Gesamtheit aller rechtlichen Bestimmungen nur ein, wenn auch wichtiges Element ist in dem weiter gefassten Prozess der Positivierung des Rechts im Sinn einer Fortentwicklung der Bedeutung der Gesetzestexte. Daraus folgt, dass das Verständnis der Texte und ihre Anwendung (zwei untrennbare Momente) nicht rein rezeptiv sind, sondern, dass sie, um mit Kaufmann zu sprechen, ein kreatives, praktisches Handeln realisieren. Welche Praxis ist hier gemeint? Es ist die Praxis in einem eröffneten Handlungsspielraum für die neu legitimierte, aktive Teilnahme des Gesetzesinter-

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preten durch Rechtsfortbildung, die an die Stelle des Auslegungsformalismus und der Idee tritt, dass eine (natürlich nur fiktive) Übergabe aller aus politischethischen Erwägungen hervorgegangenen Ergebnisse ausschließlich an den Gesetzgeber stattfindet. Die Art und Weise, wie man sich einem Text nähert, hängt davon ab, wie man sich einem zu lösenden Problem annähert. In diesem Sinne ist Gadamers Satz vom Interpreten zu verstehen, der versucht, »einen Entwurf zu verwirklichen«, und sein Vorgehen ununterbrochen mit dem Text abgleichen muss. Der Auslegende vollzieht also einen Sinnfeststellungakt, der in die Dynamik der Entscheidung eingebettet ist (proairesis), einer Dynamik, die hier im aristotelischen Sinn als der Moment verstanden wird, in dem auf die Realität eingewirkt wird, um sie besser zu machen. Es ist die unmittelbar und unlösbar mit dem echten Verstehen verbundene Zeitspanne. Der Mensch, so Gadamer, befindet sich beständig in der Lage, dass er handeln muss. Wir haben es beim Prozess des Verstehens auch immer mit »Handeln« zu tun, wir haben immer »etwas damit zu tun«. Kriele schreibt, dass »das Verstehen des Gesetzes also die Fähigkeit zu praktisch-vernünftigem Mitdenken voraussetzt«, womit gemeint ist, dass man »sich gedanklich in die legislativpolitische Kontroverse hineinversetzen« muss, die der Gesetzgeber mit seiner Entscheidung lösen wollte. Esser beschreibt das mit den Worten, dass der hermeneutische Zirkel in dem Zwiegespräch zwischen Problemstellung und den dazugehörenden Antworten besteht. In der Nikomachischen Ethik von Aristoteles muss derjenige, der Recht anwendet, von der rigorosen Genauigkeit der Gesetze absehen, aber nicht etwa, weil er das notwendigerweise tun muss und nicht anders tun könnte (wie zum Beispiel der Handwerker, der ein poietisches Wissen anwendet), sondern weil er nur auf diese Art und Weise sicher sein kann, richtig zu handeln. Die Billigkeit korrigiert und vermehrt die Gerechtigkeit, sie vermindert sie nicht. Handeln (die Praxis) ist im Unterschied zur Poiesis immer angewandtes Wissen, das nicht unabhängig von einer konkreten Situation sein kann. Die Entscheidung darüber, was richtig ist, kann nicht unabhängig von der konkreten Situation, in der man handeln muss, erfolgen. Bei dieser Aktivität, die ihrem Wesen nach von Unsicherheit geprägt ist, da sie mit unserer Endlichkeit in unserem Auf-der-Welt-Sein zu tun hat, bringt der Interpret etwas von seiner eigenen Persönlichkeit ins Spiel. Ein gewisser Teil seiner selbst ist notwendigerweise mitbeteiligt, aber nicht im subjektivistischen Sinn, sondern im intersubjektivistischen Sinn. Kaufmann bezeichnet diesen intersubjektivistischen Sinn als »persönlich«, da er den Menschen als komplexe Gesamtheit von Beziehungen sieht, in der er zu anderen Menschen und zu den Dingen in einem ganz bestimmten Verhältnis steht. Gadamers Ausführungen zu den »Vorurteilen« machen deutlich, dass jene »Bedingungen für das Verstehen«, die uns immer notwendig begleiten, unerlässliche Elemente sind, um die ge-

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schichtliche Vernunft anzuwenden. Geschichtliche Vernunft erhält ihren Sinn in der allen gemeinsamen Sprache, mit der das Recht verbessert werden kann und die eine Teilhaberschaft am gemeinschaftlichen Handeln garantiert: »Wer verstehen will«, schreibt Gadamer in »Wahrheit und Methode«, »ist an die Sache in der Form gebunden, die diese über die Jahre in der Überlieferung in der Sprache angenommen hat«. Eine juristisch reife Vernunft ist sich der Unmöglichkeit bewusst, Recht unabhängig von praktischen Entscheidungen festzusetzen, die ihrerseits auf die Gesamtheit aller, einer Rechtskultur immanenten Gedankengänge verweisen. Jede Rechtskultur ist historisch bestimmt und in einer ganz bestimmten Lebenswelt, einer allen gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrung verwurzelt. Von dort stammen die axiologischen Elemente, also die Gesamtheit aller Glaubensgrundsätze und gemeinsamen Werte – die Hegel’sche Sittlichkeit, auf die sich Martin Kriele stützt –, derer es bedarf, will eine materielle Rationalität Bestand haben. Rationalität heißt hier also Sinnhaftigkeit, Annehmbarkeit, und charakterisiert eine Möglichkeit, mit der eine Entscheidung durch allgemein anerkannte Axiome gegenüber der Gemeinschaft, die diese Axiome selbst verbürgt, gerechtfertigt werden kann. Vor diesem Hintergrund kommt Esser zu einer »Richtigkeitskontrolle«, wodurch die materielle Rationalität der getroffenen Entscheidungen gewährleistet werden soll. Insbesondere die entsprechenden Argumente bzw. ihre Überzeugungskraft und Akzeptanz, die sie in dem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext genießen, sind in diese Richtigkeitskontrolle miteinbezogen. Die »Topik als Argumentationsstil« spielt eine wichtige Rolle als Antagonistin gegenüber der Forderung, die dem System innewohnende Logik müsse absolut sein, was letztlich eine Abkapselung der Rechtsnormen in einem lebensfremden Vakuum zur Folge hätte. Die Gemeinplätze des Problemdenkens liefern dem Rechtssystem wertvolle Hinweise und richten das Augenmerk auf die materiellen Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen. Auf der Ebene eben dieser Nähe zur folgeorientierten praktisch-rationalen Argumentation, bei der der Interpret des Gesetzes neben den Gesetzgeber gestellt wird, entwickelt Kriele seine Theorien zum Präjudiz. Dabei betrachtet er das Präjudiz keinesfalls als bloß »angelsächsische Art und Weise«, Recht zu betreiben, sondern bewertet es als unerlässliches Element des Rechtsdenkens und der Anwendungspraxis, sowohl für den Richter des kontinentalen Europas als auch für jenen der anglo-amerikanischen Welt. Das Präjudiz schöpft seine Berechtigung zunächst aus der Ratio decidendi, aus einer Rationalität der gelieferten Lösung im Verhältnis zu der geltenden Norm und dem zu entscheidenden, konkreten Einzelfall. Der Interpret lässt sich hier von dem Prinzip des Urteils über die Analogie mit den abstrakten Vorgaben des Gesetzgebers leiten, der ja seinerseits ebenfalls von einem Vernunfturteil geleitet ist. Das Paradigma der Rationalität, das sich in der Denkform

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des Präjudizes ausdrückt, wird zum unerlässlichen Maßstab für spätere Urteile: Präzedenzfälle sind nicht im engen Sinne bindend, noch sind sie lediglich fakultativ. Vielmehr genießen Präjudizien eine Bindungsvermutung und haben einen eigenen Charakter, der kennzeichnend für das praktische Wissen ist. Lakonisch formuliert, es kommt hier zu einer Umkehrung der Beweislast: Präzedenzfälle müssen immer mit höchster Aufmerksamkeit untersucht werden, können diversifiziert, enger gefasst, ausgedehnt und sogar mit widerlegenden Argumenten überwunden werden, aber sie können nicht ignoriert werden, weil man einer formalistischen Auslegungslehre huldigt. Diese (nicht unumstößliche) Präjudizienvermutung ist ein Prinzip bzw. eine ungeschriebene Regel der Rechtspraxis. In ihrer allgemeinen Bedeutung für das Recht ist die Vermutung durch Präjudizien wichtiger als alles abstrakte Wissen und ein überzeugendes Beispiel für das Wirken der praktischen Vernunft. Die kulturellen Schichten, die sich um verfassungsrechtliche Texte herum ablagern, stellen das Sollen einer jeden politischen Gemeinschaft dar. Die Gesamtheit des positiven Rechts kann als eine Interpretation des eigenen Sollens beschrieben werden, die die politische Gesellschaft beständig zu leisten bemüht ist. Die Anforderung der unermüdlichen Konkretisierung von Werten in Rechtssätzen und Rechtsnormen – eine Verantwortung, durch die die Geschichtlichkeit der rechtlichen Vernunft deutlich wird – liegt, wie schon gezeigt, nicht nur beim Gesetzgeber. Vielmehr findet die Konkretisierung immer dann von Neuem statt, wenn ein Richter oder ein Interpret vor einer aktuellen Entscheidung steht. Die Unübersetzbarkeit von Normen, angefangen von den verfassungsrechtlichen, die in der Gestalt des Verfassungsrechtsstaates zweifelsohne eine Vorrangstellung haben, wirft in einem axiologisch neutralen Begriffssystem erneut die Frage der Rechtmäßigkeit auf, die nicht mehr unter den im Weber’schen Sinne verstandenen Begriff der Gesetzmäßigkeit fällt. Der Jurist sieht sich immer wieder neu mit Werterwartungen konfrontiert und er kann die Verantwortung nicht von sich weisen, indem er auf einen Gesetzgeber verweist, der alle wichtigen Entscheidungen treffe und ihm nur noch die Aufgabe überlasse, diese Entscheidungen »anzuwenden«. Diese Werterwartung setzt aber voraus, dass der Jurist sich die außergesetzlichen Grundlagen des Rechts und der Verfassung zu eigen macht. Solche außergesetzlichen Grundlagen hat jedoch ein gewisser Normativismus in der Rechtskultur im Namen eines Formalismus als »nicht rechtlich« abgetan und zugleich gefordert, das Recht als eine an sich gegebene Tatsache anzusehen, als eine isolierte Tatsache, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Lebensumfeld steht, aus dem es hervorgegangen ist. Es tut also not, auf die grundsätzliche Frage nach der Gesetzesbindung eine andere Antwort zu finden, die kompatibel ist mit einer Rechtserfahrung, in der sich der Weg der deskriptiven Logik und der deduktiven Anwendung als unfruchtbar erwiesen hat. Eine solche Antwort gibt die bewusste und verantwor-

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tungsvolle Inanspruchnahme des Interpretations- und Argumentationsraumes der Entscheidungen. Genau hierin liegt das Moment der aktiven Teilnahme an der Positivierung der Normen mit allen Orientierungen und Bindungen, die aus der Gemeinschaft aller seiner Interpreten kommen. Vor diesem Hintergrund fällt der an der Praxis orientierte Denkvorgang »Vernunft« und »Entscheidung« zusammen, vereint also Theorie und Praxis, so wie es jedes Mal erforderlich ist, wenn eine Entscheidung zu treffen und öffentlich zu rechtfertigen ist, ohne dass dabei die Rechtsordnung lediglich von außen wie aus der Vogelperspektive betrachtet wird. Wenn man Recht und praktische Vernunft künstlich trennt, so versteht nach man Kriele weder das Recht noch die Vernunft. Recht würde reduziert auf logisch abgeleitete Entscheidungen, und die Vernunft, der ein Blick auf die Wirklichkeit verschlossen bleibt, verlöre sich im Pluralismus und im Werterelativismus.

17. Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft (Martin Kriele)

I.

Einleitung

Der Rechtspositivismus Der Unterschied zwischen Recht und praktischer Vernunft liegt in erster Linie in der Verbindlichkeit gesetzgeberischer, behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen. Aus diesem Unterschied zieht der Rechtspositivismus die Folgerung strikter Trennung: Recht und Rechtspolitik, oder : Rechtstheorie für den Juristen und Moralphilosophie für den moralisch-politisch urteilenden Bürger, oder – nach Bentham – eine »expositorische« und eine »zensorische« Rechtswissenschaft. Wenn man Recht und praktische Vernunft in dieser Weise trennt, so versteht man weder das Recht noch die Vernunft. Das Recht schrumpft auf Dezisionen, Normen und logische Ableitungen. Die Vernunft wird aus der Wirklichkeit in die subjektive Moralität verbannt und gerät in Gefahr, sich in einen Pluralismus einander ausschließender Wertsysteme zu verflüchtigen: Sie fällt dann folgerichtig dem Relativismus zum Opfer. Das bedeutet nicht nur eine unzweckmäßige Beschränkung des Begriffs »Recht«. Damit könnte man sich abfinden, wenn die von der Rechtstheorie ausgelassenen Rechtsprobleme unter dem Stichwort »Moralphilosophie« abgehandelt werden könnten und es sich also wirklich nur um eine Arbeitsteilung zwischen Rechtstheorie und Moralphilosophie handelte. Die positivistische Weise der Trennung von Recht und Vernunft hat aber zur Folge, daß auch die Moralphilosophie degeneriert, jedenfalls soweit sie sich auf die Gestaltung des Rechts bezieht, also soweit sie »Rechtsphilosophie« ist. Löst sich nämlich die Rechtsphilosophie aus dem Zusammenhang mit den konkreten juristischen und rechtsphilosophischen Diskussionen, so ist die Folge, daß sie nicht die diesen Diskussionen zugrundeliegenden Kriterien sucht und prüft, sondern die Kriterien der Vernünftigkeit in irgendeiner politischen Forderung sucht, einem letzten Sollensurteil, einer »Wertrangordnung« oder dergleichen. Damit kann sie aber nicht mehr erreichen als erstens die [10] doktrinäre Ver-

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Martin Kriele

steifung eines rechtspolitischen Standpunktes, zweitens die Herausforderung ideologiekritischer Widerlegung und drittens die Diskreditierung der Rechtsphilosophie als überhaupt unwissenschaftlich: Jede Aussage über praktische Vernunft erscheint als subjektiv und insofern relativ.

Rechtsphilosophie als sittliche Aufklärung Hegel unterschied Sittlichkeit: die im Volk wirksamen, lebendigen Maßstäbe von gut und böse, gerecht und ungerecht, anständig und unanständig, menschlich und unmenschlich usw., und Moral: die abstrakten, aus bloß subjektiven Prinzipien (d. h. aus Prinzipien ohne öffentliche sittliche Geltung) abgeleiteten Forderungen. Philosophische Ethik ist vernünftig, wenn sie in diesem Sinne nicht moralische Forderungen aufstellt, sondern sittliche Aufklärung ist. Das bedeutet nicht etwa, daß sie einfach auf die im Volk lebendigen Standards verweist. Sittliche Aufklärung reflektiert diese vielmehr auf die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien und die Realbedingungen ihrer Verwirklichung hin. Rechtsphilosophie ist unter anderem die auf Rechtsprobleme angewandte Ethik. Der Gegenstand der Rechtsphilosophie als sittliche Aufklärung ist nicht das positive Recht, sondern sind die Diskussionen, die um die Begründung, Infragestellung und Rechtfertigung des positiven Rechts geführt wurden und werden. Sie reflektiert sie – ebenso wie die Ethik die sittlichen Standards – auf die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien und die Realbedingungen ihrer Verwirklichung hin. Es gibt sittliche Aufklärung, weil es in der politischen Wirklichkeit oft genug den bloßen Schein des Guten und des Bösen gibt. Wo z. B. Hexenverfolgung, Strafen auf bloßen Verdacht hin, grausame und maßlose Strafen, Unfreiheiten und Abhängigkeiten für Gebote der Sittlichkeit gehalten wurden, beruhte das auf Unwissenheit – teils über die Prinzipien der Sittlichkeit, teils über die Bedingungen ihrer Realisierung. Die Rechtsphilosophie als sittliche Aufklärung brachte dann die »im Grunde« gewußte, aber verwirrte oder verdunkelte Sittlichkeit zum Vorschein. Die Sittlichkeit wandelt und entwickelt sich im Laufe der Jahrhunderte. Wenn wir die Entwicklung des Rechts im westlichen Kulturkreis in den letzten drei Jahrhunderten gewissermaßen aus der Vogelperspektive betrachten und fragen: was ist im [11] großen und ganzen ihre Bewegungsrichtung, worauf verweisen die rechtspolitischen Gründe als ihr letztes Prinzip?, so ist es der Grundsatz: Jeder Mensch hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde. Dahinter steht eine naturrechtliche Idee, nämlich die von der Stoa und dem Christentum geprägte Vorstellung, daß der Mensch als Mensch, der menschlichen Natur gemäß soll leben können. Diese Idee konkretisiert sich in den Menschenrechten. Dieser aufklärerische Maßstab des Rechts wurde und wird zwar oft verkannt

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und verfehlt, die Annäherung des Rechts an ihn erfolgt nur schrittweise, mit immer neuen Hindernissen und in unserem Jahrhundert mit furchtbaren Rückschlägen. Aber er ist als letztes Grundprinzip der Sittlichkeit im öffentlichen Bewußtsein weltweit lebendig und hat deshalb in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen Niederschlag finden können. Die Sittlichkeit der Menschenrechte ist mächtig genug, um selbst die Diktaturen zu zwingen, sich heuchlerisch vor ihr zu verneigen und die Menschenrechtspakte zu ratifizieren, auch wenn sie an ihre Beachtung nicht denken. Sie ist andererseits nicht mächtig genug, um sich ohne ständigen geistigen Kampf gegen die Gewalt durchsetzen zu können.

