Das Jahrhundert der Politik. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Licht ihrer Politikbegriffe 9783848766130, 9783748907480

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Das Jahrhundert der Politik. Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Licht ihrer Politikbegriffe
 9783848766130, 9783748907480

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Friedbert W. Rüb

Das Jahrhundert der Politik Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Licht ihrer Politikbegriffe

Friedbert W. Rüb

Das Jahrhundert der Politik Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts im Licht ihrer Politikbegriffe

Nomos

© Titelbild (von links nach rechts): bpk / Boris Spahn bpk / Hanns Hubmann picture alliance / AP / Nick Ut bpk / Klaus Lehnartz commons.wikimedia.org/wiki/File:UA_Flight_175_hits_WTC_south_tower_9-11.jpeg

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6613-0 (Print) ISBN 978-3-7489-0748-0 (ePDF)

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1. Auflage 2020 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

5

Danksagung Jedes Buch hat seine eigene Geschichte wie auch Vorgeschichte. Die ersten Ideen sind in meinem Kolloquium am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin entstanden. Den Studierenden, meinen MitarbeiternInnen und mir war immer wieder aufgefallen, wie wenig Systematisches über den Politikbegriff geschrieben wurde und stattdessen der Begriff des Politischen die Neugier der Disziplin weit mehr angeregt hat. Auch fehlt eine systematische und ausführliche Arbeit, die nicht allein den Politikbegriff in allen seinen Schattierungen ins Zentrum rückt, sondern auch seine historisch bedingten Variationen in den Blick nimmt. Insofern ist bei mir der Entschluss gereift, sich gründlicher mit dem Politikbegriff und seinen Wandlungen im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. In vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen habe ich für ein solches Unterfangen viel Unterstützung erfahren, insbesondere Claus Offe hat mich in einem Gespräch stark ermutigt, dieses Unterfangen zu riskieren. Da sich mein akademisches Leben aus Altersgründen dem Ende zuneigte, ich aber das Buch noch in der Auseinandersetzung mit den Studierenden, meinen Mitarbeitern und KollegInnen schreiben wollte, habe ich für den Einstieg in die Thematik bei meiner Universität, der Humboldt-Universität zu Berlin, eine einsemestrige Freistellung von der Lehre im Rahmen der Förderlinie „Freiräume“ zur Durchführung meines Forschungsvorhabens beantragt und vom 01.04.2017 bis zum 30.09.2017 bewilligt bekommen. Ohne diese Auszeit hätte ich ein solches Unterfangen nicht erfolgreich bewältigen können. Damit begann die Geschichte des Buches und ich konnte mich zunächst ohne Lehrverpflichtungen auf das Konzept und erste Vorarbeiten für die einzelnen Kapitel konzentrieren. Die Diskussionen verschiedener Kapitel mit meinen damaligen Mitarbeitern, insbesondere aber die Diskussionen über die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen und den Politikbegriffen von A.E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber, waren für mich sehr wichtig. Danken möchte ich hier insbesondere Mira Christiansen, Jonas Fischer, David Meiering, Andreas Schäfer, Holger Strassheim und Tom Ulbricht. Mira Christiansen, Jonas Fischer und Dominik Flügel waren nicht nur bei der Recherche und der Literaturbeschaffung für die jeweiligen Teile des Buches enorm wichtig, sondern auch als aufmerksame und unerbittliche Korrekturleser. Die Sekretärin des Lehrbereichs Sozialpolitik und Politische Soziologie, Astrid Schaal, war vor allem während meiner Freistellung, aber auch sonst für die Organisation des gesamten Lehrbereichs zuständig und hat dies mit Bravour erledigt. Für dies und so manches andere sei ihr ganz herzlich gedankt. Einen ersten zusammenfassenden Überblick über die Thematik des geplanten Buches habe ich auf der Tagung zu „Staatserzählungen“ gegeben. Grit Straßen-

6

Danksagung

berger und Felix Wassermann hatten sie Ende 2016 in Berlin anlässlich des 65. Geburtstages von Herfried Münkler organisiert. Ihnen und den Teilnehmern dieser Tagung danke ich für hilfreiche Hinweise. Auch die abendlichen Gespräche bei den jährlichen Herausgebertreffen des „Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften“, die in Berlin stattfanden, waren für mich wichtig, bei denen es oft auch um Themenfelder und bestimmte Aspekte meines Buches ging. Erwähnen möchte ich hier insbesondere Hubertus Buchstein, Roland Czada, Anna Geis, Bernd Ladwig, Philip Manow und Frank Nullmeier ebenso wie Reinhard Blomert als verantwortlichen Redakteur. Wolfgang Merkel und Wolfgang Schröder vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) möchte ich ebenfalls für ausgreifende Gespräche an so manchen Abenden danken. Meine Frau Ildikó Krén hat auf die vielfältigsten Weisen zum Gelingen des Buches beigetragen. Sie hat mich in manchen schwierigen Phasen nicht nur ermutigt, unverdrossen an den entsprechenden Passagen weiter zu arbeiten. Weit wichtiger: Sie hat viele Passagen des Buches gelesen und ihre Kommentare waren für mich immer bedeutsam. Ihr ist das Buch gewidmet. Es versteht sich von selbst, dass ich für das Geschriebene allein verantwortlich bin. Berlin im Juli 2020

Friedbert W. Rüb

7

Inhalt

Abbildungsverzeichnis ...................................................................

19

Einleitung ...................................................................................

23

1.

Das Jahrhundert der Politik? Einführung in die Thematik ...... 1.1. 1.2.

2.

1.

Politische Semantiken als ‚Brille‘ – Was man durch sie sieht und was nicht .............................................. Mögliche Handlungsbereiche und Handlungsformen der Politik ..........................................................

25 26 30

Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch ...............................................................

32

Die Politik und das Politische. Zur Notwendigkeit der begrifflichen Abklärung des Primats der Politik .......................

40

1.1.

1.2.

1.3.

1.4.

Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz. Das Politische als Politik ........................................................

41

Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen ....................................................................

45

Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff: Über Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren ...........

52

Zusammenfassung: Die Spannbreite des Politikbegriffs und die Unspezifität ‚Des Politischen‘ ...........................................

59

8

2.

Inhalt

Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung: Das Schäfflesche Moment ...................................................... 2.1.

Politisches Handeln bei Albert E. F. Schäffle: Politik als Verflüssigung und des Zu-Ende-Schaffens ...........................

64

Karl Mannheims Verschärfung: Rationaler Staat und Politik als „irrationales Spiel“ ....................................................

67

Max Webers Frage: Politik in der Massengesellschaft und als Kampf um Möglichkeitshorizonte .....................................

70

Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung: Über Rationalität und Irrationalität der Politik ...........................

75

Die Politik der Verfassunggebung. Der lange Abschied von der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes: Von der Oktoberrevolution zu den Runden Tischen in den osteuropäischen Transformationen .........................................

79

2.2.

2.3.

2.4.

3.

62

3.1.

3.2.

3.3.

3.4.

Die Oktoberrevolution und ihre sozialistische Verfassung und der Kampf um die Weimarer Reichsverfassung 1918 .............

84

3.1.1. Die Politik der Verfassunggebung in Russland im Jahr 1918 ................................................................. 3.1.2. Die Politik der Verfassunggebung zu Beginn der Weimarer Republik von 1918 ................................

86

Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933: Der Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur ...............

96

Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland: Die ‚disziplinierte‘ Westdemokratie gegen die ‚undisziplinierte‘ Volksdemokratie? ...................................

102

84

3.3.1. Die Politik der Verfassunggebung in der SBZ: Der Kampf um die Souveränität des Volkes .................... 3.3.2. Die Politik der Verfassunggebung in den Westzonen bzw. der BRD .....................................................

110

Die Runden Tische und die Idee der verfassunggebenden Selbstbeschränkung in den osteuropäischen Demokratisierungsprozessen ............................................

118

103

9

Inhalt

3.4.1. „Koordinierte Transformation“? Konzeptionelle Annäherung und verfassungstheoretische Überlegungen ...................................................... 3.4.2. Revolution oder „koordinierte Transformation“? Zum Charakter des Systemwechsels in Mittel- und Osteuropa .......................................................... 3.4.2.1. Polen: Der Runde Tisch als Paradigma der Transformation .............................................. 3.4.2.2. Ungarn ......................................................... 3.4.2.3. Die Transformationen in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien .................................. 3.5.

122 124 126 129

Die Politik der Verfassunggebung in Deutschland nach dem Ende der DDR ...............................................................

132

„1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ oder der Wandel zum „post sovereign constitution-making“? .............

134

Die Politik der Massen: Über das Irrationale eines Kollektivsubjekts, seine politische Zähmung in der Massendemokratie und seine Auferstehung als ‚Multitude‘ .......

142

3.6.

4.

119

4.1.

Die Masse als politisches Kollektivsubjekt: Gustave Le Bon und die Psychologie der Massen ........................................

147

4.1.1. Die Eigenschaften der Masse und ihre politische Qualität ............................................................. 4.1.2. Die Massen und der Führer: Zum Amalgam von Herrschaft und Knechtschaft in der Massenpolitik ..... 4.1.3. Das „automatische Denken“ der Masse: Von der Idee zur Tat ..............................................................

152

Die Politik der organisierten Massen: Die politischen Parteien als Massenorganisationen ................................................

154

Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie bei Sigmund Freud: Masse und Libido ....................................

157

4.4.

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus ..............

164

4.5.

Massen und Revolution: Theodor Geigers Massen als destruktiv-revolutionäre Kraft ..........................................

170

4.2.

4.3.

148 150

10

Inhalt

4.6.

4.7.

4.8.

Vom Massesein zur Vermassung: Die Massen als „optische Täuschung“ (R. König) ...................................................

175

Die Wiederauferstehung der Massen in den mittel- und osteuropäischen Transformationen ....................................

177

Von der ‚Verachtung der Massen‘ zu ihrer Auferstehung als ‚Multitude‘. ..................................................................

181

4.8.1. Die Verachtung der Massen und die neue Massenkultur ...................................................... 4.8.2. Von der Masse zur ‚Multitude‘: Die Neubestimmung des aufständischen Subjekts durch M. Hardt und A.Negri ............................................................. 4.9.

5.

182

184

Das Ende der Politik der Massen und ihre Verabschiedung aus der Geschichte? .............................................................

187

Die Politik des Sozialen: Von der ‚sozialen Frage‘ über die Entstehung und den Wandel des modernen Wohlfahrtsstaates bis zur Sozialpolitik zweiter Ordnung .....................................

194

5.1.

5.2.

Die Kontingenz des Sozialen und die Idee des (sozialen) Risikos .........................................................................

199

5.1.1. Vom Risiko zum sozialen Risiko .............................

201

Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung: Die Sozialenzykliken der Katholischen Kirche und die sozialistische Revolution von 1917 ....................................

203

5.2.1. Die Katholische Sozialehre und Subsidiarität als „Baugesetz“ der Gesellschaft ................................. 5.2.2. Der Primat der sozialistischen Revolution: Die historische Notwendigkeit des Sozialismus und die Gesetzmäßigkeit der Geschichte ............................. 5.3.

5.4.

204

208

Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland und Englands Antwort: Bismarck versus Beveridge .....................

211

5.3.1. Identität und Struktur der Sozialversicherung ............ 5.3.2. Identität und Struktur des Staatsbürgerstatus ............

212 215

Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus ....

219

11

Inhalt

5.5.

5.4.1. Die Politik des Sozialen und der Sozialismus: Eduard Heimanns Theorie der Sozialpolitik ........................ 5.4.2. Die Politik des Sozialen jenseits der Politik: Hugo Sinzheimer und das moderne Arbeitsrecht ................

226

Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten .......

228

5.5.1. Die Politik des Sozialen in totalitären Staaten: Das Beispiel des Nationalsozialismus ............................. 5.5.2. Die Politik des Sozialen im autoritären Staatssozialismus der DDR .................................... 5.6.

5.7.

5.8.

5.9.

219

228 233

Sozialpolitik und „gleicher sozialer Wert“: Die Idee der sozialen Staatsbürgerschaft bei Thomas H. Marshall ............

238

Die Politik des Sozialen in modernen Wohlfahrtsgesellschaften: Sozialpolitik als aktive Gesellschaftspolitik und das Eigengewicht der Institutionen ..........................................

242

5.7.1. „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“: Hans Achingers Idee der sozialen Institute ........................ 5.7.2. Die Politik des Sozialen als aktive Gesellschaftssteuerung .......................................... 5.7.3. Die Entstehung und Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten ................................................

251

Von der Gestaltung des Sozialen zur (Selbst)Steuerung von Systemen: Die Sozialpolitik zweiter Ordnung, die Entstehung rekombinanter Wohlfahrtsstaaten und das Problem der Exklusion .....................................................................

255

243 247

5.8.1. Selbststeuerung in der Sozialpolitik: Das Beispiel der Rentenreform 1989 in der Bundesrepublik und andere Beispiele ............................................................ 5.8.2. Die Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten und die Entstehung rekombinanter oder hybrider Typen ... 5.8.3. Vom modernen Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat ................................................ 5.8.4. Exklusion: Die Umkehrung der wohlfahrtsstaatlichen Dynamik und die Überflüssigkeit von Menschen ........

263

Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft? .................................................................

269

256 260 261

12

6.

Inhalt

Die Politik der Paranoia: Zur Psychopathologie des (Selbstmord)Attentäters und des wahnhaften Machthabers ....... 6.1.

Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia? Der „Begriff des Politischen“ .................................................. 6.1.1. Die Anwesenheit der Politik durch ihre Abwesenheit: Was ist C. Schmitts Verständnis von Politik? ............. 6.1.2. Die Frage nach der Natur des Menschen: Gut oder Böse? ................................................................ 6.1.3. Der Dezisionismus C. Schmitts ............................... 6.1.4. Die Politik und „das Politische“: Zur Notwendigkeit und den Folgen einer Differenz ...............................

278 281 283 284 286

6.2.

Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat ...................

289

6.3.

Zur Psychodynamik der politischen Paranoia ......................

292

6.4.

Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ...................................................................

298

Vom Attentat zum Selbstmordattentat, oder: Das Lächeln der Attentäter .....................................................................

302

„Die Protokolle der Weisen von Zion“: Über die blutige Wirksamkeit einer paranoiden Fiktion ...............................

304

Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern und seine blutigen Folgen ................................................

311

Politische Paranoia und die Zukunft der Politik in (post)modernen Gesellschaften .........................................

314

Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft ...........................................................................

319

6.5.

6.6.

6.7.

6.8.

7.

275

7.1.

7.2.

Der Politikbegriff der Ideologen des Nationalsozialismus und die Politik des Tötens ......................................................

324

Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“ und die permanente Tötung als kommunistisches Ideal ................

333

13

Inhalt

7.3.

Die Konzentrations- und Vernichtungslager als spezifische Orte der Politik des Tötens .............................................. 7.3.1. 7.3.2. 7.3.3. 7.3.4.

Die Politik des Tötens und Typen von Lagern ............ Vernichtungslager als Orte des maschinellen Tötens ... Der Staat als Lager: Kambodscha unter Pol Pot ......... Die kommunistische Revolution in China: Die Politik der Tötung auf dem Höhepunkt ............................. 7.3.5. Der GULag in der Sowjetunion .............................. 7.3.6. Das System Guantánamo Bay: Die Einführung der Käfighaltung von Menschen im Lager ......................

7.4.

340 343 346 348 350 354

Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie und die Politik des Tötens .........................................................................

358

Das Jahrhundert der Politik des Tötens? .............................

361

Die Politik des Krieges: Von den totalen Kriegen über die ‚neuen‘ Kriege bis zu den Drohnenkriegen ...............................

366

7.5.

8.

338

8.1.

Die Politik zum Krieg und die Politik im Krieg: Der „Schlieffenplan“ und die „Torheit der Regierenden“ im Ersten Weltkrieg ...................................................................... 8.1.1. Der Schlieffenplan als Politik zum und als Politik im Krieg ................................................................. 8.1.2. Die Beendigung des Krieges: Die Rückeroberung des Primats der Politik gegenüber dem Militär ................

8.2.

Der Zweite Weltkrieg als „totaler Krieg“ und die Steigerung der Gewalt ins Unermessliche ........................................... 8.2.1. General Erich Ludendorff und das Konzept des totalen Krieges .............................................................. 8.2.2. Jenseits des Konzepts: Der totale Krieg in der Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges ......................

8.3.

369 371 377

382 382 389

Die Politik des Partisanenkrieges: Partisanen als ‚Kippfigur‘ ...

394

8.3.1. Partisanen, (Sozial)Rebellen, Terroristen und Guerillas – Versuch einer Differenzierung der nicht-staatlichen Kriegsgewalt ....................................................... 8.3.2. Mao Tse-tung als Theoretiker und Praktiker des Partisanenkrieges .................................................

396 398

14

Inhalt

8.3.3. Che Guevara und die lateinamerikanische Variante des Partisanenkrieges ................................................. 8.3.4. Der Partisan in der konservativ-kriegerischen Diskussion des 20. Jahrhunderts bei Rolf Schroers ..... 8.3.5. Zusammenfassung: Die zentralen Merkmale des Partisanenkrieges und seine Zukunft im 21. Jahrhundert ........................................................

409

Die Politik der Atombombe .............................................

412

8.4.1. Die Politik der Atombombe und die (Un)Schuld der Beteiligten .......................................................... 8.4.2. War der Abwurf der Atombomben ‚notwendig‘? ........

413 421

8.5.

Die Politik der „neuen“ Kriege .........................................

424

8.6.

Die Konturen des virtuellen Krieges: Die Politik der Drohne und der hybride Frieden bzw. der hybride Krieg ...................

430

Gestaltwandel des Krieges im 20. Jahrhundert? Versuch einer Bilanz ..........................................................................

436

Die Politik des Friedens: „Si vis pacem, para pacem“ ...............

447

8.4.

8.7.

9.

9.1.

9.2.

9.3.

9.4.

Die Politik zum Frieden: Waffenstillstandsabkommen, Friedensverträge und Friedensmissionen .............................

402 406

450

9.1.1. Die Politik der Friedensverträge: Der Versailler Vertrag am Ende des Ersten und das Potsdamer Abkommen am Ende des Zweiten Weltkrieges ........................... 9.1.2. Die Friedensmissionen der UN nach dem Zweiten Weltkrieg ...........................................................

451

Die Politik des Friedens: Dolf Sternbergers Politikbegriff .......

467

9.2.1. Dolf Sternbergers Begriff der Politik ........................ 9.2.2. Dolf Sternbergers Begriff des Friedens ...................... 9.2.3. Die „Drei Wurzeln der Politik“ ..............................

469 471 474

Die Politik des Friedenmachens: Das zivilisatorische Hexagon und die Probleme seiner Realisation ...................................

479

Der Friede als unvollendetes Projekt ..................................

482

464

15

Inhalt

10. Die Politik der Rationalität und ihr Scheitern: Von der politischen Steuerung über Governance bis zur ‚zeitorientierten Reaktivität‘ ..........................................................................

487

10.1. Politische Macht und politisches Lernen: Karl W. Deutschs „Nerves of Government“ ................................................

491

10.2. Vom „Sich-Durchwursteln“ zum nur noch „Wursteln“. Charles E. Lindbloms Konzept des „muddling through“ und seine Grenzen ................................................................

498

10.3. Warum man mit der Politik die Zukunft sehen kann und dennoch nicht zu Frauen kommt. Die Verabschiedung der Idee der politischen Steuerung durch die Systemtheorie ................

506

10.4. Die Idee der politischen Steuerung und ihr Scheitern .............

512

10.4.1. Politische Steuerung als politikwissenschaftliches Konzept ............................................................. 10.4.2. Der Instrumentenkasten der politischen Steuerung .....

513 515

10.5. Governance als Verlust des Zentrums und Ortes der Politik: Die Entpolitisierung der Politik und ihr Verschwinden im Ortlosen .......................................................................

518

10.5.1. Der Wandel des Staatsverständnisses in der Steuerungstheorie: Vom hoheitlichen zum kooperativen Staat ............................................... 10.5.2. Vom kooperativen Staat zur staatslosen Governance ..

519 521

10.6. Die Logik der verspäteten Politik und das Ausmaß des Zuspätkommens ............................................................

526

11. Die Politik der Parteien: Von den Massen- über die Volksparteien bis zu den Parteien der professionellen Berufspolitiker bzw. den autoritär-populistischen Staatsparteien ......................

535

11.1. R. Michels „ehernes Gesetz der Oligarchie“ und W. I. Lenins „Partei neuen Typs“ .......................................................

540

11.1.1. R. Michels Parteientheorie und sein „ehernes Gesetz der Oligarchie“ ................................................... 11.1.2. W. I. Lenins „Partei neuen Typus“ und die russische Revolution .........................................................

540 550

16

Inhalt

11.2. Die Volks- oder „Catch-all“-Partei ....................................

553

11.3. Die Kartellparteien oder die professionalisierten Medienkommunikationsparteien .......................................

558

11.4. Die Krise der repräsentativen Parteiendemokratie und das Problem der Delegation und der „Accountability“ ................

563

11.5. Von den Kartellparteien zu autoritär-populistischen (Staats)Parteien? ............................................................

567

11.6. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Parteitypen in den modernen Gesellschaften .................................................

571

12. Die Politik und ihre Variationen durch Politikertypen ..............

577

12.1. Politikertypen und deren Modi des Politiktreibens ................

579

12.1.1. Der Dämon als transmoralisches Wese. Zur Erinnerung an eine Denkfigur bei Dolf Sternberger .... 12.1.2. Der Demagoge: Von Webers Typus zu den heutigen Populisten: Das Spiel mit den Leidenschaften ............ 12.1.3. Die Staatsfrau und der ‚Held des Rückzugs‘ .............. 12.1.4. Der Amtsinhaber als Prototypus des Politikers in der ökonomischen Theorie der Politik ........................... 12.1.5. Der Hinterbänkler (in demokratischen und autokratischen Regimen) .......................................

580 584 585 587 589

12.2. Der Amtsinhaber als heute dominierender Politikertypus? ......

591

13. Die Politik mit dem Bild und die Politik des Bildes: Über die Medialisierung der Politik im 20. Jahrhundert .........................

595

13.1. Die Politik mit dem Bild ..................................................

599

Das (angebliche) Attentat von Sarajevo 1914 ................... Der Nürnberger Reichsparteitag von 1935 ...................... Die Toten des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust ...... Der Kniefall des Deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt ... Der Handschlag zwischen François Mitterand und Helmut Kohl ........................................................................ 9/11 und der Anschlag auf das World Trade Center ..........

600 601 603 605 608 609

17

Inhalt

13.2. Die Politik des Bildes ......................................................

611

Die Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals auf dem Lubjanka-Platz .......................................................... Das Napalm-Mädchen von Vietnam .............................. Der Fall der Mauer im November 1989 .......................... Der Kapuzenmann von Abu Ghraib ............................... Die Mohammed-Karikaturen von 2005 ..........................

611 613 616 618 621

14. Das ‚Verschwinden‘ der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts? Versuch einer Bilanz ..............................................................

626

Literatur .....................................................................................

637

19

Abbildungsverzeichnis Schaubild 1:

Der politische Text im Kon-Text und gesellschaftlichen Kontext

29

Schaubild 2:

Typen von systemischem Wandel

121

Schaubild 3:

Das zivilisatorische Hexagon

480

Schaubild 4:

Die Massenpartei bzw. Partei der sozialen Integration im Spannungsfeld von Zivilgesellschaft und Staat

548

Schaubild 5:

Die Volkspartei zwischen Staat und Gesellschaft

555

Schaubild 6:

Die Kartell- bzw. professionalisierte Wählerpartei als „Staatspartei“

563

Kette der Delegationen in der repräsentativen Parteiendemokratie

564

Abbildung 1:

Das (angebliche) Attentat von Sarajevo 1914

600

Abbildung 2:

Standbild aus L. Riefenstahls Film „Triumph des Willens“ von 1935

602

Tote im KZ Bergen-Belsen nach der Befreiung durch britische Truppen

604

Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrendenkmal der Helden des Ghettos

607

Abbildung 5:

F. Mitterand und H. Kohl in Verdun

608

Abbildung 6:

Anschlag auf die Türme des World Trade Centers in New York

610

Abbildung 7:

Zerstörung des Feliks-Dzierżyński-Denkmals in Moskau

612

Abbildung 8:

Das ‚Napalm-Mädchen‘ aus dem Vietnamkrieg

614

Abbildung 9:

Bild des Massakers von Mỹ Lai

615

Schaubild 7:

Abbildung 3: Abbildung 4:

Abbildung 10: Mauerfall am Brandenburger Tor am 9. November 1989

617

Abbildung 11: Der Kapuzenmann von Abu Ghraib

619

Abbildung 12: Mohammed-Karikatur der dänischen Zeitung JyllandsPosten

622

„Politisches Handeln gleicht somit einer Fahrt auf einem endlosen und abgrundtiefen Meer ohne schützende Zuflucht und sicheren Ankergrund, ohne Ausgangs- und festen Bestimmungshafen. Aufgabe ist es, gleichmäßig Fahrt beizuhalten – Freund und Feind zugleich. Die Seemannskunst liegt im Gebrauch der Kräfte einer Tradition des Handelns, um jede gefährliche Situation in eine freundliche zu verwanden. Und (…) dass Politik nur für Schwindelfreie ist, dürfte (…) nur die Kopflosen bedrücken.“ (Oakeshott 1966:138; Herv. im Org.)

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Einleitung Wie kein anderes Jahrhundert zuvor war das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Politik. Es hat eine extreme Spannbreite dessen realisiert, was Politik realisieren kann. Es beginnt mit der Ausbildung eines neuen, historisch bisher einmaligen Gesellschaftstypus, dem realen Sozialismus, der nun auf die politische Weltkarte gesetzt wurde. Beginnend in Russland bzw. der Sowjetunion durch die Oktoberrevolution 1917, dann nach dem Zweiten Weltkrieg in den mittel- und osteuropäischen Staaten, hat er diese Gesellschafts- und Politikform gewaltsam eingeführt, wobei die chinesische und andere sozialistische Revolution ohne die russische nicht denkbar sind. Etwas Weiteres tritt hinzu: Die Kriege dieses Jahrhunderts sind mit einer bisher nicht gekannten Brutalität geführt worden und in ihnen wurden so viele Menschen getötet wie in keinen anderen zuvor. Nicht nur die beiden Weltkriege haben hierbei eine große Rolle gespielt. In den beiden Totalitarismen kam die politisch gewollte und massenhafte Vernichtung von bestimmten sozialen Gruppen hinzu. Die der Juden durch die nationalsozialistische Politik und der Kulaken und anderer sozialer Gruppen im Gefolge der russischen Revolution bzw. der stalinistischen Diktatur. Das politische Morden hat ein unvorstellbar grausames Ausmaß angenommen und eine tiefe Spur des Terrors und des Tötens in das Jahrhundert eingegraben. Zugleich hat sich im 20. Jahrhundert die Demokratie weltweit weiter durchgesetzt, was nicht zuletzt durch die Demokratisierungswellen in den mittel- und osteuropäischen Staaten, aber auch in anderen Regionen der Welt, am Ende des Jahrhunderts deutlich wurde. Es hat in vielen entwickelten Staaten den modernen Wohlfahrtsstaat realisiert und zugleich in vielen anderen, vor allem in der Dritten Welt, eine unvorstellbare Armut hervorgebracht. Es hat zudem neue Akteure in die Arenen der Politik geschleudert, wie die Massen und die Arbeiterklasse, dann politische Parteien, insbesondere die Massen- und später die Volksparteien, aber auch die Neuen Sozialen Bewegungen, die am Ende des Jahrhunderts vor allem in den modernen Wohlfahrtsstaaten an Bedeutung gewannen. Ebenso bedeutsam waren aber auch Diktatoren, die sich an die Macht geputscht und sie mit massiver Gewalt stabilisiert haben. Diese Entwicklungen verdeutlichen die Entstehung der „politischen Gesellschaft“1 als eines neuen Gesellschaftstypus, der gleichwohl verschiedene Ausprägungen annehmen kann: Von den sozialistischen Gesellschaften über die Entwicklungsdiktaturen in der Dritten Welt bis zu den modernen und demokratischen Wohlfahrtsstaaten der Ersten Welt, die bisher nicht gekannte Barrieren an sozialer Absicherung gegen fundamentale soziale Risiken auftürmen. Zugleich entwickelt sich die Idee der zielgerichteten politischen Steuerung der modernen Gesellschaften, die der zugespitzte Ausdruck einer neuen Machbarkeitsphantasie

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Einleitung

ist, die auch in der Wirtschaft und in anderen gesellschaftlichen Bereichen ihren Niederschlag fand. Die Entwicklung und der Einsatz der Atombombe sind Ausdruck der ungeheuren technologischen Dynamik, die durch die Politik und die von ihr entschiedenen staatlichen Subventionierungen angetrieben wurde. Durch Politik schien nun alles möglich zu werden, die Menschheit stand und steht vor keinen unüberwindbaren Hindernissen mehr. Selbst die Bildung eines neuen Menschentypus wurde in Angriff genommen, die vor allem, aber nicht nur, in den totalitären Staaten, gewaltsam angestrebt wurde. In den Sozialwissenschaften gab und gibt es verschiedene Versuche, die Entwicklung des 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen. Von einigen Historikern wurde es die „Zeit der Extreme“2 genannt, andere sprachen von der „Zeit der Ideologien“3 oder – eher das Gegenteil betonend – vom „demokratische(n) Zeitalter“4. Wieder andere stellten die Gewaltsamkeit in den Mittelpunkt5 und manche nannten das Europa des 20. Jahrhunderts wegen seiner durchgängigen Gewaltsamkeit den „dunklen Kontinent“6. Das alles war das Jahrhundert sicherlich auch, aber es war vor allem und besonders das Jahrhundert der Politik. Alle seine zentralen Ideologien, Ideen oder Programme wurden von politischen Akteuren bzw. der Politik erdacht und handlungswirksam ausformuliert. Zudem wären sie wirkungslos geblieben, wenn sie nicht mit der Vorstellung verbunden gewesen wären, sie mittels der Politik Wirklichkeit werden zu lassen. Dies erfolgte durch verbindliche und im Zweifelsfall mit Gewalt durchgesetzte Entscheidungen. Alle großen und kleinen Ideologien des 20. Jahrhunderts beruhten auf einer gemeinsamen Grundvorstellung, die sie trotz aller fundamentaler Differenzen teilten: Die Welt, so wie sie ist, kann und soll so nicht bleiben, sie muss eine andere werden und die in ihr lebenden Menschen ebenfalls. Die Ideologien vertretenden politischen Kräfte waren in den Worten Karl Mannheims „Wollungen“7, die als politische Parteien, politische Führer, Diktatoren, totalitäre Machthaber, (neue) soziale Bewegungen oder andere Kräfte auf der Bühne der Politik auftraten und umfassende Gesellschaftsentwürfe bereit hielten. Diese sollten, ja mussten zur Realität werden, um die Welt vor ihrem Untergang zu bewahren oder aus ihr einen Himmel zu machen. Die Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft durch politische Entscheidungen und die prinzipielle Möglichkeit, diese Entscheidungen mittels Gewalt in gesellschaftliche Wirklichkeit zu übersetzen, war hierfür zentral. Nach dem Zusammenbruch der religiös und naturrechtlich begründeten, also fast ‚heiligen‘ Ordnungen der Gesellschaft, mussten nun immer wieder neue Gründe gefunden werden, warum die Welt so und nicht anders aussehen soll. Die Abwesenheit letzter Gründe, wie Gott, Geschichte oder Natur, verweist heute auf die Verschiedenheit von Gründen, aber nicht auf die Verabschiedung von Gründen. Die großen politischen Ideologien, Ideen und politischen Semantiken, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts heftig um Anerkennung kämpften, verdeutlichen unhintergehbar

1. Das Jahrhundert der Politik? Einführung in die Thematik

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die Pluralität von Gründen, warum eine Gesellschaft so und nicht anders gestaltet werden soll. Gesellschaft wird nun zum explizit politischen Begriff. Sie ist ein politisch zu formender, zu gestaltender, zu verändernder Gegenstand und die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft wird zum Signum des 20. Jahrhunderts. Dies schließt selbstverständlich Positionen ein, die von der prinzipiellen Unmöglichkeit von Gesellschaft ausgehen, wie etwa Friedrich A. Hayek, und eine politisch gestaltete Gesellschaft vollständig durch tauschförmige Marktprozesses ersetzen wollen.8 Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher sagte: „There is no such thing as society“9, sondern nur unverbundene Einzelne oder einzelne unverbundene Familien. Aber diese Sichtweisen sind naiv oder ideologisch und wurden nie dominant. Gerade die Familie ist eine hochgradig verrechtlichte und politisch gestaltete Institution. Dies belegt erneut, dass moderne Gesellschaften „politische Gesellschaften“10 sind, deren prinzipielle Gestaltetheit und Gestaltbarkeit zum Selbstverständnis dieses Jahrhunderts gehört. Man kann die zukunftsorientierten und rationalen Politikverständnisse am Beginn dieses Jahrhunderts als Politiken der Zuversicht kennzeichnen. An seinem Ende dominieren jedoch Politiken der Skepsis,11 vielleicht sogar postmoderne Politiken, die die Idee der zielorientierten Gestaltbarkeit von Gesellschaft aufgegeben haben und Politik auf das Management des Unerwarteten reduzieren.12 Politik stellt – so das vorweggenommene Resultat der folgenden Überlegungen – am Ende des Jahrhunderts von „zielgerichteter Rationalität“ auf „zeitorientierte Reaktivität“ um.13 Politik kann somit keine umfassende Macht mehr über die Verhältnisse im Sinne ihrer politischen Gestaltbarkeit ausüben, sondern nur noch in den Verhältnissen.14 In die Rekonstruktion der verschiedenen Politikverständnisse fließt somit unhintergehbar ein zeitdiagnostisches Element ein.

1. Das Jahrhundert der Politik? Einführung in die Thematik Kann man eine Geschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, die nicht kultur-, ideen-, ideologie- oder sozialgeschichtlich angelegt ist, sondern das 20. Jahrhundert durch die Brille von relevanten politischen Semantiken beobachtet? Ich glaube ja – und der vorliegende Essay soll den Beweis hierfür liefern. Ich fokussiere auf die wichtigsten politischen Semantiken, indem ich verschiedene zentrale Themenbereiche und Topoi herausgreife und zugleich ihre Wandlungen durch das gesamte Jahrhundert hindurch verfolge. Zwei Gründe sprechen für eine detaillierte Rekonstruktion von verschiedenen politischen Semantiken auf der historischen Zeitachse, ein analytischer und ein systematischer. Der analytische Blick kann in den jeweiligen politischen Semantiken die unterschiedlichsten und miteinander konkurrierenden Ideologien, Ideen und Pro-

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gramme über die politische Gestaltbarkeit einzelner Politikbereiche entziffern. Hier kämpfen die verschiedenen Sichtweisen jeweils um Anerkennung. Die Politik der Massen realisiert sich beispielsweise mittels völlig unterschiedlicher politischen Praxen als etwa die der Verfassunggebung und diese wiederum anders als die der Politik des Krieges oder die des Friedens. Die Analyse der unterschiedlichen Policybereiche mit ihren jeweils differenten politischen Konfliktstrukturen verdeutlicht die ungeheure Vielfalt und Differenziertheit der Politik und ergibt einen tiefen Einblick in deren komplexe und kontingente Dynamiken. Zudem gibt es kaum politikwissenschaftliche Untersuchungen, die den Wandel der politischen Semantiken des 20. Jahrhunderts systematisch in den Blick nehmen. Dies kann hier auch nicht vollständig erfolgen, vielmehr zeichne ich eher ein kaleidoskopisches Bild, das man auch anders hätte zeichnen können. Der systematische Blick versucht gleichwohl eine Gesamtschau zu bieten und Begrifflichkeiten zu formulieren, die diese auf den Punkt bringen könnten. Gibt es also eine alle jeweiligen Politikbereiche überlagernde Tendenz, die einen grundlegenden Wandel des Politikverständnisses signalisiert und wenn ja, wie wäre dieser begrifflich zu fassen? Wie bereits erwähnt vermute ich einen Wandel von der ‚Politik der Zuversicht‘ zu einer ‚Politik der Skepsis‘ (M. Oakeshott), der mit einem systematischen Wandel des Rationalitätsverständnisses der Politik einhergeht.

1.1. Politische Semantiken als ‚Brille‘ – Was man durch sie sieht und was nicht Die Konzentration auf politische Semantiken ermöglicht – so meine Vermutung – einen neuen Zugriff auf das Jahrhundert, der bisher nicht beobachtete Aspekte beobachten kann. Ein solcher Zugriff setzt sich bewusst ab von politik- oder sozialwissenschaftlichen Analysen des Wandels von Regierungssystemen, der Sozialstruktur der Gesellschaft, des Wandels der (politischen) Kultur o.ä. Er setzt sich auch ab von der tradierten politischen Ideengeschichte. Nicht nur, weil ich die älteren, gleichwohl für die Ideengeschichte zentralen Texte ignoriere, die immer, wenn auch manchmal nur implizit, ein bestimmtes Verständnis von Politik formulieren. Aber die Texte der politischen Theorien und der Ideengeschichte gehen über den eher engen Bereich der Politik bzw. des politischen Handelns weit hinaus und diskutieren meist auch andere Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Mein Essay dagegen stellt Politik als eigenständige Kategorie ins Zentrum und rekonstruiert deren Bedeutungsmuster, wie sie sich im Lauf der Zeit verändert haben, wie verschiedene topoi der Politik ausgeformt wurden, welche Ausprägungen sie in den verschiedenen (Politik)Feldern angenommen und wie sie sich im Lauf des Jahrhunderts gewandelt haben.

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Daraus wird nicht gleich eine politische oder gar Gesellschaftstheorie, aber immerhin eine Gesellschaftsbeobachtung durch die Brille der verschiedenen Politikbegriffe. Dem liegt die Prämisse zu Grunde, dass man in Anlehnung an die Cambridge School15 und die Text- und Diskursanalyse16 politisch und politikwissenschaftlich relevante Texte kontextualisiert und sie als begriffliche Reaktionen auf und intellektuelle Interventionen in eine gegebene historische Situation zugleich liest. Im Zentrum meines Essays stehen politische Texte. Sie unterscheiden sich von literarischen und anderen Texten dadurch, dass sie in einer spezifischen Beziehung zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld stehen. Karl Mannheim hat in seiner Wissenssoziologie einen Ausgangspunkt formuliert, der auch für meinen wissenspolitologischen Zugriff17 von großer Bedeutung ist. Er liegt darin, dass eine „Korrelation (besteht), die zwischen Wissensarten, Wissensgehalten und bestimmten tragenden sozialen Gruppen und sozialen Prämissen“ vermittelt.18 Wissen, Semantiken und politische Texte sind mit dem Politisch-Gesellschaftlichen verbunden – und das in doppelter Weise. Zunächst sind die Autoren und ihre Texte in einen spezifischen und identifizierbaren historischen Kontext eingebunden, der gleichwohl der laufenden Veränderung unterliegt. Aber man kann die Muster einer gesellschaftlichen Struktur und deren politischer Machtkonstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr wohl analysieren und festhalten. Ein politischer Text reagiert auf oder reflektiert über diese Konstellation, nicht nur rein wissenschaftlich, sondern eben politisch. Zum anderen werden politische Texte von bestimmten ‚Trägern‘ produziert und formuliert. Diese können einzelne Autorinnen ebenso sein wie Autorenkollektive oder Repräsentanten von bestimmten sozialen oder politischen Gruppierungen, wie etwa von politischen Parteien oder von sozialen Bewegungen. Auch Intellektuelle, die einer sozialen Gruppe (oder sich selbst) durch ihren Text eine Stimme geben und sie repräsentieren wollen, gehören in diese Kategorie. Der entscheidende und provokante Gedanke ist aber der, dass „die gleiche Welt verschiedenen Beobachtern verschieden erscheinen kann.“19 Ersetzt man den Begriff des Beobachters durch den des ‚politischen Akteurs‘, die neben ‚Beobachtern‘ auch Handelnde in einer spezifischen Machtkonstellation sind und diese verändern oder bewahren wollen, so kommt man zu der Erkenntnis, dass die gleiche Welt verschiedenen politischen Akteuren verschieden erscheinen kann, ja muss. Die jeweiligen pluralen Welt(an)sichten kann man dann als Denkstile bezeichnen, ein Begriff, der ebenfalls von Karl Mannheim stammt.20 Denkstile können bestimmten sozialen Kräften als Quelle zugerechnet werden und dies gilt selbstverständlich auch für ‚politische Kräfte‘. Denkstile konkurrieren in einer bestimmten historischen oder politischen Situation um die ‚richtige‘ Deutung der Welt und kämpfen um Hegemonie. Gerade auf dem Gebiet der Politik ist man unhintergehbar mit der Verschiedenheit der Denkstile konfrontiert, die durch die

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jeweils unterschiedliche Verankerung der politischen Kräfte im Sozialgefüge der Gesellschaft bedingt ist. Diese Denkstile kämpfen in den modernen Demokratien auf einem offenen, freien, fairen und rechtlich gesicherten Terrain um politische Anerkennung bzw. um Mehrheiten. Haben sie diese erkämpft, so sind die Denkstile und die sie repräsentierenden Kräfte legitimiert, die Gesellschaft nach genau diesen Vorstellungen zu gestalten und werden hierbei von der politischen Opposition kritisiert und kontrolliert. In nicht-demokratischen Gesellschaften wird die herrschende Sicht dagegen mittels ungebundener Macht und Gewalt realisiert. Denkstile schlagen sich in Texten nieder und unter einem Text verstehe ich eine einzelne, in sich konsistente Aufschrift, die von einem Autor zu einem bestimmten Zeitpunkt formuliert wurde. Als Text betrachte ich aber auch eine zusammenhängende und konsistente Diskussion, in der von verschiedenen Autoren ein zentraler Sachverhalt in einem bestimmten, abgrenzbaren Zeitraum ähnlich thematisiert wird. Politische Texte reagieren auf eine als problematisch betrachtete Situation oder antizipieren sie. Zugleich intervenieren sie in ein gegebenes Kräftefeld oder eine politische Machtkonstellation, wollen diese verändern und eine politische (Re)Aktion provozieren. Sie stehen deshalb immer auch in Konkurrenz zu anderen Texten, die von anderen Autorinnen formuliert werden und konkurrierende Interessen repräsentieren. Folglich wird sich mein Essay auf einen bestimmten Textkorpus stützen, der direkt von Politikern, von Grenzgängern der Politik, von (politischen) Philosophen oder politisch motivierten Intellektuellen geschrieben wurde, wie etwa politischen Denkern, politischen Führern, Verfassern von Artikeln in einschlägigen Handbüchern, Publizisten, Parlamentariern u.Ä., aber auch von politiknahen Wissenschaftlern und Experten. Sie vertreten analytische, aber auch normativ inspirierte Positionen, liefern Begründungen für politische Aktionen und versuchen zum Teil selbst, für ihre Positionen Unterstützung zu gewinnen oder die Massen zu mobilisieren. Damit verbunden ist der Versuch, nicht allein in den akademischen Wissenschaften, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit ein Echo auszulösen. Die medial inszenierte Öffentlichkeit wird im 20. Jahrhundert zum wichtigsten Resonanzboden für die Politik. Sie reagiert auf die von der Politik thematisierten Fragen und politisiert sie zugleich selbst, indem sie mittels eigener oder der Massenmedien auf die Politik einwirkt. Die Öffentlichkeit ist in diesem doppelten Sinne immer politisiert, eine entpolitisierte kann es nicht geben. So wie die moderne Gesellschaft immer politische Gesellschaft ist, so ist deren Öffentlichkeit immer politische Öffentlichkeit. Was meint aber nun der oben erwähnte Begriff der „Korrelation“21 zwischen Denkstilen bzw. Wissensbeständen und sozialen bzw. politischen Gruppierungen? Sicherlich keine mathematische oder streng kausale Beziehung, sondern eher eine mehrdeutige und kontingente.22 Texte haben immer eine relative Autonomie gegenüber ihrem Gegenstand bzw. ihren sozialen Trägern. Alle Vorstellungen einer

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Determination eines Textes durch oder einer getreuen Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie es der dogmatische Marxismus nahelegt, gehen fehl. Die Idee der relativen Autonomie des Textes gegenüber seinem Gegenstand unterstellt dagegen, dass der Gegenstand der textlichen Beobachtung und der Text als Beobachtung zwei verschiedene Sachverhalte sind. Für mein Unterfangen sind zwei ‚Korrelationen‘ zwischen Text und Gegenstand wichtig. Zum Einen ist jeder Text von einem textlichen Kon-Text umgeben, also einem oder anderen Texten, auf die er sich bezieht und mit denen er sich implizit oder explizit auseinandersetzt. Er wird durch die zeitgenössischen Diskussionen, bestimmte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, politische Positionierungen und parteipolitische Interessen u.Ä. konstituiert. In ihnen schlagen sich verschiedenste politische Positionen nieder. Zum Anderen hat jeder Text einen sozial-gesellschaftlichen Kontext, also Träger oder Strukturen, die sich gleichwohl in konflikthaften Veränderungsprozessen befinden. Ein Text in diesem Kontext ist dann eine politische Semantik, die die Interessen einer spezifischen politischen oder sozialen Kraft vertritt, mit anderen Positionen um Anerkennung kämpft und in einer bestimmten historischen Konstellation formuliert wurde. Politische Texte betrachte ich wie Fenster, durch die man einen Bereich der ‚Wirklichkeit‘ erblickt. Man sieht eine bestimmte Problemlage ‚schärfer‘, weil sich ein Text mit genau einem Aspekt der komplexen Welt beschäftigt und dafür vieles andere im Dunkeln lässt. Durch die Analyse politischer Texte öffnet sich der Blick auf eine hoch komplexe und hoch konflikthafte Welt und man kann die hellen und sonnigen Elemente ebenso erkennen wie die dunklen und schattigen. Schaubild 1 verdeutlicht diese Zusammenhänge. Schaubild 1: Der politische Text im Kon-Text und gesellschaftlichen Kontext

Quelle: Eigene Darstellung

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Texte sind aber nicht nur Interpretationen, sondern immer auch Interventionen in politische und gesellschaftliche Kontexte ebenso wie in textliche Kon-Texte. Manche Denkmuster werden hegemonial, andere werden in Frage gestellt, manche bleiben ungehört und wieder andere lösen heftige Kontroversen aus. Insofern ermöglichen Texte kontroverse Blicke auf die Welt und verändern sie zugleich. Texte sind aber auch Einblicke und Eingriffe in die Wirklichkeit und unter dieser Perspektive versuche ich, die von mir ausgewählten Texte zu deuten, wobei der Text und seine Interpretation der Welt ebenso im Mittelpunkt steht wie seine (potentielle) Intervention in die Wirklichkeit. Politische Semantiken und politische Begriffe sind somit als kontroverse Debatten der Gesellschaft über sich selbst zu lesen, in denen sie sich im Spiegel der Politik betrachtet. Wie soll eine Gesellschaft durch Politik gestaltbar sein? Welchen Bedrohungen ist sie ausgesetzt und wie sollen politische Entscheidungen in die sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebenslagen intervenieren? Welche utopischen Sehnsüchte und massiven Ängste sind in den Texten enthalten? Welche Aufgaben stellt sich die Politik in welcher historischen Situation? Dies sind nur einige der zentralen Fragen, denen ich nachgehe.

1.2. Mögliche Handlungsbereiche und Handlungsformen der Politik Die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts sind – wie oben angedeutet – politische Gesellschaften. Sie sind von einer Vielzahl von Akteuren geprägt, die einen explizit politischen Anspruch formulieren, um Anteile an politischer Macht kämpfen und darüber die Gestaltung von Gesellschaft bewerkstelligen wollen. Dies führt eine erstaunliche Beweglichkeit und Variabilität in moderne Gesellschaften ein und nicht nur im historischen Zeitverlauf, sondern auch zu jedem einzelnen Zeitpunkt kämpfen in der Politik unterschiedliche Optionen um Anerkennung und politische Macht. Diese Kontingenz, die sich im Verlauf des Jahrhunderts immer deutlicher bemerkbar macht und sich immer stärker im gesellschaftlichen Bewusstsein niederschlägt, wird zugleich vom Aufbau von Konstellationen begleitet. Sie setzen sich aus einem robusten Dauergerüst verschiedenster und politisch entschiedener Institutionen zusammen. Sie reichen von Verfassungen über eine Vielzahl sozialer und gesellschaftlicher Institutionen bis hin zu einem fast unendlichen Set von rechtlichen, gleichwohl kontingenten Regelungen und Policies. Sie umfassen den Konsumentenschutz, Arbeitsrecht und -schutz ebenso wie familienund sozialpolitische Regelungen bis hin zu Vorschriften über den Naturschutz. Das gesellschaftliche und soziale Leben in modernen Gesellschaften ist zweischalig geformt: Es ist durch die verschiedensten Rechtsbereiche und deren institutionelle Ausprägungen strukturiert, in denen sich das gesellschaftliche Leben vollzieht und für viele Menschen zu einer zweiten Natur, einer explizit politischen

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Natur geworden ist. Man weiß über diese Regelungen, man rechnet mit ihnen, baut sie in seinen Lebenshorizont ein und gibt ihnen Sinn (oder auch nicht). Zum anderen sind immer Freiheitsräume existent, die entweder durch Rechte garantiert (Menschen-, Bürger-, politische, soziale und andere Rechte) oder die ungeregelt sind und in denen sich das genuin soziale Leben abspielt. In welchem Verhältnis diese zwei ‚Schalen‘ zueinander stehen, ist historisch kontingent und von den Entscheidungen der Politik abhängig. Doch was ist ‚Politik‘ und was kann der Begriff in einer ersten, sporadischen Annäherung aussagen? Der finnische Politikwissenschaftler Kari Palonen hat in weitläufigen, materialreichen und vergleichenden Studien nachgewiesen, dass Politik als Handlungsbegriff in Europa erst im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden ist, während Politik zuvor überwiegend in Substanz- oder Disziplinbegriffen diskutiert wurde.23 Ich konzentriere mich deshalb auf den Zeitpunkt, in welchem im europäischen Kontext Politik als Handlungsbegriff neu gefasst wurde und werde mich im Weiteren auf die handlungstheoretisch begründeten Politikbegriffe konzentrieren. Diese Perspektive eröffnet den Blick nicht nur auf unterschiedliche Handlungsformen der Politik, sondern auch auf die verschiedensten Handlungsbereiche. Erstere konzentrieren sich auf die Aktivitäten, mittels derer Politik ausgespielt wird. Hier ist der Bereich, in dem man Gegner, Widerkämpfer und Rivalen hat und mit denen man um die Anerkennung von Ideologien, Ideen und Interessen kämpft. Manchmal werden aus Gegnern Feinde und dann wird eine neue Dimension eingeführt, die jenseits der Politik angesiedelt ist und die manche ‚das Politische‘ nennen.24 Der Konflikt bzw. der Kampf wird dann fundamental, es geht ums Ganze, letztlich um Leben und Tod bzw. wie in den totalitären Regimen um die völlige Vernichtung von bestimmten sozialen oder religiösen Gruppen. Politische Gegner dagegen haben Rechte, Ressourcen und Respekt. In den Politikbegriffen wird auch deutlich, wer mit welchen Rechten, Ressourcen und welchem Respekt am politischen Spiel teilnehmen kann. Die Handlungsbereiche stecken dagegen die Felder ab, in denen die Politik tätig wird. Diese sind nicht statisch, sondern dynamisch und berühren die verschiedensten Segmente der Gesellschaft. In dem, was politisierbar ist und was nicht, lotet eine Gesellschaft ihren Möglichkeitshorizont aus und streitet um verschiedene mögliche Zukünfte. Soll es einen Wohlfahrtsstaat geben, und wenn ja, wie soll er ausgestaltet werden? Welches Ausmaß soll Armut annehmen dürfen und welches nicht? Wie soll man mit den natürlichen Ressourcen umgehen? Diese Handlungsbereiche decken alle die Policybereiche ab, in die Politik in den modernen Gesellschaften interveniert und sie umgestaltet. Unschwer ist zu erkennen, dass die Politik die zentrale Signatur des „Jahrhundert(s) der Extreme“ (E. Hobsbawm) ist und für seine unterschiedlichsten Ausprägungen verantwortlich ist. Die historisch bedingte Kontingenz der politischen

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Semantiken – das ist die leitende Prämisse dieses Essays – ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Jahrhunderts. Das 20. Jahrhundert war weitgehend vom Primat der Politik geprägt. Das gilt für die „politischen Religionen“25 bzw. die beiden großen Totalitarismen ebenso wie für die Theorien der politischen Steuerung, der aktiven Gesellschaftsgestaltung oder rationaler Problemlösungskonzepte. Nur durch politische Gestaltung – so die dominierenden Positionen – lassen sich die verschiedensten und uneinheitlich interpretierten Herausforderungen dieses Jahrhunderts bewältigen. Auch die letzten großen Projekte dieses Jahrhunderts, die Schaffung der EU und die großen Transformationen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, waren und sind politische Projekte. Immerhin sind die ehemals sozialistischen Länder durch politische Entscheidungen vom autoritären oder totalitären Sozialismus in demokratische und marktwirtschaftlich verfasste Gesellschaften transformiert worden. Das wichtigste Mittel der Politik ist – neben vielen anderen – der Einsatz der physischen Gewalt. Kein anderes (Teil)System moderner Gesellschaften verfügt über das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit. Selbstverständlich stehen ihr noch weitere und andere Mittel zur Verfügung – ökonomische Anreize, Überzeugungskampagnen, Aufklärung, Moderation, Delegation, etc. –, aber ohne den Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols ist Politik schlechterdings nicht denkbar. Das Grauen der Konzentrationslager und die demokratischen und ökonomischen Fortschritte waren und sind ohne den Einsatz von Gewalt nicht vorstellbar. Licht und Schatten dieses Jahrhunderts verdanken ihre Existenz der Politik und ihrer Gewaltsamkeit. Politik – verstanden als begründbarer, vernunftbasierter, aktiver und zielorientierter Eingriff in die Gesellschaft oder – im Extremfall – in die Geschichte – ist das Signum des 20. Jahrhunderts. An seinem Ende jedoch muss die Politik erkennen, dass ihr aktiver Handlungsspielraum in einer hoch komplexen, hoch dynamischen und hoch globalisierten Welt immer enger wird und sie notgedrungen auf zeitorientierte Reaktivität umstellt. Andere Autoren verwenden hierfür den Begriff des „Verschwindens der Politik“.26

2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch Im Folgenden will ich überblicksartig ausgewählte politische Semantiken skizzieren, die in den jeweiligen Passagen des Buches ausführlich und im zeitlichen Ablauf dargestellt werden. Ich hoffe, die für das Jahrhundert wichtigsten in den Blick zu nehmen und es so in seinen grundlegenden Farben und Facetten zu beschreiben. (i) Bevor ich die einzelnen Semantiken der Politik darstelle, muss eine zentrale politische Differenz diskutiert werden, die zwischen der Politik und dem Politi-

2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch

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schen. Mein Essay handelt von den verschiedenen Formen und Mustern der Politik, während sich ‚Das Politische‘ immer auf einen existentiellen Konflikt konzentriert. Zu Beginn des Jahrhunderts, im Jahr 1927 von Carl Schmitt zum ersten Mal formuliert, sollte der „Begriff des Politischen“ diese existentielle Unterscheidung markieren, um zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und den tödlichen Kampf zwischen beiden als das Wesentliche der Politik zu markieren.27 Am Ende des Jahrhunderts wurde der Begriff erneut prominent, diesmal im Umkreis linker Theoretiker, vor allem in Frankreich und Italien. Wenn in der Moderne am Ende des Jahrhunderts – so deren Prämisse – keine übergreifenden Gemeinsamkeiten und keine letzten Gründe mehr zur Verfügung stehen, auf welcher Grundlage soll dann eine politische Gesellschaft gegründet werden? Es können dann nur noch reine Dezisionen sein, die zu anderen potentiellen Entscheidungen in grundlegendem Antagonismus stehen und sich deshalb mit Gewalt durchsetzen müssen. Im Kern sind hier revolutionäre Situationen gemeint, die mittels Gewalt ‚gelöst‘ werden müssen. Politik versucht den genau gegensätzlichen Weg: weg vom Antagonismus und hin zum Agonismus, der zwar konflikthafte, aber friedliche, gleichwohl umstrittene Entscheidungen ohne Krieg zulässt.28 Nicht nur über die fundamentalen Grundfragen der Ausgestaltung einer Gesellschaft muss politisch entschieden werden, sondern auch über deren politisch induzierte, aber alltägliche und eher ‚normale‘ Veränderungsdynamiken. (ii) Der erste Topos der Politik handelt von der Politik der Möglichkeiten. Um die Jahrhundertwende haben verschiedene Autoren den Politikbegriff vom Staat gelöst und zu einer eigenständigen Handlungssphäre erklärt, die nach eigenen Logiken und Gesetzen operiert. Hierbei eröffnet Politik einen Spielraum, in dem das schöpferische, kreative, zukunftsorientierte Handeln sich ausspielen lässt und sich auf die Neuformung oder Beherrschung bereits bestehender politischer Machtkonstellationen konzentriert. Politik steigert den Horizont von Möglichkeiten, über die sich eine Gesellschaft selbst gestalten kann. Während bisher normative Zielbestimmungen den Inhalt der Politik bestimmten, treten nun unbestimmte Möglichkeiten ins Zentrum des Politikbegriffs. Politik ist eine umstrittene und umkämpfte Aktivität, in der verschiedene Akteure, vornehmlich politische Parteien und einzelne Politiker, um Anerkennung kämpfen und ihre jeweiligen Optionen in verbindliche, gleichwohl erneut änderbare Entscheidungen transformieren wollen. Politik steigert die Kontingenz aller bisher bestehenden, eher statischen Gesellschaften. Zugleich werden in diesem Kapitel die Grundlagen für ein vertieftes Verständnis der Politik – in Abgrenzung zum Begriff des Politischen – entwickelt und vier Begriffe eingeführt, nämlich Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren, die eine Differenzierung innerhalb des Politikbegriffs zulassen. (iii) Die Politik der Verfassunggebung ist die Hochzeit der Politik. Hier werden die grundlegenden Fragen der Gesellschaften thematisiert und politisch ent-

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schieden. Verfassungen selbst sind politische Semantiken in dem Sinne, als sie nicht nur die normativen Grundprämissen einer Gesellschaft festlegen, sondern auch die Bandbreite und Verfahren ihrer Selbstthematisierung. Auf welchen normativen und rechtlichen Prämissen soll ein neues politisches Gemeinwesen gegründet werden? Mit welchen Rechten und Pflichten sind die Bürger ausgestattet und wie an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt? Welche Möglichkeiten und Spielräume hat die Politik und wie ist das Regierungs- bzw. das politische System institutionalisiert und organisiert? Sind die durch Verfassunggebung neu begründeten politischen Gesellschaften demokratisch oder diktatorisch ausgestaltet? Wenn es denn die Souveränität des Volkes gibt, dann in den Prozessen der Verfassunggebung. Hier hat die Politik die Möglichkeit und die Kraft, alle Grundfragen eines Gemeinwesens neu zu entscheiden – ohne an vorlaufende oder vorgegebene Normen gebunden zu sein. Am Ende des Jahrhunderts dominierten jedoch in den osteuropäischen Verfassunggebungen die Runden Tische, die genau die Konstitution einer souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes verhindern wollten. Stattdessen wurden mit den alten kommunistischen Machthabern die Übergänge und die Grundstrukturen der neuen Verfassungen ausgehandelt. Viele entstanden mit Hilfe der verfassungsändernden Regeln der alten kommunistischen Verfassungen, sodass nie ein rechts- bzw. verfassungsloser Zustand entstehen konnte. Die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes wurde ‚souverän‘ ad acta gelegt. (iv) Die Politik der Massen beschreibt das Auftreten eines eigenständigen politischen Subjekts mit eigener politischer Handlungslogik. Sowohl die Massentheoretiker als auch die Massenpsychologie untersuchen dies und legen nahe, dass die Massen eine spezifische Form der Politik, allerdings eine irrational gespeiste, hervorbringen. Eine neue Dynamik im Bereich der Politik tritt auf, vor allem dann, wenn sich Masse und Führer miteinander zu etwas Neuem, zu einer hochgradig explosiven Form der politischen Handlungsfähigkeit verbinden. Ab Mitte des Jahrhunderts spielen dann beide eine abnehmende Rolle, nachdem Masse und Führer im Faschismus und zum Teil auch im Sozialismus in Russland ein unheilvolles Konglomerat eingegangen waren. Am Ende des Jahrhunderts werden die Massen von manchen führenden Soziologen zur fata morgana, zur gefahrlosen Gruppe, zur konsumierenden und deshalb nicht mehr politisierenden Masse erklärt. Sie hätte sich selbst historisch überholt – um dann zur Überraschung vieler in den mittel- und osteuropäischen Umwälzungen erneut eine zentrale Rolle zu spielen. Parallel dazu findet eine Neudefinition der Masse statt: In der globalisierten Welt agiert sie nun als Multitude, die sporadische und spontane Aufstände gegen den globalisierten Kapitalismus unternimmt – oder auch nicht. (v) Im Zentrum der Politik des Sozialen steht zunächst die Regulierung des Klassenkonflikts. Daraus entwickelten sich im Laufe des Jahrhunderts die modernen Wohlfahrtsstaaten und die mit ihnen untrennbar verbundenen sozialen Rech-

2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch

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te, die jedoch sehr unterschiedliche Ausprägungen gefunden haben. Die Politik des Sozialen entscheidet auch darüber, welche unterschiedlichen Typen von Wohlfahrtsstaaten entstehen und welche Variationen diese am Ende des Jahrhunderts, konkret seit den 70er Jahren, erfahren haben. Unabhängig vom Typus des jeweiligen Wohlfahrtsstaates kommt es insgesamt zu einer politisch entschiedenen Vergesellschaftung. Das Leben ist durch die Politik des Sozialen ‚zweischalig‘ geworden. Es gibt das immer weiter schrumpfende genuine Leben ohne den (Sozial)Staat und dann das Leben, das durch sozialstaatliche Maßnahmen – in welcher Form auch immer – begleitet wird. Dabei ist die letztere ‚Schale‘ konstitutiv für das moderne Leben und signalisiert, wie weit das Leben bereits verpolitisiert ist. Aber im Verlauf des Jahrhunderts ändert sich die Vorstellung der Politik des Sozialen erheblich. Als Sozialpolitik zweiter Ordnung hat sie sich von der zielorientierten Gestaltung des Sozialen auf die institutionelle und finanzielle Sicherung der Systeme der sozialen Sicherung zurückgezogen und kann die Exklusion von sozialen Gruppierungen nicht verhindern. Im Gegenteil, sie kann mittels der Sozialpolitik erfolgen. (vi) Man kann das 20. Jahrhundert nicht ohne die Politik der Paranoia denken, die sich vom kalkulierten politischen Mord aus reinen Machtgründen fundamental unterscheidet. Den Anfang machte das politische Attentat von Sarajewo, das zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Seither ist die politische Paranoia ein steter Begleiter der Politik dieses Jahrhunderts. An seinem Ende stehen unzählige und desaströse Attentate, die sich alle aus der Politik der Paranoia speisen und sowohl in der Dritten Welt, in Bürgerkriegsstaaten als auch in der Ersten Welt ihren Niederschlag finden. Die Anschläge auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 betrachte ich nicht nur als eine minimale Verlängerung des 20. Jahrhunderts. Sie signalisieren zugleich den spektakulären Beginn einer neuen, bisher nicht abreißenden Form von Attentaten seit Anfang des neuen Jahrhunderts. Die Politik der Paranoia zeigt sich aber auch bei manchen Machthabern und deren jeweils unterschiedlich ausgeprägten Politikstilen. Idi Amin im Kongo, Pol Pot in Kambodscha und Jean-Bédel Bokassa in der Zentralafrikanischen Republik sind nur die Extremfälle, während es auch ‚weichere‘ Ausdrucksformen gibt. Der amerikanische Präsident Richard Nixon wird von vielen Autoren für diese ‚weiche‘ Form als Präzedenzfall aufgefasst. (vii) Die Politik des Tötens fand ihren zugespitztesten Ausdruck in den beiden totalitären Diktaturen dieses Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Man kann nicht über die Politikbegriffe des 20. Jahrhunderts schreiben, ohne deren ungeheuer destruktives Potential zu ergründen. Die Konzentrationslager und der Gulag sind der radikalste Ausdruck dieser Politikform und dürfen in einer Gesamtschau des Jahrhunderts eben so wenig fehlen wie die Tötungspolitik in Kambodscha unter Pol Pot und in China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei mit Mao Tse-tung an der Spitze. Die Politik der Paranoia

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Einleitung

und die des Tötens haben manche Gemeinsamkeit, aber die Politik des Tötens hat sich auch ohne die politische Paranoia in den Totalitarismen des Jahrhunderts durchgesetzt. Politik reduziert sich und eskaliert zugleich zur systematisch betriebenen Vernichtung von bestimmten sozialen, ethnischen und/oder religiösen Gruppen, um angeblichen Gesetzen zum Durchbruch zu verhelfen, seien es die der Rasse, wie im Nationalsozialismus, oder die der Geschichte, wie im Stalinismus bzw. Maoismus. (viii) Die Politik des Krieges ist am Ende des Jahrhunderts mit einem neuen Typus des Krieges, dem sogenannten ‚neuen‘ Krieg konfrontiert, der die beiden ‚großen‘ und tradierten Kriege, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, abgelöst hat. Aber der Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges haben dem Krieg eine neue Dimension hinzugefügt. Ein atomarer Krieg wäre heute mit der Vernichtung der gesamten Menschheit identisch. Die Atombombe transformiert den Krieg in ein Mittel zur Selbstzerstörung und Selbstauslöschung der Menschheit. Ende der 70er Jahre sind die sogenannten ‚neuen Kriege‘ entstanden. Durch welche Merkmale sie gekennzeichnet sind, ist umstritten, aber nicht ihre Existenz. Sie gibt es und sie können in meiner Darstellung eben so wenig fehlen wie die Partisanenkriege. Letztere sind eine Mischung aus Volkskrieg und militärisch-professionellen Kampfverbänden und haben während des Zweiten Weltkrieges (wie etwa im ehemaligen Jugoslawien) eine ebenso große Rolle gespielt wie dann in der chinesischen Revolution. Am Ende des alten und v.a. zu Beginn des neuen Jahrhunderts gewinnen die Drohnenkriege als extrem asymmetrische Kriege massiv an Bedeutung und dürfen in einer Politik des Krieges als eine neue, bisher nicht da gewesene Form nicht unerwähnt bleiben. (ix) Als Antwort auf die Politik der Tötung und des totalen Krieges ist die Politik des Friedens entstanden. Man kann zunächst eine Politik zum Frieden beobachten, die verschiedene Waffenstillstandsabkommen, den Abschluss von Friedensverträgen und auch Friedensmissionen, wie die der UN nach dem Zweiten Weltkrieg, umfasst. Dann kann es eine Politik des Friedens geben. In einer zugespitzten Formulierung hat der deutsche Politikwissenschaftler Dolf Sternberger formuliert, dass „(d)er Gegenstand und das Ziel der Politik der Friede (ist). (....) Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin.“29 Dieser explizit gegen Carl Schmitt formulierten Position liegt eine spezifische Vorstellung von Politik zugrunde, die bis heute wirksam ist und in ihren Grundzügen skizziert werden muss. (x) Die Politik der Rationalität findet ihren höchsten Ausdruck in der Idee der gesamtgesellschaftlichen Planung und Steuerung. Diese Idee wurde vor allem ab Mitte der 60er Jahre prominent und speiste sich aus der Illusion, durch Daten, Expertise, Planungssysteme, Computersimulationen etc. rein technokratische Regelungen zu finden, die Gesellschaften in die Zukunft hinein gestaltbar machen.

2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch

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„Aktive Politik“ – mit dieser Vorstellung schien die Zukunft dem politischen Zugriff gegenüber offen und alle Zufälligkeiten aus der Geschichte verbannt zu sein. Aber immer waren skeptische Stimmen zu hören, die Politik als ‚muddling through‘ kennzeichneten oder die Möglichkeit der rationalen politischen Steuerung grundsätzlich ablehnten, wie etwa verschiedene Vertreter der modernen Systemtheorie. Am Ende des Jahrhunderts verdeutlicht vor allem die Globalisierung, dass nationale Entscheidungen allein außer Stande sind, die weitreichenden und oft nicht zu kalkulierenden Folgen von Entscheidungen zu kompensieren, die anderswo von Anderen getroffen wurden. Governance bzw. ‚global governance‘ waren und sind nun die Schlagwörter, die eine gänzlich neue Form der Regulierung von sozialen, gesellschaftlichen und globalen Problemen einfordern. Ob sich die damit verbundenen Erwartungen tatsächlich einstellen, ist dagegen eine andere Frage. (xi) Das Kapitel über die Politik der Parteien analysiert die Wandlungen eines der wichtigsten politischen Akteure. Die Parteien starteten in das Jahrhundert als Massenparteien, wandelten sich zu Volksparteien und am Ende ist ihr Charakter hochgradig umstritten. Sind es Kartellparteien, sind es professionalisierte Wählerparteien oder Parteien der Berufspolitiker, die eher selbstreferentiell agieren und deren Gestaltungspotential – aus welchen Gründen auch immer – in einer globalisierten Welt dramatisch geschrumpft ist? Weiter ist zu fragen, welche Bedeutung sie auf der europäischen und schließlich auf der globalen Ebene beim Regieren oder bei ‚governance‘ haben. Unübersehbar aber bleibt die herausragende Bedeutung der Parteien im Feld der Politik. (xii) Die Politik von Politikertypen bringt verschiedenste Ausformungen des politischen Handelns hervor. In der faktischen Politik haben wir es mit innovativen und agilen politischen Unternehmern bzw. Reformern ebenso zu tun wie mit Durchwurstlern, sterilen Amtsträgern oder mit trostlosen Hinterbänklern. Zudem tauchen Demagogen auf der politischen Bühne auf, die die Massen elektrisieren, und selbst Dämonen wurden in der Politik des 20. Jahrhunderts ausgemacht. Welcher Typus hat warum welche Auswirkungen auf die Politik und kann man einen durchgehenden Trend zu einem dominanten Typus beobachten, der das Jahrhundert durchzieht? (xiii) Die Politik des Bildes ist das Resultat der gesteigerten Medialisierung der Politik. Alle Politik vollzieht sich in einer dreidimensionalen Welt von Begebenheit, Bericht und Bild, wobei das Bild am Ende des Jahrhunderts die ersten beiden Dimensionen immer mehr ersetzt. Politik ist das, was man als Bild sehen und beliebig wiederholen kann. Jeder Politiker versucht sich ins ‚rechte‘ Bild zu setzen und die Paranoiker der Politik, die Attentäter, wissen sehr wohl um die Bedeutung der Politik des Bildes. Die Anschläge auf die Türme des World Trade Centers in New York sind allein der zugespitzte Ausdruck hierfür.

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Einleitung

(xiv) Das abschließende Kapitel fragt, ob man von einem Verschwinden der Politik sowohl in den Handlungsformen als auch in den -bereichen sprechen kann. Bei den Handlungsformen ist zu fragen, ob Prozesse und das Publikum30 einem so dramatischen Wandel unterliegen, dass Politik immer mehr zu einer Restgröße schrumpft. Sie trifft dann nicht mehr in kooperativen und/oder öffentlichen bzw. diskursiven Formen ihre Entscheidungen und versucht nicht mehr, zukunftsorientiert und steuernd zu operieren, sondern zunehmend nachlaufend und weitgehend selbstinteressiert ihre Entscheidungen zu treffen. Bei den Handlungsbereichen ist zunächst zwischen politischen Projekten und den sie realisierenden Personen zu unterschieden. Insgesamt kann man bei den Bereichen eine eigentümliche Paradoxie beobachten. Einerseits werden durch die Dynamiken der Politisierung und der Parteienkonkurrenz immer neue Policies erfunden und auf die politische Tagesordnung gesetzt. Im Totalitarismus waren diese Handlungsbereiche total, nichts sollte der Politik entzogen sein. Anderseits verengt sich die Politik im Verlauf des Jahrhunderts, indem die ‚großen‘ Fragen immer weniger diskutiert und entschieden werden, dafür immer mehr die ‚kleinen‘ und ‚situativen‘ Policies. Sich-Durchwursteln – das war von Charles E. Lindblom die zentrale Formulierung hierfür. Was passiert zudem in der globalisierten Welt, in deren undurchschaubaren Dynamiken die Politik auf eine unbedeutende Restgröße geschrumpft ist? Kann sie dann keine Macht mehr über die Verhältnisse, sondern nur noch Macht in den Verhältnissen ausüben? Mit diesen Politikbereichen sind selbstverständlich nicht alle Politiken abgedeckt, in den modernen Gesellschaften gibt es weitaus mehr. Aber ich erwarte, dass man über diese Beispiele ein mosaikartiges Bild des Jahrhunderts zeichnen kann, das zentrale Aspekte abdeckt und die wichtigsten Entwicklungsdynamiken beobachtet. Vielleicht entstehen so die Konturen eines Jahrhunderts, dessen Schicksal die Politik war. Mit der Konzentration auf die Beobachtung der Politik ist unvermeidlich eine spezifische und einseitige politikwissenschaftliche Perspektive gesetzt und eine asymmetrische Begriffsbildung beabsichtigt. Sie will „das Politische“ wissenschaftlich wie faktisch in einen minderen Rang versetzten und seine zu große Bedeutung in der Politikwissenschaft relativieren, ja so weit wie möglich vermindern. Der Begriff gehört – etwas überspitzt formuliert – in die verstaubte begriffliche Rumpelkammer des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen 1 Der Begriff stammt von Michael Th. Greven, der ihn in verschiedenen seiner Schriften begründet und ihm Kontur gegeben hat; vgl. insbesondere Greven 1999; ders. 2000. 2 Hobsbawn 1996. 3 Bracher 1982. 4 Müller, J.-W. 2013.

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Kotek/Rigoulot 2001; Snyder 2010. Mazower 2009. Mannheim 1952 (1929): 101. Hayek 1944; ders. 1960. Zit. nach Marchart 2010: 7. Greven 1999.

2. Semantiken der Politik im 20. Jahrhundert: Eine Übersicht über das Buch 11 Die beiden Begriffe gehen zurück auf Oakeshott 2000. 12 Weick/Sutcliffe 2001; Ortmann 2009. 13 Diese Formulierungen stammen von Luhmann 2000a: 142; Herv. von mir. 14 Meier, C. 1980: bes. 26; ders. 1986. 15 Grundlegend Pocock 1989; ders. 2009; Skinner 1969. Kritisch zur sogenannten Cambridge School Bevir 1992; ders. 2000. 16 Grundlegend Jäger 2004; Keller u.a. (Hg.) 2000; Keller 2011. 17 Zur Idee und den konzeptionellen Grundlagen einer Wissenspolitologie vgl. Nullmeier/Rüb 1993; Rüb 2006; Nullmeier 2013. 18 Mannheim 1952 (1929): 227. 19 Mannheim 1952 (1929): 7. 20 Vgl. etwa Mannheim 1929: 74; 82, der den Begriff auf dem 6. Deutschen Soziologentag zum ersten Mal verwendet hat. 21 Mannheim 1952 (1929): 227.

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22 Auch Niklas Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „Korrelation oder Kovariation von Wissensbeständen und gesellschaftlichen Strukturen.“ Vgl. Luhmann 1993b: 15. Er übernimmt damit den K. Mannheimschen Begriff der Korrelation unhinterfragt, wobei man gerade bei der Luhmannschen Systemtheorie von Korrelationen im strengen Sinne nicht ausgehen kann. 23 Palonen 1985; ders. 1998; ders. 2006. 24 Vgl. dazu unten Kap. 1. 25 Den Begriff der „politischen Religionen“ hat Eric Voegelin geprägt; vgl. Voegelin 1996 (1938). 26 So Fach 2008. 27 Schmitt 1927. 28 Vgl. zu dieser Differenzierung Mouffe 2007. 29 Sternberger 1986: 76. 30 Diese Begriffe gehen zurück auf Fach 2008: 18-22.

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1. Die Politik und das Politische

1. Die Politik und das Politische. Zur Notwendigkeit der begrifflichen Abklärung des Primats der Politik Der Begriff des Politischen scheint uns heute so selbstverständlich zu sein, dass sich eine, wenn nicht die zentrale Frage fast überhaupt nicht mehr stellt: Wie kam es – aus historischer Perspektive betrachtet – dazu, dass diese Differenz, manche nennen sie die politische Differenz,1 zwischen der Politik und dem Politischen eingeführt wurde? Man kann über die Politik im 20. Jahrhundert nicht schreiben, ohne über diese Differenz zu reflektieren. Eine kleine, aber einflussreiche Schrift aus dem Jahr 1927 hat diesen Begriff sowohl in die wissenschaftliche als auch politische Diskussion eingeführt. Zugleich wurde diese Schrift, unübersehbar als politische und weniger wissenschaftliche Schrift, je nach historischem Kontext variiert. Dies, um der jeweiligen Zeit gerecht zu werden – was auch immer hier ‚gerecht‘ heißen mag. Was war der historische und geistesgeschichtliche Hintergrund der Erstauflage von 1927 und der letzten, erheblich veränderten von 1933? Welcher Autor hat diese Differenz formuliert und hatte dies auch etwas mit seiner persönlichen Situation zu tun? Warum war eine Neudefinition oder Variation des Begriffs der Politik nicht ausreichend, um eine mögliche Herausforderung der damaligen Zeit zu artikulieren? Und wenn diese Differenz eine politische Differenz markiert: Was waren mögliche politische Motive, diesen Begriff zu prägen und in die Diskussion des 20. Jahrhunderts einzuführen? Jedenfalls wurde dieser Begriff nicht nur zu Beginn des Jahrhunderts massiv und kontrovers diskutiert, sondern er hat Anfang der 80er Jahre eine Renaissance in der politischen Theorie erfahren und ist bis heute Gegenstand heftiger Kontroversen.2 Indem man über das Politische spricht, will man gerade nicht von der Politik sprechen, sondern über etwas ganz anderes.3 Und die Frage stellt sich: Was genau ist dieses ganz andere? Was markiert und was negiert es? Welche Intention verbirgt sich dahinter? Diese Differenz zu formulieren, in das politische Denken einzuführen und zu promovieren ist eine besondere Entscheidung, die weitreichende theoretische wie praktische Folgen zeitigt. Indem man sich für die eine Seite der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen entscheidet, bezeichnet man eine Seite dieser Unterscheidung, während die andere im Dunkeln bleibt. Alle politischen Denker und denkenden Politiker, die diese Unterscheidung treffen, legen sich für eine Option fest. Sie wollen das Politische sehen und darüber reflektieren und so die Politik zum dunklen Fleck herabsetzen, zu einem Sachverhalt, der nicht existieren, ausgeblendet oder in einen niedrigen Rang versetzt werden soll. Zugleich bleibt die begriffliche Fassung des Politischen erstaunlich undefiniert und unmarkiert. Sie kann keine positiven Aussagen oder grundlegende Ideen über eine mögliche Ordnung treffen, die angeblich durch das Politische konstituiert werden

1.1. Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz

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soll. Doch wie wird nun diese andere Seite konkret markiert, als das Andere der Politik? Wie wird sie bezeichnet und wer hat diesen Begriff markant, ja provokant in das politische Denken eingeführt? Mit der Diskussion und Beantwortung dieser Fragen beginne ich (Kap. 1.1. und 1.2.). Daran schließt sich der Versuch an, den Politikbegriff nicht nur gegenüber dem des Politischen grundlegend abzugrenzen, sondern zugleich die Politik bzw. das ‚Politik treiben‘ analytisch zu differenzieren. Hierbei unterscheide ich vier Handlungsorientierungen, konkret Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren, wobei immer auch die entsprechenden Gegenaktivitäten, wie etwa Entpolitisieren, im Blick behalten werden (Kap. 1.3.). Eine knappe Zusammenfassung schließt das Kapitel ab, in der betont wird, wie wichtig die Ausdifferenzierung des Politikbegriffs in verschiedene topoi ist, um die ganze Spannbreite von politischen Handlungsmustern zu verdeutlichen. Das Politische kann dies nicht und reduziert alles auf den Begriff der Entscheidung, die von der entscheidenden Gruppe situativ und ohne jegliche institutionalisierten Beteiligungs- und Verfahrensfestlegungen getroffen wird (Kap. 1.4.).

1.1. Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz. Das Politische als Politik Selbstverständlich war es Carl Schmitt, der diese Differenz mit seiner kleinen Schrift „Zum Begriff des Politischen“4 markiert hat. Sie erschien zuerst im Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik und dann – mit einem eher ablehnenden Vorwort von Arnold Wolfers – auch in der Schriftenreihe der Hochschule für Politik in Berlin. Am bekanntesten ist sicherlich die Ausgabe von 1932, der dann eine verkürzte, überarbeitete und radikalisierte Version aus dem Jahr 1933 folgte. Sie wurde – von C. Schmitt bewusst vorangetrieben – im nationalsozialistischen Hauptverlag, der Hanseatischen Verlagsanstalt, veröffentlicht. Diese Fassung war einer der vielen Schritte, mit denen sich C. Schmitt an das neue Regime anbiedert, es aktiv unterstützt und seinem Antisemitismus freien Lauf lässt. C. Schmitt hat für die erste Fassung keinen Monat gebraucht, ja er hat sie angeblich an nur fünf Tagen (vom 31. März bis zum 4. April 1927) diktiert und danach mehrfach überarbeitet. Sie ist – wie er in einem Brief schreibt – „sorgfältig formuliert, in langen Seminar-Sitzungen und -Übungen erprobt.“5 Er selbst hat immer wieder betont, dass er diese Schrift für seine beste und gelungenste hielt.6 Wie sein Biograph Reinhard Mehring ungerührt und aus ferner Distanz festhält, ist C. Schmitt über diese Schrift „sehr froh, obwohl er Magda (eine Prostituierte, F.W.R) weiter besucht und seine ‚Ejakulationen‘ exakt im Tagebuch notiert. Nach Abschluss des Begriffs des Politischen macht er regelmäßig Schießübungen mit Pistole und Gewehr.“7

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1. Die Politik und das Politische

Seit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und eigentlich aller Autoritäten in der Nachkriegszeit, der in den Wirren um die Münchener Räterepublik einen zugespitzten Ausdruck fand, war für C. Schmitt eine „Neujustierung seiner Existenz, seiner Vorstellungen von Beruf und Politik überhaupt, notwendig.“8 Der Begriff des Politischen war eine radikalisierte Zusammenfassung und extreme Zuspitzung verschiedener Schriften, die er seit 1919 publiziert hatte. Seine Ausar9 beitungen beginnen in diesem Jahr mit der Politischen Romantik , dessen Stellenwert von seinen Biographen unterschiedlich eingeschätzt wird.10 Ihre Fortsetzung 11 findet sie mit der 1921 veröffentlichten Schrift über die Diktatur , dann folgt die 12 Politische Theologie von 1922. In ihr will er zeigen, dass Rechtsphilosophien und politische Theorien, denen es an begrifflichen Fixierungen mangelt, sich in den „Wirbeln der Zeit“13 nicht behaupten können und im Meer pluraler Positionen untergehen. Dort ist auch der erste und massive Angriff gegen Hans Kelsen formuliert, der mit seinem Rechtspositivismus zum großen Gegner wird. Zugleich kritisiert er die diskutierende Klasse, die zu keiner grundlegenden Entscheidung fähig ist. Im Jahr 1923 folgt Römischer Katholizismus und politische Form.14 In dieser kleinen Schrift sucht Schmitt nach „Faktoren von Stabilität in einer heillosen, weil ungeordneten Welt. In einer Zeit der Zügellosigkeit sucht er der wuchernden Freiheit, die er als verderblich findet, nicht nur Zügel anzulegen, sondern will auch die überindividuellen Institutionen aufzeigen, die fähig sind, Gefäß von Ordnung zu sein.“15 Man muss diese Charakterisierung der Schrift nicht unbedingt teilen, um zu sehen, um was es geht: um Faktoren der Stabilität, der Ordnung und der Institutionalisierung von Schranken im Meer der Kontingenz. Die im gleichen Jahr erschienene Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen 16 Parlamentarismus fällt ein Todesurteil über den Parlamentarismus als Regierungsform und führt hier bereits die Freund-Feind-Unterscheidung ein, die der Liberalismus nicht treffen kann, und die später ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Die Staatsgewalt ist – so seine Diagnose – an keine übergreifenden Normen, keine Metaphysik, keine unstrittigen Prämissen mehr gebunden, sondern wird durch ewige Diskussionen weiter destabilisiert. Allein der Marxismus und der russische im Besonderen, das sieht er scharfsinnig und fasziniert, hat mit der Idee bzw. der Faktizität der Diktatur des Proletariats dem ewigen Lavieren ein Ende bereitet und sich mittels einer souveränen Entscheidung und damit verbundener vollständiger Machtübernahme für eine nicht-kontingente politische Grundordnung entschieden. München war zunächst der Ort, an dem seine „Angst vor dem Chaos von einem Lebensgefühl zu einer Theorie gerann.“17 Bonn war dann die Zeit, in der er angeblich „(i)m Gleichgewicht“ lebte, in der er seine Ängste und Erfahrungen in immer neuen Anläufen und an neuen, aber zentralen Gegenständen ausformulierte. In Nuancen sind in den erwähnten Büchern und Schriften all die Themen

1.1. Zum Begriff des Politischen und der politischen Differenz

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angedeutet oder in ersten Ansätzen entwickelt, die dann im ‚Begriff des Politischen‘ zusammenfließen. Seine Seminare und Veranstaltungen in Bonn waren immer den zeitgenössischen Situationen gewidmet und in der damaligen Zeit war er einer der wenigen Rechtstheoretiker, der sich mit Politik bzw. politischer Theorie intensiv beschäftigte. Der Begriff des Politischen kann unschwer als Gegenschrift zu den Schriften von A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber gelesen werden, die sich mit der Politik beschäftigten.18 Ihre Politikvorstellungen, wenn auch im Einzelnen unterschiedlich akzentuiert (siehe unten Kap. 2), waren von der Idee der Kontingenz geprägt. Der Politik kam die Aufgabe zu, die gegebene Situation für neue Möglichkeiten zu öffnen, Kontingenz in den Status Quo einzuführen, die Macht für politische Entscheidungen gegenüber anderen um Macht kämpfende Gruppen zu erringen und diese dann in verbindliche, gleichwohl kontingente Entscheidungen zu übersetzen. C. Schmitt, der diese Schriften selbstverständlich kannte, legt sich aber auf einen anderen Hauptgegner, besser Hauptfeind, fest: Den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, zu dem in vielen seiner Schriften ein zweiter hinzutritt: Der amerikanische Politologe Harald Laski als Vertreter einer modernen, demokratisch inspirierten Pluralismustheorie. Aber gegen keinen Anderen hat er so erbittert gekämpft wie gegen Hans Kelsen, der in seinem Rechtspositivismus und in seiner Demokratietheorie im Kern die gleiche Position wie die oben genannten Kontingenztheoretiker vertritt. Seinen Höhepunkt fand dieser Konflikt im Streit um den ‚Hüter der Verfassung‘. C. Schmitt legte im Jahr 1931 ein Buch mit diesem Titel vor,19 auf das H. Kelsen ein Jahr später mit einer massiven Kritik antwortete.20 Was war nun der Kern des Kelsenschen Denkens, der ihn bei C. Schmitt zum wichtigsten Feind erkor? Im Mittelpunkt des Schmittschen Angriffs stand die radikal-positivistische Fassung des Staats- und Gesetzesbegriffs.21 Für H. Kelsen war alles Recht, was in rechtlich vorgesehenen Verfahren entschieden wurde. Damit wurde das Recht radikal kontingent, es konnte so oder auch anders gesetzt werden und entbehrte jeglicher normativ-substantieller Aufladung. (Wechselnde) Mehrheiten entscheiden über das Recht und es ist an keine vorgegebenen oder gar übergesetzlichen Normen oder Instanzen mehr gebunden. Der rechtliche und demokratische Relativismus kann nicht zu einer ‚richtigen‘ oder gar ‚wahren‘ Entscheidung kommen, sondern besitzt immer nur eine relative bzw. kontingente ‚Wahrheit‘. Der Relativismus – dies ist die unausweichliche Schlussfolgerung – ist das der modernen Demokratie angemessene Denken. Demokratien beruhen darauf, dass die Mehrheitsposition kontingent ist in dem Sinne, dass die Minderheit zur Mehrheit werden kann und dann ihre Position politisch relevant und durch verbindliche Entscheidungen realisiert wird. Die Positionen sowohl der gegenwärtigen Mehrheit als auch der momentanen

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1. Die Politik und das Politische

Minderheit sind im Spiel der Politik immer präsent, wenn auch in Diktaturen erheblich eingeschränkt. Aber alles, was ist, kann im Prinzip auch anders sein – gerade im demokratischen Prinzip realisiert sich das Grundprinzip der Kontingenz am radikalsten. Im Gegensatz zu C. Schmitt erfordert der rechtlich-demokratische Relativismus weder eine über dem Gesetz stehende Autorität oder Instanz noch eine Person (oder Gruppe), die autoritativ eine fundamental-substantielle Entscheidung trifft. Zudem war H. Kelsen Jude und für C. Schmitt war er der Inbegriff des ‚maskierten Juden‘, dessen Liberalismus und Positivismus „in Wahrheit die säkularisierte Theologie des Feindes verberge.“22 Auch in seinem Angriff auf die jüdischen Rechtswissenschaftler im Nationalsozialismus im Jahr 1936 erwähnte er den „Juden Kelsen“ explizit und machte ihn zum Prototypus des sogenannten ‚jüdischen Geistes‘ und der Zersetzungstätigkeit durch Entpolitisierung und Entsubstantialisierung. Gegenüber dieser Offenheit, grundlegenden Unentschiedenheit und auch Grundlosigkeit der Politik setzte C. Schmitt einen Begriff, der Kontingenz vernichtet und eine existentielle Entscheidung einforderte. Es ist der Begriff des Feindes und die daraus folgende Unterscheidung zwischen Freund und Feind, die eine unversöhnliche Dichotomie postuliert: „Das Politische kann seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und andern Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler (im ethnischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken.“23

Das Politische konstituiert sich ausschließlich durch eine gesteigerte Intensität, durch eine hoch emotional geprägte Konstellation, in der eine Gruppe von Menschen durch eine andere so massiv und leidenschaftlich abgelehnt wird, dass mit ihr radikale und gewaltsame Konflikte möglich werden, ja möglich werden sollen. Die Dichotomie von Freund und Feind entsteht allein durch den Intensitätsgrad einer Dissoziation oder Assoziation, die nicht gegeben ist, sondern durch bestimmte Festlegungen, Bestimmungen und (politische) Aktionen erst entsteht. Der Feind ist nicht nur politischer Gegner, er ist mehr. Er ist der existentiell Andere und der Krieg eine Erscheinungsform der Feindschaft. „Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft“24 gehören elementar dazu und damit hört das reine Spiel der Politik auf. Politik ist etwas für die Schwätzer, Diskutierer, sich NichtEntscheiden-Könnende, eigentlich für Feiglinge oder – wie C. Schmitt sie nennt – Occasionalisten. Die existentielle Freund-Feind-Entscheidung dagegen vernichtet alle Unentschiedenheit und fordert, ja erzwingt eine klare und fundamentale Positionierung. Bist du nicht mein Freund, dann bist Du mein Feind – eine unentschiedene Zwischenposition ist hier nicht möglich.

1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen

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Hinter der ganzen Konstruktion liegt eine Anthropologie, eine Grundprämisse über das Menschsein. Man kann, so C. Schmitt, alle Staatstheorien und – ebenso wichtig – alle politischen Theorien danach einteilen, ob sie bewusst oder unbewusst einen „von ‚Natur bösen‘ oder einen von ‚Natur guten‘ Menschen voraussetzen.“25 Seine Position ist klar: Der Mensch ist seinem Wesen nach böse. Geht man dagegen von einem von Natur guten Menschen aus, wird man von dem Bösen nicht nur bedroht, sondern im Extremfall, bei ihm im Ernstfall, getötet und vernichtet. Wer keinen Feind hat und ihn nicht kennt, wird von ihm besiegt und verliert zu Recht seine politische Existenzberechtigung. C. Schmitt beharrt auf einer metaphysischen, fundamentalen und existentiellen Differenz, einer Ontologisierung, die der Moderne nicht mehr angemessen ist. Sie entspringt seinen Erfahrungen in den Wirren der Weimarer Republik und er verarbeitet sie in seinen Schriften auf diese Weise. Er setzt in immer neuen Anläufen – am radikalsten sicherlich im ‚Begriff des Politischen‘ – auf den Primat der Struktur, auf ein Ordnungsmuster, das durch eine existentielle Entscheidung instituiert wird und sich allein aus der Freund-Feind-Unterscheidung in einer konkreten historischen Situation ergibt. Politik als Aktivität, als Kampf, als Bewegung, als Verflüssigung, als Chancenbeschaffung, als Kontingentsetzen einer Ordnung, all das bekommt eine sekundäre, ja minderwertige Qualität. Politik soll in etwas fundiert werden, was jenseits der Politik liegt und prinzipiell nichtkontingent ist, sondern fundamental, existentiell und nicht revidierbar. Zwar kann man über den Feind jeweils neu entscheiden, aber solche Entscheidungen sind eher selten und episodisch. Der Feind bleibt erstmal der Feind – weil er eben Feind ist. Die bereits erwähnten Theoretiker, wie A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und natürlich auch M. Weber, führen dagegen die soziale Ordnung gänzlich auf Politik – und nicht auf das Politische – zurück. Die Möglichkeiten der Politik sind in ihren Augen nicht nur weit gefasst, sondern im Kern auch beliebig. Sie sind zudem grenzenlos, denn alles kann politisiert und dadurch zum Gegenstand der Politik werden. Von der gezielten Tötung bestimmter religiöser oder ethnischer Gruppen bis zur Variation der Altersgrenze in der Alterssicherung – all dies kann entschieden werden und wurde im 20. Jahrhundert auch politisch entschieden.

1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen Obwohl C. Schmitt der Erste war, der die politische Differenz in die Diskussionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts einführte, will ich zunächst einige Gedanken aufgreifen, die am Ende des Jahrhunderts formuliert wurden. Ein Teil der Politikwissenschaft und der politischen Theorie geht davon aus, dass im post-funda-

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1. Die Politik und das Politische

mentalistischen Zeitalter keine übergreifenden Gemeinsamkeiten und keine letzten Gründe mehr zur Verfügung stehen. Wie und auf welcher Basis soll dann eine politische Gesellschaft gegründet werden, wenn alles auf schwankendem Boden steht? In einer solchen Situation kann es zwar Gründe für diese oder jene Option von politischer Gesellschaft geben, aber keine letzten oder fundamentalen. Damit ist jede Option, jedes robuste Fundament von Gesellschaft unterspült und „erzwingt (...) ein vorübergehendes Moment der Institution.“26 Derselbe Autor formuliert weiter: „Es erfordert Entscheidungen unter der Prämisse ontologischer Unentscheidbarkeit; und da jede Entscheidung – da sie nie im solitären Vakuum völliger Grundlosigkeit getroffen wird – mit konkurrierenden Kräften und Entscheidungsbemühungen konfrontiert ist, steht Gesellschaft immer vor dem Phänomen des Streits, der Teilung, der Trennung – kurzum des Antagonismus.“27

Dieses auf den ersten Blick schlüssige Argument provoziert gleichwohl mehrere Fragen. Zunächst ist die Behauptung unklar, ob Gesellschaften immer vor dem Phänomen des Konflikts stehen, der ontologische Unentscheidbarkeit provoziert. Es gibt theoretisch wie empirisch auch Konflikte, die entscheidbar sind in dem Sinne, dass es Evidenz oder gute Argumente für diese oder jene Option gibt, sodass keine Entscheidung gefällt werden muss. Die Lage hat sich dann geklärt, man muss den Graben der Unsicherheit nicht überspringen und sich deshalb nicht entscheiden, sondern legt sich wegen guter Gründe fest. Selbstverständlich stehen Gesellschaften immer vor Phänomenen des Konflikts. Aber es ist eine andere Frage, ob diese Streits, Teilungen, Trennungen ‚kurzum‘ immer die Form eines Antagonismus annehmen müssen. Antagonistische Konflikte sind eher selten, es sind Situationen der Krise, des Bürgerkrieges, des existentiellen Konflikts. Sie sind keiner friedlichen Bearbeitung mehr zugänglich, sondern können nur mittels Gewalt, durch die „reale Möglichkeit der physischen Tötung“ bearbeitet werden.28 Solche fundamentalen Situationen gibt es nicht immer, sie treten empirischhistorisch betrachtet außerordentlich selten auf, meist in Krisenzeiten, die den kontinuierlichen Fluss von Zeit unterbrechen. Das Politische ist ein disruptives Moment, in dem die Weichen für eine neue politische Ordnung gestellt werden und die Gesellschaft selbst auf ein neues Gleis gesetzt wird. Die bisherigen Operationen, Verteilungsregeln, Machtdynamiken und Handlungsmuster werden unterbrochen und eine neue Grundstruktur der politischen Gesellschaft instituiert. Der immer konflikthafte, aber dennoch Normalbetrieb der Politik wird gestoppt und in eine Situation überführt, in der es ums Ganze geht, um eine fundamentale und damit gewaltsam ausgetragene Entscheidung. Das Politische ist unterbrechend und führt zu unverbundenen (Auf)Brüchen, während die Politik auf kontinuierliche Dynamiken angewiesen ist. Sie findet Tag und Nacht statt und hat weder einen klar definierten Anfang noch ein solches Ende. Die (Neu)Gründung ei-

1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen

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nes politischen Gemeinwesens hat dagegen einen identifizierbaren Anfang und ein Ende. Selbst L. Trotzkis Vorstellung einer „permanenten Revolution“29 spricht von Etappen, die anfangen und zu Ende gehen und von Phasen der Konsolidierung begleitet werden, bevor eine neue Bewegung eingeleitet wird. Der Begriff des Politischen stellt zudem auf eine besondere Form der Bearbeitung von Konflikten ab. Das Politische „(entkommt) dem Zugriff sozialer und politischer (systemischer) Domestizierung.“30 Was auch immer mit ‚Domestizierung‘ gemeint sein könnte, das Politische wird als ein Zustand beschrieben, in dem andere Regeln der Konfliktaustragung gelten als in der Politik. Es findet folgerichtig eine Eskalation der Intensität statt, die nur in unmittelbarer Gewalt ihren Ausdruck finden kann. Dies wird in der notwendigen Schärfe oft nicht thematisiert und die Theoretiker des Politischen schweigen sich darüber meistens aus. „Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft“ – das sind nach C. Schmitt die zentralen Motivstrukturen in der Situation des Politischen, um die auf der „Feindesseite stehenden Menschen zu töten.“31 Und er wird nicht müde, dies in seiner Schrift immer wieder zu betonen.32 Wer aber ist der Feind? Wann wird er in seiner ganzen Schärfe erblickt? Wer entscheidet über ihn? C. Schmitt hat in seinen Schriften andeutungsweise eine Antwort gegeben: Die entscheidende bzw. maßgebende Gruppe trifft die Entscheidung, wer Feind ist und wer nicht. Sie muss zudem die Macht haben, die von ihr formulierte politische Differenz zur herrschenden zu machen und konkurrierende zu negieren. Das ist die Souveränität – und damit ein Akteur, der im Kern gewalttätig sein kann, ja muss. In der Tat, das Politische entkommt der Domestizierung und streift die Fesseln der Friedfertigkeit ab. Das Zivile verschwindet und das Gewalttätige kommt zum Ausbruch. Hier wird der Primat der ungeregelten Gewalt gegenüber der geregelten Friedfertigkeit verherrlicht. Die Entscheidung, die das Politische trifft, hat – wie erwähnt – ontologischen Charakter. Sie realisiert einen Primat des Statischen, des Festgelegten und des Strukturellen gegenüber der Dynamik, der Variabilität und des Unstrukturierten. Existentielle Entscheidungen lassen sich nicht täglich bzw. kontinuierlich treffen. Andere Theoretiker, wie A. E. F. Schäffle, K. Mannheim, M. Weber und C. Schmitts jüdische Hauptfeinde H. Kelsen und H. Laski, führen die Struktur der Gesellschaft dagegen auf Politik zurück und brauchen den Begriff des Politischen nicht. Für sie ist der Handlungsspielraum der Politik im Prinzip grenzenlos und es kann eine Politik der Verfassunggebung geben, in der fundamentale Fragen der Gestaltung der Gesellschaft politisch (und nicht durch das Politische) entschieden werden (vgl. dazu unten Kap. 3). Natürlich hat man in solchen Situationen kontingente Gründe, eine Gesellschaft so und nicht anders zu konstituieren. Aber sie wird durch Politik konstituiert. Während C. Schmitt eine Ontologisierung der gesellschaftlichen Ordnung einführt, die zunächst dauerhaft und fundamental Kon-

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1. Die Politik und das Politische

tingenz reduziert oder zunichte macht, ist dies bei den erwähnten Autoren sekundär und kann zum Gegenstand politischer Entscheidungen werden. Politik, verstanden als spezifische Form der Konfliktaustragung, ist domestiziert, sie findet unter Regeln statt und kann diese Regeln doch zugleich ändern. Aber immer ist sie relativ dauerhaften Verfahren unterworfen – außer in Regimen, in denen sie völlig regellos ausgeübt wird, als reine Gewalt, wie in den autoritären Regimen dieses Jahrhunderts. Denn Entscheidungen bleiben auch in diesen Regimen politische Entscheidungen, weil es um die Gestaltung des Gesellschaftlichen kraft Entscheidung geht und nicht um die Realisation von ihr vorausliegenden Normen, Wahrheiten oder Ethiken. Dies fand dann allein in den totalitären Regimen dieses Jahrhunderts statt (vgl. Kap. 7). Politik in modernen Gesellschaften hat eben keinen Halt mehr in Religion, Moral oder Vernunft, sondern sitzt auf der reinen Kontingenz auf. Es gibt keine moralischen oder religiösen Grenzen für die Politik, sie wird im Prinzip grenzenlos. Gerade darin liegt der Grund für die „monströsen Erscheinungsformen“ bzw. für „die katastrophengeschichtlichen Dimensionen unseres Zeitalters“33 der Politik. Wer ist der Akteur des Politischen? Wer ist die maßgebende Gruppe oder Person, die die Freund-Feind-Unterscheidung trifft? Diese Akteure des Politischen blieben im Dunkeln und (fast) keiner der Theoretiker hat sie explizit erwähnt, geschweige denn identifiziert oder typologisiert. Fragt man bei C. Schmitt nach, so bleibt seine Antwort – wie auch vieles andere in seiner Schrift – im Vagen. Aber er gibt immerhin einen kleinen, aber wichtigen Hinweis: Die Entscheidung über die Freund-Feind-Bestimmung soll von der entscheidenden Gruppe getroffen werden. Sie ist die politische Gruppierung, „die sich am Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb die maßgebende menschliche Gruppierung.“34 Es ist die Gruppe oder die Person, die sich willkürlich und jenseits aller (verfassungs)rechtlich geregelten Verfahren eigenmächtig zur entscheidenden Gruppe erklärt. Sie trifft dann folgerichtig die Entscheidung über den „maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist.“35 Die rechtliche Kraft der Dezision ergibt sich nicht aus ihrer Begründung, sondern aus der Entscheidung selbst, die nun gilt. Sie wird „im Augenblick (ihrer Entscheidung, F.W.R.) unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbständigen Wert.“36 Wer sich auf vorgegebene Normen und anschlussfähige Traditionen beruft, kann keine wirkliche Entscheidung im existentiellen Sinne mehr treffen. Sie muss daher völlig frei sein von allen Bindungen. Überspitzt formuliert: „Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren“37 und C. Schmitt sagt weiter: „Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab.“38

1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen

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Wer die ‚zuständige Stelle‘ ist, insbesondere bei existentiellen Freund-Feind-Entscheidungen, bleibt bei C. Schmitt mehrdeutig offen, die Formulierung lässt keine Lokalisierung zu. Zuständig – in welchem Sinne? Formal zuständig, also die Stelle, die durch (verfassungs)rechtliche Regeln zur Fällung einer Grundentscheidung berechtigt ist? Oder zuständig in dem Sinne, in dem sich jemand – ohne formale Qualifikation – für zuständig erklärt? Alle in diesem Kontext getroffenen Formulierungen von C. Schmitt legen letztere Interpretation nahe. Die Akteure der Politik lassen sich dagegen klarer und einfacher fassen. Es sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst die Massen, dann die politischen Führer, die die Massen leiten bzw. verleiten, dann die Massenparteien, die um politische Macht kämpfen, die (politischen) Eliten und selbstverständlich die hohe Bürokratie ebenso wie das Militär. Solange wir rechtsstaatliche und/oder demokratische Verhältnisse haben, kämpfen diese Akteure in vorgegebenen Regeln und Verfahren und ihre Handlungen sind wegen ihrer programmatischen Positionen und definierten Interessen auch (in gewissen Maßen) berechen- und erwartbar. Andere Autoren, wie etwa Michael Hardt und Antonio Negri, haben eine andere Vorstellung des Politischen, die an marxistische Traditionen anknüpft.39 Sie bestimmen das Politische – wie viele andere Autoren auch – als fundamentale Neu(be)gründung eines politischen Gemeinwesens, ein wie sie es nennen „neues demokratisches Projekt“, für das „das Politische grundlegend (…) neu gedacht werden muss.“40 Der Akteur des Politischen ist die „Multitude“, das Gegenteil der tradierten und zentralisierten politischen Parteien, rigiden Organisationsformen und autoritären Führungsstrukturen. Stattdessen setzen sie auf eine rebellierende Masse, eine Vielheit von Programmen, Positionen und Perspektiven, eine unübersehbare Menge von differenten Subjekten, deren alleiniges Verbindungselement die Vielheit ist. In ebenfalls marxistischer Tradition konstituiert sich die rebellierende Masse aus den Armen, den materiell Verelendeten. Es sind die armen Massen, die vom globalen Kapitalismus in immer größerer Menge produziert werden und die sich – weil dies ökonomischen Gesetzen unterliegt – nicht begrenzen oder gar regulieren lassen. Zudem wird eine „materialistische Teleologie“41 ins Feld geführt: Wer arm ist, hat nichts zu verlieren – oder wie Marx gesagt hat, nur seine Ketten. So erstaunt es auch nicht, dass den armen und rebellierenden Massen auch noch eine an Franz von Assisi orientierte Spiritualität unterstellt wird, die die Sehnsucht nach einer besseren Welt inspiriert und den politischen Kampf um diese anstachelt. Die rebellierende Masse hält sich nicht an die Regeln und Verfahren der Politik, sondern sucht sich ungeregelte und spontane Ausdrucksformen, die sich im Politischen äußern und in einem Kampf ums Ganze münden. Das „Unsichtbare Komitee“ hat in seiner Kampfschrift „Der kommende Aufstand“ eine ähnliche, aber gleichwohl radikalisierte Position formuliert. Es feiert

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1. Die Politik und das Politische

die Brände in den Banlieues in Paris im November/Dezember 2007 als „Freudenfeuer“ und formuliert die Differenz zwischen der zu verachtenden Politik und dem zu feiernden Politischen noch drastischer: „Die ganze Serie nächtlicher Anschläge, anonymer Angriffe und der wortlosen Zerstörung hat den Verdienst, die größtmögliche Kluft zwischen die Politik und das Politische zu reißen. Niemand kann ernsthaft die Offenkundigkeit des Angriffs verneinen, der Forderungen stellte, der keine andere Botschaft hatte als die Bedrohung; der nichts mit der Politik zu schaffen hat. Man muss blind sein, um das rein Politische nicht zu sehen, das in dieser entschlossenen Verneinung der Politik steckte.“42

Diese zwei Positionen, die C. Schmittsche und die von M. Hardt und A. Negri bzw. des Unsichtbaren Komitees, stecken in etwa das breite Feld ab, in dem sich die potentiellen Aktionen und Akteure des Politischen bewegen. Sie reichen von der maßgebenden und entscheidenden Gruppe bis zur spontanen und gewaltgetriebenen Rebellion der unterdrückten, unorganisierten und spiritualisierten Massen. Zugleich war und ist die Begriffsbildung – wie bei all solchen Versuchen – von einer radikalen Asymmetrie der Gegenbegriffe gekennzeichnet. Sobald man sich – so ein systemtheoretischer Imperativ – entschieden hat, eine Seite einer Beobachtung zu betrachten, kann man die andere Seite nicht mehr sehen. Sie bleibt ein dunkler, nur vage markierter oder gänzlich unmarkierter Fleck.43 Setzt man auf die politische Differenz und markiert das Politische gegenüber der Politik, so bleibt die Politik weitgehend im Dunkeln. So wurde der Begriff des Politischen nicht als einfache Negation zur Politik gefasst, also als Nicht-Politik, sondern durch eine doppelte Negation: Das Politische ist nicht Nicht-Politik, sondern etwas ganz Anderes, Abgesetztes, Besonderes, Hervorgehobenes, ja Herausragendes. Wie auch immer die einzelnen Begrifflichkeiten formuliert wurden, die Politik wurde als etwas Minderwertiges betrachtet und das Politische war der Einspruch, ja Widerspruch gegen die Politik. Man muss kein Schmittianer sein, um zu sehen, dass das Politische ein durch Gewalt und Tod geprägter Ausnahmezustand, ein Ernstfall, ist – im engeren wie im übertragenen Sinne. Bei C. Schmitt ist der Sachverhalt klar: Die Politik – bei ihm die liberale Politik – macht aus dem Feind im Ökonomischen einen „Konkurrenten“, im Geistigen einen „Diskussionsgegner“ und will damit die Freund-Feind-Unterscheidung auflösen.44 Zudem gibt es aber noch „zahlreiche sekundäre Begriffe von ‚politisch‘“45, denn man kann von Religions-, Schul-, Kommunal- und Sozialpolitik des Staates ebenso sprechen wie von staats- und parteipolitischen Haltungen. Dann entwickeln sich noch „weiter abgeschwächte, bis zum Parasitären und Karikaturhaften entstellte Arten von ‚Politik‘, in denen von der ursprünglichen Freund-Feind-Gruppierung nur noch irgendein antagonistisches Moment übriggeblieben ist, das sich in Taktiken und Praktiken aller,

1.2. Die Grundstruktur der Differenz zwischen der Politik und dem Politischen

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Konkurrenzen und Intrigen äußert und die sonderbarsten Geschäfte und Manipulationen als ‚Politik‘ bezeichnet.“46

Interessant ist, dass C. Schmitt hier von ‚antagonistischen Momenten‘ spricht, die gleichwohl nicht automatisch zu einer Freund-Feind-Gruppierung führen und ‚irgendwelche‘ sein können. Das Politische entsteht erst und ausschließlich durch eine bewusste Entscheidung, durch eine Freund-Feind-Konstruktion, die eben den Feind definiert. Die Politik dagegen ist – wie bei vielen anderen Autoren auch – ein „Übel“ (Ricoeur), die „Polizei“ (Rancière), ein Teilsystem unter vielen anderen, konventionell (Marchart), alltäglich u.Ä., also gegenüber dem Politischen nicht nur minderwertig, sondern auch verachtenswert. Sie regelt Banales, das Politische dagegen Fundamentales. Es wirkt wie ein „Sprengsatz gegenüber seiner Einengung durch die Politik“ – wie A. Negri formuliert.47 Das Politische ist dann nicht nur eine Revolution, sondern eine Art permanente Revolution, die gegen die Politik als Einengung des Politischen dauerhaft rebelliert. Könnte man von der Seite des Politikbegriffs ausgehend eine asymmetrische Begriffsbildung versuchen, die das Politische in einen minderen Rang versetzt oder ganz verdunkelt? Der entsprechende Begriff wäre die Politik der Gewalt, die sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Aber ‚das Politische‘ wäre als Begriff verschwunden, wenn man stattdessen von der Politik der Gewalt spricht. Denn ‚das Politische‘ als existentielle Entscheidungssituation, als ein mit Waffen ausgetragener gewaltsamer Konflikt, in dem es um die kriegerische Neukonstitution einer Gesellschaft geht, ist unhintergehbar eine Situation der Gewalt. Zwei unvereinbare Positionen – die von Freund und Feind – kämpfen einen existentiellen Kampf, in dem die eine Seite nur vollständig siegen und die andere nur vollständig verlieren kann. Es kann keinen Frieden geben, der sich aus gegenseitiger Achtung oder Anerkennung speist und eine vertragliche Regelung findet. Die Politik der Gewalt kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Sie reicht von der massiven Verbrechensbekämpfung durch Geheimdienste und Polizei im Rahmen rechtsstaatlicher Vorgaben bis hin zu militärischen Interventionen in bestimmte Staaten – ebenso auf der Basis von rechtlichen Beschlüssen internationaler Organisationen wie etwa der UN. Rechtlich gebundene Politiken der Gewalt wären dann zu unterscheiden von rechtlich ungebundenen. Die Politiken des Nationalsozialismus und der sozialistischen Diktaturen, insbesondere der Sowjetunion unter Stalin, könnte man analytisch als Politiken der ungebundenen und notorisch tötenden Gewalt beschreiben, die auf politischen Ideologien beruhen und deren Umsetzung Gewalt unvermeidlich einschließt (vgl. Kap. 7). Ungebundene direkte Gewalt wären auch ethnisch bzw. rassistisch motivierte, auch unbegründete Vertreibungen oder Vernichtungen von bestimmten Gruppen, wie man das gegenwärtig in Afrika beobachten kann. Auch wenn in solchen Fällen Freund-Feind-Konstruktionen eine zentrale Bedeutung spielen mögen, kann man diese Kämpfe oder Kriege als Sonderformen,

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1. Die Politik und das Politische

als Subtypen einer Politik der Gewalt fassen, ohne dass man auf den Begriff des Politischen zurückgreifen müsste. Vor allem wäre dann die binäre und asymmetrische Gegenüberstellung der Begriffe der Politik und des Politischen überwunden und die damit verbundene politische Differenz verschwunden, ohne dass man einen Verlust an analytischer Präzision erleiden müsste.

1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff: Über Politisieren, Politicking, Polarisieren und Paralysieren Politik ist im 20. Jahrhundert immer „neuzeitliche Politik“.48 Dadurch unterscheidet sie sich von einer ausschließlich normativ geprägten, die meist bei Aristoteles ihren Ausgangspunkt nimmt und die Realisation eines Gemeinwohls oder gewünschter Normen meint. Ein neuzeitlicher Politikbegriff ist immer durch bestimmte Stile, Praktiken, Gewohnheiten und Verhaltensmuster gekennzeichnet, die erst im 20. Jahrhundert auftraten, und operiert mit ebenso neuzeitlich spezifizierten Ideologien, Denkmustern oder Programmatiken. Diesen ‚neuen‘ Politiken liegen vier Prämissen zugrunde:49 (i) Die Säkularisierung entzieht modernen Gesellschaften einen unhinterfragten Boden der Gemeinsamkeit, der auf kollektiv geteilten, kulturellen, religiösen oder alltäglichen Verhaltensmustern beruhte. Alle diese Gemeinsamkeiten verdampfen und alles muss sich der unvermeidlichen Begründbarkeit aussetzen. Nicht nur Gott ist tot, wie Nietzsche es formuliert hatte, sondern alle bisher unhinterfragten Grundlagen sind ‚tot‘. Allein die Politik kann „jenes funktional notwendige Maß an Wertgemeinschaft erzeugen (…), dessen die gesellschaftliche Reproduktion und die Politik selbst bedarf.“50 Moderne Politik muss selbsttragend sein, nur sie selbst kann ihre eigenen Voraussetzungen herstellen: Die Politik der Verfassunggebung (vgl. dazu unten Kap. 3) kreiert die konstitutionellen Grundlagen, auf denen sie dann selbst Politik treibt. Die Standards und Normen, unter denen Politik betrieben wird, werden von ihr selbst entschieden. Die „Fesseln und Bremsen“51, mit denen sie sich in Demokratien selbst beschränkt, oder die Mechanismen der ‚Entfesselung‘, mit denen sie ihre Reichweiten und Tiefendimensionen in Diktaturen auslotet, sind das Ergebnis von Politik. Verfassungen werden neu geschrieben oder sie werden im Rahmen einer gegebenen verändert, Institutionen geschaffen oder zerstört, Rechte und Freiheiten ein- oder bei Seite geräumt – der Politik sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Alles ist politisierbar geworden und selbst die Autonomie der gesellschaftlichen Teilsysteme, sei es die Ökonomie, die Wissenschaft, die Religion, die Kultur oder was auch immer – sie alle können durch die Politik ihrer Autonomie beraubt werden, wie umgekehrt deren Autonomie eine politische Entscheidung ist.

1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff

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(ii) Der Begriff des Interesses löst den der Leidenschaften zwar nicht völlig ab, aber er gerinnt zum Kern der neuzeitlichen Rationalität.52 Interessen sind langfristig orientiert und rational begründbar. Sie machen das Handeln von Menschen erwart- und damit in gewisser Hinsicht vorhersehbar, da man weiß, was eine Person bei Kenntnis ihres Interesses will. Das eigene Handeln und das aller Anderen wird kalkulierbar und Interessen sind dem Kompromiss leichter zugänglich als ideologische Positionen oder Leidenschaften. „Interessen lassen sich verhandeln, aggregieren, teilen, im Kompromiß vorläufig teilweise befriedigen oder missachten, wenn sie nicht mit genügendem Nachdruck vorgebracht werden können. Diese Konvertabilität erzeugt Kontingenz. Die Interessenbasiertheit der modernen Politik ermöglicht den für sie Verantwortlichen eine bis zur Gesinnungslosigkeit gehende Flexibilität und Gestaltungsfähigkeit ihrer politischen Programme, die zum Kennzeichen der politischen Gesellschaft heute geworden ist.“53

Die Dominanz des Interesses hat zugleich eine nach ‚innen‘ gewandte Wirkung: Sie zivilisiert die Menschen in ihrem Verhalten und übt eine verstärkte Selbstkontrolle aus, die alle Bereiche des sozialen Lebens berührt. Norbert Elias hat das in seinem „Prozess der Zivilisation“ ausführlich beschrieben.54 Zugleich hat er auch weitere Veränderungen im Blick gehabt, v. a. die des Staatsapparates. Die Politik als eigenständiger Bereich moderner Gesellschaften bleibt bei ihm jedoch weitgehend ausgeblendet. Gleichwohl bleibt ein an Normen orientiertes Handeln nach wie vor ein nicht zu vernachlässigender Motor sozialer und politischer (Inter)Aktionen. (iii) Der moderne Wohlfahrtsstaat ist im Vergleich zu den beiden anderen Entwicklungen historisch betrachtet ein späteres Phänomen. Jedoch signalisiert er wie keines der beiden anderen die Idee der politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Alle modernen Wohlfahrtstaaten – gleich welchen Typs – verdeutlichen dies und machen sichtbar, dass die neuzeitliche Politik tief in die Dynamiken der modernen Gesellschaften eingreift. Sie kann die Arbeitsbeziehungen und die Lohngestaltung selbst regeln und somit massiv in die wirtschaftlichen Beziehungen eingreifen. Sie kann aber auch Institutionen bauen, die zentrale soziale Risiken absichern und mit einem Rechtsanspruch verbinden, den das Individuum gegen den Staat einklagen kann, obwohl er dieses Recht durch seine soziale Politik gewährt (vgl. dazu insbesondere Kap. 5). (iv) Die letzte der vier Entwicklungen ist die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft. Sie beruht zunächst auf der Prämisse, dass im Prinzip alles politisierbar ist. Alles – ein kleines Wort, das viel umfasst. Es bedeutet zunächst eine Politisierung „von unten“, die verschiedene Formen annehmen kann. In rechtsstaatlichen Demokratien haben die Mitglieder der Gesellschaft den vollen Staatsbürgerstatus, sowie die individuellen und Freiheitsrechte, die politischen Partizipations- und schließlich die sozialen Teilhaberechte. Alle drei ermöglichen ihnen die rechtlich abgesicherte und volle politische Mobilisierung als Individuum und als

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soziale Gruppierung. In den nicht-demokratischen Staaten, v. a. aber in den totalitären, kann man ebenfalls eine Mobilisierung, vielleicht sogar ‚totale Mobilmachung‘ der Gesellschaftsmitglieder beobachten, die allerdings auf nicht-rechtsstaatlicher Basis funktioniert und sich auf die Massen oder die Klasse(n) bezieht, die von politischen Führern oder Parteien aktiviert werden. Zudem wird alles Entscheidbare als Interessenkonflikt thematisiert; dies gilt für nicht-demokratische Staaten weniger, hier sind es meist ideologische Konflikte, die gewaltsam ‚gelöst‘ werden. Die Politik der Gewalt, ja der Tötung und Auslöschung von ganzen sozialen oder ethnischen Gruppen dominiert hier, während demokratische Politik sich durch Selbstbindungen vor solchen Praktiken schützt. Jedenfalls kann in politischen Gesellschaften die Politik für alles ihre Zuständigkeit reklamieren und realisieren. Dies sind die zentralen vier Voraussetzungen, auf denen neuzeitliche Politik aufbaut und die zugleich das ungeheuerliche Ausmaß des 20. Jahrhunderts annehmen konnte. Demokratische und diktatorische Politik sind allein zwei Unterformen dieser ‚neuzeitlichen‘ Politik, die sich gleichwohl hinsichtlich ihres Anspruchs und ihrer Politikformen fundamental unterscheiden. Dennoch gilt die Beobachtung: „Eigentlich hat erst die Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft ohne jeden verbliebenen sozialen, kulturellen und ethischen Halt, weder auf der Ebene der beteiligten Individuen, noch der die Politik ausreichend begrenzenden Wirksamkeit anderer gesellschaftlicher Institutionen oder Verhältnisse, die monströsen Erscheinungsformen des Politischen dieses Jahrhunderts, die ‚katastrophengeschichtlichen Dimensionen unseres Zeitalters‘ ermöglicht.“55

Die Politik kann alles – dies ist die bestürzende Erkenntnis über den Charakter der neuzeitlichen Politik, sie kann durch organisierte Genozide eine unvorstellbar große Anzahl von Menschen töten und sie kann gerechtere Gesellschaften aufbauen, eben weil alles möglich ist. Das destruktive Element der Politik kann aber nur die Politik selbst aus sich herausnehmen und die Mechanismen hierfür sind bekannt: auf der institutionellen Ebene über Gewaltenteilung, verfassungsrechtliche Garantien der Freiheits-, Beteiligungs- und sozialen Rechte und Verfahren der politischen Willensbildung, die die Kontrolle der Herrschenden durch eine Politik „von unten“ möglich macht. Auf der Konfliktebene durch eine am Kompromiss orientierte und entideologisierende Politik, aber auch durch eine Politik des Beschweigens, die bestimmte Sachverhalte nicht zu ihrem Gegenstand macht, sondern durch Schweigen entpolitisiert. Auf der Gestaltungsebene die normativen Orientierungen, an denen sich die einzelnen politischen Entscheidungen orientieren. Sollen die sozialen Differenzen eingeebnet werden oder nicht? Sollen bestimmte Gruppen besser integriert werden oder nicht? Sollen ökonomische Dynamiken abgeschwächt werden oder nicht? Dies sind nur einige Fragen, die eine Politik der Gestaltung zu bearbeiten hätte – in welcher Richtung auch immer.

1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff

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Wie könnte man – in aller Kürze und möglicher Verkürzung – nun Politik begrifflich fassen? Politik ist die Gesamtheit all der Aktivitäten, die auf Vorbereitung, Legitimation, Herstellung und Durchführung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen abzielen bzw. zum Fluchtpunkt haben und die die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche zu regeln versuchen. Die Leistungen der Politik umfassen dann die inhaltlichen Dimensionen dieser Entscheidungen und reichen von der Familien- über die Steuer- und Sozial- bis hin zur Außenpolitik, um nur einige Bereiche zu nennen. Sie ordnen die vielfältigen Beziehungen zwischen dem politischen System und seiner Umwelt und innerhalb der Gesellschaft. Durch diese politischen Dauerinterventionen entstehen gesellschaftliche Ordnungsstrukturen, die als verbindliche Regelung zunächst stabil, aber gleichwohl durch Politik prinzipiell änderbar und deshalb kontingent sind. Politik ist zudem immer Kampf bzw. umkämpft, weil individuelle und kollektive Akteure mit fairen oder unfairen Mitteln um Machtanteile konkurrieren oder die Machtverteilung zu beeinflussen versuchen, um so ihre programmatischen Vorstellungen zur Gestaltung der Gesellschaft zu realisieren oder um den schieren Genuss der Macht auszukosten. Schließlich kann Politik über ihre eigenen Regeln entscheiden, weil sie nicht nur die Verfassung selbst, sondern auch andere politisch bedeutsame Institutionen und Spielregeln ändern kann. Verfassunggebung ist gleichwohl ein Grenzbereich der Politik bzw. des politischen Handelns (vgl. dazu unten Kap. 3) Der Politikbegriff umfasst somit vier Dimensionen: Eine funktionale, denn die Politik als System ist allein in der Lage, gesamtverbindliche Entscheidungen zu treffen, die für alle anderen (Teil)Systeme der Gesellschaft Geltung beanspruchen. Dann eine substantiell-inhaltliche, weil der Politikbegriff mit beliebigen Bereichen verkoppelbar ist (Familien-, Steuer-, Wissenschafts-, Schulpolitik, etc.). Eine temporal-interaktionistische, weil sich Politik in der Zeit verändert und zugleich immer der Kampf um Anteile an politischer Macht ist, deren Konstellationen und Interaktionen sich im Zeitverlauf ändern. Und schließlich eine selbstreferentielle Dimension, weil Politik über sich selbst entscheidet, indem sie ihre eigenen Spielregeln und Privilegienstrukturen (Verfassung, Wahlrecht, Parteienfinanzierung, Organisationsstrukturen der politischen Parteien etc.) variieren kann. Abschließend will ich kurz verschiedene topoi der Politik diskutieren. Kann man sagen, dass es eine Politik des Politischen gibt? Diese wäre dann als die Aktivität zu kennzeichnen, die sich die Verschärfung, die Fundamentalisierung, ja die Ontologisierung der Politik zur Aufgabe macht und die Politik als Politik in einen minderen Rang versetzen will. Eine Politik des Politischen geht immer aufs Ganze, sie kann keine Kompromisse schließen und will, ja muss den politischen Konflikt bis zur Freund-Feind-Gruppierung verschärfen und die Tötung von (vielen!) Menschen als unvermeidliche Konsequenz einschließen. Eine Politik des Politischen wären auch all die Aktivitäten, die von politischen Philosophen und po-

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litischen Theoretikern unternommen werden, um den Begriff des Politischen in Wissenschaft und Politik stark und prominent zu machen. Von C. Schmitt bis zur neueren französischen Diskussion, vor allem aber bei M. Hardt und A. Negri, ist diese tödliche Dimension unübersehbar (vgl. oben Kap. 1.2.). Eine Politik der Politik müsste dagegen die Politik als Tätigkeit, als Handlungskategorie doppelt ernst nehmen. Sie müsste einmal nach den vielen und unterscheidbaren Spielarten, also den Farben und Facetten der Politik als Aktivität, als Handlungskategorie, fragen und diese analysieren. Zum Anderen nach den vielen Bereichen, in denen diese Spielarten ausgeübt werden. Diese Bereiche erschließen die Politik als umfassende Gesellschaftspolitik, die über alle wesentlichen Fragen moderner Gesellschaften verbindlich entscheiden kann und entscheidet. Dies ist Gegenstand meines Essays und bevor ich die einzelnen Spielarten und Bereiche kurz skizziere, will ich eine grobe und relativ abstrakte Kategorisierung vornehmen, welche topoi in der neuzeitliche Politik zu ihrer Differenzierung ausbildet wurden. (i) Zunächst Politisieren und dies umfasst all die Tätigkeiten von identifizierbaren Akteuren, die einen bisher nicht-politischen Gegenstand zu einem politischen machen wollen. Ein bestimmter Sachverhalt, ein Thema oder ein Problem soll politisch ‚bespielbar’ gemacht, auf die politische Agenda gesetzt und darüber eine verbindliche Entscheidung getroffen werden.56 Der ‚Wert‘ eines zu politisierenden Sachverhaltes wird von den Handelnden nicht mehr allein nach seinem Inhalt bzw. seinem Problemlösungspotential festgelegt, sondern nach seinen möglichkeitsöffnenden Potentialen, was Stilfragen und symbolisch-ästhetische Ausdrucksformen in die Politik eindringen lässt und die Relativität und damit die Kontingenz von Optionen steigert. Die Politisierung bestimmter Sachverhalte dient zudem dem reinen Machterhalt bzw. der Machtsteigerung der politischen Akteure. Die politischen Parteien können hierbei wie Staubsauger fungieren, die all die Sachverhalte ansaugen, mit denen ein Machtsteigerungspotential verbunden ist, seien es Plagiate in von Ministern verfassten Doktorarbeiten, moralisch verwerfliche Fehltritte von Politikern oder von den Medien skandalisierte Sachverhalte. Im Kern sind in politischen Gesellschaften alle Sachverhalte politisierbar, sofern sie von Akteuren als politisch zu entscheidende Sachverhalte ins Spiel gebracht werden.57 Hierin drückt sich die überbordende Kontingenz der postmodernen Gesellschaften und zugleich die prinzipielle Überladung der Politik mit bestimmten Themen aus. Politisierung kann verschiedene Formen annehmen: In einer quantitativen Dimension ist es zunächst die schiere Ausweitung der Themen, die in der politischen Auseinandersetzung um Anerkennung kämpfen und von bestimmten Interessen auf die Agenda gesetzt werden wollen. In einer qualitativen Dimension kann man fragen, ob Politik aktiv gestaltend in die sozialen und gesellschaftlichen Dynamiken eingreifen und so die Zukunft durch gegen-

1.3. Die Politik und Differenzierungen im Politikbegriff

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wärtige Entscheidungen gestalten will. Oder ob sie nur noch reaktiv operiert und die Folgen von Entscheidungen, die von Anderen und an anderen Orten getroffen wurden, zu kompensieren versucht. In der institutionell-organisatorischen Dimension verändert die Politik ihren Handlungskontext, indem sie z.B. über die Zunahme neuer ministerieller Portfolios oder über Umstrukturierungen politischer Verantwortlichkeit im Regierungsapparat oder in den politischen Parteien entscheidet. Entpolitisieren wäre dann die entgegengesetzte Tätigkeit, die das Politisieren von bestimmten Sachverhalten verhindern oder sie von der politischen Agenda verschwinden lassen will. Statt verbindlicher Entscheidungen müssten dann andere Handlungsmuster bestimmte Sachverhalte regeln, seien es Marktprozesse, evolutionäre Dynamiken, wissenschaftliche Expertise etc. (ii) Politik bedeutet auch Politicking. Der nur schwer übersetzbare Begriff58 bezeichnet all die politischen Handlungen, die reine Performanz59 sind und ihren Wert allein im Spielen des politischen Spiels finden. Politicking zielt nicht auf ein Ergebnis, auf eine Entscheidung, die gesellschaftliche Ordnung in diese oder jene Richtung zu verändern. Stattdessen liegt der Wert einer politischen Aktion in der Beurteilung durch andere Beobachter, sei es der politische Gegner, sei es das politische Publikum oder die medial inszenierte öffentliche Meinung. „Politisierung markiert gewisse Phänomene als politisch, Politicking spielt mit diesen Phänomenen. (...) Politisierung ist eine verändernde Bewegung, die sowohl den Erfahrungsraum als auch den Erwartungshorizont umwandelt, während Politicking reine Performanz ist, die nur die Gegenwart ihrer Ausübung kennt.“60

In einem solchen Kontext sind Policies keine Lösungsangebote, mit denen man auf problematische Sachverhalte reagiert, sondern „Schachzüge, die gegebenenfalls Konstellationen verändern, Fragestellungen umwerfen oder zur Umformulierung des Vokabulars herausfordern.“61 Politischer Opportunismus ist dann erstens eine unvermeidliche Erscheinungsform des immer situativ ausgeübten Politicking. Zweitens kann es sich in Status-, Kompetenz- und Eitelkeitskonflikten innerhalb der politischen Klasse ausdrücken und hierbei verschiedene Formen annehmen. Drittens und unvermeidlich hat dies eine medial inszenierte Selbstdarstellung zur Folge, in der symbolische, theatralische und dramatische Aspekte eine große Rolle spielen. Dies alles wird erst im Laufe des Jahrhunderts deutlicher, weil die mediale Dimension eine immer größere Bedeutung bekommt (vgl. dazu unten Kap. 13). Die gegenläufige Politik, die des Ent-politicking, wären dann all die Aktivitäten, die das ‚reine Spiel‘ in eine ernsthafte Politik zurückführen, bei der es wieder um wichtige und grundlegende Gestaltungsentscheidungen geht oder um die politische Bearbeitung von ersthaften Problemen. (iii) Polarisieren ist eine Form der Politik, die die Gegensätze und Konflikte zu radikalisieren und zu eskalieren versucht. Während Politisierung allein die Aktivitäten beschreibt, die das ‚politisch Bespielbarmachen‘ eines Gegenstandes erfas-

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sen, bedeutet Polarisierung etwas anderes. Es geht um die bewusst vorangetriebene Eskalation von Konflikten und – im Extremfall – um die Einführung von Gewalt in die Politik. Nicht Politisierung, sondern radikale Intensivierung ist das Ziel dieser Aktivität. Man könnte – in einer etwas überspitzten Formulierung – sagen, es ist die Transformation der Politik in das Politische (im Schmittschen Sinne). Man könnte genauso gut sagen, dass dann Politik zur Politik der Gewalt wird, die verschiedene Ausdrucksformen finden kann, die nicht mit der des Politischen identisch sein müssen. Der Krieg – sei es der ‚normale‘ zwischenstaatliche Krieg oder der innerstaatliche Bürgerkrieg – wäre dann die intensivste Ausdrucksform dieser Polarisierung, ebenso wie Vertreibung oder Auslöschung ganzer sozialer, ethnischer oder politischer Gruppen. Das Befrieden durch Politik – das Entpolarisieren – ist dann die entgegengesetzte Tätigkeit, die die Umwandlung von gewalttätigen Konflikten in friedlich regelbare Konflikte bedeutet. Friedensschlüsse jeder Art, Verfassunggebung oder Institutionenbildung, die Regeln für eine friedliche Austragung von Konflikten festlegen, sind die wichtigsten Ausdrucksformen der Entpolarisierung. Sie schreiben den beteiligten Akteuren Rechte und Pflichten zu, die diese verbindlich einhalten müssen. D. Sternberger sah in der Befriedung bzw. im Frieden den Grund, das Merkmal und die Norm aller Politik.62 (iv) Und schließlich umfasst Paralysieren all die politischen Handlungsmuster, die einen politischen Gegner entmächtigen und ihn in seinem Aktionsmodus eindämmen oder lähmen sollen. Politik kann beispielsweise versuchen, die Wirkungen einer gegnerischen Kampagne abzuschwächen oder wirkungslos zu machen. Analoges gilt selbstverständlich auch im militärischen Bereich, indem man den Feind durch Kampagnen, Propaganda oder gar Falschmeldungen zu schwächen versucht. Eine verlorene Entscheidungsschlacht kann dieselben paralysierenden Wirkungen haben wie eine vernichtende Niederlage in einem bedeutsamen Wahlkampf um Anteile an politischer Macht. Selbstverständlich können sich politische Mächte auch gegenseitig paralysieren und dadurch Dritten zum Durchbruch verhelfen. In der Politik ist sicherlich die Paralyse der Macht eines Machtträgers am wichtigsten, die man durch kluge Gegenstrategien oder -taktiken oder durch Ignoranz erreichen kann. Entparalysierung versucht durch den Verweis auf historische Größe, auf zurückliegende Erfolge oder auf vergangene, gleichwohl erfolgreiche Wahl- oder andere politische Kämpfe sich neue und zukunftsweisende Kräfte zukommen zu lassen. Mit diesen vier Begriffen wären die wichtigsten Spielarten der Politik umschrieben, ohne dass sie Vollständigkeit beanspruchen könnten.

1.4. Zusammenfassung

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1.4. Zusammenfassung: Die Spannbreite des Politikbegriffs und die Unspezifität ‚Des Politischen‘ Politisches Handeln oder ‚Politik treiben‘ im M. Weberschen Sinn umfasst eine immense Spannbreite von Aktivitäten, die in politischen Extrem- wie in Alltagssituationen ausgespielt werden. Das Politische konstituiert sich ausschließlich oder zumindest vorwiegend durch eine fundamentale Unterscheidung, der zwischen Freund und Feind. Es markiert den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, die auf religiösen, nationalen, wirtschaftlichen oder anderen Merkmalen beruhen kann und allein von der entscheidenden Gruppe entschieden wird.63 Es gibt keine Institution, in der dies beschlossen werden soll, es wird nicht geregelt, wer dabei beteiligt ist, nach welchen Abstimmungsmodi entschieden wird, welche Beteiligten welche Rechte haben, wen sie repräsentieren (oder auch nicht) etc. Das Politische kann nur als Moment, als ein kurzer Zeitpunkt gedacht werden, indem alle zentralen Entscheidungen auf einmal getroffen und dann für die Zukunft festgeschrieben werden. Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft sind in einer solchen Situation vorausgesetzt.64 Die Situation des Politischen ist völlig unstrukturiert, keine Verfahren sowie Rechte und Pflichten von potentiell Beteiligten werden bestimmt. Die Politik dagegen kann den Aktions- und Handlungsspielraum von beteiligten Akteuren festlegen und deren Kompetenzen im politischen Streit bestimmen. Politische Institutionen, von der Verfassung bis zu den Wahl- oder Parteiengesetzen, können solche Handlungsspielräume und Kompetenzen festlegen. Die politischen Aktivitäten selbst können in Topoi unterteilt werden, mit denen man das politische Agieren differenzierter beobachten kann. Politisieren politische Parteien einen bestimmten Sachverhalt, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Argumenten bzw. Positionen, oder wollen sie bestimmte Sachverhalte entpolitisieren? Betreiben Parteien vor allem Politicking, streben also vorwiegend oder ausschließlich nach Machtpositionen, wie es etwa die ökonomische Theorie der Politik unterstellt65, oder spielen auch andere Motive eine Rolle? Warum werden bestimmte Konflikte oder Gegensätze polarisiert, also durch bestimmte Akteure zugespitzt, radikalisiert oder bis zur Gewalt eskaliert? All das kann man mit den hier ausgebreiteten analytischen Kategorien untersuchen und zugleich fragen, welche Praktiken hierbei zum Einsatz kommen. Ein weiter Horizont tut sich auf und man kann sehen, wie der politische Betrieb betrieben wird und welche Akteure wie, mit welchen Ressourcen und mit welchen Praktiken daran beteiligt sind. Im Folgenden konzentriere ich mich auf bestimmte Politikbereiche und verfolge deren Entwicklungsdynamiken durch das ganze Jahrhundert hindurch. Nach den Spielarten der Politik sollen nun die Spielbereiche in den Blick kommen, wobei man beide Dimensionen nicht strikt trennen kann. Aber man kann dennoch

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1. Die Politik und das Politische

Schwerpunkte setzen und sich auf zentrale Politikbereiche konzentrieren. In der Politik der Verfassunggebung legen Gesellschaften ihre institutionellen Grundsteine und sie bestimmen, welche Rechte und Pflichten die Bürger eines Staates haben, mittels welcher Verfahren politische Entscheidungen getroffen werden und wie politische Macht ausgeübt wird. Aber der Prozess bzw. die Verfahren der Verfassunggebung haben sich im Laufe des Jahrhunderts stark geändert, die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes wird am Ende des Jahrhunderts durch koordinierte Transformationen ersetzt. In den mittel- und osteuropäischen Transformationen konnte man dies paradigmatisch beobachten, bei denen die alten Machthaber und die oppositionellen politische Kräfte an Runden Tischen die Schritte des Übergangs und eine neue Verfassung aushandelten. Dies alles ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Anmerkungen 1 Vgl. etwa Marchart 2010; andere sprechen von einer „Leitdifferenz“, wie etwa Bedorf 2010: 15. 2 Vgl. dazu etwa Bedorf/Röttgers 2010; Marchart 2010; Bröckling/Feustel 2009; Mouffe 2007; Hirsch 2007, um nur einige der wichtigsten Beiträge zu erwähnen. 3 „Indem wir von dem Politischen sprechen, wollen wir gerade nicht die Politik bezeichnen“ – so Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, die diese Diskussion im Jahr 1981 erneut begonnen haben; zit. nach Bedorf 2010: 14. 4 Ich habe Carl Schmitts „Zum Begriff des Politischen“ ein eigenes Kapitel in dem Unterabschnitt „Die Politik der Paranoia“ (vgl. unten Kap. 6) gewidmet. Dort führe ich die Auseinandersetzung mit seiner Schrift gründlicher und systematischer. 5 Zit. nach Mehring 2009: 202. 6 Mehring 2009: 213. 7 Ebd. 8 So ein zweiter Biograph von C. Schmitt, Paul Noack; vgl. Noack 1993: 52. 9 Schmitt 1919. 10 P. Noack betrachtet diese Schrift als das Freimachen von der „eigenen Unentschiedenheit, von den intellektuellen Verführungen folgenloser Diskussionen als Vorwand für Politik (...). Er machte sich von seinen subjektiven Gefährdungen (welchen eigentlich?; F.W.R.) frei, indem er sie zu geschichtlichen Konstanten deklarierte. (...) Schmitt bannt die eigene Gefährdung, indem er sie bei anderen, den Frühromantikern, aufdeckt. (...) Er (exorziert) die Gefahren in der eigenen Brust (...)“ und „thematisiert die Gefährdungen der eigenen Existenz“ (ebd.: 47f.). R. Mehring spricht den

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Frühschriften eine ähnliche Bedeutung zu: „(...) die Politische Romantik von 1919 und Die Diktatur von 1921, gehen auf die prägenden Erfahrungen der Frühzeit zurück. Mit der Romantik generalisiert Schmitt seine Individualismuskritik, verwirft die ganze Mentalität des Bürgertums, wie sie seit der Romantik entstand, und richtet sich damit in seiner überreizten Empfindsamkeit und Subjektivität auch selbst. Mit der Diktatur kritisiert er dann nicht mehr die subjektive Seite der bürgerlichen Welt, sondern ihre objektive politische Verfassung. (...) Aus der Erfahrung seiner Militärzeit meint er, dass die bürgerliche Welt in ihrer Mentalität und Verfassung kaum noch zu halten sei.“ Mehring 2009: 110f. Schmitt 1994 (1921). Schmitt 1996 (1922). Noack 1993: 70. Schmitt 1923. Noack 1993: 73. Schmitt 1991 (1923). Noack 1993: 37. Es versteht sich von selbst, dass in C. Schmitts Schriften seine konkreten, in den Fußnoten eingeführten Gegner oder ‚Feinde‘ sehr andere Personen waren, die je nach Ausgabe und damit historischer Situation wechselten. Seine sich durch alle Ausgaben ziehenden ‚Feinde‘ waren jedoch H. Kelsen mit seinem Rechtspositivismus und H. Laski mit seiner Pluralismus-Theorie. Jedenfalls tauchen A. E. F. Schäffle, K. Mannheim und M. Weber in der 1932er Fassung noch auf (1963 (1932), S. 22, FN 4,), in der 1933er Fassung ist der Teil, der sich mit dem Staat und dem

1.4. Zusammenfassung

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Politischen beschäftigt und in dem die erwähnten Autoren auftauchen, gestrichen. Schmitt 1931. Kelsen 1931. Vgl. zum Folgenden v.a. Kelsen 1922; ders. 1934. So Raphael Gross in seiner glänzenden Studie über C. Schmitts Antisemitismus; vgl. Gross 2005: 260; Herv. i. O. Schmitt 1963: 38f.; Herv. i. O. Schmitt 1963: 46. Schmitt 1963: 59. Marchart 2010: 21. Marchart 2010: 21f. Schmitt 1963: 33. Trotzki 1929. Marchart 2010: 27. Schmitt 1963: 46. Werden der Staat oder die Verfassung als Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung angegriffen, „muß sich daher der Kampf außerhalb der Verfassung und des Rechts, also mit der Gewalt der Waffen entscheiden.“ Schmitt 1963: 47; Herv. i. O. Innenpolitisch ist das dann der entfesselte Bürgerkrieg. Greven 1999: 59f. Schmitt 1963: 39. Ebd. Schmitt 1996 (1922): 37. Schmitt 1996 (1922): 37f. Schmitt 1996 (1922): 37. Hier ist vor allen an die beiden zentralen Bücher zu denken, die sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschrieben haben. Zunächst „Empire. Die neue Weltordnung“ im Jahr 2002 und dann „Multitude. Krieg und Demokratie im Empire“ aus dem Jahr 2004. Zu der langsam unüberschaubar werdenden Literatur zu den beiden Werken vgl. den euphorisch zustimmenden Text von Brieler 2010. Vgl. Hardt/Negri 2004: 13. Hardt/Negri 2004: 77. Unsichtbares Komitee 2010: 11f. Die Figur des blinden Flecks geht prominent zurück auf Niklas Luhmann; vgl. Luhmann 1985: bes. 444; ders. 1997: bes. 1095f. und 1121f. Schmitt 1963: 28. Schmitt 1963: 30. Ebd.; alle Herv. i. O. Zit. nach Straßenberger/Münkler 2016: 31. Oakeshott 2000: bes. 16. Vgl. dazu auch Greven 2009; Oakeshott 2000.

61 50 Greven 2009: 36. 51 Offe 1989. 52 Vgl. dazu und zum Folgenden etwa Hirschman 1970. 53 Greven 2009: 50. 54 Elias 1976 (1939). 55 Greven 2009: 71; das innere Zitat ist einem Interview mit Karl-Dietrich Bracher entnommen, das in der Neuen Politischen Literatur im Jahr 1997 veröffentlich wurde; vgl. dazu NPL 2/1997, S. 259. 56 Diese Auffassung von Politisierung unterscheidet sich grundlegend von den Aspekten, die Martin Rhonheimer unter dem Stichwort „Politisierung“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie abhandelt; vgl. Rhonheimer 1989. 57 Greven 2009; ders. 2000. 58 Im Deutschen ist allein der Webersche Begriff des „Politik treiben“ angemessen, im Französischen „faire de la politique“. Neben dem Englischen „politicking“ hat auch das Finnische eine eigene Verbform, nämlich „politikoida“; vgl. dazu Palonen 2003: 4. 59 Unter Performanz verstehe ich hier die Aufführung oder den Vollzug einer Handlung, die ein handelndes Subjekt voraus setzt. Performativität dagegen negiert die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts. Die Performanz einer Äußerung oder Handlung dagegen betont den Sachverhalt, dass das Äußerungssubjekt und die Handlung, die vollzogen werden soll, erst durch einen Äußerungsakt hervorzubringen ist. 60 Palonen 1998: 336; Herv. i. O. 61 Palonen 1998: 335. 62 In seiner Heidelberger Antrittsvorlesung aus dem Jahr von 1960 hat D. Sternberger dies konzentriert formuliert. In vielen seiner anderen Schriften ebenfalls, aber immer als mitlaufende Prämisse; vgl. Sternberger 1984a; ders. 1986 und ausführlicher unten Kap. 9.2. 63 Das alles geht natürlich auf C. Schmitt zurück und wurde von mir in Kap. 1.1. und 1.2. ausführlich dargestellt. 64 Dies hat C. Schmitt immer wieder betont (vgl. etwa Schmitt 1932: 46) und seine Nachfolger sehen dies ebenso. 65 Das ist die Grundprämisse von Anthony Downs, nach dem die politischen Parteien mit politischen Konzepten hervortreten, um Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht die Wahlen, um mit politischen Konzepten hervorzutreten; Downs 1968: 28.

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung: Das Schäfflesche Moment Wann, womit und mit wem beginnen? Das ist die zentrale Frage aller zeithistorisch orientierten Geschichtsschreibung. Rein kalendarisch beginnt das 20. Jahrhundert mit einem eindeutigen Datum und es versteht sich von selbst, dass just zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend eine neue Idee entspringt oder eine Neuorientierung des Politikbegriffs beginnt. Die Frage nach dem Zeitpunkt muss also anders beantwortet werden. Gleiches gilt für die Frage nach der Person. Wer hat als erster Autor eine Neukonzeptionalisierung eines Begriffs riskiert, die eine deutliche Differenz zu allem Bisherigen sichtbar macht? Schließlich: Warum war es gerade diese Person und welche persönlichen und sozialen Kontexte haben das begünstigt? Hier ist der Begriff des Moments hilfreich, weil er den neuen Zeitpunkt, die neue Substanz und die dafür verantwortliche Person miteinander verbinden kann. Das Moment verdeutlicht zunächst einen Zeitpunkt, ab dem etwas Neues, bisher nicht Dagewesenes formuliert wird. Zugleich leitet es eine Dauer, einen Zeitabschnitt ein, innerhalb dessen das Neue die wissenschaftliche Diskussion und das politische Denken prägt, aber nicht gleich dominiert. In der Regel kann man auch eine Person identifizieren, die das Neue zum Ausdruck gebracht und – in welcher Form auch immer – in die Öffentlichkeit getragen hat. Schließlich steckt der Begriff ein Feld ab, indem sich nun neue Autoren positionieren, sich durch Verweise miteinander verbinden und ein „Gewebe politischer Diskurse“1 entstehen lassen. In diesem Feld ist das Neue umstritten. Manche kritisieren es heftig, andere unterstützen seinen Kern, wieder andere entwickeln es weiter oder setzen neue Akzente. Das Neue wird zu einem umstrittenen, gleichwohl etablierten Begriff oder Denkmuster und bringt für eine gewisse Zeitspanne etwas Selbstverständliches zum Ausdruck. Irgendwann wird jemand anderes einen neuen und provokanten Begriff oder Gedanken formulieren, der erneut einen Moment markiert und den eben beschriebenen Prozess erneut auslöst – oder auch nicht. Das Neue des Politikbegriffs im 20. Jahrhundert wurde zwar nur kurz, aber dennoch vor der Jahrhundertwende formuliert. Es war im Jahr 1897 und viele Theoretiker, Wissenschaftler und politische Denker wurden von dieser Neuorientierung beeinflusst. Was war nun das Neue, das in diesem Moment formuliert wurde? Politik wurde von allen feststehenden, vorgegebenen und invariablen Vorstellungen – wie etwa „das Gute“ zu realisieren – gelöst und zu einem Prozessbegriff umgeschmolzen. Politik ist ein dynamischer und endloser Prozess, in dem verschiedene Akteure mit jeweils verschiedenen Vorstellungen um Anerkennung kämpfen und ihre Position zur momentan geltenden machen wollen. Politik

2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

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öffnet sich gegenüber Variationen und Wandlungen und wird in eine Prozesskategorie übersetzt. Das, was dann entschieden wird und zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Sachverhalt verbindlich regeln soll, entsteht in einem Prozess mit offenem Ausgang, indem verschiedenste Aspekte ver- oder gehandelt werden. Eine Entscheidung kann aber nicht mehr von einer übergeordneten und invariablen Norm deduktiv abgeleitet werden, diese Zeit ist nun vorbei. Politik wandelt sich zu einer Aktivität, die neue Spielräume schafft, das Gegebene in Frage stellt, neue Möglichkeiten eröffnet – und durch eine politische Entscheidung diesen Möglichkeitshorizont vorübergehend schließt. Denn sie kann sofort nach ihrer Fällung politisiert und damit in Frage gestellt werden. Diese rein formale Bestimmung von Politik als Aktivität des Spielräume-Schaffens markiert den Bruch zu allen alten Politikvorstellungen, die immer von der Realisation vorgegebener Substanzen ausging: Der Realisation des Guten im aristotelischen Sinne, der Staatsräson oder was auch immer die Substanz ausmachte. Der finnische Politologe und Ideengeschichtler Kari Palonen hat in verschiedenen historischen Studien den Wandel des Politikbegriffs in Europa untersucht. Er hat dabei festgestellt, dass wir es zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem Wandel vom Substanz- bzw. Disziplinbegriff zum Handlungsbegriff zu tun haben.2 Diesen Wandel will ich nicht erneut nachzeichnen, was angesichts der überragenden Quellenarbeit von K. Palonen auch vergebliche Mühe wäre. Was ich stattdessen versuche, ist mich auf drei Texte zu konzentrieren und diese im Detail und vor allem in ihrem Gewebe zu untersuchen. Ich betrachte diese Texte als ‚Fenster‘, durch die ich nach draußen auf die Landschaft der Politikbegriffe blicke und versuche, das jeweils Neue, die Zusammenhänge und die gemeinsamen Bezugspunkte ebenso herauszuarbeiten wie die Differenzen. Der für das Jahrhundert bahnbrechende Text wird von Albert E. F. Schäffle im Jahr 1897 verfasst und deshalb spreche ich vom Schäffleschen Moment. Das Kapitel beginnt mit der Darstellung seiner grundlegenden Ideen (Kap. 2.1.). Der Wissenssoziologe Karl Mannheim hat seine Gedanken aufgenommen und weitergeführt, ja fundamental weiterentwickelt. Er führt im Detail aus, welche Positionen bestimmte soziale Kräfte in der Sozialstruktur der Gesellschaft einnehmen und wie diese Stellung ihre politische Programmatik bestimmt. Karl Mannheim spricht von „Denkstilen“, durch die sich die politischen Kräfte unterscheiden und Differenzierungen bei der Wahrnehmung und Interpretation von sozialen Sachverhalten und bis in die Logik hinein bedingen. Welche Position sich im politischen Kampf durchsetzt und warum und wie, ist nicht berechen- und erwartbar (Kap. 2.2.). Max Webers Vortrag vor Studierenden in München, bei dem er über „Politik als Beruf“ sprach, kann als Versuch gelesen werden, zentrale politische und politologische Grundbegriffe neu zu umreißen und stellt einen wichtigen Baustein im ‚Gewebe‘ dieses Diskussionsfeldes dar (Kap. 2.3.). Dass M. Weber viele zentrale Ideen und Begriffe von A. E. F. Schäffle ohne Verweis auf ihn über-

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

nommen hat, sei hier nur am Rande, aber der Vollständigkeit halber erwähnt. Ein kurzer Versuch, das Neue dieser drei Autoren zusammenzufassen, schließt diesen Teil des Buches ab (Kap. 2.4.).

2.1. Politisches Handeln bei Albert E. F. Schäffle: Politik als Verflüssigung und des Zu-Ende-Schaffens Der deutsche Politiker, Nationalökonom und Soziologe Albert E. F. Schäffle hat 1897 – auf Wunsch der Leserschaft – in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ einen Artikel „Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik“3 geschrieben, der für meine Spurensuche das Moment markiert, aber in der Ideengeschichte weitgehend unberücksichtigt blieb.4 Hier vollzieht A. E. F. Schäffle eine radikale Neubestimmung des Politikbegriffs, indem er ihn nicht nur vom Staatsbegriff löst, sondern zugleich als Handlungsbegriff konzipiert, der keinem ex ante bestimmten Staatszweck bzw. einer Staatsräson folgt, sondern durch seine prinzipielle Offenheit und Ziellosigkeit charakterisiert ist. Zunächst führt A. E. F. Schäffle eine Trennung des Staatslebens in Politik einerseits und durch Recht und Bürokratie geprägte Tätigkeiten andererseits ein. Der eine Teil ist der der „Flüssigkeit, des Werdens, der Veränderung, der erst im Einzelfalle fertig zu bringenden Entscheidung, des erst zu Schaffenden, oder der Erhaltung als eines fortgesetzten Neuschaffens.“5 Der andere ist das feststehende, festgeordnete und gleichmäßig sich vollziehende Staatsleben, Man kann – so A. E. F. Schäffle weiter – den ersten Teil „in all ihren Erscheinungen als Politik“ und die andere Seite als „laufendes Staatsleben“ bezeichnen.6 Die gegebenen Träger der Macht, also die staatlichen Gewalten, Beamte, Vertretungskörper und das politische Publikum, sind als feststehende und fixierte Machtgrößen laufendes Staatsleben, weil sie „gesamtheitliches Wollen unverrückbar festhalten und auf mehr oder weniger gleichmäßig wiederkehrende, allseitig fest normierte Bedürfnisfälle staatlicher Art“7 konzentriert sind. In M. Webers Terminologie wäre das die rational bürokratische Herrschaft, die sich als feststehender Prozess in immer wieder neuen und sich in gleichlaufend wiederholenden, fast automatischen Abläufen vollzieht. Dagegen steht die Politik für eine Tätigkeit, eine Aktivität und eine Form des menschlichen Handelns, die – dies soll länger zitiert werden – davon ausgeht, „dass gesamtheitliches Wollen nicht ein für alle Male im voraus hergestellt und für immer gegeben ist, dass Größe, Art und Verteilung der gesamtheitlichen Macht auf verschiedene Träger wechselt, dass die Macht sorgfältig erst zu bilden und immer wieder neu zu gliedern ist, dass die Macht gebenden Kräfte immer wieder neu gesammelt werden müssen, dass nicht für jeden einzelnen Bedürfnisfall durchgreifend ein ins Einzelne durchreichendes positives Recht sich im voraus aufstellen lässt, dass erst im gegebenen Fall die staat-

2.1. Politisches Handeln bei Albert E.F. Schäffle

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lich zweckmäßigste unter mehreren möglichen Anwendungen des Gesamtwillens und der Macht zu finden, rein mechanisch laufende Staatsthätigkeit überhaupt ausgeschlossen ist.“8 „(....) Gar vieles ist flüssig, erst im Werden und nach Zeit wie Umständen zu machen, daher – politisch zu erledigen.“9

Politik wird hier als Verflüssigung, Veränderung oder umkämpfte Bewahrung des Bestehenden verstanden. Die Macht- und Willenskonstellationen sind veränderbar und die Um- und Neugruppierungen sind genuin politische Kämpfe, die als interaktive Auseinandersetzung mit ungewissem Ausgang konzipiert sind. Zeit und Umstände wandeln sich, die Kontexte der Politik variieren und eröffnen Chancen und Möglichkeiten. ‚Politisch erledigen‘ heißt, eine verbindliche Entscheidung zu treffen, die dann das Bewegte festhält und zur verwaltenden Staatstätigkeit werden lässt. Zwar bewegt sich die Politik innerhalb von strengen Gesetzen (den positiven Gesetzen und dem Sittengesetz), aber sie hat „ihren breitesten Boden und ihren reichsten Inhalt auf dem Boden der Fort-, Um- und Rückbildung des Bestehenden. Dafür gilt es, gesamtheitliches Wollen zu erzeugen und die zielführenden Mittel zu gewinnen, statt feststehendes Recht mit schon gegebenen Mitteln nach zeitweilig unveränderten Regeln zur Geltung zu bringen. Der für jede Zeit überaus inhaltsreiche und weite Kreis der Entwickelung des Ganzen im Einzelnen und des Einzelnen im Ganzen aus der Gegenwart heraus in die Zukunft hinein, das Entstehenlassen aus dem Bestehenden heraus, das Wachstum und der Verfall der Volksgemeinschaften sind die an Politik reichsten Gebiete staatlicher Thatsachen.“10

Die hauptsächliche Bedeutung der Politik liegt in der Kontingenzproduktion sowohl bei der Neuformierung von Machtverhältnissen als auch bei konkreten Policy-Entscheidungen. Beides eröffnet neue Möglichkeiten und neue Spielräume. Das Schöpferische, Neue, Flüssige ist als radikaler Gegensatz zur Routine und zur Wiederholung in bürokratischen Handlungsmustern konzipiert und Verflüssigen wird nun zum wesentlichen Merkmal der Politik. Sie ist durch keine Substanz, keine vorgegebenen Zwecke und Ziele, wie etwa die Staatsräson11, gekennzeichnet, sondern durch die Qualität des Neue-Spielräume-Schaffens. Politische Entscheidungen sind dann die Mechanismen, die diese Offenheit für kurze Dauer schließen und stabile Ordnungsmuster kreieren, die aber durch Politik sofort wieder hinterfragt und in Bewegung gesetzt werden können. Das Verhältnis von Öffnen und Schließen ist bei A. E. F. Schäffle asymmetrisch gedacht: Politik verkörpert den Primat des Öffnens, während Entscheiden und das Abschließen der Situation eine unvermeidliche, aber sekundäre Rolle spielt. Auffällig an dem Text sind die verwendeten Begriffe, die das bisherige Repertoire umschreiben.12 A. E. F. Schäffle verwendet an vielen Stellen das Wort „Politik treiben“, das M. Weber später wörtlich und ohne Quellenangabe übernimmt und in „Politik als Beruf“13 eine zentrale Rolle spielen wird. A. E. F. Schäffle hat dies vorweggenommen. Denn Staatsoberhäupter und Minister „treiben Politik“,14 sofern sie neue Machtkonstellationen bewirken wollen; wer nur repetitive

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

Tätigkeiten und Routinen vollzieht, der treibt nicht schon, wenigstens nicht ausschließlich und gänzlich Politik. Dagegen wird die von politischen Parteien betriebene Tätigkeit des Aufbaus und der Konzentration von politischer Macht für bestimmte Entscheidungen und v. a. die politische Agitation „als ein hervorragend ‚politisches Treiben‘ angesehen.“15 Und an anderer Stelle hat er festgehalten, dass Beamte, die eigentlich keine Politiker sind, dennoch „Politik treiben“, wenn sie ihre Vorgesetzten auf Missstände im Volksleben aufmerksam machen.16 Hat M. Weber den Text von A. E. F. Schäffle womöglich doch gekannt, hat er diese Begrifflichkeit wegen ihrer Anschaulichkeit und wegen seines ähnlich gelagerten Denkens einfach übernommen, ohne sich der Quelle bewusst zu sein? Oder hat er sie – was mir offensichtlich erscheint – einfach nicht angegeben?17 Heute würden wir sagen, dass M. Weber ein großer Plagiator war, aber für ihn war ein solches Vorgehen (oder Vergehen?) bei der Prägung seiner nominalistischen Grundbegriffe selbstverständlich. Wie dem auch sei: Politik ist nichts Feststehendes, also keine Substanz, kein vorgegebener Wille, kein feststehendes Gemeinwohl, weder das aristotelische „Gute“ noch eine zweckorientierte Staatsräson, sondern ein Phänomen der Kontingenz, das immer erst hervorzubringen, immer erst zu Ende zu schaffen, immer erst zu entscheiden ist. Aber auch das bereits Feststehende ist der Dynamik des Verflüssigens durch Politik ausgesetzt. Die Akteure der Politik sind nicht – wie man vermuten könnte – die obersten Regierungsorgane, sondern auch die Parteiführer, Volksvertretungen oder auch Einzelne, die in „geselligen Kreisen“18 auftreten und um ihre Positionen kämpfen. Politik als Kampf – das ist nicht erst bei M. Weber eine zentrale Prämisse, sondern bereits bei A. E. F. Schäffle prominent. Zwar tauchen Interessenorganisationen oder zivilgesellschaftliche Akteure nicht explizit auf, aber die ‚alten‘ sozialen Bewegungen, die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen, sind bei ihm durchaus relevante Akteure, die Politik ebenso treiben wie das „politisierende Publikum“.19 Hier findet man bereits eine Dreiteilung in Politik, Verwaltung und Publikum, mit der dann N. Luhmann später in seinen systemtheoretischen Analysen des politischen Systems arbeitet.20 Zudem sieht A. E. F. Schäffle, dass Politik eine Tätigkeit ist, die mit Leidenschaften, Intensitäten und Emotionen operiert. Politik hat eine bestimmte Erlebnisqualität, wenn er z.B. schreibt, dass Wahlen das ganze Volk in „die politische Siedehitze des Wahlkampfes“ versetzen oder „in lichter Lohe die Rivalität“ zwischen politischen Persönlichkeiten entbrennt, seien es Parteiführer oder andere Politiker.21 Politik ist also nie ohne Leidenschaft spielbar und auch nicht denkbzw. analysierbar. Damit ist ein erster Markstein gesetzt: Politik und Verwaltung bzw. mechanische Staatstätigkeit lassen sich deutlich trennen und Politik ist der Teil, der sich zwar in den Institutionen und Regeln streng nach dem positiven oder dem Verfassungsrecht vollzieht, aber gleichwohl erhebliche Spielräume hat und sich auf

2.2. Karl Mannheims Verschärfung

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das Verflüssigen des Alten und Gestalten des Neuen konzentriert. Hierbei eröffnet sich ein weiter Spielraum, in dem das schöpferische, kreative, zukunftsorientierte Handeln sich ausspielen lässt und sich auf die Neuformung und Beherrschung von politischen Machtkonstellationen konzentriert. Das staatliche Leben ist somit zweigeteilt: in rational-bürokratischen Vollzug einerseits und in Politik anderseits, was für damalige Verhältnisse bahnbrechend war. Politik vollzieht sich in und ist begrenzt durch die zentralen Organe des Staates (Regierung, Parlament), aber vollzieht sich auch außerhalb und jenseits staatlicher Institutionen durch das ‚politisierende Publikum‘.22 A. E. F. Schäffle sieht also, dass es eine Politik ‚von unten‘ gibt und die von außerstaatlichen Kräften ausgeht. Politik wird immer mit Leidenschaften gespielt. Sie ist nie allein rationales oder interessiertes Handeln, sondern hat immer eine emotionale, leidenschaftliche und thymotische23 Dimension, die später aus dem Politikbegriff mehr oder weniger herausdefiniert wurde.24

2.2. Karl Mannheims Verschärfung: Rationaler Staat und Politik als „irrationales Spiel“ In Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ findet sich ein Kapitel, das mit „Kann es eine Wissenschaft von der Politik geben?“25 überschrieben ist und von der politischen Theorie bzw. der Politikwissenschaft – ebenso wie A. E. F. Schäffles Schrift – faktisch ignoriert worden ist. Was interessiert den Wissenssoziologen Mannheim an der Wissenschaft von der Politik und was die Politikwissenschaftler nicht? Ihn interessiert das Aufkommen und Verblassen von Problemen und ganzen Disziplinen, von denen die Wissenschaft von der Politik eine ist – oder sein könnte. Er will diese Fragestellung jedoch nicht aus der „Froschperspektive“ von Einzelnen untersuchen, sondern aus dem gesellschaftlichen Kontext heraus. Während die Soziologie und die Ökonomie – wenn auch in den verschiedenen Ländern mit je unterschiedlichen Dynamiken – bereits zu anerkannten Wissenschaften geworden sind, so sieht er das für die Politik nicht, wobei sie jedoch mindestens die gleiche Bedeutung, die gleiche Schicksalhaftigkeit hat wie die beiden anderen Disziplinen. Und er fragt sich, warum gerade „Politik noch nicht zur Wissenschaft geworden ist?“26 Er gibt sich und dem Leser zwei mögliche Antworten: Zum Einen ist sie „noch nicht“ eine Wissenschaft, weil es bisher zu wenig systematische Untersuchungen gibt, die aber im Laufe der Zeit erfolgen und in der Summe eine Wissenschaft von der Politik begründen könnten. Zum Anderen – und das ist die beunruhige Antwort – könnte es sein, dass sich der Gegenstand selbst gegen eine Verwissenschaftlichung sperrt, dass es also eine „Grenze des Wißbaren (gibt), die ein für allemal unüberschreitbar ist?“27

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

Was die Realpolitik angeht, also das Wissen, das ein Politiker für sein praktisches Handeln braucht, so könnte man aus dem unendlichen Wissensstoff die Praktiken herausdestillieren, die den handelnden Personen nützlich sein könnten. Hier stünde man allein vor der Frage, welche Praktiken relevant wären und welche nicht. Man könnte eine solche Auswahl auch aus pädagogisch-didaktischen Gründen treffen und eine Art Curriculum für brauchbare Realkenntnisse entwickeln. Das aber ist nicht das Problem, denn Politik handelt nicht – wie die anderen (Sozial)Wissenschaften – von Gesellschaft und Staat als geschichtlich gewordenen Gegenständen. Vielmehr „zielt politisches Handeln dagegen ab auf Staat und Gesellschaft, sofern diese im Werden begriffen sind. Das politische Handeln geht auf das Schöpferische im Augenblick, um aus den strömenden Kräften Bleibendes zu gestalten. Die Frage ist also die: Gibt es ein Wissen vom Fließenden, Werdenden, ein Wissen von der schöpferischen Tat?“28

An dieser Stelle kommt nun A. E. F. Schäffle ins Spiel. Er unterteilt – so K. Mannheim – das gesellschaftliche und soziale Leben in zwei getrennte Bereiche. Einmal in eine „gesellschaftliche Geschehensreihe“, in der alles sich gleichmäßig vollzieht und das Handeln „gleichsam festgeronnen“ ist, sich also in immer neuen Anläufen mehr oder weniger unverändert wiederholt. Zum Anderen in jenen, in dem alles sich im „Zustand des Werdens“ befindet und Entscheidungen „Neuformierungen“ zu Stande bringen.29 „Jeder gesellschaftliche Prozess ist zerlegbar in festgeronnene Bestandteile, ‚rationalisiertes Gebiet‘, und in einen ‚irrationalen Spielraum‘, von dem die ersteren umschlossen werden. (...) Handeln beginnt erst dort, wo der noch nicht rationalisierte Spielraum anfängt, wo nicht regulierte Situationen zur Entscheidung drängen.“30

Die Bezeichnung des irrationalen Spielraumes ist bei K. Mannheim ein bewusst gewählter Gegenbegriff zur M. Weberschen Rationalität, der sich auf alle Formen rational-bürokratischer Herrschaft und auf alles festgelegte Handeln bezieht. Rational sind all die Bereiche, die bereits durch Recht, strikte Verhaltensnormen und Bürokratie geregelt sind und in denen Menschen nach festgelegten Regeln handeln. Der irrationale Spielraum ist dann der Bereich, indem es keine Regeln gibt, den man gleichwohl durch Entscheidungen schließen muss. Irrational ist aber nicht identisch mit unvernünftig, erratisch, völlig beliebig, verrückt o. Ä., sondern als Gegenbegriff zu „rational“ im Sinne rationaler Herrschaft oder rationalem Handeln. Es muss Situationen geben, in denen und für die noch keine politischen Entscheidungen getroffen wurden und in dem Sinne offene Situationen sind, als in ihnen verschiedenste Möglichkeiten realisiert werden können. Der Begriff des Irrationalen will aber nicht nur solche ungeregelten Situationen markieren, sondern auch auf den Mangel an vernünftigen Gründen für diese oder jene Optionen hinweisen, die dann unvermeidlich dezisionistischen Charakter annehmen.31 Denn im Bereich der Politik stehen sich „politische Wollungen“, also politische Parteien, gegenüber, die bestimmte Weltsichten haben und in der

2.2. Karl Mannheims Verschärfung

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freien Konkurrenz um Anteile an politischer Macht kämpfen. „Die Machtkompetenzen im staatlichen wie im zwischen-staatlichen Leben sind im irrationalen Kampfe errungen, wo also die Entscheidungen des Schicksals ausschlaggebend sind.“32 Und eben hier findet Politik statt bzw. wird Politik betrieben. K. Mannheim entwickelt einen weiteren Gedanken, der über A. E. F. Schäffle hinausgeht und für die wissenschaftliche Analyse der Politik zentral ist: Er sieht klar, dass die politischen Parteien bzw. die großen ideologischen Strömungen seiner Zeit (Sozialismus, Konservatismus, Liberalismus, aber auch Faschismus und Bürokratismus) sich mit einem spezifischen Wissen wappnen. Dieses Wissen ist politisches Wissen. Die ideologischen Strömungen sind nicht nur als „Denkstile“ zu betrachten, deren Differenzen „bis in das Gebiet der Logik hineinragen“33 und bereits die Art der Problemstellung sowie mögliche Handlungsoptionen beeinflussen. Die politischen Wollungen kämpfen zugleich um Anteile an Macht, was „fließende, im Werden begriffene, sich stets umformende Strebungen und Entelechien“ ebenso zur Folge hat wie sich wandelnde Kräftekonstellationen, die in „immer unberechenbareren Kombinationen“ auftreten.34 Politisches Wissen35 ist weder reine Betrachtung, evidenzbasiertes oder gar wissenschaftliches Wissen, noch diskursiv ermittelte Wahrheit. Vielmehr entsteht politische Erkenntnis „erst im Handeln und im Sich-Auseinandersetzen mit der Welt“ und „Selbsterkenntnis und Erkenntnis des anderen (sind) unzertrennbar verflochten mit Handeln und Wollen.“36 Erst in politischen Kampfkonstellationen entsteht politisches Wissen, das eben auch Kampfwissen und nicht nur Weltsicht ist. Hier tritt Handlungskontingenz37 auf, die sich aus der Unberechenbarkeit anderer Akteure38 ebenso ergibt wie aus den parteipolitisch bzw. ideologisch festgelegten ‚Denkstilen‘. Manche Denkstile, wie etwa der Sozialismus, setzten auf das überraschende Moment in der geschichtlichen Entwicklung, auf die revolutionäre Situation, in der sich die Leidenschaften der Massen entladen, in der alles möglich erscheint und in der durch Politik völlig Neues geschaffen werden kann. Das „Offensein gegenüber dem günstigen Augenblick“39 ist hier zentral und damit das Schaffen oder Ausnützen von sich zufällig ergebenden Zeitfenstern. Hintergrundkontingenz40 äußert sich in der grundlegenden Umkämpftheit der durch die Denkstile bedingten, unterschiedlichen Wahrnehmungen einer sozialen Situation, in die immer ein ganzer Komplex von ‚Fakten‘, Bedeutungen, Gelegenheiten, Möglichkeiten und Handlungsoptionen eingeht und die daher nie Gegenstand einer ‚objektiven‘ oder sachlichen Problemanalyse sein können. Das alles ist zugespitzter Ausdruck von irrationaler Politik. Im Mittelpunkt des K. Mannheimschen Denkens steht somit auch die Kontingenz des Bestehenden. Das Verflüssigen, das In-Bewegung-Setzen, das Umwerfen der gegebenen Kräftekonstellationen (mit unvorhersehbarem Ausgang), alles das ist nichts weniger als die Einführung von Kontingenz in das Gegebene. Und genau das ist es, was Politik vollzieht. Zugleich wird deutlich, dass politische Ent-

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

scheidungen immer willkürlich sind in dem Sinne, dass politisches Denken und Wahrnehmen immer politisch ist, konkret: dass Weltbetrachtung und die in sie eingehenden Ideologien, Ideen und Interessen stets eine untrennbare Einheit von Betrachtung und potentieller Entscheidung sind, die eben nicht rational und objektivistisch sind, sondern immer ein ‚irrationales‘ und willkürliches Element in sich tragen. Dieses Irrationale ist die unhintergehbare Entscheidungssituation, in der zwar der jeweils spezifische Denkstil einen groben Rahmen von möglichen Optionen gegenüber anderen absteckt, aber innerhalb dieses Rahmens sich Entscheidungen mehr oder weniger dezisionistisch ergeben. Denn Entscheiden heißt sich festlegen in einer Situation, die nicht durch Regeln durchstrukturiert ist, die neue Möglichkeitshorizonte eröffnet und in der es keine abschließenden Gründe gibt. Wie A. E. F. Schäffle, wenn auch deutlicher, sieht K. Mannheim Situationen, in denen „Handeln und Politik notwendig wird.“41 Der Spielraum eröffnet neue und vielfältige Wege, die jedoch um der Ordnung Willen entschieden und zur rationalen Ordnung umgeschmolzen werden müssen. Erneut ist das Verhältnis von Schließen und Öffnen – wie bei A. E. F. Schäffle – asymmetrisch, aber diesmal zugunsten der Ordnungsbildung. Dies ergibt sich auch aus K. Mannheims weiteren Überlegungen, ob es eine Wissenschaft von der Politik geben kann. Es kann sie nicht geben, aber eine Synthese der verschiedenen politischen Denkstile durch „freischwebende“ Intellektuelle, die in der Lage sind, eine rationalere und planbare Politik als zentralen Ordnungsfaktor zu entwickeln. Aber immer bleibt ‚irrationales‘ und grundloses Entscheiden zentrales Merkmal des politischen Handelns.

2.3. Max Webers Frage: Politik in der Massengesellschaft und als Kampf um Möglichkeitshorizonte Kari Palonen – an ihm und seiner Interpretation des Weberschen Werkes orientiere ich mich im Folgenden weitgehend – sieht die kleine Schrift „Politik als Beruf“42 als „ein Fragment zu ‚Politologischen Grundbegriffen‘“.43 Nach M. Webers Grundprämissen des soziologischen Denkens „(bildet) die Soziologie (...) Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt.“44

Die Politologie kann man etwa in der Mitte zwischen beiden Positionen verorten – also als die Wissenschaft betrachten, die auch typenbildend arbeitet (hierin besteht ihr Gegensatz zur Geschichtswissenschaft), aber nicht ausschließlich auf „Typen-Begriffe“ und „generelle Regeln des Geschehens“ zielt (hierin besteht ihr

2.3. Max Webers Frage

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Gegensatz zur Soziologie). Aus der Weberschen Sicht müsste man dann davon ausgehen, „dass Politik als Handeln prinzipiell jede Regel brechen und neue Regeln schaffen kann. Die Politologie wäre demgemäß eine Wissenschaft, die darauf ausgerichtet ist, die Eigenart dieser regelbrechenden und -bildenden Tätigkeit ‚deutend zu verstehen‘.“45

Damit tun sich neue Perspektiven auf, unter denen man Politik begreifen und analysieren kann. Während bei A. E. F. Schäffle und K. Mannheim vor allem begrifflich-konzeptionelle Rekonstruktionen des Politikbegriffs im Mittelpunkt standen, konzentriere ich mich bei M. Weber auf die Topoi, mit denen er Politik als Aktivität beschreibt, und auf die Typen von Politikern, die diese Aktivitäten je unterschiedlich betreiben.46 Ich beginne mit Ersterem. Die Topoi bei M. Weber sind vielfältig, lassen sich aber auf drei wesentliche begrenzen. Zunächst sind Verben relevant, mit denen er die Politik als Aktivität beschreibt und die von A. E. F. Schäffle – wie oben angedeutet – zu großen Teilen übernommen sind. Drei Verben sind zentral, nämlich Politik treiben, nach Macht streben und dicke Bretter bohren. Sie alle bezeichnen Sachverhalte, die sich in einer Denkfigur bündeln lassen: Es sind zunächst von konkreten Zwecken unabhängige Tätigkeiten, die ausschließlich in der Veränderung des Status Quo ihren Sinn finden, dem Öffnen von Chancen und neuen Möglichkeiten und der Veränderung der Rahmenbedingungen. Beim Bohren47 ist – analog zum Streben – „die Veränderung das Primäre, das Ziel wird nicht genannt, vielmehr könnte als Resultat des Bohrens nur die Öffnung eines Spielraumes der Machtchancen erreicht werden, der zu unterschiedlichsten Zwecken benutzt werden könnte.“48

Bohren ist eine subversive Metapher, die zunächst nur Löcher und Brüche bringt, aber keine positiven Ziele formuliert. ‚Politik treiben‘49 meint Ähnliches: Es handelt sich um eine Aktivität, bei der das Ziel nie festgelegt sein kann, sondern die mit unsicheren Ergebnissen und Kontexten rechnen muss, aber genau diese Kontexte immer verändert und für neue Chancen öffnet. Und ‚Streben‘ nach Machtanteil „oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“50 verweist ebenfalls auf Veränderung, aber muss immer mit dem Widerstand Anderer rechnen, der den Ausgang des Strebens prinzipiell offen hält und unvorhersehbar macht.51 Untrennbar damit verbunden ist die Metapher der Politik als Kampf, die die kleine Schrift durchzieht. Der Kampf bedeutet, „den eigenen Willen gegen einen widerstrebenden anderen unter Orientierung an den Erwartungen des Verhaltens des anderen, durchzusetzen“.52 Der Kampf hat immer mit der „Kontingenz der Alterität“53 zu tun, weil die Anderen immer in ihren Aktivitäten berücksichtigt werden müssen und im Kampf Widerstand entgegensetzen. Der Kampf (mit Anderen) setzt auch die eigene Kontingenz voraus, denn man entwickelt seine eigenen Aktivitäten immer auch in der Erwartung dessen, was diese tun könnten. Die Anderen relativieren die eigene Position, die man an das unsichere, aber dennoch

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

erwartbare Handeln der Anderen anpasst. Der Beamte, der nicht nur bei A. E. F. Schäffle und K. Mannheim, sondern auch bei M. Weber immer als der Gegentypus zum Politiker auftaucht, ist eben kein Politiker, weil „Kampf, Werbung um Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft“ gerade nicht zu seinem Metier gehören. Der Politiker aber ist „Kämpfer“, denn der Kampf um politische Macht ist, wie K. Palonen anmerkt, für M. Weber zentral: „Die relationale und Aktivitätsdimension des Kampfes stecken den Horizont für die Eigenständigkeit der Politik als Handeln ab, sie machen sie sogar zum Paradigma eines Handelns, in dem der Kampf anwesend ist. (...) Die spezifisch politische Form des Kampfes kann somit als ein Komplex von intentionellem Streben und Widerstreben und deren wechselseitigen Nebenfolgen gedeutet werden. Die Interpretation dieser Nebenfolgen gehört aber schon zum Gegenstand des Kampfes. (...) Die besondere Nebenfolgenkontingenz des Kampfes wird durch die beiderseitige Unkontrollierbarkeit der Folgen des eigenen Handelns qualitativ noch gesteigert.“54

Politiker sind aber nicht nur Kämpfer, sondern sie kämpfen um etwas ganz bestimmes: um Anteile an politischer Macht. Hierbei umfasst der Machtbegriff bei M. Weber zwei Dimensionen: „Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht ‚um ihrer selbst willen‘, um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.“55 Beim Kampf um Macht geht es nicht um den Kampf der Machtlosen gegen die Machtvollen, sondern und vor allem um verschiedene Anteile an Macht bei den bereits über Macht Verfügenden.56 Eine bestehende Machtkonstellation zu verändern – das ist das zentrale Moment der Politik, das In-Bewegung-Bringen solcher Konstellationen und insofern eine rein formale Bestimmung. Denn es geht „bei der Macht nur um Mögliches, nicht aber um die Verwirklichung eines Zieles, Plans oder Projekts. In diesem Sinne kann die formale Zielsetzung der Politik als Streben nach neuen Möglichkeiten für das eigene Handeln gedeutet werden. Der Formalismus Webers liegt darin, dass Politik – anstatt als ‚Verwirklichung‘ gewisser substantieller Ziele – als Streben nach neuen Chancen für das eigene Handeln bestimmt wird, wobei deren Inhalt im Voraus nicht festgelegt werden kann. Man könnte von einer ‚Politik-als-Chancenschaffung‘ sprechen.“57

Macht ist somit eine Figur bzw. ein Topos, der sich auf einen Spielraum bezieht, konkreter: auf das Öffnen von Spielräumen und weniger auf eine faktische Konstellation. Der Kampf um Anteile an politischer Macht ist dann nicht primär Mittel für einen vorgegebenen politischen Zweck (die Realisierung eines Programms oder einer Policy), sondern vor allem und zunächst der Kampf um die (unbestimmte) Öffnung von Spielräumen. Dieser ergibt sich daraus, dass die Anderen Andere sind und im Prinzip das Gleiche wollen. Der Versuch, politisch etwas zu realisieren, also eine verbindliche Entscheidung über einen kontingenten Sachverhalt herbeizuführen, setzt den Kampf um die Möglichkeiten, um neue Chancen voraus, weil nur bei einem erfolgreichen Öffnen des Spielraums eine be-

2.3. Max Webers Frage

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stimmte Policy realisiert werden kann. Aber dieses Machtspiel gehorcht anderen Logiken als die Realisation eines bestimmten Programms oder einer Policy.58 Nach den Topoi der Politik komme ich nun zu den Typen der Politik bzw. der Politik Treibenden. Sie sind bei M. Weber ausgesprochen vielfältig und auch hier kommt seine Kontingenzorientierung zum Tragen. Der erste und wichtigste Typus ist der selbständig Leitende. Politik – so M. Weber gleich zu Beginn seiner Abhandlung – ist „jede Art selbständig leitender Tätigkeit“59 oder die „planvolle Behandlung und Führung einer bestimmten Angelegenheit.“60 Politik ist entgegen der Tätigkeit von Beamten, „die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates.“61 Politik zielt in diesem Sinne auf die Machtanteile, die man zur Leitung des Staates erkämpfen muss. Leitung heißt, Entscheidungen darüber zu treffen, was der politische Verband bzw. der Staat verwaltungs- und beamtenmäßig zu erledigen hat. Aber die Leitung selbst erfordert einen ganz anderen Geist als den der Ausführung von Entscheidungen. Leiten und Entscheiden sind eng verkoppelt, haben mit hoher Unsicherheit zu tun und sind Möglichkeiten erweiternde und ausnutzende Tätigkeiten, die zudem verantwortet werden müssen, während ausführen und verwalten unpolitisch sind. Neben den leitenden tritt dann der Gelegenheitspolitiker. Das sind wir alle, „wenn wir den Wahlzettel abgeben oder eine ähnliche Willensäußerung: wie etwa Beifall oder Protest in einer ‚politischen‘ Versammlung vollziehen, eine ‚politische‘ Rede halten usw. – und bei vielen Menschen beschränkt sich ihre ganze Beziehung zur Politik darauf.“62 Erneut sind die Parallelen zu A. E. F. Schäffle sichtbar, der vom politischen Publikum spricht, womit beide letztlich den politischen Staatsbürgerstatus meinen, sofern er durch politische Handlungen welcher Art auch immer aktiviert wird. Gelegenheit kann gelegentlich ebenso meinen wie eine Gelegenheit im Sinne einer Chance, einer Möglichkeit.63 Ihm zur Seite tritt der nebenberufliche Politiker, dessen Aktivitäten intensiver sind und alle die Personen umfasst, die bestimmte Tätigkeiten im Bedarfsfalle ausüben (Vertrauensmänner, Vorstände von politischen Vereinen und Parteien, herausgehobene Mitgliedspositionen u. Ä.), aber aus der Politik nicht ‚ihr Leben machen‘.64 Der hauptberufliche Politiker ist der Typus, dem Weber die meiste Aufmerksamkeit widmet und dem er in der politischen Gesellschaft eine herausgehobene Rolle zuschreibt. Er unterscheidet zwei Typen: Den für die Politik und den von der Politik lebenden. Ersterer macht im innerlichen Sinne sein Leben daraus, indem er den nackten Besitz der Macht genießt, oder „er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem Bewusstsein, durch Dienst an einer ‚Sache‘ seinem Leben einen Sinn zu verleihen.“65 Dieser Sinn ist jedem ernsthaften politischen Menschen inne, während der von der Politik lebende in ihr vor allem eine dauerhafte Einnahmequelle zu machen versucht. Dieses Von-der-Politik-Leben ist bedeutsam, weil der Berufspolitiker durch permanente Wahlen und der damit

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

verbundenen Unsicherheit seiner Einkommensquelle immer bedroht ist. Das Bestreben der von der Politik Lebenden geht deshalb immer dahin, diese Unsicherheit der Politik-als-Beruf zu reduzieren und sie durch andere Positionen im Staat oder in den Parteien dauerhaft abzusichern.66 Vom Beamten oder Verwaltungsmenschen unterscheidet sich der von der Politik Lebende eben durch die permanente Unsicherheit seiner beruflichen Position in der Demokratie. Die Folge ist Patronage: „(…) heute sind es Ämter aller Art in Parteien, Zeitungen, Genossenschaften, Krankenkassen, Gemeinden und Staaten, welche von den Parteienführern für treue Dienste vergeben werden. Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage.“67

Unter historischer und vergleichender Perspektive unterscheidet M. Weber dann noch verschiedene Untertypen des Berufspolitikers, von denen ich nur die wichtigsten erwähnen will. Das ist zum Einen der Boss, der an der Spitze einer Parteimaschinerie steht und vor allem in den USA zu beobachten ist. Bedingt durch Beobachtungen auf seiner USA-Reise ist dieser Typus für ihn prägnant geworden. Dann der Demagoge, der sowohl in der Antike, besonders aber heute wegen der an Bedeutung gewinnenden Massenmedien bedeutsam geworden ist. Der Demagoge ist seiner Ansicht nach „seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. Der unangenehme Beigeschmack des Wortes darf nicht vergessen lassen, dass nicht Kreon, sondern Perikles der erste war, der diesen Namen trug.“68

Perikles leitete die Ekklesia des Demos von Athen und beeinflusste deren Dynamiken nach seinen Vorstellungen. Demagogie und Demokratie werden hier als unvermeidliche Zwillinge betrachtet, weil die führenden Politiker sich immer der Rede und des gedruckten Wortes bedienen müssen, um die Massen zu beeinflussen und eine gegebene Machtkonstellation ins Wanken zu bringen. Der Boss ist erneut der zugespitzte Ausdruck dieses Typus, der „keine festen Prinzipien (hat), er ist vollkommen gesinnungslos und fragt nur: Was fängt Stimmen?“69 Dieses Verhalten wird heute als „vote-seeking“ oder Stimmenmaximierung bezeichnet, wobei sich die Berufspolitiker oft „vollkommen gesinnungslos“ an den Stimmungen des Elektorats orientieren und keine Policies geschweige denn ‚Lösungen‘ für gesellschaftliche Problemen realisieren. Vielmehr entwickeln sie Policies, um Stimmen zu maximieren.70 M. Weber hat – um zusammenzufassen – einen neuen Horizont im Politikbegriff geöffnet. Er unterteilt den Begriff der politics, der das politische Handeln als konflikt- und konsensorientiertes Handeln bezeichnet, in zwei neue Unterdimensionen bzw. Handlungstypen:71 Politisierung (oder politicization) verweist auf die Öffnung oder Markierung eines Sachverhaltes, der nun ‚politisch‘ werden soll. Politisierung wäre dann die Tätigkeit, die einen bisher noch nicht bespielten Ge-

2.4. Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung

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genstand bespielbar machen will oder einen bereits bespielten, der aber im Moment nicht bespielt wird, erneut bespielbar zu machen trachtet. Politicking wäre dann derjenige Handlungstypus, der sich in dem zuvor bespielbar gemachten Raum vollzieht. Hier wäre zwar auch der Kampf um Machtanteile anzusiedeln, aber vor allem das politische Spiel, das um seiner selbst willen gespielt wird: als reine Performanz, als in der Gegenwart sich abspielendes „Theater“, das durch die Brillanz oder den Dilettantismus seiner Spieler und ihres Spiels das politische Publikum oder auch andere politische Spieler beeindrucken und in Anteile an politischer Macht übersetzen will. Hier kommt insbesondere der Spielcharakter der Politik zum Tragen. All die Metaphern, die dies andeuten (Theater, Dramatik, Symbolik, Schauspielern etc.), sind durchaus angebracht und bezeichnen einen wichtigen Handlungstypus. Der gesinnungslose Boss ist der Prototyp dieses Spielers, der beliebig agiert und ein professioneller Opportunist sein muss. Aber auch der Demagoge ist ein solcher Spieler: Er manipuliert die Massen, spielt mit ihren Leidenschaften, Emotionen und politischen Regungen und macht sie für seine Spiele nutzbar. Alles ist ein Spiel mit Kontingenzen, das der Bürokratisierung trotzt und ihr entgegensteht. Aber diese Denkfiguren kennen wir seit A. E. F. Schäffle.

2.4. Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung: Über Rationalität und Irrationalität der Politik Das Schäfflesche Moment, das dürfte in den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden sein, ist der erste Baustein in einem um die Jahrhundertwende entstehenden Gewebe von Neudefinitionen der Politik, in dem die drei erwähnten Autoren eine zentrale Rolle gespielt haben. A. E. F. Schäffle hat den Anfang gewagt und festgehalten, dass das Wesen der Politik in erster Linie nicht die Realisation vorgegebener und überzeitlicher Inhalte oder Substanzen ist, sondern etwas ganz Anderes. Politik ist vor allem und wesentlich die Aktivität des Verflüssigens, des Veränderns oder des umkämpften Bewahrens des Bestehenden, die zugleich in verbindlichen, aber gleichwohl kontigenten Entscheidungen ihren Niederschlag findet. Die für die Politik reichsten Gebiete sind Entwicklungen des Einzelnen und des Ganzen „in die Zukunft hinein, das neu Entstehenlassen aus dem Bestehenden heraus.“72 Politik realisiert keine vorgegebenen Zwecke, wie etwa damals prominente Vorstellungen einer Staatsräson, sondern Verflüssigt das Bestehende und schafft Neues, wobei A. E. F. Schäffle strikt alle inhaltlichen Vorgaben oder Andeutungen vermeidet. Für K. Mannheim und M. Weber waren das unhintergehbare Vorgaben, an denen sie sich zum Teil wörtlich, wie etwa M. Weber, orientierten und für die Entwicklung ihrer eigene Politikbegriffe genutzt haben. Es entstand ein bisher nicht dagewesenes Geflecht von Begriffen, Katego-

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

rien, Ideen und Bezeichnungen, die dem Politikbegriff seine neuen Konturen gaben. Jeder dieser drei Texte formulierte einen eigens akzentuierten Politikbegriff und betont bestimmte und neue Aspekte, die die anderen Autoren nicht gesehen haben. Aus dem ‚Gewebe‘ dieser Diskussionen ergab sich dann ein umfassendes, weitgehend konsistentes und neues Bild der Vorstellungen von Politik. Im Zentrum aller drei Politikbegriffe steht die Dialektik von Öffnen und Schließen, also den Aktivitäten, die Kontingenz in eine gegebene soziale und gesellschaftliche Situation einführen und dann durch eine verbindliche Entscheidung festhalten. Öffnen meint das Verflüssigen des Status Quo und Schließen die Entscheidung für einen neuen Status Quo, der jedoch immer und erneut kontingent ist. Allerdings wird die Dialektik des Öffnens und Schließens jeweils unterschiedlich gewichtet. Bei A. E. F. Schäffle dominiert das Öffnen gegenüber dem Schließen, während bei K. Mannheim, vermutlich bedingt durch seine Erfahrungen und Beobachtungen in der Weimarer Republik, das Schließen gegenüber dem Öffnen dominiert. Für ihn hatte die Stabilität des Gegebenen einen wichtigen Stellenwert und er wusste, mit welcher Energie und v. a. auch mit welcher Gewalt manche politischen Strömungen gegen den Status Quo und gegen die politischen Gegner ankämpften. K. Mannheims Fortschritt gegenüber A. E. F. Schäffle bestand vor allem darin, dass er die politischen Formationen der damaligen Zeit an Hand ihrer ideologischen Grunddispositionen nicht nur beschrieb, sondern auch das darin begründete Konfliktpotential deutlich erkannte. Dass politische Konflikte im Zweifelsfall auch mit Gewalt ausgetragen würden, schien für ihn selbstverständlich gewesen zu sein. Immerhin hatte er seine Bemerkungen zur Politik Ende der 20er Jahre in der Weimarer Republik formuliert und die damaligen Klassen- und andere politische Kämpfe sehr genau beobachtet.73 M. Weber hat dem einen neuen Aspekt hinzugefügt, der bei den beiden anderen Autoren noch nicht aufgetaucht war: Politik treiben als reiner Selbstzweck, als Spiel, das nur um seiner selbst Willen gespielt wird und weder intentional auf das Öffnen oder Schließen des Gegebenen noch auf die zielgerichtete Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse orientiert ist. Politik wird von ihm deshalb auch als reine Performanz, als sich in der Gegenwart abspielendes politisches ‚Theater‘ betrachtet, das durch seine Brillianz oder seinen Dilletantismus das Publikum bzw. den politischen Gegner beeindrucken will. Zwar kann Politik etwas bisher nicht Politisiertes politisieren und somit auf die Tagesordnung der Politik setzten und bis zu einer verbindlichen Entscheidung treiben. Das haben auch die anderen zwei erwähnten Theoretiker gesehen. Aber M. Weber fügt dem eine neue Dimension zu, indem er das rein zweckfreie Spiel der Politik mit sich selbst sieht und analytisch in den Politikbegriff aufnimmt. Alle drei Theoretiker haben Türen geöffnet, durch die man nun die Politik anders beobachten und analysieren kann als bisher. Leider sind viele der von ihnen entwickelten und neu eingeführten Kategorien, Begriffe und topoi von der Poli-

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2.4. Politik als Spiel und Möglichkeitsbeschaffung

tik- und Sozialwissenschaft nicht weiter verfolgt oder vertieft, sondern im Lauf des Jahrhunderts schlicht vergessen worden. Vor allem am Ende des Jahrhunderts dominierten Begrifflichkeiten, die Politik vorwiegend oder gar exklusiv als rationales Problemlösen konzipieren. Damit wurde deren Spannbreite massiv eingeschränkt und auf einen Aspekt festgelegt, der in der Realität immer weniger zum Vorschein kam und trotz deutlicher empirischer Widersprüche als faktisches Phänomen unterstellt wurde. Anmerkungen 1 Llanque 2008. 2 Palonen 1985; ders. 1989; ders. 1998; ders. 2003. 3 Schäffle 1897. 4 Kari Palonen hat Schäffle in seiner Schrift über den Horizontwandel des Politikbegriffs in Deutschland erwähnt; vgl. Palonen 1985: 116f. Auch der frühe Niklas Luhmann beschäftigt sich mit ihm in seiner politischen Soziologie; vgl. Luhmann 2010: bes. 43-45, 157. 5 Schäffle 1897: 589. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Schäffle 1897: 592. 10 Schäffle 1897: 593. 11 Zum Begriff der Staatsräson vgl. statt vieler Meineke 1929; Münkler 1987. 12 Vgl. Palonen 1998; ders. 2001. 13 Weber 1992 (1919). 14 Schäffle 1897: 583. 15 Ebd. 16 Schäffle 1897: 584. 17 Kari Palonen vermutet, dass Weber den Text kannte, aber – wie auch in seinen anderen Schriften – bei seinen nominalistischen Begriffsbildungen keinen Bezug auf die Ausführungen anderer Autoren nahm; vgl. dazu Palonen 2001: 26. 18 Schäffle 1897: 591. 19 Schäffle 1897: 592. 20 Luhmann 1968; ders. 1981; ders. 2000a; ders. 2010. 21 Schäffle 1897: 592. 22 Ebd. 23 Diese Dimensionen betonen insbesondere Fukuyama 1992 und Sloterdijk 2006. 24 Die emotionale und leidenschaftliche Dimension der Politik ist in der Politikwissenschaft kaum systematisch thematisiert und wenn, dann außerordentlich skeptisch betrachtet und als weitgehend irrelevant abgetan worden. Dies wird etwa in dem Sammelband von Klein/Nullmeier 1999 deutlich, in dem fast

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nur ich die Bedeutung von Emotionen betone und am Beispiel des Jugoslawienkrieges analysiert habe; vgl. Rüb 1999. Grundsätzlich aber auch Brunner (Hg.) 2010; Walzer 1999; Holmes 1995. Mannheim 1952 (1929). Mannheim 1952: 96. Ebd. Mannheim 1952 (1929): 97; Herv. i. O. Mannheim 1952 (1929): 98. Mannheim 1952 (1929): 99f. Palonen 1985: 118. Mannheim 1952 (1929): 100. Mannheim 1952 (1929): 101. Ebd. dazu Kettler et. al. 1989. Mannheim 1952 (1929): 148. Zu diesem Begriff und seinen Konnotationen vgl. Rüb 2012: bes. 125-128. Dieser Sachverhalt wurde später in der Systemtheorie als doppelte Kontingenz ausformuliert. Vgl. dazu Parsons 1951: 16; Luhmann 1987: 148-191. Mannheim 1952 (1929): 115. Zu diesem Begriff und seinen Konnotationen vgl. Rüb 2012: bes. 122-125. Er bezeichnet im Grunde das, was Kari Palonen in Anlehnung an Machiavelli „fortuna-Kontingenz“ genannt hat; Palonen 1998: 333-337. Mannheim 1952 (1929): 100. Weber 1992 (1919). Palonen 2002: 9. Ebd. Palonen 2002: 8. Meinen Überlegungen liegen v. a. die Analysen von Kari Palonen zu Grunde, der die Weberschen Schriften, v.a. aber „Politik als Beruf“, in verschiedenen Anläufen ausgedeutet hat. Vgl. Palonen 1998; ders. 2001 und besonders ders. 2002. Weber 1992 (1919): 82. Palonen 2002: 128. Weber 1992 (1919): 7; 14. Ebd.: 7. Palonen 1998: 158.