Die Rechtfertigungsbedürftigkeit des Rechts Politische Machtkämpfe sind Rechtskämpfe in einem doppelten Sinne: Sie sind Kämpfe um die Möglichkeit, Recht zu gestalten und durchzusetzen. Sie sind zugleich geistige Auseinandersetzungen um die Rechtfertigung dieser Macht und ihrer inhaltlichen Ausübung. Die Prinzipien, aus denen heraus die verschiedenen Kampfpositionen gerechtfertigt werden, versucht die Rechtsphilosophie aus der blinden Leidenschaft heraus auf die Ebene der rational reflektierenden Bewußtheit zu heben. Rechtsphilosophie kann revolutionär sein und ist es in der Geschichte der politischen Aufklärung oft gewesen. Aber auch wenn sie konservativ ist, kann sie das Recht nicht einfach als vorgegeben akzeptieren, sondern verteidigt seine Geltung und Bewahrung mit Gründen. Denn auch die Bewahrung läßt sich nicht aus dem positiven Recht heraus rechtfertigen, da es eben um die Rechtfertigung des Rechts geht. In der rechtsphilosophischen Perspektive erscheint das Recht als etwas Bedingtes und Abhän-[12]giges, und zwar nicht nur als abhängig von Interessen, Kräften und Mächten, sondern auch als abhängig von rechtfertigenden Gründen. Das Recht trägt und rechtfertigt sich nicht selbst. Es bedarf der Gründe, die sich ihrerseits mit Gründen infrage stellen lassen und mit Gegengründen rechtfertigen müssen. Nicht nur das Recht, sondern auch die es legitimierenden Doktrinen verlieren in der rechtsphilosophischen Reflexion ihren Anspruch auf Unbedingtheit, Vorgegebenheit, Starrheit: auch sie sind rechtfertigungsbedürftig. Die rechtfertigenden Gründe des Rechts werden in totalitären Diktaturen auf autoritativ-dogmatisch festgelegte Denkgebäude zurückgeführt, die im Hegel’schen Sinne abstrakte Moralität sind. Soll diese unmittelbar durchgesetzt werden, so kann das nur ohne sittliche Zustimmung des Volkes, also undemokratisch geschehen: Es kommt zu Tyrannei, Despotie, Diktatur. Begnügt sich die Diktatur nicht mit der Erzwingung des äußeren Verhaltens, sondern versucht die innere Zustimmung des Volkes herbeizuführen, so kommt es zu Totalitarismus,

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zu Erziehungsdiktatur, zur Beherrschung alles geistigen Lebens, zur Entmenschlichung des Menschen. Wo hingegen geistige Freiheit herrscht, kann die Zustimmung nicht erzwungen werden, sie beruht auf Überzeugung. Diese setzt die Anknüpfung an die lebendige Sittlichkeit voraus. Die öffentliche Diskussion des Rechts kann dann den Charakter sittlicher Aufklärung annehmen. Sowohl die rechtfertigenden Gründe des bestehenden Rechts als auch die rechtspolitischen Vorschläge zu ihrer Veränderung unterliegen kritischer Prüfung in freier, offener Diskussion – der Grundvoraussetzung aller Vernunft. Die Rechtfertigung verweist in der Demokratie letztlich auf den »common sense«, den sensus comunis, die im Volk lebendige Sittlichkeit. Der Sinn der freiheitlichen Demokratie ist erstens, das positive Recht im großen und ganzen in Einklang mit der lebendigen Sittlichkeit zu bringen und im Einklang mit ihr zu halten, und zweitens, die Lebenserfahrungen des Volkes auszuschöpfen. Denn die Wirklichkeit der Sittlichkeit bedarf der politischen Vernunft auch im Sinne möglichst realistischer Vorausschau der Folgewirkungen von Normen. Es ist zwar möglich, daß auch in der Demokratie Gesetze eine parlamentarische Mehrheit finden, die [13] die Sittlichkeit verletzen. Aber sie haben meistens nicht lange Bestand: Wenn sie der in der Verfassung niedergelegten Sittlichkeit widersprechen, können sie, wo es ein verfassungsrechtliches Normenkontrollverfahren gibt, für verfassungswidrig erklärt werden. Oder aber sie finden passiven Widerstand oder werden gar von den Rechtsanwendern selbst unterlaufen und umgangen und jedenfalls über kurz oder lang im Gesetzgebungsverfahren korrigiert.

Das rechtspolitische Moment in der Rechtsauslegung Auch die Rechtsdogmatik kann der sittlichen Rechtfertigung nicht entbehren. Die Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden finden Anerkennung nur, wenn sie auf einem wirklichen Verstehen der Gesetze beruhen – und das heißt, wenn sie die Vernunftgründe des Gesetzes, seinen praktischen Sinn und Zweck zur Geltung bringen. Es gibt aber immer auch Wahlmöglichkeiten zwischen Auslegungsalternativen: z. B. enge oder weite Begriffsauslegung, Analogie oder Umkehrschluß, Lückenfeststellung (Anspruchsabweisung) oder Lückenfüllung (Zuerkennung des Anspruchs), Heranziehung oder Nichtheranziehung dieses oder jenes Auslegungselements oder juristischen Konstruktionsmodells. Die Aufgabe der Rechtsdogmatik ist, die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten kritisch zu prüfen und den Rechtsanwendern begründete Entscheidungsvorschläge zu machen. Die Methodenwahl wird selbst nicht von methodischen Techniken, sondern von Sachgründen bestimmt. Diese werden

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nicht immer offen ausgesprochen: das glaubt man der herrschenden Rechtsquellen- und Methodenlehre schuldig zu sein. Man begnügt sich häufig mit Andeutungen oder allgemein gehaltenen Wendungen, und das genügt auch oft: sieht man aufs Ergebnis der rechtsdogmatischen Erörterung, so liegen die Gründe, die es bestimmt haben, meistens auf der Hand. Die Rechtsdogmatik ist häufig über die Auslegung geltender Gesetze hinausgegangen und hat neue Rechtsinstitute entwickelt oder bestehende verändert. Sie hat z. B. zahlreiche zivilrechtliche Institutionen, die im ursprünglichen BGB nicht enthalten waren und die auch nicht im Gesetzgebungsverfahren eingefügt wurden, vorgeschlagen. Diese sind dann durch die präjudizielle [14] Wirkung der Rechtsprechung ins bürgerliche Recht eingegangen. Die Rechtsdogmatik vermochte sich mit ihren Vorschlägen durchzusetzen, wenn sie sich im Rahmen der sich wandelnden Sittlichkeit hielt, gewissermaßen nur ihr Ausdruck war. Dann fand sie die stillschweigende Zustimmung des Gesetzgebers, häufig aber auch seine nachträgliche Billigung durch Gesetzesänderung oder Gesetzesergänzung. Tritt die Rechtsdogmatik in Widerspruch zur Sittlichkeit, so bleiben ihre Vorschläge in der Regel von den Gerichten unbeachtet. Prägen sie ausnahmsweise die Rechtsprechung, so veranlaßt dies den demokratischen Gesetzgeber, von seiner Rechtsetzungsprärogative Gebrauch zu machen und die Fehlentwicklung zu korrigieren. […] [44]

II.

Ist Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit?

Freiheit ist Autonomie (Selbstbestimmung) im Gegensatz zu Heteronomie (Fremdbestimmung). Das Recht ist auch in der Demokratie insofern eine heteronome Zwangsordnung, als es auch denen gegenüber, die nicht zugestimmt haben, verbindlich und von der Staatsgewalt durchgesetzt wird. Ob wir uns gegen das Recht auflehnen oder ob wir uns widerwillig fügen – in beiden Fällen erfahren wir die Staatsgewalt als eine gegen uns gerichtete fremde Gewalt, die uns unserer Autonomie beraubt. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn wir die Berechtigung der Staatsgewalt anerkennen. Diese Anerkennung erlaubt uns die autonome Zustimmung zur heteronomen Fremdbestimmung durch das Recht und versöhnt so Autonomie mit Heteronomie. Da die neuzeitliche Geistigkeit geprägt ist durch Autonomie und Rationalität, hängt die Anerkennung der Staatsgewalt von der rationalen Begründbarkeit des Rechts ab, also von einer Rechtfertigung, die den einzelnen rational zu überzeugen vermag. Sie vermag nur insofern zu überzeugen, als die Heteronomie um

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der Autonomie willen in Kauf genommen werden muß. Auch die Beschränkung der Freiheit muß einsichtig sein als Bedingung der Freiheit. Die viel mißbrauchte Formel »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit« gewinnt im aufklärerischen Sprachgebrauch von daher ihren spezifischen Sinn und läßt sich aus diesem Zusammenhang nicht lösen. Sie setzt voraus, daß sich Gesetze und Zwangsinstitutionen als notwendig erweisen, um die Freiheit für alle zu gewährleisten. Wenn sie sich in diesem Sinne als notwendig erweisen, ist die Freiheitsbeschränkung zugleich Freiheitsbedingung. Wer dies einsieht und zugleich die Wünschbarkeit der Freiheitsgewährleistung anerkennt, kann auch einer Freiheitsbe-[45]schränkung zustimmen, die seinen augenblicklichen subjektiven Interessen zuwiderläuft. Man kann z. B. der Notwendigkeit von Abgaben zum Zweck eines Sozialsystems grundsätzlich zustimmen und doch in einen Zwiespalt zwischen objektiver Einsicht und subjektiver Betroffenheit geraten, wenn der Steuerbescheid die persönlichen Dispositionen in Frage stellt. Der Mensch erlebt sich dann gespalten: Als natürliches, empirisches, egoistisches Ich – als »bourgeois« – und als ein »höheres«, moralisch einsichtiges, gemeinschaftbezogenes Ich – als »citoyen«. Solange sich der Mensch überwiegend im »unteren Ich« erlebt, erfährt er die staatliche Durchsetzung der Rechtsnorm als heteronome Zwangsgewalt. Wenn es ihm jedoch gelingt, sich erlebnismäßig mit seiner besseren Einsicht zu identifizieren, so identifiziert er sich zugleich mit der staatlichen Forderung. Indem er ihr zustimmt, verliert sie ihren Charakter als heteronome Gewalt. Der Staatsbürger wird nicht gezwungen, sondern folgt seiner eigenen sittlichen Einsicht. Insofern macht Einsicht in die Notwendigkeit frei. Es ist jedoch wichtig, zu betonen, daß dieser Satz nur insoweit gilt, als die Rechtsordnung eine im großen und ganzen sittliche ist, d. h. daß sich ihre Freiheitsbeschränkungen als Freiheitsbedingung legitimieren können. Löst man den Satz aus diesem Zusammenhang, so pervertiert man ihn und mißbraucht ihn zu gegenaufklärerischen Zwecken. So berufen sich z. B. die intellektuellen Rechtfertiger des Sowjetimperialismus ebenfalls auf den Satz: »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit«. Wenn aber die Machtausübung nicht wirklich durch die Notwendigkeiten der Freiheitsgewährleistung begründet ist, sondern sich verselbständigt, so wird derjenige, der die Machtausübung als notwendig bezeichnet, zum Komplizen und Mitläufer des Machthabers. Er reproduziert in seinem »sozialistischen Bewußtsein« die Rechtfertigungsideologie des Herrschaftsanspruchs. Er erlebt sich dann zwar auch nicht als gespalten in ein höheres und ein niederes Ich, sondern als Einheit; er identifiziert sich mit der Staatsgewalt und erfährt diese insofern nicht als eine heteronome. Aber seine persönliche Identität stellt sich nicht auf der Ebene des »höheren« sittlichen, sondern auf der des »unteren« Ich her : Er erniedrigt sich zum Teilhaber an der Vergewaltigung seiner Mitmenschen. [46] Was die Freiheit ausmacht, ist sie

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Einsicht in die sittliche Notwendigkeit, d. h. in die Respektierung der Menschenwürde und des Freiheitsanspruchs eines jeden. Die bloße Internalisierung einer sittlich nicht gerechtfertigten Herrschaftsideologie schafft weder äußere noch innere, weder politische noch sittliche Freiheit. An die Stelle der politischen Freiheit tritt die freiwillige Unterwerfung unter die Unfreiheit. Damit wird zugleich auf die sittliche Freiheit Verzicht geleistet; im »niederen«, egoistischen Ich befriedigt die Herrschaftsanpassung die subjektiven Bedürfnisse nach Konfliktvermeidung, Machtteilhabe und geistiger Bequemlichkeit. Frei ist nicht schon, wer die jeweils bestehenden Freiheitsbeschränkungen als notwendig behauptet, sondern nur, wer die im Dienst der Freiheit als wirklich notwendig erkannten Freiheitsbeschränkungen aus sittlicher Einsicht bejaht. Deshalb berichtet z. B. Solschenizyn, er sei von dem Tage an frei gewesen, indem er die Angst überwunden und sich entschlossen habe, sich an der großen Systemlüge einfach nicht mehr zu beteiligen und ihr auch nicht die geringsten Konzessionen zu machen. Er erlebte nun zwar die Staatsgewalt als eine total heteronome und mußte schließlich die Ausweisung aus seiner Heimat erleiden. Aber er nahm das Risiko des Leidens bewußt auf sich als Preis für seine sittliche Autonomie. Wenn Staat und Sittlichkeit prinzipiell einander entgegengesetzt sind, so steht der Mensch vor der Wahl, entweder sich als sittlich autonomes Wesen dem Staat als einer heteronomen Macht zu verweigern, oder auf die sittliche Autonomie zu verzichten. In beiden Fällen ist er politisch unfrei. Im ersten Fall aber ist er wenigstens sittlich frei. Im zweiten Fall verzichtet er auf jegliche Autonomie, er ist gänzlich fremdbestimmt, eine manipulierte Marionette des Herrschaftssystems. Er identifiziert sich sowohl mit der Erniedrigung seiner selbst als auch der seiner Mitmenschen. Seine Behauptung, er handele aus Einsicht in die Notwendigkeit, ist dann nur die Verschleierung der Heteronomie. […] [77]

III.

Verstehen des Gesetzes

Der berechtigte Kern des Rechtspositivismus ist, wie gesagt, das Bestehen auf der Verbindlichkeit des Gesetzes. Die Anwendung des Gesetzes setzt ein »Verstehen« des Gesetzes voraus. Verstehen ist jedoch nicht nur ein logisches und sprachliches Problem. Ein Gesetzestext ist etwas ganz anderes als ein literarischer oder theologischer Text, und infolgedessen ist juristische Hermeneutik etwas ganz anderes als literarische und theologische Hermeneutik.1 Das Gesetz beruht auf 1 S. dazu Poetik und Hermeneutik IX, Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und

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einer Entscheidung, die auf praktische Fragen verbindlich antwortet. Die Antwort ist nur zu verstehen, wenn man sich in die praktischen Fragen, auf die das Gesetz die Antwort ist, hineindenkt. Das Verstehen des Gesetzes setzt also die Fähigkeit zu praktisch-vernünftigem Mitdenken voraus. »Verstehen« des Gesetzes heißt, sich gedanklich in die legislativpolitische Kontroverse hineinversetzen und die Meinung, die der Gesetzgeber verbindlich machen wollte, aus ihren Gründen heraus gedanklich nachvollziehen. Es gibt keine grammatische, logische, systematische oder sonstige Auslegung ohne Rückgriff auf die »ratio legis«. Aus den Gründen des Gesetzes ergibt sich, ob der Wortlaut genau zu nehmen ist oder Vorbehalte zuläßt, ob eine gesetzlich vorgesehene Ausnahme eng oder weit auszulegen ist, welche anderen Gesetzesstellen oder dogmatischen Figuren bei der Auslegung heranzuziehen oder nicht heranzuziehen sind usw. Anders gewendet: Wenn die Gesetze in den demokratischen Verfassungsstaaten aus einem Kampf ums Recht hervorgehen, das der öffentlichen Geltung des Repräsentationsethos unparteilicher Gerechtigkeit unterworfen ist, dann heißt »Auslegen des Gesetzes« klären, »warum« der Gesetzgeber seine Entscheidung so und nicht anders getroffen hat. Dazu müssen wir uns in die rechtspolitische Kontroverse hineinversetzen, die der Gesetzgeber durch seine Entscheidung einstweilen verbindlich abschneiden wollte. Die klassische Rechtsphilosophie ging davon aus, der Richter solle »gerecht« sein. Das hieß keineswegs, er solle nicht gesetzestreu sein. Es hieß vielmehr, er soll das Gesetz richtig, seiner Intention gemäß auslegen und anwenden, wobei vorausgesetzt war, daß die Intention des Gesetzes die Verwirklichung der Gerechtigkeit sei. Die unter dem Einfluß des Rechtspositivismus [78] entwickelte Methodenlehre meint demgegenüber, der Richter brauche nur eine erlernbare Technik der Auslegungsmethode richtig anzuwenden. Dabei handele es sich um eine intellektuelle Verstandesprozedur, die für die gerechte Abwägung und überhaupt für das Ethos der Gerechtigkeit keinen Raum lasse. Diese Ansicht verkennt zweierlei. Einmal können wir Gesetze, deren Intention die Verwirklichung praktischer Vernunft in einer rechtspolitischen Streitfrage ist, überhaupt nicht verstehen, wenn wir uns auf seine Vernunftgründe nicht einlassen. Zum andern entstehen die meisten juristischen Streitfragen daraus, daß das Leben unendlich viel mehr Rechtsprobleme hervorbringt, als der Gesetzgeber hat vorhersehen können. Die juristische Argumentation hat dann im Rahmen der Gesetzesbindung rechtspolitische Implikationen. So wie die gesetzgeberische Argumentation ein Sonderfall der ethischen ist, ist die juristische Argumentation ein Sonderfall der rechtspolitischen, geprägt durch die Bindung an die vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen. Ein guter Jurist kann nur sein, wer

Literaturwisseschaft im Gespräch, hrsg. v. M. Fuhrmann/H. R. Jauß/W. Pannenberg, 1981.