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2. Politik als Möglichkeitserweiterung und Kontingenzsteigerung

52 Weber 1985: 463, zit. nach Palonen 1998: 163. 53 Palonen 1998: 161; 163. 54 Palonen 1998: 167. 55 Weber 1992 (1919): 7. 56 Palonen 2002: 49. 57 Palonen 2002: 39. 58 So Weber 1992: 51. 59 Weber 1992 (1919): 5. 60 Weber 1980: 30. 61 Weber 1992 (1919): 5. 62 Weber 1992 (1919): 14. 63 Palonen 2002: 49. 64 Weber 1992 (1919): 14. 65 Weber 1992 (1919): 16; Herv. i. O. 66 Vgl. dazu ausführlich und sehr interessant Borchert 2003.

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Weber 1992 (1919): 20. Weber 1992 (1919): 33. Weber 1992 (1919): 54. Das ist im Übrigen die zentrale Prämisse der ökonomischen Theorie der Politik, die sich gleichwohl auf diese dürre, nutzenmaximierende Aktivität zurückzieht und die Vielfältigkeiten des politischen Handelns komplett ausblendet; vgl. prototypisch Downs 1968. 71 Palonen 1993. 72 Schäffle 1897: 539. 73 Zu den besonderen biografischen Aspekten des Mannheimschen Lebens im Vergleich zu mehreren seiner Zeitgenossen in der Zwischenkriegszeit die sehr anschauliche und sehr lesenswerte Biographie von Reinhard Blomert; vgl. Blomert 1999.

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3. Die Politik der Verfassunggebung. Der lange Abschied von der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes: Von der Oktoberrevolution zu den Runden Tischen in den osteuropäischen Transformationen „Unsere große und heilige Verfassung, durchlauchtigst und unverletzlich, dehnt ihre wohltätige Macht über unser Land aus, über seine Seen, Flüsse und Wälder, über jeder Mutter Sohn unter uns, wie der ausgestreckte Arm Gottes selbst. (…) O Du wunderbare Verfassung! Zauberpergament! Du Wort der Verwandlung! Schöpfer, Mahner, Hüter der Menschheit!“1

Dieser Lobgesang auf die amerikanische Verfassung, ‚gesungen‘ von einem renommierten Vertreter der New Yorker Anwaltschaft im Jahr 1913, erscheint uns heute nicht nur exaltiert, sondern fast peinlich. Aber er drückt durchaus eine bestimmte Stimmung aus, in der die (über)große Wertschätzung gegenüber dieser Verfassung zum Ausdruck kommt. Die Verfassung formt aus einer Gruppe von Menschen eine politische Körperschaft, die sich bestimmte Rechte und Pflichten zugesteht und Verfahren kreiert, mittels derer sie sich zu entscheiden und deshalb politisch zu verhalten vermag. Diese kreative Funktion der Verfassung ist zentral, denn erst sie konstituiert eine handlungsfähige politische Gesellschaft, also eine Gesellschaft, in der prinzipiell alles politisch entschieden werden kann.2 Die Trennung von Staat und Gesellschaft markiert zwar noch eine institutionelle Differenz, aber eine ‚politiklose‘ Gesellschaft, eine von politischen Regulierungen nicht massiv durchdrungene Gesellschaft ist im 20. Jahrhundert nicht mehr denk- und auch faktisch nicht mehr vorfindbar. Die Verfassungen von politischen Gesellschaften regeln genau die Prozesse und Dynamiken der Politisierung und Entpolitisierung dieser Gesellschaften. Aber wie entstehen solche Verfassungen? Welche Akteure sind mit welchen Rechten und Pflichten am Prozess der Verfassunggebung beteiligt? Wie hängen diese mit ihrem Ergebnis, einer konkreten Struktur einer Verfassung, zusammen? Jede Verfassung ist (in der Regel) ein geschriebener Text, der von einem Autor, konkret der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, hervorgebracht wird. Das souveräne Volk ist kein Autor im traditionellen Sinne, sondern ein inhomogener, konfligierender und pluralistischer Wille, der seine Stimme erhebt, sich in heftigem Streit auf einen Text einigt und schließlich eine Verfassung hervorbringt. Dieser Text bezieht sich fast immer auf Kon-Texte, konkret auf andere Verfassungstexte, mit denen sich die Verfassungsgeber mehr oder weniger intensiv auseinandergesetzt haben. Zugleich entsteht jede Verfassung in einem bestimmten politisch-historischen Kontext, der herausragend, meist krisenhaft ist und in dem

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3. Die Politik der Verfassunggebung

bestimmte politische Kräfte eine neue Gesellschaft mittels einer neuen Verfassung kreieren wollen. Revolutionen, Putsche, Transformationen, tiefgreifende Krisen, neue Machtkonstellationen u. ä. sind hierfür prototypisch. Die Entstehung von Verfassungen ist ein genuin politischer Prozess, in dem es um viel, ja um sehr viel geht. Die beteiligten Akteure kämpfen hierbei nicht nur um privilegierte Zugänge zum Prozess der Verfassunggebung, sondern auch um inhaltliche Positionen, die sie in der Verfassung fixiert sehen wollen. Das Ergebnis dieser Politik – eine (meist) geschriebene Verfassung – ist für die Politik selbst von größter Bedeutung. Die Verfassung regelt die Art und Weise, in der die politische Macht hervorgebracht wird, wie sie geteilt und kontrolliert wird, wie sie sich legitimiert und wie sie sich in verbindlichen Entscheidungen entäußert. Sie legt parallel dazu einen Katalog von Rechten und Pflichten fest, auf den sich die Mitglieder der politischen Gesellschaft berufen können. Zunächst kommt der geschriebenen Verfassung als rechtlicher Form ein besonderer Rang unter allen Rechtsquellen zu. Sie liegt allen konkreten, von einer gesetzgebenden Versammlung entschiedenen Gesetzen voraus und strahlt in alle Rechtsbereiche einer Gesellschaft hinein. Ihre Qualität und Legitimität ergibt sich nicht durch das schlichte Faktum ihrer Entstehung, sondern leitet sich von einer ihr „vorausliegenden Größe“3 ab, der verfassunggebenden Gewalt. Sie fragt nach dem Ursprung und dem Geltungsgrund der Verfassung. Die die Verfassung hervorbringende und legitimierende Kraft muss sich zumindest als „politische Größe“ darstellen.4 Aber sie ist keine von der Verfassung selbst regulierte oder hervorgebrachte Größe, sondern sie liegt – mehr oder weniger unreguliert – der Verfassung voraus. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes ist eine ‚originäre und ungebundene politische Entscheidungsgewalt der Nation‘ und mit dem Nationenbegriff – ein vom Abbè Sieyès im Kontext der Französischen Revolution eingeführter Begriff – ist eine neue Konnotation verbunden. Ihr oder dem Volk soll – entgegen der Idee der Monarchie und der von Gott gegebenen Ordnung – die volle Entscheidungsgewalt über die Verfassung zukommen. Das Volk oder die Nation ist „Urgrund und Quelle, das Formlos-Formende der politisch-rechtlichen Ordnung.“5 Als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt kommt nur noch das Volk in Frage, aber das Volk „im politischen Sinn oder die Nation, d. h. die (politisch sich zusammenfassende und abgrenzende) Gruppe von Menschen, die sich ihrer selbst als politische Größe bewusst ist und als solche handelnd in die Geschichte eintritt. Dieses politische Volk kann, muss aber nicht zugleich, Volk im natürlichen Sinne sein. Die Schweiz ist dafür ein Gegenbeispiel.“6 Was immer ‚natürliches Volk‘ heißen mag, sei dahingestellt, aber es meint bei Ernst-Wolfgang Böckenförde wohl das sich durch Abstammung konstituierende Volk, das dann als ‚natürliches‘ oder auch ethnisch begründetes Volk gedacht wird.

3. Die Politik der Verfassunggebung

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Die verfassunggebende Gewalt kann aber auch als eine spezifische Gruppe in einem Volk gedacht werden, die für sich beansprucht, das Volk zu repräsentieren. Diese Gruppe beansprucht dann, für das (gesamte) Volk zu sprechen und in seinem Auftrag eine Verfassung zu geben. Im Selbstverständnis des Marxismus kommt beispielsweise dem Proletariat diese Rolle zu. Es verkörpert den tatsächlichen und wahren Willen des Volkes, ja sogar der gesamten Menschheit, und agiert als dessen wahrhafter Repräsentant. In der kommunistischen oder revolutionären Partei findet dieser Wille des Volkes seinen organisatorischen Ausdruck. In den Verfahren demokratischer Verfassunggebung wird das Volk durch seine politischen Vertreter, meist die der politischen Parteien, repräsentiert, die in einer frei gewählten verfassunggebenden Versammlung durch Argumentieren und Verhandeln sich eine Verfassung geben. Sie ist ein Kompromiss unterschiedlicher Vorstellungen, der in einem konsistenten Dokument seinen Niederschlag findet und normative Geltung beansprucht. Die verfassunggebende Gewalt ist eine inhomogene politische Größe, die jedoch von dem einheitlichen Willen geeint ist, sich eine Verfassung zu geben. Dieser Wille eilt der Verfassung zeitlich und sachlich voraus und kreiert sie. Die Politik der Verfassunggebung sieht sich somit mit einem Paradox konfrontiert: Als souveräne verfassunggebende Gewalt ist sie an keine vorgegebenen oder ihr vorausgehenden konstitutionellen Normen gebunden, sondern kann sich im Prinzip für alles entscheiden. Zugleich legt eine Verfassung die Regeln des politischen Kampfes um Anteile an politischer Macht ebenso fest wie die Mechanismen der Ausübung von politischer Macht. Eine Verfassung ‚übersetzt‘ das Ungeregelte, Leidenschaftliche, Willkürliche und Konfrontative des Politischen in regelgeleitete Politik. Die „unberechenbaren Aktionen politischer Kräfte“, die „Unwägbarkeiten des Politischen“7 werden durch die Verfassung in erwartbare, geregelte, institutionalisierte und dauerhafte Verfahren und Positionen übersetzt, die für die politischen Akteure bindend sind. Die Politik der Verfassunggebung unterscheidet sich fundamental von der ‚alltäglichen‘ Politik. Letztere entscheidet über eine Vielzahl einzelner Sachverhalte zur Gestaltung der Gesellschaft, von der Wirtschafts-, Kultur bis zur Sozial- und Familienpolitik, während erstere über die grundlegenden Verfahren, Mechanismen und Grenzen der Ausübung von politischer Macht bestimmt. Verfassungen regulieren also den Bewegungsspielraum der Politik durch Begrenzungen und Entgrenzungen der politischen Macht. Während die Idee der Begrenzung für Demokratien typisch ist, ist es die der Entgrenzung für Diktaturen. Beide Politiken der Verfassunggebung und die durch sie entstandenen Verfassungen markierten den Anfang dieses Jahrhunderts: Das Grundgesetz der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ vom 10. Juli 1918 als Prototypus der entgrenzenden Verfassung und die Verfassung der Weimarer Republik als begrenzende und demokratische Verfassung. Sie wurde am 31. Juli 1919 in Weimar be-

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schlossen, am 14. August 1919 verkündet und stellte die erste demokratische Verfassung Deutschlands dar, konkret des Deutschen Reichs. Beide Verfassungen waren das Resultat oft erbitterter Konflikte und Kämpfe, die für den Prozess der Verfassunggebung typisch sind. Aber welche Regeln und Verfahren gelten für diesen Prozess? Kann man die verfassunggebende Gewalt des Volkes regeln und in institutionelle Rahmen gießen? Kann man sie auf irgendeine Art bändigen, regulieren oder zähmen? Eigentlich nicht, denn diese Gewalt kann Verfassungen gründen, an ihnen festhalten und sie legitimieren, aber ebenso gut auch zerstören. Immer ist dieser Grenzbegriff des Verfassungsrechts mit der Politik verwoben und kann nicht von ihr getrennt werden. Die Politik der Verfassunggebung ist vielfältig und je nach historischer Situation und politischer Konstellation sehr verschieden. Um diese Verschiedenheit im 20. Jahrhundert systematisch und vergleichend diskutieren zu können, konzentriere ich mich auf folgende Punkte:8 •



• • •

In welcher politischen und wirtschaftlichen Situation findet die Verfassunggebung statt und wie reagiert sie darauf? Welche Rolle spielen hierbei politische, eventuell auch externe Kräfte? Wie war das Kräfteverhältnis der politischen Akteure ausgeprägt, wer hat wie die Institutionen – meist, aber nicht immer, die verfassunggebenden Versammlungen – geschaffen, in der die Verfassung diskutiert, formuliert und verabschiedet wurde und an welchem Ort fand dies statt? Welche Gründe, Interessen oder Leidenschaften nehmen wie auf die Gestalt der Verfassung und in welchem Ausmaß Einfluss? Wie wird die Verfassung ratifiziert und – genereller – welche Legitimität besitzt sie? Was ist für die Substanz der Verfassung prägend? Hierbei konzentriere ich mich auf die Grundfreiheiten und -pflichten, die Struktur des Regierungssystems, hierbei vor allem auf die Rolle des Parlaments und des Staatspräsidenten, und den Modus der Verfassungsänderung. Andere Sonderheiten werden selbstredend betont.

Der Prozess der Verfassunggebung und die an ihm beteiligten politischen Kräfte haben weitreichende Auswirkungen auf die Struktur und Substanz der neuen Verfassung. Man könnte vermuten, dass je demokratischer dieser Prozess organisiert und je bedeutender die demokratischen Kräfte sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer demokratischen Verfassung. Umgekehrt gilt: Eine einseitig von den Machthabern formulierte und womöglich diktierte Verfassung, die nur noch zur Abstimmung vorgelegt wird, wird eher einen geringen demokratischen Gehalt aufweisen. Eine Analyse der Politiken der Verfassunggebung wird auf diese Fragen Antwort geben können.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren zwei Prozesse der Verfassunggebung zentral, die zudem sehr unterschiedliche Verfassungen hervorbrachten. Ich werde zunächst die Entstehungsdynamiken und die Substanz der russischen und der Weimarer Verfassung skizzieren, wobei die Verfassung der Russischen Sowjetischen Föderativen Sowjetrepublik weltgeschichtlich die erste sozialistische Verfassung war. Sie formulierte für die sozialistische Entwicklung weitreichende Vorgaben, die jedoch im Verlauf des Jahrhunderts zum Teil erheblich verändert wurden, wie etwa durch die stalinistische Verfassung von 1938. Die demokratische Verfassung der Weimarer Republik entstand in etwa zeitgleich in einem dramatischen Abwehrkampf gegen sozialistische Bestrebungen in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (Kap. 3.1.). Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 kann als die ‚Verfassung‘ der nationalsozialistischen Terrorherrschaft betrachtet werden und darf hier nicht fehlen (Kap. 3.2.). Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Alliierten über den Faschismus hatten wir es in Deutschland mit zwei ‚diktierten‘ Verfassungen zu tun, dem Grundgesetz für die drei westlichen Besatzungszonen bzw. der späteren Bundesrepublik und der sozialistischen Verfassung der DDR, die beide nicht unterschiedlicher hätten sein können (Kap. 3.3.). In den Transformationen in den mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime fand welthistorisch eine neue Form der Verfassunggebung statt: Die Verfassunggebung an den Runden Tischen, die die Idee der souveränen verfassunggebenden Gewalt verabschiedete. Stattdessen setzten die beteiligten Akteure auf die Idee der verfassunggebenden Selbstbeschränkung, eine Idee, die auch in anderen Regionen der Welt, wie beispielsweise bei der Abschaffung des Apartheidregimes in Südafrika, realisiert wurde (Kap. 3.4.). „1989“ war auch im Kontext der bundesdeutschen Geschichte ein zentrales Ereignis, weil sich dadurch die Möglichkeit der deutschen (Wieder)Vereinigung eröffnete, die selbstverständlich ihren Niederschlag in einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung finden musste. Aber wie sollte sie entstehen und mittels welcher Verfahren? Warum wurde hier nicht das Verfahren des Runden Tisches angewandt, sondern der Beitritt nach dem damaligen Art. 23 GG vollzogen und der Rechtsbestand der BRD fast unverändert auf das Gebiet der (ehemaligen) DDR übertragen (Kap. 3.5.)? Abschließend stellt sich die Frage, ob am Ende des Jahrhunderts die Idee der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes grundlegend verabschiedet und damit eine historische Etappe abgeschlossen wurde, die im Jahr 1789 mit der französischen Revolution begann und mit den Runden Tischen im Jahr 1989 endete. Liegt die Zukunft der Verfassunggebung in der politischen Selbstbeschränkung der Akteure und dem Verfahren der ‚radikalen Kontinuität‘ (Kap. 3.6.)?

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3.1. Die Oktoberrevolution und ihre sozialistische Verfassung und der Kampf um die Weimarer Reichsverfassung 1918 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kämpften zeitgleich zwei Verfassungsverständnisse mit zwei völlig gegensätzlichen Konzepten der Verfassung bzw. der durch sie zu konstituierenden Gesellschaften um Anerkennung. Auf der einen Seite stand die Idee einer sozialistischen Verfassung, die die Errungenschaften der Oktoberrevolution der Bolschewiki nicht nur wiedergeben, sondern auch für die Zukunft fixieren sollte. In Weimar war man auch mit einer sozialistischen Option konfrontiert, die durch die Politik gewaltsam niedergeschlagen wurde und den Weg für die erste demokratische Verfassung auf deutschem Boden frei machte.

3.1.1. Die Politik der Verfassunggebung in Russland im Jahr 1918 Die Allrussische Konstituierende Versammlung war eine frei gewählte verfassunggebende Konstituante, die genau 15 Stunden tagte. Sie wurde dann von den Bolschewiki aufgelöst, die selbst in dieser Konstituante vertreten waren und mit ihren Delegierten die zweitgrößte politische Kraft darstellten. Sie begann ihre Arbeit am 5. Januar 1918 um 16 Uhr im Taurischen Palais und tagte die ganze Nacht über bis zum nächsten Morgen des 6. Januar um 4.40 Uhr. Um diese Zeit erklärte ein Vertreter der Wachmannschaft, dass die Wachen müde seien und die Versammlung wurde auf 17.00 am selben Tag vertagt. Am Abend jedoch kamen die Delegierten nicht mehr in das Gebäude, da es verschlossen war. Damit fand die verfassunggebende Versammlung ihr Ende, die dann durch ein Dekret des Allrussländischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK)9 am 6. Januar 1918 auch formell aufgelöst wurde. Dort wurde formuliert, dass sich diese Versammlung „unvermeidlich“ der Sowjetmacht in den Weg stellen müsste, weil die in ihr vertretenen politischen Kräfte nicht mehr die reale gesellschaftliche Kräfteverteilung wiederspiegeln würden. Die Bolschewiki und die Linken Sozialrevolutionäre hätten in den Sowjets „jetzt offenkundig die ungeheure Mehrheit“ und würden das „Vertrauen der Arbeiter und der Mehrheit der Bauern genießen.“ Die Konstituierende Versammlung würde dieses neue Kräfteverhältnis nicht mehr wiederspiegeln und stelle lediglich eine Kulisse dar, hinter der der Kampf der „Konterrevolutionäre für den Sturz der Sowjetmacht vor sich gehen würde.“ Schließlich heißt es unmissverständlich: „Deshalb beschließt das Zentrale Exekutivkomitee: Die Konstituierende Versammlung wird aufgelöst.“ Unübersehbar ist in diesem Dokument die konfrontative Haltung der beteiligten politischen Kräfte. Besonders die Bolschewiki wollten wegen ihres polarisierenden Politikverständnisses keine Verhandlungen oder gar Kompromisse mit

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den anderen politischen Kräften anstrengen. Stattdessen realisierten sie – auch mit Gewalt – ihr Politikverständnis und setzten vor allem auf ihre bereits institutionell abgesicherte politische Macht in den Sowjets und nicht auf die gewählte Versammlung. Eine Demonstration der Unterstützer der Sozialrevolutionäre wurde von den Roten Garden brutal niedergeschlagen, wobei mindestens 12 Personen getötet wurden. Das Land trieb sodann fast unvermeidlich in den Bürgerkrieg, weil die jeweiligen Positionen unversöhnlich waren. Bereits am 5. Januar hatten die Arbeiter in der Hauptstadt einen Streik begonnen, der um die 50 Betriebe umfasste. Die Arbeiter boten der Konstituante einen Raum an, indem sie ihre Versammlung weiter abhalten sollten. Aber die Mehrheit der sozialrevolutionären Delegierten lehnte diesen Vorschlag ab. Sie begannen sich stattdessen auf den bewaffneten Widerstand gegen die Bolschewiki vorzubereiten. Das Land driftete in den Bürgerkrieg. Die Bolschewiki dagegen konstituierten sich als souveräne verfassunggebende Gewalt. Die neue Verfassung wurde von den realen Machthabern entworfen und brachte ihre Machtposition nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass sie alleine, ohne andere politische Kräfte mit einzubeziehen, die Verfassung formulierten. Sie wurde auch dadurch deutlich, dass sie diese Verfassung nie durch eine Volksabstimmung legitimierten. Sie wurde allein durch den III. Allrussischen Sowjetkongress am 10. Juli 1920 bestätigt und sicherte die politische Macht der Bolschewiki ab. Auf diesem Treffen spielte die Verfassung kaum eine Rolle, die Diskussion darüber bildete nicht einmal einen eigenen Tagesordnungspunkt. Einzig und allein der Abgeordnete Steklov referierte kurz über die Verfassung und deren Präferenz für die Zentralisierung der Macht. Nur ein Delegierter meldete sich mit einer Kritik daran zu Wort; aber ohne weitere Diskussion wurde sie dann verabschiedet.10 Während die Sozialisten unter Lenins Führung im Jahr 1905 und auch danach eine konstituierende Versammlung befürworteten, war dies 1917/1918 nicht mehr der Fall. Die Haltung der Sozialisten zur verfassunggebenden Versammlung und einer Verfassung überhaupt war von Beginn ambivalent. Einerseits betonten die Bolschewiki, dass in den Räten die Vertreter des Volkes bzw. der verschiedenen Klassen und Orte vertreten und sie gesetzgebende und vollziehende Gewalt zugleich sein sollten.11 Eine neue Verfassung spielte nur eine untergeordnete Rolle. Zum Zweiten wurde eine demokratisch-republikanische Verfassung allein als ein Zwischenschritt zur völligen Machtübernahme durch die Bolschewiki betrachtet. Als sich dann in den Sowjets eine Mehrheit der Bolschewiki abzeichnete, war die Konstituante nur noch – wenn überhaupt – zweitrangig. Durch die Wahl der Konstituante, in der die Bolschewiki keine Mehrheit hatten, drohte eine Art Doppelherrschaft, die ihre Machtposition in den Sowjets schmälern könnte. Daraufhin wurde die pluralistisch zusammengesetzte verfassunggebende Versammlung aufgelöst und die Bolschewiki begannen, die Verfassung alleine auszu-

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arbeiten und letztlich auch zu verabschieden. Es war ihre Verfassung. Sie war für diese Gruppe ‚maßgeschneidert‘ und sollte deren politische Machtpositionen und die damit verbundenen Gesellschaftsvorstellungen festschreiben. Dies wird insbesondere in den Passagen deutlich, die sich mit der Verteilung und Organisation der politischen Macht beschäftigten. In Art. 31 der Verfassung von 1920 wird unmissverständlich festgehalten, dass das „Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee“ das „höchste gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ“ der russischen Föderation sei. In Art. 32 wird eine Art Richtlinienkompetenz dieses Exekutivkomitees festgelegt und Art. 33 degradiert die ansonsten im Mittelpunkt stehenden Organe, den Gesamtrussischen Sowjetkongress und den Rat der Volkskommissare, weil das Zentralexekutivkomitee alle seine (und auch die anderer Organe) Dekretentwürfe und Gesetzesvorlagen „prüft und bestätigt“. Zwar formuliert Art. 10, dass alle politische Macht den Stadt- und Dorfsowjets gehört, aber dies wird durch die bereits erwähnten Artikel revidiert. Zudem sind auch die zentralen inhaltlichen Politikbereiche in der Verfassung geregelt. Sie legt unwiderruflich die Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats fest, die völlige Niederhaltung der Bourgeoisie, die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Errichtung des Sozialismus, der weder eine Teilung der Klassen noch der Staatsmacht will. Die Staatsmacht ist deshalb diktatorisch in einer Hand konzentriert, dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Partei. Alle Freiheiten (Versammlungs-, Presse-, Meinungs-, Religionsfreiheit, um nur die wichtigsten zu nennen; vgl. Art. 13-23) stehen unter dem Vorbehalt des ‚richtigen‘ Gebrauchs, konkret des Aufbaus und der Festigung des Sozialismus und der Stabilisierung der Diktatur des Proletariats.

3.1.2. Die Politik der Verfassunggebung zu Beginn der Weimarer Republik von 1918 Wie bereits erwähnt kämpften am Anfang des 20. Jahrhunderts zwei gegensätzliche Verfassungsverständnisse auf dem europäischen Kontinent gegeneinander – das sozialistische in Russland und das demokratische in Deutschland. Zu Beginn der Weimarer Republik wurde dieser Kampf auch direkt auf deutschem Boden ausgetragen und erst am Ende, nach intensiven und zum Teil gewaltsamen politischen Kämpfen, konnte sich das republikanisch-demokratische Verständnis durchsetzen und seinen Niederschlag in der Weimarer Reichsverfassung finden. Die Verfassunggebung fand in einer äußerst kritischen historischen und politischen Situation statt und hat ihren Niederschlag auch in der Verfassung selbst gefunden.12 Am Ende des ersten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands in diesem Krieg stellte sich die innen- wie außenpolitische Lage äußerst kompliziert

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dar. Der verlorene Krieg führte in Deutschland zu einer angespannten sozialen Lage, in der der Hunger, die vielen und zum Teil schwer verwundeten Kriegsveteranen, die zerstörte Infrastruktur, die extrem polarisierte Ausprägung der politischen Kräfte und das Diktat der Siegermächte es in eine tiefe Krise stürzten. Die monarchische Regierungsform war zwar bereits direkt nach dem Krieg beseitigt worden, aber eine neue war noch nicht in Kraft. Die Übergangsregierung um den schnell ernannten Reichspräsidenten Friedrich Ebert regierte in einem verfassungslosen Zustand, sein Kabinett wurde von vielen politischen Kräften nicht anerkannt. Das Ende des Krieges war zudem durch den Aufstand der Matrosen in Kiel und Wilhelmshafen gekennzeichnet, die sich dem Auslaufen der kaiserlichen Flotte widersetzten und gegen die aussichtslose Fortsetzung des Krieges ankämpften. Auch in anderen Städten und Ländern des Reiches kam es zu Aufständen und in vielen Städten zur Errichtung von Arbeiter- und Soldatenräten nach russischem Vorbild. Die alte Staatsmacht brach zusammen und Teile des Heeres und des Gewaltapparates, die den Aufstand niederschlagen sollten, verbrüderten sich mit den Aufständischen. Das Ganze begann in Wilhelmshafen mit einer Meuterei, weitete sich zum Aufstand in ganz Deutschland aus und endete in einer „echten Revolution, nämlich dem Sturz der alten Obrigkeit und ihr Ersatz durch eine neue Ordnung.“13 Die Eigentumsordnung blieb davon unberührt, in den Fabriken blieb vieles beim Hergebrachten, mit den alten Militärbehörden verschwand die militärisch dominierte Monarchie und die Autorität der Offiziere war in großen Teilen der Armee untergraben.14 An ihre Stelle traten die Soldatenräte; die Arbeiterräte waren vornehmlich politische Institutionen, die die zivile Macht übernahmen, aber erstaunlicherweise in den Fabriken die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse weitgehend unangetastet ließen. Die Revolution war nicht sozialistisch oder kommunistisch, sondern „mit einer gewissen unausgesprochenen Selbstverständlichkeit, fast nebenbei – republikanisch und pazifistisch; bewusst und vor allem war sie antimilitaristisch.“15 Sie hatte zudem keinen Revolutionär an ihrer Spitze und folgte keiner politischen Strategie. Sie war vielmehr „das spontane Werk der Massen, der Arbeiter und der gemeinen Soldaten. Darin lag ihre Schwäche, die sich nur zu bald zeigen sollte (…).“16 Am 9. November kristallisierten sich die vielen, bisher nebeneinander verlaufenden Dynamiken und machten diesen Tag zum Wendepunkt, ja Höhepunkt der Revolution. In Berlin verweigerten die Truppen der Berliner Garnison das gewaltsame Vorgehen gegen die Aufständischen und verbündeten sich stattdessen mit ihnen. Nachdem das staatliche Gewaltmonopol zusammenfiel, wurde Kaiser Wilhelm II. durch eine Falschmeldung des Reichskanzlers Max von Baden zum Rücktritt gezwungen, er ging am 10. November 1918 in die Niederlande ins Exil. Am selben Tag übergab Max von Baden alle Regierungsgeschäfte an Friedrich Ebert, der nun der neue Reichskanzler wurde – ein verfassungsrechtlich un-

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möglicher Vorgang in der noch bestehenden kaiserlich-monarchischen Verfassungsordnung. Auch war Philipp Scheidemann, damals Staatssekretär ohne Geschäftsbereich, beim Mittagessen gemeldet worden, dass Karl Liebknecht, der neben Rosa Luxemburg Führer des Spartakusbundes war, die „freie sozialistische Republik“ ausrufen und Deutschland in eine Republik nach russischem Muster verwandeln wolle. Zudem sollten sich große Menschenmassen zwischen dem Reichstag und dem Schloss bewegen, die K. Liebknecht möglicherweise zu gewaltsamen Aktionen motivieren könnten. Da ergriff Ph. Scheidemann die Initiative und rief – ohne staatliches Mandat und ohne Absprache mit seiner Partei bzw. deren politischen Führern – vom Westbalkon des Reichstages die demokratische Republik aus. Dies war bereits Ausdruck der neuen Lage der politischen Kräfte. Das liberale Bürgertum, Teile der konservativen Bevölkerung und zum Teil deren politische Partei, das Zentrum, waren der Monarchie überdrüssig. Die Sozialdemokratie war erstarkt und hatte großen Einfluss auf die Arbeitermassen. Die USPD, die sich wegen der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD von ihr abgespalten und sich im April 1917 neu gegründet hatte, vergrößerte ihren Einfluss auf die Arbeitermassen ebenfalls. Diese neue Lage eröffnete den Sozialdemokraten neue politische Handlungsspielräume, die sie auch nutze. Nicht nur war der erste Reichskanzler F. Ebert nach dem Krieg ein Sozialdemokrat, der eindeutig Position für eine demokratische Republik bezog und von den breiten Arbeitermassen so wie dem liberalen Bürgertum unterstützt wurde. Zudem waren die politischen Gegenkräfte geschwächt, von ihnen war kein massiver Widerstand gegen die Demokratisierung zu erwarten. Die Verfassunggebung und die Verfassung selbst waren das Ergebnis eines Kompromisses zwischen der Mehrheitssozialdemokratie und den bürgerlichen Kräften bzw. ihren Parteien, die Otto Kirchheimer als „Augenblickseinheit der Unterlegenen“17 mit den Sozialdemokraten bezeichnet hat. Das politische Machtvakuum wurde nur notdürftig von der Regierung F. Ebert ausgefüllt. In seinem Kabinett waren zwar mit Matthias Erzberger und Adolf Gröber zwei Vertreter des Zentrums, mit Konrad Haußmann ein Linksliberaler und mit Philipp Scheidemann und ihm zwei Sozialdemokraten und damit die wichtigsten politischen Kräfte vertreten. Die USPD als weitere wichtige, nicht zu übergehende Kraft, die vor allem über die Arbeiter- und Soldatenräte ein politischer, wenn auch oppositioneller Faktor war, war von der Regierungstätigkeit ausgeschlossen. Um diesen Zustand zu ändern, bildete die Reichsregierung mit der USPD den „Rat der Volksbeauftragten“, in dem jeweils drei Sozialdemokraten und drei USPD-Mitglieder vertreten waren. Er wurde schnell zu einer Art Parallelregierung, weil er sogleich das Recht der Gesetzgebung für sich reklamierte und hier eine rege Tätigkeit entfaltete. Allen politischen Kräften war klar, dass schnellstmöglich eine Nationalversammlung gewählt werden sollte, die zugleich als verfassunggebende Versamm-

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lung fungiert. Die USPD dagegen setzte auf eine Räterepublik und berief für den 16. Dezember 1918 den „Allgemeinen Deutschen Rätekongress“ ein, der zugleich als verfassunggebendes Organ fungieren und so den Weg für eine sozialistische und proletarische Demokratie ebnen sollte. Reichskanzler F. Ebert dagegen wollte die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung vorantreiben und berief bereits für den 25. November die „Große Reichskonferenz“ ein, zu der neben dem Rat der Volksbeauftragten und den Mitgliedern seines Kabinetts auch die Vertreter aller Landesregierungen eingeladen waren. Im Abschlusskommuniqué wird festgehalten, dass der Wahl einer konstituierenden Nationalversammlung zugestimmt wird und die Reichsregierung die Vorbereitungen hierfür möglichst schnell in Angriff nehmen sollte.18 Schließlich stimmten im Rat der Volksbeauftragten auch die Mitglieder der USPD der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung zu, die hierfür auch das Wahlverfahren festlegen sollte. Es sah eine allgemeine, freie und unmittelbare Wahl vor, setzte das Wahlalter von bisher 25 Jahren auf 20 Jahre herab, räumte endlich auch den Frauen das Wahlrecht ein,19 teilte das Reich in insgesamt 38 Wahlkreise ein, über die insgesamt 421 Vertreter in die Nationalversammlung gewählt werden sollten. Diese Verordnung trat am 30. November in Kraft. Der „Allgemeine Deutsche Rätekongress“, der am 12. Dezember tagen sollte, wurde mit dieser Verordnung übergangen. Allerdings sollte er gegen das Wahlgesetz sein Veto einlegen können, was jedoch nicht erfolgte. Auf dem Rätekongress dominierten – wider Erwarten der politischen Führung der USPD – die moderaten Kräfte. Ein Antrag, dass in der neuen Verfassung das Rätesystem als Grundlage einer sozialistischen Gesellschaft festgeschrieben werden sollte, wurde von den Delegierten mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.20 Diese politische Konstellation spiegelte sich dann auch in der Wahl vom 19. Januar 1919 wider. Die sogenannte Weimarer Koalition, bestehend aus SPD, Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) erhielt zusammen 282 Sitze, ein Sitz über der Zweidrittelmehrheit. Die konservativen und die die Weimarer Republik ablehnenden Kräfte blieben klar in der Minderheit. Die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) kamen zusammen auf rund 15 % der abgegebenen Stimmen und die USPD auf rund 5 %. Die Nationalversammlung kam am 6. Februar 1919 zu ihrer ersten konstituierenden Sitzung in Weimar zusammen. Weimar wurde als Ort der Verfassunggebung ausgewählt, weil in weiten Teilen Deutschlands nach wie vor bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten und Weimar selbst und sein Nationaltheater polizeilich gut zu schützen waren. Eines der ersten und wichtigsten Gesetzgebungsakte war die Verabschiedung des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt. In ihm wurde festgehalten, dass allein die Nationalversammlung die künftige Reichsverfassung sowie die laufende Gesetzgebung beschließt; die Regierungsbil-

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dung wurde dem noch von den alten politischen Kräften ernannten Reichspräsidenten in die Hände gelegt, aber eine Neuwahl war bereits für den 11. Februar vorgesehen. F. Ebert wurde als Reichspräsident bestätigt, der schließlich Ph. Scheidemann zum ersten „Reichsministerpräsidenten“ und mit ihm das gesamte Kabinett ernannte. Noch bevor der verfassunggebende Ausschuss tagte, begann die Nationalversammlung mit einer intensiven Gesetzgebung und verabschiedete u. a. ein „Gesetz über eine vereinfachte Form der Gesetzgebung für die Zwecke der Übergangswirtschaft“. Es war das erste einer ganzen Reihe von Notverordnungen bzw. Ermächtigungsgesetzen, die dann während der Weimarer Republik relevant wurden und auch ihr Schicksal besiegelten: Dies erledigte dann das Ermächtigungsgesetz von 24. März 1933.21 Die Verfassunggebung vollzog sich im „Verfassungsausschuss“, der die eigentliche Arbeit leistete. Das Plenum der Nationalversammlung beschäftigte sich in den üblichen drei Lesungen mit ihr, wobei die zweite Lesung die wichtigste war und vom 2. bis 21. Juli andauerte. Die politischen Parteien konnten auf keine Entwürfe oder ausgereifte Vorüberlegungen zurückgreifen, gleiches galt auch für den Regierungsapparat. Die Reichsregierung musste nun selbst die Initiative ergreifen und beauftragte den Staatsrechtler Hugo Preuß mit der Ausarbeitung eines Entwurfs. H. Preuß wurde zwar von einigen Staatsrechtlern als der am weitesten links gerichtete Staatsrechtler des damaligen Deutschland bezeichnet. Aber unter den damaligen Verfassungsrechtlern stand keiner der SPD so nahe wie H. Preuß, der bereits im November 1918 von F. Ebert zum Staatssekretär des Inneren berufen wurde und sich vorwiegend mit Entwürfen für eine neue Verfassung beschäftigen sollte. Insofern war der Preußsche Entwurf der einzige Entwurf, der im politischen Prozess eine Rolle spielte und als ‚focal point‘22 für die gesamte Verfassungsdiskussion diente.23 Mit der Beauftragung von H. Preuß war zugleich eine klare Absage an alle rätedemokratischen oder sozialistisch-revolutionären Vorstellungen der USPD verbunden. Er hatte bereits 1915 von der Umwandlung des monarchischen Obrigkeitsstaates in einen „Volksstaat“ gesprochen, der demokratisch-pluralistisch organisiert sein sollte und in dem die Regierung vom Vertrauen eines frei gewählten Parlaments abhängig ist.24 In einer Denkschrift zum Entwurf der Verfassung vom 3. Januar 1919 und in der mündlichen Begründung in der Weimarer Nationalversammlung hatte er alle wesentlichen Argumente und (verfassungs)politischen Gründe zusammengefasst, die bei der Ausarbeitung ausschlaggebend waren. H. Preuß betont in beiden Schriften die bereits erwähnte Neuschaffung eines Volksstaates, der wegen der Revolution im Reich und den Ländern, die die alten Gewalten beseitigt hatten, nun neu gegründet werden musste. Die neue Republik kann, ja muss als „im wesentlichen einheitlicher Volksstaat auf das freie Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation in ihrer Gesamtheit gegründet werden. (…) Die deutsche Republik kann

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nur die demokratische Selbstorganisation des deutschen Volkes als einer politischen Gesamtheit sein.“25

Die Eigeninteressen der bisherigen 22 Einzelstaaten verhindern die freie Organisation des deutschen Volkes und müssten deshalb im Sinne des neuen Volksstaates aufgehoben werden. Aber dennoch unterstellt er, dass „dem deutschen Volkscharakter (…) unzweifelhaft eine starke Abneigung (…) gegen eine unbeschränkte Zentralisierung allen öffentlichen Lebens und gegen eine mechanische Leitung aller Verwaltung von einem Mittelpunkt aus innewohnt. (…) Dem neuen deutschen Volksstaat kann nichts ferner liegen, als sich diesem Zug des Volksgeistes zu widersetzen; vielmehr wird er in diesem Eigenleben seiner Glieder die starken Wurzeln seiner Kraft finden.“26

Auch die Sonderstellung Preußens musste in dem neuen Verfassungsentwurf geändert und zu einem ‚normalen‘ Land innerhalb des föderalen Staatsaufbaus herabgestuft werden. Die staatsorganisatorischen Fragen haben in den Preußschen Stellungnahmen – neben der nationalen Einheit – eine herausragende Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen zwischen dem Reich und den Ländern und die Struktur des parlamentarischen Regierungssystems. Ich konzentriere mich auf letzteres, weil hier die Grundfragen des neuen demokratischen Staatsgebildes und seiner Regierungsform ausgehandelt wurden. Auch haben die Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung in der Verfassungsdiskussion der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten eine große Rolle gespielt, wobei in der SBZ völlig entgegengesetzte Lehren zu denen in den Westzonen gezogen wurden (vgl. dazu unten Kap. 3.4.). Preuß‘ zentrale Frage war die nach einem „echten“ Parlamentarismus, in dem sich der Wille des Volkes ungebrochen entfaltet, sich die Grundidee der Volksdemokratie am besten realisiert und die Revolution zum guten Abschluss kommt. Wie wollte er nun die geschichtliche Vergangenheit und die gegenwärtige Lage in Einklang bringen? Zunächst stellt er immer wieder fest, dass der Parlamentarismus die „beste und fruchtbarste Organisationsform der politischen Demokratie ist.“27 Das Regierungssystem sollte zudem die nur gering ausgeprägte demokratische Tradition überwinden und eine neue politische Kultur durch eine entsprechende Ausgestaltung des Regierungssystems entwickeln helfen. Die Verfassung bzw. die Beziehung zwischen Regierung und Volk sollte so gestaltet werden, dass sie als „politisches Erziehungsmittel“28 wirkt und die neue politische Kultur verbessert und stabilisiert. Schließlich war für ihn die Regierungsfähigkeit im neuen Staat außerordentlich wichtig. Denn auch in der Demokratie „muss eine Regierung regieren können. Es ist vielleicht die größte Gefahr, die der Demokratie erwachsen kann, wenn durch allzu gehäufte Kontrollmaßregeln die demokratische Regierung allzusehr am Regieren behindert wird. Der Parlamentarismus soll die Schule, die Auslese der demokratischen Führung sein; und diese Funktion darf ihm durch ein all-

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3. Die Politik der Verfassunggebung zu großes Überwuchern jener Einrichtungen des Mißtrauens nicht unmöglich gemacht werden.“29

Dazu bedurfte es eines ‚echten Parlamentarismus‘, der sich von einem unechten absetzt. Den Kern sollten „zwei einander wesentlich ebenbürtige höchste Staatsorgane“ bilden, das gewählte Parlament und der (direkt) gewählte Staatspräsident, und die Regierung das „bewegliche Bindeglied“ zwischen ihnen.30 Diese ebenbürtige Stellung konnte ein Präsident nur ausbilden, wenn er direkt durch das Volk und nicht – wie im ‚unechten Parlamentarismus‘ – von der Versammlung gewählt wird. Die plebiszitäre Legitimität bringt ihn in diese ebenbürtige Position, weil bei der Wahl durch das Parlament eine „Monokratie des Parlaments“31 entsteht. Umgekehrt führt es zu einer ‚Monokratie‘ des Präsidenten, wenn dieser selbst unmittelbar die Spitze der Regierung bildet und die Ressortminister von ihm abhängige Akteure sind. Dieses dualistische System – wie in den USA realisiert – führt zur „geistigen Verarmung und politischen Verödung der Volksvertretungen.“32 Die Volksvertretungen sind dann „beschränkt auf abstrakte Gesetzgebung, auf Kritik und Negation, ohnmächtig gegenüber der das praktische Leben wirklich bestimmenden Verwaltung. Diese äußere politische Ohnmacht der Parlamente hatte ihre innere politische Impotenz zur Folge, die Zersplitterung der rein dogmatischen Parteien und die anderen viel erörterten und viel beklagten Übel unseres alten Zustandes.“33

Die Parallele zwischen dem monarchischen Obrigkeitsstaat und dem amerikanischen Regierungssystem überrascht, aber entscheidend ist für H. Preuß die damit beabsichtigte Herabstufung des Parlaments als Ausdruck des souveränen Volkswillens. Verbunden ist damit zudem eine Entfremdung des Parlaments und seiner Abgeordneten von den realen gesellschaftlichen und sozialen Prozessen, die nicht mehr angemessen thematisiert und politisch entschieden werden können. Seine Vorstellung von einem parlamentarischen System unterstellt dem Parlament dagegen nach wie vor eine bedeutende Rolle im politischen Prozess. Allerdings teilen sich Parlament und Präsident viele Befugnisse, wobei die wichtigste die der Regierungsbildung ist. Der Präsident bildet die Regierung, aber nur beruhend auf vorherigem Vorschlag des Reichskanzlers, der von der Versammlung gewählt wird. Er schlägt dann die Ressortchefs vor, die vom Präsidenten ernannt (oder abgelehnt) werden und das Parlament hat das Recht, nicht nur dem Reichskanzler das Misstrauen auszusprechen und ihn abzuwählen, sondern auch jedem einzelnen Minister. Diese gewinnen dadurch an politischer Verantwortlichkeit, indem sie nicht allein vom Vertrauen des Reichskanzlers, sondern auch von dem des Parlaments abhängig sind. Was passiert aber nun, wenn beide vom Volk gewählten Repräsentanten, Parlament und Präsident, in grundlegende Konflikte verwickelt sind? H. Preuß‘ Antwort lohnt zitiert zu werden:

3.1. Die Oktoberrevolution und die Weimarer Reichsverfassung

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„Da sowohl Präsident wie das Parlament ihre politische Gewalt vom Volk ableiten, so muss die Entscheidung über sonst nicht auszugleichende Konflikte wiederum dem Volk zufallen. Demgemäß ist der Präsident befugt, durch Auflösung des Parlaments Berufung vor der Volksvertretung an das Volk selbst einzulegen.“34

Umgekehrt ist der Präsident zwar für eine fixe Amtsperiode gewählt, aber die Reichsversammlung kann ihn unter bestimmten Bedingungen abwählen. H. Preuß meint, dass „in besonders schweren politischen Konfliktsfällen auch dem Reichstag die Befugnis gegeben werden (soll), das Volk zu einem Urteil über die politische Haltung des Präsidenten anzurufen, indem der Reichstag durch Beschluß einer Zweidrittelmehrheit die Volksabstimmung über die Weiterführung der Präsidentschaft veranlaßt.“35

Wird in einer solchen Volksabstimmung der Präsident jedoch bestätigt, so soll dies zugleich als Wiederwahl für eine neue Amtsperiode gefasst werden. Beide Verfahren sollten sich gegenseitig ergänzen und grundlegende politische Konflikte, die zur Unauflösbarkeit tendieren, auf diese Weise vom Volk entschieden werden. Der ‚echte‘ Parlamentarismus setzt nach seiner Meinung ein „solches Gleichgewicht der Gewalten“ voraus, ja verlangt es.36 An anderer Stelle ist von einer „unmittelbar im Volke wurzelnde(n) ebenbürtigen(n) Potenz“ die Rede, die einem „Parlamentsabsolutismus“ entgegenwirken soll.37 Entstehen jedoch grundlegende Konflikte bei einfacher Gesetzgebung, so kann der Präsident diesen Konflikt durch eine Volksabstimmung auflösen, indem er ein Referendum darüber in Gang setzt. Interessant ist, dass H. Preuß in seiner Denkschrift den späteren Art. 48 der Weimarer Verfassung an keiner Stelle anspricht. Er schien dem damaligen Verfassungsverständnis nach unproblematisch zu sein, wurde aber zu einem zentralen Mechanismus zur Auflösung der Weimarer Republik, vor allem aber seit Beginn der 30er Jahre. Gleichwohl gab es im Prozess der Verfassunggebung Diskussionen um den Art. 48 (2) WRV, auch wenn diese Diskussionen erst relativ spät stattfanden.38 Sie drehten sich vor allem darum, ob Art. 48 (2) der Reichsregierung umfassendere Befugnisse geben sollte als die vergleichbaren Regelungen in der Preußischen Verfassung von 1850 bzw. dem Belagerungszustandsgesetz vom 4. Juni 1851. Die Diskussion kreiste um die Frage, ob „in Friedenszeiten weitergehende Notrechte gelten sollten als in der Vergangenheit in Kriegszeiten.“39 Zwei Positionen bildeten sich heraus. Die eine wollte der Diktaturgewalt (enge) Grenzen setzten, die USPD wollte den Paragraphen vollständig streichen. Es ging darum, welche Grundrechte ‚diktaturfest‘ sein sollten und welche durch Art. 48 suspendiert werden konnten. Die andere Richtung argumentierte, dass dieser Paragraph sich nicht gegen das Volk und seine Rechte richte (wie in der Monarchie der Belagerungszustand), sondern dass eine demokratisch legitimierte Regierung bzw. das Parlament Maßnahmen zum Schutz der Demokratie und zur Verteidigung der Rechte des Volkes ergreifen können muss. Eines besonderen Schutzes der Grund-

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3. Die Politik der Verfassunggebung

rechte bedürfe es daher nicht. Die Gegenzeichnungspflicht durch die Reichsregierung (Art. 50 WRV) und das parlamentarische Auflösungsrecht (Art. 48 (3), Satz 2) sollten Zustände wie in der monarchischen Vergangenheit verhindern. Welche Rolle dieser Paragraph dann bei der Auflösung der Weimarer Republik gespielt hat, konnten die Verfassungsgeber damals nicht ahnen. Eine für die Demokratiekonzeption weitere zentrale Frage war die des Wahlrechts. Hier waren bereits Vorentscheidungen gefallen, indem sich der Rat der Volksbeauftragten für das Verhältniswahlrecht bei der Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung entschied. Im Verfassungsausschuss war diese Frage bereits als selbstverständlich beantwortet und dies änderte sich nur kurzfristig, als ein Angeordneter der DDP sich für das Mehrheitswahlrecht aussprach.40 H. Preuß widersprach dem, indem er auf zwei Aspekte hinwies. Zum Einen würde ein Mehrheitswahlrecht nicht automatisch zu einem Zweiparteiensystem führen und die britischen Verhältnisse seien nicht umstandslos auf Deutschland (und andere Länder) übertragbar. Zudem sei die Stärke einer parlamentarischen Regierung nicht so sehr vom Wahlsystem, sondern von den Kompetenzen des Parlaments abhängig. Diese erst sehr spät stattfindende Diskussion hatte einen großen Mangel: Dass das Verhältniswahlrecht die Pluralität des Volkes und die damit verbundenen unterschiedlichen Interessen besser wiedergebe als das Mehrheitssystem, hat bei den Diskussion argumentativ keine Rolle gespielt. Neben den tradierten Grundrechten, die im Wesentlichen von der Paulskirchenverfassung von 1848 inspiriert waren, sah die Weimarer Verfassung einen umfangreichen Katalog sozialer Rechte vor, der in dieser Form welthistorisch neu war. Bereits die Präambel formulierte als Ziel, „den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“, und übersetzte dies in eine umfassende Liste, die an den Gesetzgeber zur Realisation überantwortet wurde. Der Verfassungsauftrag zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Arbeits- und Sozialverhältnisse, brachte nicht nur ein neues Verständnis der Grundrechte zum Ausdruck, sondern formulierte zugleich den Anspruch, die Lebenslagen von sozialen Gruppen und – prinzipiell – die Gesellschaft durch Entscheidungen der Politik umzugestalten. Das soziale Programm war umfassend, es umfasste unter anderem die soziale Förderung der Familie, Mutterschutz, Bildung und Schulwesen, Garantie eines menschenwürdigen Daseins für alle durch die Ordnung der Wirtschaft, ausreichenden Wohnraum, Schutz der Arbeitskraft und Recht auf (und Pflicht zur) Arbeit, Mitgestaltung an den Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen durch die Arbeitnehmer und einen umfassenden sozialen Schutz durch die Sozialversicherung. Der moderne Verfassungsstaat soll so zur Triebkraft des sozialen Fortschritts werden und die gesellschaftliche Ausgangslage in diesem Sinne laufend umgestalten. Die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft wird hier zum ersten Mal zum Prinzip einer demokratischen Verfassung und der durch sie vollzogenen Politik erhoben.

3.1. Die Oktoberrevolution und die Weimarer Reichsverfassung

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Die Verfassung von Weimar war ein Kompromiss zwischen den Mehrheitssozialdemokraten und den bürgerlichen Kräften. Vor allem im Grundrechtskatalog fand dies seinen Niederschlag in der Addition von im Kern konträren Vorstellungen. „In ihm fand die bestehende Geistes- und Sozialordnung der bisher herrschenden Klasse ihre Stätte neben den Forderungen der Arbeiterklasse. (…) Hier wurden Privateigentum und Sozialisierung von Unternehmungen und Grund und Boden, die freie Schule und die kirchlichen Heilsgüter, allgemeine Ämterbefähigung und weitherzige Garantie der bestehenden Beamtenmonopole, der Schutz des selbständigen Mittelstandes und zugleich die großen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen anerkannt. Dieses Sammelbecken möglicher Verfassungsstrukturen entsprach den politischen Machtverhältnissen in der augenblicklichen Lage, wie sie im Sommer 1919 bestand.“41

In der Tat, die Verfassung, insbesondere der Grundrechtskatalog, war ein Kompromiss zwischen, ja an manchen Stellen eine reine Addition der Vorstellungen der damaligen relevanten politischen Kräfte. Bei der Ausgestaltung des Regierungssystems dagegen lagen die Konzepte nicht so weit auseinander, hier stimmten die beteiligten politischen Kräfte im Wesentlichen überein. Resümiert man den gesamten Prozess der Verfassunggebung, so kommt man zu folgendem Ergebnis: „Ist man bereit, die frühen Entwürfe von H. Preuß als geschlossene Konzepte anzusehen, so wurde dieses in der Folgezeit nicht durch ein anderes ersetzt, sondern eher verwässert. Ein maßgeblicher Grund für diese Entwicklung dürfte gewesen sein, dass sich der Charakter der Verfassungsberatungen im Laufe der Zeit geändert hat. Während am Anfang ein geschlossener Entwurf mit Anspruch auf Konsistenz bestanden hatte, begaben sich die späteren Beratungen mehr oder weniger formell auf einen ‚Weg der Vereinbarungen‘. Mit unterschiedlichen Interessen wurden Verhandlungen aufgenommen, deren Ergebnisse dann in die Verfassungsberatungen eingebracht wurden und hier den weiteren Gang der Entwicklungen wesentlich mitbestimmten.“42

Während im ersten Entwurf von H. Preuß verfassungsrechtliche und politische Gründe dominierten – auch wenn man diese argumentativ bestreiten kann –, so wurden später Interessen, v. a. von den verschiedensten großen Verbänden, immer stärker in den Prozess der Verfassunggebung eingebracht und über Verhandlungen in die Verfassung selbst aufgenommen. Nach hitzigen Debatten verabschiedete die Nationalversammlung am 31. Juli 1919 die Verfassung der Weimarer Republik, der Reichspräsident unterzeichnete sie am 11. August und sie trat zum 14. August in Kraft. Sie hatte eine doppelte Legitimität. Ihre upstream-Legitimität43 gewann sie durch die demokratische Wahl der Nationalversammlung, die die konkrete Arbeit an den verfassunggebenden Ausschuss überwies, aber die gesamte Verfassung in drei Lesungen diskutierte. Ihre downstream-Legitimität erfuhr sie durch die Abstimmung im Reichstag, von dem sie mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Sofern Verfassungen zusätzlich durch ein Referendum bekräftigt werden, steigt deren Legitimität. Dies

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3. Die Politik der Verfassunggebung

war in Weimar nicht der Fall. Trotz dieser im Prinzip hohen Legitimität war ihre verfassungspolitische Lebensdauer kurz. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 wurde ihr ihre Lebenskraft genommen. Die Weimarer Verfassung schuf das weltweit erste semi-präsidentielle Regierungssystem44, das dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschiedenste Nachahmer fand, v. a. in Frankreichs Verfassung der Fünften Republik von 1958, der polnischen (bis 1997) und kroatischen Verfassung ebenso wie in der ukrainischen, die in den osteuropäischen Transformationen Anfang der 90er Jahre entstanden sind (vgl. dazu unten Kap. 3.4.). Die Weimarer Verfassung erfuhr im Zeitverlauf verschiedene Änderungen, aber ihr Kern blieb von ihnen unberührt. Ein grundlegender Wandel wurde erst durch das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 in Gang gesetzt, das sie in ihrer Substanz außer Kraft setzte, obwohl sie formal-rechtlich nie außer Kraft gesetzt wurde.

3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933: Der Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur Das Ermächtigungsgesetz (ErmG) vom 24. März 1933 war nicht der Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung, sondern war die letzte Stufe der Festigung der noch fragilen Machtposition der NSDAP unter Adolf Hitler. Bis zu seiner Verabschiedung beanspruchten gewisse (verfassungs)rechtliche Regelungen der WRV noch Geltung, auch wenn die neuen politischen Kräfte immer wieder versuchten, diese neu zu deuten, zu umgehen oder mit falschen Prämissen zu arbeiten. Aber rechtlich war das ErmG ein „Wendepunkt“, nämlich die „Preisgabe des Grundsatzes der funktionellen und regionalen Gewaltenteilung“ und der entscheidende Schritt zur „Begründung des ungeteilten und unkontrollierten Führerregimes.“45 Es war der letzte Schritt der Transformation der WRV in einen rechtlichen Rahmen, der eine totalitäre Diktatur ermöglicht. Insofern gibt es zwischen dem Weg des Zustandekommens und dem rechtlichen Inhalt dieses Gesetzes einen engen Zusammenhang. Verfassungsrechtlich haben wir es mit dem Paradox oder besser der Unmöglichkeit zu tun, dass mit einem verfassungsändernden Gesetz, das im rechtlichen Rahmen der Weimarer Verfassung zustande kam, genau diese Verfassung außer Kraft gesetzt wurde. Die Kompetenz zur Änderung einer Verfassung ist „Kompetenz-Kompetenz“46, die von einer gegebenen und geltenden Verfassung verliehen wird und nicht zu deren Beseitigung verwendet werden kann. Genau das aber wurde durch das ErmG vom März 1933 verfolgt. Damit vollzog sich der Wandel von einer kommissarischen zu einer souveränen Diktatur.47 Nur letztere Kategorie erfasst den grundlegenden Charakter der national-sozialistischen Herrschaftsform.

3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933

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In der Weimarer Republik waren Ermächtigungsgesetze zwar nicht an der Tagesordnung, gleichwohl aber wurde in vielen Phasen über Ermächtigungsgesetze regiert, v. a. in den Wirren der Nachkriegszeit und dann in den Wirtschaftskrisen der 20er Jahre. Aber das Ermächtigungsgesetz von 1933 unterscheidet sich fundamental von allen bisherigen. Diese Differenz lässt sich an einer ‚kleinen‘ Formulierung festmachen, die große, ja fatale und desaströse Auswirkungen hatte. In § 1 des Reichsermächtigungsgesetzes von 1923 hieß es: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich hält und dringend erachtet. Eine Abweichung von den Vorschriften der Reichsverfassung ist nicht zulässig.“48

In dem vom damaligen Reichsinnenminister Wilhelm Frick dem Kabinett vorgelegten Entwurf von 1933 hieß es dann – fast wortgleich: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Staat für erforderlich hält. Dabei kann sie von den Bestimmungen der Reichsverfassung abweichen.“49

Die Differenz ist klar: Das neue Ermächtigungsgesetz50 kann die Grundprinzipien der WRV verlassen und damit Recht jenseits der Verfassung kreieren. Damit steht die Verfassung selbst und generell zur Disposition. Sie kann nicht nur durch einfaches Gesetz der Nationalversammlung außer Kraft gesetzt werden, sondern zudem durch Ermächtigungsgesetze, die ohne Mitwirkung des Reichstages verabschiedet werden können. Mit anderen Worten: Die Reichsregierung kann im Alleingang und ohne weitere Kontrollen Gesetze verabschieden, die verfassungsrechtliche Bestimmungen negieren. Verfassungsändernde Gesetze können ansonsten nur mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden, während die Reichsregierung dies nun alleine unternehmen kann. Damit ist bereits vom Verfahren her ein zentraler Grundsatz der WRV außer Kraft gesetzt. Hinzu kommt noch die Befähigung, auch substantielle Grundsätze und Rechte zu negieren, was auf vielen Ebenen die Verletzung und Außerkraftsetzung von verfassungsrechtlichen Normen zur Folge hat. Um Kritik von den damals an der Regierung beteiligten politischen Kräften zu unterbinden, bestand der Reichsminister des Inneren W. Frick auf der Forderung, dass die verfassungsändernde Mehrheit das Gesetz binnen 3 Tagen verabschieden sollte. Die Fraktionen des Reichstages erhielten den Entwurf am 20. März 1933, der 21. März entfiel wegen eines „Tages für Potsdam“ für Beratungen. Es blieb somit nur der 22. März, weil am 23. März das Gesetz verabschiedet werden sollte. Das verfassungsändernde Gesetz wurde als Initiativantrag der Fraktionen der NSDAP und der DNVP eingebracht und musste so nicht schriftlich begründet werden. Auch bedurfte es nicht der vorherigen Zustimmung des Reichsrates. Die 2. und 3. Lesung des Gesetzes schloss sich unmittelbar an die erste Lesung an,

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3. Die Politik der Verfassunggebung

die zweite Beratung dauerte ungefähr drei Minuten, die dritte nur rund eine Minute – und dann erfolgte die namentliche Abstimmung.51 Die Abstimmung fand in einer gespenstischen Atmosphäre statt. Der am 23. März zusammengetretene Reichstag tagte ohne die 81 KPD-Abgeordneten, die nicht einmal zu der Sitzung eingeladen wurden. Ein Teil der sozialdemokratischen Abgeordneten war bereits geflohen, untergetaucht oder vorher in „Schutzhaft“ genommen worden. Bei der Abstimmung skandierten SA-Männer trotz Bannmeilengesetz vor der Kroll-Oper, im Plenarsaal selbst waren zahlreiche SAund SS-Männer in Uniform zugegen und zogen einen immer engeren Kordon um die verbliebenen SPD-Abgeordneten. Zudem war eine gewaltige Hakenkreuzfahne im Sitzungssaal befestigt, was der geltenden Geschäftsordnung ebenso widersprach wie die Anwesenheit der SA- und der SS-Männer. Auch die Abstimmung selbst bzw. deren Auszählung war problematisch.52 Bedeutete eine Zweidrittelmehrheit die aller oder nur der anwesenden Angeordneten? Eigentlich waren die 81 gewählten KPD-Abgeordneten nach wie vor Mitglieder des Reichstages, auch wenn sie von der Sitzung ausgeschlossen waren. Die für ein verfassungsänderndes Gesetz erforderliche Anwesenheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl war gegeben, auch wenn Reichstagspräsident Göring hier andere Zahlen nannte. Aber rein formal war die Abstimmung in Ordnung, weil insgesamt 444 Abgeordnete für das Gesetz gestimmt hatten und somit die notwendige Mehrheit gegeben war. Die Zustimmung des Reichsrates war ebenfalls erforderlich und er trat noch am Abend der parlamentarischen Verabschiedung zusammen. Etliche Mitglieder dieses Gremiums waren der Reichsregierung gegenüber weisungsgebunden und er war zudem nicht ordnungsgemäß aus den Vertretern der Länder zusammengesetzt. Reichsinnenminister W. Frick hielt eine kurze Rede und „ohne Diskussion beschlossen die Mitglieder des Reichsrates einstimmig, von dem Gesetzentwurf Kenntnis zu nehmen, ohne Einspruch zu erheben. Damit war das Ermächtigungsgesetz förmlich verabschiedet.“53

Es war zeitlich begrenzt. In Art. 5 ist festgehalten, dass es „mit dem 1. April 1937 außer Kraft (tritt); es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere ersetzt wird.“ Bereits im Januar 1937 wurde es vom damaligen Reichstag verlängert, erneut dann im Januar 1939, wobei die vorfristige Verlängerung dem Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes an das Deutsche Reich geschuldet war.54 Der damals gebildete Großdeutsche Reichstag sollte dem nun verlängerten Ermächtigungsgesetz einen legalistischen Anstrich geben, so als hätten die neu hinzugekommenen Abgeordneten es auch für ihre Gebiete beschlossen.55 Andere Regelungen wurden ebenfalls – entgegen der Formulierung im Gesetz selbst – unter der Herrschaft der Nationalsozialisten geändert. Der Reichstag wurde bereits im Februar 1934 aufgelöst, das Amt des

3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933

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Reichspräsidenten ging auf den Führer und Reichskanzler A. Hitler im August 1934 über, nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg gestorben war. Auch war die „gegenwärtige Regierung“, für die das Gesetz gelten sollte, längst nicht mehr im Amt. Eigentlich hätte es bereits am 29. Juni 1933 seine Geltung verlieren müssen, weil mit dem Rücktritt des Doppelministers Alfred Hugenberg die seither amtierende Regierung in dieser Form nicht mehr existierte. Aber der Begriff „gegenwärtig“ war damals umstritten und Teile der den Nationalsozialisten nahestehenden Rechtswissenschaft deuteten den Begriff so, als ob damit eine Regierung unter der Führung des Reichskanzlers A. Hitlers gemeint sei und sich nicht auf die konkrete Zusammensetzung des Regierungskabinetts beziehe. Die ‚Verfassunggebung‘ des Nationalsozialismus vollzog sich in verschiedenen Schritten und das ErmG war der letzte und entscheidende Schritt, der die Transformation von der kommissarischen zur souveränen Diktatur vollendete. Die kommissarische Diktatur dient der „Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und einen Diktatur zu autorisieren, d. h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten, deren Inhalt im Vergleich zu dem anderen Fall einer konkreten Ausnahme, der Begnadigung, ungeheuerlich ist.“56

Die ‚Ungeheuerlichkeit‘ ist darin zu sehen, dass sie erheblich weitreichendere Maßnahmen ergreifen kann (und vielleicht auch muss!), um den alten Zustand, den status quo ante, wieder herzustellen. Die kommissarische Diktatur rechtfertigt sich dadurch, dass sie zwar „das Recht ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen.“57 Sie ist durch eine bereits gegebene Verfassung autorisiert und legitimiert und hat in dieser ihren einzigen Ausgangspunkt. Die alte Verfassung kann sogar weiterhin gelten, weil Suspensionen nur Teile von ihr betreffen oder nur in Teilen des Staatsgebietes diktatorische Maßnahmen ergriffen werden oder – sofern sie völlig außer Kraft gesetzt ist – nur eine konkrete Ausnahme für einen begrenzten Zeitraum legitimiert. Aber das Ziel ist die Wiederherstellung des ursprünglichen verfassungsmäßigen Zustandes. Die kommissarische Diktatur ist in ihrem Selbstverständnis durch drei substantielle Merkmale charakterisiert, durch deren rationale Vernunft, deren Technizität und deren exekutiven Kern.58 Nur die (rationale) Vernunft kann diktieren und betrachtet das Volk bzw. die Masse als irrational, die durch die Ratio geführt, überlistet oder beherrscht werden muss. Nur sie kann die Triebe und Leidenschaften sowohl des Diktators als auch der Massen kontrollieren und beherrschen. „Die Vernunft diktiert“ – dies ist das Diktum von C. Schmitt.59 Alle rationalen Maßnahmen sind allein durch ihre Instrumentalität oder Technizität gerechtfertigt. Es muss dem Diktator darum gehen, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen und hierbei allein die ‚richtigen‘ Instrumente einzusetzen. Erfolgreich ist eine solche Diktatur dann, wenn der status quo ante wieder hergestellt ist und das rein technische Interesse an staatlichen und politischen Dingen gebietet, auf bestimmte (verfassungs)recht-

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3. Die Politik der Verfassunggebung

liche Gebiete – zeitlich und sachlich begrenzt – keine Rücksicht zu nehmen. Schließlich ist sie eine exekutive Diktatur, der Diktator ist „Aktionskommissar.“60 Seine Maßnahmen müssen reibungslos vollzogen werden können. Die anderen politischen Institutionen, etwa im Rahmen der Gewaltenteilung, müssen sich dem Diktator und seinem angestrebten zweckmäßig-technisch „glatten Ablauf“61 unterwerfen. Im Gegensatz dazu ist die souveräne Diktatur dadurch charakterisiert, dass sie „in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand (sieht), den sie durch ihre Aktionen beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung kraft eines in diesem begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht.“62

Diese ‚wahre Verfassung‘ ist verfassungslos, ihr liegt keine strukturierende und die politischen Gewalten bindende bzw. limitierende Verfassung zu Grunde, sondern sie lebt von der prinzipiellen Bindungslosigkeit und lässt sich nicht rationalisieren. „Das Volk, die Nation, die Urkraft alles staatlichen Wesens, konstituiert immer neue Organe. Aus dem unendlichen, unfassbaren Abgrund entstehen immer neue Formen, die sie jederzeit zerbrechen kann und in denen sich ihre Macht niemals definitiv abgrenzt.“63

Die souveräne Diktatur ist grenzenlos, sie kann durch Dekrete, Rechtssetzung oder tatsächliche Akte welcher Art auch immer zeitlich und inhaltlich unbegrenzt agieren. Sie handelt nicht von der Situation her, sondern – sofern sie mit dem Zusatz ‚revolutionär‘ verknüpft ist – dauerhaft und weiß sich als solche zu etablieren, was unvermeidlich mit dem Einsatz ungebundener Gewalt verbunden ist. Mit dem ErmG vom 24. März 1933 war der Schritt von der kommissarischen zur souveränen Diktatur endgültig und unwiderruflich vollzogen. Zuvor durchlief die Weimarer Republik mehrere Schritte, die diesen Weg vorbereiteten, aber der endgültige Bruch wurde durch das ErmG vollzogen. Die zentralen Stufen der Außerkraftsetzung der Weimarer Reichsverfassung können hier nur kurz skizziert werden.64 Der erste Schritt war der Beschluss des Reichspräsidenten P. von Hindenburg, den erst zwölf Wochen zuvor gewählten Reichstag durch Erlass vom 1. Februar 1933 aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Die damalige Reichsregierung, eines der typischen Präsidialkabinette, die vom Reichspräsidenten ins Amt gebracht wurde, war am 30. Januar 1933 von Reichspräsident P. von Hindenburg ernannt worden und agierte mit A. Hitler als Reichskanzler. In dieser Regierung waren nationalsozialistische Minister in der Minderheit, es war eine eher rechtsautoritäre Regierung, die jedoch über keine Mehrheit im Reichstag verfügte. Den Einbezug anderer Parteien, v. a. des Zentrums, wollte die damalige Regierung nicht und setzte stattdessen auf Neuwahlen. Franz von Papen, damals Vize-Kanzler, machte den Vorschlag, dass die Wahl nach dieser Auflösung „die letzte sein

3.2. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933

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sollte und eine Rückkehr zum parlamentarischen System für immer zu vermeiden sei.“65 A. Hitler als Reichskanzler stimmte dem natürlich zu und versicherte, dass die Neuwahl an der Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung nichts ändern könnte. Die Wahl war somit eine fiktive Wahl und die Begründung zur Auflösung des Reichstages widersprach bereits fundamental Geist und Buchstabe der Weimarer Verfassung. Sie stellt das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament auf den Kopf. In der Begründung zur Auflösung hieß es, dass „nachdem sich die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit als nicht möglich herausgestellt hat, löse ich nach Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf, damit das deutsche Volk durch Wahl eines neuen Reichstages zur neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nehmen kann.“66

Während nach der Verfassung die Regierungsbildung gemeinsame Aufgabe von Reichstag und Reichspräsident ist, die Regierung also als Ausschuss des Parlaments agiert, wird in der Auflösungsbegründung anders formuliert. Das Volk kann zur der (alten) Regierung „Stellung nehmen“. Indem allein eine ‚Stellungnahme‘ zu einer bereits existierenden Regierung angestrengt wurde und zudem diese Stellungnahme dem Volk zugesprochen wurde, wurde dem Parlament als der Institution, die über die Regierungsbildung entscheidet, seine zentrale Bedeutung genommen. Damit war der erste, aber bereits zentrale Schritt zu einem „antiparlamentarischen, plebiszitären Akklamationsregime“67 vollzogen. Zwar wurde die Auflösung unter Berufung auf Art. 25 legitimiert, aber für einen Vorgang instrumentalisiert, der durch diesen Artikel und seinen Geist nicht gedeckt war. Buchstabe und Geist der Verfassung wurden zudem durch verschiedene Notverordnungen verletzt, die den Wahlkampf unfair machten und die politische Opposition, vor allem die Sozialdemokratie, benachteiligte.68 Die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 war der nächste Schritt. Einen Tag zuvor brannte der Berliner Reichstag und als einzig möglicher Brandstifter wurde der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe von den Sicherheitskräften verhaftet. Ob er diesen Brand alleine gelegt oder ob er Mittäter hatte oder ob der Brand von den Nationalsozialisten selbst gelegt wurde, ist bis heute umstritten.69 Seine Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten dagegen nicht. Die entsprechende Notverordnung wurde durch Art. 48 (2) begründet und verabschiedet. Als wichtiges Instrument der kommissarischen Diktatur wurde sie von P. von Hindenburg erlassen und vom Reichskanzler A. Hitler, dem Reichsminister des Inneren W. Frick und dem Reichsminister der Justiz Dr. F. Gürtner gegengezeichnet. In Art. 1 werden die Grundrechte der Weimarer Verfassung „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt“ und Aktionen „außerhalb der sonst hierfür bestimmten Grenzen“ ermöglicht. In Art. 2 wird die Reichsregierung ermächtigt, zur „Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, falls dies in einem Lande nicht erfolgt. Der Begriff der

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3. Die Politik der Verfassunggebung

„Wiederherstellung“ deutet zwar auf die Wiederherstellung des status quo ante hin, jedoch wurde diese Formulierung von den politischen Kräften im Sinne eines zukünftig herzustellenden Zustandes umgedeutet, also eines status quo futurus. Als letzte Stufe und endgültigen Bruch mit Buchstabe und Geist der Weimarer Verfassung fungierte dann das bereits dargestellte ErmG vom 24. März desselben Jahres. Die nationalsozialistische Diktatur war nun etabliert und (verfassungs)rechtlich abgesichert. Besser: pseudo-(verfassungs)rechtlich und vor allem mittels ungebundener Gewalt abgesichert. Das Tor zur totalitären Gewaltanwendung und zur unbegrenzten Politik der Tötung (vgl. dazu Kap. 7) war nun endgültig und weit geöffnet.

3.3. Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland: Die ‚disziplinierte‘ Westdemokratie gegen die ‚undisziplinierte‘ Volksdemokratie? Nach dem Ende des verlorenen Zweiten Weltkrieges prallten in Deutschland zwei unterschiedliche Verfassungskonzeptionen aufeinander. Sie standen stellvertretend für die unterschiedlichen Lehren, die aus dem Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden und die von den jeweiligen externen politischen Kräften in die innerdeutsche Diskussion eingebracht wurden. Die Westlichen Alliierten, v. a. die Amerikaner, bestanden auf einer Form der Demokratie, die man in Anlehnung an den Verfassungsrechtler Karl Loewenstein als „disziplinierte Demokratie“ bezeichnen kann.70 Sie war geprägt von der Furcht vor den Massen, deren Entflammbarkeit und Leidenschaftlichkeit man für eine wichtige, wenn nicht wesentliche Ursache für den Faschismus hielt und nun nach Formen der Demokratie suchte, die dagegen immun wären. Der Idee der Volkssouveränität, v. a. auch bei der Verfassunggebung, wurde größtes Misstrauen entgegengebracht. Man wollte sie so weit wie möglich einschränken und ein Institutionengefüge finden, das Politik moderiert und den reflektierten und rational agierenden politischen Eliten mehr Bedeutung zugesteht. Das Volk wurde misstrauisch betrachtet und man fürchtete sich vor seiner „pathetischen Emotionalität“71, auf die sich die faschistische Bewegung gestützt hatte. Demokratien hatten ihr gewaltenteilende und moderierende Institutionen entgegenzusetzen, weil sie darin das Allheilmittel gegen die Infektion des Volkes mit dem Bazillus der Leidenschaft sahen. Dies schlug sich schon im Prozess der Verfassunggebung nieder, aber fand seinen Niederschlag ebenso im Text der Verfassung. In der damaligen sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR wurde dagegen das Volk verfassungspolitisch aufgewertet. Es sollte der zentrale Verfassungsgeber sein, der sich uneingeschränkt und deshalb souverän seine Verfassung geben sollte. In der angestrebten Volksdemokratie war das Volk die wichtigste

3.3. Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland

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politische Größe, ihm sollte alle politische Macht zukommen und sie auch weitgehend ungebremst ausüben können. Dass Volk und kommunistische Partei identisch gesetzt wurden und das Volk innerhalb der Partei eine immer geringere Rolle spielte, wurde selbstverständlich ignoriert, aber gleichwohl war der Prozess der Verfassunggebung grundlegend anders organisiert als in der damaligen Westzone. Die Beteiligung des Volkes oder zumindest Teile von ihm waren dort realisiert und hat sich im Inhalt der Verfassung ebenso niedergeschlagen wie das Misstrauen gegenüber dem Volk in der westdeutschen. Die deutsche Verfassungsdiskussion verlief nicht autonom, sondern war in massiver Weise durch die Konflikte der Siegermächte um die deutsche Frage geprägt. Sie fanden in den Entwürfen bzw. späteren Verfassungen ihren ausdrücklichen Niederschlag.72 Die wesentlichen Konfliktpunkte waren sicherlich der Aufbau des Staates (föderal versus zentralistisch), die Wirtschaftsform (wesentlich Privateigentum versus wesentlich vergesellschaftet), das Ausmaß der Sozialisierung (moderat versus intensiv) und die Bodenreform (keine versus intensiv). Aber auch in Grundrechtsfragen waren Differenzen unübersehbar, auch wenn sie nicht dieselbe Bedeutung hatten wie die anderen Faktoren. Beide deutschen Verfassungen entstanden deshalb auch, aber nicht ausschließlich, als Gegenverfassung zur jeweils anderen: Die der SBZ als Gegenentwurf zum Grundgesetz und das Grundgesetz als Gegenentwurf zur Verfassung der SBZ. Aber beide unternahmen zugleich zwei weitere Abgrenzungen: einmal zur Verfassung der Weimarer Republik, wobei die SBZ-Entwürfe beim Grundrechtsteil erstaunliche Anleihen bei ihr nahmen, beim Regierungssystem dagegen – wie das Grundgesetz auch – völlig andere Wege gingen. Beide standen zudem in scharfer Abgrenzung zum nationalsozialistischen Totalitarismus. Diese dreifache Gegnerschaft, zu Weimar, zum Nationalsozialismus und der gegeneinander, prägte nicht nur die Politik der Verfassunggebung, sondern auch die jeweiligen inhaltlichen Ausprägungen. Wie vollzogen sich nun die Verfassunggebungen im Einzelnen? Ich beginne mit der Verfassunggebung in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone und stelle dann den Entstehungsprozess des Grundgesetzes in dem Westzonen dar.

3.3.1. Die Politik der Verfassunggebung in der SBZ: Der Kampf um die Souveränität des Volkes In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) versuchte man – ebenso wie in den Besatzungszonen der drei Westalliierten – die politischen Lehren aus dem Faschismus zu ziehen. In der SBZ verlief die Diskussion erheblich anders, ja fast entgegengesetzt zu der in den westlichen Zonen. Hier sollte das Volk nicht nur so direkt wie möglich an der Verfassunggebung beteiligt werden, sondern auch in

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3. Die Politik der Verfassunggebung

der Verfassung selbst und damit in der Politik eine herausragende Rolle spielen. Die Souveränität des Volkes sollte sich immer realisieren können und nicht durch die Verfassung eingeschränkt sein. Der verfassunggebende Ausschuss arbeitete dementsprechend öffentlich, die Bevölkerung wurde massiv in den Prozess der Verfassunggebung einbezogen. Aber das Volk sollte auch danach, in der ‚normalen‘ Politik, souverän sein in dem Sinne, als es sich bei der Gesetzgebung nicht durch ein (Verfassungs)Gericht oder andere institutionelle Mechanismen einschränken bzw. kontrollieren lassen sollte. Dem „Bonner Machwerk“, das ohne Beteiligung des Volkes entstanden war und auch dem Volk im politischen Prozess keine überragende Rolle einräumte, wurde die neue Verfassung entgegengestellt. Sie sollte für das gesamtdeutsche Volk gelten und den Willen des Volkes souverän zum Ausdruck bringen und nicht durch ein Verfassungsgericht oder andere Institutionen der Kontrolle unterworfen sein. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde am 10. August 1946 veröffentlicht und legte die wichtigsten Grundprinzipien dar, die allerdings im Verlauf der Verfassunggebung durch die SED-Spitze und z. T. durch die Sowjetische Militäradministration bzw. die Spitzen der KPdSU erheblich verändert wurden. Der Autor dieses Entwurfs war der Staats- und Verfassungsrechtler Karl Polak, der während des Nationalsozialismus im russischen Exil war und im März 1946 in die damalige SBZ zurückkehrte.73 Die politische Führung beauftragte ihn, einen ersten Entwurf zu formulieren. Die Verfassunggebung wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht beschleunigt, weil sie nach der Sitzung des Rates der Außenminister der Alliierten im Juli 1946 in Paris zu der Ansicht gekommen war, dass eine einheitliche Deutschlandpolitik nicht mehr im Bereich des Möglichen lag. Dort hatte der amerikanische Außenminister James F. Byrnes einen Deutschlandplan vorgelegt, der eine weitgehende Föderalisierung Deutschlands vorsah und dem die Sowjetunion nicht folgen wollte. Auch die SED sollte dem entgegenwirken, indem sie möglichst schnell einen Entwurf für eine gesamtdeutsche Verfassung erarbeiten und breit in der (gesamt)deutschen Öffentlichkeit diskutieren sollte. Zudem waren in der SBZ die ersten demokratischen Wahlen, konkret zu den Kommunalparlamenten, für den Herbst 1946 geplant und die Bedeutung und Formen der kommunalen Selbstverwaltung weitgehend ungeklärt. Aber auch in den Ländern der westlichen Besatzungsmächte wurde die Verfassunggebung auf Länderebene in Angriff genommen, was die Föderalisierungstendenzen ebenfalls beschleunigte. Durch den Verfassungsentwurf wollte die Führung der SBZ ihren gesamtdeutschen Gestaltungswillen zum Ausdruck bringen und den Föderalisierungstendenzen entgegentreten. K. Polaks Entwurf war erstaunlich stark von der Weimarer Verfassung inspiriert, während sie bei der Verfassunggebung in den drei westlichen Zonen eher als Negativfolie diente. Er hielt fest, dass sich die „Diskussion um die zukünftige demokratische Staatsform Deutschlands (…) als Diskussion um die Weimarer

3.3. Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland

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Verfassung und die Weimarer Republik (entwickelt)“74, weil dort zum ersten Mal in der Geschichte die „Überwindung des Obrigkeitsstaates“ gelungen und der „Durchbruch zum demokratischen Staatswesen“ erfolgt sei.75 Aber sie hatte einen zentralen Mangel, weil der „Durchbruch zu einer wahren Volksherrschaft“ nicht vollzogen und das Volk weiterhin „Objekt der Staatsmacht“ und nicht sein Subjekt wurde.76 Der große Mangel an Weimar war, dass der „Reichstag, das einzige demokratische Organ der Weimarer Republik, von beiden Seiten in die Zange“ genommen wurde, Diese Zange bildete zum einen die Reichsregierung und die Staatsverwaltung und zum anderen die Justiz, die den Reichstag „langsam ab(würgten)“.77 In K. Polaks Entwurf gab es zwei Spalten. In der einen waren die Artikel oder Hinweise auf die WRV vermerkt, in der anderen waren die Formulierungen für die neue Verfassung abgetragen.78 Bei den Grundrechten und -pflichten sind die Überschneidungen unübersehbar, bei der Konstruktion des Regierungssystems dagegen sind keine Verweise vorhanden, hier ist die Absetzung von ihr überdeutlich. Dieser doppelte – positive wie negative – Bezug musste Auswirkungen auf die Grundstruktur der neuen Verfassung haben. K. Polak stellte die Souveränität des Volkes in den Mittelpunkt seiner Verfassungskonstruktion. Die Gewaltenteilungslehre, die auch ein Grundelement der Weimarer Verfassung war, sollte, ja durfte in der neuen Verfassung keine Rolle mehr spielen. Stattessen musste die Souveränität des Volkes bekräftigt werden und uneingeschränkt zum Ausdruck kommen. Die Volkskammer sollte „gleichsam die natürliche Fortsetzung des politischen Willens der Massen“ sein und die Kluft zwischen Staatsmacht und Volk schließen.79 Diese ‚natürliche Fortsetzung‘ sollte so erfolgen, dass bei der Kandidatenaufstellung nicht nur die politischen Parteien, sondern auch verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen das Sagen haben, also Vereinigungen, Gewerkschaften, Frauen- und Jugendverbände u. ä. Diese Idee findet sich etwas abgeschwächt in Art. 56 des Entwurfs und wortgleich in der endgültigen Verfassung (Art. 43) wieder, im allerersten Vorentwurf war dies weitgehender gefasst. Untrennbar damit verbunden war das Verhältniswahlrecht und der Grundsatz der freien, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahl (Art. 54). Das Parlament ist das höchste Staatsorgan der Republik, in seiner Hand liegt die Gesetzgebung und die Kontrolle über die Verwaltung (Art. 53). In der endgültigen Verfassung ist die Souveränität des Volkes dagegen sehr viel weitgehender gefasst. Art. 50 der Verfassung formuliert klar und bündig: „Höchstes Organ der Republik ist die Volkskammer“ und diese Prämisse wird in der gesamten Verfassung durchgehalten. In der Hand des Parlaments liegt nun die Gesetzgebung, die „oberste Kontrolle über alle Regierungsmaßnahmen, Staatshandlungen, über die gesamte Verwaltung und Rechtsprechung.“ (Art. 40). Die Kontrolle über die Rechtsprechung und damit die Aufhebung der Gewaltenteilung war in dem Entwurf von K. Polak nicht vorgesehen, obwohl auch er eine verfassungsrechtliche

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Kontrolle der Gesetzgebung als Eingriff in die Souveränität des Volkes ablehnte. In den späteren Entwürfen ist diese Position radikalisiert. Nun wird zwar festgehalten, dass die Richter in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen sind. Aber zugleich werden die obersten Richter auf Vorschlag der Regierung durch die Volkskammer gewählt, die selbst aber kein Vorschlagsrecht besitzt. Weit wichtiger, sie können durch die Volksvertretung abberufen werden, wenn sie gegen die Verfassung der Republik oder der Länder oder auch gegen Gesetze verstoßen. Wahl und Abwahl der Richter ist Ausdruck der Parlamentssouveränität, die sich auch auf die Rechtsprechung erstreckt und die tradierte, rechtsstaatliche Gewaltentrennung unterminiert. Denn im Gegensatz zu einer unabhängigen juristischen Verfassungsrechtsprechung wird die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch einen Verfassungsausschuss der Volksversammlung geprüft. Erneut wird hier die Vorstellung der Souveränität der Volksversammlung deutlich, weil sie – wenn auch über einen besonderen Ausschuss – die alleinige Berechtigung besitzt, Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in die Wege zu leiten (Art. 4; Art. 63 (1) und Art. 66 (3)). Das Volk bzw. einzelne Individuen sind hiervon als direkte Akteure ausgeschlossen. Verfassungsänderungen sollten, sofern mindestens zwei Drittel der gesetzlichen Mitglieder anwesend sind, mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen von der Volksversammlung vorgenommen werden können (Art. 83). Die Regierung und einzelne Minister sind durch ein einfaches Misstrauensvotum abwählbar (Art. 82). Die Volkskammer wählt ein Präsidium, indem auch Vertreter der Bundesländer vertreten sind. Es soll die Versammlung einberufen und – weit wichtiger – auflösen, die verfassungsmäßigen Gesetze ausfertigen und verkünden, bei Verfassungsstreitigkeiten zwischen Republik und Ländern bzw. auch zwischen den einzelnen Ländern entscheiden und es kann nicht abberufen werden. Das Präsidium verfügt über außerordentliche Befugnisse und kann diese während der gesamten Legislaturperiode uneingeschränkt ausüben. Ein Präsidentenamt war in dem ersten Entwurf von K. Polak gar nicht vorgesehen, in späteren Entwürfen wird dieses Amt dann eingeführt und auf repräsentative Funktionen beschränkt. Die Wahl des Staatspräsidenten erfolgt durch die Volksversammlung und die Länderkammer, er kann aber auch – ähnlich wie die Regierung – durch eine Art Misstrauensvotum abgewählt werden, wobei allerdings eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist (Art. 103 des Entwurfs vom 3. Oktober 1949 und Verfassung vom 7. Oktober 1949). Die Verfassung umfasst einen weiten Grundrechtsteil, der die gängigen Grundrechte umfasst. Sie reichen von der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, der Gleichberechtigung von Mann und Frau über die persönlichen Freiheiten, wie Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und Niederlassungsfreiheit über Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit bis zum Schutz der

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Familie und der Ehe, der Freiheit der Kunst, Wissenschaft und Lehre bis zur Religionsfreiheit (Art. 6 bis 49). Die sozialen Grundrechte sind stark ausgestaltet ebenso wie die Vorgaben für die Wirtschaftsordnung. Hier wird die sozialistische Orientierung besonders deutlich, auch wenn das Privateigentum gewährleistet wird. Abschließend darf ein Kuriosum nicht unerwähnt bleiben: Die neue Verfassung garantiert allen Abgeordneten freie Fahrt in allen öffentlichen Verkehrsmitteln (Art. 70). Der Einfluss der sowjetischen Militäradministration und vor allem der sowjetischen Regierung ist unübersehbar. Alle Schritte wurden mit ihnen abgestimmt und mussten von dort genehmigt werden. Aber die sowjetische Besatzungsmacht bzw. die KPdSU griff nie öffentlich und direkt in den Prozess der Verfassunggebung ein.80 Im Vergleich zum (versuchten) Einfluss der Westmächte auf das Grundgesetz war der Einfluss der Sowjets moderat. Die gesamte Verfassungsdiskussion dauerte der Regierung der SBZ viel zu lange, weil mit jedem Tag die Chancen zur Beeinflussung der Diskussion in den Westzonen sanken. Endlich, am 8. November 1948, konnte der Entwurf im SED-Zentralsekretariat diskutiert werden. Ein Verfassungsausschuss beschäftige sich mit dem Entwurf und formulierte eine leicht geänderte Version, die am 14. November vom Parteivorstand der SED gebilligt und am 16. November 1948 im Neuen Deutschland veröffentlich wurde. Der weitere Verlauf der Verfassunggebung war kompliziert. Zunächst wurde der Entwurf in einer breiten öffentlichen Debatte diskutiert, wobei die Diskussion in Bürger- und Gemeindeversammlungen ebenso relevant war wie die in Schulen und Universitäten. Insgesamt wurden rund 15.000 Änderungsvorschläge unterbreitet, die dann in 52 Änderungen des Entwurfs ihren Niederschlag fanden, aber meist formale Aspekte betrafen. Grundlegenden Veränderungen an dem Entwurf fanden nicht statt. Im März 1949 wurde dieser Entwurf vom Volksrat bestätigt. Der sogenannte Dritte Volkskongress bildete einen Deutschen Volksrat, der sich als „provisorische Volkskammer“ konstituierte und einen Verfassungsausschuss einsetzte. Volkskongress und Volksrat waren keine von den Landtagen bzw. den kommunalen Volksvertretungen gewählten Institutionen, sondern setzten sich aus Delegierten der Massenorganisationen zusammen, in denen die SED klare Mehrheiten besaß. Beide Gremien waren am 15./16. Mai 1949 neu gewählt worden. Gegen den Widerstand vor allem der CDU (Ost) und der LPD wurde über Einheitslisten gewählt, die bereits vor der Wahl die Zusammensetzung der politischen Kräfte festgelegten und über die man nur mit Ja oder Nein in Gänze abstimmen konnte. Die neue Verfassung wurde somit von einem Gremium erarbeitet, dem „selbst die eingeschränkte Legitimation des (nur) von den Landtagen der 11 westdeutschen Länder gewählten Parlamentarischen Rates fehlte.“81 Im März 1949 legte der Volksrat dem nun Dritten Volkskongress einen Verfassungsentwurf vor, der

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von ihm am 30. Mai 1949 verabschiedet wurde. Weil in der Zwischenzeit alle Versuche einer gesamtdeutschen Verfassunggebung gescheitert waren und die Westzonen wie die Ostzone immer eigenständiger wurden, wurde am 7. Oktober der Deutsche Volksrat in „Provisorische Volkskammer“ umbenannt und die noch in der SBZ erarbeitete Verfassung mutierte dann zur Gründungsverfassung der DDR. Sie wurde am 7. Oktober 1949 durch ein eigenes Gesetz in Kraft gesetzt. Obwohl in der Diskussion um die Verfassunggebung die Souveränität des Volkes eine große Rolle gespielt hatte, war die demokratische Legitimität der Verfassung selbst äußerst gering. Es gab keine Wahl einer verfassunggebenden Versammlung oder zu einem demokratisch legitimierten Parlament, das neben der Gesetzgebung auch die Verfassung ausarbeitete. Auch wurde sie nie durch eine Volksabstimmung bestätigt. Allein die öffentliche Diskussion, die im Vergleich zu den Westzonen breit und umfassend war, gab ihr eine gewisse Legitimität, die aber nie durch ein formales Verfahren begleitet wurde. In allen Phasen wollten die politische Führung der SBZ und auch die sowjetische Militäradministration bzw. die Führung der KPdSU die Fäden in der Hand behalten. Das Interesse der herrschenden Staatspartei, den Prozess der Verfassunggebung weitgehend zu kontrollieren, war unübersehbar. Die upstream- wie auch die downstream-Legitimität82 der neuen DDR-Verfassung war somit außerordentlich gering. Aber sie legte die Grundlagen für die Phase der sogenannten „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“, die dann 1968 von der neuen Verfassung abgelöst wurde, die der sozialistischen Phase den konstitutionellen Rahmen gab. Zuvor wurden jedoch drei wichtige Änderungen vorgenommen, die kurz erwähnt werden müssen. Seinen Anfang nahm dies mit einem Gesetz zur Ergänzung der Verfassung vom 26. September 1955, das im Zusammenhang mit der Gründung der Nationalen Volksarmee die allgemeine Wehrpflicht einführte. Das Änderungsgesetz zur Abschaffung der Länderkammer vom 8. Dezember war ein wichtiger Schritt der Zentralisierung des Regierungssystems. Schließlich wurde die Zentralsierung des Staates noch weiter getrieben, indem der Staatsrat eingeführt wurde, der die Institution des Staatspräsidenten zugunsten dieser neuen Institution ersetzte. Die neue Verfassung von 1968 enthielt wesentliche Änderungen im Vergleich zur 1949er Verfassung und sollte dem neuen Stand der historischen Entwicklung, der sozialistischen Phase der DDR, entsprechen. Am 1. Dezember 1967 schlug der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht der Volkskammer die Bildung einer Kommission zur Erarbeitung einer sozialistischen Verfassung vor. Bereits einen Monat später wurde dieser Entwurf von W. Ulbricht in der Volkskammer vorgestellt. Dem schloss sich unmittelbar eine breite Diskussion in der Bevölkerung an. Tausende von öffentlichen Veranstaltungen folgten und endeten in insgesamt über Zehntausend eingegangenen Änderungsvorschlägen, die dann zu 118 Änderungen in der Präambel und bei 55 Artikeln führten.83 Allerdings blieben sub-

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stanzielle Änderungen weitgehend aus.84 Im Gegensatz zur 1949er Verfassung wurde sie durch einen Volksentscheid legitimiert. Am 6. April 1968 sprachen sich über 94 % der Bevölkerung für die neue Verfassung aus, die dann bereits am 9. April 1968 in Kraft trat. Die Änderungen der 1949er durch die 1968er Verfassung sind gravierend. Der Grundrechtskatalog ist nun erheblich eingeschränkt, es fehlen das in der alten Verfassung gewährte Widerstandsrecht (Art. 4 (1)), das Verbot der Pressezensur (Art. 9 (2)), das Auswanderungsrecht (Art. 10 (3)), das Streikrecht (Art. 14 (2)), das Recht auf die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen (Art. 19 (3)), die Gewährleistung des Privateigentums (Art. 22 (1)), die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre (Art. 34 (1)) und schließlich die freie Berufswahl (Art. 35 (1)).85 Während die Gründungsverfassung noch eine Art Mischwirtschaft aus privatem und Volkseigentum vorsah, wird nun deutlicher von einer „sozialistische(n) Planwirtschaft“ (Art. 9 (3)) gesprochen, die auf dem „sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitten (beruht)“ und sich gemäß den „ökonomischen Gesetzen des Sozialismus auf der Grundlage der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ entwickelt (Art. 9 (1)). Der Schutz des sozialistischen Eigentums ist die Pflicht jeden Staatsbürgers, aber zugleich werden das private Eigentum und das Erbrecht gewährleistet (Art. 11 (1)). Das Regierungssystem wird durch die Einführung des Staatsrates dramatisch zentralisiert. Nicht nur weil die Vertretung der Länder durch die Länderkammer entfällt, sondern auch durch seine außerordentlich weitreichenden Kompetenzen. Er ist das mächtigste Staatsorgan, das die politischen Fäden in seiner Hand konzentriert. Er ist zwar formal ein Organ der Volkskammer und von ihr gewählt, aber seine weitreichenden Kompetenzen machen es zu einer Herrschaftsinstitution über die Volkskammer. Seine Mitglieder können nicht abberufen werden, er hat zudem Gesetzgebungskompetenz in Form von Staatsratserlassen, die eine neue Rechtsform darstellen. Sie müssen zwar der Volkskammer zur Bestätigung vorgelegt werden, die jedoch zu einem „reinen Formalakt“86 herabgesunken ist. Auch kann er Beschlüsse mit rechtsverbindlicher Kraft fassen. Der Ministerrat bildet – in Analogie zur Regierung in der BRD-Verfassung – ein Organ, das die politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Angelegenheiten organisiert. Der Vorsitzende wird nicht von der Volkskammer, sondern vom Staatsratsvorsitzenden vorgeschlagen und ernennt dann selbständig den Ministerrat. Er arbeitet auf der Grundlage der Beschlüsse und Erlasse der Volkskammer und des Staatrates, der dadurch unmittelbaren Einfluss auf die Regierung ausüben kann (Art. 79 (1)). Mit dieser Verfassung war die Transformation von der antifaschistisch-demokratischen Epoche in die des entwickelten Sozialismus abgeschlossen. Sie formulierte nun die verfassungsrechtlichen Prämissen, die für diese neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung prägend sein sollten.

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3. Die Politik der Verfassunggebung

3.3.2. Die Politik der Verfassunggebung in den Westzonen bzw. der BRD Die Erarbeitung des Grundgesetzes war ein komplizierter Prozess, der nicht nur außerordentlich konflikthaft war, sondern auch verschiedene Stufen durchlief. Am wichtigsten waren die Konflikte zwischen den Deutschen und den drei westlichen Alliierten, die den Prozess prägten und bei dem sich letztlich die deutschen Positionen mehr oder weniger durchsetzten. Aber ebenso wie in der SBZ waren die Vorgaben der Siegermächte von großer Bedeutung. Das Grundgesetz (GG) ist nicht in nationaler Selbständigkeit entstanden, sondern war durch Vorgaben und Interventionen in den laufenden Prozess der Verfassunggebung in gewisser Weise vorbestimmt und stand unter dem Genehmigungsvorbehalt der Alliierten. Zudem wurde es als vorläufige Verfassung konzipiert und bekam deshalb den Namen ‚Grundgesetz‘, weil die Verfassunggeber keine Verfassung für das gesamte Deutsche Volk erarbeiten wollten. In der SBZ war die Verfassunggebung erheblich schneller gegangen und weiter fortgeschritten, aber die Idee eines einheitlichen Deutschlands fand seinen Niederschlag im vorläufigen Charakter des Grundgesetzes. Es sollte nur so lange Geltung besitzen, bis sich das gesamte Deutsche Volk in Freiheit eine eigene Verfassung geben würde. Im Prozess der Verfassunggebung mussten sich die politischen Kräfte – ähnlich wie in der SBZ – von einer dreifachen Gegnerschaft absetzen: von den Grundideen der Weimarer Reichsverfassung, von denen der Nationalsozialisten und von denen der in der SBZ-Verfassung zum Ausdruck kommenden. Diese drei verfassungspolitischen Kon-Texte spielten eine bedeutende Rolle, vor allem der gerade militärisch niedergeschlagene Nationalsozialismus und seine menschenverachtende Politik waren als Negativfolie immer präsent. Aber auch die Lehren aus Weimar waren wichtig, denn nach Ansicht vieler Verfassungsexperten war die angebliche Fehlkonstruktion der Weimarer Reichsverfassung mitverantwortlich, wenn nicht der alleinige Grund für den Untergang dieser Republik. Zugleich tauchte im Osten ebenfalls ein Konkurrent auf, die neue SBZ-Verfassung, die – wie oben angedeutet – als expliziter Gegen- und Konkurrenzentwurf zum Grundgesetz ausgearbeitet wurde – zeitlich wie auch inhaltlich. Die Verfassung des Parlamentarischen Rates hatte einen Vor-Text, den Herrenchiemseer Entwurf. So wie der Polak-Entwurf der SBZ-Verfassung vorausging, so hatte auch das Grundgesetz in diesem Entwurf seinen Vorläufer. Der Autor dieses Vorlaufs war jedoch ein Kollektiv, das durch Beschluss der Ministerpräsidenten der Länder nach einer Besprechung am 15./16. Juli 1948 im Jagdschloss Niederwald bei Rüdesheim institutionalisiert wurde. Es sollte ein Verfassungsausschuss gegründet werden, der aus 11 Mitgliedern bestehen und in das jedes (westliche) Bundesland einen Vertreter entsenden sollte. Auf Vorschlag des bayrischen Ministerpräsidenten sollte das Gremium auf der Insel Herrenchiemsee tagen, um „unbeeinflusst vom amtlichen Getriebe gründliche Arbeit zu leisten.“87

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Am 25. Juli wurde dann ein formeller Beschuss zur Einsetzung dieses Gremiums gefasst, das vom 10. bis zum 23. August 194588 tagte und dann seinen abschließenden Entwurf vorlegte. An dessen erstem Arbeitstag wurde der Entwurf der SBZ-Verfassung in (Ost-)Berlin öffentlich gemacht und setzte die westdeutschen Verfassunggeber unter erheblichen Zeitdruck. Neben dem jeweiligen Vertreter eines Bundeslandes, meist Parteipolitiker mit großem verfassungspolitischen Sachverstand, waren auch Mitarbeiter zugelassen, die aus Verwaltung, Justiz oder Wissenschaft kommen konnten. Zugegen waren hochgradig belastete Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus ebenso wie aus dem Exil zurückgekehrte Personen. Es kam zu der Situation, dass Theodor Maunz89, der zu einem der führenden Rechtswissenschaftlicher im Nationalsozialismus aufgestiegen war, auf Hans Nawiasky90 traf. Er war als Jude nach einer bereits 1931 stattgefundenen Hetzkampagne an der Münchener Universität und nach Übergriffen auf sein Haus im Jahr 1933 vor den Nationalsozialisten geflohen. An diese Fakultät wurde dann 1933 ausgerechnet Th. Maunz berufen, der dann dort während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Terrorherrschaft lehrte. Verfassunggebung auf einer Insel hatte große symbolische Bedeutung. Die Abgeschiedenheit von den laufenden parteipolitischen Auseinandersetzungen war dadurch nicht nur symbolisch, sondern auch faktisch gegeben. Eine gewisse Überparteilichkeit konnte sich zusätzlich durchsetzen, weil die Personen nicht nach Parteienproporz bestimmt wurden, sondern von den jeweiligen Länderregierungen delegiert wurden und fast ausschließlich (Verfassungs)Juristen waren. Diese wurden zwar auch nach parteipolitischen Erwägungen ausgewählt, aber konnten hinsichtlich ihrer verfassungspolitischen Positionen dennoch relativ frei und weitgehend unabhängig von den politischen Parteien agieren. Dadurch war das „Diskussionsklima und die Diskussionsproblematik im Verfassungskonvent völlig anders als in den einst von den politischen und sozialen Kräften eines Volkes (…) beherrschten verfassunggebenden Versammlungen der deutschen Länder.“91

Die Suche nach einer ‚guten‘ Verfassung war dominant, die in Abgrenzung und Auseinandersetzung mit den drei Gegnerschaften die Lehren aus der Geschichte ziehen sollte. Auch hatten die Ministerpräsidenten die „Aufgaben des Verfassungskonvents nur vage umrissen“92, so dass dieser relativ frei agieren konnte. Im Parlamentarischen Rat, der dann die endgültige Fassung des Grundgesetzes erarbeitet, waren die wichtigsten Mitglieder des Herrenchiemseer Konvents erneut vertreten und übten einen großen Einfluss aus. Umgekehrt waren die Fragen, über die in Herrenchiemsee keine Einigung erzielt werden konnte, auch im Parlamentarischen Rat heftig umstritten. Durch den Herrenchiemseer Entwurf

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wurden somit wesentliche verfassungspolitische Prämissen des späteren Grundgesetzes vorgeprägt. Zu klären war zunächst, ob Deutschland als Staat untergegangen war oder ob es sich um dessen Reorganisation handelt. Erstere Position wurde vor allem von H. Nawiasky vertreten, die Idee der Reorganisation von Carlo Schmid. Der Staat – so diese Position – sei nicht untergegangen, sondern habe allein seine Handlungsfähigkeit verloren und müsse nun neu organisiert werden. Dies habe von „dem in Ländern gegliederten Volk des neu zu organisierenden Gebietes auszugehen.“93 Faktisch aber wurde durch das Grundgesetz ein Staatsgebilde erschaffen, das „angesichts der Vollständigkeit des vorgelegten Verfassungskonzepts“94 kein Provisorium wurde, sondern ein funktionierender und selbstständiger Staat, so wie in der SBZ und der späteren DDR ein ebensolcher Staat entstand. Auch die Grundstruktur des Regierungssystems wurde von ihm vorgegeben, wobei das konstruktive Misstrauensvotum die Regierung gegenüber dem Parlament ebenso stärken sollte wie die weitgehend auf symbolische Bedeutung reduzierte Rolle des Bundespräsidenten. Allerdings konkurrierten hier zwei Alternativen, weil einerseits ein Bundespräsident und andererseits ein Bundespräsidium vorgeschlagen wurde, das aus dem Präsidenten des Bundestages, des Bundesrates bzw. Senates und dem Bundeskanzler bestehen sollte. Direktdemokratische Verfahren waren weitgehend ausgeschlossen, allein Verfassungsänderungen sollten durch Plebiszit vorgenommen werden können. Schließlich war die Bedeutung der Grundrechte unumstritten, in dem Entwurf wurde – wie später im Grundgesetz auch – betont, dass die Grundrechte Gesetzgeber, Richter und Verwaltung unmittelbar binden und Einschränkungen das „Grundrecht als solches unangetastet lassen“ müssen (Art. 21 HChE). Schließlich war ein starkes Bundesverfassungsgericht vorgesehen, das – neben anderen Funktionen – auch den Gesetzgeber hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit seiner Gesetze kontrollieren sollte. Uneinigkeit bestand vor allem hinsichtlich des föderalen Staatsaufbaus. Der Konvent sah einen stärker föderalen Staatsaufbau vor, was vor allem darin seinen Grund hatte, dass die Mitglieder Bevollmächtigte der jeweiligen Länderregierungen waren und deren Selbständigkeit stark betonten. Strittig war auch die Vertretung der Länder auf Bundesebene. Sollte es ein Bundesrat werden, indem die Mitglieder der Länderregierungen agierten oder ein Senat, der aus Einzelpersonen besteht, die von den Länderparlamenten gewählt werden sollten? Hier traf man keine Entscheidung, sondern formulierte beide Positionen verfassungsrechtlich aus. Auch der Ausnahmezustand wurde geregelt, er kann durch die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates/Senats ausgerufen werden; das Parlament ist hierbei nicht beteiligt. Alle Notverordnungen treten nach vier Wochen außer Kraft, es sei denn, sie werden vom Bundestag oder seinem Ausschuss verlängert. Hier ist er beteiligt und ebenso kann er Verordnungen, die die Grund-

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rechte betreffen, außer Kraft setzten (Art. 111 HChE). Der Herrenchiemseer Entwurf – so kann man zusammenfasend sagen – „(trägt) formalistischen Charakter, der justizstaatliches Denken verrät. Von einem Verständnis der Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform, die zugleich den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang durchdringen und auf die Verwirklichung sozialer Probleme eine Antwort finden müsse, kann im Herrenchiemseer Entwurf – der wichtigsten Vorlage für den Parlamentarischen Rat! – kaum gesprochen werden.“95

Diese Vorlage wurde dann vom Parlamentarischen Rat zum Grundgesetz verarbeitet. Seine Zusammensetzung war formaler als die des Konvents, weil die Alliierten vorgaben, dass auf je 75.000 Einwohner ein Abgeordneter vom Landtag oder der Bürgerschaft des jeweiligen Landes gewählt werden sollte. Dies wurde auf den Anteil der Parteien in den jeweiligen Landtagen nach dem Proporzprinzip heruntergerechnet und die Fraktionen konnten ihre Kandidaten bestimmen. Dem Parlamentarischen Rat gehörten dann insgesamt 65 stimmberechtigte Mitglieder (und fünf nicht stimmberechtigte aus Berlin) an, wobei die beiden größten Parteien, die CDU/CSU und die SPD, jeweils 27 Delegierte stellten, die FDP (bzw. FDP/DVP-LDP) fünf, die DP, das Zentrum und die KPD jeweils zwei. Die meisten seiner Mitglieder waren bereits in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen, noch Ende des 19. Jahrhunderts geboren und der Altersdurchschnitt war deshalb relativ hoch. Immerhin waren neben den berühmten ‚Vätern‘ des Grundgesetzes auch vier ‚Mütter‘ an der Verfassunggebung beteiligt. Es waren Frederike Nadig und Elisabeth Selbert (SPD), dann Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum). Es versteht sich von selbst, dass die Parteien ihre wichtigsten Verfassungspolitiker in den Rat schickten. Diese waren auch schon bei der Erarbeitung des Herrenchiemseer Entwurfs dabei und auch bei den Verfassungsentwürfen ihrer eigenen Parteien federführend. Die organisierten Interessen waren im Rat unterrepräsentiert, aber ihr Einfluss war gleichwohl erheblich und sie brachten ihn auf andere Weise zur Geltung.96 Die Mitglieder unterlagen im Prinzip keinem imperativen Mandat, sondern sollten frei handeln und entscheiden können. Allerdings wurden die Vertreter der SPD mehr oder weniger stark einem imperativen Mandat der Parteiführung unterworfen, die sich in einem Konfliktfall massiv gegenüber den Mitgliedern des Rates durchsetze.97 Die erste konstituierende Sitzung fand am 1. September 1949, direkt nach dem offiziellen Festakt im Museum König, in der Pädagogischen Akademie statt. Die ‚richtige‘ Arbeit des Rates wurde durch eine Generaldebatte am 8. und 9. September eröffnet und durch eine lange und grundsätzliche Rede von C. Schmid (SPD) eingeleitet. Die Hauptarbeit erfolgte in insgesamt sechs Ausschüssen98, die – im Gegensatz zum Hauptausschuss – unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagten.

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Beim Grundrechtsverständnis des Rates herrschte weitgehend Übereinstimmung, auch wenn die Begründungen vor allem bei den beiden großen Parteien sehr unterschiedlich waren. Während die christlichen Parteien die Grundrechte aus naturrechtlichen und von Gott gewollten Prämissen ableiteten, betonten die Sozialdemokraten zwar auch die „Gültigkeit vorstaatlicher Rechte“, aber machten hierbei klar, dass die Grundrechte „das Grundgesetz regieren“ müssen. Der Staat „soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist (…), sondern der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können.“ – so der SPD-Politiker C. Schmid.99 Auch die anderen Parteien – sieht man von der FDP und der KPD ab – hatten ein naturrechtlich begründetes Grundrechtsverständnis. Hierbei setzte die SPD aber auf rational-naturrechtliche Grundlagen, die Christdemokraten, Zentrum und DP eher auf christlich-neothomistische Prämissen. Die Folge jedoch war ein ausgeprägter Grundrechtskatalog, der sich allerdings auf die individuellen Freiheitsrechte beschränkte und konkrete soziale Rechte negierte. Zu heftigen Diskussionen führte die Frage, wie weit in Grundrechte eingegriffen werden dürfe und – wenn ja – ob auf der Grundlage von Gesetzen. Letztlich setzte sich eine Position durch, dass in die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person „nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“ darf – so der abschließende Art. 2 GG. Dagegen wollten manche Mitglieder die Absolutheit der Grundrechte stärker verankert wissen, weil diese auch eine Schutzfunktion gegenüber dem Gesetzgeber haben sollten. Die Formulierung, dass in die Grundfreiheiten durch ein förmliches Gesetz eingegriffen werden kann, wurde zeitweilig vom Rechtsausschuss abgelehnt, weil nach seiner Meinung „eine solche Bestimmung zwar der Willkür von Verwaltung und Rechtsprechung, nicht aber der oft viel gefährlicheren des Gesetzgebers Schranken gesetzt hätte.“100 Diese Position konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen. Die Angst vor der Willkür des Staates, konkret von Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetzgeber, fand verfassungsrechtlich keinen Niederschlag, aber die Angst vor dem Missbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Das Grundgesetz sollte zwar eine Ordnung schaffen, „die jedem einzelnen Deutschen die Freiheitsrechte schützt, ohne die ein Leben in Würde und Selbstachtung nicht möglich ist.“ Aber zugleich „soll sich jener nicht auf die Grundrechte berufen dürfen, der von ihnen Gebrauch machen will zum Kampf gegen die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung“101 – so C. Schmid, der die vorherrschende Meinung im Rat wiedergab. Die Diskussionen um die Struktur des Regierungssystems waren wenig kontrovers, hier bildete sich schnell ein Konsens heraus und eine grundsätzlichere Auseinandersetzung darüber fand nicht statt, wohl auch aus Zeitgründen. Zwar war dem Rat klar, dass die Struktur des Regierungssystems ein „Kernstück jeder demokratischen Verfassung“ sei102, aber eine gründliche Diskussion blieb gleich-

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wohl aus. Allein durch den Antrag zweier FDP-Abgeordneter, den Staatspräsidenten direkt zu wählen und ihn zudem mit exekutiven Befugnissen auszustatten, wurde kurz eine grundlegende Diskussion angestoßen, aber dies blieb bei allen anderen Parteien ohne Echo. Die Idee eines parlamentarischen Systems mit einem indirekt gewählten und exekutiv sehr schwachen Präsidenten dominierte – nicht zuletzt wegen der Weimarer Erfahrungen. Wie sahen nun die letztlich gefundenen Regelungen aus? Die Stabilität der Regierung war die zentrale Prämisse, die von allen Parteien geteilt wurde, und durch zwei konstitutionelle Regelungen realisiert werden sollte. Bereits im Herrenchiemseer Entwurf war eine starke Regierung vorgesehen, die zwar vom Vertrauen des Parlaments abhängig, aber durch ein konstruktives Misstrauensvotum vor dem Parlament geschützt sein sollte (Art. 90 (1) HChE). Das Grundgesetz hat dann fast wortgleich formuliert (Art. 67 (1) GG) und ein Regierungschef kann nur dann vom Parlament entlassen werden, wenn es zugleich mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt. In fast allen Verfassungsentwürfen der Parteien waren ähnliche Regelungen vorgesehen, weil die Stabilität der Regierung eine wichtige Grundidee für die neue Verfassung war. Ergänzt wurde diese Idee durch die hervorgehobene Stellung des Bundeskanzlers. Das konstruktive Misstrauensvotum, so die Erwartung, bringe unvermeidlich „eine herausgehobene und sehr starke Stellung des Kanzlers“103 mit sich. Zudem ist der Bundeskanzler allein für die Regierungsgeschäfte verantwortlich und nur er – und nicht der Bundestag – kann einzelne Minister ernennen oder entlassen, wobei dieser Vorgang formal vom Bundespräsidenten vollzogen wird (Art. 64 GG). Verstärkend tritt die sogenannte Richtlinienkompetenz hinzu (Art. 65 GG), die bereits im Herrenchiemseer Entwurf vorgesehen war (Art. 93 HChE). Auch die Minister sollten auf Vorschlag des Kanzlers ernannt und entlassen werden, aber immer war hier die Zustimmung des Bundestages erforderlich (Art. 89 HChE). Das Grundgesetz bzw. der Parlamentarische Rat sind hier noch radikalere Wege gegangen und haben den Bundeskanzler dadurch weiter gestärkt. Die Regierung ist ausschließlich seine Regierung. Schließlich kann die Bundesregierung Gesetze des Bundestages zurückweisen, die entweder Ausgabenerhöhungen oder Einnahmenminderungen mit sich bringen und Abstimmungen darüber im Bundestag aussetzen; zudem kann sie innerhalb von vier Wochen verlangen, dass eine erneute Abstimmung über solche Gesetze erfolgen muss (Art. 113 (2) GG). „Stabilitätsdenken und Antiparteienaffekt (…) waren die Paten der genannten Bestimmungen“104 und der Parlamentarische Rat hat sich auf die „Stärke der Regierung und deren Effizienz“ konzentriert und „kaum auf die Bedeutung der Parlamentsfunktion.“105 Entsprechend wurde die Stellung des Staatspräsidenten geschwächt. Er vollzieht weitgehend symbolische Funktionen und ist dem Tagesgeschäft der Politik

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entzogen. Allein bei Regierungskrisen wird er bedeutsam. Umstritten war zunächst, ob ein staatsrechtliches Provisorium überhaupt einen Staatspräsidenten brauche und eine solche Institution nicht falsche Signale aussende. Bei allen Parteien wurde nach anfänglichen Differenzen klar, dass man nicht nur einen Staatspräsidenten brauche, sondern dass er auch nicht direkt vom Volk gewählt werden sollte. Unklar dagegen war der Wahlmechanismus bzw. das Wahlgremium, insbesondere ob und wenn ja, wie die Länder involviert werden sollten. Ob die Landtage an der Wahl beteiligt werden oder die Länderregierungen Delegierte bestimmen sollten, war hochgradig umstritten. Dies insbesondere zwischen SPD und CDU/CSU, wobei letztere eher den Einfluss der Landesregierungen bei der Wahl stärken wollten. Eine Einigung konnte erst in letzter Minute und über komplizierte Verfahren erreicht werden.106 C. Schmid sprach sogar davon, dass der Bundespräsident nicht eigentlich gewählt, sondern gekürt werden sollte. „Gerade die Wahl des Bundespräsidenten ist (…) eine ‚Kür‘, nicht eine Wahl im beliebigen Sinne des Wortes. Der Bundespräsident muss durch einen einmaligen Gesamtakt, der alle Elemente der Spontaneität in sich tragen muss, ‚gekürt‘ werden. Darin liegt seine wahre Autorität.“107

Ebenso umstritten war seine Funktion bzw. seine staatsrechtliche Bedeutung. Schließlich einigte man sich darauf, dass er „den ausgleichenden Faktor zu bilden, die vielfach divergierenden politischen und wirtschaftlichen Interessen zusammenzufassen und miteinander zu versöhnen“ habe, wie es das Mitglied A. Süsterhenn formulierte.108 Vielfach wurde seine Bedeutung als die eines ‚pouvoir neutre‘ beschrieben, der über den politischen Kräften und Strömungen zu stehen habe. Entsprechend wurden seine Kompetenzen bestimmt und vor allem auf symbolische Funktionen reduziert. Er vertritt den Bund völkerrechtlich, er ernennt und entlässt hohe Bundesbeamte und -richter, fertigt die Gesetze aus, übt das Begnadigungsrecht aus und schlägt dem Bundestag den Kandidaten für die Bundeskanzlerwahl vor. Hinter all dem stand das Bestreben, den vermeintlichen Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden, die ein semipräsidentielles Regierungssystem109 institutionalisiert hatte und dessen Fehlkonstruktion für das Scheitern verantwortlich gemacht wurde. Seine Entpolitisierung wurde zunächst darin deutlich, dass er „ohne Aussprache von der Bundesversammlung gewählt“ wird (Art. 54 GG) und wesentlich auf repräsentative Funktionen beschränkt ist. Allein in Zeiten einer Regierungskrise soll ihm explizit politische Verantwortung zufließen, vor allem dann, wenn der Bundestag selbst in einem zweiten Wahlgang keinen Kanzler wählen kann. Dann kann er entweder den gescheiterten Kandidaten ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63 (4) GG). Nur auf „Ersuchen“ kann er einen Bundesminister verpflichten, seine Amtsgeschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers weiterzuführen (Art. 69 (3) GG).

3.3. Die diktierten Verfassunggebungen in der Nachkriegszeit in Deutschland

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Verfassungsänderungen – eine wichtige und politisch bedeutsame Kompetenz – können nur durch die Zustimmung von zwei Dritteln des Bundestages und des Bundesrates vorgenommen werden. Hierbei dürfen die Gliederung des Bundes in Länder, die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 festgeschriebenen Grundsätze nicht aufgehoben werden (Art. 79 (3) GG). Im Verlauf der Nachkriegsgeschichte erfolgten vielfältige Verfassungsänderungen.110 Sie konzentrierten sich zeitlich auf die Jahre 1953 bis 1970, wobei in den 50er Jahren die meisten Änderungen erfolgten und dann erneut in den Jahren 1990 bis 1994. Bei letzteren waren dies meist Erfordernisse, die sich aus dem Einigungsprozess ergaben, während in den 50er Jahren die ‚Lücken‘ und Mängel des Grundgesetzes korrigiert wurden. Hier erfolgte der „Ausbau des Provisoriums zur Vollverfassung.“111 Inhaltlich bezogen sich die meisten Änderungen auf die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, das Finanzwesen und auf die BundLänder-Beziehungen, während bei der Struktur des Regierungssystems faktisch keine Änderungen erfolgten. Mit den Stimmen von jeweils zwei Dritteln des Bundestages und des Bundesrates waren die Hürden zu Veränderungen im Vergleich zu den Verfassungen anderer europäischer Länder sehr niedrig und sie erfolgten zudem ohne die Beteiligung des Volkes durch Plebiszite, eine europäische Ausnahmeregelung. Die vielleicht umstrittensten Änderungen betrafen die Einführung der Bundeswehr und die damit verbundene Wehrpflicht (1956) und die Notstandsgesetze (1968), die verschiedene Regelungen über den Ausnahmezustand sowie über den Verteidigungs- und Katastrophenfall umfassten. Die politischen Konflikte bei diesen Verfassungsänderungen waren ausgesprochen intensiv. Schließlich und weniger umstritten war die Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern im Jahr 1969. Auch wurde vor der Bundestagswahl 1953 die Fünf-ProzentKlausel in das Wahlrecht eingefügt, was allerdings durch einfaches Gesetz möglich war. Kleine und unbedeutende Parteien sollten dadurch aus dem Bundestag ausgeschlossen werden. Der Einigungsprozess von 1989/1990 erforderte verschiedenste Verfassungsänderungen. Auch durch die Europäisierung wurden manche Änderungen unvermeidlich, vor allem in der Folge der Verträge von Maastricht von 1992 und Lissabon im Jahr 2009. In den grundlegenden Fundamenten erwies sich das Grundgesetz jedoch als erstaunlich robust, während die meisten Änderungen bei eher technisch-funktionalen Aspekten vorgenommen wurden. Das Verfassungsgericht spielt als Hüter der Verfassung eine bedeutende Rolle. Während in der SBZ-Verfassung das Volk souverän in dem Sinne ist, dass die Volkskammer unbeschränkt Gesetze verabschieden konnte, sollte im GG die Gesetzgebung der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterliegen. Seine Bedeutung ist groß, es hat seit seiner Einrichtung im Jahr 1951 viele Initiativen des Gesetzgebers in die Schranken verwiesen bzw. bestehende Regelungen für verfassungs-

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3. Die Politik der Verfassunggebung

widrig deklariert. Vor allen bei der Parteienfinanzierung war seine Rolle außerordentlich wichtig, aber auch bei der Durchsetzung der Grundrechte und in vielen anderen Bereichen. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden gewählt, zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat. Der Bundestag wählt mittels eines Wahlausschusses, dem 12 Mitglieder aller Fraktionen angehören, der Bundesrat dagegen im Plenum. Um eine Parteipolitisierung der Richterwahl zu vermeiden, ist in beiden Verfahren eine Zweidrittelmehrheit notwendig; gleichwohl wechselt das Vorschlagsrecht zwischen den Parteien, was einer Politisierung dieser Wahl Vorschub leistet. Die Richter müssen mindestens 40 Jahre alt sein und eine Befähigung zum Richteramt besitzen oder eine Rechtsprofessur an einer deutschen Universität innehaben. Ihre Amtszeit beträgt 12 Jahre, Wiederwahl ist nicht möglich. Die demokratische Legitimität des Grundgesetzes ist nur schwach ausgeprägt. Weder wurde eine verfassunggebende Versammlung gewählt noch wurde es durch eine Volksabstimmung bestätigt. Die insgesamt 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden von den Landtagen der westlichen Länder nach Parteienproporz ernannt, die Auswahl lag in den Händen der jeweiligen Parteifraktionen. Die politischen Parteien entschieden exklusiv über die Zusammensetzung sowohl des Parlamentarischen Rates als auch des vor ihm tagenden Herrenchiemseer Sachverständigenausschusses. Auch wurde das Grundgesetz nicht – wie von den Alliierten mehrfach eingefordert – durch ein Referendum legitimiert, sondern von den Landtagen gebilligt.

3.4. Die Runden Tische und die Idee der verfassunggebenden Selbstbeschränkung in den osteuropäischen Demokratisierungsprozessen Die in Mittel- und Osteuropa stattgefundenen Transformationen zu Demokratie und Marktwirtschaft sind oft und – wie ich meine – fälschlicherweise als Revolutionen bezeichnet wurden. Verfassunggebung in revolutionären Situationen bedeutet immer und unvermeidlich die Konstitution einer souveränen verfassunggebenden Gewalt, die ohne jegliche Einschränkungen eine neue Verfassung gibt. Der Revolutionsbegriff verdunkelt aber gerade das welthistorisch Neue, das in diesen Transformationen seinen Niederschlag gefunden hat. Die Besonderheit der in Mittel- und Osteuropa (MOE) stattgefundenen Systemwechsel ist gerade in der bewussten Absetzung vom traditionellen Revolutionsbegriff zu sehen. Sie stellten ihn nicht nur grundsätzlich in Frage und erklärten ihn als geschichtlich überholt, sondern entwickelten zugleich ein welthistorisch neues Modell der Verfassunggebung. Die Begrifflichkeiten variieren, sie reichen von der ‚koordinierten Transformation‘ über die Idee und Praxis der Selbstbeschränkung oder der ‚radi-

3.4. Die Runden Tische

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kalen Kontinuität‘112 bis zu ‚verhandelten Übergängen‘ – aber alle vermeiden den Revolutionsbegriff, der das welthistorisch Neue dieser Verfassunggebungen nicht zur Geltung kommen lässt. Wie vollzogen sich nun diese koordinierten Transformationen und welche Differenzen kann man im Vergleich zu anderen Wegen der Demokratisierung feststellen? Welche Rolle spielen hierbei die Massen und die politischen Eliten, konkret die alten kommunistischen Eliten und die sich neu herausgebildeten oppositionellen Kräfte? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich in den jeweiligen Ländern beobachten? Ich werde in diesem etwas längeren Teil in drei Schritten vorgehen. Ich kläre zunächst, ob der Zusammenbruch der sozialistischen Regime eine Revolution (wenn auch mit Adjektiven) war oder ob der Begriff der ‚koordinierten Transformation‘ das Neue dieser grundlegenden Änderungen präziser markieren kann (Kap. 3.4.1.). Ich werde dann die Phasen der Systemwechsel und die Rolle der Massen und Eliten in den mittel- und osteuropäischen Staaten in vergleichender Perspektive darstellen (Kap. 3.4.2.). Abschließend fasse ich die Ergebnisse zusammen und begründe, warum die ‚koordinierten Transformationen‘ in Mittelund Osteuropa ein grundlegend neues Modell des Systemwechsels und der damit verbundenen Verfassunggebung in die Geschichte eingeführt haben (Kap. 3.4.3.).

3.4.1. „Koordinierte Transformation“? Konzeptionelle Annäherung und verfassungstheoretische Überlegungen Um es erneut zu betonen: Die Systemwechsel waren keine Revolutionen, sondern koordinierte Transformationen, in denen die oppositionellen Kräfte bewusst darauf verzichteten, die Massen dauerhaft zu mobilisieren und sich als souveräne (verfassunggebende) Gewalt zu konstituieren, um der Gesellschaft ein neues und revolutionäres Programm aufzuerlegen. Stattdessen trachteten sie danach, den Status der Rechts- und Verfassungslosigkeit nie eintreten zu lassen und der Gesellschaft allein Verfahren mit offenem Ausgang zur Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Ordnungen zur Verfügung zu stellen. Aber sie wollten während der unmittelbaren Transformation keine substantiellen Ordnungsvorstellungen realisieren. Welche zentralen definitorischen Momente umfasst der Revolutionsbegriff? Es gibt viele und unterschiedliche Begrifflichkeiten, aber man kann sie alle auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen, der vier definitorische Merkmale umfasst, die alle gleichzeitig realisiert sein müssen:113 •

Der Bruch mit den konstitutionellen Grundsätzen der bisherigen Verfassung, die vollständig delegitimiert ist;

120 •

• •

3. Die Politik der Verfassunggebung

die Konstitution einer souveränen, verfassunggebenden Gewalt, die der Gesellschaft eine neue politische und/oder soziale bzw. ökonomische Ordnung oktroyiert; die Mobilisierung der Massen, die die revolutionäre Machtergreifung durch ihre Aktionen unterstützen oder selbst die Macht ergreifen; und schließlich die Anwendung von Gewalt, weil zwei Gruppen unvereinbare Ansprüche auf die Macht in einem Staat stellen und sich die alte Elite nicht freiwillig aus ihren Machtpositionen zurückzieht.

Der Kampf um die Souveränität, der aus den unvereinbaren Machtansprüchen der kämpfenden Gruppen entspringt, ist ein, vielleicht das zentrale Merkmal von Revolutionen und die souveräne Gewalt ist an keine ihr übergeordneten normativen Prämissen oder Rechtssätze gebunden. Im Gegensatz zu Reformen, die sich innerhalb der Regeln und Institutionen eines bestehenden (politischen) Systems vollziehen, das nicht vollständig delegitimiert ist, sind Revolutionen durch einen abrupten Bruch mit dem bestehenden Verfassungs- und Institutionengefüge und dem gewaltsamen Austausch der alten Elite verbunden. Sicherlich können auch systemische, ökonomische, soziale und politische Änderungen innerhalb und mit Hilfe des bestehenden Institutionensystems vollzogen werden, aber zentral ist, dass bei Reformen das alte politische Regime entweder unberührt bleibt oder mit den Regeln zur Änderungen von Regeln verändert wird. Es kommt aber nicht zu einem Bruch mit diesen Regeln, in dem eine neue Gruppe als souveräne Gewalt neue Regeln setzt. Im Gegenteil, sie verfügen – ebenso wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten – nach wie vor über eine breite legitimatorische Basis. Revolutionen dagegen setzen an die Stelle des alten Institutionengefüges ein komplett neues, das von der souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes gegeben wird und die Konstituierung ebendieser souveränen Gewalt voraussetzt. Die Aneignung der souveränen Gewalt muss sich nicht unbedingt in einem gewaltsamen Akt vollziehen, sie kann sich ebenso durch freie Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung vollziehen, wie etwa nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland durch die Wahl der Weimarer Reichsversammlung. Aber zentral ist die Ausarbeitung einer neuen konstitutionellen Ordnung durch die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes, weil die alte ihre Legitimität vollständig verloren hat. Um die Besonderheiten der mittel- und osteuropäischen Transformationen genauer zu sehen, ist eine Erinnerung an verfassungstheoretische Grundsätze hilfreich. Die Kompetenz zur Änderung einer Verfassung ist eine Kompetenz-Kompetenz, die von einer gegebenen Verfassung verliehen wird und die aus logischen und systematischen Gründen nicht dazu verwendet werden kann, genau diese Verfassung außer Kraft zu setzen.114 Sie dient allein dazu, die „Erhaltung der Kontinuität im geschichtlichen Wandel“115 zu bewirken und ist mit einem „Ver-

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3.4. Die Runden Tische

bot, die Identität der Verfassung und mit ihr die Kontinuität der rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens aufzugeben“116, untrennbar verbunden. Deshalb ist es eigentlich unmöglich, die Änderungsregeln einer Verfassung zu benutzen, um eine Verfassung mit einer völlig neuen Identität und völlig neuen normativen Prämissen zu kreieren. Dies geht nun dann, wenn die alte Verfassung bereits politisch und rechtlich tot ist.117 Umgekehrt aber steht mit der alten, jedoch bereits ‚toten’ Verfassung ein institutioneller Rahmen bereit, der die Konstituierung einer souveränen verfassunggebenden Gewalt des Volkes faktisch überflüssig macht und zugleich ein semantisches Vokabular der Selbstbeschränkung für beide Seiten, die oppositionellen Kräfte wie die alten Machthaber, bereitstellt. Die alten Machthaber müssen nicht die revolutionäre Gewalt des Volkes fürchten, sondern können mit den Oppositionellen einen Übergang verhandeln, in dem sie während und auch nach der Transformation einen rechtlich und institutionell geschützten Rahmen haben, in dem sie sich als politische Kräfte bewegen können. Und die oppositionellen Kräfte können gegen das Ancien Régime um die Macht kämpfen, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Was wir in Mittel- und Osteuropa beobachten konnten ist ein Grenzfall der Verfassungstheorie und -praxis, die man weder mit dem Begriff der Reform noch dem der Revolution analytisch angemessen bezeichnen kann. Der Begriff, der diesen Grenzfall analytisch angemessen reflektiert, ist der bereits oben eingeführte der „koordinierten Transformation.“118 Um ihn konzeptionell exakter zu fassen und von anders gelagerten Begriffen abzusetzen, ist eine Vier-Felder-Matrix hilfreich. Sie kombiniert die die bisher diskutierten zwei Dimensionen, die Kontinuität/Diskontinuität der (verfassungs)rechtlichen Strukturen und die Anwesenheit/Abwesenheit einer tiefen legitimatorischen Krise. Schaubild 2: Typen von systemischem Wandel Legitimationskrise

Ja Verfassungskontinutät Nein

Ja

Nein

koordinierte Transformation

Reform

Revolution

Staatsstreich (coup d’état)

Quelle: eigenes Schaubild.

Koordinierte Transformationen sind – wie Revolutionen auch – durch eine tiefgreifende Krise der Legitimität der institutionellen (und oft ökonomischen) Ordnung begleitet, die die Autorität der Machtelite, bindende Entscheidungen zu

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3. Die Politik der Verfassunggebung

treffen, nachhaltig und unwiderruflich in Frage stellt. Gleichwohl vollzieht sich der Wandel – wie bei Reformen – innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens, ohne dass sich eine souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes konstituiert, die der Gesellschaft eine neue politische und/oder ökonomische Ordnung diktiert. Im Gegenteil, die verhandelnden politischen Kräfte setzen ausdrücklich auf konstitutionelle Kontinuität, um den Boden des Rechts nicht zu verlassen und um einseitige Ordnungssetzungen zu verhindern. Jedoch, und das unterscheidet die mittel- und osteuropäische Situation von traditionellen Reformen, verfügen die alten Machthaber über keine legitimatorische Basis mehr, grundlegende Änderungen selbst in Gang zu setzen. Dazu mussten sie die oppositionellen Kräfte während des Übergangs in das alte Machtgefüge kooptieren und sich mit ihnen koordinieren, um eine revolutionäre Situation zu vermeiden. Nach den verhandelten Übergängen mussten sie in der neuen institutionellen Ordnung, insbesondere bei den ersten freien Wahlen, mit ihnen konkurrieren. So entstanden keine unvereinbaren Ansprüche auf die politische Macht, weil die alten Eliten nicht auf die gewaltsame Verteidigung ihrer Macht setzten, sondern als „Helden des Rückzugs“119 agierten. Da auch koordinierte Transformationen immer mit der Mobilisierung der Massen verbunden sind und sie eine bedeutende Rolle spielen, ist die Frage nach der Bedeutung von Eliten und Massen gleichbedeutend mit der Frage nach den jeweiligen konkreten und empirisch beobachtbaren Untertypen von koordinierten Transformationen, die in den jeweiligen Ländern unterschiedliche Ausdrucksformen fanden. In der ehemaligen DDR dagegen war die Ausgangslage sehr anders und der Prozess der Verfassunggebung ebenfalls (vgl. unten Kap. 3.5.).

3.4.2. Revolution oder „koordinierte Transformation“? Zum Charakter des Systemwechsels in Mittel- und Osteuropa Die in der Transformationsforschung gängige Unterteilung der „modes of transition“ oder auch „modes of extrication“120 unterscheidet vier Grundtypen, die allen Transformationen, sei es in Südeuropa, Lateinamerika, Asien oder Mittelund Osteuropa, unterlegt wurden. Zunächst Transitionen durch Pakte, die dann entstehen, wenn „elites agree upon a multilateral compromise among themselves“; durch Zwang, sofern „elites use force unilaterally and effectively to bring about regime change against resistance of the incumbents”; dann durch Reform, sofern „masses mobilize from below and impose a compromised outcome without resorting to violence“ und schließlich durch Revolution, „when masses rise up in arms and defeat the previous authoritarian rules militarily.“121 Überträgt man dieses Kategoriensystem (zu) schematisch auf MOE, dann betreibt man „concept-strechting“: Man findet dann Transitions durch Revolution

3.4. Die Runden Tische

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in Rumänien, durch Reform in der ehemaligen Tschechoslowakei, durch Pakte in Bulgarien, Polen und Ungarn und durch Zwang in Albanien.122 Das Problem dieser Konzepte sehe ich darin, dass sie keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Transformationen vornehmen, sondern bestimmte, an den südeuropäischen und lateinamerikanischen Fällen gewonnene Kategorien über unterschiedlichen Transitions hinweg anwenden. Aber während es sich in den lateinamerikanischen und südeuropäischen Transitions zur Demokratie um Wechsel der politischen Regime handelt, vollzog sich in MOE eine vierte Welle, die mit einen kompletten Systemwechsel und dem damit verbundenen Problem der Simultaneität von politischer und ökonomischer, ja zum Teil auch territorialer Transformation konfrontiert war.123 Auch wenn ich die damit verbundenen Überspitzungen hinsichtlich der Komplexität dieser Transformationen nicht teile,124 so markieren diese Überlegungen jedoch die Sonderstellung der MOE Transformationen, die eine unmittelbare Übertragung der Transitionskonzepte fragwürdig erscheinen lässt. Stattdessen scheint es mir sinnvoller, die Besonderheiten MOE generell als koordinierte Transformationen zu markieren und dann nach Übereinstimmungen und Differenzen innerhalb dieser einen Gattung und nicht zwischen unterschiedlichen Gattungen von Transformationen zu fragen. Das Leitkonzept ‚koordinierte Transformation‘ kann dann mit Subtypen innerhalb des Konzepts operieren und neue Gesichtspunkte aufdecken, für die die anderen Konzepte ‚blind‘ sind. In einem Vergleich der Transformationen zwischen Ungarn und Polen hat der polnische Politologe Jerzy J. Wiatr festgehalten, dass „(…) there is a number of explanations for this difference. Neither the political cultures – with interesting similarities – nor the socio-economic situation will suffice, however. The explanation should be sought in the way in which the negotiated revolution has taken place, in the behaviour of the main actors (on part of both the former regime and the opposition), in the legal framework chosen for the first stage of democratic transformation, and in the role of the leaders.”125

J. Wiatr weist darauf hin, dass wir es zwar in Polen und in Ungarn mit koordinierten Transformationen zu tun haben, aber gleichwohl mit zwei unterschiedlichen Subtypen innerhalb dieser Gattung. Und er weist zudem auf drei wichtige Variablen hin, die diese Differenz ausmachen könnten: Das Verhalten der zentralen Akteure, die Rolle von politischen Eliten bzw. herausgehobenen Führungspersönlichkeiten und die Bedeutung der neuen institutionellen Architektur. Generell kann man vermuten, dass sich in den anderen Ländern, wie etwa der ehemaligen Tschechoslowakei, Rumänien, Albanien, Bulgarien u. a., weitere Untertypen finden lassen, die man ebenfalls als Untertypen innerhalb des Genus ‚koordinierte Transformation‘ konzeptionalisieren kann – und nicht als Revolutionen, Reformen oder Staatstreich. Genau dies will ich im Folgenden versuchen und hierbei insbesondere die Rolle von Eliten und Massen beobachten.126

124

3. Die Politik der Verfassunggebung

3.4.2.1. Polen: Der Runde Tisch als Paradigma der Transformation Am Anfang stand Polen und der Anfang ist immer am schwersten. Es gab kein historisches Vorbild, an dem man sich hätte orientieren können und alle Beteiligten sind mit falschen Vorstellungen in die Verhandlungen am Runden Tisch (RT) gegangen. Voraussetzung für die Einrichtung des Runden Tisches war u. a. eine grundlegende Neueinschätzung der politischen und ökonomischen Ausgangslage durch die reformorientierten Kräfte in der polnischen KP und dem Militär. Sie mussten anerkennen, dass die Opposition in Form der Solidarność und anderer Kräfte kein vorübergehendes, sondern ein dauerhaftes Phänomen ist und Ausdruck einer grundlegenden und nicht zu korrigierenden Legitimationskrise des alten Regimes. Ökonomische Reformen konnten deshalb nicht ohne den Einbezug der oppositionellen Kräfte realisiert werden, was umgekehrt bedeutete, das Monopol einer politischen Kraft auf die politische Macht aufzugeben.127 Seinen institutionellen Niederschlag fand diese Einschätzung im Runden Tisch, dessen erste öffentliche Sitzung am 6. Februar 1989 begann. An ihm verhandelten die Reformer innerhalb der militärischen und politischen Elite und die moderaten Kräfte der Opposition über die zukünftigen Spielräume der Zivilgesellschaft. Die Verhandlungen bezogen sich anfänglich auch auf wirtschaftliche Reformen und andere Fragen, aber diese Gespräche führten – wie später in den anderen Ländern MOE auch – zu keinen Ergebnissen. Alle substantiellen sozio-ökonomischen Fragen der neuen Gesellschaftsordnung waren keinem Kompromiss zugänglich, aber man konnte sich darauf einigen, Verfahren zu verhandeln, über die dann in einem nächsten Schritt die substantiellen Fragen entscheiden werden sollten. Infolgedessen wurden v. a. verfassungsrechtliche und institutionelle Fragen verhandelt. Der Verlauf und die Ergebnisse der RT-Verhandlungen sind weitgehend bekannt und ich zeichne sie hier nur in groben Strichen nach. Für die reformorientierten Kräfte in der kommunistischen Partei war relevant, dass sie im Amt des Staatspräsidenten eine Vetoposition hatten, der den Verlust ihrer politischen Macht kompensieren sollte. Vier seiner Machtbefugnisse waren zentral und standen im Mittelpunkt des Konflikts. Zunächst sein Recht, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, dann sein Vetorecht gegenüber Gesetzen des Sejm, auch das Recht der Parlamentsauflösung und schließlich seine außen- und innenpolitischen Kompetenzen. Zudem sollte er nicht in freien Wahlen, sondern vom Sejm und dem Senat gewählt werden, in denen die ‚gewählten‘ kommunistischen Abgeordneten über klare Mehrheiten verfügten. Im Sejm sollten in den ersten Wahlen allein 35 % der Sitze frei gewählt werden, so dass die kommunistische Mehrheit in der zentralen gesetzgebenden Kammer gewährleistet war. Beides, die undemokratische ‚Wahl’ des Staatspräsidenten und die im Wahlgesetz festgelegte 65 %-Mehrheit der Kommunisten, musste mit massivem Widerstand der Opposi-

3.4. Die Runden Tische

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tion rechnen. Kurz vor dem Scheitern der Gespräche wurde die Blockade der Verhandlungen durch einen Vorschlag von A. Kwasniewski, einem der wichtigen Verhandlungsführer der Regierung, aufgelöst. „The silent deadlock was interrupted by Kwasniewski’s extemporaneous suggestion: ‚How about electing the president by Sejm and the Senate which, in turn, will be elected freely?’ ‚This is worth thinking’, said Geremek. The opposition did not care about the Senate but was attracted by the idea of free elections in general. The party went along, seeing in Kwasniewski’s proposal a road to electing their own candidate with some measure of legitimacy. Thus, through mutual self-interest, a compromise was reached, one of the most significant decisions of the Round Table, that is free elections to the Senate.”128

Die Logik der Machtteilung wird hier überdeutlich und die weiteren Verhandlungen drehten sich dann darum, welche Befugnisse jeweils Präsident und Senat im neuen Verfassungsgefüge haben sollten. Diese Verhandlungen waren nur deshalb erfolgreich, weil zentrale Konflikte nicht öffentlich, sondern geheim und unter Vermittlung der katholischen Kirche in Gesprächen im Kloster Magdalenka außerhalb von Warschau beigelegt wurden. Die Massen waren an diesen Verhandlungen nur ‚indirekt‘ beteiligt. Sie fungierten als fiktives Drohpotential, das aber im Extremfall auch faktisch einsetzbar gewesen wäre. Die Legitimationskrise des alten Regimes war so dramatisch, dass allen Beteiligten klar war, dass die Massen jederzeit mobilisierbar waren und eine erneute Verhängung des Kriegsrechts wie 1980/1981 keine realistische Option mehr war. Das Ergebnis der ersten Wahlen in Polen kennen wir. Solidarność gewann – bis auf einen unabhängigen Kandidaten – alle Sitze im frei gewählten Senat und alle der 35 % frei wählbaren im Sejm. Dies stellte die am Runden Tisch vereinbarten Ergebnisse so grundlegend in Frage, dass in einer Ad-hoc-Revision eine neue Regierungszusammensetzung mit Regierungschef Tadeusz Mazowiecki von der Opposition vereinbart wurde. Gleichwohl blieb es bei der Idee der Machtteilung: Die Opposition besetzte die Mehrheit der Ministerposten, gewährte aber – auch mit Rücksicht auf die Sowjetunion – den alten Eliten bestimmte Ministerposten, u. a. für Innen- und Verteidigungspolitik so wie für auswärtige ökonomische Beziehungen. Zudem hatte Staatspräsident Wojciech Jaruzelski die Zeichen der Zeit erkannt und signalisierte bereits im Juli 1990 die Bereitschaft zum Rücktritt; zu groß und zu deutlich war der Legitimationsverlust des alten Regimes. In einer Direktwahl des Staatspräsidenten gewann der Führer der Solidarność, Lech Walesa, gegenüber dem amtierenden Ministerpräsidenten T. Mazowiecki, der bereits im ersten Wahlgang scheiterte. Der Prozess der Verfassunggebung blieb kompliziert und vollzog sich über die sog. „Kleine Verfassung“ bis zur endgültigen Verabschiedung einer Verfassung im Mai 1997. Sie wurde mit einer denkbar knappen Mehrheit durch ein Referendum angenommen; bei einer Wahlbeteiligung von nur 43 % stimmten gerade einmal 54 % der Wahlberechtigten für die Verfassung.

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3. Die Politik der Verfassunggebung

Beide Bedingungen für eine koordinierte Transformation waren gegeben: zunächst eine tiefgreifende Legitimationskrise des alten Regimes, die dazu führte, dass die reformorientierte Elite innerhalb des herrschenden Blocks keine andere Möglichkeit für Reformen sah, als Teile der moderaten und verhandlungsbereiten Opposition einzubeziehen. Die Logik der Machtteilung fand ihren Ausdruck in einer bestimmten institutionellen Architektur des Regierungssystems, wobei alle Änderungen der Verfassung und anderer Institutionen immer den Gang der Verfassungsänderung oder den der normalen Gesetzgebung nahmen; aber nie trat eine Situation ein, in der der Boden des (Verfassungs)Rechts verlassen wurde. Verfassungsrechtliche Kontinuität bei radikalem Bruch mit der alten kommunistischen Verfassung. Immerhin wurde die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt, sie hatte also die Legitimität des Volkes. Aber die souveräne verfassunggebende Gewalt des Volkes hat sich nie konstituiert. 3.4.2.2. Ungarn Obwohl auch in Ungarn alle wesentlichen Fragen am Runden Tisch verhandelt wurden, entstand die Verfassung nicht ausschließlich nach der Logik der Machtteilung. Stattdessen wurden viele zentrale Fragen durch Volksentscheid entschieden. Sechs Tage nach der verheerenden Wahlniederlage der Kommunisten in Polen begannen die RT-Verhandlungen. Während – wie in Polen – alle Verhandlungen über inhaltliche Fragen der Politik, wie Wirtschafts- oder sozialstaatliche Reformen, scheiterten, waren die über Verfahrensfragen weitgehend erfolgreich. Das neue Wahlgesetz, das eine reine Addition der Vorschläge der Opposition und der Reformer beinhaltete, wurde vom alten, kommunistisch dominierten Parlament verabschiedet. Auch wurden alle Grundfragen der neuen Verfassung verhandelt, wobei die zentralen Konflikte bei der Wahl und den Machtbefugnissen des Staatspräsidenten ausbrachen. An diesen Fragen aber, wer den Präsidenten (Parlament oder Direktwahl durch das Volk) und wann er (vor oder nach den Parlamentswahlen) gewählt werden sollte und welche Machtbefugnisse er haben sollte, zerbrach der Runde Tisch. Um einen vollständigen Bruch der Verhandlungen zu verhindern, stimmte ein Teil der Opposition einem Kompromissvorschlag der Reformkommunisten zu, wobei die dafür notwendigen Verfassungsänderungen erneut vom Parlament mit Hilfe der Regeln zur Änderungen der Verfassung – innerhalb weniger Stunden und fast ohne Diskussion – verabschiedet wurden. Der radikale Teil der Opposition suchte außerhalb von Verhandlungen eine Entscheidung über ein Plebiszit, mit dem zugleich auch die Wahlchancen der oppositionellen Parteien bei den ersten freien Wahlen erhöht werden sollten. Mit der denkbar knappen Mehrheit von 50,14 % der Stimmen – das entsprach genau 6101 Stimmen – war der Volksentscheid bei einer Wahlbeteiligung von rd. 60 % erfolgreich.129 Die Massen wurden nicht auf die Straße, sondern in

3.4. Die Runden Tische

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die Wahllokale mobilisiert. Gleiches galt auch für die ersten freien Wahlen, die das Ungarische Demokratische Forum (MDF) gewann und mit einer der beiden liberalen Parteien (der SZDSZ) eine Regierungskoalition bildete. Zusammen hattes sie wegen des hohen disproportionalen Effekts des Wahlsystems mit nur 52,7 % der Wählerstimmen eine Mandatsmehrheit von über 72 %, so dass sie nicht nur über die verfassungsändernde Mehrheit, sondern über die zur Verabschiedung einer gesamten neuen Verfassung verfügte. Dies sollte nach dem Koalitionsvertrag in der ersten Legislaturperiode erfolgen. In einem Akt der Selbstbeschränkung einigte man sich jedoch, die sog. „Methode der radikalen Kontinuität“ fortzuführen und Verfassungsänderungen wie die Verabschiedung einer komplett neuen Verfassung nur im Konsens mit den oppositionellen Parteien zu vollziehen. Der verfassunggebende Ausschuss des Parlaments wurde paritätisch (und nicht proportional zu den Mandatsanteilen) besetzt und jeder Beschluss dieses Ausschusses konnte nur mit Zustimmung von fünf der insgesamt sechs (im Parlament vertretenen) Parteien gefasst werden. War bei bestimmten Fragen eine Einigung nicht möglich, so blieb die Regelung der alten (kommunistischen) Verfassung automatisch in Kraft, was die verfassungsrechtliche Kontinuität erneut bekräftige. Erst im März 1996 wurde dann ein „Entwurf für die Grundzüge einer neuen Verfassung“ fertig gestellt, der vom Parlament verabschiedet werden konnte. Bei dieser Abstimmung stimmten dann mehrere Regierungsmitglieder der inzwischen an die Macht gekommen Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei nicht für diese Grundzüge, so dass nur eine erhebliche Anzahl von Verfassungsänderungen verabschiedet werden konnte. Die neue ungarische Verfassung war dann die grundlegend veränderte alte und ist es bis zum 1. Januar 2012 geblieben.130 Sie war das Ergebnis eines Elitenkompromisses und wurde dem Volk nie zur Abstimmung vorgelegt. Während des gesamten Verfassunggebungsprozesses wurde die Methode der „radikalen Kontinuität“131 angewendet, nie und zu keinem Zeitpunkt wurde der Boden des (Verfassungs)Rechts verlassen, während die anderen grundlegenden Fragen, wie die Wirtschaftsreformen und die Umgestaltung des Sozialstaates, mit einfachen Mehrheiten, aber begleitet durch erbitterte parteipolitische Kontroversen, durch die jeweiligen Parlamentsmehrheiten verabschiedet wurden. Aber dieses „post sovereign paradigm“132 war immer gefährdet, wie der Fall Ungarn im Besonderen zeigt. Wegen dieser Gefährdung und potentiell einseitigen Verfassungsänderungen wurden 1995/1996 erhebliche Änderungen an der Verfassung vorgenommen. Sie bezogen sich vor allem auf die Regelungen, nach denen eine gänzlich neue Verfassung verabschiedet werden kann. Wie bereits oben erwähnt, ermöglicht das extrem disproportionale Wahlrecht verfassungsändernde Zweidrittelmehrheiten mit bereits rd. 50 % der Wählerstimmen. Da es Bestrebungen gab, mit diesen Wählerquoten einseitig die Verfassung zu ändern, wurde

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3. Die Politik der Verfassunggebung

einer Verfassunggebung mittels dieser Quoten ein Riegel vorgeschoben. Dies sollte in Zukunft nur noch mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit möglich sein, was es in der Regel unvermeidlich machte, oppositionelle politische Parteien in diesen Prozess miteinzubeziehen. Entgegen dieser Regel verabschiedete die Orbán-Regierung ihre neue Verfassung im April 2011, die mit Beginn des Jahres 2012 in Kraft trat. Sie wurde – entgegen dem alten Verfassungstext – nur mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet und beinhaltete einen grundlegenden Wandel hin zu einer national-autoritären Regierungsform.133 Es war ein einseitiges Diktat einer politischen Partei, im konkreten Fall von FIDESZ, die wegen des disproportionalen Wahlrechts über mehr als Zweidrittel der Stimmen im Parlament verfügte. Mit dieser Mehrheit, die Buchstabe und Geist der ungarischen Verfassung widersprach, wurde die neue Verfassung beschlossen und in Kraft gesetzt. Die Idee der post-souveränen Verfassunggebung wurde damit verabschiedet und die der souveränen erneut installiert. Erschwerend trat hinzu, dass die FIDESZ-Regierung das Parlament zur souveränen Institution erklärte und so das Parlament zur verfassunggebenden Versammlung erhob, die dann mit seiner Zweidrittelmehrheit eine neue Verfassung gab. Dieser im Kern verfassungswidrige Prozess der Verfassunggebung hatte selbstverständlich weitreichende Auswirkungen auf die Substanz der Verfassung. Sie unterscheidet sich von der alten dramatisch und nach einer Beurteilung durch die sogenannte „Venedig-Kommission“, die den Europäischen Rat in zentralen Verfassungsfragen berät und dessen Beurteilung die ungarische Regierung verlangte, ist sie eine problematische, ja in Teilen autoritäre Verfassung.134 Sie bemängelte in ihrem Bericht vom Juni 2011 nicht nur den einseitigen, wenig transparenten und zum Teil undemokratischen Prozess der Verfassunggebung wie auch die zu schnelle Verabschiedung, sondern auch viele der Neuregelungen selbst. Sie kritisierte unter anderem die Beschränkung der Befugnisse des Verfassungsgerichts, die zu hohe Anzahl an Zwei-Drittel-Gesetzen, die von nachfolgenden Regierungen ohne diese Mehrheit nur schwer geändert werden können, das starke Vetorecht des Haushaltsrates gegenüber Parlamentsbeschlüssen, unklare Definitionen der Pressefreiheit und von Minderheitenrechten. Auch das unklare Verhältnis zu den im Ausland lebenden ungarischen Minderheiten wurde kritisiert. Als ebenso problematisch wurden bestimmte Formulierungen in der Präambel betrachtet, etwa die unklaren Bezugnahmen auf die „historische Verfassung“ Ungarns als Rechtsmaßstab und der Ausschluss der in Ungarn lebenden Minderheiten aus der „ungarischen Nation“. Durch weitere verfassungsändernde Gesetze, die mit Zweidrittelmehrheit von FIDESZ im Parlament durchgedrückt wurden, wurden im März und April 2013 vor allem die Rechte des Verfassungsgerichtes eingeschränkt. Es darf sich unter anderem nicht mehr auf die Rechtsprechung des Gerichts vor Inkrafttreten der

3.4. Die Runden Tische

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neuen Verfassung berufen und Verfassungsänderungen nur noch formal, aber nicht mehr substantiell beurteilen. Auch kann die Meinungsfreiheit zum Schutz der „Würde der ungarischen Nation sowie von nationalen und konfessionellen Gemeinschaften“ eingeschränkt werden – eine im Kern beliebig ausweitbare Leerformel. Der weitere Umbau der Verfassung, nur ein Jahr nach der Verabschiedung der neuen Verfassung, macht überdeutlich, dass die neue Verfassung allein ein Übergangsstadium darstellt, das durch verfassungsändernde Gesetze einen national-autoritären Staat weiter festigen soll. Damit wird nicht nur die Idee der post-souveränen Verfassunggebung, an deren Entwicklung Ungarn maßgeblich beteiligt war, gründlich verabschiedet. Es wird zugleich signalisiert, dass auch der Weg der Verfassungsänderung strikt und einseitig dazu genutzt wird, die Macht einer politischen Gruppierung bzw. einer politischen Partei fundamental und weitgehend unwiderruflich zu stabilisieren. 3.4.2.3. Die Transformationen in der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien In der ehemaligen Tschechoslowakei spielten die Massen eine überragende Rolle bei der Implosion des alten Systems, das ohne großen Widerstand in sich zusammenbrach. Die oppositionellen Kräfte richteten – ebenso wie in Polen und Ungarn – einen Runden Tisch ein, an dem die alte kommunistische Elite vertreten war, obwohl sie faktisch über keine Macht mehr verfügte. Das dort verhandelte Wahlrecht für die ersten freien Wahlen war ein fast reines Verhältniswahlrecht, das den alten politischen Kräften einen erheblichen Anteil an politischer Macht sicherte, obwohl die Opposition ohne weiteres ein für sie günstigeres hätte durchsetzen können. Diese Strategie der freiwilligen Selbstbeschränkung wurde auch bei den Änderungen der politischen Institutionen verfolgt. Hier war das Prinzip der unbedingten Legalität zentral, auch hier wurden alle Änderungen der bestehenden Verfassung mit den Änderungsregeln genau dieser Verfassung vollzogen. Das Verhältniswahlrecht hatte zur Folge, dass viele kommunistische und auch nationalistische Kräfte in den beiden föderalen Parlamenten und den beiden Kammern des Zentralstaates vertreten waren. Aufgrund der komplizierten Verfassungsstruktur mit einem asymmetrischen Föderalismus verfügte die slowakische Minderheit über ein außergewöhnlich starkes Minderheitenveto, das einfache Gesetzgebung und insbesondere Verfassungsänderungen extrem schwierig machte. Dennoch wurde durch „eine lange Reihe mosaikartiger Verfassungsänderungen“135 die alte Verfassung demokratischen Grundsätzen angepasst. Die komplizierte Verfassungsstruktur des föderalen Staates führte letztlich dazu, dass viele wirtschaftliche und soziale Reformvorhaben durch die Vetopositionen der Slowaken verhindert und dadurch die Trennung der beiden Republiken beschleu-

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3. Die Politik der Verfassunggebung

nigt wurde. Die Massen brachten das vollständig delegitimierte System zur Implosion, aber alle weiteren Prozesse wurden von der schwachen Opposition und den wenigen reformorientierten Kräften in der alten Nomenklatura verhandelt. Es handelte sich – trotz mancher Besonderheiten – wie in Polen und Ungarn um eine koordinierte Transformation auf dem Boden des (Verfassungs-)Rechts. Bulgarien und Rumänien fallen aus dem bisher skizzierten Schema heraus. In Bulgarien reagierten die alten kommunistischen Kräfte präventiv, was durch eine Spaltung innerhalb des kommunistischen Machtblocks forciert wurde. Die reformorientierten Kräfte lösten den Chef der KPB, Todor Schiwkow, nach zwei langen Sitzungen des Politbüros ab, an denen auch der russische Außenminister teilgenommen hatte. In wichtigen Positionen des Staats- und Parteiapparates wurden Umbesetzungen vorgenommen, so dass die KPB eine weitaus höhere Legitimität genoss als in den bisher erwähnten Staaten. Auch entwickelte das kommunistische Parlament eine erstaunliche Gesetzgebungsaktivität und veränderte bestimmte Bestimmungen des rigiden Strafrechts und strich die Rolle der KP aus der Verfassung. Erst danach gründeten sich einige oppositionelle Gruppierungen, fast alle in der Hauptstadt. Im Dezember 1989 fanden erste Demonstrationen in Sofia statt, die nicht sofort unterdrückt oder niedergeschlagen wurden. Der Runde Tisch war eine präventive Einrichtung der KP, der eher als eine Art Konsultationsorgan fungierte denn als Verhandlungsorgan mit gleichberechtigten Mitgliedern. Auch sollte der RT nicht die institutionellen Grundlagen der neuen Ordnung beraten und beschließen, sondern allein das Wahlgesetz für die ersten Wahlen formulieren. Als verfassunggebendes Organ sollte dann das gewählte Parlament fungieren, das auch die am Runden Tisch erzielten Ergebnisse erneut und endgültig entscheiden sollte, was die Möglichkeit einer Revision der Beschlüsse einschloss, weil das Parlament eine andere Legitimation besaß als der Runde Tisch. Die erste Wahl endete überraschend mit einem Sieg der Kommunisten. Der noch von der alten Nationalversammlung gewählte Staatspräsident Petar Mladenow musste zurücktreten, weil er die zunehmenden Massenproteste, die sich gegen den Wahlsieg der Kommunisten richteten, durch Einsatz des Militärs unterdrücken wollte. Dies verdeutlichte zum Einen, wie gefährlich für die alten Eliten die mobilisierten Massen waren; und zum Anderen die große Bedeutung der Staatspräsidenten, die in der Regel den Oberbefehl über die Streitkräfte hatten. Nachdem der Kandidat der Opposition, Schelju Schelew, von der Nationalversammlung zum neuen Präsidenten gewählt wurde, entspannte sich die Lage, weil der Einsatz des Militärs angesichts sich ausweitender Proteste der Bevölkerung unwahrscheinlich wurde. In über 20 Städten wurden sogenannte „Städte der Wahrheit“ aus permanenten Zeltlagern errichtet und täglich fanden in der Hauptstadt Sofia Demonstrationen vor dem Parlament statt.

3.4. Die Runden Tische

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Die Lage spitze sich erneut zu, als die Nationalversammlung am 20. Juli 1990 die erste komplett neue Verfassung in ganz Osteuropa verabschieden wollte. Sie war zuvor im verfassunggebenden Ausschuss zwischen der Opposition und den regierenden Sozialisten ausgehandelt worden, aber die Opposition war nicht kohärent und ein Teil ihrer Abgeordneten verließ vor der Abstimmung demonstrativ das Parlament, begann einen Hungerstreik und erklärte sich zur außerparlamentarischen Opposition. Damit war nicht nur der Verlust der qualifizierten Mehrheit zur Verabschiedung der Verfassung verbunden, sondern auch der Grundstein für eine „binäre Fundamentalkonfrontation“136 gelegt, die die weitere politische Entwicklung in Bulgarien begleitete. Zwar nahm durch Vermittlung des Staatspräsidenten Schelju Schelew ein Teil der oppositionellen Abgeordneten ihre Arbeit wieder auf und die Verfassung konnte nun verabschiedet werden, aber die starke Konfrontation bleib gleichwohl erhalten. In Rumänien gestaltete sich der Übergang noch komplizierter, bis heute sind nicht alle Tatsachen erhellt. Zentral für das Verständnis ist jedoch der enge Zusammenhang zwischen der Gewaltsamkeit als Auslöser und späterem ständigen Begleiter der Transformation und dem „Mythos“ einer Revolution. Die Gewaltsamkeit des Systemwechsels machte es für alle beteiligten Gruppierungen unumgänglich, die Legitimation ihrer jeweiligen Machtpositionen und die Legitimität der Verfassung aus dem Mythos der Revolution heraus zu begründen. Man brauchte einen „clear title to having brought off the revolution. No group could hope to exercise power effectively unless legitimated by a heroic role in the revolution; hence the battle over the revolution as a symbol.“137

Die Verfassung selbst war ein solches legitimatorisches Symbol im Machtkampf, denn sie sollte nicht nur das Ende des alten, sondern auch den Beginn des neuen Zeitalters symbolisieren. Insofern war auch die politische Praxis des ‚neuen‘ Regimes durch den Revolutionsbegriff legitimiert und nicht durch institutionell geregelte Verfahren. Am 22. Dezember 1989 konstituierte sich der Rat der Front der Nationalen Rettung (FSN) als souveränes Organ, das sich alle anderen Staatsorgane unterordnete bzw. deren Tätigkeit unterband. Zwar wurde die alte Verfassung nicht explizit außer Kraft gesetzt, aber alle Macht lag in der Hand des Rates. Per Dekret erklärte er sich am 27.12.1989 zum alleinigen Machthaber mit allen exekutiven und legislativen Rechten, einschließlich der Befehlsgewalt über die Streitkräfte. Er konnte dem gemäß auch einfache Gesetze erlassen und bestimmte Ion Iliescu zum Ratsvorsitzenden. Am 31.12.1989 wurde per Dekret eine neue revolutionäre Regierung installiert, die das politische Programm des Rates umsetzen sollte. Die revolutionäre Gruppe aus der alten kommunistischen Elite wollte ihre

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3. Die Politik der Verfassunggebung

Macht auch plebiszitär legitimieren und dazu waren Wahlen, welcher Art auch immer, unvermeidlich. Obwohl die Front im Prinzip die gesamte Macht in den Händen hielt, wurde auf Grund von Demonstrationen und anderer Proteste ein Runder Tisch (der „Provisorische Rat der nationalen Einheit“) eingerichtet, der das Wahlgesetz verabschiedete. Obwohl die Mitglieder der Front an dem knapp 250 Personen umfassenden Runden Tisch die Mehrheit hatten, konnte die Opposition das ursprünglich geplante Mehrheitswahlrecht durch ein fast reines Verhältniswahlrecht ersetzen, was ihre Erfolgsaussichten erheblich verbesserte. Dies war ein erstaunlicher Erfolg angesichts der eindeutigen Mehrheitsverhältnisse der FSN und der schwachen und intern fraktionalisierten Opposition. Echte Verhandlungen konnten so nicht stattfinden, aber das absolute Machtmonopol der FSN war durch den Runden Tisch aufgebrochen. Das am 20.05.1990 neu gewählte Parlament fungierte zugleich als verfassunggebende Versammlung, die dann – zusammen mit der Zweiten Kammer – im November 1991 mit der Mehrheit der FSNAbgeordneten eine neue Verfassung verabschiedete, die im Kern die bestehende Machtpositionen des FSN festschrieb. Beide Transformationen können als ‚unsaubere‘ Koordinationen bezeichnet werden, weil effektive Koordination die gleichberechtigte Beteiligung der außerinstitutionellen Opposition voraussetzt. Wird wie in Bulgarien die (äußerst schwache) Opposition nur formal konsultiert und dominiert die alte Elite den Prozess der Ablösung und Demokratisierung, dann haben wir es mit einer ‚verwässerten‘ Koordination zu tun. In Rumänien dagegen übernahm eine Gruppe innerhalb der alten Elite in einer unklaren Situation die politische Macht, liquidierte den sultanistischen Machthaber (und seine Frau) und proklamierte die ‚Revolution‘ für sich, in deren Namen dann auch der Einsatz außerlegaler und gewaltsamer Macht gerechtfertigt wurde. Hier handelt es sich um verfälschte Koordination, denn es fanden weder eine Revolution, noch eine Reform, noch ein klassischer Staatstreich statt. Letzterem kommt Rumänien zwar am nächsten, aber die Beteiligten eines ‚echten‘ und erfolgreichen Staatsstreiches lassen sich nicht von der Opposition an einem Runden Tisch einen Teil ihrer gerade erkämpften Machtpositionen abhandeln.

3.5. Die Politik der Verfassunggebung in Deutschland nach dem Ende der DDR Während die bisher dargestellten mittel- und osteuropäischen Transformationen durch „voice“ der Massen in Gang gesetzt und begleitet wurden, war die Lage in der ehemaligen DDR grundlegend anders. Hier vollzog sich die Delegitimation und anschließende Implosion des alten Regimes in der Parallelität von „voice“

3.5. Die Politik der Verfassunggebung in Deutschland nach dem Ende der DDR

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und „exit“.138 In keinem anderen Land in MOE konnte man diese Parallelität beobachten, weil nur in der ehemaligen DDR die Ausreise in die Bundesrepublik als Exit-Option vorhanden war. Die massiven Auswanderungswellen, die sich in den Botschaftsbesetzungen in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn niederschlugen, fanden ihren Höhepunkt in der Auswanderungswelle durch die Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989. Während das ‚alte‘ Konzept von Abwanderung und Widerspruch als einfaches „‚hydraulisches‘ Modell“139 davon ausging, dass mit zunehmender Abwanderung als weitgehend privater und stummer Entscheidung Widerspruch als öffentliche und kollektive Aktivität abnehmen würde, führte ersteres in der DDR zur Verstärkung des internen Widerstandes. Diese Verstärkung der Massenbewegungen war nicht ohne Gefahren für die Transformation. Zwar war nach den Entwicklungen in den anderen Ländern klar, dass die Sowjetunion militärisch nicht intervenieren würde, aber die alte Elite war in ihrer tiefen Verunsicherung nicht in der Lage, sich auf eine einheitliche Linie – welcher Art auch immer – zu einigen. Die Möglichkeit der gewaltsamen Unterdrückung stand immer im Raum, insbesondere bei den immer größer werdenden Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten. Insofern war Gewaltfreiheit aller Voice-Aktionen eine unhintergehbare Voraussetzung für deren Erfolg. Die immer wieder betonte und auch faktisch realisierte Absage an Gewalt war die zentrale Legitimationsquelle der Bürgerbewegungen und zugleich eine Voraussetzung, die (noch) herrschende Elite von der Gewaltoption abzuhalten. Der Zwang der Bürgerbewegungen und deren lokaler Organisatoren, jegliche Gewalt oder auch nur Chaos zu verhindern, waren immens. Bereits ein einzelner Provokateur hätte die Situation unkontrollierbar eskalieren lassen können und man muss es nachträglich fast als Wunder betrachten, dass dies nicht durch Spitzel der Stasi oder einfache Gewaltabenteurer geschah. Die programmatischen Positionen der oppositionellen Bürgerbewegungen waren durch eine nach wie vor existierende Loyalität gegenüber dem sozialistischen Regime gekennzeichnet. Alle zentralen Dokumente enthalten ein Bekenntnis zum Sozialismus.140 Jens Reich, einer der führenden Figuren des Neuen Forums, hatte formuliert, dass man nicht die politische Macht usurpieren, sondern freie Wahlen realisieren wollte, in denen sich die Vielfalt der gesellschaftlichen Kräfte ausdrücken sollte.141 Wie an den anderen Runden Tischen auch konnte man zwar über die rechtlichen Verfahren zur ersten freien Wahl eine Einigung erzielen, aber nicht über die zentralen und substantiellen Politikziele.142 Während die durch die ersten freien Wahlen an die Macht gebrachten Oppositionellen oder (wie in Rumänien und Bulgarien) die alten Eliten ein mehr oder weniger striktes Programm sozialer und ökonomischer Reformen in Gang setzten, war die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer ein historisches Provisorium, das über nur geringe Handlungsspielräume verfügte. Die radikale Umgestaltung wurde nicht von ihr

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3. Die Politik der Verfassunggebung

in Gang gesetzt, sondern durch die mit der Kohl-Regierung ausgehandelten Verträge. Durch den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und den am 20. September 1990 in der Volkskammer und dem Bundestag verabschiedeten Einigungsvertrag wurde die weitgehende Übertragung aller rechtlichen, institutionellen und politischen Strukturen der BRD auf die (ehemalige) DDR vorgenommen. Dies waren alles Meisterleistungen der bundesrepublikanischen Exekutive, die Massen spielten in diesen Prozessen keine Rolle, sieht man von der erneuten Mobilisierung im Kontext der ersten freien Wahl einmal ab. Sie wurde aber bereits von den westdeutschen Parteien mit ihrem finanziellen und organisatorischen Potential dominiert und als „Stellvertreterkrieg“ organisiert, bei dem es auch um den langfristigen Machterhalt in Westdeutschland ging.143 Zwar hatte der Runde Tisch eine eigene Verfassung erarbeitet, die für Gesamtdeutschland gelten sollte, die Erfahrungen der Bürgerbewegung verarbeitete und einige interessante Neuerungen gegenüber dem GG vorsah, aber diese hatte – ebenso wie die sogenannte Paulskirchenverfassung – nie eine realistische Chance zur Realisation. Sie wurde wegen der Einigungs- und Beitrittsverhandlungen nach Art. 23 GG nie in die Volkskammer eingebracht. Obwohl Art. 146 GG einen eigenständigen Prozess der Verfassunggebung vorsah, wurde er in den hitzigen Debatten der damaligen Zeit von den verantwortlichen Eliten und einem Teil der Verfassungsrechtler nie ernsthaft erwogen. Nicht einmal zu einer abschließenden plebiszitären Selbstvergewisserung des GG, das nun die Verfassung des gesamten deutschen Volkes war, konnte sich die politische Elite durchringen. Die Konstituierung einer verfassunggebenden Gewalt des Volkes, in welcher von den politischen Eliten auch immer kontrollierten Form, sollte es nie geben.144

3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ oder der Wandel zum „post sovereign constitution-making“? Der Charakter der mittel- und osteuropäischen Transformationen ist umstritten und schwankt – wie oben bereits dargelegt – zwischen Reform und Revolution. Verfassungstheoretisch haben diese Transformationen ein neues Paradigma der Verfassunggebung kreiert, das A. Arato in einer neueren Analyse als „post souvereign“ bezeichnet hat145 und in diesen Demokratisierungsprozessen als Novum auf der verfassungspolitischen Agenda erschienen ist. Aber auch die südafrikanische Verfassungspolitik ist bei der Überwindung des Apartheidregimes streng diesem Paradigma gefolgt.146 Es umfasst vier Merkmale:147 Zum einen meint „post sovereign“ den Verzicht auf eine souveräne Institution, sei es eine verfassunggebende Versammlung, eine sonstige (politische) Institution oder eine einzelne Person, die diesen Prozess exklusiv dominiert und sich als

3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“

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einzige konstituierende politische Kraft versteht. Zudem bezeichnet „post revolutionary“ den Sachverhalt, dass sich radikale Verfassungswandel jenseits der tradierten Dichotomie von Reform und Revolution vollziehen können. Schließlich lenkt die Begrifflichkeit das Augenmerk auf eine zentrale Institution, den Runden Tisch, der Ausdruck der Pluralität der an der Verfassunggebung beteiligten politischen Kräfte ist. Als letzter Punkt dieses Paradigmas konzentriert sich der Blick auf die herausragende Rolle der alten bzw. auf Interimsverfassungen, die einen verfassungslosen Zustand grundlegend verhindern sollen. Nur unter diesen vier Bedingen können zwei Sachverhalte realisiert werden. Zunächst die Legitimität einer Verfassung, die wegen der Verschiedenheit der beteiligten Akteure eine pluralistische Rechtfertigung haben kann, die auf einer Vielzahl von Werten beruht, wie etwa Inklusion, Pluralität, verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen, aber auch von Legalität, weil sie sich eben auf dem Boden des (Verfassungs)Rechts vollzieht. Zudem wird Lernen ermöglicht, weil entgegen dem Souveränitätsparadigma durch den Austausch der Erlebnisse und Positionen der pluralistischen Kräfte neue Erfahrungen gemacht und Lehren aus anderen Verfassunggebungen gezogen werden können. Hinzu kommt, dass Verfassunggebung in einem zeitlich gestuften Prozess erfolgte und Erfahrungen mit bereits erprobten Verfahren oder Regelungen in den jeweils anderen Ländern gemacht werden konnten. An allen Runden Tischen waren diese Prämissen präsent, wenn auch im Detail etwas unterschiedlich ausgeprägt. Mit ihm verschiebt sich auch die Bedeutung von Masse und Elite, die in der Transformationsforschung gut herausgearbeitet wurde. In den hier beschriebenen koordinierten Transformationen ist das Elitenverhalten die „Schlüsselvariable“148 für den Erfolg. In der Regel kam es zu einem Kompromiss, oft begünstigt durch eine Selbstbeschränkung der oppositionellen Kräfte, der sich v. a. auf die verfassungsrechtliche und institutionelle Ebene bezog. Wird dieser Institutionenkonsens später durch einen Programmkonsens hinsichtlich der dringlichsten ökonomischen und sozialen Reformen ergänzt, dann sind die Erfolgsaussichten einer Transformation noch günstiger.149 Der Elitenkonsens wurde öffentlich an den Runden Tischen ausgehandelt, zentraler waren aber oft geheim und in großer Autonomie von den Massen getroffene Kompromisse, wie beispielsweise in Polen im Kloster Magdalenka.150 Die Massen und ihre potentielle Mobilisierungsfähigkeit wurden dann zu einem strategischen Kalkül, das die moderaten Reformer zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition benutzten.151 Insgesamt lässt sich ein Zyklus von Aufschwung und Abschwung beobachten, der einem klar identifizierbaren Rhythmus folgt: In der „revolutionären Situation“152, in der das alte Regime herausgefordert und dessen schwindende Legitimationsbasis überdeutlich wird, spielen die Massen eine herausragende Rolle. Während des elite settlements wird dagegen bedeutsam, dass die Massen nicht unkontrolliert agieren und die hardliner im alten Regime nicht herausfordern, die dann

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3. Die Politik der Verfassunggebung

dem friedlichen Prozess durch Gewaltanwendung ein Ende setzen könnten. In Bulgarien und in Leipzig standen die Transformationen kurz vor der Gewaltanwendung, in der eine ‚chinesische Lösung‘ nicht ausgeschlossen schien. Nachdem die zentralen institutionellen und verfassungsrechtlichen Fragen verhandelt wurden und Gründungswahlen bevorstanden, kam es erneut zu einem Aufschwung der Massenmobilisierung, denn nun ging es um die zukünftige Machtverteilung in dem neuen demokratischen Gefüge. Gleichwohl war es eine ‚zivilisierte‘ Massenbewegung, die vorwiegend im Kontext von Wahlkämpfen und -verfahren und den damit verbundenen institutionellen Regeln agierte. Der Revolutionsbegriff zur Kennzeichnung von „1989“ wird von verschiedenen Seiten vehement verteidigt und ist oft mit dem Vorwurf verbunden, dass man den unbändigen Freiheitswillen der Menschen nicht als entscheidenden Schlüssel für die Umwälzungen betrachte und zugleich das alte Regime verharmlose.153 Aber man kann die zentrale Rolle der Massen ebenso anerkennen wie den widerlichen und unmenschlichen Charakter der alten diktatorischen Regime, auch wenn man den Revolutionsbegriff analytisch nicht für plausibel hält. Zentral aber für den Prozess des Übergangs ist die Idee und Praxis der Selbstbeschränkung und – damit untrennbar verbunden – die Idee und Praxis der radikalen Kontinuität.154 Die bisherigen europäischen und außereuropäischen Revolutionen, von der französischen über die russische bis zur chinesischen, mobilisierten nicht nur massiv die sozialen Kräfte bzw. die Massen, die sie unterstützen. Zudem konstituierten sich diese Kräfte als ‚souveräne‘ Macht, die aus der Revolution hervorgegangen war und der Gesellschaft ihr neues Programm aufzwang – gegen den Widerstand der alten Kräfte und mit massiver Gewalt. Selbst die Arbeiter- und Soldatenräte zu Beginn der Weimarer Republik konstituierten sich als souveräne Gewalt, die der Gesellschaft ihr sozialistisches Programm oktroyieren wollten. In dem im Reichsgesetzblatt veröffentlichen Aufruf hieß es: „Die aus der Revolution hervorgegangene Regierung, deren politische Leitung rein sozialistisch ist, setzt sich zur Aufgabe, das sozialistische Programm zu verwirklichen.“155 Zudem kündigten die Räte die Einberufung einer „Konstituierenden Versammlung“ an, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Das sich selbstbeschränkende Moment der osteuropäischen Systemwechsel bestand nun darin, dass sie im Kern ein entgegengesetztes Ziel verfolgten: Sie wollten kein revolutionäres Programm realisieren, sondern allein den institutionellen und verfassungsrechtlichen Rahmen abstecken, in dem sich die dann demokratisch organisierte Gesellschaft in ‚normalen‘ Politikprozessen über ihre Vorstellungen verständigt und mit und innerhalb dieser Verfahren den eher radikalen oder schrittweisen Übergang zur Markwirtschaft vollzieht. Das Programm dieser Marktwirtschaften, ob sie eher liberalistisch oder sozialdemokratisch sein sollten, ob sie als Schocktherapie oder als schrittweiser Übergang realisiert werden sollten, welche Form der Arbeitsbeziehungen eingeführt werden sollten – all dies

3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“

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wurde von den revolutionären Kräften nicht vorgegeben. Vielmehr musste jede Gesellschaft die Beantwortung dieser Fragen in einer Art Münchhausen-Prozess an sich selbst vollziehen und realisierte „varieties of capitalism“156, deren Grundstrukturen von den moralischen, normativen, institutionellen und politischen Kompetenzen und Kräften einer Gesellschaft abhängen. Die Runden Tische verstanden sich nicht als Repräsentanten revolutionärer Massen, nicht als „aus der Revolution hervorgegangen“, sondern bereits als Repräsentanten der Vielheit, Pluralität und Unterschiedlichkeit der civil society. In Ungarn wurde dies besonders deutlich, weil die oppositionellen Kräfte sich bereits als Vielheit an einem ‚vorgelagerten‘ Runden Tisch trafen und dort ihre Strategien gegenüber den kommunistischen Reformkräften am eigentlichen Runden Tisch aushandelten. Ulrich K. Preuß hat das neue Verständnis treffend charakterisiert: „(...) alle diese Charakteristika der Revolutionen des Jahres 1989 haben eine innere Verbindung darin, dass sie die für die europäischen Revolutionen kennzeichnende Absicht verwerfen, der Gesellschaft einen souveränen und homogenen Willen ‚des Volkes‘ aufzuerlegen und sie mittels dessen Macht nach einem bestimmten politischen Plan zu gestalten. (...) Wenn es denn eine Utopie gibt, so ist sie das Gegenteil der Utopie einer im Staat institutionalisierten Einheit von kollektiver Vernunft und säkularisierter Allmacht: die Idee der Autonomie der Zivilgesellschaft und ihrer Fähigkeit, in diskursiven Prozessen und durch kluge Institutionalisierung auf sich selbst einzuwirken.“157

Insofern drückte sich diese Form der Selbstbeschränkung nicht nur im Prozess der Verfassunggebung, sondern auch in der Verfassung selbst aus. Während Verfassunggebung durch die Runden Tische unter Nutzung der Änderungsregeln der alten kommunistischen Verfassung die Konstituierung einer souveränen Gewalt des Volkes verhindern sollte, hat die (demokratische) Verfassung eine andere Aufgabe: In ihr drücken sich die „Politikmöglichkeiten einer Gesellschaft“158 viel deutlicher aus als in der souveränen Gewalt, weil sie die Pluralität der Gesellschaft und ihrer divergierenden Interessen und Normen weit mehr zur Geltung bringen kann als eine souveräne Gewalt. Zentral wird dann, ob Verfassungen konsumptiv oder investiv geschaffen werden. Investiv sind sie dann, wenn sich die beteiligten Akteure über die institutionellen Formen der Selbstregierung verständigen, die sich nicht nur in einem Katalog von individuellen und politischen Freiheitsrechten ausdrücken, sondern auch in einer gelungenen horizontalen Gewaltenteilung. Sie ist nicht nur – wie wir seit Montesquieu wissen – eine Form der Begrenzung der politischen Macht zum Schutz der Freiheiten, sondern steigert zugleich die Selbstthematisierungsfähigkeit von Gesellschaften. Durch eine gelungene Ordnung des institutionellen Gefüges des Regierungssystems kann eine Verbesserung der Selbstwahrnehmungsfähigkeit gesellschaftlicher und sozialer Probleme ebenso gelingen wie die Rationalisierung des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses.159 Zwar wurden viele der

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3. Die Politik der Verfassunggebung

mittel- und osteuropäischen Verfassungen an den Runden Tischen verhandelt und reflektieren die machtorientierten Interessen der beteiligten politischen Kräfte. Aber synchron wurden immer auch grundsätzliche Fragen der institutionellen Ausgestaltung des Regierungssystems zur Rationalisierung des politischen Prozesses durch argumentative Prozesse thematisiert.160 Verfassungen sind konsumptiv, sofern sie unmittelbar der Stabilisierung einer historisch gegebenen Machtkonstellation dienen und nicht für zukünftig andere Machtverhältnisse entworfen werden. Sie verbrauchen sich, sofern sich die Machtverhältnisse ändern und werden dann häufig geändert, weil sie Gesellschaften kein plausibles institutionelles Potential zur Selbstthematisierung bereitstellen. Dies war in Rumänien und Bulgarien der Fall und deshalb auch die massiven Konflikte über die Verfassung selbst. Der Revolutionsbegriff, seine zentralen definitorischen Merkmale und die damit verbundenen semantischen und konnotativen Assoziationen verhindern geradezu die Beobachtung des mit den mittel- und osteuropäischen Transformationen verbundenen Paradigmenwechsels. Es waren koordinierte Transformationen, die die Idee der souveränen verfassunggebenden Gewalt ad acta legten, sich eine erstaunliche Form der Selbstbindung auferlegten und so eine historisch neue Form der gesellschaftlichen Umwälzung ins Spiel brachten. Die „post-souveräne“ Verfassunggebung161 stellt den zivilgesellschaftlichen Kräften einen Rahmen bereit, indem sie ihre gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen mit Hilfe dieser Verfahren produktiv bearbeiten können. So können auch innovative gesellschaftliche Ordnungsformen kreiert werden, die neue Möglichkeiten zur laufenden Selbstkorrektur der Gesellschaft und ihrer Institutionen durch die civil society eröffnen. Aber gerade die Entwicklung in Ungarn ab 2006 unter V. Orbán zeigt, wie brüchig dieses Paradigma ist und gerade auch von den politischen Kräften beseitigt werden kann, die es zuvor nicht nur entwickelt und getragen, sondern von ihm auch profitiert haben (vgl. unten Kap. 11.5.). Anmerkungen 1 Zit. nach Preuß, U. K. 1990a: 11. 2 Der Begriff der politischen Gesellschaft und die damit verbundenen Prämissen sind ausführlich entwickelt bei Greven 2000; ders. 2009. 3 Böckenförde 1991: 91. 4 Ebd. 5 Böckenförde 1991: 95f. 6 Böckenförde 1991: 96. 7 Böckenförde 1991: 99. 8 Ich orientiere mich hier v. a. an Elster 1993; ders. 1995. 9 Ich zitiere das Dekret nach der Datenbank Schlüsseldokumente zur Russischen und Sow-

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jetischen Geschichte; vgl. https://www.1000dokumente.de/index.html?c=1000_dokumente_ru&l=de. Pietsch 1969: 84. Kropat 1957: 492. Ich stützte mich im Folgenden vor allem auf Gusy 1994; Mußgnug 2009; Müller, T. 2014. Haffner 2008: 68. Ebd. Ebd. Haffner 2008: 69. Kirchheimer 1976: 70. Mußgnug 2009: 352.

3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“ 19 In vielen anderen Ländern Westeuropas erfolgte dies viel später: In England erst 1928, in Frankreich erst 1944, in Belgien 1948. In Norwegen waren die Frauen dagegen bereits 1913 voll wahlberechtigt; dazu Müller, T. 2014: 38f. 20 Siehe dazu Mußgnug 2009: 353. 21 Vgl. dazu unten Kap. 3.2. 22 Als ‚focal point‘ wird oft eine Option oder eine Lösung bezeichnet, auf die sich verschieden Personen oder Gruppen von Personen ohne Kommunikation einigen (würden), um etwas zustande zu bringen. Konkret: sich an einem bestimmten Ort zu treffen, sich auf eine Option für etwas zu einigen (so machen wir es eben) etc. Die Idee geht zurück auf Thomas C. Schelling; vgl. Schelling 1960: bes. Kap. 3. 23 Zwar gab es auch Verfassungsentwürfe von einzelnen Personen, v.a. von konservativen Staatsrechtlern und zum Teil von Monarchisten, die aber keine Rolle in der Verfassungsdiskussion im Ausschuss spielten bzw. nicht einmal diskutiert wurden; vgl. die Aufzählung solcher Entwürfe bei Gusy 1994: 759, FN 68. 24 Vgl. dazu Müller, T. 2014: 45f. Die kurze Schrift ist dokumentiert in Preuß 2007a (1926): 365-368. 25 Preuß 2007b (1926): 379. 26 Preuß 2007b (1926): 372. 27 Preuß 2007b (1926): 368f. 28 Preuß 2007b (1926): 387. 29 Preuß 2007b (1926): 426. 30 Ebd. 31 Preuß 2007d (1926): 417. 32 Preuß 2007b (1926): 386. 33 Ebd. 34 Preuß 2007b (1926): 388. 35 Ebd. 36 Preuß 2007d (1926): 417. 37 Preuß 2007d (1926): 426f. 38 Konkret war es die 47. Sitzung der Nationalversammlung, als sie am 5. Juli 1919 den 5. Entwurf der Verfassung diskutierte; vgl. dazu Gusy 1994: 761. 39 Gusy 1994: 762 und auch zum Folgenden. 40 Das Folgende basiert v. a. auf Gusy 1994: 760-761. 41 Kirchheimer 1976: 72. 42 Gusy 1994: 760 43 Die Begriffe der upstream- and downstreamLegitmität stammen von Jon Elster, der diese Begriffe bzw. Kategorien im Kontext der mittel- und osteuropäischen Verfassunggebungen entwickelt hat; vgl. Elster 1993. 44 Vgl. dazu statt vieler und umfassend Rüb 2001: bes. 103-116. 45 Schneider, H. 1953: 196. 46 So C. Schmitt in seiner Verfassungslehre; vgl. Schmitt 1993 (1928): 102; 386.