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unparteilich und gerecht abzuwägen vermag. Das aber setzt Verantwortungsfähigkeit voraus und ist nicht bloß eine erlernbare Technik. Der Zusammenhang von Recht und Gerechtigkeit hat durch das neuzeitlich aufklärerische Rechtsverständnis seinen Sinn keineswegs verloren, sondern nur durch die Neubestimmung der Gerechtigkeitsidee verändert. In voraufklärerischen Rechtsordnungen waren Ungleichheiten, Privilegien und Diskriminierungen, Leibeigenschaft und selbst die Sklaverei akzeptiert. Das Prinzip der Gerechtigkeit reduzierte sich auf den Grundsatz »suum cuique« – jedem das Seine, und das hieß auch: jedem gemäß seinem Stand. Der neuzeitliche Gesetzgebungsstaat hat sich nicht nur die Möglichkeit geschaffen, über das vorgegebene Recht souverän zu disponieren. Er hat das Recht auch einem dynamischen Prozeß der fortwährenden politischen Veränderung unterworfen, orientiert an dem aufklärerischen Prinzip »Jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Würde«. In diesem Sinne ist die Intention der Gesetze die Annäherung des Rechts an die Gerechtigkeit. Der Jurist kann die Gesetze nur verstehen, auslegen und fortbilden, wenn er diese Intention der Gesetze nachzuvollziehen imstande ist. Ohne den guten Willen zur unparteilichen Abwägung könnte man das vorgegebene Recht nicht ausle-[79]gen, mit anderen Worten: Ohne den guten Willen zur Gerechtigkeit kann man kein guter Jurist sein. Das Verstehen der gesetzgeberischen Entscheidung hängt davon ab, daß wir dem demokratischen Gesetzgeber den guten Willen zur unparteilichen Abwägung im Regelfall unterstellen. Das zeigt sich zunächst an der trivialen Tatsache, daß wir uns nicht an den Wortlaut des Gesetzes klammern können, wenn dieser einen offenkundig unvernünftigen, abwegigen, ungerechten Sinn ergibt. In einem solchen Fall können wir ohne weiteres folgern: »Das kann so nicht gemeint sein«. Einige Beispiele aus dem Verfassungsrecht machen das anschaulich. So ist z. B. der Art. 1 I GG »Die Würde des Menschen ist unantastbar« nicht wörtlich zu nehmen, denn das hieße: Man kann dem Menschen alles Beliebige antun, ohne je seine Würde antasten zu können. Gemeint ist das Gegenteil: Die Würde des Menschen ist leider antastbar, und deshalb bedarf es der Verbindlichmachung des Grundsatzes, daß sie nicht angetastet werden darf, daß eine Norm oder Maßnahme, die sie antastet, verfassungswidrig wäre. Daß Art. 1 I GG so auszulegen ist, ist »selbstverständlich«. Das Selbstverständliche ist zugleich das Unreflektierte. Wieso sind wir uns dieser Auslegung so gewiß? Der Grund ist, daß wir uns in die historische Situation der Entstehung des Grundgesetzes nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus hineinversetzen und wissen, daß der Gesetzgeber die Würde des Menschen nach den gemachten Erfahrungen einem ganz besonderen Schutz unterstellen und alles Recht an diesem Schutz orientieren wollte. So gesehen steht auch der Satz 2 des Art. 1 I GG: »Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« nicht im Widerspruch zu Satz 1, sondern ergänzt und bestätigt ihn. Art. 1, Abs. III »Die

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nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht« ist dann wiederum nicht wörtlich so zu verstehen, daß nur die »nachfolgenden« Grundrechte unmittelbar gelten und nicht auch der voranstehende Absatz I. Ein anderes Beispiel: Art. 4 III »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden« ist nicht wörtlich so auszulegen, daß er lediglich für den Kriegsfall schützt, sondern so, daß man schon zur Kriegsdienstausbildung [80] nicht gezwungen werden darf. Das Wortelement »mit der Waffe« ergänzt das Wort »Kriegsdienst« und nicht etwa das Wort »gezwungen werden«. Woher wissen wir das alles? Weil wir unterstellen, daß der Grundgesetzgeber eine vernünftige Entscheidung hat treffen wollen. Von einer abweichenden Auslegung können wir ohne weiteres sagen: Das kann so nicht gemeint sein. Lesen wir Art. 12 I 1 »Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen«, so könnte man bei wörtlicher Auslegung folgern, daß man z. B. den Arztberuf ohne die vorgeschriebene Ausbildung ergreifen dürfte. Aber auch das kann so nicht gemeint sein, weil sonst die Gesundheit der Patienten gefährdet wäre. Daß die Verfassungsbestimmungen so und nicht anders auszulegen sind, leuchtet in Grenzfällen unmittelbar ein, weil wir davon ausgehen, daß der Grundgesetzgeber Intentionen verfolgte, von denen wir unterstellen, daß sie Vernunft verwirklichen wollten, und weil wir als mitdenkende Juristen wissen, welche Auslegung offensichtlich unvernünftig wäre. […] [96]

IV.

Gründe für die Präjudizienvermutung

Daß Juristen in diesem Rahmen fragen und fragen müssen, ist offenbar durch kein Postulat der Methodenlehre aufzuhalten. Die Präjudizienvermutung entspricht, wie man zu sagen pflegt, der Natur der Sache. Was heißt das genau? Was für Sachgründe sind da bestimmend? 1. Orientierung an generellen Maximen. In erster Linie ist die Präjudizienvermutung Bedingung für die Orientierung der juristischen Entscheidung an generellen, über den Einzelfall hinausweisenden Maximen, damit Bedingung für Gleichbehandlung, Widerspruchsfreiheit, Rechtssicherheit, Kontinuität und eine gewisse Vorhersehbarkeit der Entscheidung. Diese Gründe sind häufig genannt worden. Aber es spielen noch weitere Gesichtspunkte eine Rolle. [97] 2. Institutionenbildung. Wie können eigentlich rechtsdogmatische Erörterungen fruchtbar werden? Daß sie zu einer Novellierung der Gesetze führen, ist die Ausnahme. Die Regel ist der Weg über die Rechtsprechung. Dogmatisch

Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft

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entwickelte Rechtsinstitutionen werden in positives Recht umgesetzt, indem die Rechtsprechung sie sich zu eigen macht. Der Rechtsdogmatiker kann nur vorschlagen, der Richter entscheidet. Selbst eine herrschende Lehre ist noch kein positives Recht, sondern bedeutet nicht mehr als einen Vorschlag. Diese Tatsache entspricht nicht dem traditionellen Selbstverständnis der deutschen Rechtswissenschaft, und es gibt Methodenlehren, die sie einfach verdrängen. Indessen ist eine Lehrmeinung, die sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzt, nur eine Meinung ohne Einfluß auf die Wirklichkeit. Zu einer Institution des positiven Rechts kann sie nur auf dem Wege über die Rechtsprechung werden, und dies auch nur, weil die Präjudizienvermutung die Kontinuität schafft, die Voraussetzung für die Institutionenbildung ist. 3. Reduktion von Komplexität. Nur auf dem Wege über Institutionenbildung aber wird Komplexität reduziert und der Richter davon entlastet, in jedem konkreten Verfahren alle rechtsdogmatischen Kontroversen neu aufzurollen. Ganz elementare dogmatische Figuren des bürgerlichen Rechts wie z. B. positive Forderungsverletzung, culpa in contrahendo, Berücksichtigung der Geschäftsgrundlage, Sicherungsübereignung usw. können heute von jedem Juristen ohne erneute Diskussion ihrer Probleme zugrunde gelegt werden. Aus dem ursprünglichen rechtsdogmatischen Vorschlag ist eine juristische Institution geworden, die die Grundlage der juristischen Überlegungen ist und nur durch neue Gegenargumente modifiziert, fortentwickelt oder ins Wanken gebracht werden kann. Die Präjudizienvermutung entlastet den Richter also von einer ansonsten komplexen intellektuellen Problematik, und damit insofern von Verantwortung, als er bewährte Rechtsfiguren anwendet, die eingehend diskutiert und für gut befunden worden sind. Sie entlastet ihn gleichzeitig von ideologischen Beeinflussungsversuchen vor dem Urteil und von Urteilsschelte nachher. 4. Die Ethik der Verallgemeinerung und Unparteilichkeit. Im engen Zusammenhang damit steht ein weiterer Grund für die Präjudizienvermutung: Die ethische Bindung des Richters an die [98] Prinzipien der Verallgemeinerungsfähigkeit und unparteilichen Abwägung seiner ratio decidendi. Die Präjudizienvermutung hat ja einen doppelten Aspekt: den des Rückblicks und den des Vorausblicks. Der Jurist knüpft an die zurückliegenden einschlägigen Präjudizien an. Er muß aber auch bedenken, daß seine Entscheidung in der Zukunft als Präjudiz herangezogen werden wird, vor allem wenn er eine neue Rechtsfrage erstmals entscheidet. Er muß so entscheiden, daß er wollen kann, daß seine Entscheidung künftig als Präjudiz geeignet sein wird. Er zeigt also eine Verantwortung, die über den konkreten Einzelfall hinausweist. Das bedeutet: Er ist nicht nur konkreter Rechtsanwender, sondern er ist an der Normbildung beteiligt. Indem er ein Gesetz präjudiziell auslegt, legt er mit Wirkung für die Zukunft fest, daß seine Begriffe einengend oder ausdehnend, mit Vorbehalten oder Einschränkungen zu verstehen sind und dergleichen. Seine Auslegung

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prägt die Norm. Die ratio decidendi hat also insofern einen abstrakt-generellen Charakter. Dies ist nichts anderes als ein Anwendungsfall des kantischen kategorischen Imperativs: Der Richter muß wollen können, daß die Maxime seiner konkreten Entscheidung zur allgemeinen Maxime werde. 5. Fortschritt. Trotz ihrer Verbindlichkeit steht die Entscheidung der Kritik offen. Man muss aber weitergehen und sagen: Gerade die Verbindlichkeit der Entscheidungen ermöglicht erst eine sachgerechte und fruchtbare Diskussion. Während nämlich in der allgemeinen ethischen Diskussion jeder erzielte Fortschritt immer wieder von Grund auf infrage gestellt werden und auf diese Weise eine pluralistische Vielfalt von rivalisierenden Moralen erzeugt werden kann, gibt es in dem rechtlich verfassten Ausschnitt der Ethik Fortschritt. Denn einmal erreichte Positionen werden in den Dezisionen festgehalten, solange nicht bessere Gründe sie modifizieren. Indem die Anknüpfung an getroffene Entscheidungen die Begründungspflicht dem Kritiker zuweist, konkretisiert sich seine Argumentation, spitzt sich auf die entscheidungserheblichen Fragen zu und ermöglicht die konkrete kritische Prüfung seiner Gründe. Auch insofern gehört die Präjudizienvermutung zu den Bedingungen einer ethisch hochentwickelten Rechtskultur. Die Präjudizienvermutung ist also nicht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, ein kon-[99]servatives Prinzip, oder dies jedenfalls nur insoweit, als Bewahrung des Erreichten Bedingung des Fortschritts ist. Nehmen wir z. B. an, wir haben es in einem strafrechtlichen Verfahren mit einem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen einer mutmaßlichen Einwilligung zu tun, mit einem Irrtum, der zwar nicht erwiesen, aber auch nicht widerlegt ist. In früheren Zeiten wäre der Angeklagte verurteilt worden. Aber im Laufe der Strafrechtsgeschichte hat erstens die Einwilligung als Rechtfertigungsgrund Anerkennung gefunden. Auf dieser Grundlage konnte auch die mutmaßliche Einwilligung Anerkennung finden. Erst auf dieser Grundlage war es denkbar, daß auch die Regeln über den Irrtum über das tatsächliche Vorliegen von Tatbestandsmerkmalen anwendbar wurden auf den Irrtum über das Vorliegen tatsächlicher Voraussetzungen von Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen. Nunmehr kann der Grundsatz »in dubio pro reo« auch auf diesen Irrtum Anwendung finden. Das eine baut auf dem anderen auf. Das Niveau der Rechtskultur, die Schaffung gerechterer Rechtsinstitutionen hängt also von der Präjudizienvermutung ab. Die Vernunft steckt in den vorgeprägten Rechtsinstitutionen – das kann man jedenfalls dann vermuten, wenn es gegen diese keine Gegenargumente gibt.

Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft

V.

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Präjudizienauslegung

Die Lösung eines praktischen Rechtsproblems umfaßt in der Regel mindestens folgende Stufen.2 1. Auffinden des einschlägigen Gesetzes. Das setzt die gedankliche Bildung von Normhypothesen voraus. Die Normhypothese motiviert schon den Bürger, der sich an einen Anwalt mit der Bitte wendet, für ihn Klage zu erheben. Er berichtet einen Lebenssachverhalt unter dem Aspekt: »So etwas braucht man sich doch wohl nicht gefallen zu lassen« – Das, was die Strafrechtler nennen: »Parallelwertung in der Laiensphäre«, ist die Grundlage der Rechtsbildung, weil es den Kampf um das Recht gegen das Unrecht im Gerichtsverfahren überhaupt erst auslöst. Die Normhypothese bildet alsdann für den Juristen den Wegweiser zu den einschlägigen Gesetzen. [100] 2. Auffinden der einschlägigen Präjudizien. Die Normhypothese bildet auch den Wegweiser zu den einschlägigen Präjudizien. Es geht um die Frage, ob wir unsere Normhypothese in der ratio decidendi des Präjudiz wiederfinden. Auf den ersten Blick scheinen wir in einem ausweglosen Dilemma zu stecken: Wir suchen im einschlägigen Präjudiz die Norm, können aber die Einschlägigkeit des Präjudiz nur bestimmen, wenn wir die Norm schon haben. Wir haben sie in Gestalt einer Normhypothese, und die Frage ist, ob das Präjudiz diese Hypothese bestätigt oder nicht. Um diese Frage zu klären, müssen wir die Normhypothese dem Präjudiz gewissermaßen hypothetisch unterstellen und fragen, ob es die Entscheidung tragen würde oder nicht. 3. Dazu bedarf es der klärenden Herausarbeitung der ratio decidendi des Präjudiz. Denn es kann ja sein, daß die präjudiziellen Urteilsgründe die ratio decidendi nicht ausdrücklich formulieren, weil die entscheidenden Richter sie als selbstverständlich vorausgesetzt haben und sich die Kontroversen in jenem Verfahren um andere Fragen drehten. Man pflegt zu sagen, die Heranziehung des Präjudiz führe zu einem analogischen Vergleich zweier konkreter Fälle. Was bedeutet analogischer Vergleich? Es kommt nicht auf Ähnlichkeit im Sinne von Übereinstimmung in einer Vielzahl von Elementen an, sondern auf die Übereinstimmung in dem jeweils wesentlichen Gesichtspunkt. Welcher Gesichtspunkt für das Präjudiz wesentlich war, ergibt sich aus seiner ratio decidendi. Die ratio decidendi ist der wesentliche Gesichtspunkt für die Entscheidungen, gedanklich oder auch ausdrücklich als generell-abstrakte Regel formuliert. Im Grenzfall ist sie eindeutig ausgesprochen und deckt sich genau mit unserer Normhypothese. Dann bedeutet die Absicherung der Entscheidung durch ein Präjudiz nichts anderes als Subsumtion des 2 Zum Folgenden eingehender : M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, §§ 42ff., 72ff.