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47 Diese Differenzierung geht zurück auf C. Schmitt, der sie in seinem grundlegenden Werk über die Diktatur einführte und die Verfassungstheorie bis heute prägt; vgl. Schmitt 1994 (1921). 48 Zit. nach Strenge 2013: 2; Herv. von mir. 49 Ebd.; Herv. von mir 50 Im dann verabschiedeten Gesetzt heißt es in Art. 2: „Die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze können von der Reichsverfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstages und des Reichstages als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.“ 51 Schneider 1953: 205. 52 Dazu ausführlich Schneider 1953: 207f. 53 Schneider 1953: 208. 54 Dazu und zum folgenden erneut ausführlich Schneider 1953: 209-215; Strenge 213: 12. 55 Vgl. dazu Strenge 2013: 12, FN 113. 56 Schmitt 1994 (1921): xviii. 57 Ebd. 58 Ich stütze mich hier und im Folgenden unverkennbar auf C. Schmitts Definitionen und Merkmale einer kommissarischen ebenso wie später einer souveränen Diktatur; vgl. Schmitt 1994 (1921). 59 Schmitt 1994 (1921): 10. 60 Schmitt 1994 (1921): 11. 61 Schmitt 1994 (1921). 12. 62 Schmitt 1994 (1921): 134. 63 Schmitt 1994 (1921): 139. 64 Vgl. zum Auflösungsprozess ausführlich und immer noch lesenswert Bracher 1960; Bracher/Sauer/Schulz 1960; Broszat 1969. 65 Zit. nach Bracher/Sauer/Schulz 1960: 48. 66 Zit. nach Bracher/Sauer/Schulz 1960: 50. 67 Bracher/Sauer/Schulz 1960: 51. 68 Karl-Dietrich Bracher et. al. kommentierten diese so, dass dadurch „schon lange vor dem Ermächtigungsgesetz und auch vor der Reichstagsbrandverordnung einer Minderheitenregierung kraft eigenem Ermessen die Vollmacht zur Ausschaltung der konkurrierenden Gruppen, zur Gleichschaltung der öffentlichen Meinungsbeeinflussung, zur Institutionalisierung der auf Ausnahme gegründeten Herrschaft“ verschafft wurde und so „die Grundlage für jenen Prozess der pseudo-legalen Machtergreifung, dessen erstes Ziel dann mit der Manipulation des Ermächtigungsgesetzes durch Drohung und Zwang erreicht war.“ Bracher/Sauer/Schulz 1960: 55f. 69 Bracher/Sauer/Schulz 1960: 75-82. 70 Loewenstein 1937a: 656. 71 Loewenstein 1937a: 647. 72 Herwig Roggemann schreibt zum Beispiel, dass diese Verfassungen „in gewissem Sinne oktroyierte Verfassungen (waren), festgelegt

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3. Die Politik der Verfassunggebung auf die unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen der Siegermächte: Der Sowjetunion einerseits und der Westmächte andererseits.“ (Roggemann 1970: 16). Zu klären bliebe allerdings, was die Formulierung „in gewissem Sinne oktroyiert“ ausdrücken soll. Zu den Details seines Aufenthalts im russischen Exil und seiner Rückkehr in die SBZ vgl. ausführlich Amos 2006: 42-52. Polak 1949: 10. Polak 1949: 18. Polak 1949: 27. Polak 1949: 22. In dem lesenswerten Buch von Heike Amos sind im Anhang diese beiden Spalten dokumentiert und zugleich mit der endgültigen Verfassung von März 1949 in einer dritten Spalte konfrontiert; vgl. Amos 2006: 318-405. Polak 1949: 31. Amos 2006: 350. Roggeman 1970: 24. Zu diesen Begrifflichkeiten vgl. oben FN 43. Roggemann 1970: 27. Die Details sind ausgeführt bei Roggemann 1970: bes. 27ff. Alle Paragraphenangaben in diesem Absatz beziehen sich auf die Verfassung von 1949. Roggemann 1970: 184. Zit. nach Vogel 1988: 56. Die Arbeit an einem Vorentwurf für eine zukünftige westdeutsche Verfassung begann gerade an dem Tag, als bereits der Entwurf einer SBZ-Verfassung in (Ost)Berlin öffentlich gemacht wurde; vgl. oben Kap. 3.3.1. Theodor Maunz war eine extrem schillernde Figur in der deutschen (Rechts)Geschichte. Er war nicht nur einer der führenden nationalsozialistischen Staats- und Rechtstheoretiker, sondern zudem in der Nachkriegszeit einer der Mitherausgeber und Mitautor eines der wichtigsten Grundgesetzkommentare, dem „Maunz-Dürig-Herzog-Scholz“. Zudem war er von 1953 bis 1963 bayrischer Minister für Kultur und musste 1963 nach Vorwürfen wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit zurück treten. 1993, kurz nach seinem Tod am 10.09.1993, machte der Herausgeber der rechts-nationalen Deutschen Nationalzeitung, Dr Frey, publik, dass er mit Th. Maunz nicht nur seit über 25 Jahren gut befreundet gewesen war und sich seit den 70er Jahren fast wöchentlich mit ihm zur Diskussion politischer Fragen getroffen hatte. Auch schrieb er Rechtsgutachten für Dr. Frey, u. a. wegen einer Anklage zur Entziehung der Grundrechte nach Art. 18 GG. Und schließlich veröffentlichte Th. Maunz in diesem rechtsradikalen Blatt selbst über Jahre hinweg unter

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Pseudonym Artikel zu verschiedensten politischen und juristischen Fragen und Themen. Vgl. dazu knapp, aber wichtig Stolleis 1993. Vgl. zu dessen biographischen Stationen und staats- und verfassungsrechtlichen Positionen Zacher 1971. Abendroth 1978: 37. Otto 1971: 31. Zit. nach Otto 1971: 34. Otto 1971: 35. Otto 1971: 41. Dazu umfassend Sörgel 1969. Es handelte sich hier um den SPD-Vertreter Dr. Fritz Löwenthal, der ab April 1949 nicht mehr an den Sitzungen der SPD-Fraktion teilnahm und dann als parteiloses Mitglied des Parlamentarischen Rates geführt wurde. Die SPD-Führung bekräftigte daraufhin das imperative Mandat durch ihren Parteivorsitzenden Kurt Schumacher; vgl. dazu im Detail Otto 1971: 45f. Es waren dies der Ausschuss für Grundsatzfragen, für Organisation des Bundes, für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, für Zuständigkeitsabgrenzung, für Finanzfragen, für Wahlrechtsfragen und schließlich für das Besatzungsstatut; vgl. dazu Feldkamp 1999: 23; ders. 2008: 27f. Zit. nach Otto 1971: 86. Zit. nach Otto 1971: 72. Zit. nach Otto 1971: 75. Otto 1917: 125. Diese Position wurde in einer Drucksache des Parlamentarischen Rates formuliert; zit. nach Otto 1971: 134. So Otto 1971: 136. Otto 1971: 137. Vgl. dazu im Detail Otto 1971: 141-142. Zit. nach Otto 1971: 141. Zit. nach Otto 1971: 140. Zum Begriff des semi-präsidentiellen Regierungssystems vgl. Rüb 2001: bes. 103-116. Andreas Busch zählt bis Juni 1998 insgesamt 189 Änderungen, das sind knapp 4 pro Jahr; vgl. Busch 1999. Busch 1999: 559. Vgl. zu diesem Begriff und seinen Konnotationen Arato 1990; ders. 1995a; Preuß, U. K. 1990. Tilly 1999: 29-46; Griewank 1973: 21f.; Friedrich (Hg.) 1966; Goldstone 1986; Hobsbawn 1986; Brinton 1959. Schmitt 1928: 103. Hesse 1976: 276; Herv. i. O. Hesse 1976: 277. Arato 1993: 675. Die Begrifflichkeit geht auf Janos Kis (1998: 319) zurück, der jedoch den der „coordinated transition“ benutzt. Transitionen bezeichnen in der Systemwechseltheorie den Wandel al-

3.6. „1989“: Das Ende des „Zeitalters der Revolutionen“

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lein von politischen Regimen, während wir in MOE mit einem systemischen Wandel konfrontiert waren (und sind), der politischen, ökonomischen und sozialen Wandel umschließt und besser als „Transformation“ oder auch „Systemwechsel“ bezeichnet werden sollte; vgl. dazu auch Merkel/Thierry 2008; Merkel 2010. Enzensberger 1997a. Karl/Schmitter 1991. Karl/Schmitter 1991; ähnlich auch von Beyme 1994: 95. Karl/Schmitter 1991. Offe 1991; Elster 1993. Vgl. statt vieler Merkel 2010. Wiatr 1996: 110. Die folgenden Darstellungen basieren v. a. auf Rüb 2001 und der dort in den einzelnen Länderstudien angegebenen Literatur; vgl. aber auch von Beyme 1996; Merkel 2010; Linz/ Stepan 1996. Osiatynski 1996: 24. Osiatynski 1996: 53f. Neben der Frage der Wahl des Staatspräsidenten wurden noch drei weitere Sachverhalte entschieden, über die am RT keine Einigung erzielt werden konnte. Es handelte sich um die Entwaffnung der sog. Arbeitermilizen, dann um das Verbot politischer Aktivitäten in Betrieben und schließlich um die Offenlegung des Vermögens der kommunistischen Partei bzw. ihrer Nachfolgepartei. Im Jahr 2011 wurde durch die FIDESZ-Regierung unter Victor Orbán auf eine verfassungsrechtlich äußerst fragwürdige Weise eine gänzlich neue Verfassung beschlossen. Vgl. dazu die Anmerkungen am Ende dieses Kapitels. Arato 1995. Zu dieser Begrifflichkeit neuerdings und in Abwandlung seiner älteren Terminologie vgl. Arato 2016.

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133 A. Arato hat diesen Prozess ausführlich beschrieben und verfassungstheoretisch tiefgreifend reflektiert; vgl. Arato 2016: 161-222. 134 Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission): Opinion on the New Constitution of Hungary, abrufbar unter http://www.venice.coe.int/docs/ CDL-AD%282011%29016-e.pdf. 135 Slapnicka 1991: 258. 136 Höpken 1996: XI. 137 Verdery/Gligman 1992: 122. 138 Hirschmann 1970; ders. 1992; Pfaff 2006. 139 Hirschmann 1992: 334. 140 Pfaff 2006: 194. 141 Nach Pfaff 2006: 208. 142 Thaysen 1990. 143 Lehmbruch 1990: 470. 144 Es wurde sogar die Streichung des Art. 146 gefordert, weil er eine „Zeitbombe im Verfassungsgefüge“ sei. So jedenfalls J. Isensee in der FAZ vom 28.08.1990. 145 Arato 2016. 146 Vgl. dazu die knappen, aber interessanten Beobachtungen bei Arato 2016: 104-106; aber auch ausführlicher Faure/Lane 1996; Friedman/Atkinson 1994. 147 Dazu und zum Folgenden vgl. ausführlich Arato 2016: 10-13. 148 Burton et al. 1992: 8. 149 Rüb 1996: 54. 150 Merkel 2010: 91. 151 Ebd. 152 Tilly 1999: 31ff. 153 Pointiert Kowalczuk 2009a; ders. 2009b. 154 Arato 1990; ders. 1995; Preuß, U. K. 1990. 155 Zit. nach Preuß, U. K. 1990: 60. 156 Hall/Soskice 2001. 157 Preuß, U. K. 1990: 64. 158 Preuß, U. K. 1990: 65. 159 Holmes 1995: 143-176. 160 Elster 1996; Rüb 2001: bes. 622-689. 161 Arato 2016.

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4. Die Politik der Massen

4. Die Politik der Massen: Über das Irrationale eines Kollektivsubjekts, seine politische Zähmung in der Massendemokratie und seine Auferstehung als ‚Multitude‘ „Die Städte sind überfüllt mit Menschen, die Häuser mit Mietern, die Hotels mit Gästen, die Züge mit Reisenden, die Cafés mit Besuchern; es gibt zu viele Passanten auf den Straßen, zu viele Patienten in den Wartezimmern berühmter Ärzte; Theater und Kinos, wenn sie nicht ganz unzeitgemäß sind, wimmeln von Zuschauern, die Badeorte von Sommerfrischlern. Was früher kein Problem war, ist es jetzt unausgesetzt: einen Platz zu finden.“1

Man findet keinen Platz mehr – das ist, wie aus obigem Zitat deutlich wird, ein Problem geworden. Aber das ist nicht alles: Die Masse hat den Platz eingenommen, den man früher innehatte. ‚Man‘, das war die Elite, die „verfeinerten Schöpfungen der Kultur“, die in der Gesellschaft bestimmte Positionen ausfüllten. Nicht nur ist alles überfüllt, nun sitzen überall die minderwertigen Massen und die Elite findet keinen Platz mehr. Das ist das Neue und Umstürzende und deshalb konnte der spanische Intellektuelle und Soziologe José Ortega y Gasset in seinem kleinen Büchlein vom „Aufstand der Massen“ reden.2 Zwar waren die Massen schon immer da, aber irgendwo anders, an einem anderen Ort, im Unten: im Keller der Gesellschaft und dort als kleinere Gruppen, Vereinzelte, nicht Sichtbare. Unten heißt auch kulturell, intellektuell, vom Stand der Bildung aus gesehen unten. Zwar nicht ganz unten, wie der Pöbel, die Arbeiterklasse, aber irgendwo unten, als „Durchschnittsmensch“3 eben, bewegen sich die Massen. Sie erobern sich nun einen Platz in der Gesellschaft und in der Politik, der ihnen in der bestehenden Ordnung eigentlich nicht zusteht. Sie haben die Tür zur Geschichte geöffnet, sind trotz großen Widerstandes eingetreten und haben angefangen, selbst Geschichte zu machen. Das ist die unwiderrufliche Tatsache der modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts: Die Massen sind aufgestanden. Sie machen Politik, indem sie „Aufgaben der Regierung“ übernehmen und sich des „politischen Urteils über öffentliche Angelegenheiten“4 anmaßen. Wie kaum ein anderer hat J. Ortega y Gasset den Aufstand der Massen als politisches Phänomen analysiert oder – wie man auch vermuten könnte – seine Ängste und Bedrohungsphantasien auf die Massen projiziert. Zeitgleich mit den Massen betritt ebenfalls etwas politisch Neues die Bühne der Weltgeschichte: Der politische Führer. Er ist ihr Zwillingsbruder und in der Lage, ihre niedrigsten Instinkte, Leidenschaften, ja Irrationalitäten zu entzünden und sie in die heroischsten und zugleich niedrigsten Kämpfe zu führen. Mit ihnen kommt eine neue Dimension der Politik zum Vorschein, die es in dieser Intensität

4. Die Politik der Massen

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und Verbreitung bisher nicht gab. In den ‚großen‘ Revolutionen dieses Jahrhunderts, der nationalsozialistischen und der sozialistischen Oktoberrevolution, haben die politischen Führer eine überragende Rolle gespielt. „Aber mit dem Führer kommt eine neue Qualität der Politik, also ein Kulturmerkmal, zum Vorschein, und dieses Kulturmerkmal ist von einer bislang unbekannten Intensität und Verbreitung, so dass es müßig wäre, nach Parallelen in der Vergangenheit zu suchen.“5

Der Führer baut einen Personenkult um sich, der meist mythisch begründet ist und führt ein hohes Maß an Irrationalität in die Politik ein, weil er seine – oft paranoiden – Ideen um jeden Preis realisieren will. Regeln und Verfahren werden zweitrangig oder ganz eliminiert, allein der Wille des Führers zählt. Im nationalsozialistischen Führerprinzip kulminierte diese Vorstellung. Der Wille des Führers ist unbegrenzt: Keine (verfassungs)rechtlichen Bremsen und Kontrollen können (und sollen) ihn einschränken, was jegliche demokratische oder andere Formen der Beteiligung an Willensbildungsprozessen ausschließt, der Wille des Führers wird total. Verschmelzen Masse und Führer, so sind sie zu Taten und Untaten fähig, auf die die Menschheit nur mit großer Bewunderung oder tiefem Grauen blickt. Massen machen Politik und werden zum Gegenstand der Politik – diese Doppeldeutigkeit der Massen ist erst relativ spät zum Thema der Ideengeschichte bzw. der Politischen Theorien geworden. Einerseits ist die Masse der Inbegriff der Leidenschaften, des Zügellosen, des Unkontrollierbaren, ja des Irrationalen, des leidenschaftlich, scheinbar irrationalen Mitgerissen-Seins zum Falschen und zum Schlechten. Aber sie wird zudem als eigenständiges politisches Subjekt betrachtet. Mit der Massenpolitik wird zugleich ein Grundthema6 angesprochen, das bisher nicht oder nicht in dieser Schärfe thematisiert wurde: In der Masse – dies ist die grundstürzende Erkenntnis der Theoretiker der Massen – handeln Individuen vollkommen anders als einzelne Individuen. Ein neues politisches Subjekt, ein bisher nicht gekanntes und vor allem leidenschaftlich-irrational handelndes Kollektivsubjekt, tritt in die Geschichte ein und beginnt, ihren Gang grundlegend zu verändern. Andererseits wird die Masse zum Gegenstand der Politik, der von politischen Führern manipuliert und mobilisiert wird und Kräfte freisetzt, die bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen umwälzen und neue Handlungsoptionen in das Repertoire der Politik einführen. Die Instrumentalisierung der Massen für die Zwecke der Führer ist also die andere Seite des Massephänomens. Die Massen werden hier zum manipulierbaren Kollektivobjekt, das ebenfalls den Gang der Geschichte grundlegend ändert. Ein gänzlich neues Verständnis von Politik beginnt sich abzuzeichnen, das nicht nur mit dem Irrationalen spielt, sondern die Politik womöglich selbst irrational werden lässt. An die Stelle religiöser Heilserwartungen traten nun weltliche Ideologien, die die Massen in Trance, in einen Rausch versetzen und sie zu

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4. Die Politik der Massen

Taten bewegen, die sie sonst nicht tätigen würden. Die zahlreichen Autoren des 20. Jahrhunderts haben eine große Ambivalenz, wenn nicht Abneigung gegenüber den Massen empfunden. Für sie war die Masse oft kein empirischer Gegenstand, sondern weit mehr Projektionsfläche von Sehnsüchten und Ängsten. Analysen über die Masse waren meist die Auseinandersetzungen verschiedener Projektionen, in die sich die Sorgen und Phantasien der jeweiligen Autoren tief eingegraben haben. Die Verachtung der Massen war in diesen Diskursen dominant und ihre Bedrohlichkeit für eine bestehende politische Ordnung, der potentielle Aufstand der Massen, ebenfalls. Aber immer zeichneten sich Versuche ab, ihnen ihre Bedrohlichkeit zu nehmen und in neue Formen der Politik zu gießen. Die Massenparteien waren historisch der erste Versuch, sie zu organisieren und strategisch in den politischen Auseinandersetzungen einzusetzen. Die totalitären Massenbewegungen waren ein weiterer Versuch, der tiefe Spuren des Grauens in der Geschichte des 20. Jahrhunderts hinterließ. Die einzige Theorie, die ihnen positiv gegenüber stand, war der Marxismus bzw. später der Leninismus. Aber auch hier war die Position nie eindeutig: Aus der Masse musste zunächst die Klasse werden, was mehr ist als nur der Austausch zweier Buchstaben. Und aus der Klasse „an sich“ musste die Klasse „für sich“ werden – zum objektiven Moment musste das subjektive treten, denn nur so hat die Klasse das Bewusstsein, im Sinne der Geschichtsphilosophie des Marxismus fortschrittlich zu werden und die Menschheit zu ihrem eigentlichen Ziel zu treiben: Der klassenlosen Gesellschaft.7 Die Freisetzung der Massen, ihre Befreiung aus der Unmündigkeit und ihre Verwandlung in ein bewusst handelndes politisches, ja revolutionäres Subjekt war das große Projekt des Marxismus. Sind die Massen von der richtigen Idee, der richtigen Politik ergriffen, dann werden sie zur unüberwindbaren Triebkraft der Geschichte. Aber „die Waffe der Kritik“ – so Karl Marx – kann „die Kritik der Waffen nicht ersetzten, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch die materielle Gewalt, allein die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“8

Die Idee ist klar: Man muss die Massen von ihren schlechten Eigenschaften befreien und sie dadurch zum Motor der Geschichte machen. Sind sie jedoch von ihrer blinden Irrationalität befreit, so wird aus der Masse etwas anderes: Die Klasse, das Proletariat als Motor der Geschichte. Nur die Klasse – unter Führung der kommunistischen Partei, versteht sich –, aber nie die Masse an sich kann den teleologisch gedachten und sich gesetzmäßig vollziehenden Geschichtsprozess zu ihrem Ende bringen. Drei Phänomene beschäftigen nun die politischen Denker und die denkenden Politiker: Die Masse, ihre Führer und ihre gegenseitige Verschmelzung. Die Massenpsychologie untersucht diese Interaktionen und wird zur „Wissenschaft einer neuen Politik“9 und – noch radikaler formuliert – „genau betrachtet ist in unse-

4. Die Politik der Massen

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ren Massengesellschaften die Kunst, die Massen aufzupeitschen, die Politik, eine auf die Füße gestellte Religion.“10 Damit ist ein neuer Politikbegriff gewonnen, der sich klar von den bisherigen absetzt und eine neue Qualität der Politik beschreibt: Die Mobilisierung der Massen nach den Gesetzen der Massenpsychologie. Die Masse, von einem politischen Führer mobilisiert und elektrisiert, eröffnet bisher nicht gekannte Spielräume in der Politik und ermöglicht ungeheure Machtkonzentrationen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. Politik wird dann – sofern sie die Gesetze der Massenpsychologie anwendet – die „rationale Form der Ausbeutung der irrationalen Tiefenschicht der Massen. Alle von ihr vorgeschlagenen Propagandamethoden, alle Suggestionstechniken, die ein Führer auf die Massen anwenden kann, sind daraus abgeleitet. Sie zielen auf die Emotionen der Individuen, um diese in ein kollektives Material zu verwandeln. Und wir wissen, dass ihnen das vortrefflich gelingt.“11

Aber wir wissen auch, dass es irrationale Formen der Ausbeutungen der irrationalen Tiefenschichten der Massen gab und gibt. Die Verschmelzung von Masse und Führer wird zum Treibstoff, der das 20. Jahrhundert entzündete und dessen Brandgeruch noch heute in der Luft liegt. Der deutsche Faschismus hat wie kein anderes politisches Regime zuvor die Massen manipuliert und zum Töten aufgehetzt, so dass sich im Nachkriegsdeutschland eine tiefe Skepsis gegenüber den Massen, weniger gegenüber den politischen Führern, verbreitet hat. Politik wie Politik- und Sozialwissenschaften verabschiedeten sich von den Massen und am Ende des Jahrhunderts haben sich die politischen Denker, Publizisten und Politiker beruhigt. Die Angst vor den Massen wich der Zuversicht, sie zu etwas anderem, harmloseren machen zu können. Zwar finden sich die Massen in verschiedensten Begriffskombinationen wieder, wie Massendemokratie, Massenmedien, Massenkonsum, Massenkultur etc., aber nach Ansicht vieler haben sie sich schlafen gelegt. Im Zeitalter der Individualisierung und neuer Techniken der Massenbeeinflussung scheint ihre Transformation in einen ungefährlichen Rohstoff der Politik gelungen. Das 20. Jahrhundert wurde „Das Zeitalter der Massen“12 genannt und ist es weitgehend geblieben. Der Verfasser dieses Buches, Gustave Le Bon, sieht klar, dass es die Gesellschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer neuen politischen Kraft zu tun haben. Die Macht der Massen ist diese neue politische Kraft (Kap. 4.1.). Die ersten Versuche, die Kraft der Massen für bestimmte politische Zwecke zu organisieren, waren die Massenparteien. Sie entstanden um die Jahrhundertwende und prägten das neue Jahrhundert bis weit in die 50er und 60er Jahre hinein. Politik wurde vor allem mittels der politischen Parteien betrieben und eröffnete ihren Führern bzw. ihrem Spitzenpersonal neue Handlungsoptionen (Kap. 4.2.). Parallel dazu wurde deren Entpolitisierung betrieben, die auf sozial-psychologischer Ebene vor allem von Sigmund Freud vorgenommen wurde. Die Massen werden nicht von politischen Motiven und entsprechenden Leiden-

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4. Die Politik der Massen

schaften angetrieben, sondern von der Libido, einer psychischen Triebkraft, die er auch Liebe nennt. Er will aber gleichwohl Konzepte entwickeln, wie die Menschen aus ihrer Unmündigkeit in den Massengesellschaften befreit und zu autonomen Individuen gemacht werden können (Kap. 4.3.). Dass die Massen bzw. die Massenpolitik im Faschismus eine zentrale Rolle spielte, ist sicherlich unumstritten, aber es gab in der damaligen Zeit nur einen Versuch, dies theoretisch zu fassen. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“, bereits 1933 geschrieben, war dieser umstrittene, gleichwohl unvermeidliche Versuch. Die Ursache für die Passivität der Masse sieht er in der Unterdrückung des Sexualtriebes, der die Menschen zu passiven und autoritätshörigen statt zu politisch aktiven Wesen macht (Kap. 4.4.). Ein anderer Autor, der in der Nachkriegszeit die Rede von den Massen als ‚Ammenmärchen‘ abkanzelt, hat in der Weimarer Republik ein Buch geschrieben, das die Massen ganz anders sieht. Theodor Geiger attestiert ihnen eine revolutionär-destruktive Macht, die die bestehende Sozial- und Wirtschaftsordnung umstürzen kann. Aber sie sind nicht in der Lage, eine neue Ordnung aufzubauen (Kap. 4.5.). Derselbe, aber auch viele andere Autoren haben dann in den 60er Jahren die Massen verabschiedet und ihnen keine Bedeutung im Bereich der Politik (und der Gesellschaft) mehr zugeschrieben. Statt mit der Masse hätten wir es nun mit einer Vermassung zu tun, die durch die Massenproduktion und die Massenmedien hervorgebracht wird (Kap. 4.6.). Doch Totgesagte leben länger – dies gilt auch für die Massen. In den mittel- und osteuropäischen Transformationen zur Demokratie traten sie unübersehbar als politischer Akteur auf, die die kommunistischen Regime meistens friedlich stürzten und eine neue Gesellschaftsordnung errichteten. In der ehemaligen DDR konnte man – anders als in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern – eine eigentümliche Mischung von ‚Abwanderung und Widerspruch‘ (Albert O. Hirschman) beobachten, wobei die Abwanderung zu einer spezfischen Politik der Massen, ja zu einem Massenereignis wurde (Kap. 4.7.). Das Kapitel endet mit der Beobachtung, dass wir es am Ende des Jahrhunderts mit sich widersprechenden Diagnosen zu tun haben. Während einige Autoren vom Verschwinden der Massen sprechen, sehen wieder andere, vor allem marxistisch inspirierte Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri, eine Wiederauferstehung der Masse, die nun allerding mit einem neuen Begriff, dem der Multitude, versehen wird. Auch seien die bisherigen und tradierten Aktionsmodi der Politik unangemessen und müssten in der ‚post-politischen‘ Phase durch neue Aktionsformen ersetzt werden (Kap. 4.8.). Das abschließende Kapitel fragt, ob die Massen am Ende des Jahrhunderts nun wirklich Geschichte geworden sind oder ob sie erneut auf die politische Bühne zurückkehren und ihre Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen könnten (Kap. 4.9.).

4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt

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4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt: Gustave Le Bon und die Psychologie der Massen Der erste und vielleicht bedeutendste Blick auf die Massen wird am Ende des 19. Jahrhunderts geworfen. Die Frage ist, ob sich die Masse als neu auftretender politischer Akteur von den bisherigen grundlegend unterscheidet und ob neue Aspekte im Politikbegriff aufkommen. Die Antwort muss ‚ja‘ lauten: Es entsteht die Massenpsychologie bzw. die kollektive Psychopolitik, die mit dem Aufkommen der Massen, konkret der Versammlungsmassen, verbunden ist. Die Massenpsychologie glaubt nicht an eine durch Vernunft und Interessen begründete Politik. Sie glaubt dagegen, dass die Masse ein eigenes politisches Subjekt mit eigenen spezifischen Handlungsmustern ist, das einer ihr eigenen Logik folgt und im Kern nicht kontrollierbare, nicht vorhersehbare und nicht rationale politische Aktionen realisiert. Das für das 20. Jahrhundert wichtigste und einflussreichste Buch über die Massen wurde 1895 von Gustave Le Bon geschrieben. Wie in einem Brennglas fokussiert er die bisherigen massen-psychologischen Diskussionen, formuliert sie in einem kleinen Text eingängig und krempelt gleichwohl die bisherige Sichtweise um: Das Massenphänomen ist nicht länger das der Größe, noch das einer spezifischen sozialen, meist am Rande der Gesellschaft existierenden Gruppe. Vielmehr ist es das einer emotional-unbewussten Vereinigung beliebiger Menschen zu etwas Neuem: einem bisher nicht beobachteten sozialen und politischen Phänomen, das eine neue Dynamik in die Politik der modernen Gesellschaften einführt. Das Merkmal dieses neuen Kollektivsubjekts beschreibt G. Le Bon eindrücklich so: „Das Überraschendste an der psychologischen Masse ist: Welcher Art auch die Einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich die Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter, ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge derer sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde.“13

Der Begriff der „Gemeinschaftsseele“ versucht zwei Sachverhalte zu kennzeichnen. Er will zunächst verdeutlichen, dass sich die Individuen in der Masse nicht nur auflösen, sondern dass alle sozialen, geschlechtlichen und kulturellen Grenzen verschwimmen und alle Eins werden, unabhängig von allen anderen Merkmalen, die sie als Individuen auszeichnen. Dennoch werden sie – und das ist viel beunruhigender – auch Andere, weil das In-der-Masse-Sein auch das Seelenleben, die Psyche jedes Einzelnen, verändert. Die Masse verwandelt die Einzelnen und macht aus jedem Einzelnen etwas Anderes.

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4. Die Politik der Massen

4.1.1. Die Eigenschaften der Masse und ihre politische Qualität Wie sieht G. Le Bon nun die Masse? Seine Definition ist nicht überraschend – und ist es doch. „Im gewöhnlichen Wortsinn“ – so schreibt er – „bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlass der Vereinigung.“ Sie besitzt vom „Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. (...) Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Masse.“14

Dass der Massebegriff den mehr oder weniger spontanen Zusammenschluss von beliebigen Menschen beinhaltet, ist nicht verwunderlich, aber dennoch eine bemerkenswerte Einsicht. Denn in der Masse brechen alle sonstigen Differenzierungen, die in Gesellschaften existieren, zusammen und es entsteht eine undifferenzierte, eine homogene Gruppe von Menschen, die es ansonsten nicht gäbe und sich nach der Massebildung wieder auflöst. Das Überraschende an seiner Definition aber ist, dass sie sich „aus beliebigem Anlass“ bildet. Von manchen Autoren wird dies als zentraler Mangel, als Unzulänglichkeit der Begriffsbildung betrachtet, sei doch gerade der Anlass der Massebildung der Punkt, an dem sich das wissenschaftliche Interesse entzünden müsste.15 Die Kontingenz des Anlasses unterstreicht jedoch, dass es beliebige Funken sein können, die die Zündung für die Massebildung in Gang setzen. Elias Canetti hat dies vielleicht am prägnantesten gesehen: „Einige wenige Leute mögen beisammen gestanden haben, fünf oder zehn oder zwölf, nicht mehr. Nichts ist angekündigt, nichts erwartet worden. Plötzlich ist alles schwarz von Menschen. (...) Viele wissen nicht, was geschehen ist, sie haben auf Fragen nichts zu sagen, doch haben sie es eilig, dort zu sein, wo die meisten sind. (...) Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben: das Ziel ist das schwärzeste – der Ort, wo die meisten Menschen zusammen sind.“16

Der Anlass der Massebildung ist beliebig, es müssen nur einige wenige beisammenstehen. Manchmal entsteht sie durch ein (unbestimmtes) Ereignis und manchmal mögen es auch gute oder letzte Gründe sein – aber das Skandalon von G. Le Bon bleibt: „beliebiger Anlass der Vereinigung“. Ist der beliebige Anlass eingetreten, dann entsteht die Masse durch puren Sog, sie zieht es dorthin, wo es am schwärzesten ist: Menschenschwärze. Jenseits der reinen Vereinigung besitzt eine Versammlung von Menschen eine neuartige Qualität, die G. Le Bon in Ermangelung eines besseren Begriffs „psychologische Masse“17 nennt. Sie ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht und sich dennoch zu einem Ganzen wandelt und als Ganzes zu Denken, Fühlen und Handeln beginnt.

4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt

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„In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeiten der Einzelnen. Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und die unbewussten Eigenschaften überwiegen. Eben die Vergemeinschaftlichung der gewöhnlichen Eigenschaften erklärt uns, warum die Massen niemals Handlungen ausführen können, die eine besondere Intelligenz beanspruchen. (...) Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf.“18

Masse und Mittelmäßigkeit – dies ist noch eine den Massen schmeichelnde Beschreibung und diese Kombination entsteht durch verschiedene Faktoren. Zunächst empfindet der Einzelne in der Masse „unüberwindliche Macht“19, die ihn zu triebhaften Handlungen veranlassen, die er sonst durch seine Kontrolle in Zaum halten würde. Anonymität und geschwundenes Verantwortungsgefühl steigern die Triebhaftigkeit. Der Einzelne geht sozusagen in der Masse unter und handelt nur noch als ‚Masse‘. Zweitens kommt durch Übertragung die eine Richtung zustande, in die sich die Masse bewegt. In der Masse ist jedes Empfinden, jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar wie ein Funke, der von einem zum anderen springt und alle miteinander zu einem neuen Organismus verbindet. Und schließlich ist Beeinflussbarkeit der wichtigste Faktor der Entstehung der Massenseele. Die Masse ist von außen und von innen beeinflussbar: von innen durch „Ausströmungen“20, die von ihr selbst ausgehen, und von außen durch eine Art Hypnose, die durch Führer oder andere Manipulateure erfolgt. Ob die Masse erregt wird oder nicht, hängt stark von den Anreizen ab, denen sie von außen ausgesetzt ist. Dies können Bilder, Mythen, Legenden oder auch Ereignisse des Augenblicks sein, die aber von der Masse selbst umgeformt werden. Durch die kollektive Phantasie der Massen entstehen „ungeheuerliche Entstellungen“21, die mit der Wirklichkeit oder beobachtbaren Tatsachen oft nichts mehr zu tun haben. Es sind „Kollektivhalluzinationen“22, die eine eigene Wirklichkeitsdimension erlangen, schon allein weil sie von den Vielen geteilt und bestätigt werden.23 Durch all das ist der Einzelne nicht mehr er selbst, sondern hat sich in ein triebhaftes und instinktgeleitetes Wesen verwandelt, das er nicht mehr unter Kontrolle hat. Er wird zum „Automaten“ und steigt allein wegen seiner Mitgliedschaft in der Masse „mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab.“24 Hier sind wir wieder beim „Unten“ – der Einzelne in der Masse und die Masse selbst wird zum „Barbar“, zu einem „ursprünglichen Wesen.“25 Die Mittelmäßigkeit, von der G. Le Bon an anderer Stelle spricht, ist hier nach ganz unten abgerutscht und bewegt sich auf dem Niveau von Wilden, Kindern, Barbaren – diesmal keine Schmeichelei für die Massen, sondern Verachtung. Eine weitere Eigenschaft ist von Bedeutung: ihre Veränderbarkeit und Fluidität. Sie kann ihre Aufmerksamkeit, ihr Wollen nicht dauerhaft auf einen Gegenstand richten, sondern ändert ihre Richtung fortwährend. Flatterhaftigkeit – so die patriarchale Assoziation – sei weiblich; überall seien „die Massen weibisch, die weibischsten aber sind die lateinischen Massen.“26 Äußert sich die Gemein-

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4. Die Politik der Massen

schaftsseele, so werden zwei Sachverhalte überdeutlich. G. Le Bon nennt sie Überschwang und Einseitigkeit und „den Frauen gleich gehen sie sofort zum Äußersten.“27 Nur durch übermäßige Empfindungen kann die Masse erregt werden und nur gute Redner, die auf der Klaviatur dieser Gefühle virtuos spielen, werden die Massen zur leidenschaftlichen Aktion treiben können. Erneut betont G. Le Bon die Gefühlsebene, kein Redner darf einen Beweis oder Einzelheiten beibringen, um die Massen zu bewegen. G. Le Bon kennt kein Halten und treibt die Verachtung der Massen immer weiter. Ihre Sympathie – so behauptet er – gilt nie den Schwachen, den Zauderern, sondern den Tyrannen, Herrschsüchtigen, den Despoten. Ihnen errichten sie Denkmäler und ihnen ordnen sie sich unter und beugen sich „knechtisch vor einer starken Herrschaft.“28 Gegen Neuerungen ist sie allergisch, sie hält immer an dem Bestehenden fest. Wie alle „Primitiven“ hat sie einen „Beharrungsinstinkt“ und eine „fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen, einen unbewussten Abscheu vor allen Neuerungen.“29 Zu einer weiteren Besonderheit äußert er sich ambivalent – zu ihrer Sittlichkeit. Sie sind einerseits zu großen und heroischen Taten fähig, die „hochsittliche(n) Handlungsweise(n)“30 nahe kommen. Zugleich können sie ihren niedrigen Instinkten folgen und grauenhafte Taten begehen. Ein weiterer Aspekt muss noch erwähnt werden. Die Überzeugungen der Massen nehmen immer die Form religiöser Gefühle an, mit der immer Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden ist. Nur so ist es zu erklären, dass Menschen in der Masse oder die Masse als Ganzes bereit ist, ihre Führer nicht nur anzubeten, sondern auch ihr Leben für bestimmte Ideen oder Ideale zu opfern. Gute Führer sind „große Seeleneroberer“31 und es ist kein Zufall, dass er hier von der Männern zugeschriebenen Eigenschaft des Eroberns spricht.

4.1.2. Die Massen und der Führer: Zum Amalgam von Herrschaft und Knechtschaft in der Massenpolitik Über das Verhältnis von Massen und Führer macht G. Le Bon nicht viel Federlesen. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, behauptet er gleich zu Beginn, dass eine Herde Tiere ebenso wie eine Menschenmenge sich unwillkürlich einem Führer unterstellt. Unwillkürlich – also ist die Masse wie eine Herde, die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiß. Deshalb immer und unwillkürlich der Ruf nach dem Führer. „Sein Wille ist der Kern, um den sich die Anschauungen bilden und ausgleichen.“32 Damit scheint alles geklärt, aber dann macht er eine überraschende Bemerkung, wenn er auf die Charaktereigenschaften der Führer zu sprechen kommt. Er sieht klar, dass viele Führer zuvor Geführte waren und nun von einer Idee so hypnotisiert oder fanatisiert sind, dass sie sich zu Führern aufschwingen. Sie teilen die ganzen Eigenschaften der Masse, die er zuvor beschrieben hat. Aber

4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt

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nun kommt eine Beobachtung hinzu, die verblüfft und zugleich enorm weitsichtig ist. „Man findet sie (die Führer, F.W.R.) namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden. So abgeschmackt auch die verfochtene Idee oder das verfolgte Ziel sein mag, gegen ihre Überzeugung wird alle Logik zunichte. Verachtung und Verfolgung stört sie nicht. (...) Sogar der Selbsterhaltungstrieb ist bei ihnen ausgeschaltet, und zwar in solchem Maße, daß die einzige Belohnung, die sie oft anstreben, das Martyrium ist.“33

Man muss diese Stelle nicht mehrmals lesen, um die gleiche Verachtung zu verspüren, die er auch gegen die Masse hegt. „An der Grenze des Irrsinns“ – da bewegen sich die Führer. Wenn man von heute auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückblickt, ist man von der Weitsicht seiner Beobachtung beeindruckt. Hätten die Zeitgenossen diese Zeilen doch aufmerksamer gelesen! Die Führer folgen unbeirrt und unausgesetzt einer Idee, von der sie getrieben werden und sie verfolgen ihre Idee – im Zweifelsfall am Rande des Irrsinns – mit „beharrlichem Willen“, der eine „unendlich seltene und unendlich mächtige Eigenschaft“ ist.34 G. Le Bon benutzt hier zweimal das Wort unendlich, um die Seltenheit des Auftretens solcher ‚großen‘ Führer zu betonen. Sie bilden den Gipfel einer absteigenden Reihe, in deren Mitte oder Ende sich die ‚kleinen‘ Führer befinden, die in „rauchigen Kneipen“35 ihre Botschaften predigen.36 Damit aber die großen Führer die Massenseele erreichen, müssen sie drei Beeinflussungstechniken verwenden: Behauptungen ohne jeden Beweis und ohne Belege, die durch immerwährende Wiederholung den Charakter einer ‚bewiesenen‘ Wahrheit annehmen und von den Massen geglaubt werden. Wenn Behauptungen oft genug wiederholt werden, dann bildet sich eine geistige Strömung, die sich durch Übertragung in den Massen verbreitet. Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren – alles überträgt sich und steckt die Massen an. Und bereits 1895 erkennt G. Le Bon, dass Übertragung nicht die Anwesenheit der Masse, also die Versammlungsmasse, voraussetzt. Sie kann auch aus der Entfernung erfolgen und dennoch die Vereinzelten erreichen und sie in die gleiche Richtung lenken. Später werden diese Funktion das Radio und noch später die Massenmedien übernehmen, die die Propaganda der Führer in jeden Winkel eines Landes übertragen – durchaus im doppelten Wortsinne: in der von G. Le Bon formulierten „Übertragung“ und in einem technischen Sinne mittels der verwendeten Medien. Was aber motiviert die Führer, die die Massen motivieren? Es ist eine Idee oder Ideologie, die sie unausgesetzt führt und antreibt und ihnen keine Ruhe lässt. Als „Gefangene einer Mission“37 sind sie in sich selbst eingeschlossen, sie bewegen sich im Gefängnis ihrer Ideen, aus dem es kein Entkommen gibt. Und so wie der Führer von seiner Idee beherrscht ist, so versucht er die Massen zu beherrschen. Nur wenn die Idee tyrannisch ist, ist es auch der Führer und ermöglicht ihm die Überlegenheit, die die Massen erwarten.

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4. Die Politik der Massen „Wohl haben die Seher, Apostel, Führer, mit einem Wort die Überzeugten, eine ganz andere Gewalt als die Verneiner, Kritiker und Gleichgültigen, aber wir dürfen nie vergessen, dass eine einzige Anschauung, die genügend Nimbus gewänne, um sich durchzusetzen, mit Hilfe der Macht der Massen bald eine so tyrannische Gewalt erlangen würde, dass sich alsbald alle vor ihr beugen müssten.“38

In der Aufzählung treten die Politiker nicht explizit auf, aber man kann ‚Führer‘ immer auch als ‚politische‘ Führer lesen. Die Besessenheit von einer Idee macht sie zu dem Typus von Menschen, der sie an die ‚Grenzen des Irrsinns‘ treibt. Aber sie können in das Ich eines jeden Teils der Masse eindringen, sich dort einnisten und es beherrschen. Diese Beherrschung – so folgert die Massenpsychologie – lässt in der Masse das Bedürfnis nach Dankbarkeit und Bewunderung aufkommen, die den Führern entgegengebracht wird. Was G. Le Bon nicht sehen konnte, aber das Jahrhundert überdeutlich gemacht hat: Die Autorität der Führer wird durch den alltäglichen Terror ergänzt, der das Opfer von Abermillionen erfordert. Die Massen werden dadurch von ihren Führern nicht entfremdet, im Gegenteil. Man kann unschwer erkennen, dass umso mehr Dankbarkeit und Bewunderung die Führer erfahren, desto gewalttätiger agieren sie. Nach Stalins Tod weinten die Massen auf den Straßen und trotz der sich abzeichnenden militärischen Niederlage Hitlers gingen viele Menschen freiwillig in den Krieg und den sicheren Tod. Der Tod der Führer hinterlässt eine „Vakanz der Macht“,39 der für sie unerträglich ist und sie in Panik und Unsicherheit stürzt. Deshalb auch der immerwährende Versuch, den Tod von politischen Führern hinauszuzögern, so als ob diese niemals sterben, sondern ewig leben würden.

4.1.3. Das „automatische Denken“ der Masse: Von der Idee zur Tat Was bewegt die Massen und wie schlägt das Unbewusste in die Tat um? Dies sind die zentralen Fragen, mit denen sich die Massenpsychologie beschäftigte. Die Antwort auf diese Fragen ist komplex und die unterschiedlichen Theoretiker haben sie jeweils unterschiedlich beantwortet, aber man kann auf ein zentrales Konzept rekurrieren, das vor allem G. Le Bon formuliert hat. Man muss davon ausgehen, dass das, was das Individuum normalerweise ausmacht, in der Masse verschwindet und durch andere Mechanismen ersetzt wird. „Schwinden der bewussten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der Einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat.“40

4.1. Die Masse als politisches Kollektivsubjekt

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Das sind wahrlich keine freundlichen Beschreibungen und es tauchen verschiedene Begriffe auf, bei denen man länger verweilen könnte. Zentral aber ist die Vorstellung, dass die Individuen zu Automaten werden, die nicht mehr vom individuellen Willen kontrolliert werden. Was sind nun die Merkmale des automatischen Denkens? Die Massen bedienen sich, erstens, nicht der Logik oder der Vernunft, sondern ‚denken‘ mit Bildern und Metaphern. Die Idee der Hypnose unterstellt, dass Bilder zentral sind und Überlagerung und Projektion eine große Rolle spielen. Überlagerung bedeutet, dass Vorstellungsbilder auf der Grundlage oberflächlicher Merkmale einander zugeordnet werden; man erwartet, dass ein durchsichtiger fester Körper wie Eis im Mund zerschmilzt und erwartet das auch bei Glas. Diese vorschnelle Übertragung der Eigenschaft eines Gegenstandes auf einen anderen, aber nur ähnlichen, ist ein wichtiges Merkmal. Projektion ist die Unfähigkeit, die Wirklichkeit von ihrer (richtigen oder falschen) Darstellung zu unterscheiden. Derart projiziert die Masse ihre eigenen, oft falschen Vorstellungen nach außen auf die Wirklichkeit, ohne die Differenz zwischen beiden zu prüfen.41 Aber Bilder haben die Kraft, bestimmte Vorstellungen in der Masse, die zuvor nur geschlummert haben, zum Leben zu erwecken, sie zu erschüttern und zur Tat zu animieren. Das zweite Merkmal ist die „Gleichgültigkeit gegen den Widerspruch.“42 Die Masse übernimmt bestimmte fiktive Sachverhalte, die sie nicht durch die Wirklichkeit oder durch vernünftige Argumente, Gründe oder Tatsachen prüft. Die Verletzung der Prinzipien der Elementarlogik führt auch dazu, dass die Masse schwankt: An einem Tag verfolgt sie diese Idee, am nächsten eine andere. „Man wird also einsehen, dass in der Masse die entgegengesetzten Vorstellungen einander folgen. Unter dem Einfluss einer der verschiedenen in ihrem Verstand aufgespeicherten Ideen folgt die Masse dem Zufall des Augenblickes und wird infolgedessen die verschiedenartigsten Taten begehen. Der völlige Mangel an kritischem Geist lässt sie die Widersprüche nicht sehen.“43

Die Leidenschaftlichkeit ist die dritte Eigenart der Masse, die es ihr erlaubt – oft durch Suggestion oder Einfluss von außen – aus einer Fülle von Bildern im Prinzip beliebige hervorzubringen und diese zu aktualisieren. Oft genügt ein Wort – etwa „Ausländer“ oder „amerikanische Hochfinanz“ – um bestimmte Assoziationen und Verknüpfungen zu aktualisieren, die tief in der Masse gespeichert sind, blitzartig an die Oberfläche gelangen und zur unmittelbaren Aktion drängen. Aber nicht die Beweiskraft, sondern die Zeigekraft eines Bildes ist zentral.44 Und die Masse wird – wie bei Machiavelli die fortuna – bei G. Le Bon erneut mit dem Weibischen identifiziert: Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit, Emotionalität, Leidenschaft etc. Hinzu tritt eine weitere, mit dem Weibischen assoziierte Eigenschaft: ihre Eroberbarkeit. „Die Masse liebt die starken Männer. Die Masse ist wie eine Frau.“45

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4. Die Politik der Massen

Mit diesen Überlegungen war der Anfang gesetzt und die Diskussion des 20. Jahrhunderts konnte hinter diese Erkenntnisse nicht zurückfallen. G. Le Bon hatte – wie erwähnt – vor allem die Versammlungsmassen im Blick und die Politik der Massen und mit den Massen. In der Verschmelzung von Masse und Führer sah er den gefährlichsten Sprengstoff, der bisherige Macht- und Herrschaftsstrukturen aufsprengen konnte. Dass dieser Sprengstoff im 20. Jahrhundert so verheerende Wirkungen zeitigen würde, das konnte selbst der pessimistische G. Le Bon nicht erahnen.

4.2. Die Politik der organisierten Massen: Die politischen Parteien als Massenorganisationen Für die Politische Theorie bzw. die Politikwissenschaft waren und sind die Massen – wenn überhaupt – nur ein Randphänomen. In den heutigen einschlägigen Lexika der Politikwissenschaft findet man in der Regel keinen Eintrag unter dem Stichwort „Masse“ oder „Massendemokratie“, allenfalls „Massenmedien“ tauchen gelegentlich auf. Allein in der Parteientheorie geisterten sie in Form der „Massenparteien“ herum, die in der Nachkriegsphase – so die herrschende Meinung46 – allerdings durch einen neuen Parteientypus abgelöst wurde, den der Volkspartei oder „catch all“-Partei.47 Die Massenparteien wurden so zum historischen Relikt abgestempelt, das in der Reservatenkammer der Geschichte verstaubt. Man kann dieses Relikt wie im Museum noch bestaunen, man kann sich noch vor seiner vergangenen Kraft grauen, man kann seine heroischen Taten bewundern, aber es ist Geschichte. Die Massen wurden zum ‚Elektorat‘, zum unorganisierten Volk, auf das die Volksparteien und später dann die professionalisierten Wählerparteien ihre (Wahl-)Aktivitäten richteten. Historisch betrachtet traten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den unorganisierten Versammlungsmassen relativ schnell die organisierten Massen auf, deren dominierende Organisationsform die politischen Parteien wurden. Sie fanden ihren politisch wichtigsten Ausdruck in den Massenparteien, die die natürlichen zu künstlichen Massen machten (vgl. dazu ausführlich Kap. 12). Sie sind das Produkt von strategischen Handlungen, präziser: von Organisierung, wodurch eine neue politische Qualität bzw. eine neue politische Handlungsagentur entsteht. „Die organisierten Massen dagegen, Verbindungen höherer Ordnung, bilden und entwickeln sich aufgrund innerer Bedingungen, unter dem Antrieb kollektiver Anschauungen, Wünsche, über eine Kette von Nachahmungen, die die Individuen mehr und mehr einander und ihrem gemeinsamen Vorbild, dem Führer, gleichen lassen.“48

Hier werden die Vorteile der Organisation deutlich angesprochen. Die ‚Kette von Nachahmungen‘ sind in den politischen Parteien die vielen Hierarchien, die in ihnen entstehen und in denen Ketten von Handlungsmustern, Wiederholungen von

4.2. Die Politik der organisierten Massen

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Ideen und Bildern und schließlich auch hypnoseähnliche Suggestionen in einem weit höheren Maß reproduziert werden als im unmittelbaren Zusammenspiel zwischen Führer und Masse. Die organisierten Massen werden durch die politischen Parteien nun zu einem neuen Typus der politischen Handlungsfähigkeit umgeformt. • •

• •

Vervielfältigung der Möglichkeiten von Führern und Führung; Anordnungen und Umsetzungen der Ideen, Programme, Bilder etc. des Führers werden durch hierarchische Strukturen erleichtert und deren Chancen auf Realisation gesteigert; Mechanismen der Nachahmung werden stabilisiert und zugleich vervielfältigt; die Reproduktionsfähigkeit, die Fähigkeiten zu Wiederholungen werden gesteigert und verlaufen von „oben“ nach „unten“, wodurch zugleich die Chancen und Möglichkeiten der politischen Führer und deren Organisationen gesteigert werden.

Am radikalsten haben sicherlich R. Michels49 und später M. Weber50 diese Form der politischen Organisation der Massen durch die politischen Parteien beschrieben. Bei ihnen werden Maschinenmetaphern zentral, mit denen sie nicht nur die sozialistischen, sondern alle Massenparteien beschreiben.51 Die Massenparteien sind der unvermeidliche Ausdruck der modernen Massengesellschaften und sofern diese demokratische Grundstrukturen annehmen, wie in der Weimarer Republik, sind sie Kinder der Demokratie. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die damit verbundenen Wahlkämpfe um Wählerstimmen, die Parteienkonkurrenz etc., all das machte die Organisation der Masse zu handlungsfähigen und vereinheitlichten Gruppen unvermeidlich. R. Michels hat diese Dynamiken in seiner Schrift „Zur Soziologie des Parteiwesens“52 eindringlich beschrieben. Während die Massen in den Schriften der Massenpsychologie von G. Le Bon, G. Tarde u. a. noch als eigenständiges politisches Subjekt, als kollektive Handlungsfähigkeit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten beschrieben weden, kehrt sich bereits seit R. Michels und dann vor allem bei M. Weber diese Beobachtung um, aber aus der Massenpsychologie werden gleichwohl wichtige Prämissen übernommen.53 Zentral aber war die Orientierung nicht an den Massen an sich, sondern an spezifischen Teilen. Die Hauptaufgabe der Parteien in der damaligen Zeit war die Beeinflussung, Festigung und Organisierung der jeweiligen sozialen Segmente, die sie unterstützten. Bei den ‚Massen‘ handelte es sich um bereits durch bestimmte soziale oder Klassenlagen vordefinierte und klar abgrenzbare soziale Gruppen, die zugleich durch eine bestimmte, sozio-kulturell definierte Identität geprägt waren, die große Teile des sozialen Lebens bestimmten (Neumann 1956: 403). Umgekehrt war es die Aufgabe der Partei, diese Identität immer wieder neu

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4. Die Politik der Massen

zu formen und innerhalb ihrer Mitgliedschaft zu organisieren. Richard S. Katz und Peter Mair sprechen von einer „strategy of encapsulation“, die hierfür entwickelt wurde. 54 Das Spitzenpersonal der politischen Parteien waren die Agenten dieser sozialen Gruppen, die deren Interessen in den politischen Prozess einbrachten, entsprechende Forderungen bzw. Programmatiken formulierten und diese vor allem im politischen Kampf und auch durch die Besetzung von öffentlichen Ämtern durchsetzen wollten. Die Massenparteien und ihre Abgeordneten repräsentierten also nur ein und v. a. ein klar abgrenzbares Segment der Gesellschaft und nicht die Gesellschaft als Ganzes. Die von den Massenparteien formulierten Gesellschaftsentwürfe waren miteinander unvereinbar, dem Kompromiss nicht zugänglich und bedingten eine unvermeidlich extrem polarisierte Parteienkonkurrenz. Diese schlug – wie wir aus der Geschichte der Weimarer Republik wissen – oft in gewalttätige Konflikte um. K. Mannheim hat in seiner Wissenssoziologie die Programmatik der großen und relevanten ideologischen Strömungen bzw. deren Parteien unübertroffen beschrieben und zugleich auf die soziale Stellung dieser Gruppen in der Gesellschaft zurückgeführt.55 Um aber als Kampfpartei bzw. „kriegführende Partei“56 agieren zu können, bei der nicht nur die große Zahl der zu mobilisierenden Massen ausschlaggebend war, sondern auch die Schnelligkeit und Schlagfertigkeit des Agierens, bedurfte es einer umfassenden Organisation, die in eine radikale Oligarchisierung der Parteien umschlug. Die Notwendigkeit der Organisation und straffer hierarchischer Führung führte zu dem Paradox, dass, um handlungsfähig zu sein, die Massenparteien eine organisatorische Struktur annehmen mussten, die ihren programmatischen Grundsätzen, der Durchsetzung der Demokratie generell und der innerparteilichen Demokratie im Besonderen, fundamental widersprach. Um politisch wirksam zu sein, musste sich die Partei immer neue Massen erschließen57 und diese in ihre soziale und politische Programmatik einbinden. Aber Massenherrschaft ist ohne ein System der Vertretung oder der Delegation unmöglich. Die Delegierten sollten „für die Massen auftreten und die Ausführung ihres Willens erleichtern“58, aber die Delegierten begannen sich von den Massen zu entfernen und zusammen mit den Bürokraten und den sich professionalisierenden Parteieliten ein „Eigeninteresse, ein Interesse an sich selbst und für sich selbst“ zu entwickeln59 und führten dadurch eine von den Massen abgehobene Existenz. Zentral war zudem die Dominanz der außerparlamentarischen Partei gegenüber der Partei in den staatlichen Ämtern.60 Politische Parteien waren Organisationen, die v. a. in der Gesellschaft präsent und aktiv waren, aber auch einen parlamentarischen Arm besaßen, der jedoch der Partei außerhalb des Staates untergeordnet war. Die Parlamentsvertreter waren Delegierte der Partei, die mit einer Art imperativem Mandat versehen waren, das sie zum „Mund der Massen“ machen sollte, ohne großen Spielraum und ohne von den Massen getrennte Interes-

4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie

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sen zu haben. Die „party of social integration“61 war vorwiegend gesellschaftliche Organisationsform, die über ihren parlamentarischen Arm eine Verbindung, ein „linkage“ zwischen Gesellschaft und demokratischem Staat herstellte. Die Wähler wählten nicht zwischen verschiedenen Parteien, sondern bestätigten ihre Identität durch die Wahl ihrer Partei.62 Und Politik ist hier der politische Kampf und außerordentlich polarisierte Konflikt zwischen Parteien, die um Anteile an politischer Macht kämpfen, um ihre jeweiligen Gesellschaftsentwürfe durchzusetzen, notfalls auch mit Gewalt. Die verschiedenen Gesellschaftsentwürfe umfassten auch unterschiedliche Konzeptionen des politischen Regimes, wovon die parlamentarische Demokratie nur eine von vielen möglichen war. Sie konkurrierte mit dem Konzept der plebiszitären Demokratie ebenso wie mit nicht-demokratischen, seien es sozialistische politische Regime, die Diktatur des Proletariats oder ständische Regime, um nur die wichtigsten zu nennen. Die parteipolitisch-organisatorische Durchdringung der Massen steigerte ihre Kontrollierbarkeit und machte sie dadurch zum Instrument einer massenbasierten Politik. Die Furcht vor den Massen schwand zwar nicht, sie war immer noch die unkontrollierbare, dämonische und schwankende Handlungsfähigkeit, aber durch Organisierung wurde sie zu einer handhabbaren Gruppe, die zudem die Massengesellschaften intern strukturierte.

4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie bei Sigmund Freud: Masse und Libido Sigmund Freud schrieb im Jahr 1921 ein zwar kleines, aber folgenreiches Büchlein mit dem Titel „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, mit dem er an die Arbeiten v. a. von G. Le Bon, aber auch von G. Tarde, anknüpft und sie zugleich weiterentwickelt. Was mag ihn getrieben haben, seine Konzentration auf die Individualanalysen – theoretisch wie praktisch – aufzugeben und sich im Alter von fast 65 Jahren der Sozialpsychologie zu widmen? Zum ersten Mal erwähnt er diese Arbeit in einem Brief vom Mai 1919 an seinen Freund und Kollegen Sándor Ferenczi,63 aber über die Gründe schweigt er sich – auch in anderen Briefen – leider aus. Er tat sich nicht leicht mit diesem Werk. In einem Brief an seine Tochter Anna schreibt er Anfang August 1920, dass er Notizen zu diesem Thema in seinen Urlaub nach Bad Gastein in den Alpen mitgenommen und durchgesehen habe, „aber es drängt mich noch nicht zu ihr.“64 Ein paar Tage später berichtet er, dass er an dem Manuskript arbeitet und Mitte August schreibt er, „ich zittere, mit dem Entwurf der Massenpsychologie nicht fertig zu werden.“65 S. Freud hatte mit dieser Angst völlig Recht. Das Buch ist nie fertig geworden – im übertragenen Sinn zumindest. Es wurde gedruckt, es wurde rezipiert, es wurde einflussreich, aber es ist nie fertig geworden. An das Ende des Manuskrip-

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4. Die Politik der Massen

tes hat er „Nachträge“ hinzugefügt, die ebenso additiv sind wie die einzelnen Kapitel, aus denen es besteht. Zwar schreibt Freud über Massenpsychologie, aber immer wieder kehrt er zu individualpsychologischen Fragen zurück. Sein Buch endet mit keinem Ausblick, keiner Zusammenfassung, keiner Zuspitzung der Gedanken oder Verallgemeinerungen – es endet einfach. Es hätte auch anders enden können, ohne das letzte Kapitel oder mit irgendeinem anderen. In den Nachträgen werden verschiedene Stränge erneut aufgenommen, aber auch hier wirkt die Aneinanderreihung willkürlich. Er fügt etwas zum Christentum dazu, dann etwas zur Urhorde, dann zu gehemmten und ungehemmten Sexualtrieben, obwohl er sonst von Libido spricht etc. Insgesamt ist es ein Fragment geblieben, etwas Unfertiges und Unvollständiges, aber es fügt sich in die am Ende seines Lebens gefundenen Thematiken ein, die das Gesellschaftliche oder das Soziale weit mehr betreffen als die Individualpsychologie. Die Gründe, dieses Buch zu schreiben, bleiben ebenso unklar. Keine der einschlägigen Biographien gibt hierüber klare Auskunft.66 Aber es gibt gewisse Anzeichen, dass er in der lieblos-militaristischen Behandlung vieler Soldaten im Ersten Weltkrieg eine der Ursachen für die vielen Neurosen sah, von denen die Soldaten befallen waren und die letztlich die Willenskraft der Armee zersetzten.67 So ist es auch zu erklären, dass das Heer bzw. das Militär als eines von zwei Beispielen für organisierte Massen in seinem Buch auftaucht.68 Zudem mögen die „düsteren Aussichten der politischen Lage“69 in Österreich eine Rolle gespielt haben, weil die Koalition zwischen den Sozialdemokraten und den Christlich-Sozialen bereits im Jahr 1920 zerbrochen war und die antisemitischen politischen Kräfte an Bedeutung gewannen. Auch die fragwürdigen Ergebnisse seiner Hypnoseversuche könnten dazu geführt haben, dass er sich nun verstärkt sozialen Problemen zuwandte und diese mit den Theorien der Psychologie bearbeiten wollte.70 Darüber hinaus waren die Massen seit den heftigen und auch gewalttätigen Kämpfen in der Frühzeit der Weimarer Republik und in Österreich eine nicht zu übersehende soziale, aber vor allem auch politische Größe im gesellschaftlichen Leben. Massenstreiks, revolutionäre Bewegungen und neue demokratische Einrichtungen unter Beteiligung der Massen waren in den Jahren während und nach dem Sturz der Monarchie unübersehbar und bestimmten die Politik. Diesen aufgewühlten Zuständen konnte niemand entrinnen – und S. Freud als interessierter Beobachter des Geschehens noch viel weniger. Sein Interesse an sozialpsychologischen Themen zieht sich durch sein gesamtes Spätwerk, stehen doch die Führer und die Religion und ihrer beider Bedeutung bei der Unterdrückung der positiven Kräfte von Menschen dort ebenso im Mittelpunkt wie in seiner Massenpsychologie.71 Gleichwohl taucht in dem gesamten Text das Wort Politik bzw. politisch – wenn ich ihn recht gelesen habe – nicht ein einziges Mal auf – und doch ist der politische Kontext nicht zu übersehen. Im Gegensatz zu den bisherigen Theoreti-

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kern der Massen versucht er nicht nur einen neuen Zugriff zur Erklärung des Massenphänomens, sondern stellt auch weit mehr die Rolle der Führer in den Mittelpunkt. Und die Führer konnten nur politische Führer sein, andere Figuren waren und sind nicht denkbar. Allein der Führer ist in der Lage, das gefährliche Potential der Massen zu entzünden und zur Entladung zu bringen. Allein der politische Führer mobilisiert oder instrumentalisiert die Massen, um bestehende Macht- und politische Kräftekonstellationen zu verändern und neue zu generieren. Aber das alles bleibt eigentümlich unthematisiert. Gleich zu Beginn seiner kleinen Schrift formuliert er drei Fragen: „Was ist nun eine ‚Masse‘, wodurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen aufnötigt?“72 Das sind seiner Ansicht nach die drei zentralen Fragen der Massenpsychologie, auf die er nun Antworten finden muss. Er beginnt – etwas erstaunlich – die dritte zu beantworten, die nach den ‚aufgenötigten‘ Veränderungen der Seele des Einzelnen, während die anderen beiden eher am Rande thematisiert werden. Aber immerhin versucht er sich in der Einleitung an einer Definition der Masse und legt fest, dass die Massenpsychologie „also den einzelnen Menschen (behandelt) als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert.“73 Unschwer kann man erkennen, dass diese Definition außerordentlich weit ist und weit auseinanderliegende Phänomene erfasst: Vom Stamm über das Volk bis zu einem Menschenhaufen und damit entfernt sich Freud auch von den Theoretikern, auf die er sich so stark beruft. Aber seine Definition bekommt eine gewisse Plausibilität dadurch, dass er diese Phänomene als Entäußerung eines allen ihnen zugrunde liegenden Triebes auffasst, eines sozialen Triebes „herd instinct, group mind“, wie er ergänzend, aber nicht wirklich präzisierend hinzufügt.74 Was sind nun die seelischen Veränderungen, die sich in der Masse vollziehen? Bei seiner Analyse bleibt S. Freud eng bei G. Le Bon und zitiert so ausführlich wie in keiner seiner anderen Schriften. Seitenweise übernimmt er längere Zitate aus G. Le Bons „Psychologie der Massen“ und kommentiert sie, jedoch immer sehr spärlich. Ausdrücklich hält er fest, dass diese Betonungen und Überlegungen zum unbewussten Seelenleben mit seinen eigenen übereinstimmen.75 Die Referenzen zu anderen Autoren sind eher eingestreut, etwa zu W. McDougalls „The Group Mind“.76 In den nur wenigen Kommentaren zu G. Le Bon macht er jedoch einen Punkt deutlich, den er später schärfer herausarbeitet. „Es genügt uns zu sagen, das Individuum komme in der Masse unter Bedingungen, die es ihm gestatten, die Verdrängung seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen. Die anscheinend neuen Eigenschaften, die es dann zeigt, sind eben Äußerungen dieses Unbewußten, in dem ja alles Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist; das Schwin-

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4. Die Politik der Massen den des Gewissens oder des Verantwortungsgefühls unter diesen Umständen macht unserem Verständnis keine Schwierigkeiten.“77

Hier wird deutlich, dass er nicht nur das ‚Böse‘ in jeder Menschenseele zu finden glaubt, sondern dass es immer das schon Vorhandene, aber gleichwohl Verdrängte oder Unterdrückte ist. Durch das In-der-Masse-Sein werden die unbewussten Kontrollen abgelegt, die den bisherigen Triebhaushalt steuerten und das ‚Böse‘ unterdrückten. Der Massemensch hat keinen von seinen vorherigen Eigenschaften getrennten Charakter. Allein das bisherige ‚in der Anlage‘ Enthaltene, aber Verdrängte und Unbewusste, kommt nun zum Vorschein. Während die bisherigen Massentheoretiker ein rationales, vernünftiges und kalkulierendes Individuum voraussetzten, das erst in der Masse ein irrationales wird, sind bei Freud die psychologischen Ursachen für den Massemenschen bereits im Individuum vorhanden, wenn auch unterdrückt und kontrolliert. Es ist allein im Dunkeln und erst in der Masse tritt es unmittelbar und sichtbar zu Tage. Die Masse ist das Unbewusste, hier kann man es direkt sehen und seine destruktiven wie schöpferischen Dynamiken beobachten. Blickt man in die Masse, so spiegelt sich in ihr unmittelbar das Unbewusste des individuellen Menschen. Erst im zweiten Teil entwickelt er seine eigenen Ideen und führt den zentralen Begriff der Libido ein, der die gesamte Erklärungskraft seiner Massenpsychologie trägt. Seine Kritik an G. Le Bon bezieht sich auf dessen Ideen der „Suggestion“ und der „mentalen Ansteckung“, die er beide ablehnt und denen er keine genügende Erklärungskraft zugesteht. Wenn er nun „nach etwa dreißigjähriger Fernhaltung“78 sich dem Begriff der Libido erneut nähert, dann weil er zu einem Allerweltsbegriff geworden ist, der im Kern alle Formen der gegenseitigen Beeinflussung kennzeichnen will und damit an analytischer Schärfe verliert. Libido ist ein Ausdruck der „Affektivitätslehre“ und bezeichnet die „Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann.“79 Sie entspricht dem aus der griechischen Philosophie kommenden Begriff des Eros und kann sich auf die geschlechtliche, aber auch auf andere Formen der Liebe beziehen, wie die zu Eltern und Kindern, zu Freunden, aber auch zu konkreten Gegenständen und „abstrakten Ideen“.80 Letztere spezifiziert er nicht, aber man kann unschwer auch politische Ideen oder politische Ideologien zu den ‚abstrakten Ideen‘ rechnen, ohne S. Freud misszuverstehen. Die Libido wird als eine erotische Energie aufgefasst, die nur dann konstant bleibt und sich dauerhaft stabilisiert, wenn sie sich von zwei antisozialen Neigungen abgrenzt: Dem Narzissmus und der unmittelbaren Triebbefriedigung. Ersteres ist die reine Selbstliebe, die keine Übertragung auf Andere ermöglicht und so auch keine Sozialität stiften kann. Gleiches gilt für die unmittelbaren Triebbefriedigungen, denn sie gehen als „direkt sexuelle jedesmal durch die Befriedigung ihrer Energie (…) verlustig und (müssen) auf Erneuerung durch Wideranhäufung der sexuellen Libido warten, wobei inzwischen das Objekt gewechselt werden

4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie

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kann.“81 Allein durch Sublimation, also durch „gehemmte Triebe“82 und deren Umleitung auf Ersatzobjekte kann eine Stabilität in der Libido erreicht werden, denn „(a)lle Bindungen, auf denen die Masse beruht, sind von der Art der zielgehemmten Triebe“83 und insofern machen „Liebesbeziehungen (indifferent ausgedrückt: Gefühlsbindungen) auch das Wesen der Massenseele aus.“84 Die Masse wird durch eine spezifische ‚Macht‘ zusammengehalten und welcher „Macht könnte man diese Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles in der Welt zusammenhält?“85 Zum anderen vermutet er, der Einzelne gibt seine Eigenart auf, um mit allen anderen im Einvernehmen zu handeln statt im Gegensatz, also „vielleicht doch ‚ihnen zuliebe‘“.86 Dieses Wortspiel ist nicht nur gekonnt, sondern gibt die ganze Richtung seiner weiteren Überlegungen an. Wie aber kommt nun die Deformation des Einzelnen, die „Haupterscheinung der Massenpsychologie, die Unfreiheit des Einzelnen in der Masse“87, zu Stande? S. Freud hat darauf klare Antworten: Wenn, erstens, die gefühlsmäßigen Bindungen des Einzelnen in zwei Richtungen gehen, zum Führer und zu den anderen Massenindividuen, so ergeben sich daraus Veränderungen und Einschränkungen der Persönlichkeit. Seine „Formel für die libidinöse Konstruktion einer Masse“88 ist diese „doppelte Art der Bindung“89: Einmal die Bindung der Massenindividuen an den Führer und zum anderen der Massenindividuen untereinander. Zunächst lebt die Masse von der Illusion, dass der Führer alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt.90 Zerfällt diese Illusion, zerfällt auch die Masse. Der Führer – das räumt S. Freud möglichen Kritikern durchaus ein – kann auch durch politische Ideen, wie Nationalismus, Vaterlandsliebe, Antisemitismus etc. ergänzt oder ersetzt werden. Aber davon bleibt seine Grundüberzeugung unberührt: Dass die Libido der zentrale psychologische Mechanismus ist, der die Masse bildet und zusammenhält. Die Persönlichkeit von Menschen ändert sich insofern, als sich die Massenindividuen den Ideen des Führers unterwerfen und sie als ihre eigenen betrachten. Der Wille des Führers wird zu ihrem eigenen Willen und dadurch vergelten sie die Liebe des Führers zu ihnen. Dann lebt, zweitens, die Masse von der Fiktion, dass sich die Massenindividuen als gleich oder gleichförmig betrachten. Sie dulden, besser: negieren ihre Differenzen, stellen sich den anderen gleich und entwickeln kein Gefühl der Abstoßung. Die Selbstliebe wird eingeschränkt, ja umgeleitet und richtet sich auf die anderen oder auf bestimmte Objekte. So entsteht eine dauerhafte Einschränkung des Narzissmus, der die Massenbildung stabilisiert. Zusätzlich wird ein Sachverhalt zentral, den S. Freud Identifizierung nennt und der in der Psychoanalyse gut bekannt ist. Man übernimmt hierbei einen Teil oder viele Eigenschaften der geliebten oder verehrten Person und macht sie zu seinen eigenen. Dieser Mechanismus ist insbesondere für das Verhältnis zwischen Führer und Massen wichtig, weil sich letztere mit ersterem identifizieren. Aber er wirkt auch innerhalb der Masse. Hinzu treten Idealisierungen, die ebenfalls eine Form möglicher libidinö-

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4. Die Politik der Massen

ser Beziehungen darstellen und das eigene Urteil fälschen.91 Die auf unmittelbare Sexualbefriedigung drängende Libido wird zurückgedrängt und zugleich immer stärker auf ein Objekt gerichtet. Dies wird dadurch idealisiert, ja verherrlicht, während das eigene Ich immer schwächer und bedeutungsloser wird. Das Ich-Ideal, das bei S. Freud als eine oberste Instanz über dem Ich steht und später als Über-Ich bezeichnet wird, ist eine Art moralisches Gewissen, eine Art Richter oder Kritiker, das bestimmte Handlungsmuster erlaubt und andere verwirft. Bei starker Idealisierung verliert diese Instanz an Kraft und kann die moralische Kontrolle nicht mehr ausüben. Das Gewissen oder andere kritische Instanzen verlieren ihre Bedeutung. In der „Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher“, konstatiert er ungerührt und schlussfolgert: „Das Objekt hat sich an die Stelle des Ichideals gesetzt.“92 Es tritt dann jener eigentümliche Sachverhalt auf, den man „demütige Unterwerfung, Gefügigkeit, Kritiklosigkeit“93 nennen kann und die Position des Massenmenschen gegenüber dem Führer präzise beschreibt. Nach dem gleichen Muster erfolgt die Unterwerfung unter eine politische Ideologie oder Idee und Masse wird nun weitgehend identisch mit Unterwerfung, sei es unter die Herrschaft eines Führers oder einer politischen Ideologie. „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben. (...) (D)er Einzelne (gibt) sein Ichideal auf und (vertauscht) es gegen das im Führer verkörperte.“94

Zusammenfassend kann man den Vorgang der Massebildung in eine ‚Formel‘ von vier Schritten bringen: Der erste Schritt ist die Identifikation der Massenindividuen untereinander, dem die Identifikation der Massen mit dem (politischen) Führer oder der (politischen) Ideologie folgt. Der dritte Schritt ist die Abtretung des Ichideals an den Führer oder die politische Ideologie, wobei Identifizierung und Idealisierung zentral werden und die eigenen Kontrollinstanzen schwächen. Im letzten und vierten Schritt erfolgt dann die vollständige Ersetzung des Ichideals durch ein Objekt (Führer oder Ideologie). Der Massenmensch verfügt dann über keine Selbstkontrollen mehr und regrediert auf die Stufe des Primitiven, der alle die schlechten Eigenschaften übernimmt, die die Masse ausmachen. S. Freud hat auch kein Problem, die Masse ‚im Unten‘ zu lokalisieren. Seine Beschreibungen sind ebenso unfreundlich wie die anderer Massentheoretiker. Er diagnostiziert auch bei ihr einen Rückschritt der „seelischen Tätigkeit auf eine frühe Stufe, wie wir sie bei Wilden oder bei Kindern zu finden nicht erstaunt sind“95 und der sowohl bei den organischen wie den künstlichen Massen auftreten kann. Die Masse – so fasst er zusammen – ist gekennzeichnet durch „(...) den Mangel an Selbständigkeit und Initiative beim Einzelnen, die Gleichartigkeit seiner Reaktionen mit der aller anderen, sein Herabsinken zum Massenindividuum sozusagen. Aber die Masse zeigt, wenn wir sie als Ganzes ins Auge fassen, mehr die Züge von

4.3. Die (Ent-)Politisierung der Massen und deren Psychologie

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Schwächung der intellektuellen Leistung, von Ungehemmtheit der Affektivität, die Unfähigkeit zur Mäßigung und zum Aufschub, die Neigung zur Überschreitung aller Schranken in der Gefühlsäußerung und zur vollen Abfuhr derselben in Handlung, dies und alles ähnliche (...) ergibt ein unverkennbares Bild von Regression der seelischen Tätigkeit (...).“96

Durch die Konzentration auf die Libido als dem wesentlichen Moment der Massebildung und -stabilisierung hat sich S. Freud ein Kriterium gewählt, das zu viele Erscheinungsformen umfasst. Sowohl die Urhorde, die spontanen Massebildungen im 19. und 20. Jahrhundert als auch hochdifferenzierte Organisationen wie Kirche und Militär fallen bei ihm unter den Massebegriff. Dann kann man nicht mehr plausibel differenzieren und das Spezifische des Massebegriffs geht womöglich verloren. Aber er hat deutlich gemacht, dass für den Prozess der Massebildung die Führer bzw. politische Ideologien elementar sind und bei deren Wegfall die Massen oft von ihrer Auflösung bedroht sind. Eine weitere Korrektur der Ausgangsprämissen der Massentheoretiker und -psychologen hat er zudem vorgenommen: Die Vorstellung des vernünftigen, rationalen, kontrollierten und sich selbst steuernden Individuums hat er durch den sozial vermittelten Menschen ergänzt. S. Freud schreibt über Politik, ohne den Begriff je zu verwenden. Aber seine Kritik der Religion und des Militärs sind eine massive Kritik an diesen beiden Institutionen und – darüber hinausgehend – an allen Institutionen oder Organisationen, die die Menschen in den Zustand der ‚Regression ihrer seelischen Tätigkeiten‘ versetzen. Es geht ihm um die Entschlüsselung des „Rätsel(s) der Unterwerfung der Menschen und der Kunst, sie zu beherrschen“97 ebenso wie um die Untersuchung der Gründe für die Entstehung und Konstanz des ‚Unbewussten‘ und des Ursprungs der Religionen und ideologischer Glaubenssysteme. Und das sind genuin politische (und auch politikwissenschaftliche) Fragestellungen. Es sind Fragen nach der Macht, der Beherrschung und auch der Befreiung aus der Unmündigkeit und von den Fesseln des Unbewussten. Neben S. Freud waren an diesen Überlegungen auch andere Sozialpsychologen beteiligt, wie etwa Wilhelm Reich, Alfred Adler, Paul Federn u. a. S. Freud macht diese Perspektive in seiner Schrift sehr deutlich, wenn er schreibt: „Die Aufgabe besteht darin, der Masse gerade jene Eigenschaften zu verschaffen, die für das Individuum charakteristisch waren und die bei ihm durch die Massebildung ausgelöscht wurden.“98 Er versucht also der Masse die Qualitäten zurückzugeben, die sie aus dem regressiven Zustand zurückholt und in den der bewussten und rationalen Handlungen überführt. Mit anderen Worten: Wie sie (wieder) zu einem handlungsfähigen, ja vielleicht sogar revolutionären Subjekt werden kann. Dazu brauchte er seine Untersuchung über die Massenpsychologie. Sie sah dabei viele Gründe für die Unbewusstheit der Massen, aber ein, wenn nicht sogar der wichtigste Punkt war die sexuelle Unterdrückung,

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4. Die Politik der Massen

die konstitutiv für die Entstehung von politischer Herrschaft und Unterwerfung ist.99 S. Freud sieht zwar klar die seelische und intellektuelle Regression der Individuen in der Masse und siedelt sie im ‚Unten‘ der Gesellschaft an; aber zugleich versucht seine Analyse die Faktoren zu identifizieren, die die Masse aus dem ‚Unten‘ in ein handlungsfähiges politisches Subjekt transformieren könnten. In der Ambivalenz des beobachteten Phänomens liegt die Stärke – andere würden sagen, die Schwäche – seiner kleinen Schrift. Vielleicht war sie auch eine Abklärung für ihn selbst, wie der unübersehbare Eintritt der Masse in die Geschichte zu bewerten sei, und welche Hoffnungen und Ängste er damit verband.

4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus In der Ankündigung der „Hochschule für Werktätige“ für das erste Trimester 1931/1932 wurde unter der Nummer 177 ein Kurs über die „Geschichte der Sexualmoral“ angeboten. Er umfasste an Montagen jeweils vier Doppelstunden und fand am Abend ab 20.00 Uhr im zentralen Schullokal statt. Mittwochs gab derselbe Dozent – dieses Mal allerdings elf Doppelstunden – eine kurze Ausbildung für Referenten der marxistischen Sexualpolitik. Beginn ebenfalls 20.00 Uhr, damit Arbeiter und Werktätige daran teilnehmen konnten. Der Dozent war ein gewisser Dr. Wilhelm Reich, der 1933 – gedruckt und veröffentlicht im dänischen Exil – ein Buch mit dem Titel „Massenpsychologie des Faschismus“ vorlegte.100 Es blieb in der damaligen Zeit weitgehend ohne Resonanz, weder die Psychoanalyse noch die damaligen antifaschistischen Bewegungen nahmen Notiz davon. Eine große Rolle spielte es dagegen rund 35 Jahre später in der 68er Studentenbewegung. Ich hatte mein Exemplar des Buches Ende der Siebzigerjahre in einer Kneipe am Savignyplatz in Berlin als Raubdruck für damals zwei DM gekauft. Wilhelm Reich selbst veröffentlichte 1942 eine erheblich überarbeitete Ausgabe dieser Schrift101, in der seine inzwischen erfolgte Abkehr vom Marxismus überdeutlich wurde. Das Buch ist politisch in einem doppelten Sinne: Es kritisiert die einseitig ökonomisch ausgerichtete Politik der damaligen Sozialdemokraten und Kommunisten, versucht zugleich eine neue Politik, eine fortschrittliche Psychopolitik der Massen, zu konzipieren und diese in der kommunistischen und Arbeiterbewegung zu verankern. Zudem macht das Buch dieses umstrittenen Autors einen analytischen Schritt, den (fast) kein anderer Autor der damaligen Zeit vollzog. Es widmet sich – gewappnet mit Freudschen und marxistischen Prämissen – der Analyse des Faschismus als Massenbewegung. Die faschistischen Bewegungen hatten unübersehbar alle die zentralen Fragen auf die Tagesordnung gesetzt, die die Sozial- oder Massenpsychologie hätte beschäftigen müssen: Die Rolle des (politischen) Führers, konkret A. Hitlers, das Sichtbarwerden der Masseinstinkte,

4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus

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die zunehmende Gewalttätigkeit der Massen, ihre sichtbare Verführbarkeit und – das hat W. Reich wie die meisten Marxisten im Besonderen irritiert – ihre Bereitschaft, gegen ihre Interessen zu handeln. Es versteht sich von selbst, dass das Buch und – fast noch mehr – sein Autor massiver Kritik ausgesetzt waren. Diese ging so weit, dass er auf Betreiben von S. Freud aus der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGP) und nur wenig später aus der internationalen Psychologenvereinigung unter äußerst mysteriösen Umständen und mit ebenso mysteriösen Gründen ausgeschlossen wurde. W. Reichs Massenpsychologie ist „der einzige psychoanalytische Versuch, eine spezifische und umfassende Theorie der sozialpsychologischen Voraussetzungen des Faschismus zu formulieren.“102 Zwar haben in der Nachkriegszeit verschiedene Autoren auf W. Reich Bezug genommen, aber als Zeitdiagnostiker war er erstaunlicherweise der einzige, der die bisher verborgenen Verbindungen zwischen dem Unterbewusstsein der Massen und dem Faschismus systematisch entwickelt hat. Auch die zeitgenössischen Psychoanalytiker haben diesen Zusammenhang weder systematisch thematisiert noch Bezug auf W. Reichs Schriften genommen. A. Peglau erwähnt in seinem Buch über die Psychoanalyse im Faschismus allein eine und zudem sehr kurze Rezension. Überhaupt waren der Faschismus und die faschistischen Bewegungen kein Thema für die Psychoanalyse in der Weimarer Republik. In einer Aufzählung fast aller ihrer damaligen Schriften taucht der Begriff des Faschismus faktisch nicht auf.103 Was könnten die Gründe dafür gewesen sein, dass ausgerechnet W. Reich eine solche Theorie entwickelte? Noch in Wien war W. Reich Zeuge des Wiener Arbeiteraufstandes im Jahr 1927, in dessen Verlauf rund 100 Menschen von der Polizei erschossen wurden. W. Reich, der sich mit seiner Frau Anni den Protestierenden angeschlossen hatte, schrieb rückblickend: „Der unauslöschliche Eindruck blieb: Hier kämpft seinesgleichen mit seinesgleichen! Die Polizei, die an diesen zwei Tagen 100 Menschen erschoss, war sozialdemokratisch organisiert. Die Arbeiterschaft war sozialdemokratisch organisiert (...). Klassenkampf? Innerhalb derselben Klasse?“104

‚Unauslöschlicher Eindruck‘ – eine weitreichende Formulierung, die durch ein weiteres Erlebnis verstärkt wurde. Als Begleiter einer Kindergruppe musste W. Reich in Berlin ein paar Jahre später mit ansehen, wie diese von der Polizei zusammengeknüppelt wurde. Die Gruppe sang Lieder, die damals verboten waren. In einer Notiz stellte er fest, dass er bei solchen Ereignissen immer „den Eindruck (hatte), dass an die Stelle eines lebendigen Denkens und Fühlens eine automatische Reaktion tritt.“105 Wie kommt diese ‚automatische Reaktion‘ zu Stande, die er sowohl in Wien als auch in Berlin beobachtet hatte? Wie kommt es, dass so viele Arbeiter, die nach Ansicht des Marxismus auf der Seite des Fortschritts und der Revolution stehen müssten, entgegen der vermeintlich objektiven Gesetze der marxistischen Geschichtsphilosophie an der Seite A. Hitlers für den Faschismus

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4. Die Politik der Massen

kämpften? Dass diese Massen auch die grauenhaften Verbrechen der Judenvernichtung in ebenso automatischer Reaktion vollziehen würden, konnte er damals nicht ahnen. Ein weiterer Grund mag hinzutreten. In seiner therapeutischen Arbeit war er mit der Destruktivität seiner Patienten konfrontiert, die er mit deren sexualfeindlichen Sozialisation in der autoritären Familie erklärte. „Auf der Basis umfangreichen theoretischen Wissens, mehrjähriger Erfahrung in Therapie, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit von Literatur- und ‚Feldstudium‘ sowie praktischer Mitwirkung in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen erarbeitete sich Reich freilich also allmählich jene Auffassungen über die psychosozialen Grundlagen des Nationalsozialismus, die dann 1933 in die Massenpsychologie des Faschismus eingeflossen sind.“106

W. Reichs Analyse der Massenpsychologie des Faschismus ist eines der ganz wenigen Werke, das sich explizit mit der Sozialpsychologie des Faschismus auseinandersetzt. Ich muss es präziser formulieren: Es ist das einzige zeitgenössische Buch, das sich in explizit politischer Absicht mit diesem Problem beschäftigt. Es gibt Auskunft über zwei zentrale Sachverhalte, die alle Theoretiker der Massen beschäftigt haben, wenn auch eher dem einen oder dem anderen Pol zuneigend: Die Politik der Massen und die Politik mit den Massen. W. Reichs kleine Schrift nimmt beide Dimensionen auf, wobei er letzteres als die zentrale Frage sieht: Wie konnte es passieren, dass der Faschismus die Massen – und dabei Kleinbürger ebenso wie große Teile des Proletariats – für seine Ziele begeistern konnte, also Politik mit den Massen machte? Umgekehrt wurden die Massen ihres eigentlichen revolutionären Impulses beraubt, dem W. Reich durch seine Schrift zum Durchbruch verhelfen wollte. Er zielte also auch auf die Politik der Massen. W. Reich konnte sehen, wie immer mehr Kleinbürger und auch große Teile der Arbeiterklasse trotz massiver materieller Not nicht gegen ihre Ausbeuter bzw. das Gesellschaftssystem rebellierten, obwohl es ihren ‚objektiven‘ Interessen entsprochen hätte. Nach den Prämissen des Marxismus, dem W. Reich anhing, hätten sich die Arbeiter bzw. die Massen gegen diese soziale und gesellschaftliche Situation auflehnen und für den sozialen Fortschritt eintreten müssen. Stattdessen liefen sie genau den politischen Kräften hinterher, die diese Verhältnisse zementierten und die soziale Revolution aufhielten. Aber er selbst hatte lange keine Vorstellung davon, woran das liegen könnte. „1928-1930 (...) hatte ich wenig Ahnung vom Faschismus, etwa so viel wie der durchschnittliche Norweger 1939 oder der Amerikaner 1940. Ich lernte ihn erst zwischen 1930 und 1933 in Deutschland kennen. Ich war hilflos perplex, als ich ihm begegnete und in seinem Wesen Zug um Zug den Gegenstand der Auseinandersetzung mit Freud wiedererkannte. Allmählich begriff ich, daß dies logisch war. In den genannten Auseinandersetzungen war um die Beurteilung der menschlichen Struktur, um die Rolle der menschlichen Glückssehnsucht und der Irrationalität im gesellschaftlichen Leben gerungen worden. Im Faschismus bot sich die seelische Massenerkrankung unverhüllt dar.“107

4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus

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‚Unverhüllt‘ – in dieser Formulierung wird deutlich, dass die faschistischen Massenbewegungen, die zu Beginn der 30er Jahre in Deutschland unübersehbar geworden waren, eine große praktische wie theoretische Herausforderung darstellten. Er begann sich damit zu beschäftigen und las die wichtigsten Schriften der faschistischen Theoretiker, etwa A. Hitlers ‚Mein Kampf‘, A. Rosenbergs ‚Mythos des 20. Jahrhunderts‘, einige der Kampfschriften von J. Goebbels und eine Unmenge an völkischen, nationalistischen und nationalsozialistischen Zeitungen und Zeitschriften. Aus diesen Schriften und aus den praktischen Erfahrungen in der sogenannten Sexpol-Bewegung108 gewann er seine zentralen Erkenntnisse, die er dann in seiner Massenpsychologie verdichtete. Es war eine sozialpsychologische Analyse, aber immer auch eine politische Kampfschrift, die sich an die Arbeiterklasse und ihre Parteien, insbesondere die KPD, richtete. Diese wollte von Reichs Analysen aber nichts wissen und schloss ihn 1933 wegen konterrevolutionärer Ideen aus. Dem ersten Kapitel seiner Schrift, „Die Ideologie als materielle Gewalt“, folgt unmittelbar ein Unterkapitel, das mit „Die Schere“ überschrieben ist.109 Die Schere – das ist das Leitmotiv des gesamten Buches und er beschreibt nicht nur diese Schere, sondern versucht ihr Entstehen mit Hilfe von Freudschen Kategorien zu erklären.110 Was hat es mit dieser Denkfigur auf sich? „Es ergab sich eine Schere zwischen der Entwicklung in der ökonomischen Basis, die nach links drängte, und der Entwicklung der Ideologie breiter Schichten, die nach rechts erfolgte. Diese Schere wurde übersehen. Und weil sie übersehen wurde, konnte auch nicht die Frage gestellt werden, wie ein Nationalistischwerden der breiten Massen in der Pauperisierung möglich ist.“111

Das war seine – unübersehbar marxistisch inspirierte – Frage, mit der er erklären wollte, warum immer mehr Kleinbürger, aber auch große Teile des Proletariats nach rechts abschwenkten. Die Marxsche Grundkonzeption akzeptierte er, nach der alle ökonomischen, ja ‚objektiven‘ Voraussetzungen für eine Radikalisierung der Massen in der jetzigen Situation gegeben sind: Die Konzentration des Kapitals in wenigen Händen ist vollzogen, die Internationalisierung der Weltwirtschaft unübersehbar, die Wirtschaft reizt ihre Kapazitäten nur zur Hälfte aus, die Mehrheit der Bevölkerung ist in den kapitalistischen Staaten verelendet, ungeheure Menschenmengen sind arbeitslos und fristen ein elendes Dasein. Aber die Enteignung der Kapitalisten bleibt aus und dies kann man nur massenpsychologisch erklären. Zugleich war seine Schrift eine politische Schrift, die eine radikale Kritik an den bisherigen Strategien der kommunistischen und revolutionären Bewegung formulierte. Die bisherigen Mobilisierungsversuche, die allein die ökonomische Dimension des Proletariats thematisierten, mussten seiner Ansicht nach scheitern. Sie vernachlässigten – wie er es nannte – den „subjektiven Faktor der Geschichte“, die „ideologische Struktur der Menschen einer Epoche“112, wobei

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4. Die Politik der Massen

‚ideologische Struktur‘ bei ihm identisch ist mit der psychologischen Disposition. Die kommunistischen Parteien trugen eine erhebliche Mitschuld an der Machtergreifung des Faschismus: „(D)ie marxistische Politik hatte (...) die Psychologie der Massen (...) in ihre Kalkulationen und ihre politische Praxis nicht oder nicht richtig einbezogen. Wer die Theorie und Praxis des Marxismus der letzten Jahre in der revolutionären Linken verfolgte und praktisch miterlebte, musste feststellen, dass sie auf dem Gebiet der objektiven Prozesse der Wirtschaft und auf die engere Staatspolitik eingeschränkt war, den ‚subjektiven Faktor‘ der Geschichte, die Ideologie der Massen, in ihrer Entwicklung und ihren Widersprüchen weder aufmerksam verfolgte noch erfasste.“113

W. Reich sah das Problem aber nicht allein in der politischen Praxis der revolutionär-kommunistischen Parteien, sondern auch im (frühen) Marxismus selbst angelegt. Er konzentrierte sich zu sehr auf die soziologischen und ökonomischen Prozesse, weil es zu Marx‘ Zeit noch keine analytische Psychologie gab. Und die Massenpsychologie setzt gerade da an, wo die unmittelbar ökonomische Erklärung ihre Grenzen hat. Die Sozialökonomie kann gesellschaftliche und soziale Tatbestände dann erklären, wenn Menschen rational und zweckorientiert handeln.114 Sie kann es nicht mehr, wenn psychologische Momente ins Spiel kommen, über die allein die analytische Psychologie Auskunft geben kann. W. Reich spricht oft von irrationalem Handeln, und zwar immer dann, wenn seiner Ansicht nach Menschen gegen ihre ‚objektiven‘ (Klassen-)Interessen verstoßen. Um diesem irrationalen Handeln auf die Spur zu kommen und es zu überwinden, muss man klären können, was psychologisch „in den Massen vorgeht.“115 Die Psychologie wird dann zur Massenpsychologie, sofern sie die „gemeinsamen, typischen psychischen Prozesse“ einer Gruppe, Schicht oder Klasse untersucht und hierbei die Unterschiede zwischen den Individuen vernachlässigt. Dann kommt in den Blick „wie der Mensch in einer Epoche etwa aussieht, denkt, handelt, wie sich die Widersprüche seines Daseins in ihm auswirken, wie er mit seinem Dasein fertig zu werden versucht.“116 Das ist also sein Arbeitskonzept und diese Fragen will er in seiner Analyse klären. Für ihn war klar, dass die „sexualökonomische Strukturpsychologie nun der wirtschaftlichen Beschreibung der Gesellschaft die charakterliche und biologische an(fügt).“117 Und diese stellt sich dar als der „typisch hilflose, autoritäre Charakterzug der Menschenmassen.“118 Aber wie entsteht dieser? Wie kommt es, dass die Charakterstruktur hinter der ökonomischen Entwicklung zurückbleibt und die Massen gegen ihre eigenen (objektiven) Interessen zu handeln beginnen? Seine Antwort: „Indem aber eine Ideologie die psychische Struktur der Menschen verändert, hat sie sich nicht nur in diesen Menschen reproduziert, sondern, was bedeutsamer ist, sie ist in Gestalt des derart konkret veränderten und infolgedessen widerspruchsvoll handelnden Menschen zur aktiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden. (…) Die Feststellung,

4.4. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus

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dass sich die ‚Ideologie‘ langsamer umwälzt als die ökonomische Basis, erfährt hier bestimmte Präzision. Die psychischen Strukturen, die einer bestimmten historischen Situation entsprechen, in der frühen Kindheit in den Grundzügen formiert werden und einen weit konservativeren Charakter haben als die technischen Produktivkräfte, so ergibt sich, dass mit der Zeit die psychischen Strukturen hinter der Entwicklung der Seinsverhältnisse, denen sie entsprangen und die sich rasch weiterentwickeln, zurückbleiben und mit den späteren Lebensformen in Konflikt geraten müssen.“119

Das alles ist – im Gegensatz zu Freuds Ausgangspunkt – doch sehr dogmatisch im marxistisch-materialistischen Basis-Überbau-Schema gedacht, aber das neue, sozusagen revolutionäre Moment seiner Überlegungen wird überdeutlich. Das Zurückbleiben des Überbaus gegenüber der Basis liegt in der unterdrückten Sexualität. Die zentrale Frage der sozialen Sexualökonomie lautete dann: „Aus welchem soziologischen Grunde wird die Sexualität von der Gesellschaft unterdrückt und vom Individuum zum Verdrängen gebracht? (…) Die Umstrukturierung des Menschen erfolgt – das muss genau festgehalten werden – zentral durch die Verankerung sexueller Hemmung und Angst am lebendigen Material der sexuellen Antriebe.“120

Und die Institutionen, die diese Unterdrückung leisten, sind v. a. die kleinbürgerlich-autoritäre Familie, die Kirche und der Staat. Sie zusammen unterdrücken die lebendige und freiheitsliebende Sexualität und somit auch die auflehnenden oder gar revolutionären Kräfte im Menschen. Man kann – gerade bei W. Reich – klar sehen, dass es hier um eine revolutionäre Sichtweise auf die Massen geht, die aus ihrer Unmündigkeit befreit und zu einem handelnden Subjekt der Selbstbefreiung gemacht werden sollen. S. Freud war hier die zentrale Figur, der diese Neuorientierung in Gang setzte. S. Moscovici hat diese Wende am deutlichsten gesehen, wenn er schreibt, dass „(d)ie erste Generation, die Tardes und Le Bons, das konservative Element der Massen (betonten). Sie sahen in ihr einen Schutzschild gegen die Revolution. Die neue Generation, die Freuds, sorgt sich darum, weil sie darin einen Hemmschuh der Revolution sieht. Welches sind die Gründe dafür, fragt sie? Warum lassen sich die Massen nicht für die Revolution gewinnen, wenn die ökonomischen und sozialen Bedingungen doch danach rufen? Dieses Problem fällt ins Ressort der Psychologie, darüber ist man sich einig.“121

Ja und nein: Denn dieses Problem fällt ins Gebiet der Sozialpsychologie, die dadurch Gesellschaftswissenschaft wird. Sie wird zugleich zur politischen Wissenschaft, weil sie nach den Bedingungen der rückwärtsgewandten, konservativen Politik der Massen ebenso fragt wie nach der revolutionären, zukunftsorientierten. Und die Sozialpsychologie nach S. Freud will die Faktoren identifizieren, die die Massen von einer fortschrittlichen Politik abhalten und sie aus dem Bann der autoritären Führer befreien. Der Einfluss der ‚Freudschen Sozialpsychologie‘ hat ebenso wie der von W. Reich in den sozialen und politischen Bewegungen der 68er eine große Rolle gespielt. Und nicht ohne Grund ist Freuds Schrift „Massenpsychologie und IchAnalyse“ zu einer der meist zitierten Schriften der Kritischen Theorie bzw. der

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4. Die Politik der Massen

Frankfurter Schule um Th. W. Adorno und M. Horkheimer geworden. In der Studentenbewegung dagegen war der Text von W. Reich einflussreicher und wurde in vielen Seminaren als Basistext zum besseren Verständnis des Faschismus gelesen und heftig diskutiert.

4.5. Massen und Revolution: Theodor Geigers Massen als destruktivrevolutionäre Kraft Nur wenige Autoren haben der Masse positive Eigenschaften attestiert. Einer dieser Wenigen war Theodor Geiger, der Mitte der 20er Jahre ein eigentümliches und zugleich faszinierendes Buch geschrieben hat. Der Haupttitel ist eher trocken-wissenschaftlich: „Die Masse und ihre Aktionen“, während der Untertitel eher irritiert: „Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen.“122 Masse und Revolutionen hängen offensichtlich unmittelbar zusammen. Keiner der anderen zeitgenössischen Autoren hat diesen Zusammenhang so intensiv gesehen, geschweige denn thematisiert. Bei Th. Geiger aber ist die Masse nicht nur ein politischer Akteur, der innerhalb einer Gesellschaft wirkt, sondern über eine gegebene Gesellschaft hinausgeht – transzendent und transzendierend ist – in dem Sinne, als ihre revolutionäre Umgestaltung immanenter Bestandteil des Massebegriffs selbst wird. Th. Geigers Buch gibt der Masse eine immense politische Bedeutung, denn die Revolution ist die politischste aller möglichen politischen Aktionen. In ihr wird eine alte Ordnung zerstört, in Trümmer gelegt und darauf aufbauend eine neue Gesellschaftsordnung errichtet. Die Politik der Massen wird hier identisch mit der Revolution selbst, wobei der Masse – in Abgrenzung zum Proletariat – eine besondere Rolle zukommt. Während das Proletariat beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung eine zentrale Rolle spielt, übernimmt die Masse den destruktiven Part der Revolution: Sie zerstört die alte Ordnung, hebt sie aus den Angeln und zertrümmert sie letztlich. Kein Buch über die Massen ist deshalb so politisch wie das von Th. Geiger, aber als Soziologe betont er ausdrücklich, „dass unser Phänomen Masse nicht nur im Bereich der Politik (im landläufigen Sinne) vorkomme; wir beweisen sogar das Gegenteil.“123 Das gelingt ihm – zum Glück – nicht umfassend, aber unübersehbar ist sein Versuch der Soziologisierung der Masse, die er in kritischer Auseinandersetzung mit G. Le Bons Massenpsychologie betreibt. Soziologisierung der Masse – was bedeutet das konkret und im Gegensatz zu den Massenpsychologen? Drei Schritte sind bei ihm zentral: zunächst die Entwicklung eines soziologischen Begriffs der Masse, dann die Analyse des Wesens der Masse und schließlich die Aufdeckung der Funktionen der Masse in modernen Gesellschaften, bei ihm gedacht als Bestandteil einer revolutionären Dynamik.

4.5. Massen und Revolution

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In den „unterirdischen Kellergelassen ihres Baus“ – so Th. Geiger fast schon apokalyptisch – beherbergt die moderne Gesellschaft das „unheimliche Gespenst Masse, das dem Hausherrn sein Heim zu verleiden gewillt ist. Es wird ihn zwingen, die alten Hallen zu verlassen, oder es wird mit unwiderstehlicher Geisterhand den Bau in Schutt und Asche legen.“124 Aber wer ist nun dieses ‚unheimliche Gespenst‘ Masse? Kann man es exakt definieren? Geiger unternimmt den Versuch und sagt, dass sie der „von der destruktiv-revolutionär bewegten Vielheit getragene soziale Verband (ist), für welchen es einen besonderen Namen bisher nicht gibt.“125 Masse ist also zunächst durch ihre ‚Vielheit‘, also die reine Anzahl der Mitglieder gekennzeichnet, die nicht spezifiziert werden kann. Zudem ist die Masse ein Kollektivsubjekt, in seinen Worten ein „supraindividuelle(s) Kollektivum“126, das zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in der Gesellschaft entsteht. Seine Geburtsstunde kann nicht exakt definiert werden, aber Th. Geiger betont immer wieder die kollektive Dimension der Masse im Kontext einer revolutionären Dynamik. „(D)ie Geburt der Masse ist spontanes Auflodern lange darbender Gemeinschaftssehnsucht in der Opposition gegen das Überwuchern des Gesellschaftsprinzips. Dem Zustand des Leidens entrafft sich die Dynamik des Nicht-Leiden-Wollens.“127

Diese Begrifflichkeit führt Th. Geiger auf F. Tönnies zurück, der zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft als zwei verschiedenen Organisationsprinzipien des Sozialen unterscheidet.128 Aber der Begriff der Masse muss präzise gefasst werden und Th. Geiger unterscheidet scharf zwischen ihr als einem bestimmten „sozialpsychischen Zustand“ und einem „sozialen Gestaltungstyp“129 und nur letzterer ist die Basis für (s)einen soziologischen Massenbegriff. Diesen Gestaltungstyp nennt er einen Verband, der objektiven Charakter hat in dem Sinne, als er seine Mitglieder zu einem Verhalten bringt, das sie von sich aus nicht haben würden. „Ihr Kommen und Gehen (der Mitglieder, FW.R.) hat auf das Wesen des Verbandes einen im Ganzen verhältnismäßig geringen Einfluss. (…) Zehn Mitglieder von Hundert können im Laufe eines Jahres austreten, dreißig neue könnten eintreten, ohne dass darum am Verbande selbst (…) sich etwas ändert als die Mitgliederzahl. (…) (F)ür uns sind die mit dem Verband im Zusammenhang stehenden Verhaltensweisen der Verbandsmitglieder verursacht durch die ‚Gruppe‘. Die Gruppe also ist das Primäre, die Verbandshaltung der Glieder ist das Sekundäre.“130

Damit verbunden ist die Feststellung, dass eine Gruppe bzw. ein sozialer Verband einen eigenen „Lebensdrang“ hat, der mit dem seiner einzelnen Mitglieder nicht deckungsgleich ist.131 Psychologen – so sein Verdikt – erklären das Verhalten eines sozialen Verbandes aus dem Verhalten der einzelnen Mitglieder, während die Soziologie das Verhalten der Mitglieder als durch den Verband verursacht betrachtet. Dadurch gewinnt er seinen ‚objektivistischen‘ Charakter und seine jeweils spezifischen Wirkungsweisen. Masse ist

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4. Die Politik der Massen „einheitlich, überlokaler Objektivverband, aber die lokalen Massenaktionen sind Ausdruck dieses Objektivverbandes. Die Menschen verlassen ihr Haus und gehen auf die Straße bereits im seelischen Zustande der ‚Massenhaltung‘. Nicht etwa wird diese typische Haltung erst herbeigeführt im Gewühl der Aktion oder durch die Rede eines Agitators (…).“132

Th. Geiger besteht darauf, dass zuerst das ‚objektivistische‘ Wir, dieses eigentümliche ‚supraindividuelle Kollektivum‘ existiert und erst aus dieser Gegebenheit entspringt die Aktion. Genau umgekehrt formuliert die Massenpsychologie, bei der das supraindividuelle Kollektivum erst durch die Aktion selbst entsteht und nicht der Aktion vorausgeht. Zudem besteht er im Gegensatz zu G. Le Bon darauf, dass das Individuum in der Masse nicht verschwindet, sich in Gänze auflöst, sondern vom In-der-MasseSein immer nur zu Teilen ergriffen wird. In Massensituationen behält es immer noch seine individuellen Fähigkeiten und Handlungsmotive. Dennoch betont er – jetzt ähnlich wie G. Le Bon –, dass es zu einer Zurückdrängung der individuellen Rationalität kommt und die impulsiven, affektiven und leidenschaftlichen Momente deutlicher zum Ausdruck oder Ausbruch kommen und bestimmte Vermassungserscheinungen auftreten. Er nennt dies „Kollektiverlebnis“ und kommentiert, dass die Masse „ein seelisches Subjekt ‚Wir‘ (ist), d. h. ein Subjekt, das seelischer Akte fähig ist, die dem Ich für sich nicht zukommen. Umgekehrt aber ist dieses Wir nicht all jener Akte fähig, welche das Ich zu vollziehen imstande ist.“ Und soweit das Individuum „an einem Kollektivakt beteiligt ist, haben seine Ichqualitäten keine Bedeutung und sind daher außer Funktion. Statt dessen wirken die ‚unbewusst‘ genannten Wirqualitäten des Individuums. (…) Das intelligente Ich spielt beim Wirakt nur die Rolle eines reflektierenden Beobachters und ist als solches (…) mehr oder minder lahmgelegt.“133

Die Masse wird also zum ‚seelischen Subjekt‘, das eigene psycho-soziale Verhaltensmuster entwickelt und als Kollektivsubjekt zu politischen Handlungen in der Lage ist, die individuelle politische Subjekte nicht vollziehen würden und auch nicht vollziehen können. Dass das intelligente Ich ,mehr oder minder lahmgelegt’ ist, ist eine schwierige Formulierung, die wenig präzise angeben kann, wieviel Individuum noch in der Massensituation bzw. -aktion erhalten bleibt und das Individuum als Individuum weiter konstituiert. Aber sie verdeutlicht, dass Th. Geiger – ebenso wie G. Le Bon und andere Massentheoretiker – von einem Verschwimmen oder gar Verschwinden der Eigenschaften und Kompetenzen des Individuums in der Masse ausgeht. Es kommt zu einer Massenaktion, die durch irgendein zufälliges Erlebnis veranlasst (nicht verursacht!) wird. Aus einer ‚provisorischen‘ Haltung wird die proletarische Masse durch verschiedene, im Kern beliebige Anlässe, aufgeschreckt: Hungersnot, verlorener Krieg, eklatante Fälle von Klassenjustiz etc., die Beispiele können beliebig vermehrt werden. Auch wenn die Anlässe kontingent sind, das Spezifische der Masse ist ein strukturelles Moment. Sie ist

4.5. Massen und Revolution

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nicht durch ihre „Negativität als Haltung, sondern durch die Negation des Bestehenden“134 grundlegend charakterisiert. Ist die Masse aber einmal entstanden, dann „vergessen die Individuen für Augenblicke, Stunden oder Tage all ihre sozialen Dauerbindungen und vollziehen gemeinsam Akte, die nach Inhalt und Struktur dem einzelnen Individuum ebenso fern liegen, wie sie mit dem Sinngehalt seiner sonstigen sozialen Bindungen unvereinbar sind.“135

Masse und Proletariat sind bei Th. Geiger unmittelbar miteinander verknüpft, man könnte sagen, dass die Masse eine Teilmenge des Proletariats ist, die funktional im Prozess der Revolution eine bestimmte Aufgabe übernimmt – die Zerstörung des Alten –, während das Proletariat den Neuaufbau übernimmt. Aber warum kommt es überhaupt zu einer revolutionären Situation? Die Entstehung des Proletariats und der Masse ist bei ihm die Folge der Auflösung gemeinsam geteilter und zentraler Werte einer Gesellschaft. In stabilen Ordnungsstrukturen teilen die Oberschicht und andere soziale Gruppen diese Werte und solche Gesellschaften sind integriert und stabil. Th. Geiger betont die Dominanz der Oberschicht in einer Gesellschaft, solange diese auf dem Prinzip der Repräsentation aufgebaut ist. Ist erst einmal eine solche privilegierte Klasse entstanden, will sie ihre Macht und damit verbundene gesellschaftliche Positionen nicht mehr abgeben. Durch Macht und Täuschung der Massen versucht sie, ihre Position zu halten und beruft sich hierbei auf die Wertvorstellungen, die ihrer Herrschaft früher einen Sinn gaben. Durch soziale und kulturelle Veränderungen entstehen zwei Klassen, die „konservative Oberklasse der Wenigen“ und die „fortschreitend revolutionäre der Vielen.“136 Die Diskrepanz zwischen den (dominierenden) Werten der Oberschicht und den faktischen sozialen und politischen Einrichtungen wird nun unübersehbar und bestimmte Bevölkerungsschichten, konkret das Proletariat und die Masse als ihre Teilmenge, geraten in fundamentalen Konflikt mit dieser dominierenden Schicht. Das Proletariat ist die Unterklasse der Vielen und „das Menschenmaterial des sozialen Verbandes Masse“137, aber Masse und Proletariat sind nicht identisch, sondern zwei verschiedene Größen. Das Proletariat kann in verschiedenen Formen auftreten, eine davon ist das Auftreten als Masse. Diese prinzipielle Möglichkeit ist mit der Entstehung des Proletariats immer gegeben, das „aktive Auftreten“ dagegen ist – wie bereits erwähnt – von äußeren Anreizen abhängig.138 Kommt es zu einer Revolution, so vollzieht sich diese in zwei zeitlich unterteilten Schritten. Zunächst das Zerstören des Alten und daran anschließend der Aufbau des Neuen, wobei die Masse ersteres macht: Die „destruktive Funktion“ kommt den Massen zu, die letztere dem Proletariat.139 Die Revolution ist „der Umsturz sinnentleerter und Aufrichtung werterfüllter neuer sozialer Gestalten“140 und hat diese zwei Phasen zu durchlaufen.

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4. Die Politik der Massen „Alle Revolutionen sind Masserevolutionen – sofern der Masse die destruktive Rolle in jeder Revolution zukommt; keine Revolution ist Massenrevolution in dem Sinne, dass sie in ihrem ganzen Umfang Werk der Massen wäre.“141

Hier kommt bei Th. Geiger die Demokratie ins Spiel. Sie kann man als Versuch bezeichnen, „das revolutionäre Explodieren dieser Massen im Bereich des politischen Lebens zu verhüten.“142 Die Demokratie war und ist in der Lage, das Proletariat durch demokratische Verfahren in den Prozess der politischen Willensbildung einzubinden und zum Bestandteil einer „planmäßig organisierten und legalen Politik“143 zu machen. Die „Politik der Straße ist eine Politik des Ressentiments, (…) deren wesensmäßiges Merkmal eben die Ablehnung der legalen, verfassungsmäßigen Politik ist.“144 Umgekehrt hat die Demokratie das Ziel der „Beseitigung des Proletariats als enterbte Schicht.“145 Sie will durch ihr Gleichheitsprinzip die „Bodenschicht zur Mitträgerin der politischen Einheit machen, indem sie nach Zersetzung der Wertinhalte die Formseite zum intentionalen Gehalt der nationalen Einheit zu machen versucht.“146 Es kann historische Situationen geben, in denen die Demokratie und das Proletariat ein ähnliches Ziel haben, nämlich die Aufhebung des Proletariats und seine Transformation in Staatsbürger mit gleichen individuellen, politischen und sozialen Rechten. Aber die Ziele des Proletariats sind weitergehend. Es will die bisher bestehende nationale Einheit aufheben und sich in einer neuen Gesellschaftsform eine neue Position geben. Es gab einen Autor, der das Gegenteil von Th. Geiger behauptete, indem er noch weiter ging als die Massenpsychologen seiner Zeit und die „Massenwahntheorie“147 formulierte. Sie stammt von Hermann Broch, hatte manche literarische und politische Vorläufer und wurde erst Ende der 30er Jahre ausformuliert. Für ihn haben die Massen nichts revolutionäres, nicht einmal die bei Th. Geiger thematisierte destruktiv-revolutionäre Funktion. Vielmehr sind sie bei ihm vom Wahn befallen und haben alle Verbindungen zu den fundamentalen Werten und Normen abgestreift, die eine Gruppe von im Prinzip beliebigen und unterschiedlichen Menschen zu einer Gesellschaft formen. Stattdessen sind die Massen ausschließlich triebgesteuert und gegen jegliche Rationalisierungsversuche resistent. Die Individuen sind atomisiert, keine sozialen und wertemäßigen Bande halten sie zusammen. Stattdessen leben sie in einem „Dämmerzustand“, der sie für den Wahn anfällig macht. Die vereinzelten Menschen lassen sich leicht vom „Massenwahn“ anstecken und werden zu „Schlafwandlern“, die H. Broch in seinem gleichnamigen und monumentalen Roman beschrieben hat.148 Und erneut stand bei vielen Überlegungen zum psychologischen Zustand der „Schlafwandler“ G. Le Bon und seine Massenpsychologie Pate. Aber wie kein anderer Autor hat H. Broch den Kontext vom Zerfall der Werte, dem Aufstieg der Massen zum zwar wahnbefallenen, aber dennoch politischen Akteur und der Entstehung des Faschismus beschrieben und zum Gegenstand einer (unvollendet gebliebenen) politischen Theorie des Massenwahns gemacht.

4.6. Vom Massesein zur Vermassung

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4.6. Vom Massesein zur Vermassung: Die Massen als „optische Täuschung“ (R. König) Die sozio-ökonomischen Dynamiken der Nachkriegszeit, insbesondere das langanhaltende Wirtschaftswachstum, führten dazu, dass verschiedene Sozialwissenschaftler die Bedeutung der Massen völlig anders bewerteten als die der Zwischenkriegszeit. Der Todesstoß – so ihre Diagnose – wurde den Massen von der Massenproduktion, dem Massenkonsum und den Massenmedien versetzt. Die Alternative zu den leidenschaftlichen und aufrührerischen Massen wurde nun die „friedlich konsumierende Zivilgesellschaft.“149 Die Befreiung von materieller Not befriedet die Massen, führt zu politischer Stabilität und funktionierenden Demokratien, weil die verbesserten Lebenslagen und der Zugang zum Konsum die Masse in ein passives Subjekt verwandelt. Die sozialwissenschaftliche Fundierung hierfür lieferten David Riesman u. a. in ihrem 1950 erschienenen Büchlein „The Lonely Crowd“. Es avancierte schnell zum soziologischen Klassiker150, wurde 1956 ins Deutsche übertragen und mit einer ausführlichen Einleitung von Helmut Schelsky versehen. Mit der Denkfigur der Außengeleitetheit des Menschen legte die Masse ihren dämonischen Mantel ab und mutierte zu einem harmlosen Phänomen. Eine neue Phase der Stabilisierung der modernen Gesellschaften schien dadurch erreicht, indem die außengeleiteten Massen auf innere, triebhafte und instinktgeleitete Handlungen verzichteten und sich stattdessen am Konsumverhalten der Anderen und den durch die Massenmedien propagierten Verhaltensstandards orientierten. Dadurch erfährt der moderne Mensch eine stabile Orientierung in seinem Sozialverhalten, das ihn erwart- und berechenbar macht. D. Riesman u. a. erbringen ein Übermaß an empirischen Belegen für ein wachsendes und stabiles ‚Desinteressement‘, das eine dem Industriezeitalter angemessene „Verbraucherhaltung gegenüber der Politik“151 entstehen lässt. Diese Verbrauchermentalität führt zur politischen Apathie, zu einer erheblichen Passivierung der Massen, die mental zu Konsumenten werden und sich nicht mehr als handelndes politisches Subjekt verstehen. Aus dem Dämon Masse ist der harmlose Löwe im Käfig der Außengeleitetheit geworden, den man bestaunen kann, dem man seine ehemalige Wildheit und Leidenschaftlichkeit noch ansehen mag und der einen noch erschaudern lässt. Auch die bundesdeutsche und andere Nachkriegsgesellschaften waren insbesondere nach dem Nationalsozialismus erneut mit Diskussionen über die Massen konfrontiert, die gänzlich andere Verlaufsformen annahmen und die ‚alten‘ Diskussionen ablösten. Nichts – so ein Autor der 60er Jahre – scheint heute „so sehr zur Vermassung zu prädisponieren wie der Kampf gegen die Masse und ihre vermeintlich kulturzerstörende Wirkung in unserer Zeit.“152 Es war der Soziologe René König, der dies schrieb und zugleich fragte, ob die ganze Massenproblematik nichts anderes sei als die „optische Täuschung (…) eines Beobachters, der mit

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4. Die Politik der Massen

einem besonderen Blicksystem eine Ordnung betrachtet, die nicht die seine ist.“153 Er führte eine Unterscheidung ein, die den alten Massediskurs nicht völlig ad acta legte und seine Relevanz akzeptierte, aber die sozialen und ökonomischen Bedingungen für sein Entstehen heute nicht mehr gegeben sah. Im Gegenteil, in den modernen Nachkriegsgesellschaften haben wir es zwar auch mit Massenphänomenen zu tun, die gleichwohl gänzlich anders gelagert sind. R. König unterscheidet zwischen Massesein und Vermassung, wobei ersteres den psychologischen Zustand beschreibt, der durch das Fließende, Eruptive, Leidenschaftliche, Einebnende etc. gekennzeichnet ist und von den frühen Theoretikern wie G. Le Bon, G. Tarde und S. Freud umfassend beschrieben wurde. Die Massen sind hypnotische Massen und durch spezifische psychische Verhaltensmuster gekennzeichnet. Sie können immer von der latenten zur aktuellen Masse werden. Das Massesein ist Ausdruck der „Eigentümlichkeit des Menschen überhaupt“154 und kann immer und überall auftreten. Vermassung dagegen ist Resultat der modernen Industriegesellschaften und in anderen historischen Situationen unmöglich. Wodurch ist sie gekennzeichnet? Zentral für R. König ist die Massenproduktion, die vom Massenkonsum begleitet wird. Beides steigert den Lebensstandard der Menschen in den Industriegesellschaften, wobei Standardisierung und Nivellierung produktionstechnische Erscheinungen sind, die gleichwohl als gleichmachende Formen im Alltagsleben der Gesellschaft sichtbar werden. Aber diese Angleichung der Konsumgewohnheiten führt nicht – wie im Massesein – zu einer grundlegenden Veränderung der psychischen Strukturen der Individuen, sondern lässt das „rationale Ichbewusstsein“155 und die Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Kritik unberührt. Ein weiteres Moment tritt hinzu. Die modernen Konsumgesellschaften sind intern differenzierte und von vielfältigen Organisationen und Gruppenbildungen durchzogene Gesellschaften, in denen die Menschen stabile soziale Beziehungen aufgebaut haben, wobei die Arbeitsbeziehung die wichtigste ist. Vom Herausgefallensein der Menschen aus sozialen Bindungen kann heute keine Rede sein. Dem Massesein wird ein Riegel vorgeschoben, der durch zunehmende soziale Verflechtung und die erforderlichen Verhaltensmuster in den modernen Arbeitsbeziehungen gebildet wird. Vermassung ist also gegeben und wird als Voraussetzung für eine Standardisierung von Menschen betrachtet, die wiederum die Bedingung für ein Zusammenleben nach bestimmten gesellschaftlichen Normen ist. Insofern ist nach R. König die Masse im alten Sinne eine „optische Täuschung“, die Vermassung dagegen gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Emotionen der Masse, ihre Entladung und ihre politische Mobilisierbarkeit spielen keine Rolle mehr. Die politische Gesellschaft ist ‚beruhigt‘ und die Politik operiert auf der Basis der Massendemokratie, für die eine systematische Desinteressiertheit an politischen Fragen charakteristisch ist. Gleichwohl kann man die Massen bei Wahlen und anderen wichtigen politischen Ereignissen ge-

4.7. Die Wiederauferstehung der Massen

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fahrlos erwecken. Man mobilisiert sie nicht mehr, sondern holt sie zu gegebenem Anlass aus ihrem politischen Tiefschlaf und erwartet von ihnen allein ihre Stimmabgabe. Für ihre Unterhaltung, die sie in einen gefahrlosen Erregungszustand versetzt, sind die Massenmedien zuständig. Und wenn sich die Masse selbst bewegt, dann im Massenverkehr, in der sie jedoch schnell zum Stillstand kommt, weil sich zu viele zur gleichen Zeit auf den Weg machen. Im Massentourismus schließlich werden ihre außengeleiteten Sehnsüchte – von großen Unternehmen gut organisiert – umfassend befriedigt.

4.7. Die Wiederauferstehung der Massen in den mittel- und osteuropäischen Transformationen Eine beunruhigende Frage blieb: Könnten sich die Massen am Endes des 20. Jahrhunderts erneut als politisches Subjekt konstituieren oder hat das „Zeitalter der Massen“ unwiderruflich sein Ende gefunden? Wider Erwarten waren die Massen nur scheinbar von der Bühne der Politik verschwunden. Sie kehrten während des gesamten Jahrhunderts immer wieder in ihrer ‚Rohform‘ zurück. In den Aufständen in Osteuropa, sei es 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei oder als Solidarność 1981 in Polen, war dies unübersehbar. Aber erneut und konzentriert traten sie beim Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks am Ende des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts auf der Bühne der Geschichte auf. Auch wenn es 1989 in der DDR nicht nur Protestierende wie in Leipzig und anderswo gab, sondern auch ‚auswandernde‘ Massen, sie entzogen dem gewaltvoll herrschenden Regime die Legitimität, brachten es zum Schwanken und letztlich zum Sturz. Analoges gilt für die vielen anderen osteuropäischen Länder. Auch in den Umstürzen in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderen nordafrikanischen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren die Massen unübersehbar. Sie besetzten öffentliche Räume bzw. eroberten an diesen Orten die Öffentlichkeit zurück und wurden zum politisch handelnden Subjekt. Fast scheint „1989“ eine Bestätigung der marxistischen These, aber unter umgekehrten Vorzeichen: Die Massen waren nicht die Zugmaschine der marxistischen Geschichtsteleologie, sondern betätigten die Bremsen, stiegen aus dem vom Marxismus postulierten Zug der Geschichte aus und stellten sich aufmüpfig daneben: Nicht mit uns, wir gehen unseren eigenen Weg. Der Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Mittel- und Osteuropa ist durch den Druck der Massen zustande gekommen, die den herrschenden Eliten ihre letzte Legitimation nahmen und ihre Selbstzweifel so weit vergrößerten, dass sie als „Helden des Rückzugs“156 keine Gewalt gegen die Massen einsetzten, sondern in verhandelten Transformationen ihren Machtverlust noch mitgestalten konnten. Auch in den Sozialwissenschaften wurde der Begriff der Masse als sozi-

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4. Die Politik der Massen

alwissenschaftliche Kategorie nicht mehr verwendet. Neue Konzepte hatten sie abgelöst, wie etwa das der Neuen Sozialen Bewegungen; andere wiederum ersetzten die Masse durch den Begriff des Volkes, der sowohl analytisch wie politisch andere Akzente setzt.157 Die soziale Zusammensetzung der damals Protestierenden machte deutlich, dass Intellektuelle in der Minderheit, jedoch alle wichtigen Berufsgruppen, die kein Studium erforderten, an den vielfältigen Protestformen beteiligt waren und die Altersgruppe unter 40 Jahren dominierte. Daraus wurde geschlussfolgert, dass „wenn man diesen quantitativem wie qualitativen Befund auf einen Begriff bringen will, dann war der Träger der Revolution der Durchschnittsbürger oder eben wirklich: das Volk.“158 Und an andere Stelle: „Ihr Träger war das ganze Volk in allen seinen Schichten. Herausragende, die Bewegung beherrschende Leitfiguren gab es nicht.“159

Zwar spielten zu Beginn die Intellektuellen eine größere Rolle, aber deren Bedeutung wurde dann im weiteren Verlauf vom ‚Volk‘ übernommen. Das Volk, in dessen Namen die SED-Diktatoren vorgaben zu handeln, ergriff nun selbst die Initiative und begann als eigenständige und selbst organisierte Kraft zu agieren. Die Verwendung des Begriffes ‚Volk‘ zur Selbstbezeichnung der Aufständischen hatte auch den Sinn, diesem Begriff eine faktisch sichtbare und damit politische Bedeutung zurückzugeben. Der Begriff wurde im Verlauf der Proteste jedoch eigentümlich soziologisiert: Volk wurde im Selbstverständnis der Aufständischen zum – fast möchte man sagen: repräsentativen – Durchschnitt der Bevölkerung, während der Volksbegriff zuvor meist substantialistisch gefasst wurde.160 Entstanden ist diese Selbstbezeichnung angeblich auf einer Demonstration am 2. Oktober 1989 in Leipzig, wie ein Teilnehmer berichtet: „Da hatte ich ganz große Angst. Aber das allerbeste ist, an diesem Abend hörte ich zum ersten Mal diesen Spruch ‚Wir sind das Volk‘. Als die Polizisten den Lautsprecher einschalteten und sagten: ‚Hier spricht die Volkspolizei‘, antwortete die Menge: ‚Wir sind das Volk‘. Sie kamen gar nicht dazu, diesen Spruch zu vollenden. Es gab wirklich so einen Art Wechselgesang, was uns eine Zeitlang sehr amüsierte.“161

Erneut ist die Begrifflichkeit interessant: Nicht die Masse, sondern die Menge antwortet und die Selbstbezeichnung als ‚Volk‘ entstand in einer Art politischen Kontroverse zwischen – sagen wir – Menge und Volkspolizei, wobei das ‚Volk‘ reklamierte, dass die Polizei nicht ihre Polizei ist. Wenn sie dies denn sein will, dann war die Anwendung von Gewalt gegen die Demonstranten schlicht außerhalb des Handlungshorizontes. Aber immer wieder wird der Volkscharakter betont, wenn an der Revolution „das ganze Volk einschließlich der Durchschnittsbürger“ teilnahm und an deren Beginn „Massendemonstrationen“ standen. Nur an dieser Stelle taucht der Massenbegriff auf, sonst nicht mehr; und zwar deshalb, weil sich dann später „allmählich eigene politische Organisationsformen“ ausbildeten.162

4.7. Die Wiederauferstehung der Massen

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Unschwer ist zu erkennen, dass der Begriff des Volkes sich in den vielfältigen Selbstbeschreibungen vom analytischen zum politischen Begriff wandelt. Dem Regime, das sich immer als Vertreter des Volkes bezeichnet hat und allen zentralen politischen Institutionen die Vorsilbe ‚Volk‘ angeheftet hatte, musste dieser Vertretungsanspruch streitig gemacht werden. Folgerichtig bezeichneten sich die Demonstranten bzw. die aufständischen Massen als ‚Volk‘, besser: als das wahre Volk, das mit dem inzwischen delegitimierten und leeren Volksvertretungsanspruch des alten Regimes nichts mehr gemein hatte. Zudem waren die vorgängigen Aufstände der 50er und 60er Jahre in den mittel- und osteuropäischen Staaten von den westlichen Medien und politischen Kräften – ebenfalls in politischer Absicht – als „Volksaufstände“ bezeichnet worden. Und diese positive, ja revolutionäre Konnotation haben die politischen Kräfte im Jahr 1989 übernommen. Warum diese aber keine Revolutionen waren, wird in Kap. 9 ausführlich diskutiert. Nur ein Autor, es ist Jochen Schade, hat versucht, die Ereignisse in der DDR 1989 in den Massenkategorien G. Le Bons zu analysieren.163 Die Leipziger Montags- oder auch Massendemonstrationen waren die Auslöser für den Zusammenbruch des Regimes. Sie entstanden spontan und unorganisiert und die Anzahl der Demonstranten wuchs von Woche zu Woche: Von rd. 5.000 am 25. September 1989 über 20.000 am 2. Oktober bis zu fast einer halben Million am 6. November.164 Es war eine offene Masse, die immer weiter wuchs und immer mehr Menschen wie durch einem Sog anzog. Teilnehmer schilderten im Rückblick Gefühle von „Ergriffenheit, Gehobenheit, Siegeszuversicht und rauschhafte Begeisterung, die die latente Angst übertönten. Sie berichteten ferner, dass sie sich auf eine überwältigende Weise einig, gleichstrebend und zusammengehörig fühlten.“165

Diese Begrifflichkeiten wurden unverkennbar und bewusst vom Autor der ‚Massenpsychologie‘ übernommen. Die Führerlosigkeit dieser Massen stand nur scheinbar im Widerspruch zu den wichtigsten Massentheoretikern, die für jede Masse einen Führer voraussetzen, auf den sie ausgerichtet ist, der sie im Zweifelsfall führt und mit dem sie sich identifizieren konnten. Es gab zwar keinen direkt teilnehmenden Führer, aber einen „ideellen oder virtuellen“ in der Person Michail Gorbatschows.166 Sein Name war der in den Demonstrationen am meisten gerufene, es gab den Sprechchor „Gorbatschow hilf“, dann auch „Gorbi, Gorbi“-Rufe. Er hatte die Sowjetunion von einem Reich der Bedrohung und sein Amt von einer unberechenbaren Unterdrückung in ein Reich der Verwandlung und zu einer Schutzmacht verwandelt. Er konnte deshalb als Schutzpatron, im übertragenen Sinne als ‚Führer‘, der Massen anerkannt werden. Ein anderer Sachverhalt ist in diesem Kontext wichtig, weil er erneut die Massenfrage berührt. Es ist der Kontext von Abwanderung und Widerspruch, den

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4. Die Politik der Massen

zunächst Detlef Pollack in seinen Analysen über den Zusammenbruch der DDR thematisiert hat.167 Darauf reagierte der Urheber dieses Kategorienpaares, der amerikanische Soziologe Albert O. Hirschman, in einem ausgreifenden Artikel. Beginnen wir mit der Abwanderung, hier nun aus der DDR. Albert O. Hirschmann diskutiert dies in seinem Artikel ausführlich und stellt dabei fest, dass das „wirkliche Mysterium der Ereignisse von 1989 die Transformation dessen (ist), was als rein private Aktivität begann und beabsichtigt war, – das Bemühen einzelner Individuen, von Ost nach West zu ziehen –, in eine breite Bewegung öffentlichen Protestes.“168

Zwei Umstände waren hierfür relevant. Zum einen hatten „zu viele Menschen dieselbe Idee“ und – als ein äußeres Ereignis – wurde die Ausreise durch die „Entschärfung der Grenzkontrollen“169 zu einem – ja, zu einem Massenereignis. Der Begriff der Masse wird nur einmal verwendet, wenn A. Hirschman von einem „Massenexodus“ bzw. von einer „Massenflucht“ 170 spricht, aber dass hier Massenphänomene und massenpsychologische Verhaltensmuster eine große Rolle spielen, wird an keiner Stelle auch nur angedeutet. Und das, obwohl A. Hirschman schreibt, dass als die Menschen „realisierten, dass sie nicht länger alleine waren, sie einander als Gleichgesinnte an(erkannten) und sich über die Gemeinschaft, die sie ahnungslos geschmiedet hatten, (freuten).“171 Im Gegensatz zu seinen früheren Analysen aus den 1970er Jahren sieht er nun Abwanderung und Widerspruch nicht als sich gegenseitig ausschließend, sondern sich gegenseitig verstärkend. Es war das Zusammenfließen und die gegenseitige Verstärkung, die zum Zusammenbruch des DDR-Regimes führten. Es werden zwar Zahlen genannt und viele Phänomene beschrieben, die typisch für Massenverhalten sind, aber nie wird dies systematisch in die Analyse eingebaut. Auch hier kann man das Verschwinden der Massen und alles, was dazu gehört, beobachten. Systemverändernde Aktionen, wie öffentlicher Protest, Demonstrationen, selbstorganisierte Widerstandsformen etc., die alle massenhaft stattfanden und weitgehend ohne tradierte politische Führer bzw. politische Führung, werden nun ohne den Rückgriff auf den Massenbegriff beschrieben bzw. analysiert. Die Politik der Massen und ihre grundlegenden Prämissen gehören nicht länger zum Analysepotential der modernen politischen Theorie, sei sie von politischen Denkern oder denkenden Politikern formuliert. Die offene Frage, die man sicherlich nicht einfach beantworten kann, lautet dennoch: Sind die Massen als Masse verschwunden, haben wir es also mit einer „Antiquiertheit der Massen“172 zu tun oder sind sie ‚nur‘ aus dem Begriffsarsenal der politischen Theorie bzw. des politischen Denkens verschwunden? Es gibt in der Tat die Masse als „intellektuelle Projektion“ und zugleich als „Beharrlichkeit des Projizierten.“173

4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘

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4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘ zu ihrer Auferstehung als ‚Multitude‘. Die Bezeichnung der Massen als ‚optische Täuschung‘ durch die Nachkriegssoziologen erfuhr in den 80er Jahren eine weitere Radikalisierung. Diese Radikalisierung ging so weit, nicht nur eine „Verachtung der Massen“ zu diagnostizieren, sondern diese als nicht mehr real existent, sondern als Simulakrum zu bezeichnen. Es würde durch die modernen Medien produziert, die die Massen als nicht mehr existent betrachten. Für erstere Position steht der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk174, für die zweite der französische Philosoph Jean Baudrillard175. Obwohl die Massen am Ende des Jahrhunderts erneut auf der politischen Bühne auftauchten und den Sozialismus in den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten zu Fall brachten, wurden sie von einem Teil der politischen Philosophie bzw. der politischen Theorie als Fiktion, als Simulakrum mit keinem realen Bezug betrachtet. Mit dem Verschwinden der Massen wurde zugleich auch eine neue Form der Politik prognostiziert: Es gibt eine post-politische Situation, in der die Verbindung zwischen den Massen und der Politik unterbrochen ist und sich beide jeweils autonom und ohne Bezug zueinander entwickeln würden. Noch weitgehender: Die Massen befinden sich in einer „post-political era“, in der die tradierten Formen der Politik zusammengebrochen sind, v. a. die verschiedensten Formen der politischen Repräsentation und mit ihnen die Massen bzw. die Massen- und Volksparteien als zentrale politische Akteure. Diese Vorstellung, nach der die Massen Politik treiben, sei es als eigenständige, autonome politische Kraft oder vermittelt über die politischen Parteien, die die Massen bzw. Segmente der Massen im politischen Betrieb repräsentieren, wurde von diesen (und anderen) Autoren nicht nur verabschiedet, sondern als weltfremdes und ideologisches Relikt, als überholte Reminiszenz an vergangene Zeiten bewertet. Aber immer gibt es die einsamen Rufer in der Wüste: Michael Hardt und Antonio Negri haben die Masen erneut auferstehen lassen, aber in einem neuen Gewand, als ‚Multitude‘.176 Durch was ist die post-politische Situation gekennzeichnet? Welche Merkmale machen eine post-politische Politik aus und in welchem Zustand müssen sich die Massen befinden, wenn sie nur noch als Simulakrum und im Stadium der Verachtung existieren? Ich beginne mit der ‚Verachtung der Massen‘ und skizziere dann kurz die Idee der ‚schweigenden Mehrheit‘. Die mit diesen Begriffen verbundenen Implikationen sind weitreichend und die des Endes des Sozialen und – damit untrennbar verbunden – des Endes der Politik sind sicherlich die radikalsten. Die Gegenstimme, die die Wiederauferstehung der Massen als Multitude beschwört, darf am Ende dieses Kapitels nicht fehlen. Die Frage muss geklärt werden, ob dies eine Art Rückkehr zum Beginn des 20. Jahrhunderts wäre, bei dem

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4. Die Politik der Massen

die Massen auch als revolutionäre Kraft betrachtet wurden, die als Motor der Geschichte agieren.

4.8.1. Die Verachtung der Massen und die neue Massenkultur In der Postmoderne, das ist der Ausgangspunkt von Peter Sloterdijk, hat sich der Charakter der Masse grundlegend gewandelt. Während in der Moderne die Massen als zwar bedrohliches, aber dennoch handlungsfähiges Subjekt betrachtet wurden, das auch in der Politik als organisiertes Subjekt in Form der Massenund später Volksparteien große Bedeutung hatte, wird die Masse in der Postmoderne zu etwas Neuem. „Die aktuellen Massen haben im Wesentlichen aufgehört, Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im psychischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen der Massenmedien zum Ausdruck kommt. (…) Aus der Auflaufmasse ist eine programmbezogene Masse geworden – diese hat sich definitionsgemäß von der physischen Versammlung an einem allgemeinen Ort emanzipiert.“177

Die Masse hat nun keinen Ort mehr, sie ist ortlos geworden. Dies hat zur Folge, dass sich die Individuen nicht mehr in der Masse auflösen und zu einem neuen handlungsfähigen Kollektivsubjekt verschmelzen können. Stattdessen bleiben sie in der ‚neuen‘ Masse Individuen. „Man ist jetzt Masse, ohne die anderen zu sehen.“178 Und nicht nur das: Man spürt auch die Anderen nicht mehr, man kann sich nicht in einen psycho-politischen Körper verwandeln, der politisch agiert und handelt und in E. Canettis „Masse und Macht“179 unübertrefflich beschrieben und von P. Sloterdijk zustimmend erwähnt wird. Entladung, Enthemmung, Mitgerissenheit (zum Guten wie zum Schlechten), kinetische Energie – all das sind Bezeichnungen, die die psycho-politische Bedeutung der Massen kennzeichnen und ihre Rolle im politischen Prozess andeuten. In der Postmoderne dagegen ‚organisieren‘ sich die Massen „nur über massenmediale Symbole, über Diskurse, Moden, Programme und Prominenzen.“180 Ihr Zustand ist nicht mehr energetisch, sie strömen nicht mehr zusammen, sie haben keinen Versammlungsort mehr, sie erheben oder empören sich nicht mehr gegen etwas. Ihr Zustand ist ein anderer geworden, er entspricht „dem eines gasförmigen Aggregats, dessen Partikel je für sich in eigenen Räumen oszillieren, mit jeweils eigenen Ladungen an Wunschkraft vorpolitscher Negativität, und jedes für sich vor den Programmempfängern ausharrend, immer von neuem dem einsamen Versuch gewidmet, sich zu erhöhen oder zu amüsieren. (…) Bei Massen, die nicht mehr als aktuell versammelte zusammenkommen, liegt es nahe, dass ihnen mit der Zeit das Bewusstsein ihrer politischen Potenz verloren geht. Sie empfinden das Gefühl ihrer Schlagkraft, den Rausch ihres Zusammenströmens und ihrer Vollmacht, zu fordern und zu stürmen, nicht mehr so wie damals in den Hochzeiten der Aufläufe und Aufmärsche. Die

4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘

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postmoderne Masse ist Masse ohne Potential, eine Summe aus Mikroanarchismen und Einsamkeiten, die sich kaum noch erinnert an die Zeit, in der sie – angereizt und zu sich selbst gebracht durch ihre Vorsprecher und Generalsekretäre – als ausdrucksschwangeres Kollektiv Geschichte machen wollte.“181

Die Diagnose ist eindeutig: Den Massen kommt durch ihren Wandel das ‚politische Potential‘ abhanden, das sie zuvor ausgezeichnet hatte. Die modernen Massenmedien lassen Medienmassen entstehen, die über die Medien verbunden sind und so zu einem Ganzen verschmelzen, das gleichlaufend und gleichgültig wird und sich nur noch vor dem Fernseher durch Unterhaltung erregt. Das neue dieser Masse ist auch darin zu sehen, dass ihre Führer und Vorsprecher keine herausgehobenen Persönlichkeiten mehr sind, die sich von den Massen abheben und so eine vertikale Differenz erfahrbar werden lassen. Vielmehr sind sie aus demselben Holz geschnitzt, aus dem auch die Masse geschnitzt ist. „Die Eignung Hitlers für seine Rolle im deutschen Psychodrama beruhte nicht auf außergewöhnlichen Fähigkeiten oder weithin leuchtenden Charismen, sondern auf seiner unfassbar evidenten Vulgarität und seiner hieraus folgenden Disposition, sehr großen Zahlen von Menschen aus der Seele zu grölen. (...) Das Geheimnis der Führer von einst und der Stars von heute besteht darin, dass sie gerade ihren dumpfesten Bewunderern so ähnlich sind, wie kaum ein Beteiligter zu vermuten wagt.“182

Man muss diese Position nicht unbedingt teilen, um zu sehen, dass sich bei den postmodernen Massen etwas vollzieht, das man als „Umfunktionierung der vertikalen Spannungen in horizontale Spiegelung“ beschreiben kann.183 Hier wird das zentrale Argument – wenn auch etwas übertrieben am Beispiel Hitler demonstriert – deutlich: Bei horizontalen Spiegelungen können sich die Menschen in ihrem Gegenüber spiegeln, sie müssen keine jenseits ihrer selbst liegenden Maßstäbe oder Ansprüche formulieren oder realisieren. Und was für Hitler galt, gilt heute generell und markiert den postmodernen Gesellschaftszustand. Die herausgehobenen Personen werden von den Massen nicht wegen einer fundamentalen vertikalen Differenz anerkannt, sondern wegen ihrer ‚unfassbar evidenten Vulgarität‘. Dies gilt vor allem für den Bereich der Politik, hier haben die Massenmedien und die professionalisierte Politik die Manipulation der Massen bis zur Perfektion getrieben. Vertikale Differenzen und Spannungen sind auch hier verschwunden. Umgekehrt hat sich bei den Herausgehobenen, sei es im Bereich der Kultur, der Philosophie, der Literatur, des politischen Denkens oder denkender Politiker eine Verachtung der Massen ausgebildet, die unübersehbar geworden ist. In einer Gesellschaft, die durch Kämpfe um Anerkennung gekennzeichnet ist, „heißt (v)erweigerte Anerkennung Verachtung.“184 Die Massen- und zum Teil auch noch die Volksparteien waren Organisationsformen, die auf der Anerkennung der Massen beruhten und ihnen eine politische Ausdrucksform anboten, mit der sie um Anerkennung kämpfen konnten.185

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4. Die Politik der Massen

Die Massenkultur dagegen hat die Aufgabe, „das Uninteressanteste als das Auffälligste“ zu bezeichnen, was oft mit einer „Aufmerksamkeitserzwingung“ verbunden ist.186 Da Massesein einen Unterschied zu machen heißt, ohne dass es einen Unterschied macht, ist die Postmoderne hier auf besondere Verfahren und Techniken angewiesen. Ohne Frage kommen die heutigen Gesellschaften nicht ohne Differenzierungen aus, die sich in den verschiedensten Bereichen sicherlich unterschiedlich ausprägen, aber überall sind Wertungen, Rankings, Platzierungen etc. an der Tagesordnung. „Daher müssen in der modernen Gesellschaft der Sport, die Finanzspekulation, und nicht zuletzt der Kunstbetrieb zu immer bedeutsameren psychosozialen Regulatoren werden, denn in den Stadien, an den Börsen und in den Galerien platzieren sich die Konkurrenten um Erfolg und Anerkennung durch ihre Ergebnisse weitgehend selbst. Weil solche Platzierungen selbst mitbewirkte Unterscheidungen sind, wirken sie hassreduzierend, wenn auch nicht versöhnend. Sie heben den elementaren Neid nicht auf, aber sie geben ihm eine Form, in der er sich bewegen kann.“187

Mechanismen solcher Art sind für postmoderne Gesellschaften unhintergehbar, wollen sie nicht an ihren Neidspannungen scheitern. Platzierung ist ein solcher Mechanismus, er macht postmoderne Gesellschaften vertikal beweglich und ersetzt das alteuropäische Hierarchiedenken durch zeitgenössische Rankings, die gerade in modernen Massendemokratien, die auf dem Prinzip der politischen Gleichheit beruhen, von großer Bedeutung sind. Demokratien – so könnte man in Anlehnung an P. Sloterdijk formulieren – sind der Versuch von Gesellschaften, „ihre Ungleichheit anders zu leben.“188 Sie machen die Menschen hinsichtlich ihrer demokratisch-politischen Rechte gleich, ohne die anderen Ungleichheiten, v. a. die sozialen, ökonomischen und intellektuellen, zu beseitigen. Die Idee des gleichen sozialen Wertes wurde erst spät im 20. Jahrhundert formuliert und ist bis heute eine hochgradig umstrittene Kategorie geblieben (siehe unten Kap. 5.6.). Man lebt nun die Ungleichheit anders und gerade in Demokratien sind die sozialen und alle anderen Unterschiede politisch gemachte Unterschiede, die die Demokratie beibehält, aber im Prinzip durch sie selbst – in welchem Umfang auch immer – beseitigt werden könnten.

4.8.2. Von der Masse zur ‚Multitude‘: Die Neubestimmung des aufständischen Subjekts durch M. Hardt und A.Negri Eine der wenigen Texte, der den Massen im Kontext der Postmoderne erneut eine revolutionäre Rolle zubilligt, ist der von Michael Hardt und Antonio Negri verfasste und im Jahr 2000 veröffentlichte Text „Empire“189, der im Jahr 2002 auch auf Deutsch erschien.190 Ein paar Jahre später fand dies seine Fortsetzung in dem Buch „Multitide“191, in dem vor allem die bisher diffus gebliebene Idee der

4.8. Von der ‚Verachtung der Massen‘

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Multitude präzisiert und weiter ausgeführt wird. In beiden Büchern beschreiben die Autoren die Konturen einer neuen globalen Weltordnung und entwerfen zugleich ein Konzept zu ihrer Bekämpfung und Überwindung. Hierbei spielen die Massen, bei ihnen „Multitude“ genannt, eine wichtige Rolle, wobei sich der neue Begriff von dem der Masse systematisch absetzen soll. Es ist einer der wenigen Texte am Ende des 20. Jahrhunderts, der der Multitude bzw. der ‚Menge‘ – so der Begriff in der deutschen Übersetzung – eine positive, ja die neue kapitalistische Weltordnung überwindende Bedeutung zumisst. Die Multitude ist am Ende des 20. Jahrhunderts das neue revolutionäre Subjekt, das alle Hoffnungen der Autoren auf eine revolutionäre Umgestaltung der globalen Welt trägt. Was unterscheidet nun die ‚Menge‘ von ähnlichen Begriffen wie Volk, Masse oder Arbeiterklasse? Letztere Begriffe setzten einen einheitlichen Willen voraus, eine Identität, die die politischen Handlungseinheiten zu einer gezielten Handlung oder Aktion führt. Auch die Masse als formlose, aber gleichwohl formbare Entität gehört deshalb in diese Kategorie, weil sie durch politische Führer zu einer willentlich und einheitlich handelnden Einheit geformt werden kann. Die Menge dagegen ist allein durch ihren Widerpart gegenüber der neuen Herrschaftsstruktur, dem Empire, charakterisiert. Diese neue Herrschaftsstruktur unterscheidet sich grundlegend von der des bisherigen kapitalistischen Imperialismus und trägt Merkmale in sich, die so beschrieben werden: „Im Gegensatz zum Imperialismus etabliert das Empire kein Zentrum der Macht, noch beruht es auf von vorneherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken. Es ist dezentriert und deterritorialisierend, ein Herrschaftsapparat, der Schritt für Schritt den globalen Raum in seiner Gesamtheit aufnimmt, ihm seinen offenen und sich weitenden Horizont einverleibt. Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch abgestimmte Netzwerke des Kommandos.“192

Im „glatten Raum des Empire“ gibt es keinen Ort der Macht mehr, sie ist nicht mehr konzentriert, man kann sie nicht mehr lokalisieren, wie beispielsweise den Monarchen oder die Macht in den tradierten Nationalstaaten. Das Empire ist der „Nicht-Ort“, die Macht ist „zugleich überall und nirgends.“193 Unter solchen Gegebenheiten ändert sich auch die Struktur des Widerparts. Alle zentralisierten und hierarchisch aufgebauten politischen Handlungsmuster müssen sich dieser neuen Herrschaftsstruktur anpassen und die einzig angemessene Ausdrucksform ist die der Multitude, die der Menge. Aber sie ist keine homogene Einheit, hat kein übergreifendes Bewusstsein, sondern „weist in sich vielfältige Unterschiede auf, die niemals auf eine Einheit oder einzige Identität zurückzuführen sind. (…) Die Menge ist bunt wie das Gewand des biblischen Josef. Die Herausforderung besteht darin zu begreifen, wie eine gesellschaftliche Vielfalt es bewerkstelligen kann, die Differenz aufrechtzuerhalten und gleichzeitig miteinander Beziehungen einzugehen und gemeinsam zu handeln.“194

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Ihre schöpferische Kraft liegt darin, den „weltweiten Strömen und Austauschverhältnissen eine andere politische Gestalt zu geben“, in der die Menge „neue Formen der Demokratie und eine neue konstituierende Macht“ aufbaut und ein „Gegen-Empire“ entwickeln wird.195 Das sind sehr allgemeine Ausführungen und sie werden nie konkreter. Nur an einer Stelle wird der Versuch unternommen, die netzwerkartige und diffuse Struktur zu verdeutlichen. „Die Menge ist eine Vielfalt, ein Feld von Singularitäten, ein offenes Beziehungsgeflecht, das nicht homogen oder mit sich selbst identisch ist, sondern ein indistinktes, einschließendes Verhältnis zu denen, die außerhalb stehen, besitzt. Im Gegensatz dazu neigt das Volk zu Identität und Homogenität nach innen, indem es den Unterschied zu und den Ausschluss der Außenstehenden betont. Während die Menge eine unabgeschlossene konstituierende Beziehung ist, bildet das Volk eine festgefügte Synthese, die zur Souveränität bereit ist.“196

Abseits von ihrem durchaus bestreitbaren Volksbegriff kann man unschwer die diffuse und unscharfe Definition der Menge beobachten. Zu ihr gehören all die Individuen und (lose organisierten) sozialen Gruppen, die als Netzwerke oder auch als isolierte Einzelne Widerstand und Aufstände gegen das Empire durchführen, ohne dass eine einheitliche Organisation entstehen würde. Vielmehr ergeben sich diese Aktivitäts- und Widerstandsformen spontan und richten sich gegen die globale, aber ebenso dezentrierte und entterritorialisierte Macht des imperialen Kapitals und seine Kommandostrukturen. Keine Gruppe ist in diesem Widerstand entbehrlich, alle müssen direkt und unmittelbar agieren und alle Modelle der Repräsentation oder Stellvertretung sind Relikte einer ver- oder bereits untergangenen Zeit. Die Menge ist in diesem Konzept keine empirisch ausgeprägte oder beobachtbare Größe, sondern eher eine abstrakte Möglichkeit, ein Potential, das noch nicht ausgeschöpft ist und sich erst im Verlauf der kommenden Kämpfe ausbilden wird. Durch rebellische Akte, durch neue Interaktionsformen, lose Netzwerkstrukturen und politische Akte der Liebe werden sich die bereits vorhandenen und – weit wichtiger – die neu entstehenden Bewegungen in etwas Neues verwandeln, das umgekehrt das Empire von innen heraus in etwas Neues, bisher nicht Dagewesenes transformiert. Aber eigentlich ist dies keine Transformation, sondern in den Worten der beiden Autoren eine Metamorphose, die sich quasi von selbst vollzieht und keine organisierten Handlungsstrukturen wie bei einer Transformation voraussetzt. Damit wandelt sich auch die Politikvorstellung fundamental. Der Begriff der Politik ist in dem gesamten Buch marginal, an manchen Stellen wird – mehr oder weniger nebenbei – die Politik erwähnt. Wann und unter welchen Bedingungen werden die Handlungen der Menge politisch? Die Antwort: „Das Handeln der Menge wird zuallererst dann politisch, wenn es sich unmittelbar und in angemessenem Bewusstsein gegen die zentralen Unterdrückungsaktionen des Empire richtet. Es geht darum, die imperialen Initiativen zu erkennen und zu attackieren und es

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ihnen somit fortwährend unmöglich zu machen, die Ordnung wieder herzustellen. Es geht darum, die Grenzen und Segmentierungen, die der neuen kollektiven Arbeitskraft auferlegt werden, zu überschreiten und niederzureißen; es geht darum, diese Widerstandserfahrungen zu sammeln und sie konzentriert gegen die Nervenzentren der imperialen Befehlsgewalt einzusetzen.“197

Zugleich halten sie fest, dass dies eine ziemlich abstrakte Bestimmung von politischem Handeln ist. Durch welche spezifischen und konkreten Praktiken sich dies vollzieht, bleibt allerdings offen. Aber einen Programmpunkt nennen sie: Das „allgemeine Recht, ihre eigenen Bewegungen zu kontrollieren, ist letztlich die Forderung der Menge nach einer Weltbürgerschaft.“198 Und diese Forderung ist insofern politisch, als sie den Apparat der imperialen Kontrolle über den Körper und die Produktion in Frage stellt und sie ist eine Macht, die „Kontrolle über den Raum wiederzuerlangen und damit eine neue Weltkarte zu entwerfen.“199 Zentral sind noch die Forderungen nach einem sozialen Lohn, einem garantierten Einkommen für alle und nach einem Recht auf Wiederaneignung der kognitiven und biopolitischen Produktionsmittel. Auch wenn vieles auf Möglichkeiten, auf kontingente Politiken der Zukunft orientiert ist, die Beispiele für die politischen Ausdrucksformen der Menge sind eindeutig: Die Widerstände gegen den G 8-Gipfel in Genua im Jahr 2001, bei denen ein Demonstrant von der Polizei erschossen wurde und hunderte Personen bei den extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen verletzt wurden. Militanz ist bei ihnen eine wichtige Aktionsform, sie ist eine „positive, konstruktive und innovative Tätigkeit“, die die Militanten als „kreativen Widerstand gegen die imperiale Befehlsgewalt ausüben.“200 Damit sind wir in gewisser Weise beim Ausgangspunkt angelangt. Bei ihnen erstehen die Massen erneut auf – zwar nicht als die traditionelle Masse, sondern als in die Multitude transformierte. Aber der Kreis schließt sich bei M. Hardt und A. Negri, die Massen kehren auf die Bühne der Politik zurück, auch wenn bei ihnen der Politikbegriff diffus und unausformuliert bleibt.

4.9. Das Ende der Politik der Massen und ihre Verabschiedung aus der Geschichte? Kaum ein politischer Begriff ist so umstritten und so mehrdeutig wie der der Masse. Sind sie nur eine Projektion der Ängste und Bedrohungen der jeweiligen Autoren? Sind sie – wie etwa Th. Geiger in den 20er Jahren formulierte – eine empirisch beobachtbare soziale Gestalt mit objektivistischem Charakter?201 Oder sind sie ein „Überrest“202, eine übrig gebliebene soziale Gruppierung von unterschiedlicher Homogenität, die Anerkennung und Repräsentation sucht? Oder sind sie durch ihre „Stellung außerhalb aller gesellschaftlichen Strukturen und Zugehörigkeiten wie jenseits aller politischen Repräsentation“ definiert, wie et-

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4. Die Politik der Massen

wa Hannah Arendt vermutet?203 Dann kommen sie dem nahe, was dieselbe Autorin als „Mob“204 bezeichnet hat und der aller positiven politischen Eigenschaften verlustig gegangen ist. Wie dem auch sei, die Rekonstruktion des Massebegriffs hat deutlich gemacht, dass das Phänomen nie als eine ausschließlich objektivistische Kategorie gehandhabt wurde, sondern immer die Spuren der subjektiven Wahrnehmung trug. Aber alle Theorien und Konzepte sind sich einig, dass die Masse ein (neuer) politischer Akteur war bzw. ist, der das Spektrum des politischen Handelns enorm erweiterte und neue Formen des Politiktreibens hervorbrachte – Massendemonstrationen, Massenaufläufe, Massenstreiks, Massenparteien, um nur einige zu nennen. Sie sind sich zudem einig, dass dieser neue Akteur ein äußerst zwiespältiger Akteur ist, dessen Rationalität und Plausibilität ebenfalls von allen hier erwähnten AutorInnen als problematisch betrachtet wird. Manche gingen soweit, die Politik der Massen als den Inbegriff des irrationalen Handelns zu fassen. 205 Die Politik der Massen wurde in bestimmten Phasen des Jahrhunderts, insbesondere in denen des Totalitarismus, durch eine Politik mit den Massen überlagert. Politische Führer tauchten auf der Bühne der Politik auf und begannen, die Massen mit neuen Techniken der Beeinflussung bzw. der Manipulation für ihre Interessen oder Ideologien zu mobilisieren. Die faschistischen Regime waren sicherlich der zugespitzteste Ausdruck der Politik mit den Massen, die in Bereiche gejagt wurden, die sich selbst die skeptischsten Autoren zu Beginn des Jahrhunderts nicht in dieser Intensität und Brutalität vorstellen konnten. Die Einschätzung der Rolle der Masse ist ambivalent. Das Auf und Ab ihrer Thematisierung und das Auf und Ab ihrer politischen Bedeutung schwankt in Abhängigkeit der jeweiligen historischen und politischen Lage, in der sich eine Gesellschaft befindet. Man findet keinen Platz mehr – das war der Ausgangspunkt von José Ortega y Gasset und wurde mit dem ‚Aufstand der Massen‘ gleichgesetzt. Ihr möglicher Aufstand wurde von den politischen Denkern und den denkenden Politikern nicht nur antizipiert, sondern auch in den schwärzesten Farben dargestellt. Ihre Leidenschaften, ihre Irrationalität, ihre Menschenschwärze – all das war eine wahrgenommene Bedrohung für die gesellschaftliche und politische Ordnung. In den faschistischen Massenbewegungen in der Mitte des Jahrhunderts wurde dies unübersehbare Wirklichkeit. Ein weiteres Phänomen trat nun ebenfalls auf: Die politischen Führer, die die Massen für ihre Ideologien mobilisierten und sie zu Taten anstachelten, die man bisher nicht für möglich gehalten hätte. Aber bereits zu Beginn des Jahrhunderts hatte G. Le Bon sie ziemlich unfreundlich, aber ziemlich realistisch als an der ‚Grenze des Irrsinns‘ operierende politische Akteure bezeichnet.206 Durch sie wurden die Massen zu einem nur noch indirekten Akteur, zur abgeleiteten Größe, zum Nebenprodukt. Sie waren die Kreation der Führer, sie waren die Geführten und nicht die Führenden. Ob sie die Massen von Soldaten waren, die von ihren Befehlshabern in die

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Maschinengewehrsalven oder das Giftgas der Feinde während des Ersten Weltkrieges geschickt wurden, oder ob es die mordenden und brandschatzenden Soldaten der Nazis in den europäischen Staaten im Zweiten Weltkrieg waren, macht keinen gravierenden Unterschied. Die Masse war hier der vom Führer beeinflusste, ja manipulierte Gegenstand. In den 60er und 70er Jahren der modernen Industriegesellschaft verloren die Massen dagegen ihren Schrecken und wurden als ‚optische Täuschung‘ charakterisiert, als ein Phänomen, das nun unwiderruflich von der politischen Bühne verschwunden sei. Sie existierten – der Massenproduktion und dem Massenkonsum sei Dank – nun nur noch als Konsumenten mit gleichlaufenden Geschmacks-, Kaufs- und Mediengewohnheiten. Ihr bedrohliches oder gar revolutionäres Potential war in diesen Diskussionen endgültig verschwunden. Und damit verschwanden auch die politischen Führer, die nun durch Parteibürokraten an der Spitze der Massen- oder Volksparteien ersetzt wurden. Aber Totgesagte leben länger. In den Demokratisierungsprozessen in den mittel- und osteuropäischen Transformationen zur Demokratie ebenso wie in den Arabellionen traten sie erneut auf die politische Bühne. Auch wenn die Resultate nie ganz eindeutig sind, hier waren sie die Motoren der Weltgeschichte. Dennoch konnten sie ihrem Schicksal, dem Massenschicksal, nicht ganz entkommen. Nachdem sie auf der Bühne der Weltgeschichte aufgetreten waren und die erfolgreichen Umwälzungen in Gang gebracht hatten, verschwanden sie zwar nicht im Dunkeln oder in den Kellergeschossen der Gesellschaft, aber ihre Aktionen und Ambitionen nahmen doch sichtbar und erheblich ab. In den meisten und wichtigsten Darstellungen der Massen im 20. Jahrhundert wurde ihnen eine zwar ambivalente, aber dennoch eigenständige politische Bedeutung zugemessen. Sie können Energien mobilisieren und in die politischen Kämpfe dieses Jahrhunderts einführen, die anderen politischen Kräften in diesem Ausmaß nicht zur Verfügung stehen. Ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Emotionalität, ihre Unerschrockenheit und ihre Qualität als kollektiver Akteur kann von keiner anderen politischen Kraft realisiert oder simuliert werden. Werden die Massen aktiviert oder aktivieren sie sich selbst, dann suchen sich die politischen Leidenschaften neue Ausdrucksformen jenseits tradierter Verfahren und Wege und es kommt im Extremfall zur Explosion der Massen. Dem Aufflammen der Leidenschaften folgt dann das Aufflammen von Gebäuden, während umgekehrt die herrschen Mächte – wie gerade in China – die Massen mit Panzern niederwalzen. Das Aufschießen der Flammen und das Niederschießen der Massen – beides sind genuin politische Phänomene des 20. Jahrhunderts. Welche Rolle die Massen im 21. Jahrhundert spielen werden, muss hier allerdings offen bleiben.

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Ortega y Gasset 1956: 7f. Ortega y Gasset 1956. Ortega y Gasset 1956: 9. Ortega y Gasset 1956: 11. Ortega y Gasset 1956: 10f.; Herv. von mir. Diese Aussage ist sofort zu relativieren: Die Masse war in Deutschland (und auch in anderen europäischen Ländern) v. a. ein Problem der Weimarer Soziologie und Politologie, während die Sozialwissenschaften der Nachkriegsliteratur dieses Phänomen faktisch negierten. Für sie war die Masse nicht mehr existent. Eine der lesenswerten Ausnahmen ist sicherlich König 1992. Stattdessen tauchte der Begriff fast nur noch in Wortverbindungen auf: Massenkultur, Massengesellschaft, Massendemokratie, Massenmedien etc., so als ob man damit die Masse als einzelnes Phänomen zu bändigen versuchte, indem man ihr ein weiteres Wort zur Seite stellte. In der Wortverbindung existierte die Masse allerdings weiter. „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Massen eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich die Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“ Marx 1962b: 180f. Marx 1962a: 385. Moscovici 1984: 46. Moscovici 1984: 15. Moscovici 1984: 54; Herv. i. O. Le Bon 1982 (1911): 1. Le Bon 1982 (1911): 13; Herv. von mir. Le Bon 1982 (1911): 10; Herv. i. O. Stefan Günzel hat in seinem ansonsten kenntnisreichen und lesenswerten Aufsatz über den „Begriff der ‚Masse‘ in Philosophie und Kulturtheorie“ genau dies als die zentrale Unzulänglichkeit von Le Bon gebrandmarkt (Günzel 2005: 125), während dies im Gegenteil eine tiefe Einsicht ist: die Kontingenz des Anlasses. Die Sozialwissenschaft kann offensichtlich die Prämisse der Kontingenztheorie nicht akzeptieren, dass es keinen notwendigen, letzten oder strukturellen Grund für das Entstehen einer Masse gibt. Canetti 1980 (1960): 10f. Le Bon 1982 (1911): 10.

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Le Bon 1982 (1911): 14-15. Ebd.; Herv. von mir. Le Bon 1982 (1911): 16. Le Bon 1982 (1911): 23. Le Bon 1982 (1911): 24. Le Bon erwähnt hier mehrere Beispiele, während ihn die Empirie ansonsten nicht weiter interessiert: Eine Fregatte kreuzt auf dem Meer, um die im Sturm verloren gegangene Korvette wiederzufinden. Plötzlich sichtet die Wache ein Schiff in Seenot. Ein Boot wird ausgesetzt und die sich im Boot befindenden Offiziere und Matrosen sehen „Massen von Menschen sich hin und her bewegen, die Hände ausstrecken und vernahmen den dumpfen und verworrenen Lärm einer großen Anzahl Stimmen.“ Als das Boot nahe kam, fand man nur mit Blättern bedeckte Baumstämme, die sich von der Küste losgerissen hatten; Le Bon 1982 (1911): 24f. Suggestion und Übertragung lassen sich hier wunderbar beobachten. Ebd. Ebd. Le Bon 1982 (1911): 22. Le Bon 1982 (1911): 30. Le Bon 1982 (1911): 34. Le Bon 1982 (1911): 35. Le Bon 1982 (1911): 37. Le Bon 1982 (1911): 49. Le Bon 1982 (1911): 83. Le Bon 1982 (1911): 83f. Le Bon 1982 (1911): 86. Ebd. Die Konzeption von großen bis zu kleinen Führern erinnert stark an A. Gramscis Bestimmung des organischen Intellektuellen, der sich aus der Bewegung erhebt und im Kleinsten (Stammtisch) auf den Alltagsverstand im Sinne einwirkt und so zum Hauptakteur von Hegemoniekämpfen wird. Moscovici 1984: 220. Le Bon 1982 (1911): 111. Moscovici 1984: 225. Le Bon 1982 (1911): 17; Herv. von mir. Beispiel: Die tatsächliche Anzahl der Muslime und die projizierte liegen weit auseinander; vgl. FAZ oder SZ vom 09. bzw. 10. Januar 2015. Moscovici 1984: 129f. Le Bon 1982 (1911): 39. Moscovici 1984: 130. Le Bon 1982 (1911): 30ff. Vgl. zu dieser Problematik vor allem Beyme 2000; Katz/Mair 1995; Duverger 1959; Kirchheimer 1965. Kirchheimer 1965.

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Moscovici 1984: 209f.; Herv. von mir. Michels 1987 (1925). Weber 1992. Bei M. Weber werden später Parteien ebenso zu Maschinen, bei ihm sind es dann „Anstaltsbetriebe“, „Parteibetriebe“ oder gar „Parteimaschinen“; vgl. Weber 1992. Michels 1925. Bei Michels heißt es entsprechend, dass die politisch indifferente Masse froh ist, wenn „sich Männer finden, welche bereit sind, die politischen Geschäfte für sie zu besorgen. Das Führungsbedürfnis, meist verbunden mit einem regen Heroenkult, ist in den Massen, auch in den organisierten Massen der Arbeiterparteien, grenzenlos“; Michels 1989: 50. Und umgekehrt gelingt es den Führern, eine „suggestive Macht über die Massen“ auszuüben; Michels 1989: 79; vgl. ausführlicher Michels 1987: 74-86. Katzt/Mair 2002: 117. Mannheim 1952: bes. 102-133. Michels 1925: 38. Die Sozialdemokratie hatte in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts immerhin rd. 3,5 Mill. Mitglieder. Michels 1925: 31. Michels 1925: 366; Herv. i. O. Katz/Mair 1995: 6f. Neumann 1956. Vgl. dazu Rose/McAllister 1986. „Ich hatte (...) mit einem simplen Einfall eine (...) Begründung der Massenpsychologie versucht. Jetzt soll das ruhen (...)“; zit. nach Freud 2004: 258, Anm. 9. Freud 2004: 257. Freud 2004: 271. Vgl. etwa Jones 1961; Brumlik 2006; Stefan Jonsson allerdings führt in seinem lesenswerten Buch über „Masse und Demokratie“ insgesamt sechs mögliche Gründe an, die alle sehr bedenkenswert sind; vgl. Jonsson 2013: 167f. So jedenfalls eine Passage in der Massenpsychologie selbst; vgl. Freud 1987 (1921): 34. Annette Meyhöfer schreibt in ihrer FreudBiographie, dass er auch eine Polemik gegen die „Parteien oder politischen Bewegungen“ in seiner Massenpsychologie formuliert hätte; vgl. Meyhöfer 2006: 519. Aber in dem Büchlein selbst findet sich für diese Aussage kein überzeugender Beleg. Meyhöfer 2006: 529. Diese Vermutung formuliert jedenfalls Moscovici sehr deutlich: vgl. Moscovici 1984: 277-289. Zu denken ist hier vor allem an „Der Mann Moses und die monotheistischen Religionen“ und ebenso an „Das Unbehagen in der Kultur“; vgl. Freud 1996; ders.1994.

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Freud 1987: 11 Freud 1987: 10. Ebd. Freud 1987: 23. McDougall 1920. Le Bon 1982: 13. Freud 1987: 29. Freud 1987: 27. Freud 1987: 30. Freud 1987: 78. Ebd. Ebd. Freud 1987: 31. Freud 1987: 13. Freud 1987: 31. Freud 1987: 67. Freud 1987: 55. Freud 1987: 39. Freud 1987: 67. Ebd. Ebd. Ebd. Freud 1987: 55; 68. Freud 1987: 56. Ebd. Moscovici 1984: 292. Freud 1987: 26. Moscovici 1984: 269. Reich 1933. Reich 1974. Peglau 2013: 240f. Peglau 2013: 221-239. Zit. nach Peglau 2013: 242; Herv. i. O. Zit. nach Peglau 2013: 244. Peglau 2013: 245. Reich 1987: 177; Herv. i. O. Die Sexpol-Bewegung war Teil der anti-autoritären Bewegung, die Wilhelm Reich in den 30er Jahren für die sozialistische Arbeiterjugend ins Leben gerufen hatte. Sie sollte die Jugend von den Zwängen der repressiven Sexualmoral jener Zeit, die als Mittel der Disziplinierung an die Ausbeutungsverhältnisse eingesetzt wurde, befreien und sie für den Widerstand gegen den Kapitalismus gewinnen. Ich zitiere im Folgenden immer aus der 1933er Original- bzw. Erstausgabe. Die „Scherenidee“ taucht erneut auf den Seiten 26, 33 und 40 auf. Reich 1933: 19; Herv. i. O. Reich 1933: 29. Reich 1933: 16f. Das wäre der Bereich, den die heutige ökonomische Theorie der Politik erklären könnte. Sie reduziert die wissenschaftliche Analyse allein auf die Bereiche des menschlichen Handelns, die rein zweckmäßig sind und den ökonomischen Rationalitätskriterien gehorchen. Reichs Faschismusanalyse ist die erste Kritik an diesem Denkansatz, auch wenn sie noch

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4. Die Politik der Massen relativ eng in ein marxistisches Konzept eingebunden ist. Reich 1933: 36. Reich 1933: 30. Dieses Zitat ist nur in der Einleitung zur erweiterten und korrigierten 3. Ausgabe von 1942 enthalten; vgl. Reich 1974 (1942): 25f. Reich 1933: 26. Reich 1933: 39. Reich 1933: 48 bzw. 50f. Moscovici 1984: 294. Geiger 1926. Geiger 1926: 32-33. Geiger 1926: 74. Geiger 1926: 22; vgl. ähnlich auch 27f. Geiger 1926: 17; Herv. von mir. Geiger 1926.: 73; Herv. i. O. Tönnies 2010. Geiger 1926: 35. Geiger 1926: 7f. Ebd. Geiger 1926: 81. Geiger 1926: 184f.; ebenso 188. Geiger 1926: 76; Herv. i. O. Geiger 1926: 66. Geiger 1926: 40. Ebd. Geiger 1926: 50. Geiger 1926: 53. Geiger 1926: 58. Geiger 1926: 61f.; das ganze Zitat ist bei Geger kursiv! Geiger 1926: 42. Geiger 1926: 43. Ebd. Geiger 1926: 46. Ebd. Broch 1986. Broch 1994. Berghahn 2002: 172. Riesman et al. 1950. Riesman et. al. 1956: 16; deutsche Übersetzung. König 1965: 463. Ebd. König 1965: 466. Ebd. Enzensberger 1997a. Schuller 2009. Schuller 2009: 281. Schuller 2009: 300. Volk ist meist der Begriff für eine durch bestimmte und gemeinsame Merkmale (Abstammung, Kultur, Religion, Sprache o. Ä.) gekennzeichnet Gruppe von Menschen, die sich durch diese Merkmale grundlegend von anderen Gruppen unterscheiden. Im eher verfassungs- und staatsrechtlichen Sinne ist es die Gesamtheit der StaatsbürgerInnen. Die Differenz zur Nation ist umstritten, manche

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setzen beides gleich; vgl. zu den begrifflichen Trennungen statt vieler Leibholz 1958. Zit. nach Schuller 2009: 306. Schuller 2009: 307. Schade 2003. Zu diesen Zahlen und auch zu den folgenden Überlegungen und Details vgl. Schade 2003, der selbst an diesen Demonstrationen teilgenommen hatte. Zit. nach Schade 2003: 42. Schade 2003: 45. Pollack 2000. Hirschman 1992: 354. Hirschman 1992: 354f. Hirschman 1992: 353f.; 344. Hirschman 1992: 355; Herv. i. O. Diese Formulierung ist unverkennbar eine Anspielung auf G. Anders „Antiquiertheit des Menschen“; vgl. Anders 1956. Genett 1999. Sloterdijk 2000. Baudrillard 2010. Hardt/Negri 2002; dies. 2004. Sloterdijk 2000: 16f. Ebd. Canetti 1980 (1960). Ebd. Sloterdijk 2000: 18. Sloterdijk 2000: 25. Sloterdijk 2000: 28. Sloterdijk 2000: 31. Vgl. etwa Sloterdijk 2000: 32f. Sloterdijk 2000: 46. Sloterdijk 2000: 91. Das Zitat geht auf Alain Finkielkraut zurück, der unter Rückgriff auf Blaise Pascal geschrieben hat, dass sein Werk „wider Willen die Entmystifizierung (betrieb), welche die Menschen dazu bringt, ihre Ungleichheit anders zu leben.“ (Finkielkraut 1998: 33) Und das wichtigste Instrument ist sicherlich die Demokratie, die alle Menschen hinsichtlich ihrer demokratischen und politischen Rechte gleich macht – trotz aller anderen Ungleichheiten, die sie sonst haben und in (post)modernen demokratischen Gesellschaften weiter bestehen. Hardt/Negri 2000. Hardt/Negri 2002. Hardt/Negri 2004. Hardt/Negri 2002: 11. Hardt/Negri 2002: 202. Hardt/Negri 2004: 10. Hardt/Negri 2002: 13. Hardt/Negri 2002: 116. Hardt/Negri 2002: 406. Hardt/Negri 2002: 409. Ebd. Hardt/Negri 2002: 419. Geiger 1926. Jonsson 2013: 43.

4.9. Das Ende der Politik der Massen und ihre Verabschiedung 203 Arendt 2017 (1958): 674; 702-725. 204 Arendt 2017 (1958): 674.

205 Moscovici 1984: bes. 54. 206 Le Bon 1982 (1911): 83.

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5. Die Politik des Sozialen

5. Die Politik des Sozialen: Von der ‚sozialen Frage‘ über die Entstehung und den Wandel des modernen Wohlfahrtsstaates bis zur Sozialpolitik zweiter Ordnung Alfred Marshall, ein wichtiger Ökonom des 19. Jahrhunderts, hielt im Jahr 1873 im Cambridge Reform Club einen Vortrag. Das Publikum bestand damals ausschließlich aus älteren Herren, die nach einem strengen Verfahren aufgenommen worden waren. Es versteht sich von selbst, dass die Mitglieder exklusiv den höchsten englischen Gesellschaftsschichten entstammten. Das Thema des Vortrages hatte mit einer Gruppe von Menschen zu tun, die niemals Zutritt zu diesem Club bekommen hätten: Der Arbeiterklasse. Der Titel des Vortrages lautete „The Future of the Working Classes“ und Alfred Marshall formulierte eine weitreichende Prämisse: „The question is not whether all man will ultimately be equal – that they certainly will not – but whether progress may go on steadily, if slowly, till the official distinction between working man and gentleman has passed away, till, by occupation at least every man is a gentleman. I hold that it may and that it will.“1

Jeder arbeitende Mensch soll ein gentleman werden können – so seine Vorstellung und die Politik sollte diese gentlemen durch Rechtssetzung und die soziale Gestaltung der Gesellschaft sozusagen ‚ausbilden‘. Der working man dagegen ist ein Mensch, der tief in den Überlebenskampf und in ökonomische Verteilungskonflikte verstrickt ist, bei dem die Arbeit massiv gegenüber der Freizeit dominiert, der raue Sitten anstelle eines zivilisierten Lebens bevorzugt, bei dem Privatheit gegenüber dem zivilgesellschaftlichen Engagement überwiegt und bei dem die Berufs- gegenüber der allgemeinen Bildung dominiert. Der gentleman (und die gentlewoman) dagegen ist jemand, der nicht nur Würde, Anerkennung und Respekt erfährt, sondern der zusätzlich durch bestimmte Rechte vor Übergriffen und Ausbeutung durch Andere, hier der Kapitalistenklasse, geschützt wird und volles Mitglied der Bürgerschaft ist. Gentlemen zu generieren – das war die programmatische Utopie der Politik des Sozialen im 20. Jahrhunderts. Ob diese Vorstellung durch die Politik des Sozialen realisiert wurde, sei hier dahingestellt. Man kann gleichwohl intensive Versuche erkennen, aus unterdrückten und ausgebeuteten Arbeitern gentlemen zu machen. Die jeweiligen Staaten sind hierbei sehr unterschiedliche Wege gegangen. Wie jede Politik hat auch die Politik des Sozialen ideologische, ideengeschichtliche, programmatische und interessierte Grundlagen. Diese sind nicht unbedingt kompatibel mit den drei großen ideologischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts, dem Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus. Vielmehr hat die Politik des Sozialen eigenständige ideologische und programmatische Wurzeln und wirkt als eigenständige Politikform mit eigenen ideologischen und program-

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matischen Prämissen. Wichtig ist ihre Eigendynamik, die durch zwei Antriebsmotoren in Gang gehalten wird. Zunächst durch die sozialpolitische Diskussion, die sich immer auf sich selbst bezieht, ein Netz von kontroversen sozialpolitischen Diskursen ausbildet und eine programmatische Eigendynamik entwickelt. Sie reagiert auf externe geschichtliche und gesellschaftliche Grundprobleme einer spezifischen historischen Situation und reflektiert den Horizont möglicher politischer Optionen. Diese finden ihren Niederschlag in den diversen Politiken des Sozialen. Niklas Luhmann hat sogar gemeint, dass die „ungesicherte Möglichkeit der Sozialität überhaupt als die die Disziplin (hier die Soziologie, F.W.R.) konstituierende Problemstellung“ zu betrachten sei.2 Insofern ist soziale Politik immer auch das Nachdenken über die Grundfragen und -lagen der Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Geschichte. Sie wird aber auch durch interne Dynamiken in Gang gehalten, also durch die Interaktion von Texten mit anderen Kon-Texten. Insofern sind begriffsgeschichtliche Analysen der sozialpolitischen Diskussion und ihrer Texte für ein vertieftes Verständnis außerordentlich wichtig.3 Daneben tritt ein zweiter Antriebsmotor. Soziale Politik ist immer auch der Versuch, durch (Um-)Verteilung von Wohltaten bestimmte soziale Gruppierungen zu bevorzugen (und andere zu benachteiligen), um Herrschafts- und Machtkonstellationen zu stabilisieren oder zu verändern. Sozialpolitik zielt immer auch auf die Legitimität einer Herrschaftsordnung oder einer spezifischen Machtkonstellation. Sozialpolitik als Wahlpolitik – das wäre die zugespitze Bezeichnung hierfür in der Demokratie und Sozialpolitik als Legitimationspolitik die in diktatorischen Herrschaftsordnungen. Weder will sie dort soziale Probleme oder Verteilungskonflikte regeln noch eine gerechtere Gesellschaft erreichen, sondern durch die zielgerichtete Besserstellung von bestimmten sozialen Gruppen das Unterstützerpotential für die jeweilige autoritäre Herrschaftsordnung oder für die herrschende Clique steigern. Solche Maßnahmen haben zwar abgeleitete Auswirkungen auf die Stellung von sozialen Gruppen im Gesellschaftsgefüge, aber der primäre Zweck solcher Maßnahmen ist die Stabilisierung autoritärer Herrschaftsstrukturen. Der Ausbau der modernen Wohlfahrtsstaaten erfolgte eben auch aus herrschaftsstabilisierenden bzw. in Demokratien auch aus wahltaktischen und nicht nur ausschließlich aus sozialen Gründen. Der Begriff der Sozialpolitik tauchte erst spät in der Begriffsgeschichte auf.4 Erst im Kontext der Bismarckschen Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre wird er häufiger verwendet. Der „Verein für Socialpolitik“ trägt diesen Begriff zwar in seinem Namen, wurde aber auf einem Kongress für „soziale Reform“ im Jahr 1872 gegründet und veröffentlichte seine Publikationen als „Versammlung zur Besprechung der socialen Frage“. Wie der Name „Verein für Socialpolitik“ zu Stande kam, ist ungeklärt.5 Aber zu Beginn und verstärkt ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich der Begriff immer mehr durch.

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Die Politik des Sozialen, damals noch nicht mit dem Begriff der Sozialpolitik versehen, bezog sich zunächst auf die Armen. Sie waren der bevorzugte Gegenstand der sozialpolitischen Diskussion und der damit verbundenen sozialen Reformen. Erst mit der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ durch Ferdinand Lassalle im Jahr 1863 und anderen, meist gewerkschaftlichen Organisationsformen der Arbeiterklasse, wurde auch die Arbeiterfrage für die politischen Akteure zentral. Dies führte in Deutschland zu einer „institutionellen Arbeitsteilung zwischen einer weithin privatisierten Fürsorge für Arme und einer wohlfahrtsstaatlich regulierten Daseinsvorsorge für die Arbeiter.“6 Während die ‚sociale Frage‘ nun weitgehend identisch mit der Arbeiterfrage war, setzte sich die ‚Sozialreform‘ von der engen Fassung der ‚socialen Frage‘ ab und umfasste bald ein erweitertes Feld möglicher Politiken des Sozialen. Der langjährige sozialpolitische Berater Bismarcks, Hermann Wegener, deutete bereits um die Jahrhundertwende das neue Verständnis der Sozialpolitik an, obwohl er den Begriff selbst nicht verwendete. Auf einer Konferenz zur ‚socialen Frage‘ sprach er davon, „dass, um die Frage in fruchtbarer Weise behandeln zu können, man sich nicht auf die Arbeiterfrage werde beschränken können, sondern die soziale Frage im weiteren Sinne ins Auge zu fassen habe als den Gesamtzusammenhang der gegenwärtigen Gesellschaft, (...) dass man diese Aufgabe nicht der Gesellschaft zuweisen und überlassen kann, sondern dass auch Staat und Regierung dazu schreiten müssten, diesen Dingen politische Form zu geben.“7

Die soziale Frage ist also ein Sachverhalt, der den Gesamtzusammenhang der ‚Gesellschaft‘ umfasst und sich nicht (mehr) nur auf die Arbeiterfrage konzentriert. Zudem ist die Gestaltung des Gesamtzusammenhanges eine Aufgabe der Politik, also politisch zu entscheiden und so den ‚Dingen politische Form zu geben‘. Die Politik des Sozialen war im Selbstverständnis der damaligen Zeit auf die Gestaltung und Regulierung der gesamten Gesellschaft bzw. auf eine Vielzahl sozialer Gruppierungen gerichtet, von denen die Armen und die Arbeiterklasse sicherlich die wichtigsten waren, die aber zugleich auch andere Gruppen einschlossen. Sie konzentrierte sich hierbei auf zwei gesellschaftliche Bereiche. Im betrieblichen Bereich stellte sich die Frage, ob man den (freien) Arbeitsvertrag zwischen Unternehmer und Arbeiter durch staatliche Regelungen einschränken sollte. Bis zum Ersten Weltkrieg gab es faktisch keine Beschränkung der Vertragsfreiheit, einzig die Auszahlung des Lohnes in (meist minderwertigen) Naturalien war durch das Allgemeine Preußische Landrecht verboten. In der Weimarer Republik wurde vor allem um den Sinn eines Kündigungsschutzes gestritten, der die Begrenzung der Arbeitszeit, den Aufbau von Gesundheitsschutz in Betrieben u. Ä. politisch regeln sollte. Das Tarifvertragsrecht bzw. Betriebsvereinbarungen traten nun an die Stelle von individuellen Verträgen, was die Position der Arbeiter nicht nur verbesserte, sondern sie auch als rechtlich anerkannte Vertrags-

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partner etablierte. Die Arbeiterklasse wurde dadurch als ökonomisch und z. T. auch als politisch relevante Kraft akzeptiert. Bei Nichteinigung konnte der Staat über Zwangsschlichtungen in die Tariffreiheit eingreifen. Die Löhne wurden in solchen Fällen dann politisch bestimmt und der Staat bzw. in diesem Fall das zuständige Reichsarbeitsministerium wurden zu Institutionen, die in die ökonomische Entwicklung über die Lohnschlichtung massiv eingriffen. Während der Arbeitsschutz eine internalisierende Option war, war die Unfallversicherung von 1884 eine externalisierende.8 Sie war die erste Sozialversicherung und transformierte den Unfall in ein soziales Risiko, das durch die Berufsgenossenschaften bzw. spezielle Unfallversicherungen abgedeckt war. Dieser politisch auf den Weg gebrachte Arbeitsschutz war bahnbrechend, aber das Deutsche Reich hinkte im Vergleich zur Schweiz oder Großbritannien hinterher. Hier waren schon früher weitreichende Maßnahmen ergriffen worden.9 Die Unfallversicherung, die ausschließlich von den Arbeitgebern finanziert wird, wurde relativ schnell durch weitere Sozialversicherungen ergänzt. Die Invaliden- und Alterssicherungen wurden noch im 19. Jahrhundert und die Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927 gegründet, während die gegliederte Krankenversicherung immer stärker staatlich reguliert wurde.10 Die Sozialversicherungen waren selbstverwaltet und wurden hälftig von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert, zum Teil durch staatliche Zuschüsse ergänzt, wie in der Invaliden- und Alterssicherung. Die sozialen Sicherungen waren politisch entschiedene und meist staatlich organisierte Institutionen, die bei Eintritt bestimmter sozialer Risiken die damit verbundenen Kosten durch Gewährung eines unbedingten Rechtsanspruches kompensierten. Bei der Gründung der Sozialversicherungen wollten die Herrschenden die Arbeiterklasse mit dem monarchischen Obrigkeitsstaat versöhnen, was vor allem für die Herrschenden am Ende des 19. Jahrhunderts von größter Bedeutung war. In der Weimarer Demokratie rückte ein anderer Aspekt in den Mittelpunkt. Die Sozialpolitik wurde nun durch die Verfahren der Demokratie und die damit verbundenen politischen Konflikte gestaltet, wobei unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte und Parteien um die Anerkennung ihrer jeweiligen programmatischen Positionen kämpften und auf politische Entscheidungen Einfluss nahmen. Im Verlauf der begriffsgeschichtlichen Kontroversen schälte sich immer mehr ein gemeinsamer Bedeutungskern heraus: Sozialpolitik ist die durch Recht vollzogene Bearbeitung von sozialen Risiken und damit zugleich die Gestaltung von Lebenslagen verschiedener sozialer Gruppen über verbindliche Entscheidungen, deren Intensität und Umfang politisch entschieden werden. Die Kontingenzen des Sozialen und die Idee des sozialen Risikos standen am Anfang der sozialpolitischen Debatte (Kap. 5.1.). Als Antwort auf die Idee der Gestaltung des Sozialen durch Sozialpolitik entwickelt sich eine Gegenbewegung, die vor allem von der

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katholischen Soziallehre ausging und in der sozialpolitischen Diskussion unverrückbare und religiös-naturrechtlich abgeleitete Grundsätze formulierte, die der politischen Variation nicht offen, sondern unverrückbar feststehen sollten. Auch die sozialistischen Bewegungen gingen von der Nichtreformierbarkeit der kapitalistischen Gesellschaften aus und wollten stattdessen die Transformation des Kapitalismus in eine sozialistische Gesellschaftsordnung (Kap. 5.2.). Ungeachtet dieser Positionen entwickelte sich im Deutschen Reich und in England eine Sozialpolitik, die sich anschickte, die Idee der (sozialen) Gestaltbarkeit von Gesellschaft zu realisieren. Allerdings gingen beide Gesellschaften sehr unterschiedliche Wege. Deutschland bevorzugte unter Bismarck das Sozialversicherungsmodell, England dagegen den Weg der Staatsbürgerversorgung, wobei beide Wege zu sehr unterschiedlichen Sozialitäten von Gesellschaft führten (Kap. 5.3.). Aber eine Idee hatte sich trotz erheblicher Erfolge der Sozialpolitik in den kapitalistischen Ökonomien nicht vergessen: Die Idee der Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus mittels einer Politik des Sozialen. Eduard Heimann war hier prägend und er hat diese Idee am prägnantesten ausgearbeitet, während ihm Hugo Sinzheimer im Bereich des Arbeitsrechts gefolgt ist (Kap. 5.4.). Aber auch autoritäre bzw. totalitäre Regime verfolgten eine Sozialpolitik, die am Beispiel des Nationalsozialismus und des autoritären Staatssozialismus in knappen Zügen nachgezeichnet wird. Wollte auch hier die Sozialpolitik aus Armen und Unterdrückten gentlemen und gentlewomen machen, wie dies A. Marshall vorgedacht hatte, oder verfolgt die Sozialpolitik in autoritären bzw. totalitären Regimen ganz andere Zielsetzungen (Kap. 5.5.)? Einen völlig anderen Weg ist ein Theoretiker gegangen, der zu einem der wichtigsten sozialpolitischen Denker des 20. Jahrhunderts wurde und dessen Grundideen in Großbritannien zwar nicht eins zu eins, aber dennoch weitgehend realisiert wurden. Diese Idee war die des Staatsbürgerstatus, der sich aus dem bürgerlichen, dem politischen und – schließlich im 20. Jahrhundert – aus dem sozialen Status zusammensetzt. Es war Thomas H. Marshall, der diese Idee des ‚gleichen sozialen Wertes‘ der Staatsbürger am klarsten ausformuliert hat (Kap. 5.6.). Während in der Gründungsphase der Sozialpolitik vornehmlich die Armen die Zielgruppe der Sozialpolitik waren, ging es dann um die Arbeiterklasse, aber zugleich und vor allem später immer mehr um die Gestaltung der Lebenslagen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich Sozialpolitik zur „Gesellschaftspolitik“11, also zur demokratischen Politik der umfassenden Gestaltung der modernen Gesellschaften. Hier wird dann auch die Ambivalenz des Begriffs überdeutlich: einerseits eine soziale Politik zur Gestaltung des sozialen Lebens moderner Gesellschaften und zugleich Wahl- und Machtpolitik zu sein, die die Chancen in der parteipolitischen Auseinandersetzung um Anteile an politischer Macht erhöhen soll. Diese sozialpolitischen Dynamiken sind für die modernen Wohlfahrtsstaaten typisch und im Verlauf des

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Jahrhunderts beginnen sich immer deutlicher die Konturen verschiedener Typen von Wohlfahrtsstaaten12 auszubilden (Kap. 5.7.). Am Ende des Jahrhunderts sind die Politiken des Sozialen und ihre Gegenstände ebenso heftig umstritten wie zu seinem Beginn. Der große Konsens der 60er und 70er Jahre über Programm und Richtung des modernen Wohlfahrtsstaates ist längst verflogen und seine Zukunft ist so unklar und unbestimmt wie selten in der Geschichte dieses Jahrhunderts. Die Politik des Sozialen ist reaktiv geworden und kombiniert problemlos verschiedene Bausteine der konservativen, universalistischen und liberalen Sozialpolitik. Es entstehen rekombinante Wohlfahrtsstaaten, die die klaren Konturen der 70er und 80er Jahre vermissen lassen.13 Es kommt nun zu einer Sozialpolitik zweiter Ordnung14, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Gestaltung von Lebenslagen, sondern die (finanzielle) Stabilisierung der Systeme der sozialen Sicherung steht. Die Politik des Sozialen hat sozusagen vom Sozialen ‚abgehoben‘ und sich auf die systemische Stabilisierung verlagert (Kap. 5.8.). Parallel dazu kann man ein neues Phänomen beobachten: das der Exklusion von Individuen und ganzen sozialen Gruppen aus den Funktionssystemen der (modernen) Gesellschaften, die dann nur noch als Körper in den Slums oder Favelas existieren, aber nicht mehr als Mitglieder einer Gesellschaft mit spezifischen Rechten anerkannt werden (Kap. 5.8.3.). Die Fragen, die A. Marshall schon 1873 beschäftigt hatten, stellen sich heute erneut und verschärft: nämlich ob sich „the official distinction between working man and gentleman“15 tatsächlich verflüchtigt hat oder ob Exklusion eine neue Dimension von sozialer Ungleichheit von Menschen einführt, die in dieser Schärfe womöglich erst am Ende des 20. Jahrhunderts bewusst geworden ist. Dies wird abschließend kurz diskutiert (Kap. 5.9.).

5.1. Die Kontingenz des Sozialen und die Idee des (sozialen) Risikos Die kapitalistisch-industrielle Entwicklung zerstörte bisherige Arbeits- und Familienverhältnisse ebenso wie die damit verbundenen sozialen Arrangements. Die Armutsdiskussion, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts begann und das 19. dominierte, war nicht allein eine unmittelbare Antwort auf dieses neue soziale Phänomen, sondern konzentrierte die Diskussion der damaligen Zeit auf die Gesellschaft selbst, ihre Grundprobleme, den Umgang mit neuen sozialen Risiken, ihre gesellschaftlichen Kontingenzen und mögliche Reaktions- und Regulationsmuster.16

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Das Reaktionsmuster auf die damalige Armut hat Francois Ewald so zusammengefasst: „(...) niemand (kann) die Lasten seiner Existenz, die Schicksalsschläge und Unglücksfälle, die ihm widerfahren, auf jemand anderen abwälzen, außer in dem Fall, dass sie von jemandem verursacht wurden, der die oberste Regel der Koexistenz der Freiheiten, nämlich niemandem Schaden zuzufügen, verletzt hat. Mit anderen Worten, jeder ist für sein Los, für sein Leben, für sein Schicksal selbst verantwortlich, muß es sein und wird dafür auch verantwortlich gehalten.“17

Zwar wurde eine bestimmte Form der (meist religiös inspirierten) Wohltätigkeit anerkannt, aber es war eine rein individuelle moralische Verpflichtung, die durch die Politik nicht zu einer universellen Regel der Gesellschaft gemacht wurde. Gleichwohl lassen sich Bausteine eines Modells der Regulierung von Armut beobachten, die für die damalige Zeit vorherrschend und anti-politisch waren. Die individuelle Verantwortlichkeit wurde als der zentrale Regulator aller sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gefahren betrachtet. Niemand kann einen Misserfolg, einen Fehlschlag oder ein Unglück einem anderen zuschreiben, jeder bleibt auf sich selbst zurückgeworfen und kann nur sich alleine verantwortlich machen. Die Ursachen der Armut sind ausschließlich in den Armen selbst zu suchen, in ihrer Verantwortungslosigkeit, mangelnder Moral und fehlendem Willen, sie zu beseitigen.18 Da aber – und das war den Zeitgenossen klar – Armut viele, nicht ausschließlich in der Disposition des Individuums liegende Ursachen hatte, wurde daraus die Pflicht des Individuums zur eigenen Vorsorge abgeleitet. Die Eigenvorsorge (u. a. durch Sparen oder private Versicherung) ist die Tugend, die den Staat und die Allgemeinheit von der Übernahme der Verantwortung für individuelles Fehlverhalten entbindet. Die einzige rechtliche Regulierungsform, die damals anerkannt wurde, war das Haftungsprinzip. Sein Grundprinzip bestand im Ausgleich zweier Prinzipien: Niemand darf sein Schicksal einem Anderen aufbürden und niemand darf einem Anderen schuldhaft einen Schaden zufügen. Das Grundproblem dieser Konstruktion liegt im Begriff des Verschuldens: Es genügt nicht, dass jemand einem Anderen einen Schaden zufügt, sondern die Zufügung muss einem Individuum eindeutig zuordenbar sein. Zwischen Täter und Opfer muss eine eindimensionale Verursachungskausalität vorliegen. Die damals bestehende Haftpflicht provozierte laufend Prozesse der Arbeiter gegen die Fabrikanten, die betriebliche und Klassenkonflikte verstärkten. Zudem konnte sie keine ausreichende Sicherheit garantieren, weil viele Arbeiter (bzw. bei deren Tod die Hinterbliebenen) keine Prozesse anstrengten; außerdem waren diese Prozesse schwierig zu führen, weil eine Verurteilung ein präsumptives Verschulden des Unternehmers voraussetzte.19 Das der Haftpflicht inhärente Verschuldensprinzip erwies sich wenig rechtlich handhabbar und wurde wegen der neuen Risikostrukturen der industriellen Gesellschaften immer weniger plausibel.