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zu entscheidenden Falles unter die ratio decidendi des Präjudiz, – wohlgemerkt, im Grenzfall. 4. Interpretation der ratio decidendi des Präjudiz. Häufig wird die ratio decidendi zwar in den Urteilsgründen formuliert, aber in einer weiteren oder engeren Fassung als nötig. In diesem Falle könnten wir überlegen, ob nicht eine engere oder weitere Fassung den Rechtsgedanken klarer oder richtiger ausdrücken würde. Es kommt auf den Abstraktionsgrad an: Ist es [101] erheblich, daß sich die ratio decidendi auf einen Fischhändler, einen Einzelhändler, einen Kaufmann oder nur den Partner eines Kaufvertrages bezieht? Wir können auch den Vorbehalt anbringen, daß die ratio decidendi zwar grundsätzlich Anerkennung verdient, aber nur, wenn für bestimmte Fälle Ausnahmen gemacht sind. Die angelsächsische Jurisprudenz spricht in diesem Zusammenhang von »distinguishing«. Durch das distinguishing klärt, verfeinert, verbessert sich die Interpretation der Gesetze. 5. Überwindung des Präjudiz. Es ist zulässig, daß ein Gericht feststellt, die Präjudizien seien einschlägig, aber falsch, und zwar so falsch, daß Modifikationen nicht ausreichen, um den Fehler zu korrigieren. In dem Fall wird das Präjudiz verworfen und eine Entscheidung ohne Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung getroffen. Die angelsächsische Jurisprudenz spricht in diesem Fall von »overruling«. Overruling ist im angelsächsischen wie im kontinentaleuropäischen Recht möglich, bedarf dann dort wie hier freilich der Begründung. Aber auch in diesem Fall wirkt sich das Prinzip der Präjudizienvermutung aus, nämlich im Hinblick auf die künftige präjudizielle Wirkung, die die zu treffende Entscheidung entfalten wird. Gegen das Gesagte liegt der Einwand nahe, daß es einer angelsächsischen Betrachtungsweise des Rechts entspringe. Im englischen und amerikanischen Recht läßt sich das Prinzip der Präjudizienvermutung in der Tat nachweisen. Aber man könnte einwenden, der englische Richter habe eine ganz andere Stellung als der kontinentaleuropäische, und deshalb ließe sich die anglo-amerikanische Betrachtungsweise auf den kontinentaleuropäischen Rechtskreis nicht übertragen.3 Drüben werde das Recht auf induktivem Wege gefunden, hier aber deduktiv. Für das angloamerikanische Recht seien das Ausgehen vom Einzelfall und der Rückgriff auf die Präjudizien charakteristisch, für den kontinentaleuropäischen Richter jedoch die Ableitung der Entscheidung aus Gesetzen nach wissenschaftlich erarbeiteten Methodenregeln. Das angelsächsische Recht sei gewissermaßen handwerklich geprägt, wie schon der Ausbildungsgang des Richters erweise, während im kontinentaleuropäischen Rechtskreis die systematische Rechtswissenschaft das Recht maßgeblich präge. Drüben gelte das Prinzip des »stare decises«, freilich ergänzt durch die Erlaubtheit des distin3 Gustav Radbruch, Vom Geist des englischen Rechts, 3. Aufl. 1956.

Die Rehabilitierung der praktischen Vernunft

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guishing und auch des overruling. Im [102] kontinentaleuropäischen Rechtskreis aber könnten Präjudizien allenfalls als Indiz für richtige Rechtsauslegung herangezogen werden, ebenso wie jede rechtswissenschaftliche Ansicht auch. Die Wirklichkeit ist anders: Es bestehen zwar tiefgreifende Unterschiede zwischen der kontinentaleuropäischen und der angloamerikanischen Rechtstheorie und infolgedessen auch der Art und Weise rechtswissenschaftlicher Darstellung und Lehre. In der Wirklichkeit der juristischen Praxis, in der Auslegung und Anwendung des Rechts spielt dieser Unterschied jedoch keine massgebliche Rolle. Vielmehr haben die Präjudizien für den kontinentaleuropäischen Richter im großen und ganzen die gleiche Bedeutung wie für den angloamerikanischen, und zwar unabhängig davon, ob ein Rechtsgebiet kodifiziert ist oder nicht. Die Präjudizien sind hier wie dort weder unverbindlich, wie die kontinentaleuropäische Rechtstheorie lehrt, noch verbindlich, wie es ein Teil der angloamerikanischen Rechtstheorie verlangt. Vielmehr gilt hier wie drüben die Vermutung zugunsten des Präjudiz: Die angeblichen Unterschiede bestehen nur in der Theorie, nicht in der Praxis. Die gleichartige Wirklichkeit trifft in der theoretischen Reflexion gewissermaßen auf zwei Spiegel, die sie im Bewußtsein ganz verschieden reflektieren.

18. Die rationale Kontrolle der Auslegung (Josef Esser)

Das Argumentieren mit »vernünftigen« Gesichtspunkten wird in der neueren deutschen Methodenlehre gern als »topisches« Rechtsdenken bezeichnet. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nicht irgendein Schulstreit um die philosophiegeschichtlich legitime Verwendung dieses neuentdeckten Methodenschlagwortes1, sondern nur eine in der heutigen Diskussion kaum beachtete2 Tat-[155]sache: daß auch ein Argumentationsstil, der auf dogmatisierte Gesichtspunkte der Systemlogik zugunsten plausibler Zweckbegründungen verzichtet, rational ist, ja, daß er die klassische Form rationaler Richtigkeitskontrolle darstellt, nämlich die Probe der Konsensfähigkeit mittels Durchgriffs auf die »Vernünftigkeit« oder die »Unhaltbarkeit« von Erwartungshorizonten und der hier versuchten dogmatischen Lösung. Das besagt nicht, daß topisches Denken nicht auch Gesichtspunkte der Logik, der sogenannten Rechtslogik oder auch in der betreffenden Dogmatik einleuchtende Systemargumente benutzt. Aber es läßt deduktive Argumente nicht als die alleinigen Vehikel rationaler Richtigkeitskontrolle zu – ja, nicht einmal als untrügliche. Es stellt ihnen die auf Sacheinsicht eines vernünftigen Partnerkreises abzielenden Vernunftargumente 1 Es geht vornehmlich um die Arbeit von Theodor Viehweg, Topik- und Jurisprudenz, 1. Aufl. 1953. Zur kulturhistorischen Entwicklung der Topik in ihrer Form scholastischen Systemdenkens gibt es freilich noch andere grundlegende Darstellungen, gerade auch über Vico. Ich erwähnte das Werk von Karl Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 8 (1963), S. 146 (152). Über die Topik als heuristische Methode vgl. die modernen Wiederbelebungsversuche bei dem späten Wittgenstein, der die »pragmatische Dimension« des Argumentierens neu entdeckt hat. Der große Vermittler der topischen ars inveniendi (et judicandi) an die Neuzeit war zweifellos der Heidelberger Humanist Rudolf Agricola, dessen 1479 verfaßtes dreiteiliges Werk De inventione dialectica mit seiner Wiederzusammenführung von theoretischer und wissenschaftpraktischer Topik lange Zeit die artistischen Fakultäten in Deutschland beherrschte. 2 Eine Ausnahme bilden die schon in der Einleitung erwähnten Arbeiten von Cha"m Perelman, u. a. »Justice et raison«, 1963, und »Über die Gerechtigkeit«, 1967. Neue Materialnachweise in der deutschen Judikatur bei Gerhard Struck, Topische Jurisprudenz, 1971. Struck betont, daß regelmäßig die Vernünftigkeit der Topoi durch ihre »Vagheit« erkauft werde (S. 35ff., 46ff.). Freilich erfaßt er hauptsächlich Maximen, Prinzipien usf. mit großem Blankokredit.

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Josef Esser

gegenüber, deren Überzeugungskraft nicht in einer Systematik und Dogmatik liegt, welche die Umweltvorstellungen enttäuscht, sondern gerade in der Möglichkeit des Konsenses mit der schon bestehenden Einsicht der Umwelt oder doch der Herstellung eines neuen Konsenses. Topik betont ganz allgemein die Überzeugungskraft dieses Konsenses in Fragen der rechtlichen Wertung wie überhaupt der konventionellen Anschauung sowie ihre Überlegenheit gegenüber der konstruktiven und deduktiven Beweisführung mit Mitteln der Logik. Im Rahmen dieser Technik, durch argumentierbare Evidenzen auf zwingende Konsense zurückzugreifen, ist natürlich das Argumentieren über die vordogmatischen Zweckfragen und ihre Beurteilung der Umwelt unvermeidlich, ebenso wie deren Konfrontierung mit den Aufgaben des Rechtssystems. Solche kritische Abwägung kann auch dem System- und Institutionsschutz den Vorrang zusprechen. Aber sie bleibt eben darin noch kritisch und selbständig gegenüber der Unterwerfung unter die logischen Alternativen eines »Konditionalprogramms«, für welche jede Zweckerwägung im »komplexen« Argumentationssinne schlicht als metajuristisch auszuscheiden hat. Der Topik als Argumentationsstil entspricht eine Topik als Forschungsstil, nämlich im Sinne der erwähnten Trial and Error-Methode. Das Denken in Fallsituationen mit jeweils verifizierbaren oder falsifizierbaren Ergebnissen rührt an die Urteilskraft außerhalb vorgegebener doktrinärer Legitimation. Es bricht mit der Vorstellung, daß nach den Implikationen eines Systems ein methodengerecht hergestelltes dogmatisches Ergebnis richtig sein muß, und daß aus dieser Axiomatik heraus schlechterdings auch nur ein einziges Ergebnis richtig sein könne. Es zeigt, daß es nur eine Verlagerung der Entscheidungsgänge ist, wenn man [156] die Kriterien in Dogmen oder in Systemen so einbaut, daß im Ernstfall ihre Beweiskraft nochmals untersucht werden und gegebenenfalls revidiert werden muß. Es besagt nicht, daß ein solches Systemdenken nicht rational sei, es besagt nur, daß dieses System nicht mehr leisten kann, als in seine dogmatisierten Prämissen aufgenommen wurde. Auch Vertreter des Kalküls oder der Kalkülisierbarkeit von Wertungsvorgängen im Recht müssen zugeben, daß Axiome nichts anderes als Hypothesen oder Annahmen sind. Ihre fortgesetzte kategoriale Einsetzung kann das System praktisch so verfestigen, daß die endlich notwendige Korrektur eines einzigen Axioms seine gesamte Leistung in Frage stellen würde. Diese Sackgasse vermeidet das topische Argumentieren, welches systematische Zwangsabläufe rechtzeitig verhindert und neue Inventionen einführt. Neben die Grundsätze, die das »System« zu beherrschen beanspruchen, treten nunmehr topische Maximen und Gesichtspunkte, welche gerade diese Entlastungsfunktion übernehmen können. Nicht zufällig siedeln sie sich in einem System wie dem des BGB bei den Generalklauseln an. Ob man diese Gesichtspunkte nun ihrerseits wieder unter-

Die rationale Kontrolle der Auslegung

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einander in einen systematischen Bezugsrahmen bringen und damit ein sogenanntes »offenes System« herstellen kann3, erscheint mir eine wenig realistische Frage theoretischer Spekulation. Worum es mir geht, ist das Herausstellen topischer Denkformen als unverzichtbar für die Einschleusung metadogmatischer Wertungsgesichtspunkte und Richtigkeitsgewähr. Nach der Würdigung, die ich seinerzeit solchen Denkrichtungen in »Grundsatz und Norm« gegeben hatte (vgl. S. 44ff., 218ff.), wäre hier eine Wiederholung unzweckmäßig. Zu betonen ist nur das Verdienst von Kriele, der entgegen manchen Mißverständnissen mit aller Deutlichkeit gezeigt hat, daß die schulmäßige Gegenüberstellung von systematischem und topischem Denken höchst unrealistisch ist4. Die Bedeutung topischer Argumentationsweisen für die Richtigkeitskontrolle liegt nun nicht allein in ihrer Funktion als Gegenspieler logischen Systemzwanges. Neben diesem antiaxiomatischen Faktor, der sich in der Korrektur und Erweiterung der dogmatischen Vorstellungen und in der Sachkontrolle der sogenannten juristischen Logik und ihrer Schlüsse auswirkt, darf der Inventionswert für die Gewinnung sachlicher Maßstäbe nicht unterschätzt werden. Ja, die Wahl der »offenbar« in Betracht kommenden Normen und Interpretationsweisen ist bereits durch topische Vorüberlegungen gesteuert5. Das Herausfinden sachlich »einsichtiger Gesichtspunkte« erkannten wir schon als maßgebend einerseits für die Auswahl der zu befragenden Normtatbestände und andererseits für die Vorqualifikation der hier bedeutsamen Sachverhaltsmerkmale. Der selektive Prozeß juristischer Relevanzen kann, wie im Entscheidungsakt so schon im Aus-[157]wahlvorgang und in der Methode, nicht ohne topische Vorauslese verstanden werden, nicht ohne topische Positionen, die alternativ befragt werden6. Die Eignung solcher Denkweise zur Klärung des Vorverständnisses wird verstärkt durch das Abstellen der Richtigkeitsauskunft auf das »Einleuchtende«, d. h. den Konsens oder, wie es in der Topik des Aristoteles genannt wird, auf das »was allen oder den meisten oder den Weisen wahr erscheint«. Hier ist eben der »vernünftige« Vorstellungs- und Erwartungshorizont angesprochen, der für die Richtigkeitsgewähr der Wertung nicht außer acht bleiben kann. Eben durch diese Hinwendung zu den Mitteln der Meinungsbildung und -überzeugung wird uns die Topik wieder interessant, nicht durch ihre akademischen Traditionen. Wir befassen uns nicht mehr mit Topoi-Katalogen, die uns ebensowenig besagen wie gewisse Methoden-Kataloge, die uns eher skurril erscheinen. […] 3 So Walter Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, 1950. 4 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1. Aufl. 1967, S. 50: Die These vom topischen Denken wendet sich nicht gegen das dogmatische System, sondern gegen das Vorurteil, ein System könne vollständig und endgültig sein. Sie plädiert für »Systemoffenheit«. Vgl. auch S. 114ff. 5 Vgl. zu alledem Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1. Aufl. 1967, S. 150/151. 6 Vgl. Jürgen Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, insbes. S. 22ff.

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[158] Von daher wird das topische Denken mit größerer Anschaulichkeit auch als »Problemdenken« bezeichnet, in welchem dogmatisch scheinbar gesicherte Fragen anhand der neuen Konfliktkonfrontation wieder zurückgeholt werden aus dem dogmatischen System in eine vordogmatische Einsichtigkeit. Es ist der notwendige Schritt zur Vorbereitung besserer Dogmatisierung und eines neuen Systemverständnisses. Problemdenken darf also nicht als »aporetisches« Denken im populären Sinne vorgestellt werden. Es geht keineswegs von erkenntnismäßigen Aporien des Rechts aus, von Wertabsolutheit oder Verstandes- und Gefühlssackgassen, sondern ist nur die vom Systemdenken unbelastete Aufrollung systematisch derzeit unbefriedigend erfaßbarer Rechtsfragen. Problemdenken in diesem Sinne ist »operatives Denken«7. Hier verzichtet der Jurist noch auf eine begriffliche Einbindung in ein System mit Kategorien von »höheren« und »niederen« Ordnungskriterien, von allgemeineren und konkreteren Tatbestandsbindungen; er geht zu jenem pragmatischen Denken in Zweckzusammenhängen und ihren Implikationen über, das sich auch in der Ebene des Gesetzgebers als allein überzeugend anbietet. Freilich muß er die Entscheidungen des Gesetzgebers respektieren; aber diese sind in den meisten Konfliktsfragen weder eindeutig noch umfassend genug, um jeweils auch nur das Typische an modernen oder aktuellen Problemsituationen zu erfassen. Die Vorwegnahme aller Sachproblematik durch entsprechende Tatbestandsverfeinerung kann auch von höchstinformierter Legislative nicht erwartet werden. Sofern nun auch die allgemeinen dogmatischen Vorstellungen nicht hilfreich sind, werden sie beiseitegeschoben. An ihre Stelle tritt die Verweisung auf andere Autoritäten, seien es anerkannte Grundsätze, Überzeugungen oder überlieferte Doktrin, seien es Präjudizien. Viele Präjudizienzitate erklären sich gerade aus dem Bedürfnis zur selbständigen problemgebundenen Absicherung einer Meinung außerhalb eines fragwürdig gewordenen begrifflichen Ableitungszusammenhangs8. Hier ist nun auch der wichtigste Verwendungsort von nicht dogmatisierten Prinzipien und judiziell gebildeten Rechtsgrundsätzen, die ebendort als Autorität für die Anerkennungswürdigkeit eines Gesichtspunktes dienen, wo das systemlogische Ableiten versagt oder verschmäht wird9. [159] Das bedeutet nicht, daß in einem 7 Vgl. Fritz Rittner, Ermessensfreiheit und Billigkeitsspielraum, 1964, S. 40. 8 Vgl. die Beispiele bei Thilo Vogel, Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung an das Gesetz im gewaltenteilenden Staat, 1969, S. 52ff., wo auf die bekannten und beliebten Hinweise der höchstrichterlichen Entscheidungsgründe verwiesen wird, daß die hier getroffene Entscheidung sich verstehe als »Weiterentwicklung«, »Ergänzung« oder »Fortführung« früherer Entscheidungen des gleichen Gerichts oder seines Vorgängers. 9 Ein informatives Beispiel für solche richterliche Systematisierung von topischen Argumenten im Schema von »Grundsatz und Ausnahme« bietet ein jüngeres BGH-Urteil zur Frage der Beachtlichkeit oder die Unzulässigkeit der Berufung auf Formnichtigkeit. Es war zu entscheiden, ob eine Baubetreuungsgesellschaft der in einem privatschriftlichen Formularvertrag übernommenen Verkaufspflicht nachzukommen hatte, nachdem sie den sich voll enga-

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späteren Stadium solche selbständig begründeten Entscheidungskomplexe systemfremd bleiben müssen. Sie werden mit gewisser Toleranz auch ohne ein homogenes Begriffsnetz in das positive Rechtssystem rezipiert. Während nun aber ältere Systeme aus der Überzeugungskraft von Maximen und Grundsätzen leben, die sich als bloße Praktikerrezepte eines Problem- oder Falldenkens darstellen, entspricht es der modernen Rechtseinstellung, daß auch diese systemfremden Gesichtspunkte dogmatisch verarbeitet und in manchmal unerkennbarem neuen begrifflichen Gewand doktrinarisiert werden. Man kann geradezu von einem Kreislauf zwischen topischem und doktrinärem Denken sprechen10. Es gibt aber immer noch Gebiete, die mangels entsprechender Einheitssystematik auf die alten Anknüpfungen an Topik und undogmatischer Sachlogik angewiesen bleiben. Ein berühmtes systemfrei gebliebenes Rechtsgebiet ist das von topischen Argumenten beherrschte internationale Privatrecht. Alle Regeln sind hier pragmatisch mit »einleuchtenden« Gesichtspunkten begründet, deren topische Natur schon dadurch auffällt, daß keines der in Anspruch genommenen Kriterien zwingend ist; jedes kann durch die Situation kontraindiziert sein11. [160] Topische Denkhaltung ist zuletzt aber auch im Hinblick auf die Zweckergierenden Käufer durch den vorgedruckten irrtümlichen oder bewußt falschen Hinweis beruhigt hatte, daß auch der nicht notarielle Vertrag für sie schon wegen der dolus-Einrede praktisch bindend sei. In der Entscheidung NJW 1969, 1167 (1169) findet sich folgender Grundsatz-Kanon: Regel: Zwingende gesetzliche Formvorschriften können im Interesse der Rechtssicherheit nicht aus Billigkeitsgründen unbeachtet bleiben. Ausnahme: bei doloser Irreführung oder einem nach den besonderen Umständen mit Treu und Glauben unvereinbaren Verhalten. Unterausnahmen: im letzten Falle nur, wenn Ergebnis »schlechthin untragbar«. Auch im ersten Falle genügt nicht, daß der Formmangel verschuldet ist; er muß erweislich dolos herbeigeführt sein. Weitere Unterausnahme bei besonderen Treueverhältnissen, auf Grund deren eine weitgehende Betreuungs- und Fürsorgepflicht besteht. »Das gilt jedoch nicht ohne weiteres (!) auch für den Erwerb eines Kaufeigenheimes« (Präjudiz zitiert). Im vorliegenden Fall war nun aber der Kunde über die Formnichtigkeit belehrt und für deren Rechtsauswirkung falsch unterrichtet worden. In dieser Hinsicht war kein dolus des »Vorgaukelns« einer gesicherten Rechtsstellung nachweisbar. Nicht ausgesprochen wird bei dieser Art von »Systembildung« der rechtspolitisch vernünftige und vielleicht nur unbewußt maßgebende Gedanke, daß die Anerkennung des Käuferschutzes den Betreuungsfirmen einen geradezu legitimen Weg eröffnen würde, die ihnen unbequeme Form des § 313 BGB durch solche Belehrungsklauseln zu ersetzen. 10 Dazu Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956, S. 44ff. 11 Vgl. etwa die Anknüpfungsregeln, die sich auf die vermutliche Zweckmäßigkeit und optimale Eignung der Anknüpfung des Vertragsstatuts stützen. In der englischen Rechtssprache wird hier ganz offen von der Suche nach »the proper law of the contract« geredet und auf alle die Gesichtspunkte hingewiesen, die auch wir seit 150 Jahren kaum noch verändert haben. Diese Argumente sind allesamt topischer Natur, vom Statut des Landes des Abschlusses oder der Erfüllung bis zu dem der Belegenheit der Sache oder der Vornahme der geschuldeten Handlung und dem implizierten Parteiwillen.

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Josef Esser

fassung von Normierungen entscheidend, ohne die das »System« derselben nicht bestimmbar ist. In allen Rechtsgebieten, in denen die Konfliktlösung nicht ohne Kenntnis oder Unterstellung eines Zweckprogramms verständlich wird, muß nach den Kriterien der offenbar gemeinten Zweck- und Interessenabwägung geforscht werden. Zweifelsfragen der Zweckprogrammierung sind nunmehr teleologisch im Sinne der eindeutig nachweisbaren Zwecksetzungen zu entscheiden. Das ist die Lage bei jeder sozial und wirtschaftlich aus den allgemeinen Kodifikationen herausragenden Spezialmaterie mit ihrer Einzelgesetzgebung, vom Arbeitsrecht bis zum Kartell- und Wettbewerbsrecht, ja, bis hinein in die Programmierung von Organisationskompetenz und Risikofragen des modernen Gesellschaftsrechts. Diese Materien geben teilweise schon durch ihre zentral bedeutsamen Generalklauseln und durch die Einschlüsse von sozialen und wirtschaftlichen Relevanzen ihre zweckprogrammierenden Aufgaben eindeutig an den entscheidenden Richter weiter. Sie machen ihn aber auch innerhalb eines formal feststehenden tatbestandlichen Begriffssystems durch ihre weithin offene Zweckorientierung zum Mitbestimmer der rechtspolitischen Modellierung. Es gibt fast keine Rechtsfrage, die nicht zugleich eine Zweckentscheidung wäre. Folgerichtig kann die Entscheidung hier nicht ohne topische Beurteilung aus den Zwecksetzungen erfolgen. Bezeichnenderweise ist dies auch das Schicksal des Strafrechts, jener Hausdomäne hoch differenzierten dogmatischen Tatbestandsdenkens. Es gibt gewisse akademisch weiter gepflegte Tatbestandsdifferenzierungen, die hier auch aus den politischen Gründen rechtsstaatlichen Denkens ihre klare Präzision beibehalten müssen. Aber jenseits dieser Denkkategorien nimmt – nicht nur im Jugendstrafrecht – das zweckgerichtete Denken hinsichtlich der Strafwürdigkeit immer größere Teile der judiziellen Bemühungen (und natürlich der Strafrechtslehre) in Anspruch. Das ist schon dadurch bedingt, daß heute auch die miteinander konkurrierenden Strafzwecke selbst in ihrem Gewicht für den gegebenen Fall beurteilt werden müssen, namentlich legitimiert durch die moderne Forderung nach kriminalpolitischer Wertung und damit Entpositivierung des Strafrechtsdenkens. Der Trend zur richterlichen Berücksichtigung nicht juristischer, also nicht normativer Vorstellungen ist nicht zu leugnen. Auch jenseits der engeren politischen Diskussion geht die Entwicklung deutlich zur Ausweitung der Ermessens- und Argumentationsbasis des Strafrichters, für den selbst vom klassischen Strafrechtsdenken her das Gesetz jetzt »nur eine der für das Urteil maßgebenden Grundlagen« ist12. Die zunehmenden Divergenzen im Strafmaß sind nur ein Symptom dieser Entwicklung. [161] Aus alledem erklärt sich das wachsende Interesse an der methodologischen Aufhellung der Rolle, welche Zweckdenken und topisches Ar-

12 Vgl. Karl Peters in der Gedächtnisschrift für Hans Peters, 1967, S. 891 (893).

Die rationale Kontrolle der Auslegung

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gumentieren legalerweise spielen, wie die nicht dogmatisch kontrollierbaren Durchgriffe auf die pragmatischen Gerechtigkeits- und Sozialerwägungen.

19. Vernunft und Form im Recht (Arthur Kaufmann)

I.

Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik

Zunächst ist festzuhalten: Gesetz und Recht sind – entgegen dem Dogma des orthodoxen Positivismus – nicht dasselbe. Die abstrakte, formell-positive [85] Gesetzesnorm ist zwar notwendiger, aber niemals hinreichender Grund für das konkrete, materiell-positive Recht. Oder so ausgedrückt: Das Gesetz ist nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Möglichkeit von Recht. Ist dies richtig, daß Recht nicht allein aus dem Gesetz wird, dann muß, damit Recht entstehen kann, das Gesetz durch etwas komplettiert werden, was außerhalb seiner selbst liegt. Diese Einsicht wird heute kaum noch in Frage gestellt. Aber fast allgemein scheut man sich, daraus die Konsequenzen zu ziehen, oder man sieht sie gar nicht, weil man – worauf schon hingewiesen wurde – die Unvollständigkeit der Gesetzes unkritisch als eine nun einmal bestehende Tatsache hinnimmt wie so vieles andere Unvollkommene in unserer Welt. Aber die Unfertigkeit der Gesetze ist keineswegs eine Unvollkommenheit, ein Mangel, sie ist vielmehr im Wesen des Gesetzes selbst begründet, notwendig und apriorisch. Das Gesetz muß ja für die Wirklichkeit gelten, die Wirklichkeit aber ist unendlich vielgestaltig und in unaufhörlichem Wandel befindlich. Eben wegen dieser Vielfalt und Veränderlichkeit der Lebenssachverhalte darf ein Gesetz gar nicht abschließend und eindeutig formuliert werden, selbst wenn es möglich wäre (es ist nicht möglich, wie sich gerade an der Vergeblichkeit von Auslegungsverboten gezeigt hat). Das Gesetz muß sich stets in der jeweiligen geschichtlichen Situation konkretisieren, erst am Fall und durch den Fall wird verständlich, was das Gesetz überhaupt »meint«. Die traditionelle Methodenlehre hat durchaus unrecht, wenn sie die Antwort auf die Frage, ob der Gesetzestext einen bestimmten Sachverhalt »meint«, einzig durch »Auslegung« im Gesetz selbst finden zu können glaubt. In Wahrheit muß immer auch der (zumindest gedanklich vorgestellte) Sachverhalt befragt werden, ob in ihm der

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Arthur Kaufmann

Gesetzestext zu finden ist, denn anders wäre ein »Verstehen« der zwischen Sachverhalt und Gesetzestext bestehenden »Entsprechung« (adaequatio) unmöglich. Textverstehen ist also nicht etwas rein Rezeptives, sondern ein praktisches, gestaltendes Handeln. Und erst durch solches Handeln wird das konkrete, geschichtliche Recht. Hier zeigt sich auch wieder die Unhaltbarkeit des Methodendualismus von Sein und Sollen, demzufolge Sachverhaltsermittlung und Rechtsanwendung zwei getrennte, zeitlich aufeinander folgende Vorgänge darstellen. Das ist nichts als eine Täuschung, denn in Wirklichkeit ist es ganz unmöglich, einen Sachverhalt qua Sachverhalt zu erkennen, wenn nicht unter bestimmten normativen Gesichtspunkten. Ja, durch diesen uno actu vonstatten gehenden Vorgang der normativen Qualifizierung des Falles und der Konkretisierung der Gesetzesnorm (den man – wenig treffend – »Rechtsanwendung« nennt) werden Sachverhalt und Rechtsnorm überhaupt erst hergestellt, und indem sie aneinander aufbereitet und schließlich zueinander »in Entsprechung gebracht« werden (das, was gewöhnlich als »Subsumtion« bezeichnet wird), entsteht konkretes, realiter existierendes, geschichtliches Recht. Vorher ist noch gar kein »Recht« da, und es gibt auch noch keinen »Sachverhalt«, vielmehr gibt [86] es nur »Rohmaterialien«: einerseits eine Anzahl abstrakter Gesetzesnormen, die zufolge ihrer Abstraktheit noch gar nicht anwendbar sind, und andererseits ein Konglomerat ungegliederter Fakten, die noch nicht zu bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten in Beziehung gesetzt und also auch noch nicht in relevante und irrelevante geschieden sind. Die sogenannte Subsumtion ist kein Problem, wenn erst einmal die Prämissen feststehen. Der entscheidende Akt besteht darin, diese Prämissen in ihrer wechselseitigen Entsprechung herzustellen, nämlich: Erarbeitung konkreter Rechtssätze im Hinblick auf den Sachverhalt und Konstruktion von Sachverhalten im Hinblick auf das Gesetz1. Die juristische Hermeneutik sagt mit alledem nichts, was nicht schon immer irgendwie gegolten hat beziehungsweise praktiziert worden ist. Sie hebt es nur ans Licht und zerstört dadurch freilich manche Illusionen, vor allem die Illusion, Rechtsanwendung sei exakte Subsumtion des Rechtsfalles unter das (aus sich heraus verständliche und auslegbare) Gesetz. Doch mit dieser Desillusionierung ist es natürlich nicht getan. Vielmehr tun sich jetzt Probleme auf, die man bisher weithin verkannt hat, Probleme, die insbesondere den Gesetzgeber und den Richter betreffen, ihre Tätigkeit, ihre Funktionen, ihr gegenseitiges Verhältnis, also nicht zuletzt auch das Gewaltenteilungsprinzip. Die juristische Hermeneutik, die noch am Anfang ihrer Entwicklung steht2, wird sich somit vor allem 1 Übereinstimmend Hruschka, Rechtsanwendung als methodologisches Problem, in: ARSP 50 (1964), 485ff. 2 Siehe insbesondere: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl.

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mit Fragen dieser Art zu befassen haben, besonders dringlich damit, unter welchen Bedingungen Gesetzgebungsakt und Richterspruch als »richtig« anzusehen sind. Es versteht sich, daß es unmöglich ist, alle diese Probleme hier zu erörtern, ja auch nur aufzuwerfen. Wir müssen uns auf einige wenige Hinweise beschränken und dabei weitgehend auf detaillierte Begründungen verzichten. Ein ganz zentraler Punkt der neueren philosophischen Hermeneutik (nur drei Namen seien genannt: Heidegger, Gadamer, Betti) liegt in der Erkenntnis, daß ein sprachlicher Text niemals aus sich heraus verstanden werden kann, daß vielmehr zum Verstehenkönnen immer schon ein Vorverständnis oder Vorurteil vonnöten ist. Um es mit den Worten Gadamers zu sagen: »Vorurteile« sind »Bedingungen des Verstehens«. Denn: »Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im [87] Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.«3 Das ist der sogenannte »hermeneutische Zirkel«, daß man eine in der Sprache genannte Sache nur verstehen kann, sofern man sie in seiner Sprache schon vorverstanden hat, wenn auch auf einer anderen, vielleicht noch weitgehend unreflektierten Stufe (Gedanke der spiralenförmigen Bewegung des Verstehens). Josef Esser drückt es so aus: »Der hermeneutische Zirkel liegt … in der Tatsache, daß ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt wird: die gerechte Lösung … Das Herantragen einer bestimmten Ordnungsfrage im Hinblick auf die mögliche Weisungs-Bedeutung des befragten Textes ist der entscheidende Akt … Um eben dieses Herantragen geht es in der juristischen Hermeneutik.«4 Von hier aus wird nun auf einmal klar, warum das Gesetz klüger ist als der Gesetzgeber, warum es auf eine neue Situation neue Antworten gibt, warum es sich trotz gleichbleibendem Wortlaut wandelt, warum es in seiner Anwendung lebendig und geschichtlich wird. Und es wird einsichtig, woher das Gesetz, das ja nur die Möglichkeit von Recht darstellt, komplettiert wird, damit reales Recht entsteht: durch den schöpferischen Akt dessen, der Recht verwirklicht. Wenn der 1972; Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten; Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, 1972; W. Hassemer, Tatbestand und Typus; Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, 1968; Leicht, A. Kaufmann und Schroth, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 71ff., 81ff., 103ff.; außerdem die in Fn. 8 [im Original] zitierten Schriften. – Neuerdings gibt auch Larenz dem hermeneutischen Ansatz mehr Raum; vgl. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, bes. S. 181ff. 3 Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 261, 251. 4 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 2. Aufl. 1972, S. 137f.

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Richter Recht spricht, tut er immer etwas von sich, von seinem Verständnis dazu, sonst könnte er niemals das Gesetz und den Fall zueinander in Entsprechung bringen. Aus dem Gesagten ergeben sich weitere Folgerungen. Wird Recht erst im Verstehensprozeß hergestellt, dann kann es eine »objektive Richtigkeit« des Rechts außerhalb dieses Prozesses nicht geben5. Die »Objektivität« der Naturwissenschaften: völlige Auslöschung des Ich und gänzliche Hingabe an den Gegenstand, ist kein mögliches Ideal für die Rechtswissenschaft. Denn die Gesetzesnormen, mit denen es der Richter zu tun hat, sind keine »Objekte«, die er in subjektfreier »Reinheit« erkennen und einander zuordnen könnte, sondern sie sind, wie schon gesagt, nur das Rohmaterial, das erst noch der Bearbeitung bedarf, damit Recht daraus wird. Natürlich wird in den Routinefällen das schöpferische, gestaltende Moment des methodischen Prozesses meist nicht bewußt, gleichwohl ist es auch hier vorhanden. Im Grunde ist es eine uralte Weisheit, daß die Rechtsfindung nicht bloß eine Sache des Wissens, sondern vor allem auch eine Sache des Könnens ist. Nur hat man daraus meist nicht die Folgerungen gezogen, daß es da, wo Gestaltung im Spiel ist, niemals »reine Objektivität«, »pure Sachlichkeit« geben kann. Denn Gestaltung bedeutet [88] begriffsnotwendig, daß der Gestaltende etwas von seiner Persönlichkeit in das Werk einbringt. Und eben dies tut auch der Richter : er trägt etwas von seiner Persönlichkeit in das Urteil hinein. Damit wird durchaus nicht richterlichem Subjektivismus das Wort geredet, vielmehr sollen die schon immer vorhandenen, aber meist verschleierten subjektiven Momente der Urteilstätigkeit bewußt gemacht und in den methodischen Begründungszusammenhang einbezogen werden. Gibt es, wie dargelegt, keine Richtigkeit des Rechts außerhalb des konkreten Entscheidungsverfahrens, dann muß sie eben in diesem Verfahren selbst hergestellt werden: durch Reflexion und Argumentation, durch Intersubjektivität und Konsens unter den Beteiligten. Wenn es zutrifft – und es wird kaum noch ernsthaft bezweifelt –, daß das Verstehen von Gesetzesnormen und Lebenssachverhalten eine schöpferische Leistung des Verstehenden ist, und wenn demzufolge seine Person mit ihren Vorurteilen, Überzeugungen, Interessen, Befindlichkeiten (individueller und sozialer Art) immer und notwendig in den Verstehensprozeß mit eingeht, dann müssen die Kriterien richtigen Handelns und Entscheidens auf die verstehende und handelnde Person wie auch auf die Verstehens- und Handlungssituation bezogen werden. Kurz: Der Richter hat nicht nur das Gesetz und den Fall ins Auge zu fassen, er muß auch sich selbst in die Reflexion einbeziehen. Es ist kein Zweifel, daß die Abwendung von Naturrecht und Rechtspositi5 Ebenso Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 14ff.; W. Hassemer, Tatbestand und Typus; Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, 1968, S. 135.