5.1. Die Kontingenz des Sozialen und die Idee des (sozialen) Risikos

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5.1.1. Vom Risiko zum sozialen Risiko Es eröffnete sich bald eine neue Sichtweise, nach der „Arbeiter-Armut nicht länger (und nicht nur) selbstverschuldetes individuelles Schicksal (war), sondern es konnte nun auch als Problemgebiet begriffen werden, das kollektiver Anstrengungen sozialer und staatlich-politischer Akteure zugänglich war.“20 Einen neuen Zugriff auf die neuen Probleme versprach eine gänzlich neue Idee, die Idee des Risikos und der Versicherung. Was war nun das Bahnbrechende dieser Idee? Zunächst wird das Risiko zu einer neuen Umgangsform mit Unsicherheit, indem im Prinzip alles zum Gegenstand der mathematischen Kalkulation und Wahrscheinlichkeitsrechnung gemacht werden kann. Die Einführung der Versicherung als Technik des Umgangs mit Risiken war begleitet von einer Orgie des Messens und Kalkulierens und der Konstruktion des Durchschnittsmenschen, die mit dem Namen L. A. J. Quetelet verbunden war.21 Sein zentrales Gesetz lautete: „Je größer die Anzahl der beobachteten Personen, um so mehr werden Besonderheiten, seien sie physischer oder sittlicher Natur, ausgelöscht, so dass die allgemeinen Faktoren dominieren, dank derer die Gesellschaft besteht und sich erhält.“22

Diese ‚allgemeinen Faktoren‘ transzendierten jegliches individuelle Handeln und machten es in gewisser Weise für gesellschaftliche Prozesse bedeutungslos. Das eigenverantwortliche Individuum wurde von den überindividuellen Regelmäßigkeiten der Gesetze der großen Zahl abgelöst und die individuelle Verantwortlichkeit für bestimmte ökonomische oder gesellschaftliche Ereignisse marginalisiert. Der Unfall wurde auf diese Weise ‚objektiviert‘: Er tritt zufällig ein und wird nicht durch eine (falsche) Entscheidung eines Individuums ausgelöst; und er unterliegt überindividuellen und berechenbaren Logiken, die seine finanzielle Kompensation durch Versicherungen möglich machen. Das Risiko stellt zudem einen Kalkulationsmodus bereit, der grundsätzlich auch auf andere Institutionen und Situationen anwendbar ist, wie später etwa in den Sozialversicherungen. Durch genaue Berechnungen ließen sich Gegenwartsphänomene durch systematische Untersuchungen der Vergangenheit begreifen und ermöglichten Prognosen über die Zukunft. Die Gesellschaft verlor damit allen mythischen, undurchdringlichen und undurchschaubaren Charakter und wurde nicht nur zum Gegenstand sicheren Wissens, sondern umfassend gestaltund planbar, indem die zukünftigen Auswirkungen gegenwärtiger Entscheidung kalkulierbar wurden. Das Risiko ermöglicht noch etwas Weiteres. Es macht aus situativer Wohltätigkeit eine zukünftig sicher erwartbare, weil vertraglich vereinbarte und rechtlich strukturierte soziale Beziehung. Sie entsteht zwischen dem Individuum bzw. potentiellem Leistungsempfänger und (s)einer Versicherungsgesellschaft. Es verrechtlicht den wohltätigen Samariter und macht aus ihm eine auf dem Markt

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operierende Organisation, die neues Kapital anhäuft und in den Wirtschaftskreislauf einschleust. Die Versicherungspraxis wird durch einen Mythos begleitet, den Mythos der Versichertengemeinschaft. Der Risikoausgleich innerhalb homogener Risikogruppen macht im Selbstverständnis der Versicherung ihre Sozialität aus und findet seine semantische Überhöhung schließlich im Begriff der Solidargemeinschaft.23 Politische und staatliche Akteure sahen in der Versicherung und dem damit verbundenen Solidarprinzip eine institutionelle Form, mit der sie auf soziale Gefahren reagieren und durch politische Entscheidungen für die verschiedensten Formen des sozialen Risikoausgleichs nutzbar machen konnten.24 Individuelle und soziale Gefahren sollten so nicht nur kompensiert, sondern zugleich auch der politischen Gestaltung zugänglich gemacht werden. Dazu bedurfte es aber einer eigentümlichen Umformung des Risikos in ein soziales Risiko. Das Adjektiv ‚sozial‘ sollte nicht nur eine Grenzziehung zum mathematisch kalkulierbaren, ‚reinen‘ Risiko markieren, sondern allgemeiner als bisher einen Sachverhalt kennzeichnen, der in einer Entscheidungssituation besteht und sich nicht allein in der Möglichkeit des Eintretens ungewisser und riskanter Ereignisse, wie Naturkatastrophen, Unfälle, Stockungen der ökonomischen Entwicklung u. Ä., erschöpft. Erst wenn solche Situationen in den Bereich von (politischen) Entscheidungen hineinstrahlen und kontingente Entscheidungen provozieren, werden aus Gefahren bzw. Unsicherheiten soziale Risiken.25 Die Politik des Sozialen als immer umkämpfte und umstrittene Politik muss nun laufend entscheiden, was als soziales Risiko betrachtet wird. Sie muss zudem entscheiden, wie diese sozialen Risiken bearbeitet werden sollen: Soll es einen unbedingten Rechtsanspruch auf eine finanzielle Kompensation geben oder nicht? Werden die sozialen Leistungen über Beiträge oder Steuern oder gemischt finanziert? Leiten sich die sozialen Leistungen vorwiegend vom Arbeitsvertrag oder vom Staatsbürgerstatus ab? Man kann unschwer erkennen, dass die Gestaltungsspielräume der Politik hier außerordentlich weit gespannt waren. Da die (europäischen) Staaten des 20. Jahrhunderts weitgehend demokratische Staaten waren und damit ein universalistisches, alle Staatsbürger als Gleiche und Freie umfassendes Rechtsprinzip begründeten, entsteht eine Art Gesellschaftsvertrag und eine neue Regel der Verantwortlichkeit. Die Semantik von Risiko und Versicherung verliert ihren engen Bezug zur versicherungstechnischen Arithmetik und wird nun zum Inbegriff demokratischer Gestaltbarkeit von Gesellschaft durch die Politik. Der Risikobegriff wird zum allgemeinen gesellschaftlichen Regulativ und das (Sozial-)Recht leitet sich nicht von übergeordneten Ordnungsvorstellungen ab (wie Subsidiarität, Selbstverantwortung, naturrechtlichen Solidaritätsvorstellungen u. Ä.), sondern von den zu bewältigenden Problemlagen. Alles kann nun – sofern es die demokratische Politik entscheidet – zum sozialen Risiko werden und alles kann durch positiviertes Recht zum Gegenstand politischer Gestaltung werden. Die Gesellschaft mit ihren Armuts-, Arbeiter- und

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Rebellionsproblemen ist nicht länger ein Gefahrenpotential, sondern wandelt sich zum Gestaltungspotential der Politik und der politischen Parteien im modernen Wohlfahrtsstaat. Es wurde in den unterschiedlichen Staaten unterschiedlich ausgelegt (vgl. unten Kap. 5.3.). Aber zu Beginn des Jahrhunderts gab es starke und einflussreiche soziale und politische Kräfte, die die Idee der radikalen Kontingenz der Politik des Sozialen abstritten und nicht-kontingente Programme zur Regulierung der sozialen Frage vorlegten. Dies waren die einflussreiche katholische Kirche und die revolutionäre Arbeiterbewegung.

5.2. Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung: Die Sozialenzykliken der Katholischen Kirche und die sozialistische Revolution von 1917 Man kann ohne große Umschweife feststellen, dass ein großer Teil der europäischen Wohlfahrtsstaaten, insbesondere der bundesdeutsche, katholische Wohlfahrtsstaaten sind. Dies verweist auf ein überraschendes Paradox: Einmal politisieren die Sozialenzykliken ein soziales Problem, die Lage der arbeitenden Klassen, und schlagen staatliche Maßnahmen zur Heilung der ‚sozialen Frage‘ vor. Zum anderen entpolitisieren sie, indem sie sich auf unhinterfragbare, unwandelbare und ewig wahre Prämissen stützen, die die Kontingenzen des politischen Entscheidens aufheben und auf eine göttliche bzw. naturgesetzliche, also einzige ‚Wahrheit‘ reduzieren. Es muss eine Politik des Sozialen durch die religiösen Kräfte geben, aber es darf nur eine Politik sein, die strikt naturrechtlich-religiöse Prämissen realisiert. Auch die sozialistische Arbeiterbewegung war mit einem ähnlichen Paradox konfrontiert: Einerseits sollte, ja musste die organisierte Arbeiterbewegung um soziale Reformen innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems kämpfen, um ihre organisatorische und politische Stärke zu demonstrieren und die eigene kollektive Identität, das Selbstbewusstsein des einzelnen Arbeiters und das der arbeitenden Klasse an und für sich, auszubilden. Hierbei ging es um die Erkämpfung von sozialen und Arbeitsrechten, die die gegebene Ausprägung des Kapitalismus kontingent setzten. Andererseits war der Kapitalismus eine Struktur, die allein durch die sozialistische Revolution unter der Führung des Proletariats überwunden und durch eine neue, auf Gemeinschaftseigentum beruhende Gesellschaft abgelöst werden konnte. Durch Klassenkämpfe um soziale Rechte im Kapitalismus konnte man die Entwicklung zum Sozialismus im günstigsten Fall beschleunigen, aber die sozialen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht grundlegend verändern. Die sozialistische Arbeiterbewegung und ihre revolutionäre Partei verfolgten ein aus den Gesetzmäßigkeiten des wissenschaftlichen Sozialismus abgeleitetes Ziel, das sich notwendig und unvermeidlich durchsetzen würde.

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Beide Ideologien, die katholische Soziallehre und die sozialistische Utopie, hatten beide eine zutiefst religiöse Dimension: Die katholische Soziallehre wollte durch die Realisation göttlicher und naturrechtlicher Gesetze bereits im Hier und Jetzt auf Erden einen Teil des göttlichen Reiches realisieren. Die sozialistische Arbeiterbewegung war zukunftsorientierter: Erst nach langen Kämpfen und intensivem Leiden kommt die Zeit der absoluten Befreiung des Menschen aus allen Abhängigkeiten und Unterdrückungen, ein sozialistisches Paradies auf Erden. Beide Ideologien formulierten grundlegende Prämissen, die die sozialpolitische Diskussion um die Jahrhundertwende, dann in der Weimarer Republik und zum Teil bis heute beeinflussen.

5.2.1. Die Katholische Sozialehre und Subsidiarität als „Baugesetz“ der Gesellschaft Die Texte der katholischen Soziallehre, vor allem ihre Sozialenzykliken, waren außerordentlich wichtige Texte für die Politik des Sozialen im 20. Jahrhundert. Sie haben nicht nur im Denken über die ‚soziale Frage‘ ihren Niederschlag gefunden, sondern auch in den institutionellen Ausprägungen vieler europäischer Wohlfahrtsstaaten, insbesondere aber des Deutschen. Er kann sicherlich als katholischer Wohlfahrtsstaat charakterisiert werden, lagen doch die zentralen politischen Entscheidungen in den Händen von Politikern des Zentrums bzw. in der Bundesrepublik in denen der CDU, die den katholischen Teil der Arbeiterbewegung repräsentierten und denen die katholische Soziallehre als Leitfaden bei der institutionellen Ausgestaltung diente. Die Sozialenzykliken wurden so zu „Baugesetzen der Gesellschaft“26 und der Begriff des ‚Gesetzes‘ verweist auf ein Spezifikum der katholischen Soziallehre. Die Sozialenzykliken berufen sich fast ausschließlich auf (von ihnen selbst formulierte!) Naturgesetze und weniger auf biblische Ausführungen bzw. religiös-christliche Grundsätze. Ihre sozialen Programmatiken werden von einer „Natur des Menschen“ abgeleitet und unterstellen deren Erkennbarkeit mittels der menschlichen Vernunft und für „alle Menschen guten Willens.“27 Noch drastischer: Die katholische Soziallehre bezieht sich auf die „ewig junge und unwandelbare Kirchenlehre“ und bezeichnet sich selbst als „katholische Gesellschaftswissenschaft.“28 Sie sitzt auf festen, nicht kontingenten Prämissen und Prinzipien auf, die sich in der sozialen Gesetzgebung von Staaten niederschlagen und als ‚unwandelbar‘ gelten sollen. Der erste Ausfluss dieser katholischen Gesellschaftswissenschaft war die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ aus dem Jahr 1891. Von Papst Leo XIII. verfasst richtete sie sich gegen den „Geist der Neuerungen.“ Auf politischem Gebiet richtete sie sich gegen die aufkommende Demokratie und die damit verbundene Pluralisierung und Politisierung vieler sozialer und ökonomischer Sachverhalte. Auf

5.2. Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung

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wirtschaftlichem Gebiet richtete sie sich gegen die Neuerungen des modernen Industriekapitalismus mit allen seinen negativen Auswirkungen. Ein längeres Zitat soll den ‚Geist‘ dieser ersten Sozialenzyklika verdeutlichen: „Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten. Dieses alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen. (…) In der Umwälzung des vorigen Jahrhunderts wurden die alten Genossenschaften der arbeitenden Klassen zerstört, keine neuen Einrichtungen traten zum Ersatz ein, das öffentliche und staatliche Leben entkleidete sich zudem mehr und mehr der christlichen Sitte und Anschauung, und so geschah es, daß die Arbeiter allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Konkurrenz isoliert und schutzlos überantwortet wurden. Ein gieriger Wucher kam hinzu, um das Übel zu vergrößern, und wenn auch die Kirche zum öfteren dem Wucher das Urteil gesprochen, fährt dennoch Habgier und Gewinnsucht fort, denselben unter einer andern Maske auszuüben. Produktion und Handel sind fast zum Monopol von wenigen geworden, und so konnten wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auflegen.“29

Der ‚Geist der Neuerung‘ schlug sich im politischen Bereich in zwei großen geistigen Strömungen nieder, dem Liberalismus und dem Sozialismus. Die katholische Kirche betrachtete sie nicht nur als ideologische Konkurrenten, sondern auch als politische Gegner, die man bekämpfen musste. Die ‚soziale Frage‘ war die Frage der damaligen Zeit und verschiedene Antworten konkurrierten um Anerkennung: vom Nachtwächterstaat des Liberalismus bis zur gewaltsam erkämpften Diktatur des Proletariats und – damit verbunden – der Abschaffung des Privateigentums. Und die katholische Kirche positionierte sich hier – in gewisser Weise zwischen beiden und als eine Art ‚Dritter Weg’ – mit ihrer eigenen Soziallehre. Neben der absoluten Anerkennung des Privateigentums stellte sie die Familie in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftslehre, die sie ebenfalls als bedroht ansah. Sie war – historisch betrachtet – vor dem Staat da und hat deshalb gesellschaftlichen Vorrang vor ihm. In der Familie realisiert die männliche Vorherrschaft die Erziehung der Kinder und damit die Grundlegung alles menschlichen Lebens. In ihr vollzieht sich die eigenverantwortliche Lebensgestaltung und ihr gebührt der absolute Vorrang, weil sie näher zur Natur steht als etwa Stände oder der Staat. Und in ihr realisiert sich die Herrschaft des christlichen Glaubens, der allein das moralische Fundament der modernen Gesellschaft bilden kann.

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5. Die Politik des Sozialen

Der Staat hat zwar einen beschränkten Wirkungskreis, vor allem was seine möglichen Eingriffe in die Familie und das Privateigentum betrifft, wobei letzteres den Schutz des Staates genießt. Aber in der ‚sozialen Frage‘ soll der Staat – im Gegensatz zu den liberalen Vorstellungen – eine Schutzfunktion gegenüber den Arbeitern ausüben. Die Lohnarbeit soll unter einer „besonderen Obhut“30 des Staates stehen, er soll im Zweifelsfall für einen gerechten Lohn sorgen. Die mit dem Industriekapitalismus verbundenen sozialen Risiken sollten nach der Vorstellung von Rerum Novarum vor allem durch ‚brüderliche Liebe‘, Barmherzigkeit und durch christlich motivierte Fürsorge gemildert werden. Der Staat sollte hier nicht in Erscheinung treten. Ansonsten sollten Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter, aber auch Organisationsformen gemeinsam mit den Arbeitgebern, eine finanzielle Kompensation des ausgefallenen Lohnes bei Eintritt von sozialen Risiken ermöglichen. Aber diese durften nur in der schlimmsten Not helfen, weil sonst die Selbsthilfekräfte unterminiert würden. In den Worten der Enzyklika: „Endlich können und müssen aber auch die Arbeitgeber und die Arbeiter selbst zu einer gedeihlichen Lösung der Frage durch Maßnahmen und Einrichtungen mitwirken, die den Notstand möglichst heben und die eine Klasse der andern näherbringen helfen. Hierher gehören Vereine zur gegenseitigen Unterstützung, private Veranstaltungen zur Hilfeleistung für den Arbeiter und seine Familie bei plötzlichem Unglück, in Krankheits- und Todesfällen, Einrichtungen zum Schutz für Kinder, jugendliche Personen oder auch Erwachsene. Den ersten Platz aber nehmen in dieser Hinsicht die Arbeitervereinigungen ein, unter deren Zweck einigermaßen alles andere Genannte fällt.“31

Aber bei aller materieller Hilfe und Selbsthilfe solle ein zentraler Sachverhalt nicht vergessen werden und dies formuliert Rerum Novarum unmissverständlich: „Die Religiosität der Mitglieder soll das wichtigste Ziel sein, und darum muß der christliche Glaube die ganze Organisation durchdringen. Andernfalls würde der Verein in Bälde sein ursprüngliches Gepräge einbüßen; er würde nicht viel besser sein als jene Bünde, die auf die Religion keine Rücksicht zu nehmen pflegen. Was nützt es aber dem Arbeiter, für seine irdische Wohlfahrt noch soviel Vorteile vom Verein zu gewinnen, wenn aus Mangel an geistiger Nahrung seine Seele in Gefahr kommt?“32

Während in Rerum Novarum bereits grundlegende Prinzipien der gesellschaftlichen Organisation angesprochen wurden, formulierte die 1931 veröffentlichte Sozialenzyklika „Quadrogesimo Anno“ von Papst Pius XI. eine Art katholische Gesellschaftstheorie. Sie konzentriert sich auf zwei große Bereiche, die „Zuständigkeitsreform und die Sittenbesserung.“33 Für die Zuständigkeitsreform formulierte sie erneut, aber anders akzentuierte „Baugesetze der Gesellschaft“34 und das wichtigste und hier zum ersten Mal ausformulierte ‚Baugesetz‘ ist die Subsidiarität. Es ist verblüffend einfach: Die Gemeinschaften höherer Ordnung dürfen den kleineren Gemeinschaften zwar Unterstützung gewähren, aber nur wenn diese sich nicht mehr selbst helfen können. Die kleinste und natürlichste Gemeinschaft ist die Familie, sie ist der Kern und

5.2. Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung

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die Basis allen gesellschaftlichen – die Enzyklika bevorzugt den Begriff des gemeinschaftlichen – Lebens. Die gemeinschaftliche Ordnung und die naturgesetzlichen Zuständigkeiten sind durch den liberalen und den individuellen Geist soweit zerstört worden, dass das gegliederte Leben „zerschlagen und nahezu getötet“ wurde.35 Drastische und dramatische Worte, die die ‚Heilung‘ durch die katholischen Prinzipien umso dringlicher macht. Das Subsidiaritätsprinzip wird nicht nur als grundlegendes Gestaltungsprinzip für die Politik des Sozialen betrachtet, sondern zugleich als übergreifendes Ordnungsprinzip der gesamten Gesellschaft. „Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinschaften geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muss doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz fest gehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu gutem Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach und Begriff nach subsidiär: sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“36

Diese Position richtete sich gegen die damals aufkommende nationalsozialistische Ideologie ebenso wie gegen sozialistische Gesellschaftsvorstellungen. Denn im Zentrum steht die Eigenverantwortung, die jedes Individuum sich selbst und allen anderen Individuen gegenüber, aber auch gegenüber allen Gemeinschaften oder staatlichen Institutionen, hat. Das bedeutet nur jene Art von Hilfe zu geben, „die den Menschen instandsetzt oder es ihm erleichtert, sich selbst zu helfen, oder die seine Selbsthilfe erfolgreicher macht; (…) noch so wohlgemeinte Maßnahmen, die den Menschen an der Selbsthilfe hindern, ihn davon abhalten oder den Erfolg seiner Selbsthilfe beeinträchtigen oder sie ihm verleiden, sind in Wahrheit keine Hilfe, sondern das Gegenteil davon, schädigen den Menschen.“37

Selbsthilfe, oft auch mit dem Begriff der Eigenverantwortung umschrieben, steht im Zentrum des subsidiären Denkens. Oft wird das Subsidiaritätsprinzip mithilfe des Bildes von konzentrischen Kreisen verdeutlicht. Im Zentrum steht das (eigenverantwortliche) Individuum bzw. die Familie. Danach kommen nachbarschaftliche Zusammenschlüsse, dann berufsständische Einrichtungen, die im Zweifelsfall sozialen Schutz bieten und erst zum Schluss staatlich garantierte soziale Rechte. Alle Aktionen stehen unter der Devise der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Insofern ist das Subsidiaritätsprinzip nicht nur ein religiös-moralisches Gebot, sondern strukturiert zugleich die institutionellen Zuständigkeiten und finanziellen Zuwendungen eines subsidiär gedachten Wohlfahrtsstaates. Die außerordentlich wichtige Rolle der freien Wohlfahrtsverbände im bundesdeutschen Wohlfahrts-

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5. Die Politik des Sozialen

staat hängt u. a. mit dem Subsidiaritätsprinzip zusammen, weil es diese Verbände als Ausdruck gesellschaftlicher Selbsttätigkeit begreift. Die ‚Sittenbesserung‘ spielt in beiden Enzykliken eine zentrale Rolle. Ohne „innerliche Erneuerung im christlichen Geist“38 sind alle Bemühungen für eine Neuordnung der Gesellschaft vergeblich. Bereits Rerum Novarum formuliert apodiktisch: „Was aber im Staate vor allem Glück und Friede verbürgt, das ist Ordnung, Zucht und Sitte, ein wohlgeordnetes Familienleben, Heilighaltung von Religion und Recht, mäßige Auflage und gleiche Verteilung der Lasten, Betriebsamkeit in Gewerbe und Handel, günstiger Stand des Ackerbaues und anderes ähnliche. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt und gehandhabt werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des Staates.“39

Quadragesimo Anno hält in genau dieser Tradition noch schärfer fest, dass die „Wurzel allen Übels“ die „Sorge um die vergänglichen Güter“ ist. Dies führt dazu, dass die Menschen auf die „Nichtigkeiten diesseitigen Lebens starren“, aber ihre „Blicke (…) nicht himmelwärts richten.“40 Und an anderer Stelle werden die „ungeordnete Begierlichkeit in der Menschenbrust“ oder die „ungeordneten Triebe“ gegeißelt; und an wieder anderer Stelle die „allgemeine Erschlaffung gläubigchristlichen Sinnes“ und dass der „Hände Arbeit“, die von Gott nach dem Sündenfall für die Menschen leibliche und seelische Wohlfahrt bringen sollte, nun zur „Quelle sittlicher Verderbnis“ geworden ist.41 Diese Liste ließe sich noch weiter führen, aber der Tenor ist deutlich: Die alles überformende Aufgabe ist die Rückkehr zum christlichen Glauben, der sowohl die Arbeitermassen als auch das Kapital zu gedeihlicher Zusammenarbeit bringt, die Klassenkonflikte der damaligen Zeit abschwächt bzw. überwindet und alle Kräfte der Gesellschaft am Gemeinwohl orientiert. Dies würde sich einstellen, wenn sich das Subsidiaritätsprinzip als ‚Baugesetz der Gesellschaft‘ samt der damit verbundenen religiösen Erneuerung durchsetzt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das Subsidiaritätsprinzip eine ‚deutsche‘ Erfindung ist. Der Jurist Gustav Gundlach und der Theologe Oswald von Nell-Breuning waren die Verfasser von Quadragesimo Anno, die vermutlich die einflussreichste aller Sozialenzykliken geworden ist. Dieses Prinzip liegt – wenn auch teilweise modifiziert – dem deutschen Wohlfahrtsstaat ebenso zu Grunde wie anderen konservativen Wohlfahrtsstaaten in Europa.42

5.2.2. Der Primat der sozialistischen Revolution: Die historische Notwendigkeit des Sozialismus und die Gesetzmäßigkeit der Geschichte Eine andere Diskussion wurde um die Jahrhundertwende zentral. Sie hing eng mit der organisierten sozialistischen Arbeiterbewegung zusammen und spielte auch während der Zeit der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Sie drehte

5.2. Die Politisierung des Sozialen durch Entpolitisierung

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sich um die neuen Herausforderungen, die mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise in unmittelbaren Zusammenhang gebracht wurden. Konnte man diese reformieren und den Arbeitern politische Rechte und soziale Positionen einräumen, sie also im Sinne von Alfred Marshall zu „gentlemen“ machen? Oder musste man den Kapitalismus durch eine sozialistische Revolution überwinden, um der Ausbeutung endgültig ein Ende zu setzen und eine freie Gesellschaft zu gründen? „Sozialreform oder Revolution“ – der Titel der programmatischen Schrift von Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1899 beschreibt treffend die damals in der Arbeiterbewegung verhandelten Positionen. Dort kritisierte sie massiv die von Eduard Bernstein und anderen sozialistischen Theoretikern vertretene These, dass man den Kapitalismus und innerhalb desselben die Lage der Arbeiterklasse so weitgehend reformieren könne, dass die sozialistische Revolution überflüssig würde. Mit anderen Worten: Dass man den Kapitalismus so kontingent setzen könnte, dass er zu einem sozialen Kapitalismus wird, indem sich die Lage der arbeitenden Klasse fundamental verändert bzw. verbessert und die Arbeiter zu ‚gentlemen‘ werden. Die Position der revolutionären Sozialisten war klar gegen diese Prämisse gerichtet: Der Kapitalismus musste notwendig an seiner eigenen Widersprüchlichkeit zu Grunde gehen und seine Überwindung im Sozialismus war Ausdruck der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit im Marxschen Sinne. R. Luxemburg führt drei wichtige Punkte an, die den Untergang des Kapitalismus unvermeidlich machen: „Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermaßen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwickelung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zum unvermeidlichen Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.“43

Hier wird auf der Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus bestanden. Alle Politiken des Sozialen mögen zwar das Klassenbewusstsein der Arbeiter stärken, ihren Organisationsgrad erhöhen und ihre faktische Lebenslage verbessern, aber an der Grunddynamik der gesellschaftlichen Entwicklung würden sie nichts ändern. Im Gegenteil: Die sozialen Reformen und die politische Demokratie stärken die Differenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus und machen die Überwindung des ersteren immer unvermeidlicher. „Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft nähern sich der sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer höhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester und höher gemacht. Wodurch sie also niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d. h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.“44

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5. Die Politik des Sozialen

Auch hier kann man – ähnlich wie bei der katholischen Soziallehre – ‚ewig‘ gültige und unwandelbare Gesetze beobachten, die jedoch nicht von GOTT bzw. der (göttlichen) Natur gegeben sind, sondern vom wissenschaftlichen Marxismus. Die Entwicklung der menschlichen Geschichte unterliegt unhintergehbaren Notwendigkeiten und die Infragestellung bzw. das Kontigentsetzen dieser scheinbar vorgegebenen Entwicklung wird als Verrat an diesen Ideen und der sie tragenden Arbeiterklasse denunziert. Dagegen setzt der angebliche ‚Revisionismus‘ Eduard Bernsteins auf die Idee der prinzipiellen und weitgehenden Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus: „Ein annähernd gleichzeitiger völliger Zusammenbruch des gegenwärtigen Produktionssystems wird mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit, auf der anderen – bzw. zugleich damit – die Differenzierung der Industrie steigert.“45

Der Kapitalismus steigert seine ‚Anpassungsfähigkeit‘ – das ist die Grundidee der Kontingenz dieses Gesellschaftssystems und die Demokratie, die die ökonomischen Dynamiken dieser Gesellschaftsordnung durch verbindliche Entscheidungen erheblich modifizieren kann, ist der Motor dieser Kontingenz. Dies hat E. Bernstein in seiner Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ im Jahr 1899 systematisch durchdacht. Er beantwortet die Frage der damaligen Zeit, Sozialreform oder Revolution, fundamental anders als R. Luxemburg und begründet dies mit der Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, die allerdings eine starke Arbeiterbewegung voraussetzt. Armut und Unsicherheit der damaligen Zeit werden bereits in einem spezifischen Kontext thematisiert. Der Arbeiter hat – im Gegensatz zum ‚nur‘ Armen – eine klar umrissene soziale Position, die sich aus seiner Stellung im Produktionsprozess und daraus abgeleiteten Interessen ergibt. Anders als beim Armen „gibt dem Arbeiter das Eingeschlossensein in das Arbeitssystem eine Grundlage, die sich als tragfähig erweisen soll, um andere Ausschließungen als Diskriminierungen begreifen und bekämpfen zu können.“46 Aus dieser Position im kapitalistischen Produktionsprozess entsteht eine kollektive Identität, die E. Bernstein im Anschluss an Karl Marx als Klassenbewusstsein bezeichnet. Die Armen werden als faulende soziale Unterschicht, ohne Bewusstsein, ohne wichtige Rolle im historischen Prozess und ohne politische Bedeutung betrachtet. Die politische Bedeutung der Arbeiterbewegung dagegen beruht auf ihrem Klassenbewusstsein, das aber erst in der Demokratie seine eigentliche Bedeutung ausspielen kann. Die Demokratie lässt das Beharren auf der revolutionären Machtergreifung des Proletariats und der kompletten Umschichtung der ökonomischen und politischen Macht als Relikt einer autoritären Politik erscheinen. Stattdessen postuliert E. Bernstein: „Ich bin der Anschauung entgegengetreten, dass wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und dass die Sozialdemokratie ihre

5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland

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Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen bzw. von ihr abhängig machen soll.“ Die neue Aufgabe sei es, „die Arbeiterklasse politisch zu organisieren und zur Demokratie auszubilden und für alle Reformen im Staate zu kämpfen, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse zu heben und das Staatswesen im Sinne der Demokratie umzugestalten.“47

Hier deutet sich eine radikale Neukonzeption der Politik des Sozialen an. E. Bernstein will, dass man ‚für alle Reformen im Staat’ kämpfen und somit die ‚Lage der arbeitenden Klasse‘ – um einen berühmten Buchtitel von F. Engels zu paraphrasieren – durch politisch entschiedene Reformen laufend verbessern soll. Die Bedingungen des politischen Kampfes sind umso besser, je organisierter die Arbeiterbewegung und je demokratischer ein Staatswesen ist. Diese Politik des Sozialen will die soziale Lage und zugleich die demokratische Lage der Arbeiterklasse verbessern. Im politischen Kampf werden die zentralen Weichen gestellt, deren konkrete Ausprägungen jedoch kontingent sind. Aber in der demokratisch organisierten Gesellschaft kann die Arbeiterklasse durch politische Entscheidungen ihre soziale Situation verändern, ja verbessern und das Armuts- und Arbeiterproblem durch verbindliche Entscheidungen bearbeiten. Es geht um die Verwandlung von sozialen Gefahren in politisch definierte und politisch entschiedene soziale Risiken, die mit einem Rechtsanspruch auf bestimmte soziale Leistungen verbunden sind. Die Möglichkeit der politischen Gestaltbarkeit von (kapitalistisch organisierten) Gesellschaften war mit E. Bernstein zur leitenden Prämisse eines wichtigen Teils der Sozialdemokratie geworden. Diese Position war im gesamten 20. Jahrhundert dominant und löste die Vorstellung von der Unvermeidlichkeit und geschichtlichen Notwendigkeit der sozialistischen Revolution endgültig ab. Ende der 20er Jahre wurde die Dialektik von (sozialer) Reform und Revolution wieder aufgegriffen und in einem anderen, eher christlich inspirierten Kontext ausgearbeitet. Es war das Verdienst Eduard Heimanns, diese Frage erneut zu durchdenken (vgl. unten Kap. 5.4.1.).

5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland und Englands Antwort: Bismarck versus Beveridge Das 19. Jahrhundert hat seinen Schatten auch auf das folgende Jahrhundert geworfen. Hier soll der Schatten der Sozialversicherung betrachtet werden, den ihre Einführung unter Reichskanzler Bismarck auf das 20. Jahrhundert warf. Es geht mir an dieser Stelle nicht um die Details des politischen Entscheidungsprozesses oder der Nachzeichnung der ideengeschichtlichen Grundlagen, sondern um eine prinzipielle Frage: Welche Gefahrenkonstellation wurden von den herrschenden politischen Kräften als problematisch oder bedrohlich empfunden? Mit welchen

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5. Die Politik des Sozialen

institutionellen Antworten reagierten sie auf diese Problemlagen und mit welchem Selbstverständnis arbeitete die Sozialversicherung? Inwieweit war sie eine Versicherung, analog zu den Privatversicherungen, oder war sie etwas historisch Neues? Die Entstehung der Sozialversicherungen kann als Suchprozess mit offenem Ausgang beschrieben werden, in dem die politischen und gesellschaftlichen Akteure in zum Teil äußerst konflikthaften Prozessen nach politischen Antworten auf die sozialen Gefahren suchten, die durch den Industrialisierungsprozess ausgelöst wurden. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist jedoch nicht dieser Prozess48, sondern die Selbstinterpretation der letztlich gefundenen Optionen, die in Deutschland ihren institutionellen Niederschlag als Sozialversicherungen gefunden haben. Andere Länder, wie etwa Großbritannien, sind sehr unterschiedliche Wege gegangen und haben die sozialen Gefahren über sich am Staatsbürgerstatus orientierende Institutionen bearbeitet. Beide Wege, besser das Selbstverständnis dieser zwei Wege, will ich kurz nachzeichnen. Die Idee eines Selbstverständnisses von Institutionen ist in den Sozialwissenschaften umstritten.49 Aber jede Institution verfügt über eine Identität, die sie in komplizierten und konflikthaften Prozessen ausbildet. Sie kann als in sich konsistenter ‚Text‘ gelesen werden, der das institutionelle Selbstverständnis formuliert, das ihr von den sie konstituierenden politischen Kräfte zugeschrieben wurde. In einem Zusammenspiel von Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung entsteht eine institutionelle Identität, die immer aus Überhöhungen, Vereinfachungen, Mystifizierungen und begrifflichen Markierungen besteht. Sozialversicherung ist eine solche institutionelle Identität, deren komplexe und konflikthafte Identität im Folgenden rekonstruiert werden soll.

5.3.1. Identität und Struktur der Sozialversicherung Die Institutionen der Sozialversicherung reagierten auf soziale, ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen, die durch den Industrialisierungsprozess in Gang gesetzt wurden. Die wichtigsten waren sicherlich die Wanderungen in die Städte, die damit ausgelöste Urbanisierung, vor allem in den industriellen Gebieten, die zunehmende Industrialisierung wichtiger Produktionsbereiche, die Auflösung tradierter Familien- und Wertestrukturen, die Säkularisierung und schließlich die Entstehung und Politisierung der Massen. Zentral hierbei war die fundamentale Abhängigkeit größer werdender Teile der Bevölkerung von der lohnzentrierten Erwerbsarbeit. Die Löhne wurden von den Kapitalisten zu Beginn nicht nur willkürlich festgelegt, sondern entfielen vollständig beim Eintritt sozialer Risiken (wie etwa bei Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit etc.), auch wenn es rudimentäre, aber meist willkürliche Sicherungen in Form der Armenfürsorge

5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland

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gab. Auf diese Herausforderungen konnte man mittels verschiedener Optionen reagieren, in Deutschland setzte sich – im Gegensatz etwa zur Staatsbürgerversorgung in Großbritannien – die Idee der Sozialversicherung durch. Politische Motive haben ebenfalls eine große Rolle gespielt, man wollte Gewerkschaften und Sozialdemokratie schwächen und die Legitimität des monarchischen Obrigkeitsstaates erhöhen. Die Sozialversicherungen sollten die Arbeiter an die Monarchie und die herrschenden Klassen binden. Zu Beginn der Industrialisierung war der Arbeitsunfall die am häufigsten auftretende Gefahr, die mit dem Ausfall des Arbeitseinkommens einherging. Zahl und Schwere der Unfälle nahmen wegen des mangelnden Arbeitsschutzes, der Unerfahrenheit aller mit den neuen Produktionstechniken, vor allem der Dampfmaschine, zu. Grubenunglücke, Bergwerkseinbrüche, explodierende Maschinen etc. waren ebenso an der Tagesordnung wie Entlassungen wegen Absatzeinbrüchen. Zunächst reagierte die Politik des Deutschen Reiches mit dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871, das sich zur Regulierung dieser Gefahren bald als untauglich erwies.50 Deren neue Qualität und ihre neue Deutung durch die politischen Kräfte machten den Arbeitsunfall zu einem vordringlich zu bearbeitendem Problem. Im Unfallversicherungsgesetz von 1884 wurde die Idee der Verantwortung des Staates für arbeitsbedingt eingetretene Gefahren bzw. Unglücke durch soziale Rechte institutionalisiert. Das individuelle Verschulden spielte nun keine Rolle mehr und zum ersten Mal in der deutschen Sozialgeschichte wurde eine Gefahr in ein soziales Risiko umgewandelt, das mit einen Rechtsanspruch auf finanzielle Kompensation verbunden wurde. Der Anspruch auf eine soziale Leistung wurde kausal mit der Erwerbsarbeit verbunden, bei der der Unfall eingetreten sein musste. Aber der finanzielle Ausgleich sollte von den Arbeitgebern alleine getragen werden. Mit dem Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz von 1889 wurde diese Idee weiter gefasst und auf Sachverhalte übertragen, die nicht mehr unmittelbar mit der Erwerbsarbeit verknüpft wurden. Auf eine unmittelbare und v. a. rechtsverwertbare Ursache der Erwerbsminderung bzw. -unfähigkeit kam es nun nicht mehr an, obwohl in der damaligen Zeit der Zusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und Erwerbsminderung deutlich und sichtbar war. Und im Gegensatz zur Invalidität war Alter ein Anspruch auslösender sozialer Tatbestand, der mit unmittelbarer Erwerbsarbeit sachlich nichts mehr zu tun hatte. Stattdessen wurde eine pauschale Erwerbsunfähigkeit unterstellt – unabhängig vom jeweiligen Einzelfall. Bei der Gesundheitsversicherung war die politische Dimension noch deutlicher: Krankheit war infektionell und motivational ansteckend.51 Deshalb musste eine dritte Instanz, konkret die Ärzteschaft, diesen Zustand diagnostizieren, der dann durch soziale Dienstleistungen und materielle Kompensationen (wie Krankengeld) bearbeitet wurde.

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5. Die Politik des Sozialen

Bei der Arbeitslosenversicherung, die erst 1927 eingeführt wurde, wird die Lösung von der Versicherungsidee noch deutlicher. Arbeitslosigkeit war kein kalkulierbares Risiko, wie es für die tradierten und auf dem Markt operierenden Versicherungen konstitutiv ist. Zudem stand damals die Arbeitsvermittlung im Zentrum der Tätigkeit und erst nachrangig ging es um die finanzielle Unterstützung der Arbeitslosen. Auch hier standen – ähnlich wie bei der Krankenversicherung – soziale Dienstleistungen im Mittelpunkt und nicht die Gewährleistung beitragsbegründeter Leistungen. Alle Rechtsansprüche setzten eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit voraus, deren Umfang erneut politisch reguliert war. Mit den Sozialversicherungen der 1880er Jahre wurden privatrechtlich nicht ‚versicherbare‘ Gefahren sozialversichert in dem Sinne, als politisch entschiedene Tatbestände mit einem Anspruch auf Dienstleistungen oder finanzielle Kompensation verkoppelt wurden. Statt privatrechtlicher Vereinbarungen wie im normalen Versicherungsgeschäft war das soziale Recht öffentliches Recht. Bereits in der Begründung des UVG von 1884 hieß es: „(...) dass die Sicherstellung der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Folgen der Unfälle sich nicht als eine privatrechtliche Verbindlichkeit der Betriebsunternehmer zum Schadensersatz, sondern als eine öffentlich-rechtliche Fürsorgepflicht darstellt.“52

Diese Sichtweise hatte weitreichende Folgen. Sieht man einmal von dem Begriff der ‚Fürsorge‘ ab, so wird hier klar formuliert, dass Arbeiter und Staat eine Rechtsbeziehung eingehen, die sich im Bereich des öffentlichen Rechts realisiert. Die Kosten konnten nach Gesichtspunkten des öffentlichen Rechts verteilt werden und dies bedeutete unmissverständlich, dass politisch entschieden wird, wer wie an der Finanzierung beteiligt ist. Die Arbeitgeber mussten die Kosten dieser ‚Versicherung‘ alleine tragen, während die Arbeiter beitragsfrei Leistungen erhielten. Selbst ein Reichszuschuss, der ursprünglich vorgesehen war, wurde nicht realisiert. Die Leistungen der Unfallversicherung waren nicht – wie es ein privatrechtliches Verhältnis vorsehen müsste – ein äquivalenter Schadensersatz für den durch Prämien abgedeckten Schaden. Vielmehr formulierte der damalige Gesetzentwurf, dass die soziale Leistung als „Anspruch auf eine ‚billig zu bemessende Versorgung‘“ zu verstehen sei. Ein Kommentator des Gesetzes schrieb, der „Schadensersatz ist in keinem Falle die Deckung des wirklich erlittenen Unfallschadens, sondern eine nach gesetzlichen Merkmalen fixierte Leistung.“53 Unverkennbar ist die immer wieder vorgenommene Betonung der politischen Gestaltbarkeit der sozialen Leistungen oder – wie es damals hieß – des Schadensersatzes durch die Sozialversicherungen. Umgekehrt war der Beitrag kein der Privatversicherung ähnlicher Beitrag, sondern eine vom Staat einseitig erzwungene Maßnahme. Der Abschluss eines Arbeitsvertrages hatte unvermeidlich den Versicherungs- und Beitragszwang zur Folge, der aber umgekehrt den Zugang zu staatlichen Sozialleistungen eröffnete.

5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland

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Der Beitrag selbst war einheitlich, weder differenzierte er zwischen Männern und Frauen noch zwischen bestimmten Risikogruppen und auch nicht nach Beitrittsalter – alles konstitutiv für Privatversicherungen. Die enge Verbindung zwischen Arbeitsvertrag und sozialen Leistungen machte die Sozialversicherungen zur Versicherung der Arbeiter, später dann der Angestellten und anderer Berufsgruppen; aber immer war Erwerbsarbeit der Ausgangspunkt aller Regelungen und nicht der Staatsbürgerstatus. Der rechtlich normierte Zugang zu Sozialleistungen konstituierte einen Status, der durch öffentlich-rechtliche Rechtssetzung in Gang gesetzt wurde und spezifische Ansprüche gegenüber dem Staat bzw. den Institutionen der Sozialversicherung begründete. Der einzige Grund für staatlich gewährte Leistungen war der politische entschiedene und dann rechtlich fixierte Tatbestand, allein er löste die zugesicherte Sozialleistung in Form subjektiv-öffentlicher Rechte aus. Bei Eintritt politisch normierter Tatbestände, z. B. das Erreichen einer Altersgrenze oder der Eintritt der Arbeitslosigkeit, wird eine staatliche Leistung ausgelöst. Als Kommentar von einem der führenden Staatsrechtler und in der Sprache der damaligen Zeit formuliert: „Das Reich erkennt die Fürsorge für die erwerbsunfähigen und altersschwachen Arbeiter als eine auf politischen Gründen beruhende, selbständige Staatsaufgabe, nicht als Gegenleistung für die eingezahlten Beiträge an und erhebt diese nur, um diese Aufgabe ohne unerträgliche Überbürdung anderer Berufsstände erfüllen zu können.“54

Der Begriff der Fürsorge war der damaligen Zeit durchaus angemessen, denn die politischen Akteure des monarchischen Obrigkeitsstaates konnten autonom sowohl über die Finanzierungs- als auch die Leistungsmodi entscheiden. Aus dem Fürsorgerecht wird in demokratischen Rechtsstaaten die Selbstbestimmung der Gesellschaft über Qualität und Umfang des politisch gewollten sozialen Risikoausgleichs.

5.3.2. Identität und Struktur des Staatsbürgerstatus In Großbritannien vollzog sich der politische Risikoausgleich in anderen Bahnen. Im Gegensatz zur Bismarckschen Konstruktion setzte man dort auf am Staatsbürgerstatus anknüpfende Formen der sozialen Sicherung. Konstitutiv hierfür sind meist steuerfinanzierte Leistungen, die aber – wie im Beveridge-Plan vorgesehen – auch über Beiträge finanziert werden können; dann ein öffentlicher Gesundheitsdienst, eine Anspruchsberechtigung für alle Staatsbürger und oft eine einheitliche und einen Mindeststandard sichernde Einkommensposition. Meist konzentrieren sich diese Formen des politischen Risikoausgleichs auf die Vermeidung bzw. Beseitigung von Armut.

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5. Die Politik des Sozialen

Im Beveridge-Plan von 1942 wurde die Idee des staatsbürgerorientierten politischen Risikoausgleich am radikalsten formuliert und zu gewissen Teilen durch die Labour Party umgesetzt, die 1945 an die Macht gelangte. Dieser Plan war der systematische Gegentext zum Sozialversicherungs-Kon-Text und formulierte Ideen, die auf die sozialpolitische Nachkriegsdiskussion in ganz Europa einen großen Einfluss ausübten. Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte eine deutsche Delegation London, um das dortige Wohlfahrtssystem zu studieren. Aber selbst bei den sozialdemokratischen Vertretern der Besuchergruppe war die deutsche Tradition wichtiger und die Ideen Lord Beveridges blieben im Nachkriegsdeutschland ohne Bedeutung. Wahrscheinlich hat noch nie ein sozialpolitischer Plan eine so große Bedeutung für die mediale Öffentlichkeit und die Gesamtbevölkerung eines Landes gehabt wie der Beveridge-Plan. Im ersten Monat nach seinem Erscheinen waren bereits 100.000 Exemplare verkauft, für die Armee wurde sogar eine spezielle Billigausgabe gedruckt.55 Alle politischen Parteien setzten sich mit ihm auseinander und selbst in der konservativen Partei fand er große Unterstützung. Was waren nun seine grundlegenden Ideen und welche Rolle sollte die Politik spielen? Im Gegensatz zur Arbeiterversicherung unter Bismarck sollte nach Sir William Beveridges Vorstellungen ein moderner Wohlfahrtsstaat im Wesentlichen durch drei Sachverhalte gekennzeichnet sein, die zu den leitenden Grundsätzen seines Berichts gehörten.56 Zum einen sollten bei der Konzeption wie der Realisation seines Planes die Sonderinteressen, die bei der Entstehung des Systems der sozialen Sicherung wichtig waren, in der neuen Sozialpolitik keine große Rolle mehr spielen. Die neue Sicherung sollte alle Staatsbürger mit möglichst gleichen Rechten und Pflichten ausstatten und die bisher ausdifferenzierten sozialen Einrichtungen zu einer Gesamtorganisation zusammen fassen. Der einheitliche und staatlich organisierte Gesundheitsdienst war am bedeutsamsten. Dann sollte die Sozialversicherung „lediglich als Teil einer umfassenden Politik des sozialen Fortschritts behandelt werden“, wobei die Beseitigung von Not neben Krankheit, Unwissenheit, Schmutz und Müßiggang das am leichtesten zu beseitigende der fünf Grundübel sein sollte. Drittens sollte der Staat Sicherheit für die Leistungen und Beiträge bieten, aber die Eigenverantwortlichkeit der Individuen nicht ersticken. Auf der Basis einer im ganzen Land geltenden Mindestversorgung sollte es dem Einzelnen überlassen bleiben und ihn anspornen, durch „freiwillige Handlungen sich und seiner Familie mehr als dieses Minimum zu sichern.“57 Nach seinem Plan sollten vorab geleistete Beiträge die sozialen Leistungen begründen, die den Lebensunterhalt absichern und dies auf „Grund eines Anspruchs und ohne Bedürftigkeitsprüfung, so dass die einzelnen frei darauf aufbauen können.“58 Die Geldleistungen sollten nicht nur als unbedingter Rechtsanspruch und ohne Bedürftigkeitsprüfung, sondern „so lange geleistet werden wie das Bedürfnis anhält.“59 Die Möglichkeit des unbefristeten Bezugs von sozialen

5.3. Die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland

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Leistungen war einer der umstrittensten Punkte in seinem Plan, der von der Regierung bei seiner Umsetzung auch nicht übernommen wurde. Arbeitslosengeld konnte nur 12 Monate bezogen werden. Diese Grundsätze gehören zum Wesen der Beveridgeschen Idee einer Sozialversicherung, die sich aus Beiträgen der Versicherten, der Arbeitgeber und des Staates finanziert und in einem Staatsfond gesammelt werden. Die Beitragsfinanzierung sei ein Wunsch der Bevölkerung, der sich in der wachsenden Popularität der Sozialversicherung und einer steigenden Ablehnung der Bedürftigkeitsprüfung manifestiert.60 Die Beitragsfinanzierung war der wichtigste Grund, warum das einheitliche und staatlich organisierte Sicherungssystem als Sozialversicherung bezeichnet wurde. Zugleich unterscheidet sie sich von der privaten Versicherung grundlegend. Da die Macht des Staates eine Zwangsversicherung für alle Staatsbürger realisieren kann, muss der Beitrag nicht nach Risiken differenziert werden. Auch kann die soziale Sicherung in Umlage finanziert werden, weil aufeinanderfolgende Generationen erneut durch staatliche Macht zu Beiträgen oder Steuern gezwungen und so eine Kapitalanhäufung wie bei Privatversicherungen vermieden werden kann. Dennoch war Beveridge gegen das Umlageverfahren. Auch könnte der Staat risikoäquivalente Beiträge erheben, aber er kann sich „aus Gründen der Politik“ auch anders entscheiden.61 Die Staatsversicherung – so fasst er zusammen – ist „ein neuer Typus menschlicher Einrichtungen, welcher sich von den früheren Methoden, Elend zu verhüten oder zu lindern, und von der freiwilligen Versicherung unterscheidet. Die Bezeichnung ‚Sozialversicherung‘ zur Charakterisierung dieser Einrichtung besagt sowohl, dass sie zwangsmäßig ist, als auch, dass die Menschen mit ihren Kameraden zusammenstehen.“62

Auch wenn die Sprache etwas altertümlich ist, Sir William Beveridge macht sehr klar, dass es sich bei seinem Konzept der Sozialversicherung um etwas grundlegend Neues handelt und dass dieses Neue eine Kreation der Politik ist. Die konkrete Ausgestaltung ist erneut ‚politisch‘ in dem Sinne, als sich die Vorstellungen eines notwendigen Mindesteinkommens im Zeitverlauf ändern und analoges gilt für den Beitragssatz. Zudem kann der Staat jederzeit durch sein Steuermonopol zur Finanzierung beitragen. Die Sozialversicherung im Beveridgeschen Sinne ist als genuin politische Veranstaltung konzipiert und alle zentralen Parameter müssen durch die Politik entschieden werden. Die Geldleistungen sind – wie bereits erwähnt – unbegrenzt gedacht, was bei Alter und Invalidität kein Problem ist. Bei Arbeitslosigkeit sieht der Report jedoch gewisse Probleme. Zwar wird festgestellt, dass Menschen, die an Arbeit gewöhnt sind, lieber arbeiten als arbeitslos zu sein. Dennoch wird formuliert: „Die Gefahr einer Vorsehung von Leistungen, die sowohl der Höhe nach hinreichend als auch unbeschränkt in ihrer Dauer sind, liegt darin, dass Menschen als Geschöpfe, die sich den Umständen anpassen, sich daran gewöhnen können. (...) Die Gegenleistung dazu,

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5. Die Politik des Sozialen dass es der Staat auf sich nimmt, für unvermeidliche Verdiensteinbrüche ohne Rücksicht auf die Dauer angemessene Entschädigungsleistungen zu gewährleisten, ist die dem Bürger auferlegte Verpflichtung, alle vernünftigen Arbeitsgelegenheiten zu suchen und anzunehmen, in einem Maße, welches darauf abzielt, ihn vor der Gewöhnung an den Müßiggang zu bewahren (...).“63

Es ist unverkennbar, dass auch in diesem sehr generösen Konzept eine gegenseitige Verpflichtung eingebaut ist, die den Empfängern des im Prinzip unbegrenzten Arbeitslosengeldes bestimmte Pflichten zur Wiederaufnahme der Arbeit auferlegt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt soll die Teilnahme an einem „Arbeitslager oder einer Umschulungsanstalt“ sogar unvermeidlich werden.64 Zudem löst der Plan die bisherige Trennung zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik auf und formuliert eine gesamtgesellschaftliche Perspektive. Vollbeschäftigung war das zentrale und übergeordnete Ziel. Sie sollte vor allem durch eine staatliche Verteilung des Arbeitskräftepotentials erzielt werden, aber auch staatliche Investitionen und Investitionskontrollen und die Verstaatlichung von bestimmten Industriezweigen waren wichtige Bestandteile des Programms. Der Beveridge-Plan war der erste und systematische Entwurf eines sozialpolitischen Gesamtkonzeptes, dem die Staatsbürgeridee zu Grunde lag und konsequent beim institutionellen Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates umgesetzt wurde. Alle sozialen Rechte waren unbedingte Rechtsansprüche, die sich aus dem Staatsbürgerstatus ergaben. Die Beitragsfinanzierung war nicht der Grund für einen unbedingten Rechtanspruch, sondern eher eine pädagogische Veranstaltung. Ohne Beiträge wäre der Staat in den Augen der Bürger „a source of free gifts. A contributory scheme sets up the State as a comprehensive organism to which the individual belongs and in which he, under compulsion if need to, play his part.”65 Gerade diese Verbindung von Staat und Individuum zu einer Art Organismus war Sir William Beveridge wichtig. Sein Konzept der sozialen Sicherheit war ein Baustein zu einem umfassenderen Programm, das fünf große Übel der damaligen Zeit bekämpfen sollte. Sickness wirkungsvoll durch das nationale Gesundheitssystem, Idleness durch verschiedenste Beschäftigungsprogramme und staatliche Interventionen, Squalor durch bessere Wohnungsplanung in den Städten und auf dem Land und durch den Bau von mehr und besserer Wohnungen und Ignorance durch mehr und bessere Schulen. Wants schließlich sollten vor allem durch die Maßnahmenpalette des Beveridge-Planes bekämpft werden, auch wenn dieser Auswirkungen auf die anderen vier „evils“ hatte. Sir William Beveridge hatte bereits im Jahr 1907 Deutschland besucht und wollte so die Grundstrukturen des Bismarckschen Wohlfahrtsstaates kennenlernen. Aber die berufsständische Gliederung und die Konstruktion der Sozialversicherung als Arbeiterversicherung überzeugten ihn nicht. Deutschland ist in der Tat einen ganz anderen Weg gegangen. Selbst die beiden Theoretiker, die mit der

5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus

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Sozialpolitik am weitesten gingen und mit ihr sogar friedlich den Sozialismus erkämpfen wollten, waren immer arbeits-, aber nicht staatsbürgerzentriert.

5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus In der Weimarer Republik intensivierte sich die sozialpolitische Diskussion, wobei ich zwei Entwicklungen heraus greife. Zunächst die Vorstellung, dass man mittels der Sozialpolitik den Kapitalismus überwinden und zum Sozialismus vorwärts kommen kann. Diese Position wurde bereits um die Jahrhundertwende von E. Bernstein vertreten (siehe oben Kap. 5.2.), aber erfuhr nun eine bisher nicht dagewesene theoretische Fundierung und sozialpolitische Präzisierung. Eduard Heimanns „Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik“ aus dem Jahr 1929 ist hier der Schüsseltext. Er konzentriert sich vor allem auf die Bedeutung der staatlichen Gesetzgebung. Parallel dazu verlief eine Diskussion, die sich mit einer Politik des Sozialen beschäftigte, die in der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entstand und das Arbeitsrecht hervorbrachte. Der wichtigste theoretische Kopf war hier ohne Frage Hugo Sinzheimer, der sich mit diesem Recht am intensivsten auseinander gesetzt hat. Es entsteht durch nicht-staatliche Gesetzgebung, die er als Selbstgesetzgebung der wirtschaftlichen Kräfte bezeichnet. Dies war historisch neu und kann in meinem Kontext nicht unerwähnt bleiben.

5.4.1. Die Politik des Sozialen und der Sozialismus: Eduard Heimanns Theorie der Sozialpolitik Selten gab es eine Schrift, die so einseitig gelesen, interpretiert oder aus politischen Gründen so falsch rezipiert wurde. Sowohl zum Zeitpunkt ihrer Entstehung als auch später bei ihrer (spärlichen) Rezeption wurde sie instrumentell ‚geplündert‘ und ihre grundlegenden Ideen ohne Respekt vor dem Autor und seinem Leben ignoriert.66 Es handelt sich um Eduard Heimanns Schrift „Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik“, die 1929 erschien und ein Weckruf an die sozialistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung sein sollte, sich politisch-programmatisch neu aufzustellen. Die tiefe Krise der Weimarer Republik war unübersehbar und die aufkommende faschistische Bewegung ebenfalls. 1930 gründete er – zusammen mit Paul Tillich, Fritz Klatt und August Rathmann – die Zeitschrift „Die Neuen Blätter für den Sozialismus“, in denen sozialistische Ideen vertreten wurden, die stark auf christlichen Prämissen beruhten. Diesen Zusammenhang hat E. Heimann 1927 in einem kleinen, aber wegweisenden Artikel zusammengefasst.67 In seinem für die Weimarer Zeit zentralen Sozialpolitik-

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5. Die Politik des Sozialen

buch sind diese religiösen Prämissen unübersehbar formuliert, aber wurden von der Rezeption weitgehend ignoriert. Da E. Heimann Jude war, musste er seine Hamburger Professur aufgeben und 1933 mit seiner Familie ins Exil in die USA gehen. An der New School for Social Research in New York fand er eine Anstellung und unterrichtete und forschte dort bis 1958 als Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe. Im Exil ließ er sich christlich taufen und kehrte 1963 nach Hamburg zurück, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1967 lebte und als Emeritus an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät lehrte.68 Über die näheren privaten und gesellschaftlichen Umstände, die ihn gerade dieses und kein anderes Buch schreiben ließen, finden sich in den wenigen biographischen Arbeiten keine Hinweise. Aber das Buch (und auch andere während dieses Zeitraums verfassten Schriften) macht eine zweifache Abgrenzung deutlich: Einmal richtet es sich gegen den gegenwärtigen Kapitalismus und die durch ihn bedingte ökonomische und soziale Krise. Zum anderen ist es eine Kritik des dogmatischen Marxismus, der den Kampf der Arbeiterbewegung auf rein ökonomische Dimensionen beschränkt und sich den Weg zum Sozialismus als einmaligen Akt vorstellt, als Akt der gewaltsamen Revolution. Mit dieser Schrift will er auch in die Konflikte in der Weimarer Republik eingreifen und als Mitglied der SPD an deren offizieller Programmatik und Klassenkampfpolitik Kritik üben. Er setzt dem ein grundlegend anderes Konzept entgegen, das den Kampf um den Sozialismus als einen viel breiteren, als einen Kampf um die Realisation grundlegender Werte und Sinnstiftungen begreift. Er reicht über das rein ökonomische weit hinaus und will einen neuen Menschen kreieren, der sich selbst befreit und seinem Leben einen eigenen Sinn gibt. Wie kann man die Grundideen dieser Schrift zusammenfassen? Es ist eine christlich fundierte Kapitalismuskritik, die dem Kapitalismus die Verletzung grundlegender religiöser Prämissen vorwirft, weil er den Arbeiter auf eine auszubeutende Arbeitskraft reduziert. Die Arbeiterklasse wehrt sich dagegen und setzt viele soziale Reformen durch, die sowohl durch Tarifpolitik als auch durch die Verfahren der Demokratie realisiert werden. Die Kapitalistenklasse fühlt sich durch diese Kämpfe bedroht und erkennt die historische Notwendigkeit, viele der Forderungen der sozialen (Arbeiter-)Bewegung zu akzeptieren und so zu besänftigen. So wird Schritt für Schritt und mittels der Sozialpolitik das Gegenprinzip des Kapitalismus in ihn selbst eingebaut, das, je mehr es ausgebaut und institutionell gefestigt wird, den Kapitalismus an seine Grenzen führt, ja letztlich über ihn hinausführt. Die politische Demokratie, innerhalb derer sich dieser Kampf abspielt, geht von einer „vollkommenen Elastizität der Sozialgestaltung“69 aus, deren Intensität und Richtung von den politischen Kräften und deren Kräfteverhältnis bestimmt wird. ‚Vollkommene Elastizität‘ – diese etwas seltsame Formulierung legt den Schluss nahe, dass durch die Demokratie alle zentralen Merkmale und Grundlagen des Kapitalismus verändert, ja überwunden werden können.

5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus

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Aber beginnen will ich mit der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus, die E. Heimann so stark betont. Die soziale Theorie des Kapitalismus geht von der Idee des „ökonomisch-sozialen Liberalismus“70 als geschichtlicher Gegebenheit aus und verfolgt die Dynamiken, die der Kapitalismus in Gang setzt. Gerade seine Abweichung von dieser ursprünglich fortschrittlichen Idee bringt die sozialen Konflikte hervor, die mittels der Sozialpolitik ausgetragen und politisch entschieden werden. Die liberale Freiheitsidee ist zugleich auch immer Gemeinschaftsidee. Denn weil „Gott das freie Zusammenwirken aller Glieder zur Harmonie ordnet, darf die Freiheit zur Mitwirkung in dem umfassenden Plane keinem Gliede vorenthalten bleiben. (…) Die Freiheit aller ist dann die Bedingung der allgemeinen Harmonie.“71 Im „göttlichen Plan des liberalen Weltbildes (erscheinen) die Freiheit der Individuen und die Harmonie des Zusammenlebens als mit- und durcheinander gesetzt, als die beiden Pole, um deren Achse das Leben kreist.“72

Die religiöse Dimension ist hier ebenso unübersehbar wie der Gottesbezug. Er geht noch einen Schritt weiter: Die theoretischen Grundsätze des Liberalismus decken die „Harmonie der Schöpfung“ auf, weil der Mensch vernunftbegabt ist und das Gesetz der Eigenbewegung der Gesellschaft erkennen kann. Und er schlussfolgert dramatisch: „Die ökonomische Theorie dient dem Beweis des Glaubenssatzes von der Harmonie, sie ist eine Art von Gottesbeweis.“73 Der Kapitalismus und seine liberal-sozialen Grundprämissen bilden eine perfekte Theorie, die auch in der gesellschaftlichen Praxis die Menschen aus ihrer vorangegangenen Abhängigkeit, dem Feudalsystem und anderen Abhängigkeiten, befreit und ihnen Rechte und ökonomische Positionen einräumt, die sie vorher nicht hatten. Sie werden nun frei und koordinieren sich über den Markt, der sie wiederum zur Gemeinschaft zusammenführt, zur bereits erwähnten Harmonie im Sinne der Übereinstimmung von Produktion und Bedarf. Es entsteht eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Kapital und Arbeit und jeder ist auf den anderen angewiesen. Das Kapital jedoch – jetzt tauchen marxistische Prämissen auf – enthält dem Arbeiter sein „Lebensrecht“74 vor, weil er ihn „zum Rädchen im Betriebe, ja zum Gegenstand der Machtausübung, des Machtgenusses, entwürdigt; weil (er) den Anspruch auf Geborgenheit in der Gemeinschaft, auf Würde in der Arbeit und ihrer äußeren Ausstattung missachtet, weil (er) den Ungebildeten die ‚höhere Bildung‘ versagt, die allein nach der intellektualistischen Meinung der Zeit das Leben sinnvoll macht.“75

Auch hier ist der religiöse Unterton unübersehbar, insbesondere wenn er hinzufügt, dass auch dieser ‚böse‘ oder ‚sündig‘ gewordene Teil, die „Ordnung des Unrechts“76, ein kräftiges und stürmisches Leben ebenso lebt wie das ‚gute‘, das freiheitlich-gemeinschaftliche. Da der Kapitalismus die Fesseln der Feudalherrschaft gesprengt und eine „märchenhafte Entfaltung der persönlichen Kräfte und sachlichen Leistungen“77 ermöglicht, ist auch er eine Schöpfung Gottes. Aber er ist

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5. Die Politik des Sozialen

jetzt gefallen, er ist der gefallene Engel Luzifer, der ebenfalls durch Gottes Hand geschaffen wurde. Luzifer hat sich „frevelhaft gegen seinen Herrn und Schöpfer“ erhoben, seine Lebenskraft gegen seinen Ursprung gewendet und so die große Harmonie zerstört. Und so wie er hat sich der Kapitalismus absolut gesetzt, endgültig gemacht, keine Wandlung akzeptiert und eine „proletarische Knechtschaft“ erzwungen.78 Der Sozialismus ist die Gegenbewegung gegen diese Kraft, der Kampf gegen die „lebensfeindlichen Mächte, der Kampf um Lebenserneuerung und Sinnerfüllung.“79 Wie unterschiedlich aber die Definition des Sozialismus gegenüber den damaligen sozialdemokratischen und sozialistischen Positionen ist, wird besonders deutlich, wenn E. Heimann schreibt, dass „wir alle den Sozialismus nicht erdacht und nicht errechnet haben, sondern dass wir zu Sozialisten geworden sind durch das Schicksal der Zeit, um ihren göttlichen Sinn zu erfüllen.“80

Die Sozialpolitik bekommt in einem solchen Kontext einen religiösen Sinn. Die Arbeit im Kapitalismus ist nicht nur entfremdend, sie ist zugleich unterdrückerisch und ausbeuterisch. Der Mensch ist dem Herrn, hier dem Kapitalisten und seinen Befehlen, unterworfen. Damit wird die Arbeit zu einem beliebigen Gebrauchsgegenstand für das Kapital und der Mensch wird zur Ware erniedrigt, sowohl auf dem Markt als auch im Betrieb. Gegen diese Entwürdigung der Arbeit und des Trägers der Arbeit erhebt sich die Arbeiterbewegung. Sie ist der dialektische Widerspruch zum Kapitalismus im Kapitalismus, in dem die Idee der Würde der Arbeit und der Wille zur Freiheit beheimatet sind. Der Wille, der in der Arbeiterschaft entsteht, ist nicht ein Interesse im üblichen Sinne, sondern etwas anderes. Er ist „elementar und existentiell, vormoralisch und vorrational; er ist der Lebensdrang in den geknechteten Menschen der kapitalistischen Arbeitswelt. Darum ist er auch im echten Sinne des Wortes geistig: unmittelbar aus der Tiefe des Lebens aufsteigend und neuartigen Lebenssinn verwirklichend, auf neuartige Weltgestaltung gerichtet. Er ist eine echte Idee: hineingeboren in die werdende Gestalt der Arbeiterbewegung und durch sie in die Welt geboren, ihre Kraft ausmachend und mit ihrer Kraft sich selbst durchsetzend.“81

Erneut sind die religiösen Konnotationen unüberhörbar: Das Geborenwerden von Ideen bzw. dem politischen Willen aus den Tiefen des Lebens und Parallelen zu der Geburt von Jesus Christus sind deutlich. Die Idee des Sozialismus ist den Arbeitern bzw. der Arbeiterbewegung eingeboren. Die Idee ist nicht rein gedanklich, sondern mehr: Sie ist das „innere Leben, die kämpfende und gestaltende Kraft der Menschen, in die sie hineingesenkt ist, und sie ringt sich mit ihnen und durch sie empor.“82 An anderer Stelle wird dies noch dramatischer formuliert: „(...) alle Kraft und Leidenschaft konzentriert sich auf die soziale Verheißung, auf die Verheißung neuen Lebens, die aus der liberalen Grundlage des Kapitalismus entwickelt wird; die ausgebrannte und ausgeweinte Seele erfüllt sich mit diesem Trost und findet in

5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus

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der Verheißung künftigen Lebens und dem opferreichen Dienst für seine Vorbereitung schon jetzt ein neues, von Grund auf verwandeltes Leben. Das ist über alles Rational-Institutionelle hinaus der Sinn des Sozialismus für den kapitalistischen Arbeiter.“83

Der Politik der sozialen Bewegung kommt eine religiös-messianische Bedeutung zu, die eher indirekt und durch die von E. Heimann verwendeten Metaphern deutlich wird. Der Begriff der Verheißung wird von ihm gleich dreimal verwendet, wobei Verheißung eine Heilsankündigung bezeichnet, deren Urheber immer GOTT ist, auch wenn sie durch einen Menschen verkündet wird. Allein diese Verheißung, nicht ein ökonomisch begründetes Eigeninteresse der Arbeiterklasse wie im dogmatischen Marxismus, kann die Arbeiterklasse zur Aktion treiben und sie motivieren. Was aber ist nun Sozialpolitik, gerade in diesem religiösen Kontext? Und was ist das Politische und was das Soziale an der Sozialpolitik? E. Heimann ist hier klar und deutlich. Sozialpolitik ist diejenige Politik, die den arbeitenden Menschen Schritt für Schritt aus seiner Unterdrückung und Ausbeutung befreit und ihn aus einer Sache des Kapitals in ein lebendiges und freies Wesen verwandelt. Sozialpolitik ist auch der Abbau der Herrschaft zugunsten der Beherrschten. „Sozialpolitik ist also der Einbau des Gegenprinzips in den Bau der Kapitalherrschaft und Sachgüterordnung; es ist die Verwirklichung der sozialen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus. In der Doppelstellung der Sozialpolitik als Fremdkörper und zugleich als Bestandteil im kapitalistischen System liegt ihre eigentümliche Bedeutung; darin ihre Dynamik, darin ihre dialektische Paradoxie und theoretische Problematik (…).“84

In dieser oft zitierten Stelle und auch in anderen Formulierungen wird nicht ganz klar, was er mit Sozialpolitik meint. Das Zitat nährt eher die Vermutung, dass er sie als bereits geronnene Politik betrachtet, also als institutionelle Ausformungen und als soziale Rechtspositionen, die bereits faktisch das Gegenprinzip zum Kapitalismus realisieren. Nur dann kann dieses Soziale ein Gegenprinzip zum Kapitalismus sein, der selbst auch ein geronnenes Gebilde aus Institutionen und Rechten ist, während Politik der dynamische Prozess ist, der Kampf der gegenlaufenden Ideen um Anerkennung und Dominanz. Zur Sozialpolitik finden sich nur wenige und verstreute Anmerkungen, die keine Bausteine oder gar eine Theorie der Politik des Sozialen ergeben würden. Der Begriff der sozialen Bewegung ersetzt den der Politik, wenn E. Heimann formuliert, dass die „soziale Bewegung eine elementare Bewegung auf ein ganz bestimmtes geistig-soziales Ziel hin“ sei.85 Das Bewegen, das Verflüssigen, das auf ein Ziel hin Orientieren, das die geistige Idee Ausspielende, all das sind Metaphern, mit denen die Politik umschrieben wird. Aber die Vorstellung der Kontingenz moderner Politik wird immer wieder vom Begriff der politischen oder produktionspolitischen Notwendigkeit eingeengt und in eine strukturelle Dimension gezwängt.86 Dennoch – und solchen Überlegungen zum Teil konträr – stellt er fest:

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5. Die Politik des Sozialen „Vollkommene Elastizität der Sozialgestaltung entsprechend dem realen Kräfteverhältnis der widerstreitenden Ideen, Offenheit also für das geschichtliche Werden, das ist das vielverkannte Wesen der Demokratie; wer unterliegt, hat sich nicht in der Demokratie geirrt, sondern in seinem eigenen historischen Recht. Auf dem Boden der Demokratie treffen sich die Gegner in dem ritterlichen Kampf um die historische Leistung. Jeder versucht, den anderen zu übertreffen und dessen begrenzte Leistung in sich selbst einzusaugen.“87

Aber nur die soziale Idee, getragen und verwirklicht durch die soziale Bewegung, kann diese ‚vollkommene Elastizität‘ der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse realisieren. E. Heimann fasst die Sozialpolitik sehr eng und zugleich sehr weit. Sie kann eine ‚vollkommene Elastizität‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse realisieren, sofern die sozialen Ideen in politischen Entscheidungen ihren Niederschlag finden. Das ist in der Tat eine weite, ja extrem weite Fassung. Zugleich engt er den Begriff extrem ein. Sozialpolitik ist bei ihm ausschließlich Arbeitersozialpolitik, die die tradierte Armen- und Wohlfahrtspflege nicht erfasst. Letztere bearbeiten irgendwelche Notstände, die etwa bei Kriegsversehrten, Vertriebenen, Inflationsgeschädigten, Hinterbliebenen, der ländlichen Bevölkerung etc. auftauchen. Aber ihnen fehlt die soziale Idee, die allein aus dem Konflikt (oder auch aus der Dialektik) zwischen Arbeit und Kapital entstehen kann. Den anderen Notlagen entgeht das „eigentlich geistige Wesen, welches die Sozialpolitik als den Niederschlag einer neuartigen Idee auszeichnet.“88 Infolgedessen stehen im Mittelpunkt der Sozialpolitik die produktionspolitischen Dimensionen. Sozialpolitik erwächst aus „innerkapitalistischen Notwendigkeiten“89 und bewegt sich in den Bereichen, die unmittelbar zur kapitalistischen Produktion gehören. Arbeiterschutz, Lohnauseinandersetzungen, Arbeitszeitfragen, Betriebsräte und deren innerbetriebliche Politik. Er thematisiert aber auch mögliche Einschränkungen der kapitalistischen Produktion und des Konsums90 – eine frühe sozial-ökologische Position, die man bei keinem anderen Theoretiker der Sozialpolitik der damaligen Zeit findet. Sozialpolitik wird somit auch zentral über gewerkschaftliche Kämpfe, Klassenkämpfe, Tarifauseinandersetzungen, innerbetriebliche Politiken der Betriebsräte etc. betrieben. Die eher tradierten Bereiche der Politik, die Dynamiken der Parteienkonkurrenz und andere Formen demokratischer Politik, spielen bei ihm fast keine Rolle. So verwundert es auch nicht, dass die Institutionen der sozialen Sicherungen bei ihm nur geringe Bedeutung haben. Dies aus mehreren Gründen: Zunächst beklagt er den Entstehungszusammenhang der (deutschen) Sozialversicherung, deren Entwicklung von autoritären politischen Kräften und nicht von der sozialen Bewegung selbst in Gang gesetzt wurde. Deshalb steht die Sozialversicherung von vorne herein am „alleräußersten Rande der echten Sozialpolitik. (…) Sozialversicherung ist eben ausdrücklich nicht Arbeiterschutz; sie sucht den Arbeiter zu fördern, ohne dem Unternehmer wehe zu tun.“91 Durch die politische Konstellation bei der Entstehung ist somit auch eine substantielle Schlagseite in die Sozial-

5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus

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politik eingeführt worden: Die Schonung der Kapitalseite. Ähnliches gilt auch für die Unfallversicherung, die ausschließlich von den Unternehmern finanziert wird, aber deren Durchführung von staatlichen Agenturen bzw. den Beamten der Berufsgenossenschaften überwacht wird. Und schließlich fragt er sich, ob die Sozialversicherung mit „ihrem kolossalen Apparat“ faktisch mehr leistet als ein höherer Lohnanteil, der ein gesünderes Leben ermöglichen würde und eine darüber finanzierte Privatversicherung mit ihren Leistungen bei Eintritt bestimmter Risiken.92 Eine Sozialpolitik, die zum Sozialismus führen soll, muss unhintergehbar an der Produktionsseite anknüpfen und hier den zentralen Kern des politischen Kampfes suchen. Der sozialpolitische Kampf richtet sich auf die Gestaltung der sozialen Betriebsordnung, denn der kapitalistische Betrieb ist der Ort, wo der „Arbeiter lebt und wirkt und wo er sein Arbeitsleben nun unter eigener Verantwortung ordnen soll.“93 Das Privateigentum mit seinen ausufernden Verfügungsrechten über den Arbeiter wird durch Sozialpolitik zur sozialen Betriebsordnung und „Ausbau der Sozialpolitik ist unmittelbar Abbau des Privateigentums, unmittelbar Sozialisierung im engsten Sinnen des Wortes.“94 Die Arbeit hört dann auf eine Ware zu sein, über die der Unternehmer beliebig nach rein sachlichen Motiven verfügt. Die neue soziale Betriebsordnung macht den Arbeiter zum Menschen und gibt ihm seine Freiheit, seine Verfügung über sich selbst, zurück. Das Privateigentum besteht zwar formal weiter, aber es wird systematisch ausgehöhlt und verliert seine exklusive Verfügungsmacht. Es ist Sozialisierung von unten, die allmählich zu einer neuen sozialen Ordnung führt und kein revolutionärer Umsturz von oben, wie es der tradierten sozialistischen Arbeiterbewegung vorschwebte. Durch die vielen und verschiedensten Kämpfe lernt das Proletariat zudem, mit den Freiheitsrechten umzugehen und diese sinnvoll auszufüllen. „Denn die neu eroberten Rechte stellen neue Anforderungen; sie wollen wahrgenommen, der neue Freiheitsraum will ausgefüllt und gestaltet werden, und das muss Schritt für Schritt gelernt werden und wird gelernt, solange die Kraft anschwillt. Jedes Stück Freiheit, das errungen wird, ist dann Selbstzweck und zugleich Mittel für die Erringung weiterer Freiheit. Dies ist der Weg des aufsteigenden Lebens, der Weg der Sozialpolitik zur sozialen Freiheit.“95

Unüberhörbar ist erneut der religiöse Unterton. Aufsteigendes Leben – in vielen biblischen Texten taucht diese Metapher auf als der einzige Weg, der ins Himmelreich führt und den der Mensch für seine angestrebte Befreiung gehen muss. Ja, man könnte fast vermuten, dass je mehr der Kapitalismus zugunsten der sozialen Idee bekämpft und verdrängt wird, desto mehr kommt eine Art irdisches, sozialistisches Paradies zum Vorschein, indem die Freiheit weitgehend entfaltet ist, aber das ‚Böse‘, die kapitalistische Sünde, immer noch schlummert und bekämpft werden muss. Dann wäre in der Tat das eingetreten, was er in dem Arti-

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5. Die Politik des Sozialen

kel über Religion und Sozialismus angedeutet hatte und der bereits oben zitiert wurde: Dass die soziale Idee bestimmt ist durch das Schicksal der Zeit, um ihren göttlichen Sinn zu erfüllen.

5.4.2. Die Politik des Sozialen jenseits der Politik: Hugo Sinzheimer und das moderne Arbeitsrecht Hugo Sinzheimer gilt als der Begründer des Arbeitsrechtes, dessen Grundkonzept vor allem in der Weimarer Republik entwickelt wurde. Das Arbeitsrecht, dem er seine ganze Aufmerksamkeit widmete, ist ein nicht-staatliches Recht und gehört damit nicht direkt zur Politik des Sozialen und dem durch sie institutionalisierten politischen Risikoausgleich. Das Arbeitsrecht bildet vielmehr eine eigene Rechtskategorie, es ist „autonome(s) Arbeitsrecht“, das durch die „Koalition“ hervorgebracht wird.96 Die Koalition – dieser Begriff sollte nach H. Sinzheimers Plänen auch in der Verfassung der Weimarer Republik verwendet werden – steht für Vereinigungen der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände und genau diese sind die Schöpfer des Arbeitsrechts. Neben die staatliche bzw. politische Demokratie, an der die Arbeiter durch ihre politischen Repräsentanten bzw. ihre Parteien beteiligt sind, soll nun eine zweite ‚Demokratie‘ treten, die Wirtschaftsdemokratie. An ihr sind die Arbeiter als Arbeiter – nicht als Staatsbürger – direkt beteiligt. Es ist ein Klassenrecht oder vielleicht besser ein Recht der oder für die Wirtschaft, das allein durch die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit entsteht. Beide verhandeln – mit allen Drohungen, Streiks, Aussperrungen etc., also im Extremfall wirklich durch ‚Klassenkampf‘ – dieses Recht und ‚schöpfen‘ es auf diese Weise. In der Formulierung H. Sinzheimers: „Wir brauchen im Arbeitsrecht vor allem eine lebendige Kraft. Wir brauchen einen Springquell urwüchsigen Lebens, der immer von neuem das Recht selbst erschafft, das die Beteiligten brauchen, und selbsttätig das Recht verwaltet, das für die Betroffenen da ist. Das ist der Gedanke des autonomen Arbeitsrechts. Im Vordergrund der Fortbildung des Arbeitsrechts darf nicht stehen die staatliche Bürokratie, die uns eine Rechtsordnung vorschreibt, sondern im Mittelunkt der zukünftigen Arbeitsrechtsreform muss stehen der Geist der sozialen Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung.“97

Dieses Tarifrecht begreift H. Sinzheimer durchaus als soziales Recht, das aber nicht vom Staat, sondern von den gesellschaftlichen Kräften, besser vielleicht den ökonomisch-sozialen Kräften geschaffen wird. Dieses Recht – das betont er ausdrücklich – ist ein bewegliches Recht, das immer neu geschaffen werden muss. Es ist mit anderen Worten kontingent und sein Inhalt, seine Substanz wird durch die Kräftekonstellation in der Koalition bestimmt, also auch von der Stärke der Arbeiterbewegung. Je stärker diese ist, desto sozialer und vor allem antikapitalistischer ist dieses Recht. Im Extremfall könnte es nicht nur soziales Recht sein, son-

5.4. Die Politik des Sozialen als Überwindung des Kapitalismus

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dern sozialistisch in dem Sinne, dass die Arbeiter(klasse) bzw. die Gewerkschaften sich gegenüber dem Kapital durchsetzen und die Mitbestimmung im Betrieb soweit ausdehnen, dass sie die betrieblichen Abläufe dominieren oder gar exklusiv bestimmen. Damit wäre der Übergang zum Sozialismus eingeleitet. Die Koalition ist zu einem „Rechtsbildungs- und Verwaltungsorgan“98 und damit zu einem Bestandteil des Staates geworden. Zudem hat sie aus der Masse der Menschen einen „disziplinierten Gesamtkörper“99 geschaffen, der zwar immer neu hergestellt werden muss, der aber seinen Schrecken verloren hat. Die Koalition ist nun zu einer „positiven Grundlage unseres gesellschaftlichen, unseres Volks- und Staatslebens“ geworden.100 Und je mehr Rechte die Arbeiterklasse bekommt, desto stärker wird ihre Bindung an den Weimarer Staat und die ihm zu Grunde liegenden Prinzipen sein. Aus einem „Untertan der Wirtschaft“ wird nun – analog zum Staatsbürger – ein „Wirtschaftsbürger“, der an der „Regierung der Wirtschaft teilnimmt.“101 Die sprachliche Analogie zur Demokratie ist frappierend: Wirtschafts- und Staatsbürger, Regierung der Wirtschaft und Regierung der Gesellschaft, an beidem nimmt der Arbeiter teil: beide Male als Mitglied eines Teilsystems, einmal als Mitglied des ökonomischen und das andere Mal des politischen Systems. Die Arbeiterbildung und -bewegung soll Wirtschaftsbürger hervorbringen, die in der Lage sind, verantwortlich „mit zu herrschen, mit zu verwalten“.102 Dadurch wird nach seiner Ansicht auch die Produktivität der Arbeit ansteigen. „Der neue Lebensquell im Menschen, der innerlich erschlossene Sinn für die Arbeit, die Einsicht in ihren Zusammenhang, der Anblick des ganzen wirtschaftlichen Werks der Gesamtarbeit, die Freude der Wertschöpfung – hier allein ist der Quell reicherer Arbeit.“103

Das alles klingt für heutige Ohren etwas schwülstig, aber das konnte man damals auf Gewerkschaftskongressen noch sagen. Das Protokoll verzeichnet jedoch hier – im Gegensatz zu vielen anderen Stellen in der Rede H. Sinzheimers – keinen Beifall. Bei beiden Autoren sind trotz großer Differenzen zwei Gemeinsamkeiten deutlich. Beide konzentrieren oder reduzieren den Begriff der Sozialpolitik auf die produktionspolitische Dimension, alle anderen sozialen oder gesellschaftlichen Bereiche spielen bei ihnen – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Das ist bei E. Heimann umso erstaunlicher, weil er die staatliche Sozialpolitik auf die produktionspolitische Dimension beschränkt und anderen möglichen Sozialpolitiken nur eine Randstellung einräumt. Zudem sind beide der Ansicht, dass man durch den Einbau des sozialen Gegenprinzips in den Kapitalismus diesen ‚von unten‘ überwinden kann. Bei H. Sinzheimer durch die Ergänzung des Staatsbürgers durch den Wirtschaftsbürger und der politischen Demokratie durch die Wirtschaftsdemokratie. Bei E. Heimann bleibt die politische Demokratie das wichtigste Mittel, aber mit ihr kann man das kapitalistische Unternehmen

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5. Die Politik des Sozialen

durch staatliche Politiken Schritt für Schritt ‚sozialisieren‘. Das alles führt zu einer eigentümlichen Einengung des Politikbegriffs und der Politik des Sozialen.

5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten Die oben skizzierten Diskussionen wurden durch die nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland jäh unterbrochen. Demokratische Sozialpolitik unterscheidet sich grundlegend von der in autoritären und totalitären Staaten. Aber auch in solchen Regimen betreiben Akteure eine Politik des Sozialen. Sollen auch hier die Arbeitenden und zugleich Unterdrückten zu „gentlemen“ gemacht werden oder ist dies in autoritären Staaten nicht gewollt bzw. grundsätzlich unmöglich? Hat hier die Sozialpolitik eine andere Bedeutung? Und wenn ja, welche? Ich will diese Fragen an zwei Politiken des Sozialen beantworten, an der im Nationalsozialismus in den 30er und 40er Jahren in Deutschland und an der im realen Sozialismus in der ehemaligen DDR. Ich beginne mit der Politik des Sozialen im totalitären Nationalsozialismus.

5.5.1. Die Politik des Sozialen in totalitären Staaten: Das Beispiel des Nationalsozialismus In autoritären und totalitären Staaten spielt die Sozialpolitik eine große Rolle – auch wenn sie nur am Rande wissenschaftlich untersucht wurde. Aber der politische und gesellschaftliche Kontext, in dem sich die Sozialpolitik bewegte, besser: in dem die Sozialpolitik durch die totalitären Führer ihren Zielen unterworfen wurde, brachte neue, bisher nicht dagewesene Prämissen an den Tag. Die Texte, die diese Neuorientierung in Gang setzten, wurden zum Teil schon in der Weimarer Republik formuliert und fanden dann ihren zugespitzten Ausdruck in den von den Nationalsozialisten formulierten Prinzipien. In Jahr 1929 erschien ein Buch mit dem Titel „Grenzen der Sozialpolitik“, dessen Autor Josef Winschuh formulierte: „Die deutsche Sozialpolitik von heute, in noch stärkerem Maße die der Zukunft, ist Volksstrukturpolitik. Ihre Ziele sind: gesunde Gliederung der Nation, ihre soziale Einigkeit und damit die größtmögliche Entwicklung der produktiven und gesellschaftlichen Kräfte des Volkes.“104

Die Verengung der Politik des Sozialen wird schon hier deutlich: Sie soll ‚Volksstrukturpolitik‘ werden, die sich auf die Förderung des Nationalen und des ‚gesunden‘ Volkskörpers richtet. Schon hier werden biologistische und rassistische Prämissen angedeutet, denn nur die produktiven Kräfte des Volkes sollen Gegenstand der Sozialpolitik werden. Im Nationalsozialismus erfährt dies eine drasti-

5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten

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sche Verschärfung. In einer Rede am 28. Juni 1933, also unmittelbar zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung, hielt der Reichsinnenminister Dr. Wilhelm Frick auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirates für Bevölkerungs- und Rassenpolitik eine grundsätzliche Rede, in dem die Sozialpolitik in einen völlig neuen Kontext gestellt wird.105 Die nationalsozialistische Bewegung muss den „kulturellen und völkischen Niedergang“ des Deutschen Volkes aufhalten. Dies ist nicht nur eine Frage der Geburtensteigerung an sich, weil die Geburtenrate „in bedrohlichem Maß“ abnimmt und eine „Bereinigung der Lebensbilanz“ vorgenommen werden muss, um das deutsche Volk vor dem Aussterben zu retten. In gleichem Maße aber ist auch „die Güte und Beschaffenheit unserer deutschen Bevölkerung“ zentral. Angeblich sind „bereits 20 % der deutschen Bevölkerung als erbbiologisch geschädigt anzusehen (…), von denen Nachwuchs nicht mehr erwünscht ist. Es kommt hinzu, daß gerade oft schwachsinnige und minderwertige Personen eine überdurchschnittlich große Fortpflanzung aufweisen. Während die gesunde deutsche Familie heute nicht mehr als zwei Kinder im Durchschnitt dem Staat zur Verfügung stellt, findet man gerade bei Schwachsinnigen und Minderwertigen (…) durchschnittlich die doppelte, oft sogar die dreifache Zahl. Das bedeutet aber, daß die begabtere wertvolle Schicht von Generation zu Generation abnimmt und in wenigen Generationen nahezu völlig ausgestorben sein wird, damit auch die Leistung und deutsche Kultur.“106

Zuwanderung durch Rassenfremde und Fremdstämmige verschärft dieses Problem und führt zum „völkischen Verfall“. Der Liberalismus hat Geist und Seele vergiftet und den Sinn für das Familienleben und den Willen zum Kind getötet. Mann und Frau wurden einander entfremdet, unter anderem auch durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, die sie dem „Familienleben entfremdet“ und das „Mannweib verherrlicht“. Der faschistische Staat wird insgesamt an einen „Umbau der gesamten Gesetzgebung und einer Verminderung der Lasten für Minderwertige und Asoziale heranzugehen haben. Wie sehr die Ausgaben für Minderwertige, Asoziale, Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher heute das Maß dessen überschreiten, was wir unserer schwer um ihre Existenz ringenden Bevölkerung zumuten dürften, ersehen wir aus den Kosten, die heute vom Reich, den Ländern und den Kommunen zur ihrer Versorgung aufgebracht werden müssen. (…) Was wir bisher ausgebaut haben, ist also eine übertriebene Personenhygiene und Fürsorge für das Einzelindividuum ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Vererbungslehre, der Lebensauslese und der Rassenhygiene. Diese Art der modernen ‚Humanität‘ und sozialen Fürsorge für das kranke, schwache und minderwertige Individuum muß sich für das Volk im Großen gesehen als größte Grausamkeit auswirken und schließlich zu seinem Untergang führen.“107

Der ‚Umbau der gesamten Gesetzgebung’ muss somit eine Neustrukturierung der Umverteilung von den Asozialen zu den produktiven Bevölkerungsschichten umfassen und die normativen Prämissen der Politik des Sozialen im oben zitierten Sinne neu formulieren. Weg von der Fürsorge Einzelner, weg vom ‚Humanismus‘,

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5. Die Politik des Sozialen

weg von der Verbesserung der Lebenslagen benachteiligter sozialer Gruppen und hin zur Stärkung des ‚gesunden Volkes‘, der Neuausrichtung der Familie und zur Förderung der Rassenhygiene und nicht der Personenhygiene – was letzteres auch immer bedeuten mag. Die Frage, ob wir es im Nationalsozialismus mit Kontinuität oder Bruch in der Sozialpolitik zu tun haben,108 erübrigt sich damit: Es ist nicht allein ein Bruch, sondern ein radikaler Buch mit allen ihren bisherigen Prinzipien. Insofern kann man formulieren, dass sich „ein völlig neues Verständnis der Sozialpolitik (andeutet), dem es nicht mehr um individuelle Freiheit und Sicherheit des Bürgers, sondern um die Verwirklichung der rassistischen Utopie des ‚gesunden Volkes der Zukunft‘ ging. (…) Sozialpolitik diente damit nicht mehr vorrangig der Stabilisierung bürgerlicher Normalstandards, sondern der Profilierung sozialrassistischer Persönlichkeitstypen. (…) Sie alle aber (die sozialpolitischen Maßnahmen, F.W.R.) zielten in ihrer nationalsozialistischen Form auf die Verfestigung rassistischer Ungleichheit, auf die Entrechtung des Individuums und seine Unterwerfung und die rassistisch definierte Gemeinschaft.“109

Insbesondere im Bereich der Gesundheitspolitik wurden die sogenannte Sozialhygiene, die Eugenik und die rassistische Bevölkerungspolitik zu leitenden Prämissen und fanden beispielsweise im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1934 ihren Niederschlag. Vor allem das Gesundheitswesen wurde strikt nach der nationalsozialistischen Ideologie umstrukturiert und dies vor allem „auf dem Gebiet der Rassenhygiene und der ‚negativen Eugenik‘, der Verhinderung von ‚erbkranken‘ Gemeinschaftsunfähigen durch Zwangssterilisation und der Vernichtung angeblich ‚lebensunwerten Lebens‘ durch eine spezifisch nationalsozialistische Ausprägung der Euthanasie.“110

Die oben bereits zitierte ‚Volksstrukturpolitik‘ nahm rassistische Formen an und prägte den gesamten Zeitraum der Herrschaft der Nationalsozialisten. Neben der Gesundheitssicherung wurden auch die anderen Institutionen der sozialen Sicherung neu geordnet. Die erste Phase der Politik des Sozialen war stark durch institutionelle Umgestaltungen geprägt, die sich bis ins Jahr 1937 hinzogen.111 Hier handelte es sich um die Gleichschaltung und Entdemokratisierung der Institutionen der sozialen Sicherung, insbesondere der sozialen Selbstverwaltungen. Sie fand ihren Niederschlag allgemein in der gewaltsam vollzogenen Ausschaltung der Vertretungen der Arbeiterbewegung, v. a. der Gewerkschaften und der (sozialdemokratischen und kommunistischen) politischen Parteien und im Besonderen in der Einführung des Führerprinzips in den Selbstverwaltungen. Mit dem Gesetz zum Aufbau der Sozialversicherung aus dem Jahr 1934 wird zudem die beamtete wie ehrenamtliche Tätigkeit von Juden und anderen „missliebigen und staatsfeindlicher Personen“ in der Selbstverwaltung verboten. Diese Gleichschaltung wurde durch die in der Sozialverwaltung ergänzt. Konkret wurden fast 10 % aller rund 25.000 in den Sozialverwaltungen der Krankenkassen arbeitenden Be-

5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten

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schäftigten entlassen, d. h. rund 2800 Ärzte, 500 Zahnärzte und 200 Dentisten verloren ihre Berufszulassung.112 Die Gleichschaltung der Ärzte verlief über deren Verpflichtung auf eine rassistische und völkische Gesundheitspolitik. Parallel dazu wurde eine Entrechtlichung der Leistungsansprüche vorangetrieben. In fast allen Sozialversicherungen wurde ein Tatbestand eingeführt, der das Versagen von staatlichen Leistungsansprüchen bei „staatsfeindlicher Betätigung“ ermöglichte, was einen radikalen Bruch mit dem Prinzip des unbedingten Rechtsanspruchs auf durch eigene Beiträge aufgebaute sozialrechtliche Leistungen bedeutete. In der Gesetzlichen Krankenversicherung wurde der Vorrang des rassischen und völkischen Volksganzen vor dem individuellen Recht auf Krankenbehandlung institutionalisiert. Begleitet wurde dies durch eine Orgie biologistisch und rassisch begründeter Gesetzgebung. Erwähnt sei hier nur das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses, das Gesetz zum Schutz des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre und das Ehegesundheitsgesetz, das die Heirat mit anderen ‚Rassen‘ verbot und zugleich das Recht auf Zwangssterilisation bei bestimmten Personen einschloss. Ansonsten wurde der äußerliche Aufbau der Sozialversicherungen weitgehend beibehalten. Die Leistungen der Sozialversicherungen blieben bis Anfang der 40er Jahre weiter auf dem niedrigen Niveau, das in der Endphase der Weimarer Republik durch die Notverordnungspolitiken durchgesetzt wurde. Trotz massivem wirtschaftlichem Aufschwung und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit – beides bedingt durch differenzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme und der damit verbundenen forcierten militärischen Aufrüstung – wurden die dadurch frei werdenden finanziellen Ressourcen nicht für Leistungsverbesserungen eingesetzt, sondern zur Finanzierung des (geplanten) Krieges herangezogen. Damit verbunden war auch die Einschränkung der freien Wahl des Arbeitsplatzes, die zunehmend durch eine staatliche und weitreichende Lenkung des Arbeitskräfteangebots ersetzt wurde. Im Jahr 1938 wurde die Freizügigkeit und freie Arbeitsplatzwahl durch die Einführung einer Teildienstverpflichtung massiv eingeschränkt. „Der damit eingeleitete staatliche Abbau substantieller Rechte der Arbeitnehmer bewirkte zunehmend einen Prozeß der Militarisierung der Arbeitswelt, der seine Höhepunkte in der Dienstverpflichtung (1.9.1939) aller Arbeitnehmer, der generellen Einfrierung der Löhne (12.10.1939) und der Möglichkeit der Wiedereinführung eines zehnstündigen Maximalarbeitstages (12.12.1939) fand. Zugleich wurden damit Stationen eines Weges deutlich, der zur zwangsweisen Integration des Arbeiters in eine Rüstungswirtschaft führte, die für ihn ohne strukturelle Veränderungen zur Kriegswirtschaft umgestaltet werden konnte, und in der er dann als Soldat der Arbeit seinen Beitrag in der Produktionsschlacht des Zweiten Weltkrieges zu leisten hatte.“113

Es versteht sich von selbst, dass in diesem Kontext alle Ansätze einer Wirtschaftsbzw. einer Betriebsdemokratie strikt abgebaut wurden. Auch hier kann man die

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5. Die Politik des Sozialen

radikale Unterwerfung der Politik des Sozialen unter die der Aufrüstung und der Kriegsvorbereitung beobachten. Götz Aly macht eine Beobachtung, die vielen Analysen des NS-Regimes in gewisser Weise entgegen läuft. Das Regime war gerade im Bereich der Politik des Sozialen zutiefst zerstritten, es gab innerhalb der nationalsozialistischen Elite erstaunlich heftige Konflikte über den hier einzuschlagenden Kurs. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Leitung von Robert Ley wollte beispielsweise eine komplette Neuordnung der institutionellen Grundstruktur der sozialen Sicherung realisieren. Im ‚Sozialwerk des Deutschen Volkes‘ sollten nicht nur die getrennt bestehenden Systeme der sozialen Sicherung, also das Gesundheits-, die Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenen- sowie die Arbeitslosenversicherung vereinheitlicht werden. Zusätzlich sollten alle sozialen Gruppen, also nicht nur die Arbeiter und Angestellten, sondern auch die freien (Handwerks)Berufe und die Beamten, also alle Staatsbürger, in diesem System versichert werden. Auch wollte die DAF die Finanzierung der wichtigsten sozialen Leistungen von der Beitrags- auf die Steuerfinanzierung umstellen. Die DAF konnte sich zwar auf einen angeblichen Auftrag A. Hitlers berufen, aber sie scheiterte am massiven Widerstand der Beamten verschiedener Ministerien, v. a. des Arbeits-, Wirtschafts- und Finanzministeriums. Es ist erstaunlich, welche massiven und fundamentalen Konflikte während der Zeit des Nationalsozialismus im Bereich der Politik des Sozialen existierten. Die zweite Phase der Sozialpolitik, die weitgehend mit dem Kriegsbeginn zusammen fiel, begann in den 40er Jahren und sah vor allem Verbesserungen im sozialen Leistungsrecht vor. Während 1933 die Renten um 10 % gekürzt wurden, schlug man 1941 den umgekehrten Weg ein: Sie wurden nicht nur um durchschnittlich rd. 15 % erheblich erhöht, sondern die Kleinrentner erhielten zusätzlich eine pauschale Erhöhung um sechs, die Witwen um fünf und die Waisen um vier Reichsmark. Zudem wurden die Rentner in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen, während sie sich vorher entweder an die Fürsorge wenden oder sich privat versichern mussten. Weitere Rentenerhöhungen, die das Reichsarbeitsministerium realisieren wollte, scheiterten am Widerstand des Finanzministeriums. Insgesamt war die Politik des Sozialen äußerst spontan angelegt, sie agierte, besser: reagierte oft situativ und die politischen Akteure handelten als „Stimmungspolitiker. Sie fragten sich fast stündlich, wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern könnten.“114 Das ‚stündlich‘ darf man sicherlich nicht wörtlich, sondern nur metaphorisch verstehen, aber es verweist auf die situative Dimension der Politik des Sozialen. Hinzu tritt ein weiterer Faktor. Die Zustimmungs- oder Gefälligkeitsdiktatur opponierte gegen finanzpolitischen Sachverstand in den verschiedensten Ministerien, der „politische Opportunismus setzte sich fortwährend gegen fachliche Einsicht durch.“115 Dies ergab sich aus

5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten

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den politischen Dynamiken, die dieser Sozialstaat entwickelte. Die „jederzeit mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur“116 erforderte ungeheure Summen an Geld, die neben der laufenden Kriegsfinanzierung aufgebracht werden mussten. Ein Musterbeispiel hierfür waren der Familienunterhalt und andere öffentliche Beihilfen. Sie sollten offiziell der „Erhaltung von Wehrwillen und Wehrfreudigkeit und der Sicherung der inneren Front dienen.“117 Während des Zweiten Weltkrieges brachte das Deutsche Reich die ungeheure Summe von 27,5 Milliarden Reichsmark auf. Parallel dazu stiegen die Haushaltsposten, aus denen Familien Zuschüsse im Rahmen „bevölkerungspolitischer Maßnahmen“ erhielten, von 250 auf 500 Millionen Reichsmark. Im Krisenjahr 1942 wurden sie verdoppelt. Die Steigerungsraten für Kindergeld und Familienbeihilfe lagen (bei einer Ausgangsbasis 1938 von 100 %) im Jahr 1939 bei 25, dann 1940 bei 40, 1941 bei 56 und schließlich 1942 bei dramatischen 96 %.118 Eine Intervention des Reichswirtschaftsministers Walther Funk im April 1943 scheiterte am Widerstand des „Triumvirats der Stimmungspolitiker Hitler, Göring und Goebbels“.119 Die Politik des Sozialen im deutschen Faschismus vollzog einen radikalen Bruch mit allen bisher geteilten Grundprämissen. Der nationalsozialistische Kontext und die im Vorfeld und durch ihn selbst produzierten Kon-Texte haben eine Idee der Sozialpolitik entwickelt, die in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einmalig war. Kein anderes Regime hat eine solche menschenverachtende und inhumane Idee der Sozialpolitik realisiert wie der deutsche Faschismus. In keinem anderen Regime wurde die Sozialpolitik so unmittelbar zur Herrschaftssicherung instrumentalisiert wie unter der totalitären und kriegstreibenden Elite der Nationalsozialisten. Zwar wurde auch in den autoritär-sozialistischen Staaten die Sozialpolitik dem ideologischen Diktat unterworfen, aber dieses Diktat war weniger inhuman als das der totalitären Diktatur. Dennoch dominierte auch hier die Instrumentalisierung der Sozialpolitik für übergeordnete gesellschaftspolitische Prämissen. Wie sahen diese im Konkreten aus?