Vernunft und Form im Recht

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vismus und die Hinwendung zur juristischen Hermeneutik für den Gesetzgeber und den Richter keine Erleichterung bedeuten. Im Gegenteil, Recht zu setzen und Recht zu sprechen, wird schwieriger. Aber es wird menschlicher. Rationalistisches Naturrecht und Rechtspositivismus haben den Juristen, zumal den Richter, zum Funktionär gemacht. Die juristische Hermeneutik will ihn wieder Persönlichkeit sein lassen6.

II.

Rationale Rechtsphilosophie*

1.

Der schillernde Rationalitätsbegriff

Wir wollen die Errungenschaften der Moderne, zumal den Rationalismus, bewahren und verteidigen. Wir wollen nicht den Irrationalismus oder gar den ARationalismus. Aber eben darum wollen wir auch nicht den Ultra-Rationalismus, der der eigentliche Urheber der irrationalen Zeitströmung ist. Geboten erscheint daher zunächst einmal eine Besinnung darauf, was Rationalität sinnvollerweise bedeutet. Darüber besteht keineswegs allgemeines Einvernehmen, im Gegenteil, der Rationalitätsbegriff wird sehr unterschiedlich gebraucht, gerade auch in Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie7. Sieht man näher zu, was da alles unter der Flagge »Rationalität« segelt, so zeigt sich eine sehr bunte Palette. Max Weber setzt auf »Wertfreiheit«, nicht viel anders Hans Kelsen auf »Reinheit«, während Gustav Radbruch die Rationalität einer »wertbeziehenden« Rechtsphilosophie um den Preis des Relativismus erkauft. Der Kritische Rationalismus von Karl Popper und seiner Schüler glaubt, sogar auf die Aufstellung von Hypothesen und auf positives Argumentieren verzichten und sich auf das »Falsifizieren« beschränken zu müssen. Die strengen Analytiker (z. B. H. L. A. Hart) bestehen auf der »Trennung« von begrifflichen, empirischen und normativen Sätzen und vor allem von Recht und Moral, und sie verweigern sich auch jeder nachträglichen In-Beziehung-Setzung des Getrennten, also jeg6 Speziell hierzu näher : A. Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängigkeit, in: Einheit und Vielfalt des Strafrechts; Festschr. f. Karl Peters, 1974, S. 295ff. * Nachfolgend aus: Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit. Abschiedsvorlesung, Heidelberg 1990. 7 Zum Thema »Recht und Rationalität« vgl. meinen so betitelten Beitrag zur Festschrift für Werner Maihofer: Rechtsstaat und Menschenwürde, 1988, S. 11–39 mit zahlreichen Nachweisen. Nachzutragen sind noch: David Roland Doublet, Die Vernunft als Rechtsinstanz; Kritik der reinen Vernunft als Reflexionsprozeß der Vernunft, 1989; Monika Voß, Symbolische Gesetzgebung; Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungsakten, 1989; Aleksander Peczenik, Moral Thinking, the Law and Rationality, in: Formalismus und Phänomenologie im Rechtsdenken der Gegenwart; Festgabe für Alois Troller zum 80. Geburtstag, hrsg. von W. Krawietz, 1987, S. 465–476.

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licher Synthese. Den Konstruktivisten um Paul Lorenzen, Oswald Schwemmer, Friedrich Kambartel und anderen kommt es darauf an, die Wissenschaft »konstruktivistisch« aus der Praxis vernünftiger Rede bzw. vernünftigen Handelns »zirkelfrei« zu begründen. Eine zentrale Stellung in der moder-[13]nen Rechtsphilosophie nehmen die »prozeduralen Theorien« ein, die den Versuch machen, einzig aus einem Denkverfahren inhaltliche Aussagen beispielsweise über Gerechtigkeit zu gewinnen: aus dem fiktiv inszenierten Verfahren, wie Menschen im Urzustand ihre Rechte und Pflichten regeln würden (so der bekannte Ansatz von John Rawls), oder aus dem »rationalen Diskurs«, bei dem eine ebenfalls fiktive »ideale Sprechsituation« die Gültigkeit des gewonnenen Konsenses gewährleisten soll (repräsentativ für diese Richtung ist vor allem Jürgen Habermas); wir werden darauf noch zurückkommen. Andere wiederum glauben, auf solche Krücken verzichten zu können. Eike v. Savigny und einige andere sind der Meinung, nur ein streng »deduktives« Verfahren sichere Rationalität, und mit ihm komme man bei juristischen Begründungen auch aus. Ganz anders wieder Christoph v. Mettenheim, der die Rationalität des Rechts nur durch eine »induktive« Methode garantiert sieht. Eine gewisse Synthese dazu bietet Klaus Lüderssen, indem er, im Anschluß an Charles Peirce, außer der Deduktion und der Induktion noch die »Abduktion« heranzieht8 und durch Verbindung von analytischer und dialektischer Philosophie zu einer praktikablen »empirischen Werttheorie« zu kommen trachtet. Usw. usw.9 Wie soll man aus diesem Labyrinth herausfinden? Man könnte daran denken, das Pferd gleichsam von hinten aufzuzäumen und danach zu fragen, was »irrational« ist, um auf solche Weise dem »Rationalen« auf die Spur zu kommen. Aber da erfahren wir von Ralf Dreier, der sich über den Irrationalismus Gedanken gemacht hat, daß der Ausdruck »Irrationalismus«, genau wie sein Korrelat, der Ausdruck »Rationalismus«, »in hohem Grade mehrdeutig und vage« 8 Nicht sehr verschieden davon, wenn auch nicht dasselbe, stellt mein Versuch dar, das Rechtsfindungsverfahren aus deduktiven, induktiven und analogischen Momenten zu erklären; siehe A. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 2. Aufl. 1982. Ich halte an dem dort Ausgeführten nach wie vor fest. – Ein ähnliches Modell hat Wolfgang Fikentscher mit dem entwickelt, was er das »Fallnormdenken« nennt: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. 4, 1977, S. 129ff. – Für das römische Recht hat Dieter Nörr nachgewiesen, daß dort Rechtsfindung auch nicht einfach als Deduktion (Subsumtion) verstanden worden ist: Divisio und Partitio; Bemerkungen zur römischen Rechtsquellenlehre und zur antiken Wissenschaftstheorie, 1972. – Und was die Rechte »einfacherer« Kulturen angeht, so hat Heinrich Scholler dargetan, daß man dort auch nicht in simplen Syllogismen denkt, sondern in Modellen, die weitgehend analogischen Charakter haben: Das afrikanische Rechtssprichwort als hermeneutisches Problem, in: Dimensionen der Hermeneutik; A. Kaufmann zum 60. Geburtstag, hrsg. von W. Hassemer, 1984, S. 135ff. 9 K. Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, 1972. Weitere Nachweise zu dem im Text Ausgeführten bei A. Kaufmann, Recht und Rationalität, in: Festschrift für Werner Maihofer: Rechtsstaat und Menschenwürde, 1988, S. 11, 18ff.

Vernunft und Form im Recht

323

ist10. Das kann auch nicht verwundern. Denn wiewohl die Unterscheidung von »Verstand« und »Vernunft« eine lange Tradition hat, werden beide Begriffe immer wieder vertauscht, vor allem wird das Wort »Ratio« bald nur für »Verstand« (was auch seine eigentliche [14] Bedeutung ist), bald auch für »Vernunft«, ja bisweilen sogar nur für »Vernunft« gebraucht. Deshalb bedeutet »irrational« keineswegs notwendig »vernunftwidrig«, es kann auch etwas »Überrationales« gemeint sein. Da diese Unterscheidungen im Interesse eines klaren Sprachgebrauchs wichtig sind, soll im folgenden noch etwas näher darauf eingegangen werden. […] [16]

2.

Formale und materiale Rationalität

[…] Die rationalistische Weltanschauung konnte sich nicht sehr lange behaupten. Daß es auch, und sogar viel, Irrationales in der Welt gibt, ließ sich auf die Dauer nicht leugnen. Aber die rationalistische Wissenschaft reagierte darauf nicht so, daß man das Irrationale möglichst sachlich und vernünftig zu verstehen versuchte, sondern sie beschränkte sich nunmehr auf das, was wirklich rational in dem eigentlichen und engeren Sinne des [17] Wortes ist. Und das sind nicht die Inhalte, das Wesen, die Sinngehalte der Dinge, sondern nur ihre logischen, formalen, begrifflichen Strukturen, denn nur sie sind einer rechnenden Methode zugänglich. Unter der Herrschaft einer solchen formalen Rationalität konnte es eine eigentliche Rechtsphilosophie, die nach dem inhaltlich richtigen Recht (was immer das sei) fragt, nicht mehr geben. Und in der Tat trat im 19. Jahrhundert an ihre Stelle die sogenannte »Allgemeine Rechtslehre«, die die Beschäftigung mit Rechtsinhalten als unwissenschaftlich und unkantisch (!) brandmarkte und sich auf begriffliche und strukturelle Analysen beschränkte. Gustav Radbruch hat sie treffend als die »Euthanasie der Rechtsphilosophie« bezeichnet.11 Unter der Herrschaft dieses Formalismus setzte sich in der juristischen Methodenlehre auch die Auffassung durch, Rechtsfindung sei ein ganz einfacher logischer Vorgang, nämlich die »Subsumtion« eines Lebenssachverhalts unter die Gesetzesnorm. Daß aber der Rechtsfindungsvorgang eine wesentlich kompliziertere Struktur aufweist, die auch produktive, dialektische, vielleicht auch intuitive, jedenfalls nicht ausschließlich formallogische Momente enthält, und daß der 10 R. Dreier, Irrationalismus in der Rechtswissenschaft, in: Rechtstheorie, Beiheft Nr. 8 (1985), 179ff. 11 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 110.

324

Arthur Kaufmann

Richter nie »nur dem Gesetz« die Entscheidung entnimmt, sondern an den Fall immer mit einem bestimmten »Vorverständnis«, das hauptsächlich durch Tradition und Situation bestimmt ist12, herangeht, wurde einfach ignoriert. Man nannte (und nennt) Rechtstheorien, die diesen Rechtsfindungsvorgang korrekt zu beschreiben suchen (vor allem die Juristische Hermeneutik), schlechtweg irrational und somit unwissenschaftlich (neuerdings zeichnet sich eine Überwindung des jahrzehntelangen Analytik-Hermeneutik-Streits ab13). Aber es ist ein Unding, eine Wissenschaftsdisziplin deswegen als irrational zu verketzern, weil sie sich mit einem Gegenstand befaßt, der seinerseits nicht rational ist (z. B. das Rechtsgefühl). Gerade die Rationalität gebietet, rational und vernünftig auch mit dem Irrationalen umzugehen. Man muß sogar sagen, daß ein Maximum an Rationalität nur der erreichen wird, der selbstreflexiv zu erkennen vermag, wo die Grenzen der Rationalität und Vernünftigkeit liegen und wo andere Kräfte – Emotionen, Leidenschaften, Triebe – das Steuer übernehmen. Bei einem Menschen, der von sich behauptet, alles [18] rational durchdenken und beurteilen zu können (seine Entscheidung nur aus dem Gesetz zu deduzieren), ist die Rationalität mit Sicherheit unterentwickelt. Nach dem Gesagten muß gefordert werden, daß eine rationale (im weiteren Sinne) Rechtsphilosophie sich nicht nur mit den formalen, begrifflichen, logischen Strukturen des Rechts befaßt, sondern auch und vor allem mit seinen Inhalten. Das läßt sich leicht sagen, ist aber in der Durchführung sehr schwierig. So völlig unrecht haben die Analytiker gar nicht, wenn sie die materialen Richtungen der Rechtsphilosophie angreifen, waren doch diese Richtungen viele Jahrhunderte lang identisch mit den Naturrechtslehren. Schon oben wurde gesagt, daß es heute keine Rückkehr zu dem klassischen Naturrecht mehr geben kann. Sie ist uns zumindest seit Kant verbaut, denn er hat uns gelehrt, daß die Inhalte aus der Erfahrung stammen und daher nur a posteriori gelten. Die Widerlegung des klassischen Naturrechts bedeutete für viele, auf eine Befassung mit Rechtsinhalten überhaupt zu verzichten und sich dem Rechtspositismus zuzuwenden, für den die Inhalte unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten (nicht unbedingt auch unter politischen Gesichtspunkten) beliebig sind. Aber die Alternative: Naturrecht oder Positivismus ist keine aus12 Näher A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hrsg. von A. Kaufmann und W. Hassemer, 5. Aufl. 1989, S. 25ff., bes. S. 122ff.; A. Kaufmann, Vierzig Jahre Rechtsentwicklung – dargestellt an einem Satz des Grundgesetzes, in: Ein ganz normaler Staat?; Perspektiven nach 40 Jahren Bundesrepublik, hrsg. von Wilhelm Bleek und Hanns Maull, 1989, S. 51ff. 13 Dazu A. Kaufmann, Recht und Rationalität, in: Festschrift für Werner Maihofer : Rechtsstaat und Menschenwürde, 1988, S. 11, 17, mit Hinweisen auf Georg Henrik von Wright, Ronald Dworkin, Jose de Sousa e Brito, Andres Ollero, Enrique Barros, Tomasz Gizbert-Studnicki u. a. – Siehe auch A. Kaufmann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, hrsg. von A. Kaufmann und W. Hassemer, 5. Aufl. 1989, S. 122ff.

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schließliche, so wenig die Frage: Stoff oder Form? richtig ist. Wir brauchen beides. Daher wäre eine antirationalistische Haltung, die alles begriffliche Denken über Bord wirft, ebenso verfehlt wie der reine Rationalismus, der nicht zu den Inhalten kommt. Die formalen Rechtstheorien, zumal die Analytik, sind unverzichtbar, denn sie bereiten das begriffliche Fundament der Erkenntnis. Aber sie leisten nicht die ganze Rechtserkenntnis. Hinzukommen muß das Verstehen der Sinngehalte des Rechts (Hermeneutik). Es geht – nochmals sei es betont – um eine pluralistische Sicht von Wissenschaft und Philosophie, derzufolge keine Disziplin Ausschließlichkeitscharakter besitzt, allen aber als Glieder eines Ganzen je eigene Funktionen zukommen. Es ist schließlich der Vernunftbegriff selbst, in dem dieser Pluralismus – und mit ihm das Postulat einer offenen Gesellschaft – fundiert ist. […] [22] Die gängigste Begründung von Werturteilen erfolgt heute allerdings auch nicht durch Berufung auf Wertevidenz. Das entscheidende Stichwort lautet »Intersubjektivität«, und das heißt »Einsichtigkeit« (was nicht dasselbe wie Evidenz ist), »Nachprüfbarkeit«, »Plausibilität«, heißt zunächst und vor allem »Konsensfähigkeit«. Seit Jürgen Habermas (gewiß nicht er allein) die »Konsensustheorie der Wahrheit« entwickelt hat, ist »Konsensfähigkeit« geradezu eine magische Zauberformel, mit der man den Schlüssel zu Wahrheit und Gerechtigkeit in der Hand zu halten glaubt. Aber ist »Konsensfähigkeit« tatsächlich dieser Schlüssel? Ohne Zweifel ist sie ein wichtiges Indiz für Wahrheit und Richtigkeit von Behauptungen bzw. von Normen. Indessen, mehr als ein Indiz? Gar die »Letztbegründung« moralischer und rechtlicher Urteile (Karl-Otto Apel, Otfried Höffe14), der Maßstab, der »in letzter Instanz« über Wahrheit und Richtigkeit entscheidet (Jürgen Habermas15)? Das kann nicht richtig sein. Die Wahrheitsfindung wird so zu einem Insichgeschäft, das zu der Konsequenz nötigt, auch das konsentierte Böse als legitim anzuerkennen – es sei denn, man ist unverfroren genug, sich zu dem Satz zu bekennen, etwas formal korrekt Konsentiertes (verfassungskonform erlassene Schandgesetze) könne per se nicht falsch, böse, ungerecht sein (der gedankliche Ausweg, nur ein Konsens aller habe wahrheitserzeugende Kraft16, ist

14 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung; Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, 1988, S. 8, 117f., 143ff., 198ff., 347ff., 406ff., 442ff. u. ö.; O. Höffe, Politische Gerechtigkeit; Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, 1987, z. B. S. 28; er spricht freilich nur von einer Letztbegründung »im schwachen Sinn«. Dazu (auch kritisch) neuerdings W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung; Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, 1985. 15 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 179 (die Studie stammt aus dem Jahr 1972). 16 Darauf stellt W. Hassemer ab: Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981, S. 123.

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praktisch nutzlos, weil es einen solchen allseitigen Konsens nicht gibt und nie geben wird). Davon abgesehen ist die Annahme, Wahrheit und Richtigkeit seien völlig unabhängig von dem, was konsentiert wird, schlechterdings inakzeptabel. Konsens bzw. Konsensfähigkeit müssen qualitativ begründet und nicht nur formal abgesichert sein. Schwerlich wird sich ein zu Unrecht Verurteilter mit der Versicherung zufrieden geben, er habe aber einen fairen Prozeß gehabt. Das behauptet natürlich auch niemand ernsthaft. Nur bestehen erhebliche Differenzen bezüglich der Frage, wie eine qualitative Begründung erfolgen kann, und nicht wenige geben sich diesbezüglich auch Illusionen hin. Eine dieser Illusionen besteht schon darin, daß man Intersub-[23]jektivität und Konsensfähigkeit als etwas Vorfindbares erachtet, auf das man sich nur zu berufen braucht (wie auf eine »herrschende Meinung«, die man den Kommentaren entnimmt). In Wirklichkeit sind Intersubjektivität und Konsensfähigkeit in den seltensten Fällen vorfabriziert, jedenfalls nicht in den Fällen, die für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in heutiger Zeit praktisch werden. Sie müssen allererst erarbeitet werden. Wie kann das geschehen? Und was ist das qualitative Kriterium, das sie als begründete Intersubjektivität und als begründeten Konsens ausweisen? […] [38]

3.

Der »Gegenstand« des normativen Diskurses

Wichtig ist aber nun die Feststellung, daß es bei normativen Diskursen keine substantiellen Gegenstände gibt. Falsch ist jedoch, wenn man daraus folgert, solchen Diskursen fehle überhaupt etwas, was, wenn auch noch in einem fragmentarischen Status, außerhalb des Diskurses besteht. Jeder Jurist weiß, daß es einen Prozeß ohne einen Prozeßgegenstand, der ihm Identität verleiht, nicht gibt und daß die unterschiedlichen Regeln der verschiedenen Rechtsprozesse (Zivil-, Straf-, Verwaltungsprozeß usw.) auf Unterschieden der Prozeßgegenstände beruhen. Er weiß aber auch, daß einerseits dieser Prozeßgegenstand als Prozeßgegenstand vor dem Prozeß nicht schon fertig gegeben ist, sondern erst im Prozeß seine genauen Konturen erhält, daß er andererseits aber dem Prozeß als ein historisches Ereignis mit Rechtsverhältnischarakter vorausliegt. »Gegenstand« der normativen Wissenschaften – Ethik, Normentheorie, Rechtswissen[39]schaft – sind nie Substanzen, sondern Verhältnisse, Relationen. Der große Schritt, den S. Peirce gemacht hat, nämlich von der aristotelischen und kantischen Logik, die nur Eigenschaftsprädikate kannte, zu einer Logik der Rela-

Vernunft und Form im Recht

327

tionsprädikate, muß in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie erst noch nachvollzogen werden17. Soweit die Diskurstheorie nur formale Regeln benennt, wie vernünftig zu argumentieren ist – die Bedingungen einer »idealen Sprechsituation« –, kann sie nur zu der Feststellung berechtigen, daß ein Konsens formal korrekt zustandegekommen ist, sie kann aber nicht die Erreichung von Wahrheit (Richtigkeit) von einem inhaltlichen Etwas, z. B. von Normen, behaupten. Der rationale, konsenserzielende Diskurs als solcher sagt nicht, was wahr und richtig ist, und nicht, was wir tun sollen. Er ersetzt nicht das Wissen und die Erfahrung der Diskurspartner, sondern setzt diese Fertigkeiten voraus. Erst wenn die Argumentationspartner dem Diskurs einen Inhalt, ein »Thema«, geben, der nicht der Diskurs selbst ist (wobei die genaue Fixierung des Themas meist erst im Fortschreiten des Diskurses geschieht), kann er zu wahren bzw. richtigen Ergebnissen führen. […] [40]

III.

Die Person als die »ontologische« Grundrelation des Rechts

Wir brauchen ein Phänomen, das seinshaft und prozeßhaft zugleich ist. Dieses Gesuchte kann nur der Mensch sein, aber nicht der rein empirische Mensch, freilich auch nicht der rein noumenale Mensch, sondern der Mensch als Person, d. h. als das Ensemble der Beziehungen, in denen der Mensch zu anderen Menschen oder zu Sachen steht18. Alle Ordnung hat einen solchen Verhältnischarakter19. Die personalen Beziehungen der Menschen sind das, was den juridischen Diskurs als solchen identifiziert, denn im Grunde wird sich Recht immer nur dadurch legitimieren lassen, daß es einem jeden das ihm als Person Zustehende gewährt: Das Suum Iustum (vor allem durch die Garantierung der Grund- und Menschenrechte). Darum hat schon Hegel gesagt: Das Rechtsgebot ist: »sei eine Person und respektiere die anderen als Personen«20. 17 Ein erster Versuch: A. Kaufmann, Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen; Grundlegung einer personalen Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 17 (1986) 257ff. Neuestens sehr eingehend L. Schulz, Das rechtliche Moment in der pragmatischen Philosophie von Charles Sanders Peirce, 1988. 18 Wichtige Vorarbeiten haben hier Werner Maihofer, Recht und Sein; Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954, und Lothar Philipps, Zur Ontotogie der sozialen Rolle, 1963, geleistet. 19 Schon bei Thomas von Aquin heißt es: »Ordo non est substantia, sed relatio«: Summa theologica, I, 116, 2. Ebenso spricht W. Maihofer von der Ordnung als einem »Gefüge von Entsprechungen«: Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956, bes. S. 64ff. 20 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 36.

328

Arthur Kaufmann

Aber wohlgemerkt: Person ist nicht Substanz, Person ist Relation, genauer : die Struktureinheit von Relatio und Relata21. In diesem Sinne ist Person das »Wie« und »Was«, »Subjekt« und »Objekt« des normativen Diskurses in einem, sie ist innerhalb wie auch außerhalb dieses diskursiven Prozesses, Gegebenes und Aufgegebenes, sie ist nicht statisch und zeitlos, in [41] ihrer dynamischgeschichtlichen Gestalt aber nicht beliebig verfügbar. Von daher zeigt sich auch, daß der (»hermeneutische«) Zirkel allen Verstehens in der Person des Menschen begründet und daher unaufhebbar ist. Und es wird auch aus dieser Sicht deutlich, daß die Konvergenztheorie der Wahrheit kein Drittes gegenüber Korrespondenz- und Konsensustheorie ist, vielmehr deren sinnvolle Verbindung. Eine solche personal fundierte prozedurale Theorie der Gerechtigkeit in concreto auszuarbeiten, kann nicht die Aufgabe nur der Rechtsphilosophie sein, sondern ist Sache aller, denen das Recht anvertraut ist. Dazu bedarf es des Diskurses, aber nicht nur in der Form eines fiktiven Denkmodells (»Urzustand«, »ideale Sprechsituation«), sondern vor allem in der Form tatsächlich existierender Argumentationsgemeinschaften (durch die Geschichte hindurch), bei denen wirkliche Erfahrungen und Überzeugungen über »Sachen« ausgetauscht werden. Ein solcher realer Diskurs bedarf eines empirischen Fundaments. Auch Philosophie, auch Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, sind, wollen sie nicht im Spekulativen verharren, auf die Erfahrung und auf das Experiment angewiesen. Das Experiment der Philosophie ist ihr Auftreten in der Geschichte, und dieses Experiment hat den großen Vorzug, da[ß] es nicht bloß fiktiv ist. Die Prinzipien der Gerechtigkeit – Suum cuique, Goldene Regel, Kategorischer Imperativ, Fairneßprinzip, Toleranzgebot – sind, jenseits aller geschichtlichen Erfahrungen, in der Tat »Leerformeln«. Aber so werden sie nie verstanden, und sie haben ja auch nur in der Gestalt einen Sinn, wie sie unter den jeweiligen Zeitumständen mit Inhalt gesättigt wurden. Freilich sind sie dann in solcher Ausformung niemals absolut, sondern geschichtlich. Die Geschichtlichkeit des Rechts22 ist nun aber auch die entscheidende Dimension, die es zu einem menschlichen Recht macht. Sie ist jedem technischen Zugriff durch Maschinen, Apparate, Rechner entzogen. Nur geschichtliches Recht, das offen ist für den Menschen in seinem konkreten Dasein, ist wahrhaft 21 Näher A. Kaufmann, Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen; Grundlegung einer personalen Rechtstheorie, in: Rechtstheorie 17 (1986), S. 257–276 passim, mit zahlreichen Nachweisen. 22 Siehe dazu meine programmatische Schrift: Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957. Aus dem reichhaltigen Schrifttum zur Geschichtlichkeit des Rechts seien genannt: Jose Llompart, Die Geschichtlichkeit in der Begründung des Rechts im Deutschland der Gegenwart, 1968; ders., Die Geschichtlichkeit der Rechtsprinzipien, 1976; Joseph J. M. van der Ven, Grundrechte und Geschichtlichkeit, 1960; Wolfgang Schild, Geschichtlichkeit des Rechtsgesetzes und der Rechtswissenschaft, in: Geschichte und System; Festschrift für Erich Heintel zum 60. Geburtstag, hrsg. von H.-D. Klein und E. Oeser, 1972, S. 144ff.

Vernunft und Form im Recht

329

menschliches Recht. […] [42] Die Idee jeder inhaltlichen Rechtsphilosophie kann nur die Idee des Menschen sein, und daher kann auch wirkliche Rationalität des Rechts immer nur auf den Menschen in seiner Ganzheit gegründet werden. Rechtsphilosophie ist kein Spielzeug für eine logisch begabte Elite. Wie alles Recht um der Menschen willen da ist und nicht umgekehrt, so muß sich auch die Rechtsphilosophie stets der Frage stellen, inwieweit sie dem Menschen diene. Rechtsphilosophie betreiben, muß mehr denn je wieder heißen: Verantwortung übernehmen gegenüber dem Menschen und seiner Welt (Hans Jonas23).

23 Seine Ethik hat mein Denken stark beeinflußt. Ich nenne hier nur sein Hauptwerk: Das Prinzip Verantwortung; Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1980.

20. Methodologie und Anwendungspraxis (Winfried Hassemer)

Reich an Varianten und an Blickwinkeln wird es, wenn man die Möglichkeiten der Bindung an das Gesetz ernsthaft prüft und fragt, welche Regelwerke einer möglichen juristischen Methodenlehre die Gewaltenteilung wirklich befördern können – nicht nur auf dem Papier und im Studierzimmer.1 Nichts gegen Studierzimmer und Papier : Es wird sich sofort zeigen, dass dort eine wahrhaft reiche und sachnahe Methodenlehre zu Hause ist.2 Es wird sich danach aber auch zeigen, dass ein Ausflug in die Umgebung des Studierzimmers den Geist nicht nur erfrischt, sondern auch auf neue Gedanken bringt.3

I.

Vernünftigkeit

Papier und Studierzimmer : Den Kern einer juristischen Methodenlehre im kodifikatorischen System4 verdanken wir Friedrich Carl v. Savigny. Er hat – gültig bis heute – vier Wege beschrieben, auf denen Gesetze sich dem Verständnis erschließen können, auf denen sich aber auch Rechtfertigung und Kritik dieses Verständnisses finden lassen.5 Diese Wege führen deshalb weiter, weil sie – ganz anders als die Entwürfe einer juristischen Logik6 – auf den Gegenstand bauen, an dem gearbeitet werden soll: auf das Gesetz, seine [132] Erscheinungsweisen und seine Möglichkeiten der Information und Sinnvermittlung.7 Das gibt diesen Wegen nicht nur Stabilität, sondern verschafft ihnen eine

Vgl. die Ankündigung oben II 2 [im Original]. Unter III 3 a [im Original]. Unter IV [im Original]. Zum Zusammenhang: oben II 1 [im Original]. Vor allem: Juristische Methodenlehre (Hrsg. von Wesenberg), 1951, S. 19; System des heutigen Römischen Rechts, I. Band, 1840, S. 212ff. 6 Zum Zusammenhang: oben II 2, III 2 [im Original]. 7 Vgl. zum Folgenden auch Friedrich Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. (1976), S. 147ff. 1 2 3 4 5

332

Winfried Hassemer

zwingende Vernünftigkeit; sie erklären sich gleichsam von selbst,8 wenn sie den Richter auffordern:9 – Triff deine Entscheidung nach dem Wortlaut des Gesetzes. – Achte auf den systematischen Zusammenhang, in dem das Gesetz steht. – Verfolge das Regelungsziel, das der Gesetzgeber im Auge hatte. – Richte dich nach dem Sinn, den das Gesetz heute hat. Das nenne ich: das Gesetz ernst nehmen und daraus eine Lehre für den Umgang mit dem Gesetz erschließen, die dem Gesetz gerecht wird:10 Die (grammatikalische) Anweisung, den Wortlaut des Gesetzes zum Maßstab zu nehmen, realisiert die trivialen Umstände, dass Gesetze sprachliche Medien sind, dass ihre Wörter und Sätze etwas bedeuten und dass eine Rechtsgemeinschaft (und eben nicht nur die Richter) sich über diese Medien auch verständigen können: Wer bei der Auslegung des Gesetzes dessen Wortlaut verlässt, verfehlt schon das Medium, welches den Sinn enthält, nach dem jegliche Auslegung sucht. Die (systematische) Anweisung, bei der Suche nach der Botschaft des Gesetzes auf den Kontext zu achten, in dem das Gesetz steht, realisiert die Erfahrung jeglichen Sagens und Verstehens, dass Sprache nicht nur mithilfe von Wörtern und Sätzen, sondern auch mithilfe des Systems informiert, in dem diese Wörter und Sätze stehen – und gar noch eine professionell gestaltete Sprache wie die der Gesetze, für die der Zusammenhang ihrer Informationen ein Konstruktionsprinzip ist (oder doch sein sollte): Wer den systematischen Zusammenhang von Gesetzesnormen nicht sieht, verschenkt eine Chance des Verstehens. Die (historische) Anweisung, den Willen des Gesetzgebers aufzufinden und umzusetzen, ist genauso zwingend und vernünftig. Sie folgt aus der fundamentalen Einsicht, wonach Gesetzgebung Gesetzesbindung generiert.11 Die Rege-[133]lungsziele des Gesetzgebers sind Anlass und zumeist – wenn nämlich die Fassung des Gesetzes geglückt ist – auch Maß des Gesetzes, um dessen Sinn es geht, und der historische Gesetzgeber hat das Gebot der Richterbindung auf seiner Seite, denn »sein« Gesetz ist es ja, dem der Richter unterworfen ist:

8 Was jetzt folgt, ist umfänglich dargestellt und belegt in: Hassemer, Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 15ff. (Juristische Hermeneutik); Hassemer/Kargl, in: NK-StGB, 2. Aufl. (2005), § 1 Rn. 102ff. 9 Ausführliche Zusammenstellung bei Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1995), S. 141ff. 10 Knapper Überblick bei Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Theorie der Norm und des Gesetzes, 3. Aufl. (1999), Rn. 359ff. 11 Oben unter II 1 [im Original].

Methodologie und Anwendungspraxis

333

Wer die Regelungsziele des Gesetzgebers missachtet, missachtet seine Bindung an das Gesetz. Die (teleologische) Anweisung endlich, die den Richter auf den objektiven Sinn des Gesetzesbefehls verpflichtet, scheint die Krone aller Regeln der Gesetzesauslegung zu sein. Worauf sollte er denn sonst verpflichtet sein?, fragt man sich unwillkürlich. Kann das Gesetz den Richter zu einer Auslegung verpflichten, die objektiv keinen Sinn macht? Und muss man nicht folgern, dass ein Richter, der zu einem unvernünftigen Ergebnis gelangt, schon aus Gründen professionellen Handelns verpflichtet ist, dieses Ergebnis sofort einzupacken und es erneut zu versuchen?: Wer dem Gesetz nur ein sinnloses Ergebnis entnehmen kann, hat irgendwo einen dummen Fehler gemacht. Das kommt alles kreuzvernünftig daher, und man kann verstehen, dass diese Regeln der Auslegung Jahrhunderte überdauert haben. Haben wir in ihnen also endlich das gefunden, wonach wir suchen: die juristische Methodenlehre, die uns instand setzt, die Bindung des Richters an das Gesetz verlässlich zu garantieren, parlamentarische Demokratie und rechtsstaatliche Gewaltenteilung zu sichern?12

II.

Grenzen

Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man unter »verlässlich« und »sichern« versteht; aber eines ist sicher : Einen schlichten Automatismus darf man nicht erwarten.13 Niemals wird man ganz auf der sicheren Seite sein; es reicht, wie auch sonst in der Jurisprudenz, immer nur zu werbenden Argumenten, niemals zu eindeutigen Ergebnissen.14 Der Traum von Regelstrenge und Ableitung ist endgültig ausgeträumt. Denn die Vernünftigkeit der Auslegungsregeln hat drei schmerzliche Grenzen, an denen die Hoffnung auf vollständig kontrollierbare und streng regelgerechte richterliche Auslegung zerschellt: Die Schar der Regeln ist nicht vollständig beschrieben, und die Kriterien der Zugehörigkeit zu dieser Schar sind nicht eindeutig a); sie sind untereinander heterogen b), und sie verfügen nicht über ein eindeutiges [134] Regelwerk ihrer Anwendung c). Die juristische Methode ist und bleibt ein aporetisches Instrument.

12 Oben unter I [im Original]. 13 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1995), S. 67ff. 14 Ich habe das in Tatbestand und Typus, 1968, S. 160ff., am Beispiel des strafrechtlichen Analogieverbots im einzelnen entwickelt.

334 1.

Winfried Hassemer

Zugehörigkeit

Der Kreis der Auslegungslehren ist nicht rund, und es ist nicht eindeutig bestimmbar, welche weiteren Regeln noch dazugehören und welche nicht. Drei Regeln sind es, die derzeit den Anspruch erheben dürfen, zum Kreis der Auslegungslehren hinzuzutreten. Die verfassungskonforme Auslegung weist den Richter an, bei seiner Gesetzesanwendung niemals die Grenzen der Verfassung zu überschreiten. Sie beruft sich auf den Vorrang des Grundgesetzes, also auf einen wohl gegründeten Pfeiler. Eine europarechtskonforme Auslegungsregel gibt dem Richter den spiegelbildlichen Befehl und hat natürlich ebenfalls gute Gründe für sich, die sich in Zukunft noch verstärken dürften. Und endlich schreibt ihm eine folgenorientierte Regel vor, die Entscheidungsfolgen für die unmittelbar und mittelbar Betroffenen ins Auge zu fassen und die Entscheidung notfalls zu korrigieren, wenn sie unerträgliche Folgen mit sich führt; auch diese Regel ist in einem modernen, eben folgenorientierten,15 Rechtssystem nahe liegend. Bei allen drei Auslegungslehren kann man mit guten Gründen darüber streiten, ob sie die zwingende Vernünftigkeit der Savignyschen Regeln (schon) in sich tragen oder nicht.16 Wie der Streit zu entscheiden sei, kann hier dahinstehen. Denn schon die Tatsache, dass der Kreis der Auslegungsregeln offen ist und die Kriterien der Zugehörigkeit nicht eindeutig sind, bewirkt, dass der Regelkanon an Handhabbarkeit und Eindeutigkeit verliert und seine Kraft zur Ergebnissicherung einbüßt: Kann mit guten Gründen behauptet und auch bestritten werden, eine bestimmte Auslegungsregel, die dem Kanon nicht angehört, müsse ihm angehören und binde also den Richter, dann ist offen, welchen methodischen Regeln der Richter bei seiner Auslegung unterliegt. Er darf wählen, soweit er begründen kann; er entscheidet, ja er muss entscheiden, [135] statt zu gehorchen. Bloß gehorsam zu sein, ist in seiner Lage ein ganz und gar unsinniges Konzept. Denn wem sollte er warum gehorsam sein, und wem warum ungehorsam?

15 Hassemer, Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, in: Festschrift für Coing, Band I, 1982, S. 493ff. 16 Nicht nur im nordamerikanischen Verfassungsrecht diskutiert man – offenbar mit Folgen für die jeweiligen Auslegungsergebnisse – die mögliche Regel, ausländische Rechtsordnungen und deren Anweisungen rechtsfindend und rechtsbegründend heranzuziehen oder das zu unterlassen; vgl. etwa Bryde, The Constitutional Judge and the International Constitutionalist Dialogue, in: Tulane Law Review 80 (2005), 203ff., 213ff. Hintergründe, Anlässe und Namen lassen sich nachlesen bei Katja Gelinsky, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13. 03. 2006, S. 10 (Vom Rest der Welt verschieden. Der amerikanische Supreme Court und die Rechtsauffassungen anderer Länder). – Auch das ist ein Streit um den Kreis von Auslegungsregeln.

Methodologie und Anwendungspraxis

2.

335

Unterschiedlichkeit

Die zweite Grenze der Vernünftigkeit: Die Auslegungsregeln sind untereinander heterogen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einige fordern zu einem bestimmten Handeln auf, andere verbieten ein bestimmtes Handeln, wiederum andere bleiben unentschieden a). Und wichtiger noch: Einige setzen ihre Ergebnisse einem Test aus, der sie widerlegen könnte, andere schirmen sie vor ihm ab b). a) Die Auslegungslehren, die im Topf Savignys auf uns gekommen sind, fordern den Richter sämtlich zum Handeln auf, und dabei sind sie regelmäßig recht anspruchsvoll. Sie verlangen beispielsweise, den Wortlaut des Gesetzes aufzuklären (und sich an ihn zu halten) oder die Motive des Gesetzgebers erforschen (und sie umzusetzen). Das ist als Programm schon schwer, obwohl es schlicht daherkommt. Man suche doch einmal eine Methode, um innerhalb angemessener Zeit herauszufinden, was ein Wort »wirklich« bedeutet – und zwar nur unter professionellen Juristen oder auch im Alltag, und dann: in wessen Alltag? Oder man denke an die lückenhaften Begründungen des frühen Gesetzgebers, dessen Regelungsvorstellungen vom sozialen Wandel längst überholt worden sind. Man sieht schon: Nicht selten führen selbst diese grundvernünftigen und sachnahen Regeln den Richter in Entscheidungsnöte, die er mit dem Grundsatz der Gesetzesbindung nun wirklich nicht bewältigen kann; auch hier muss er entscheiden. Fasst man das Gesamt der möglichen Auslegungsregeln ins Auge, so verschärft sich die Komplexität der Unterschiedlichkeit. Anders als Savignys Anweisungen fordert beispielsweise die verfassungskonforme Auslegung den Richter nicht zum Handeln, sondern zum Unterlassen auf: Überschreite niemals die Grenzen der Verfassung, sagt sie ihm ja; was er innerhalb dieser Grenzen tun soll, sagt sie ihm nicht. Dasselbe wird man mit einer gewissen Plausibilität von der folgenorientierten Auslegung sagen dürfen, während die europarechtskonforme Variante – denkt man etwa an den »effet utile«17 – sich als Mehrzweckinstrument präsentieren könnte, dem es durchaus auch darauf ankommt, die inhaltlichen Botschaften des europäischen Rechts in der Auslegung des nationalen Richters stark zu machen, und nicht nur, ihm Grenzen der Auslegung zu setzen. Wie es sich nun »wirklich« verhält, weiß niemand so genau. Selbst die einfacheren methodischen Anweisungen schei-[136]nen den Richter, je präziser man sie ins Auge fasst, eher vor neue Fragen als in neue Antworten zu führen. b) Der zweite Aspekt der strukturellen Unterschiedlichkeit von Auslegungslehren führt nicht nur vor neue Fragen, sondern zuerst einmal in ein handfestes Ärgernis. Dieses Ärgernis hat Rüthers dazu hingerissen, die »objektive Metho-

17 Lecheler, Einführung in das Europarecht, 2. Aufl. (2003), S. 142f. m.Nachw.

336

Winfried Hassemer

de« für verfassungswidrig zu halten.18 Im Ansatz kann man das nachfühlen, denn diese Auslegungslehre backt sich ihre eigenen Brötchen: Sie entzieht ihre Ergebnisse jeglicher Möglichkeit der Falsifizierung. Während die anderen drei klassischen Lehren auf Maßstäbe setzen, die einer Beobachtung grundsätzlich zugänglich sind, versteckt die objektiv-teleologische Methode ihren Maßstab im Kopf der jeweils auslegenden Person; damit macht sie eine Ergebniskontrolle unmöglich. Dass – ein Auslegungsergebnis sich mit dem Sprachgebrauch nun wirklich nicht mehr deckt, – der auslegende Richter eine Gesetzesnorm nicht einbezogen hat, die mit der fraglichen Norm in einem aussagekräftigen Zusammenhang steht, oder – ihm eine wichtige Quelle in den Motiven des Gesetzgebers entgangen ist: all das kann das Ergebnis der richterlichen Auslegung jeweils falsifizieren: Er hat etwas falsch verstanden, etwas nicht gefunden oder etwas übersehen. Darauf kann man mit dem Finger zeigen, das kann man ihm vorhalten. Mit der objektiv-teleologischen Methode läuft der Richter dieses Risiko nicht. Denn wer will ihm wie nachweisen, er habe den objektiven Sinn der Norm falsch bestimmt? Über Ergebnisse dieser Methode kann man nur anderer Meinung sein, falsifizieren kann man sie nicht. Dass diese Methode keinen Biss hat, liegt daran, dass das Kriterium ihrer Anwendung der Beobachtung nicht zugänglich ist wie sonst der Sprachgebrauch, der Kontext der Normen oder die Quellenlage. Das teleologische Kriterium verbirgt sich hinter der Stirn des Richters, und deshalb kann man an ihm nichts messen und nichts widerlegen. Man kann ihm nur die eigene Stirn bieten. Dass diese Auslegungsregel wolkig ist, mag ihre Beliebtheit unter Juristen erklären, die sich unter keinen Umständen in die Suppe spucken lassen wollen.19 Es rechtfertigt die pragmatische Empfehlung, diese Methode zurück-[137]haltend einzusetzen.20 Es rechtfertigt auch eine professionelle Haltung, bei der Anwendung dieser Methode besonders akribisch nachzufassen. Es rechtfertigt aber beileibe nicht, diese Methode aus dem Kanon zu entfernen oder sie gar für verfassungswidrig zu halten.21 Das wird nur dem unterlaufen, der seine me-

18 JZ 2006, 60. Siehe schon oben unter I [im Original]. 19 Es verwundert freilich schon, dass diese Methode sogar in den Literaturen des Strafrechts, das wegen des Gesetzlichkeitsprinzips und des Bestimmtheitsgebots (§ 1 StGB, Art. 103 II GG) besonders strenge Kontrollinteressen gegenüber richterlicher Gesetzesauslegung hat, besonders geschätzt wird: Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl. (1996), § 17 IV 1 b; auch Maurach/ Zipf, AT 1, 7. Aufl. (1987), § 9 Rn 15, 22; SK-Rudolphi, § 1 Rn 32; LK-Tröndle, § 1 Rn 46. 20 Unten III 3 b cc [im Original]. 21 Dazu auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. (1995), S. 137ff.

Methodologie und Anwendungspraxis

337

thodentheoretische Unschuld noch nicht verloren und sich seinen Glauben an die Regelstrenge der juristischen Methodenlehre bewahrt hat.22 Tatsächlich ist die objektiv-teleologische Methode nicht der Gottseibeiuns, der solch panische Reaktionen verständlich machen könnte. Sie teilt die Strategie, ihre Ergebnisse einer Falsifizierung zu entziehen, beispielsweise mit der verfassungskonformen Auslegung, deren Grenze selber eine Auslegung ist – nämlich die der Verfassung. Sie wirkt, zurückhaltend verwendet, in vielen Konstellationen nicht so fehlsam wie die markige, aber nicht belegte, richterliche Behauptung, so seien nun mal der Sprachgebrauch oder der gesetzgeberische Wille. Und sie führt, mit dem objektiven Zweck einer Gesetzesnorm, ein Kriterium in den Auslegungsvorgang ein, das in einer auf irdische Zwecke ausgerichteten Rechtsordnung unverzichtbar ist.23 Das Heil liegt nicht in ihrer Beseitigung, sondern in einem vorsichtigen und kritischen Umgang mit ihr.

3.

Anwendungsregeln

Die schmerzlichste der Grenzen aber ist die dritte: Die Auslegungslehren verfügen nicht über ein klares Regelwerk ihrer Anwendung. Das führt, zusammen mit den anderen Einschränkungen ihrer Vernünftigkeit, am Ende zu einer Freiheit der Methodenwahl.24 Ein Proprium aller Auslegungsregeln ist ihre Ergebnisdifferenz; nur dies erklärt ihre Zahl. Kämen sie alle zu denselben Ergebnissen der Auslegung, so wäre es mit dieser Vielfalt sofort aus: eine einzige Regel würde ausreichen. So hatten wir es ja auch bei der Methode der logischen Ableitung der »Entscheidung« aus dem eindeutigen und vollständigen Gesetz beobachtet;25 sie hat, in ihrem Waffenkleid von Unwandelbarkeit und Totalität, die Frage nach anderen Methoden überflüssig gemacht. In Wirklichkeit aber generieren unterschiedliche Methoden unterschiedliche Ergebnisse – zwar nicht immer, aber regelmäßig. Der Wille des Gesetzgebers lässt sich mit dem Wortlaut der Norm oft nicht vereinbaren, und bei-[138]dem widerspricht der heutige Zweck der Norm, das ist juristischer Alltag. Mit der Wahl einer bestimmten Auslegungsmethode ist deshalb typischerweise auch ein bestimmtes Ergebnis gewählt, ein anderes ist abgewiesen; und wer sein Fach beherrscht, kann dies voraussehen und strategisch einsetzen.26 Aus der Ergeb22 Oben unter I und II [im Original]. 23 Zu den Varianten dieses Kriteriums und deren Hintergründen Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 10. Aufl. (2008), S. 26ff. 24 Siehe dazu schon oben unter II 1 [im Original]. 25 Oben unter II, III 2 [im Original]. 26 Eingängig hierzu auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1997), S. 179f.

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Winfried Hassemer

nisdifferenz der Auslegungsregeln folgt übrigens eine beliebte argumentative Strategie der Juristen, die aus einer schlichten Reihung von Auslegungsmethoden Gewinner- und Verliererposten bauen: »Zwar ist der Wille des Gesetzgebers eindeutig; er hat sich im Wortlaut der Norm aber nicht hinreichend manifestiert« – das kann man leicht umdrehen, jeweils mit klaren Folgen für das Ergebnis und ohne dass zur Sache ein stützendes Argument eingeführt werden müsste.27 Dass Methoden ergebnisdifferent sind, ist keine Schande, sondern, wie gesagt, ein Grund ihrer Existenz und Fruchtbarkeit. Das Problem, das sich bei unserer Frage nach dem Beitrag einer juristischen Methodenlehre für die Gesetzesbindung des Richters stellt, liegt woanders:28 Gesetzesbindung wird in einem strengen Sinne nur gelingen, wenn Methodenbindung gelingt. Ist es hingegen so, dass der Richter in der Wahl der jeweiligen Auslegungsregel frei ist, so ist er im Maße dieser Freiheit auch in der Generierung von Auslegungsergebnissen frei. Solange und soweit wir nicht über eine Meta-Regel der Auslegungsregeln verfügen, die nicht nur Inhalt und Struktur dieser Regeln festlegt, sondern auch verbindlich anordnet, in welcher Entscheidungssituation welche Auslegungsregel verwendet werden muss, lassen sich Auslegungsergebnisse nicht sichern. Ohne eine solche Anwendungsregel wählt der Richter mit der Methode zugleich das Ergebnis seiner Auslegung. Über eine solche Anwendungsregel verfügen wir nicht. Versuche, etwa eine Hierarchie der Auslegungsmethoden verbindlich zu machen, sind aus einsichtigen Gründen gescheitert.29 Es gibt gewiss Empfehlungen pragmatischer Vernünftigkeit wie die, – mit der objektiv-teleologischen Methode sorgsam und zurückhaltend zu verfahren,30 – die grammatikalische Regel nicht zu verwenden, wenn der semantische Spielraum eines gesetzlichen Begriffs sehr weit ist, oder [139] – bei der historischen Methode auf das Alter des jeweiligen Gesetzes zu achten: jüngere Gesetze könnten uns näher und aussagekräftiger sein. Diese Empfehlungen verschaffen uns aber nicht das, was wir hier suchen: eine juristische Methode, die das Verfassungsgebot der Bindung des Richters an das Gesetz verlässlich sichert. Dem Richter bleibt es nämlich unbenommen, solche Empfehlungen in den Wind zu schlagen, wenn er dafür jeweils Gründe anführen 27 Beispiele etwa in BGHSt 16, 210 (213f.); 42, 230 (234). 28 Meisterhaft und lehrreich ausgeführt bei Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. (1972), S. 124ff. 29 Aufschlussreich Larenz/Methodenlehre d. Rechtswissenschaft, 5. Aufl. (1983), S. 328ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 176ff., 181ff. 30 Siehe schon oben unter III, 3 b bb [im Original].

Methodologie und Anwendungspraxis

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kann.31 Dabei wird er freilich nicht blind als Zufallsgenerator wirken, sondern sich von Sinnerwartungen und Vorverständnissen leiten lassen;32 er wird seine Ergebnisse begründen, er wird sich der Kontrolle, der Kritik und der Kassation stellen, wie sich das gehört.33

31 Nachweise bei Eric Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht. Eine Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 2005, S. 24ff., 583ff. 32 Diesen Kontext zuspitzend Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. (1998), S. 90ff. 33 Ausführlich dazu mein Aufsatz über die juristische Hermeneutik, in: Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 15ff., ähnlich Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 10. Aufl. (2008), S. 99ff.