5.5.2. Die Politik des Sozialen im autoritären Staatssozialismus der DDR Die Sozialpolitik der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR war durch eine Besonderheit geprägt: Sie hatte immer ein Pendant, das sie unmittelbar herausforderte und gelegentlich massiv in Frage stellte. Bei diesem Pendant handelte es sich um die Sozial-, aber auch die Wirtschaftspolitik der BRD. Seit dem Mauerbau im Jahr 1961 verschärfte sich diese Parallelentwicklung dramatisch, weil nun der Blick nach dem Westen immer ein vergleichender Blick war, der keine Exit-Option120 nach Westdeutschland bzw. in die BRD mehr zuließ, sondern sich als potentieller Widerspruch äußerte. Um Loyalität gegenüber dem Regime zu erzeugen, musste die Sozialpolitik vor allem ab den 60er Jahren eine bedeutendere

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5. Die Politik des Sozialen

Rolle spielen als zuvor – und das tat sie dann auch. Während sie in den 50er und 60er Jahren eher zur Sicherung und dann zur Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials eingesetzt wurde, veränderte sich dies in den 70er Jahren. Bedeutsam war der Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honnecker an der Spitze der SED. Die Sozialpolitik wurde „spürbar auf(gewertet), nicht im Sinne einer grundsätzlichen Abkehr von der bisherigen Politik, aber doch im Sinne beschleunigter Fahrt auf einem Weg, der zuvor schon eingeschlagen war und nunmehr ausgebaut wurde.“121 Programmatisch fand dies seinen Niederschlag in einer wichtigen, zugleich offenen und ambivalenten Formel, der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, die auf dem VIII. Parteitag der SED im Jahr 1976 beschlossen wurde. In den folgenden Jahren war dies ein „‚Freifahrtschein‘ für eine expansive Sozialleistungspolitik“122, der die Sozialpolitik an den Rand des Finanzierbaren brachte und erhebliche Auswirkungen vor allem auf die 80er Jahre bis zum Zusammenbruch der DDR im Jahr 1989 hatte. Es gibt einen Text, der das damalige Verständnis wie kein anderer auf den Begriff brachte. Er war die Arbeit eines Autorenkollektivs, so dass alle Positionen innerhalb dieses von der Partei eingesetzten Kollektivs abgestimmt waren. Alle wichtigen sozialpolitischen Theoretiker waren hier vertreten und fungierten zugleich als Mitglieder des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Auch dadurch war die offizielle Parteilinie garantiert. Der Titel lautet – wenig inspiriert – „Theorie und Praxis der Sozialpolitik in der DDR“ und lässt das damalige Selbstverständnis wie in einem Brennglas sichtbar werden. Selbstverständlich wurde dieser Text – wie viele andere zum Thema – nicht zuletzt zum Zweck der Verschleierung verfasst, indem er viele Fakten und Befunde weglässt und ein beschönigtes Bild der sozialen Lage in der DDR entwirft. Dennoch werden in ihm Reaktionen auf reale gesellschaftliche Entwicklungen und Variationen in der Sozialpolitik ansatzweise deutlich. Die literarische Eleganz solcher Texte ist äußerst gering, was durch den ‚Politsprech‘ dieser offiziellen Parteidokumente begünstigt wird, der immer auch propagandistischen Charakter hat. Wie in allen ideologisch begründeten Diktaturen sind für die Ausprägung der einzelnen Politiken die Beschlüsse der führenden Partei zentral. Dies gilt auch hier: Der VIII. Parteitag der SED hat in Umrissen ein neues Sozialpolitikverständnis formuliert, das für das Autorenkollektiv selbstverständlich bindend war und in dem Buch seinen Niederschlag finden musste. Überdeutlich ist das Bestreben, durch eine Aufwertung der verteilungspolitischen Dimensionen der Sozialpolitik die Lebenslagen der Arbeiterklasse und anderer sozialer Schichten zu verbessern. Dieser Gedanke wurde mit der bereits oben erwähnten – zugegeben umständlichen – Formel der „Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ausgedrückt. Zur Konkretisierung hieß es in dem neuen Parteiprogramm:

5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten

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„Entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus besteht die Hauptaufgabe bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität.“123

Präzisiert und ergänzt wurde dies durch die Formulierung, dass die „soziale Sicherheit und stetige Erhöhung des Lebensniveaus für alle Werktätigen und die Herausbildung eines neuen Bewusstseins“ als aktuelle Aufgaben zentral seien. Sozialpolitik – so die Prämisse – sei nicht wie im Kapitalismus als eigenständige Politik gegen die Wirtschaft gerichtet, sondern umgekehrt integrativer Bestandteil einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Beide Politikbereiche seien eng verflochten – eigentlich eine sozialpolitische Trivialität, die auch für die Politik des Sozialen im Kapitalismus gilt. Das Spezifikum einer sozialistischen Sozialpolitik wird in folgenden Faktoren gesehen. Zunächst darin, dass Sozialpolitik erst bei der „Gesamtheit der Gestaltung der sozialen Beziehungen und der ihnen zugrunde liegenden materiellen und ideellen Bedingungen wirksam“ werden soll. Dann darin, dass sie auf die Minderung der vorhandenen Unterschiede zwischen den Klassen, Schichten und sozialen Gruppen und zwischen geistiger und körperlicher Arbeit ausgerichtet ist. Sie soll zudem die Einheit von „politisch-organisatorischer und politisch-ideologischer Einflußnahme“ gewährleisten und schließlich die territorialen wie betrieblichen Arbeits- und Lebensbedingungen gestalten. So soll sie das Lebensniveau der Klassen, Schichten und sozialen Gruppen verbessern und die „Ausprägung der sozialistischen Lebensweise“ fördern.124 An einer anderen Stelle wird der Wandel in der Sozialpolitik erneut deutlich. Es wird eine Definition von Sozialpolitik zitiert, die bisher herrschend war und nun zwar nicht grundlegend, aber dennoch deutlich verändert wird. Als Sozialpolitik, so die (bisherige) offizielle Parteidefinition, „bezeichnet man im Allgemeinen die Gesamtheit der Tätigkeit des Staates oder der Klassen mit ihren Organisationen, die darauf gerichtet ist, im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung oder den Angehörigen der jeweiligen Klassen einen möglichst weitgehenden Schutz vor den vielfältigen Wechselfällen des Lebens zu geben. (…) Ziel der Sozialpolitik ist die ständige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Erweiterung der sozialen Sicherheit, die Festigung der Solidarität und die Formung des sozialistischen Menschen durch die volle Nutzung aller durch die Gesellschaft und die Entwicklung der Produktivkräfte gegebenen Möglichkeiten.“125

Aber dies – so die Autoren – sei heute nicht mehr die Hauptaufgabe der Sozialpolitik, weil ein großer Teil dieser Aufgaben erfüllt sei, vor allem der Schutz gegen die ‚vielfältigen Wechselfälle des Lebens‘ durch soziale Grundrechte und die betrieblichen und staatlichen Institutionen der sozialen Sicherung. Stattdessen stehe heute im Mittelpunkt die

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5. Die Politik des Sozialen „stete Hebung des materiellen und geistig-kulturellen Lebensniveaus und die Ausprägung der sozialistischen Lebensweise und damit eine spezifische Einflussnahme auf die soziale gesellschaftliche Entwicklung.“126

Hier wird nun die Sonderheit der ‚neuen‘ Ausrichtung der Sozialpolitik deutlich. Es geht um ‚spezifische‘ Maßnahmen, die das soziale Lebensniveau der Werktätigen anheben sollten, und damit um massive Umverteilungsmaßnahmen, die nicht ohne finanzielle Auswirkungen bleiben konnten. In allen wichtigen Bereichen stiegen die Ausgaben massiv an, seien es die Subventionen für Grundnahrungsmittel und Mieten, seien es die Ausgaben für Alter, Invalidität und Gesundheit, seien es die für Mindestlöhne oder für die Familien. Alle Warnungen vor den finanziellen Folgen wurden in den Wind geschlagen. Als der Chef der damaligen Planungskommission, Gerhard Schürer, der Staatsführung drastische Einsparungen nahe legte, erhielt er vom damaligen Ministerpräsidenten Willi Stoph die Antwort, dass „nicht die Zahlungsbilanz, sondern die Beschlüsse zur Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik Grundlage unseres Handelns (der SED, F.W.R.) sein müssen.“127 Dass solche Positionen mittel- und langfristig nicht ohne Folgen bleiben, versteht sich von selbst. Sie waren ein nicht unwesentlicher Faktor für den Zusammenbruch der DDR Ende der 80er Jahre. Hier wird die legitimatorische Rolle der Sozialpolitik besonders deutlich. Die Formel der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Kontext der Gesamtgestaltung der sozialen Beziehungen sollte die Lebenslage eines Großteils der Bevölkerung verbessern und die Versorgung mit den wichtigsten Gütern und Dienstleistungen des laufenden Tagesbedarfs auf einem bestimmten Mindestniveau sicher stellen. Nur so konnte auf die Dauer das drastische Bild des eher aussichtslosen Wettlaufs mit dem westlichen Kapitalismus der BRD gemildert werden, wobei der vergleichende Blick in den Westen immer mehr an Bedeutung gewann. Das Fernsehen ebenso wie persönliche Beziehungen machten diesen Blick im wahrsten und im übertragenen Sinnen problematisch, weil sich die propagandistischen Versprechungen des Sozialismus als nicht tragfähig erwiesen. Die Ausweitung und Vertiefung der sozialpolitischen Korrekturen, die die Mängel der sozialistischen Produktionsweise ansatzweise kompensieren sollten, erwiesen sich jedoch als wenig wirksam. Dessen ungeachtet vervielfachte und intensivierte sich die sozialistische Propaganda hinsichtlich der Wirksamkeit der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik. In der Sozialpolitik – so die offizielle Bedeutung – „kommt der qualitative Unterschied zwischen den verschiedenen Gesellschaftssystemen unmittelbar zum Ausdruck, werden die Vorzüge des Sozialismus sichtbar und für den Bürger spürbar.“128 An insgesamt fünf Punkten verdeutlicht der Bericht dann deren „revolutionären Charakter.“129 Die sozialistische Sozialpolitik soll besser als die kapitalistische die grundlegende Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten si-

5.5. Die Politik des Sozialen in nicht-demokratischen Staaten

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cherstellen und sich an den dringlichsten Bedürfnissen orientieren. Dann soll sie die soziale Sicherheit gewährleisten und zugleich die noch existierenden sozialen Unterschiede in den Lebensniveaus der Klassen und Schichten angleichen. Im Kapitalismus dagegen vertiefe sich die Ungleichheit und damit verbunden die soziale Spaltung der Gesellschaft. Vorhandene „Differenzierung“ – dies ist der hier gebrauchte Terminus für den ansonsten verwendeten Begriff der sozialen Ungleichheit – ist in diesem Stadium des Sozialismus unvermeidlich, wird aber auf dem Weg zum Kommunismus weitgehend beseitigt werden. Eine weitere Besonderheit der Politik des Sozialen liege „in der planmäßigen Entwicklung der Wirksamkeit der ökonomischen und sozialen Beziehungen.“130 Planung kann „alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens“ umfassen und zugleich „vorausschauende Politik“131 sein. Das Neue dieser Sozialpolitik besteht dann auch noch in einer intensivierten Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Staaten, die die ökonomische Integration und höhere Formen der Kooperation, das menschliche Zusammenleben, die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen und den Abbau der Ungleichheit zwischen den (National-)Staaten begünstigen soll. Und schließlich hat die organische Verbindung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt einen unmittelbaren Einfluss auf den weltrevolutionären Prozess. Diese Form der Sozialpolitik und ihre Erfolge werden – so die Erwartung – zum Anziehungspunkt für die internationale Arbeiterbewegung in allen Ländern und würden den revolutionären Impuls für den Sozialismus stärken. Von der Politik des Sozialen in anderen Ländern unterscheidet sich die sozialistische schließlich durch ihre Wissenschaftlichkeit, die auf der „Kenntnis sozialer Gesetze und Gesetzmäßigkeiten, ihrer Wirkungsbedingungen und ihres Wirkungsmechanismus (beruht).“132 So kann die Sozialpolitik den „objektiven Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung (entsprechen)“ und vermeidet „Subjektivismus und Oberflächlichkeit.“133 Auch die Aufgabenverteilung zwischen Staat, Betrieben und regionalen bzw. kommunalen Gebieten wird ausführlich thematisiert. Hier ist unübersehbar, dass dem Staat (und nicht mehr den Betrieben) die Hauptaufgabe bei der Entwicklung und Umsetzung der Sozialpolitik zufällt. Man kann in dem ganzen Bericht unschwer die Verstaatlichung der Sozialpolitik erkennen, die mit der neuen Formel der ‚Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik‘ verbunden ist. Ich muss hier nicht auf die ausführlich aufgeführten Maßnahmen eingehen, die aus der Neuorientierung abgeleitet werden. Aber man kann unschwer gewisse Parallelen zur sozialpolitischen Diskussion in der Bundesrepublik erkennen. Die Verzahnung von Wirtschafts- und Sozialpolitik fand ihren Höhepunkt in der Keynesianisierung der Sozialpolitik; die Verwissenschaftlichung in der Idee, die Gesellschaft durch computerbasierte, gesamtgesellschaftliche Indikatoren- und Entscheidungssysteme zielgerichtet in die Zukunft hinein zu steuern. Auch die Idee des Abbaus der sozialen Ungleichheit hat in den Diskussionen und bei poli-

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5. Die Politik des Sozialen

tischen Entscheidungen eine wichtige Rolle gespielt.134 Davon bleibt die zentrale Differenz zwischen den beiden deutschen Staaten unberührt: In der BRD handelte es sich um eine demokratisch legitimierte Sozialpolitik auf der Basis der kapitalistischen Marktwirtschaft. In der DDR dagegen um die Sozialpolitik einer autokratisch regierenden Einheitspartei, die sich im Besitz der objektiven Erkenntnis über die ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Dynamiken zu befinden glaubte und gleichzeitig den ökonomischen Schwächen einer zentral gesteuerten Volkswirtschaft ausgesetzt war.

5.6. Sozialpolitik und „gleicher sozialer Wert“: Die Idee der sozialen Staatsbürgerschaft bei Thomas H. Marshall Thomas A. Marshall hat in den 50er Jahre eine Idee formuliert, die sich nicht vergisst. Wie alle Ideen hat auch sie ihren Niederschlag in den institutionellen Ausgestaltungen vieler europäischer Wohlfahrtsstaaten gefunden. Sein wichtigster Text ist vermutlich der 1950 erschienene Text „Citizenship and Social Class“, der auf Vorlesungen zu Ehren seines Namensvetters Alfred Marshall in Cambridge im Jahr 1949 beruht. Es versteht sich von selbst, dass sich T. H. Marshall in entscheidenden Passagen seines eigenen Vortrages auf den ‚anderen‘ Marshall bezieht, aber mit voller Absicht wird ein Satz, besser: eine Grundidee wieder aufgegriffen, die er in seinem Vortrag systematisch weiterentwickelt. Diesen entscheidenden Satz A. Marshalls habe ich bereits am Anfang des Kapitels erwähnt und er soll hier erneut in Erinnerung gerufen werden. „The question is not whether all man will ultimately be equal – that they certainly will not – but whether progress may go on steadily if slowly, till the official distinction between working man and gentleman has passed away, till by occupation at least every man is a gentleman. I hold that it may and that it will be (…).“135

Die soziologische oder auch sozialpolitische Hypothese, die in diesem Satz steckt, kann man dahingehend zusammenfassen, dass nicht mehr die soziale Position auf dem Arbeitsmarkt ausschlaggebend für das gesellschaftliche Leben sein soll. Andere Maßstäbe müssen hinzu treten, die die Wirkungen der wirtschaftlichen Konkurrenz modifizieren und so den Lohnarbeiter zum gentleman machen. Nur gentlemen, und selbstverständlich auch gentlewomen, können sich als Gleiche begegnen. Überträgt man diese Idee auf die staatliche Ebene, so landet man bei der Staatsbürgeridee und beim Begriff des Status. Status setzt sich ab von den auf Märkten durch Leistung und Differenzierung realisierten Positionen. Status dagegen ist eine Position, die sich allein aus staatlich garantierten und abstrakten Rechtspositionen zusammensetzt und eine Persönlichkeit konstituiert, die mit bestimmten, gleichwohl kontingenten Rechten ausgestattet ist.136 Volljährigkeit als Status ist zum Beispiel unmittelbar verknüpft mit bestimmten Rechten, wie Auto

5.6. Sozialpolitik und „gleicher sozialer Wert“

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zu fahren, sein Wahlrecht auszuüben etc. Ein Status umfasst unterschiedslos alle Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe, hier der Staatsbürger. Interne Differenzierungen, wie etwa in Sozialversicherungsstaaten nach Arbeitern, Angestellten, Freiberuflern, und differenzierte Leistungen je nach sozialer Position sind hier nicht vorstellbar, alle Mitglieder einer Gruppe sind hinsichtlich des Status gleich. Doch woher kommt diese Vorstellung der Statusgleichheit? Warum hat sie gerade Thomas H. Marschall theoretisch-konzeptionell so prominent ausbuchstabiert? Ich sehe mehrere Punkte. Ein, vielleicht der wichtigste Punkt war sicherlich die Auseinandersetzung mit Alfred Marshall, der eine große Rolle bei der Entwicklung von T. H. Marshalls eigenen Ideen gespielt hat. Ähnlich wie A. Marshall hat auch Lord Beveridge in seinem berühmten Plan zur Neugestaltung der britischen Sozialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung des Status als zentrale Begrifflichkeit betont. Damit verbunden war ein unbedingter Rechtsanspruch auf eine soziale Leistung, bei Beveridge auf ein Existenzminimum, der nicht mit einer Bedürftigkeitsprüfung verbunden war. Diese Idee war ‚eindeutig neu‘ – wie T. H. Marshall rückblickend feststellt. Sie entstand in der unmittelbaren Nachkriegszeit und hatte als Grund – dies soll hier ausführlicher zitiert werden – „die gemeinsame Erfahrung des Krieges, als die Wohlfahrtsbedürfnisse, die durch Maßnahmen der Regierung befriedigt werden mussten, wenig oder nichts mit der persönlichen Einkommenslage oder mit Klassenunterschieden zu tun hatten, sondern einem Schicksal entsprangen, dem alle ausgesetzt waren. (…) Aber noch wichtiger (…) war der psychologische Effekt der vereinten Anstrengungen angesichts einer gemeinsamen Gefahr. Der britische Wohlfahrtsstaat ist einzigartig, weil er unter einzigartigen Begleitumständen geboren wurde. Kein anderes Land der Erde durchschritt fest und vereinigt die ganze Reihe von Erfahrungen – Widerstand gegen den Angriff, der Schlag gegen den Feind, der Sieg auf dem Feld, und, ohne Unterbrechung (mit der Ausnahme eines Regierungswechsels), die Einschränkungen der Nachkriegszeit und der Wiederaufbau. Unter derartigen Umständen schien jede Beschränkung sozialer Dienstleistungen auf eine bestimmte Klasse fast undenkbar – genauso wie ihre Einschränkung durch eine Bedürfnisermittlung, denn für den Augenblick wurde ‚Klasse‘ zu einem unanständigen Wort. Es war so offensichtlich, dass die gemeinsame Verteidigungsgesellschaft des Krieges zur gemeinsamen Zuwendungsgesellschaft des Friedens werden würde.“137

Dieses lange Zitat verdeutlicht in immer neuen Begriffs- und Wortkombinationen das zentrale Element des Gemeinsamen, des gemeinsamen Staatsbürgerstatus. Aus der ‚gemeinsamen Verteidigungsgesellschaft des Krieges‘ wurde nun die ‚gemeinsame Zuwendungsgesellschaft‘ – zweimal wird hier und auch an anderer Stelle das Gemeinsame betont –, die eben die Gemeinsamkeit der Staatsbürger ist und nicht die einer Klasse oder besonderen sozialen Gruppe. Wie präzisiert nun T. H. Marshall seine Idee des Staatsbürgerstatus? Zunächst klärt er, was unter den Nachkriegsbedingungen der gentleman bzw. die gentlewoman bedeuten könnte und ersetzt ihn durch den Begriff des zivilisier-

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5. Die Politik des Sozialen

ten Lebens. Der Maßstab eines zivilisierten Lebens ist ein unbedingter Anspruch, als „volles Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden, und das ist: als Staatsbürger.“138 Volles Mitglied einer Gemeinschaft zu sein kann heute zumindest in Europa nur mit dem Begriff des Staatsbürgerstatus gefasst werden, der mit bestimmten rechtlichen Ungleichheiten unvereinbar ist, gleichwohl andere Ungleichheiten akzeptieren kann. Er präzisiert: „Die Ungleichheit eines Systems sozialer Ungleichheit kann unter der Voraussetzung akzeptiert werden, dass die Gleichheit des Staatsbürgerstatus anerkannt ist.“139 Statusgleichheit ist wichtiger als faktische soziale Gleichheit. Dann teilt T. H. Marshall den Staatsbürgerstatus in die bekannten drei Untertypen: Der bürgerliche Status besteht aus den individuellen Freiheitsrechten, der Freiheit der Person, der Rede-, Religions-, Gedankenfreiheit, der Eigentumsfreiheit und der Freiheit, Verträge abzuschließen, auch Arbeitsverträge. Der politische Status garantiert die Teilhaberechte am politischen Prozess, also Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ebenso wie die aktive und passive Teilnahme an freien und demokratischen Wahlen. Der soziale Status schließlich umfasst eine Reihe von Rechten auf ein Mindestmaß an Wohlfahrt und sozialer Sicherheit, die dem Leben als zivilisiertes Wesen entsprechen und an gesamtgesellschaftlichen Standards orientiert sind.140 Alle drei Status haben die Gleichheit zur Voraussetzung – alle Staatsbürger haben diese Rechte und können sich auf sie berufen, während die konkrete Ausprägung kontingent ist und von den politischen Dynamiken der jeweiligen Gesellschaften abhängt. Letzteres ist vor allem bei beim sozialen Status wichtig, weil die demokratische Politik ihn am intensivsten ändern kann. Die Staatsbürgerrechte verleihen Menschen einen Status, „mit dem all jene ausgestattet sind, die volle Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Alle, die diesen Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der Status verknüpft ist, gleich. Es gibt kein allgemeines Prinzip, das bestimmt, was dies für Rechte und Pflichten sein werden. Die Gesellschaften aber, in denen sich die Institutionen der Staatsbürgerrechte zu entfalten beginnen, erzeugen die Vorstellung eines idealen Staatsbürgerstatus, an dem die Fortschritte gemessen und auf den die Anstrengungen gerichtet werden können.“141

Während in diesem Bereich alle Mitglieder der Gesellschaft – weil Staatsbürger – gleich sind, bleiben die sozialen Ungleichheiten, die sich aus den unterschiedlichen Positionen im ökonomischen und anderen Systemen der Gesellschaften ergeben, bestehen. Soziale Klassen lösen sich durch Status nicht auf, sondern es sind zwei Ideen und zwei davon abgeleitete soziale Positionen, die miteinander konkurrieren. Jedoch ist der Status dominant, weil er von der Politik entschieden und verliehen wird. Hier kann die Politik weit in andere Teilsysteme, vor allem in das ökonomische, hineinregieren. Im 20. Jahrhundert liegen die Staatsbürgerrechte und das kapitalistische Klassensystem miteinander „im Krieg“142 – eine

5.6. Sozialpolitik und „gleicher sozialer Wert“

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Formulierung, die andeutet, wie intensiv der Kampf zwischen diesen beiden ‚Welten‘ sein kann. Im Bereich des sozialen Status hat sich die Idee des „gleichen sozialen Wertes“143 realisiert, während man beim bürgerlichen und politischen Status von natürlichen Rechten sprechen konnte, die mit dem Menschsein gesetzt waren. Nun tritt im 20. Jahrhundert der gleiche soziale Wert hinzu, dessen Substanz von der Politik einer Gesellschaft je nach ihrem Entwicklungsstatus entschieden werden muss. Der „normale Weg der Schaffung sozialer Rechte ist aber der Einsatz politischer Macht, weil soziale Rechte kein absolutes Recht auf einen bestimmten Kulturstandard implizieren.“144 T. H. Marshall betont die Dimension des Einsatzes der politischen Macht deshalb, weil parallel und ergänzend zum System der politischen Staatsbürgerrechte durch die Vertrags- und Organisationsfreiheit des Arbeitsmarktes ein „zweites System“145 wirtschaftlicher Staatsbürgerrechte geschaffen wurde. Primär bleibt aber immer der durch die Politik ausgestaltete Staatsbürgerstatus, der die Menschen gleich macht und sie als gleichberechtigte Mitglieder einer politischen Gesellschaft vereint. Der soziale Status umfasst in der Regel ein Minimum an sozialen Rechten, wie etwa eine allgemeine Gesundheitsversorgung, ein staatlich garantiertes Grundeinkommen jenseits der Markteinkommen; es kann auch Bildung, Kinder- oder Familiengeld oder andere soziale Leistungen umfassen, aber der Kern ist die staatlich garantierte soziale (Minimal-)Absicherung für alle. Ansprüche entstehen nicht – wie etwa in den tradierten Sozialversicherungsstaaten – durch vorangegangene Beitragsleistungen, sondern aufgrund der Mitgliedschaft in einem Staat. Radikaler formuliert: Soziale Rechte werden nicht wegen sozialer Nöte, zur Bedürfnisbefriedigung oder zur Kompensation von sozialen Risiken institutionalisiert – das sicherlich auch. Der wichtigste Grund ist jedoch die Idee des Staatsbürgerstatus, nach der alle gleich sein und nach der alle den gleichen sozialen Wert haben sollen. Staatliche Sozialpolitik ist zwar auch der Versuch, die Einkommenspositionen der Menschen anzugleichen, aber das gehört in eine andere Abteilung der Sozialpolitik und ist nicht ihr wichtigster Punkt. Beim gleichen sozialen Wert „interessiert die allgemeine Bereicherung der konkreten Substanz eines zivilisierten Lebens, die generelle Verminderung der Risiken und Unsicherheiten, der Ausgleich zwischen den mehr oder weniger Glücklichen auf allen Ebenen – zwischen dem Gesunden und Kranken, dem Alten und dem Erwerbstätigen, dem Junggesellen und dem Vater einer großen Familie. Die Gleichstellung geschieht weniger zwischen den Klassen als vielmehr zwischen den Individuen einer Bevölkerung. Statusgleichheit ist wichtiger als Einkommensgleichheit.“146

Hier wird in aller Deutlichkeit formuliert, was der Kern der Politik des sozialen Status ist: Die Gleichstellung aller Staatsbürger hinsichtlich bestimmter und unhintergehbarer sozialer Positionen, die die Risiken und Unsicherheiten der mo-

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5. Die Politik des Sozialen

dernen Gesellschaften kompensieren und die Menschen mit einem Bündel von absoluten sozialen Rechten ausstatten, die ihnen ein zivilisiertes Leben auch jenseits des Arbeitsmarktes ermöglichen. Diese Idee hat Vorrang vor der Einkommensgleichheit, die zwar auch eine große Bedeutung in den modernen Gesellschaften hat, die aber hinter die Statusgleichheit zurücktreten soll. Der Staatsbürgerstatus sickert auch in andere Bereiche der Gesellschaft ein, wie beispiesweise in den Arbeitsmarkt. Werden z. B. Marktpreise nach Kriterien der sozialen Gerechtigkeit modifiziert, etwa wenn Löhne auf dem Arbeitsmarkt staatlich reguliert oder Mindestlöhne eingeführt werden, dann wird der freie Tausch der Arbeitskraft und der entsprechende Marktpreis durch politische Entscheidungen überformt. Dies bezeichnet T. H. Marshall als „Eindringen des Status in den Vertrag“147, ein Phänomen, das für moderne Gesellschaften typisch ist. Der geschichtliche Kontext dieser Idee – dies wurde bereits oben erwähnt – war die ‚gemeinsame Zuwendungsgesellschaft‘ der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwei zusätzliche Faktoren stellten diese Idee in gewisser Weise auf Dauer. Fast alle europäischen Nachkriegsgesellschaften waren durch erhebliches wirtschaftliches Wachstum gekennzeichnet, das die Gemeinsamkeit dieser Gesellschaften begünstigte. Die Verteilungsspielräume erhöhten sich und es kam zu einer Art Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit, der sich als relativ stabil erwies und in fast allen europäischen Ländern zu beobachten war. Doch spätestens seit Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre löste sich der Nachkriegskonsens in Großbritannien auf und die Klassen- und Verteilungskonflikte traten deutlicher zu Tage. Die politischen Reformen der damaligen Zeit und das Aufkommen der neoliberalen politischen Strömungen, die sich auch in Regierungswechseln der damaligen Zeit niederschlugen, ließen das Pendel wieder zugunsten des Marktes und seiner ungleichen Verteilungsmechanismen zurückschwingen. Der Vertrag begann gegenüber dem Status erneut zu dominieren.148 Aber die normative Grundprämisse für eine Politik des Sozialen, die sich am (sozialen) Status orientiert, bleibt als Idee erhalten und lässt sich nicht vergessen.

5.7. Die Politik des Sozialen in modernen Wohlfahrtsgesellschaften: Sozialpolitik als aktive Gesellschaftspolitik und das Eigengewicht der Institutionen Im oben bereits erwähnten Beveridge-Plan aus dem Jahr 1942 hat sich eine gewisse Trendwende in der Politik des Sozialen abgezeichnet. Lord Beveridge und seine Mitautoren haben den Wandel der Sozialpolitik bereits in groben Zügen angedeutet: keine Konzentration auf die Armuts- und Arbeiterfrage, der Einbezug der Bildungs- und Familienpolitik in die Sozialpolitik, die Verbindung der Wirtschaft- und Arbeitsmarktpolitik mit der des Sozialen und schließlich die Ori-

5.7. Die Politik des Sozialen in modernen Wohlfahrtsgesellschaften

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entierung an der sozialen Gestaltung der Zukunft. Mit Hans Achinger tritt uns ein Autor gegenüber, der diese Sachverhalte sieht, aber einen neuen Akzent in dieser Diskussion setzt: Er sieht als erster Autor, dass die Sozialpolitik ein Eigenleben zu führen beginnt, eine sich selbst antreibende Dynamik realisiert und sich gegenüber den politischen und sozialen Kräften verselbstständigt. Die Politik des Sozialen kreiert Institutionen, die eine eigene Identität, ein eigenes Wissen von der Welt, ein eigenes Vokabular entwickeln und mit dieser ideologischen ‚Brille‘ einen durch sie geprägten (oder getrübten) Blick auf die Gesellschaft werfen. So entsteht eine künstliche Wirklichkeit, eine Wirklichkeit „zweiter Instanz“, die bestimmte soziale Dynamiken verdunkelt und der politischen Aufmerksamkeit entzieht, aber Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik konstituiert. Seine Fortsetzung findet diese Politik in der Vorstellung einer aktiven Sozialpolitik, die mittels computergestützter Informations- und Planungssysteme beginnt, die gesellschaftlichen Dynamiken auf den grünlich flimmernden Bildschirmen der modernen Computer zu simulieren. Die Folgen bestimmter politischer Entscheidungen konnten nun mittels Simulationsmodellen zielgerichtet berechnet werden und den politischen Entscheidern die Ungewissheit über die Folgen ihrer Entscheidungen nehmen. Die Politik des Sozialen wird nun zur aktiven und zukunftsorientierten Gesellschaftssteuerung, in die alle Hoffnungen auf zielgerichtete Sozialpolitik Eingang finden.

5.7.1. „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik“: Hans Achingers Idee der sozialen Institute Die Überschrift dieses Kapitels übernimmt den Titel eines Buches, dessen Untertitel „Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat“ lautet. Das Buch ist im Jahr 1958 erschienen und sein Autor Hans Achinger bewegte sich zwischen sozialpolitischer Praxis und wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik. Sein kleines Büchlein ist eines der inspirierendsten und klügsten, die in diesem Kontext geschrieben wurden, und formuliert auch für die heutige Diskussion noch große Einsichten. Was sieht er, was andere Texte nicht oder nicht in dieser Schärfe sehen? Der Text markiert einen Wendepunkt im sozialpolitischen Denken, der die Sozialpolitik von der Arbeiter- oder Klassenfrage löst und sie – erheblich systematischer als T. H. Marshall und Lord Beveridge – als Gesellschaftspolitik konzipiert. Welche Konturen hat eine solche die Gesellschaft aktiv gestaltende Sozialpolitik? Welchen Gefahren ist sie ausgesetzt? Auf welchen Voraussetzungen beruht sie und welche Folgen zeitigt sie? Das sind die wichtigsten Fragen, die sein Text zu beantworten sucht. H. Achinger betont an vielen Stellen seiner Schrift, dass die ‚Arbeiterfrage‘ zu Recht der Ausgangspunkt der Sozialpolitik am Ende des 19. und zu Beginn des

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20. Jahrhunderts gewesen war. Heute ist sie nicht mehr vorwiegend Arbeiterpolitik, also der Versuch, der „politisch bedrohten und in menschlich unerträglichen Verhältnissen lebenden kleinen Minderheit (hier der Industriearbeiterklasse, F.W.R.) bessere Daseinsformen zu schaffen.“149 Aber der Begriff der Arbeiterfrage erlaubte es den frühen Theoretikern der Sozialpolitik, „ihre Disziplin im Zusammenhang mit jener großen gesellschaftlichen Umwälzung, nämlich als eine bestimmte Reaktion auf diese Umwälzungen aufzufassen. (...) Überschaut man, was heute in der Sozialpolitik der Arbeit wie in der ungeheuer angewachsenen Politik der sozialen Sicherung erstrebt wird und bereits institutionell gefestigt dasteht, so wird man nicht umhin können, die Herleitung der heute für die Sozialpolitik entscheidenden Maßstäbe von der Arbeiterfrage als überholt, als nicht mehr ausreichend zu empfinden.“150

Die ‚Arbeiterfrage‘ ist nicht verschwunden, aber sie ist nur noch ein, wenn auch vielleicht wesentliches Merkmal der Sozialpolitik, aber nicht mehr konstitutiv. Vielmehr betrachtet H. Achinger die heutige Gesellschaft als eine Formation, in der alle wesentlichen sozialen und ökonomischen Beziehungen durch eine außerordentliche Unsicherheit gekennzeichnet sind. Der Begriff der Unsicherheit taucht an vielen Stellen seiner Schrift auf, er ist zentral für sein Verständnis der modernen Industriegesellschaft.151 Ebenso zentral sind Begriffe wie Beweglichkeit, Dynamik, Geschwindigkeit, mit denen er moderne Gesellschaften charakterisiert. Sozialpolitik verändert ihren Charakter und H. Achinger betont, dass „jeder einmal geschehene sozialpolitische Eingriff ein Faktum ist, ein materiell und psychologisch weiterwirkendes Faktum, ja dass der mit großer Schnelligkeit innerhalb des alten Gehäuses von Gesetzen ablaufende Steigerungsprozess der sozialpolitischen Eingriffe der Begriffswelt vorauszueilen begonnen hat. (...) (D)iese Rückwirkung beginnt bereits mit den ersten Versuchen sozialpolitischer Intervention. Sie wird aber immer deutlicher und bedeutsamer, je länger die sozialpolitischen Aktionen andauern und je mehr sie sich in Institutionen befestigen, die ihre eigenen Denkgewohnheiten ausbilden. Heute, mehr als Hundert Jahre nach den ersten Projekten, ist dieses Eigengewicht der Sozialpolitik auf allen Gebieten spürbar, ein Begreifen der heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse nicht mehr denkbar, ohne dass jener starke und sehr spezielle Einfluss der Sozialpolitik erkannt und in allen Stadien des Verlaufs verfolgt würde.“152

Durch die Industrialisierung entstehen neue und vor allem unsichere Arbeits- und Lebensformen, wobei Wanderungen vom Land in die Städte neue Arbeitsformen und neue Unsicherheiten hervorbringen, die von „flüchtige(m) Charakter“ sind. Hinzu treten neue Einkommensformen, vor allem Geld- statt Naturalleistungen, und die damit einhergehenden Wandlungen der Familie und des generativen Verhaltens. In dieser Phase richtet die Sozialpolitik ihre Bemühungen darauf, den Aufbau neuer Lebensformen nicht nur zu begleiten, sondern ihn durch die sozialpolitischen Institute erst zu ermöglichen. Zusammenfassend kommentiert er: „Allen diesen Erscheinungen ist gemeinsam, dass für den einzelnen und den Einzelhaushalt alle überkommenen Normen des Zusammenlebens, die Regeln für die Arbeit wie das

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Geflecht der familialen Pflichten, fragwürdig werden, ja ganz verloren gehen. Damit wäre bereits begründet, dass eine neue Gesellschaftspolitik versuchen müsste, an der Schaffung neuer Lebensformen mitzuwirken. Wie dieser Versuch in der besonderen Form der Sozialpolitik unternommen wurde, ist nun von den Besonderheiten der modernen Wirtschaftsgesellschaft ebenso mitbestimmt worden wie von dem Schatz der normativen Ideen, die seit der Aufklärung wirksam waren.“153

Hier wird erneut betont, dass Sozialpolitik nicht mehr allein ‚Arbeiterfrage‘ ist, sondern die Ausbildung und laufende Gestaltung neuer Lebensformen zum Gegenstand hat. Moderne Gesellschaften sind Gesellschaften, die mit einem stabilen Gerüst von politisch entschiedenen Instituten durchzogen sind und die das moderne Leben begleiten und formen. H. Achinger sieht als einer der Ersten die große Bedeutung, die Sozialleistungen bei der Stabilisierung der Massenkaufkraft haben. Was später in der keynesianistisch inspirierten Sozialpolitik zentral wird, wird hier bereits vorgedacht. Der – auch sozialpolitisch induzierte – Wohlstand der Massen wird zum Wirtschaftsfaktor. Es entsteht ein „Dauerzusammenhang“ zwischen technologischem Fortschritt, Produktionsbreite und Massenkonsum, in den die sozialen Institute fundamental eingebunden sind. Er macht deutlich, dass Sozialpolitik ein ökonomisch wichtiger Faktor ist, der in Krisenzeiten die Nachfrageseite des Wirtschaftskreislaufes in gewissem Ausmaß stabilisieren und Krisen zwar nicht verhindern, aber in ihren Auswirkungen abschwächen kann. Auch betont er den Doppelcharakter dieser neuen Sozialpolitik. Sie behält immer den Charakter von Interventionen in die Ökonomie und muss ihr jeden Eingriff, vor allem beim Arbeitsschutz und bei der sozialen Einkommensverteilung, abringen und doch zugleich auf die Ökonomie Rücksicht nehmen. Hier gerät die Sozialpolitik an Grenzen, die sie nicht überschreiten kann, ohne den Gesamtzusammenhang der Gesellschaft zu zerstören.154 Zu den geistigen Voraussetzungen der Sozialpolitik gehören nach seiner Ansicht mehrere Strömungen. Zum einen die Idee der Machbarkeit bzw. Gestaltbarkeit von Gesellschaft, denn es ist vom Menschen und von „seinem freien Willen abhängig, ob er in schlechten oder guten Verhältnissen lebt.“155 Hinzu tritt das Ideal der Gleichheitsvorstellung, die in der englischen Diskussion bei T. H. Marshall in der Idee des gleichen sozialen Wertes ihren Ausdruck gefunden hat (vgl. unten Kap. 5.4.2.). So weit geht H. Achinger nicht, aber er formuliert klar, dass „der Glaube an die Gleichheit von Personen ungleicher sozialer Stellung notwendig zu der Ansicht (führt), dass die Mehrung sozialer Ungleichheit immer ein Übel, die Minderung sozialer Ungleichheit immer ein Fortschritt sei.“156 Es ist unschwer zu erkennen, dass bei ihm die Idee des sozialen Fortschritts große Bedeutung hat und somit die planvolle und zielgerichtete Gestaltung der Zukunft. Darin eingeschlossen ist auch die Bildungspolitik, die die kulturellen und kognitiven Bausteine des sozialen Fortschritts gestalten soll. Obwohl die So-

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zialpolitik auf bestimmte Problemkonstanten trifft, die ihre Dynamik bestimmen und auf die sie reagiert, wirkt sie zugleich auf diese Strukturen und deren Dynamiken zurück. Sie setzt also ihrerseits „gesellschaftspolitische Daten (...), je länger ihre Institute und ihr geistiger Einfluss dauern.“157 Zusammenfassend ist die Sozialpolitik „ein Versuch, an der neuen Lebensform der Menschen im Industriezeitalter mitzuwirken, und sie ist, wie sich im weiteren ergeben wird, inzwischen zu einem konstituierenden Bestandteil geworden, einem Bestandteil der Wirtschafts- und der Lebensordnung wie auch der Anschauungswelt (...): jede künftige Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft, auch diejenige, die den Forderungen der Gerechtigkeit entspricht, ist durchzogen und durchsetzt von sozialen Einrichtungen und Grundsätzen, die an die Stelle früherer Formen der Kohäsion und Kooperation getreten sind.“158

Er formuliert deutlich, dass moderne Industriegesellschaften politische Gesellschaften sind, die von einem Dauergerüst sozialer Institute durchzogen sind und das nicht mehr wegzudenken ist. Es ist für die Existenz moderner Gesellschaften konstitutiv, für ihre Formen der ‚Kohäsion und Kooperation‘, für individuelle Lebensläufe ebenso wie für das ‚Leben‘ von sozialen Gruppen und für die wichtigsten sozialen und ökonomischen Dynamiken. Die sozialpolitischen Institute erfassen die gesamte Bevölkerung und regulieren ihre komplexen sozialen Beziehungen, auch wenn der Sozialstaat selbst aus einem an der Armuts- und Arbeiterfrage orientierten Kontext entstanden ist. Sozialpolitische Institute nehmen in H. Achingers Theorie eine zentrale Stellung ein. Institute, so definiert er, sind „alle Apparaturen des Vollzugs sozialer Geld- und Sachleistungen (...), die Dauer besitzen, von einem eigenen Geist erfüllt sind und ihrerseits nach kurzer Zeit beginnen, die soziale Intention der Gesamtheit zu beeinflussen, zu deklarieren und zu steuern.“159

Diese – wie er sagt – autonomen Gebilde beginnen eine eigene Dynamik zu entwickeln, die die Wahrnehmung der sozialen Verhältnisse bestimmt. Sie führen ein Vokabular ein, das nicht mehr etwas Originäres bezeichnet, sondern eine eigene Wirklichkeit, eine Wirklichkeit „zweiter Instanz“.160 Diese Ideenwelt der Institute sieht er außerordentlich kritisch, denn sie können zu einer „Versteinerung“161 führen und die Begriffe und Einrichtungen der Sozialpolitik ins Ideologische abgleiten lassen. Die Frage ist dann, ob man diese Versteinerungen aufbrechen und die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann – also Kontingenz in diese ideologischen Strukturen einführen kann. Er sieht eine zunehmende Stabilität und Autonomie der sozialen Apparaturen, die das ganze Jahrhundert und hierbei die verschiedensten politischen Regime überdauert haben, obwohl sie doch erst zu Beginn des Jahrhunderts entstanden sind. Die große Bedeutung der umfassenden politischen Gestaltung der modernen Gesellschaften durch Sozialpolitik ist unübersehbar, aber am Ende seiner brillanten Schrift ist seine Skepsis gegenüber der Politik nicht zu übersehen:

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„(…) offensichtlich wird die Kunst, die Gesellschaft mit politischen Mitteln zu gestalten, in großem Umfang ausgeübt. Aber diese Kunst ist noch nicht in ihren Voraussetzungen erkannt oder gar in den Weiterwirkungen des Handelns berechnet; vielfach sind sich die Akteure ihrer Reichweite kaum bewusst. Daher auch jener Glaube, man könne in gesellschaftlichen Dingen dies und jenes nacheinander isoliert aufgreifen und ‚lösen‘, ohne andere Wirkungen auszulösen, die niemand gewollt hat. Daher auch die heute international dominierende Meinung, das einfachste Mittel, die Einkommensumverteilung nämlich, sei tatsächlich das dominierende Werkzeug des sozialen Fortschritts. Daher auch die Blindheit gegenüber tiefer wurzelnden Krankheiten der Industriegesellschaft, etwa der schweren Bedrohung der Kindheit, daher das Unverständnis für Frauen- und Familienfragen, für nicht summierbare, für spezifische, regionale, nicht rational-juristisch faßbare Gegebenheiten.“162

Hier formuliert er seine großen Sorgen gegenüber den Akteuren der Sozialpolitik, die möglicherweise keine neuen Leitlinien, keine neuen normativen Ideen oder Grundrichtungen suchen, wie die Sozialpolitik der Gegenwart aussehen sollte. Es erstaunt, dass in dem Büchlein zwar den Interessengruppen und Verbänden ein großer Stellenwert eingeräumt wird, wohingegen die politischen Parteien als zentrale Akteure der Sozialpolitik geradezu stiefmütterlich behandelt werden. Sie werden kaum erwähnt, geschweige denn ihre Rolle und Bedeutung in der Politik des Sozialen systematisch entwickelt. Aber er betont immer wieder, dass Sozialpolitik faktisch – wenn auch oft über unbeabsichtigte Nebenwirkungen – die sektorale Einteilung der Politik in spezifische Politikfelder übergreift. Sie hat sich zu einer „tiefgreifende(n) Gesellschaftspolitik“163 gewandelt, die die Lebensverhältnisse und Einkommenspositionen aller Mitglieder der Gesellschaft positiv oder negativ berührt und zugleich kontingent setzt. Das Leben ist fundamental ‚zweischalig‘ geworden. Es gibt das immer weiter schrumpfende genuine Leben ohne den (Sozial-)Staat und dann das Leben, das durch sozialstaatliche Maßnahmen – in welcher Form auch immer – begleitet und eingerahmt wird. Letztere ‚Schale‘ ist konstitutiv für das moderne Leben, sie lässt sich nicht mehr wegdenken. Sie signalisiert, wie weit das Leben bereits verpolitisiert ist und dass wir in ‚politischen Gesellschaften‘ (M. Th. Greven) leben, die von einem massiven und dauerhaften, gleichwohl kontingenten Gerüst (sozial)staatlicher Regelungen und Institutionen durchdrungen sind. Gesellschaft als politiklose Gesellschaft ist nicht mehr denkbar, nicht einmal mehr in den einfallslosesten Phantasien weltfremder Soziologen oder Ökonomen.

5.7.2. Die Politik des Sozialen als aktive Gesellschaftssteuerung Seit H. Achingers Buch wissen wir um die Bedeutung der Sozialpolitik für die Einkommens- und Lebensverhältnisse aller Mitglieder der modernen Gesellschaften (vgl. oben Kap. 5.7.1.). Ende der 70er Jahre hat diese Vorstellung eine Radi-

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kalisierung erfahren, die die Ansprüche an die Politik des Sozialen fast ins Unerreichbare steigerte. Sozialpolitik soll nicht mehr nur aktive Gesellschaftspolitik sein, sondern aktive Gesellschaftssteuerung. Steuerung setzt immer eine bestimmte Zielgröße voraus, auf die hingesteuert werden soll. Im Kontext von Gesellschaftsteuerung ist die Konstruktion eines Zielsystems für die Gesellschaft eine im Kern unlösbare Aufgabe für die politischen Planer. Gleichwohl waren die Protagonisten der gesamtgesellschaftlichen Steuerung Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre nicht nur prominent, sondern auch äußerst optimistisch. Viele Sozialwissenschaftler sowie politische Planer in den jeweiligen Ministerien waren von dieser Idee fasziniert. Zwei Faktoren haben hierbei eine große Rolle gespielt. Zum Einen die zunehmende Prominenz keynesianischer Ideen, bei denen die Sozialpolitik zentral war. In ökonomischen Krisen kann durch staatliche Politik die Nachfrageseite des Marktes gestärkt werden, indem der Staat selbst durch Investitionen oder andere ökonomische Anreize die Nachfrage nach Gütern und Produkten stabilisiert oder gar stärkt und so eine antizyklische Wirtschaftspolitik realisiert. Neben massiven staatlichen Investitionen, die meist mit einer hohen Staatsverschuldung einhergingen, spielten auch die Einkommen der Beschäftigten eine wichtige Rolle. Sowohl direkte Lohnzahlungen als auch die ‚Quasi-Einkommen‘ der sozialen Sicherungssysteme waren nach der keynisianischen Theorie nicht mehr nur einzelwirtschaftliche Kostenfaktoren, sondern zugleich gesamtwirtschaftlich bedeutende Nachfragevariablen, die man politisch gestalten konnte. Steigende soziale Sicherungsleistungen, die Beseitigung sozialer Ungleichheiten, gewerkschaftlich durchgesetzte oder staatlich entschiedene Lohnsteigerungen ließen sich nun durch ökonomische Funktionalitäten rechtfertigen.164 Dem Bedeutungswandel der Sozialpolitik ging ein Wandel des Staatsverständnisses voraus. Der Staat wurde nun als Bestandteil des gesamtwirtschaftlichen Kreislaufs gedacht, der die Marktmechanismen ergänzte, die bei bestimmten Sachverhalten oder bei ökonomischen Krisen versagten. Besonders deutlich wurde das bei der Erfüllung gesamtgesellschaftlich relevanter Sachverhalte, wie beispielsweise bei Vollbeschäftigung und Preisstabilität. Politische Entscheidungen mussten sich verstärkt auf makro- wie mikroökonomische Ziele beziehen, wodurch sich die Komplexität des staatlichen Handelns enorm erhöhte. Die Verwissenschaftlichung der Politik war die unausweichliche Folge, die durch die Einsetzung von Sachverständigenkommissionen und durch wissenschaftliche Politikberatung vorangetrieben wurde. Aber auch die Politik bzw. staatliche Behörden schufen sich selbst ein informationstechnisches Instrumentarium, um politische Entscheidungen rationaler und zielangemessener treffen zu können. Zum zweiten und parallel dazu konnte man eine Informationalisierung der Politik beobachten, die in Prognose- und Simulationsmodellen, Frühwarnsystemen, computergestützter volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, datenbasierten Entscheidungssystemen u. ä. ihren Ausdruck fand. Die Entwicklung leistungs-

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starker Computer war eine der zentralen Voraussetzungen für die Realisation dieser Ideen. In diesem Zusammenhang wurden auch gesamtgesellschaftliche Zielsysteme entwickelt, die allgemeine Wertvorstellungen wie soziale Gerechtigkeit, Wohlstand, Verteilungsgerechtigkeit und Zukunftsgestaltung präzisierten und quantifizierten. Dies gelang mittels hochkomplexer Indikatorensysteme, die diese normativen Prämissen nachbildeten und messbar machten. Konzepte einer aktiven Gesellschaftssteuerung und einer integrierten Sozialpolitik wurden nun in der Politik und in den Politik- bzw. Sozialwissenschaften prominent.165 Dass sich damit verbundene Hoffnungen – insbesondere in der Bundesrepublik – nicht erfüllt haben und diese Konzepte inzwischen stillschweigend beerdigt wurden, ist eine andere Geschichte, die nicht unerwähnt bleiben darf. Eine integrierte, zukunftsorientierte und (deshalb) rationale Sozialpolitik musste zwei Dimensionen umfassen. Die externe Rationalisierungsstrategie bezog sich auf das Verhältnis der Sozialpolitik zu anderen Politikbereichen, vor allem zur Wirtschaftspolitik. Die Sozialpolitik ist wie kaum ein anderes Politikfeld äußerst eng mit dem ökonomischen System verkoppelt; in der traditionellen Sicht kompensiert sie die von ihm produzierten Probleme und ist somit reaktiv. Sozialpolitik hatte nach dieser Sicht strukturerhaltenden Charakter. Eine steuernde bzw. aktive Sozialpolitik sollte diesen Abhängigkeiten entgegensteuern und sich der „Bekämpfung von Ursachen“ und der „vorbeugenden Verhinderung“ sozialpolitischer Problemlagen zuwenden.166 Da das finanzielle Aufkommen der sozialen Sicherungssysteme über die Beitragsfinanzierung eng an die Dynamiken des ökonomischen Systems gekoppelt ist, ist eine rationale Abstimmung von Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik mit der Sozialpolitik unabdingbar.167 Mit einer solchen Rationalisierung – so eine weitere Erwartung – könnte auch eine einseitige Interessenformulierung in der Sozialpolitik aufgehoben und zugunsten einer rationalen und an gesamtgesellschaftlichen Werten orientierten Sozialpolitik ersetzt werden. Computergestützte Informations- und Indikatorensysteme könnten die Bedürfnis- und Problemlagen der Bevölkerung repräsentativ ermitteln und Politik diese zielgerichteter bearbeiten. Die interne Rationalisierung wollte die historisch entstandene und deshalb erratische Struktur der sozialen Sicherungssysteme überwinden und konsistente Ordnungsmuster in sie einbauen. Unumstritten war zur damaligen Zeit das Fehlen einer sozialpolitischen Gesamtkonzeption für die sozialen Sicherungssysteme. Eine Neu- und Umformung der bisherigen sozialpolitischen Systeme konnte nur von einer klaren Bestimmung des Ziels ausgehen, auf das hin alle Maßnahmen, Programme und einzelne Policies ausgerichtet und geplant wären. Dieses übergeordnete Leitbild konnte nur das einer integrierten, zukunftsorientierten und aktiven Sozialpolitik sein. Als Integration wurde damals „der geplante und gesteuerte Prozess der rationalen Abstimmung von Zielen und Instrumenten von zwei oder mehreren Programmen eines Politikbereiches (= interne Integrati-

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5. Die Politik des Sozialen on) oder von zwei oder mehreren Politikbereichen (= externe Integration) verstanden. Integration beruht insbesondere auf einer gewollten und kontrollierten Beobachtung der Verflechtung, d. h. der Auswirkungen eines Bereichs auf den anderen und der Rückwirkung des zweiten auf den ersten Bereich. Da diese Interaktionen über Zeit stattfinden, müssen die Verflechtungen zum selben Zeitpunkt und zu unterschiedlichen Zeitpunkten beachtet werden.“168

Eine Konsequenz aus dieser Vorstellung war die Reduktion der Anzahl möglicher Ziele. Wenn weniger Ziele mit einer gleichbleibenden oder gar steigenden Anzahl von Mitteln bzw. Instrumenten verfolgt werden können, so erhöhen sich die „Freiheitsgrade und damit die Steuerungsfähigkeit des Systems.“169 Unschwer ist die technokratische Dimension und zugleich der utopische Charakter dieses Politikverständnisses zu erkennen. Der Blick auf den Bildschirm eröffnet den Blick auf die Gesamtgesellschaft, auch wenn diese in endlosen Datenkolonnen am Auge des Beobachters und Simulators vorbeizieht. Aber dieser Blick eröffnet völlig neue Perspektiven bzw. Phantasien, wie man diese computergestützten Simulationsmodelle durch Variation einzelner Parameter in Bewegung setzen und die dadurch bewirkten Dynamiken beobachten kann. Dies schien die perfekte Herstellung der Zukunft, man sieht exakt und präzise die Wirkungen bestimmter politischer Maßnahmen, heruntergebrochen auf einzelne soziale Gruppen oder Einkommenspositionen. Der Blick auf den Bildschirm und der Blick in die Zukunft werden identisch. Allerdings nur unter der nicht bewiesenen Prämisse, dass das Modell und die ihm unterstellten und programmierten Interaktionen und Dynamiken mit den tatsächlichen in der hochkomplexen Wirklichkeit übereinstimmen. Ist allerdings ein Computersimulationsmodell vorhanden, so wird es mit seiner Hilfe möglich, „die Auswirkungen diverser integrierter Politiken durchzuspielen und ihre Effizienz schon in der Planungsphase beurteilen zu können.“ Es könnte „einen Großteil der kostenwirksamen staatlichen Aktivitäten auf ihre Nachfrage-, Produktions-, Beschäftigungs-, Preisund Einkommenswirkungen hin untersuchen. Dies gilt auch für implizite Transfers, die beispielsweise im Einkommenssteuerrecht eingebaut sind, und für staatliche Realtransfers.“170

Erneut wird deutlich, welch ungeheuer große Erwartungen und Ansprüche an computergestützte Planungs- und Simulationsmodelle geknüpft waren. Der Siegeszug des Keynesianismus in den Wirtschaftswissenschaften und der verstärkte Einsatz der Informationstechnologien in der Politik waren zwei Seiten eines Gesamtprozesses, die sich gegenseitig beeinflusst und bedingt haben. Wie in fast keinem anderen Politikbereich konnte man beobachten, wie intensiv sich die Vorstellung einer zielgerichteten und zukunftsorientierten Politik festgesetzt hatte. Unzählige Sozialwissenschaftler und Informatiker programmierten während dieser Zeit mit der festen Überzeugung an computergestützten Simulati-

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ons- und Planungsmodellen, dass die Zukunft durch politische Entscheidungen aktiv und zielgerichtet gestaltet werden könnte. Die Gesamtgesellschaft und ihre dynamischen Interkationen konnten nicht nur an den flimmernden Bildschirmen beobachtet werden, sondern man konnte auch die Wirkungen bestimmter Maßnahmen in der Zukunft sehen. Welch ein Traum wurde hier geträumt! Es war der Traum der vollkommenen Verfügbarkeit der Welt für die politischen Entscheider.

5.7.3. Die Entstehung und Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten Die Intensitäten der Politiken des Sozialen ändern sich nicht allein im Zeitverlauf, sondern sind auch in einzelnen Ländern zu bestimmten Zeitpunkten unterschiedlich intensiv. Als Folge davon entstehen nicht nur sehr unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten, die die Diversität und erstaunliche Spannbreite der Politiken des Sozialen verdeutlichen. Man kann zudem – das war eine große Neuerung in den 1980er Jahren – zwischen verschiedenen ‚Welten von Wohlfahrtskapitalismen‘ und Typen von Wohlfahrtsstaaten unterscheiden. Damit verbunden war die Hoffnung, nicht allein die Sozialausgaben als zentralen Indikator für den Vergleich der sozialen Politiken zu nehmen, sondern ‚tiefer‘ in deren Strukturen und Dynamiken zu blicken. Andere dagegen haben darauf bestanden, dass „typologizing (...) is the lowest form of intellectual endeavour, parallel to the works of bean-counters and bookkeepers.”171 Das ist nicht sehr freundlich formuliert und so trivial ist das Geschäft der Typenbildung dann doch nicht. Wie dem auch sei, im Jahr 1990 erschien ein Buch des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen, das ein neues Fenster öffnete und den Blick auf die Welt der Politik des Sozialen grundlegend änderte. Sein Blick reduzierte die unübersehbare Vielfalt der nationalen Ausprägungen auf allein „(t)hree worlds of welfare capitalism.“172 Es eröffnete zugleich eine völlig neue Perspektive, denn nun konnte man durch diese Brille auf Typen blicken, die nach drei Merkmalen unterschieden wurden. Die Kriterien, auf denen er sein Unterfangen gründete, waren nicht immer ganz klar und sind in seinen empirischen Untersuchungen auch nicht immer konsequent umgesetzt. Aber seine Ausgangsprämisse war offensichtlich: Inwieweit entfernt eine politisch entschiedene, soziale Position die Menschen von den Abhängigkeiten des Arbeitsmarktes bzw. dem des Verkaufs der Ware Arbeitskraft und inwieweit können sie ein Leben jenseits des Arbeitsmarktes, allein mittels sozialer Leistungen, realisieren? Sein Begriff hierfür war Dekommodifizierung und er hält fest: „(…) to emancipate workers from market dependency (…) required a major realignment of social policy, including two basic changes: first, the extension of rights beyond the narrow terrain of absolute need; and second, the upgrading of benefits to match normal earnings and average living standards in the nation. In reference to the former, what mat-

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5. Die Politik des Sozialen tered especially was the introduction of a variety of schemes that permit employees to be paid while pursuing activities other than working, be they child-bearing, family responsibilities, reeducation, organizational activities, or even leisure. Such programs are, in spirit, truly de-commodifying.“173

Dekommodifizierung bezeichnet somit einen Status, in dem Einkommens- und Verteilungsfragen vom Markt entkoppelt sind und so die Position der Arbeiter gegenüber der Verfügungsgewalt der Unternehmer stärkt. Dekommodifizierung hat auch eine politische Dimension, weil sie die Solidarität der Arbeiter begünstigt und ihre Widerstandskräfte gegenüber dem Kapital erhöht. Diese klassenkampf-politische Dimension – dies wird bei G. Esping-Andersen nicht wirklich klar – wird durch politische Entscheidungen positiv oder eher negativ ausgestaltet. Dekommodifizierung ist das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen und unterstellt, dass die Stärke der Arbeiterbewegung und/oder der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien in den Parlamenten über das Ausmaß der Dekommodifizierung entscheidet. Die Welten der Wohlfahrtskapitalismen werden noch durch zwei weitere Dimensionen beeinflusst. Eine ist Stratifizierung, das heißt die Strukturmuster der sozialen Beziehungen, die in einer Gesellschaft bestehen und selbstverständlich auch von sozialpolitischen Entscheidungen abhängen. „Der Wohlfahrtsstaat ist nicht allein ein Instrument zur Beeinflussung und gegebenenfalls Korrektur der gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur. Er stellt vielmehr ein eigenständiges System der Stratifizierung dar, indem er in aktiver und direkter Weise soziale Beziehungsmuster ordnet.“174

Eigenständige soziale Sicherungssysteme für Arbeiter, Angestellte und Beamte differenzieren die Bevölkerung in bestimmte ‚Klassen‘ und spalten die Bevölkerung. Ähnliches geschieht durch die Trennung von (Armen-)Fürsorge und Sozialversicherung, die jeweils sehr unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen und Leistungsniveaus formulieren. Umgekehrt vereinheitlichen staatsbürgerorientierte soziale Sicherungen die Mitglieder einer Gesellschaft (vgl. dazu ausführlich Kap. 5.6.) Schließlich spielt die Mischung aus staatlichen und privaten (Ver)Sicherungen eine große Rolle, weil private Versicherungen nach völlig anderen Maßstäben ihre Beiträge und davon abgeleitete Leistungen bemessen als staatliche (Sozial)Versicherungen.175 Später differenziert er dieses Merkmal und betrachtet weit stärker die Trias von Staat, Markt und Familie und deren konkretes Zusammenoder auch Gegeneinanderwirken. Welche drei Typen bzw. welche drei Welten von Wohlfahrtskapitalismen kann man nun unterscheiden? G. Esping-Andersen identifiziert mit Daten aus den 80er Jahren liberale, konservative und universalistische Wohlfahrtsstaaten.176 Liberale Wohlfahrtsstaaten haben den geringsten Dekommodifizierungsgrad und sind gekennzeichnet durch bedarfsgeprüfte Sozialfürsorgeleistungen, niedri-

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ge universelle Transferleistungen und bescheidene Sozialversicherungsprogramme. Hier dominiert die Vorstellung, dass die Menschen auf marktbasierte Einkommenspositionen verwiesen sein sollen und dass staatliche Leistungen eher ergänzend und nur unter strikten Bedürftigkeitsprüfungen gewährleistet werden. Private Versicherungen gegen soziale Risiken werden oft durch staatliche Subventionen begünstigt. Die USA, Kanada und Australien waren damals die typischen Vertreter, abgeschwächt aber auch die Schweiz und Großbritannien, wobei die Einordung der beiden zuletzt genannten Länder äußerst umstritten ist. Konservative Wohlfahrtssaaten befinden sich in einer ‚mittleren‘ Position. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Gewährung von sozialen Leistungen an den Erwerbsstatus knüpfen und sich die Höhe der staatlichen Sozialleistungen an den auf dem Arbeitsmarkt erzielten Einkommen orientiert. Insofern erhalten sie die Einkommensdifferenzierungen des Arbeitsmarktes weitgehend aufrecht und ‚transportieren‘ sie in den Wohlfahrtsstaat. Der Wohlfahrtsstaat wird so zum Generator sozialer Ungleichheit und produziert das, was als Stratifizierung bezeichnet wird. Verstärkt wird dies durch die berufsständische Gliederung der sozialen Sicherung. Beamte, freie Berufe, Selbständige und andere soziale Gruppen verfügen über eigenständige Systeme der sozialen Sicherung, vor allem in der Alterssicherung. Dies stärkt unübersehbar die Stratifizierung. Schließlich spielt in diesem Typus die Familie eine zentrale Rolle. Sein Leitprinzip ist Subsidiarität, das besonders für den bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat prägend war und ist. So wird beispielsweise die staatliche Fürsorge in der Sozialhilfe nur dann gewährt, wenn der Rückgriff auf Verwandte ersten Grades keine Ressourcen für die Betroffenen erschließt. Ihre Unterstützung ist primär, die des Staates tritt erst sekundär, besser subsidiär ein. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau wird durch diesen Typus unterstützt, weil Frauen, vor allem nicht-erwerbstätige Frauen, zwar keine eigenständige Sicherung haben, aber über den Erwerbsstatus der Männer mittels abgeleiteter Leistungen gesichert sind. Kostenfreie Mitversicherung von Frauen und Kindern in der gesetzlichen Krankenversicherung und Witwenrenten, die sowohl vom Grund als auch der Höhe von der Erwerbsarbeit des Mannes abhängig sind, sind hierfür typisch. Die Bundesrepublik verkörpert diesen Typus vielleicht am klarsten, aber auch Belgien, Frankreich, Italien und Österreich gehören dazu. Universalistische Wohlfahrtsstaaten knüpfen ihre Sozialleistungen an den Staatsbürgerstatus und nicht an lohnzentrierte Erwerbsarbeit. Alle wesentlichen Leistungen werden ohne vorangegangene Beitragszahlungen gewährt und infolgedessen fast exklusiv aus Steuermitteln finanziert. „(Universalismus heißt): Alle Bürger werden, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit oder Marktstellung, mit ähnlichen Rechten ausgestattet.“177 Auf diese besteht ein unbedingter Rechtsanspruch und kein subsidiärer. Der Kern der sozialen Sicherung besteht in einer materiellen Grundsicherung im Falle von Krankheit, Alter, Invalidität und Ar-

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beitslosigkeit, wobei dies durch ein ausgebautes und gut organisiertes System von Dienstleistungen ergänzt wird. Die Stellung der Frauen ist von der in konservativen Wohlfahrtsstaaten erheblich unterschieden. Es gibt ein umfassendes System der Kinderbetreuung, das den Frauen Erwerbsarbeit ermöglicht und sie ist auch – im Vergleich mit den konservativen – erheblich ausgeprägter. Zum anderen bietet der öffentliche Dienst ein erhebliches Arbeitskräftepotential an gut abgesicherten Teil- und Vollzeiterwerbsplätzen, in denen vorwiegend Frauen beschäftigt sind. Abgeleitete soziale Sicherung von Frauen, die dem Grunde und dem Inhalt nach von den (Ehe)Männern abhängt, spielt eine untergeordnete Rolle, weil wichtige soziale Rechte am Staatsbürgerstatus anknüpfen und nicht als abgeleitete institutionalisiert sind. Die nordischen Wohlfahrtsstaaten, konkret Schweden, Dänemark, Norwegen und – wenn auch umstrittener – Finnland verkörpern diesen Idealtypus. Jeder dieser drei Typen entsteht durch Politik und es ist nun zu fragen, welche Politik des Sozialen welchen Typus hervorbringt und welche politischen Kräfte G. Esping-Andersen hierfür ‚verdächtigt‘. Seine Antwort ist eindeutig und zugleich kausal: Je größer die parlamentarischen und exekutiven Machtressourcen von linken Parteien sind, desto ausgeprägter ist der Dekommodifizierungsgrad und je universalistischer der wohlfahrtskapitalistische Typus. Seine Indikatoren hierfür sind der Anteil linker Parteien an Parlamentssitzen und die Anzahl der Kabinettssitze dieser Parteien. Ein weiterer Faktor tritt hinzu: Je höher die Seniorenquote eines Landes, desto universalistischer ist die wohlfahrtsstaatliche Ausprägung. Verstärkt wird dies durch historische Pfadabhängigkeiten, wobei die Staaten eine intensivere Politik des Sozialen betreiben, die staatsabsolutistische Traditionen aufweisen. Selbstverständlich entzündeten sich an den Grundprämissen seines Konzepts kontroverse Diskussionen, die ich hier nicht in aller Ausführlichkeit wiedergeben will.178 Erwähnt sei nur, dass G. Esping-Andersen etwas vorschnell von programmatischen Politikprämissen auf deren umstandslose Realisation in Policies ausgeht, während Entscheidungen auch nicht-intendierte Folgen haben können und Programm und Policy nie eins-zu-eins übereinstimmen.179 Zudem unterstellt er eine erstaunliche Trägheit der einmal entstandenen Typen, die sich aber im Zeitverlauf ändern können.180 Dies gilt gerade für die sozialpolitischen Dynamiken, die vor allem am Endes des Jahrhunderts die reinen Typen auflösen und rekombinante Welten des Wohlfahrtskapitalismus entstehen ließen (vgl. dazu unten Kap. 5.8.2.). Mit erstaunlicher Leichtigkeit verlassen sie nicht nur unterstellte Pfadabhängigkeiten, sondern rekombinieren auch problemlos typische Merkmale von liberalen, konservativen und universalistischen Regimen zu immer neuen Formen, bis sich eine neue spezifische Mischung ergibt, die sich seiner Typologisierung entzieht.181 Auch wurden zwei neue Typen identifiziert, die seine Dreiertypologie erweitern sollten. Zum einen rudimentäre Wohlfahrtsregime, die einen

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starken landwirtschaftlichen Produktionssektor haben und in denen Kommodifizierung noch nicht dominant geworden ist. Portugal und Spanien wurden in den 80er und 90er Jahren dazu gezählt.182 Auch wurde später der postsozialistische Typus identifiziert, der in den Nachwehen der Transformationen zur Demokratie in den ehemals sozialistischen Staaten entstanden ist. Dessen Konturen haben sich noch nicht klar ausgebildet und kombinierten oft Reste der sozialistischen Wohlfahrtsregime mit stark reformierten Sektoren.183 Schließlich wird G. EspingAndersen aus feministischer Sicht Geschlechterblindheit vorgeworfen.184 Die Kategorie der Dekommodifizierung setzt vorangegangene Kommodifizierung voraus, also die Marktgängigkeit der Ware Arbeitskraft. Dies ist in vielen Wohlfahrtsstaaten ein männliches Privileg, während Frauen diese Voraussetzungen wegen Kindererziehung, anderer familiärer Tätigkeiten oder geringerer beruflicher Qualifikation oft nicht erfüllen. Die von G. Esping-Andersen eingeführte Typologie hat den Blick auf verschiedene Typen von Wohlfahrtsstaaten und ihre konstitutiven Merkmale gelenkt, aber auch die politischen Dynamiken bei deren Entstehung ansatzweise untersucht. Aber die Schlüssel für eine genauere Analyse der Politik des Sozialen hat er nicht im Detail entwickelt und auch nicht umfassend geklärt. Aber er hat verdeutlicht, dass in der empirischen Analyse der Politiken des Sozialen der Schlüssel für Entstehung, Stabilisierung und Wandel von Wohlfahrtsstaaten bzw. Typen von Wohlfahrtskapitalismen liegt.

5.8. Von der Gestaltung des Sozialen zur (Selbst)Steuerung von Systemen: Die Sozialpolitik zweiter Ordnung, die Entstehung rekombinanter Wohlfahrtsstaaten und das Problem der Exklusion Am Ende des Jahrhunderts sind wir mit Politiken des Sozialen konfrontiert, denen die zielgerichtete, an normativen Prämissen orientierte Gestaltung des Sozialen abhanden gekommen ist. Stattdessen haben die politischen Entscheider von diesen anspruchsvollen Konzepten Abschied genommen und sich auf reaktive Politiken zurückgezogen. Zwei Faktoren mögen dafür verantwortlich sein. Zum einen globale Dynamiken, die sich im Kontext oder auch als Folge der zunehmenden Globalisierung aller ökonomischen, sozialen und politischen Prozesse ergeben haben. Politik kann dann nicht mehr auf mögliche Ursachen von sozialen Problemen zurückgreifen, weil diese außerhalb des Zugriffsradius der nationalen Politiken liegen. Die Europäisierung oder Globalisierung der Politik hinkt weit hinter den Geschwindigkeiten her, mit denen sich diese Prozesse vollziehen. Sie kommt nicht nur immer zu spät, weil die Problemkonstellationen längst weitergezogen sind. Sie kommt auch nicht mehr an die möglichen Ursachen heran, weil sich diese auf die transnationale Ebene verlagert haben.

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Zum anderen Resignation, die sich im Bewusstsein der denkenden Politiker oder politischen Denker ausgebreitet hat und zu einem nie explizit diskutierten Hintergrund des politischen Entscheidens geworden ist. Die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse ist so überwältigend und die Leichtfertigkeit der Politik so gravierend, dass die Selbststeuerung von bestimmten Institutionen oder Organisationen als rationale Option im Gegensatz zur rational angelegten politischen Steuerung angesehen wird. Selbststeuerung ist dann der Mechanismus, über den ‚Systeme‘ Anpassungen an Variationen von externen Faktoren selbstständig vollziehen. Es ist der perfekte Reaktionsmechanismus, weil sich alle Anpassungen ohne Hinzutun von Akteuren vollziehen und Re(a)gieren automatisiert wird. Die Politik des Sozialen verliert ihren Gegenstand: Während sie es bisher entsprechend dem Anspruch aller Beteiligten mit der umfassenden Gestaltung von Lebenslagen durch normativ orientierte und/oder zielgerichtete Politiken zu tun hatte, richtet sie sich nun auf die Stabilisierung von Systemen. Selbststeuerung als Entpolitisierung, die politische Produktion von rekombinanten Wohlfahrtsstaaten und die Ausbildung von Wettbewerbsstaaten transformieren die Sozialpolitik erster Ordnung in eine Sozialpolitik zweiter Ordnung185, die von grundlegend anderen normativen Prämissen angeleitet wird. Nicht mehr die politische Ausbildung von gentlemen im Marshallschen Sinne steht nun im Zentrum der Politik des Sozialen, sondern die situative, reaktive und vorwiegend finanzielle Stabilisierung eines bestehenden Institutionengebildes der sozialen Sicherung. Zeitorientierte Reaktivität dominiert dann das Alltagsgeschäft der Politiktreibenden. Ich will dies an vier Beispielen verdeutlichen: Der Einführung der Selbststeuerung in der gesetzlichen Rentenversicherung, nicht nur, aber vor allem in Deutschland (Kap. 5.8.1.). Eine Analyse der Gründe der bereits erwähnten und politisch induzierten Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten folgt (Kap. 5.8.2.) und wird durch die Beobachtung des Wandels vom Wohlfahrtszum Wettbewerbsstaat ergänzt (Kap. 5.8.3.). Stellt durch diese Dynamiken die Sozialpolitik von einem Instrument der Inklusion zu einem der Exklusion um? Vor allen in den Staaten der Dritten und Vierten Welt, aber auch in den modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaaten wird Exklusion als neues Phänomen beobachtet, das durch staatliche Sozialpolitiken nicht verhindert, sondern womöglich begünstigt wird (Kap. 5.8.4.).

5.8.1. Selbststeuerung in der Sozialpolitik: Das Beispiel der Rentenreform 1989 in der Bundesrepublik und andere Beispiele Am 9. November 1989 verabschiedete der Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992) – zur gleichen Zeit wurde die Deutsch-Deutsche Grenze geöff-

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net und damit die Teilung Deutschlands beendet. Die versehentlich erfolgte Grenzöffnung hat ohne Frage eine viel weitreichendere Bedeutung als das am gleichen Tag verabschiedete Rentenreformgesetz. Aber für eine Sozialpolitik zweiter Ordnung war dieses Gesetz eine ‚Grenzöffnung‘, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialpolitik der Prototyp eines sich selbst steuernden Systems der sozialen Sicherung konstituiert wurde. Seither gab es viele analog gefasste Gesetze, die die europäische Sozialpolitik immer mehr zu dominieren beginnen und einen grundlegenden Wandel der Politik des Sozialen signalisieren. Die Lawine ins Rollen gebracht hat ein Gesetzentwurf der SPD aus dem Jahr 1984. In den gesamten 80er Jahren wurden Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung von allen wichtigen Akteuren diskutiert und verschiedenste Vorstellungen konkurrierten in der Öffentlichkeit. 186 Hintergrund waren die erwarteten demographischen und sozialen Veränderungen, die den damaligen Computersimulationen zufolge zu erheblichen Finanzierungsproblemen führen mussten. Ebenso wichtig waren aber auch politische Faktoren. Sozialpolitik, insbesondere aber Rentenpolitik, ist immer auch Wahlpolitik und die Rente, konkret Rentenanpassungen, war immer auch ein Instrument der gerade regierenden Koalitionsparteien, sich durch Rentenerhöhungen die Gunst der RentnerInnen bei bevorstehenden Parlamentswahlen zu sichern. Zudem schwebte über allen Beteiligten das sogenannte „Rentendebakel“ des Jahres 1976. Entgegen vieler Warnungen und computergestützten Berechnungen hatte die damalige sozial-liberale Bundesregierung an einer Rentenerhöhung von 11 % festgehalten. Änderungen im Rentenrecht vor der damaligen Bundestagswahl anzukündigen erschien den Politikern und Wahlkampfplanern als geradezu selbstmörderisch. Aber nach der Wahl war man – erwart- und vorhersehbar – mit geradezu dramatischen Finanzierungsproblemen der GRV konfrontiert, auf die man dann unmittelbar reagieren musste: Die übliche Rentenanpassung wurde verschoben und durch andere Kürzungsmaßnahmen ergänzt. Die CDU-Opposition und die Sozialverbände beschuldigten die Regierung der „Rentenlüge“, dem „Betrug am Wähler“, einem „Vertrauensbruch“ u. Ä. und die innerparteilichen Konflikte in den Regierungsparteien waren immens. Dies alles hat bei einer Minderheit in den Parteien zu Überlegungen einer Entpolitisierung der Politik der Rente geführt, weil die Versuchungen der Sozialpolitik als Wahlpolitik unübersehbar waren und auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden konnten. Die angemessene Entpolitisierung sah man in der Selbststeuerung der GRV, die quasi-automatisch auf Veränderungen ihrer Umwelt reagiert. Dazu sollten die wesentlichen Größen, die die Finanzentwicklung bestimmen, so miteinander verkoppelt werden, dass die finanzielle Stabilität des in Umlage finanzierten Systems auch bei externen Turbulenzen erhalten bleibt. Beitragssatz, Bundeszuschuss und Rentenanpassung sollten in der Rentenanpassungsformel so miteinander verkoppelt werden, dass immer Stabilität gegeben ist. In dem 1984 von der oppositio-

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nellen SPD in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf hieß es, dass die drei eben erwähnten Größen so miteinander verbunden werden sollten, dass „sich das Rentenversicherungssystem (…) auch bei Änderungen der ökonomischen und demographischen Rahmenbedingungen nach einer gesetzlich im Voraus festgelegten Form stabilisiert, ohne dass Eingriffe des Gesetzgebers notwendig werden.“187

‚Ohne Eingriffe des Gesetzgebers‘ – das war die nun zentrale Formel. Bisher hatte der Gesetzgeber relativ unabhängig von allen kontextuellen Rahmenbedingungen sowohl den Beitragssatz als auch die Höhe der Rentenanpassung und die Höhe des Bundeszuschusses per Gesetz bestimmt. Nun sollte das nicht mehr möglich sein, sondern alle Größen sollten sich aus einer neuen Rentenformel automatisch ergeben und durch Rechtsverordnung des Ministeriums umgesetzt werden. Der Handlungsspielraum der Politik wird dadurch auf Null reduziert; diese Selbstentmächtigung musste sich aber die Politik selbst auferlegen. Dies erfolgte im Jahr 1989 im Rahmen der sogenannten Rentenreform ’92. Hier wurde die Idee zum Gesetz. Bei der Lektüre der Begründung zum Gesetzentwurf drängt sich der Eindruck eines überbordenden Sicherheitsbedürfnisses der ministeriellen Verfasser auf, die das Rentensystem gegenüber Veränderungen durch die Umwelt und durch die Politik immunisieren wollten. Zentral wurde dann die Vorstellung einer autonomen, sich ohne Politik vollziehenden Selbststabilisierung des Systems. Eine längere Passage aus der Begründung zum Gesetzentwurf soll dies verdeutlichen: „Schließlich bewirkt die selbstregulierende Verbindung von Beitragssatz, Bundesbeitrag und Rentenanpassung, dass deren Werte sich von selbst und nicht erst aufgrund von neuen Abwägungs- und Entscheidungsprozessen des Gesetzgebers ergeben. Dann ist es auch folgerichtig, dass diese Werte nicht durch ein Gesetz, sondern nur durch Rechtsverordnung festgestellt werden. Denn bei einer gesetzlichen Festlegung ergäbe sich Jahr für Jahr die Frage, ob nicht aus bestimmten aktuellen Überlegungen von dem System abgewichen werden soll. Selbst wenn es letztlich nicht zu einer Abweichung kommt, wird dennoch das Vertrauen durch solche Diskussionen gestört. Dies ist nicht der Fall, wenn der Verordnungsgeber, der keine Abweichungsmöglichkeiten hat, aufgrund eindeutiger gesetzlicher Vorgaben die maßgebenden Werte feststellt. (…) Wenn der Gesetzgeber von dem Selbstregulierungsmechanismus abweichen will, müsste er künftig die Initiative ergreifen, weil anderenfalls die Werte entsprechend diesem Mechanismus festgestellt werden. Dann steht aber der Gesetzgeber auch in einem besonderen Begründungszwang, warum er von diesem Mechanismus abweichen will, welche langfristigen Vorstellungen er damit verbindet und ob er den Mechanismus nicht entsprechend ergänzen will, so dass er in Zukunft wieder uneingeschränkt anwendbar ist. Dies führt dazu, dass künftige Eingriffe nur noch unter langfristigen Zielsetzungen vertretbar sind und die Rentenversicherung aus der Tagespolitik herausgehalten wird, so dass Eingriffe auf das Unvermeidbare beschränkt werden und durch die Beachtung langfristiger Ziele Vertrauen erhalten bleibt.“188

Man kann in diesen Formulierungen die Aversion der Ministerialbeamten gegenüber der Politik spüren, denn in immer neuen Anläufen wird betont, welchem Vertrauensverlust, welchen Irritationen und welchen Irrationalitäten die Renten-

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politik im politischen Tagesgeschäft ausgesetzt ist. Der Begriff des ‚Mechanismus‘ taucht oft auf und in der Tat ist dann die Politik des Sozialen zu etwas ‚Mechanischem‘ geworden, zu einem Prozess, der sich quasi bewusstlos vollzieht und bestimmten Gesetzen, Regelmäßigkeiten und Mustern unterworfen ist, die sich unveränderlich durchsetzen – wie in der (mechanischen) Physik. Dieses mechanistische Verständnis der Politik, das seinen zugespitzten Ausdruck im ‚Selbstregelungsmechanismus‘ gefunden hat, ist der Inbegriff einer Sozialpolitik zweiter Ordnung.189 Mit diesem Mechanismus unmittelbar verbunden ist die Verlagerung der Entscheidungsarena. Entscheidungen werden nun nicht mehr im demokratisch-parlamentarischen Prozess getroffen, sondern allein durch ministerielle Verordnungen. Das Rentenreformgesetz ’92 ist ein typisches, kybernetisch inspiriertes Selbststeuerungsgesetz. Es setzt einen Sollwert voraus, dessen laufende Aktualisierung vom System angestrebt wird. Er wird zum normativen Maßstab, an dem die Wirksamkeit des Systems bewertet wird. Damit verschiebt sich das Zielsystem der Rentenversicherung auf diesen Sollwert. Die Stabilisierung des finanziellen Gleichgewichts, die sich in der laufenden Übereinstimmung der Einnahmen und Ausgaben über einen bestimmten Zeitraum ergibt, wird zur primären Zielgröße. In einer Politik des Sozialen erster Ordnung kann die finanzielle Stabilität eines in Umlage finanzierten Sozialversicherungssystems nur ein Mittel, eine Art Zwischenziel für ein eigentliches Ziel sein.190 Dieses ist in der Regel politisch durchaus umstritten, aber eine Politik erster Ordnung versucht immer, zielorientiert bestimmte Wirkungen zu entfalten – sei es bei sozialen Sicherungsniveaus, der Regelaltersgrenze, bei Mindestsicherungselementen, der Anrechnung von Kindererziehungszeiten etc. Kybernetische Selbststeuerung führt dagegen zu einer Schließung des politischen Prozesses, da nun alle ökonomischen, sozialstrukturellen, arbeitsmarktpolitischen und demographischen Veränderungen sozusagen ‚lautlos‘ aufgenommen, automatisch verarbeitet werden und als ministerielle Verordnungen dann Eingang in die Politik des Sozialen finden. So verständlich eine Politik der Automatisierung des Regierens auch nach den Erfahrungen der 70er und 80er Jahre sein mag, sie rechtfertigt keine fast völlige Verabschiedung der Forderung nach (ziel-)rationaler Sozialpolitik und auch nicht, sie dem demokratischen Prozess zu entziehen. Ähnlich gelagerte Typen des automatischen Regierens als Ausdruck einer Sozialpolitik zweiter Ordnung sind in anderen Ländern ebenfalls implementiert worden. Ein typisches Beispiel waren die Reformen in Griechenland in der Folge der tiefgreifenden Finanzkrise im Jahr 2010.191 Sollten die Rentenausgaben – aus welchen Gründen auch immer – mehr als 2,5 % des Bruttoinlandprodukts überschreiten, so muss die Regierung umgehend Maßnahmen ergreifen, die die Rentenausgaben auf dieses Niveau zurückführen und Kürzungen verschiedenster Art

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beinhalten können. Unterhalb der 2,5 %-Grenze kann die Regierung handeln, liegen die Ausgaben darüber, muss sie es. Auch dies ist eine automatisierte Form des Regierens, die man auch weit früher in Kanada im Jahr 1988 beobachten konnte. Hier handelte es sich um die Einführung einer Bedarfsprüfung bei hohem Renteneinkommen im Alter. Sie wurde als gegen die Reichen gerichtete Maßnahme bezeichnet und konnte so leicht durchgesetzt werden. Die Einkommensgrenze, ab der die Einkommensbegrenzung wirkt, ist jedoch so indexiert, dass sie sich nur bei Inflationsraten von über 3 % verändert. Da Renten und andere Einkommenspositionen im Alter laufend an die Preisentwicklung angepasst werden, frisst sich diese Grenze langsam nach unten durch die Einkommenspyramide hindurch, bis langfristig nur noch niedrige Renten von der Bedarfsprüfung ausgenommen sind.192 Hier wurde automatisches Regieren mit mittel- oder langfristig einsetzenden Wirkungen kombiniert. Die Logik des Abbaus impliziert, dass nicht ein radikaler Wurf implementiert wird, sondern schritt- und stufenweise Änderungen vorgenommen werden. Gegenwärtig vorgenommene kleine Veränderungen können kumulative große Wirkungen in der Zukunft erzielen, indem sie Weichenstellungen vornehmen, die den wohlfahrtsstaatlichen Zug zwar langsam, aber energisch in diese neue Richtung laufen lassen.193

5.8.2. Die Auflösung von Typen von Wohlfahrtsstaaten und die Entstehung rekombinanter oder hybrider Typen Am Ende des 20. Jahrhunderts kann man die Auflösung der tradierten Typen von Wohlfahrtsstaaten beobachten, die alle auf die Typologie von G. Esping-Andersen194 positiv oder negativ Bezug nahmen. Vergleichende Studien zeigen, dass wir es heute mit rekombinanten Wohlfahrtsstaaten195 zu tun haben, die problemlos universalistische, konservative und liberale Elemente verbinden. Diese Dynamik verdeutlicht erneut die politische Dimension von Wohlfahrtsstaaten, deren Pfadabhängigkeiten zwar unübersehbar sind, aber deren grundlegende Kontingenz durch die Rekombinierbarkeit verschiedener typologischer Bausteine am Ende des 20. Jahrhunderts sichtbar wird. Zwar konnte man innerhalb der einzelnen Typen von Wohlfahrtsstaaten eine erhebliche Bandbreite empirischer Variationen beobachten, aber sie waren dennoch von übergreifenden normativen Prämissen geprägt, die von der Politik realisiert wurden. Nur so konnten sich die oben erwähnten Typen von Wohlfahrtsstaaten ausbilden. Verlieren diese übergreifenden Prinzipien in den Anpassungsprozessen an Bedeutung, so gehen auch die typologischen Merkmale verloren und es entstehen Wohlfahrtsstaaten, die ‚konturlos‘ werden und sich zu rekombinanten Wohlfahrtsstaaten entwickeln.

5.8. Von der Gestaltung des Sozialen zur (Selbst)Steuerung von Systemen

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Beginnen möchte ich mit den Wohlfahrtsstaaten, die sich in den Transformationen vom Sozialismus in den mittel- und osteuropäischen Staaten herausgebildet haben. Während sie unter dem Sozialismus einem einheitlichen Typus zugeordnet werden konnten (vgl. unten Kap. 4.5.2.), sind sie nach dem Zusammenbruch sehr eigenständige Wege gegangen.196 Eine vergleichende Untersuchung von zehn der mittel- und osteuropäischen Staaten, die inzwischen der EU beigetreten sind,197 kommt zu folgendem Schluss: „Es wird deutlich, dass die Einordnung der MOEL (mittel- und osteuropäischen Länder, F.W.R.) in die vier wichtigsten Wohlfahrtswelten westlicher Wohlfahrtsstaatstheorien nicht praktikabel ist. Die Heterogenität der Systeme lässt auch kein generalisierendes Bild zu, das die Etablierung des mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaats als eigenständiges Modell, als neue Kategorie erlaubt. Beobachtbar ist eine zunehmende Angleichung aller zehn analysierten Staaten an westliche Vorbilder, jedoch ohne dabei einem bestimmten Beispiel musterhaft zu folgen. Stattdessen werden Anleihen in allen westlichen Wohlfahrtsstaatsfamilien gemacht, die mit eigenen Erfahrungen und Traditionen sowie einem spezifischen Reformumfeld verwoben werden.“198

Man kann unschwer eine „Hybridisierung“199 beobachten, die neue Mischformen ausbildet und eine bisher nicht dagewesene Kontingenz der Politik des Sozialen verdeutlicht. Sie geht nun Wege, die bisher nicht gegangen wurden und kreiert bisher nicht kreierte Welten von Wohlfahrtskapitalismen. Dies wird von weiteren Studien gestützt, die ebenfalls feststellen, dass die „East Central European welfare states (are) more diverse and mixed than their Western counterparts. This makes it difficult to pace them into the categories of ‚conservative-corporatist‘, ‚liberal’ or ‚social democratic’. The constant changing nature of the East European welfare regimes led some authors to describe the systems as ‚faceless‘ (Lelkes 2000), ‚mixed‘ (Szikra 2005) or ‚institutionally volatile‘(Tomka 2005).“200

Die Tendenz ist eindeutig: Die mittel- und osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten sind das Ergebnis situativer Politiken, die in den Transformationsprozessen nach den ‚friedlichen Revolutionen‘ entschieden wurden. Internationale Organisationen, v.a. die Weltbank, versuchten zwar ihre neoliberal geprägten Ideen in manchen der Staaten, v. a. in der Rentenpolitik, zu realisieren. Aber diese Versuche waren allein zu Anfang und in nur wenigen Staaten, wie etwa in Polen, erfolgreich. Sie wurden später von einer Welle unsystematischer und situativer Anpassungspolitiken überschwemmt, die zu den weitgehend ‚gesichtslosen‘ Wohlfahrtsstaaten geführt haben.

5.8.3. Vom modernen Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat Die Internationalisierung der Finanzmärkte, die steigende Mobilität von Kapital, Wissen und Arbeit im Weltmaßstab und der Aufstieg ehemaliger industrieller

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Schwellenländer zu ernsthaften ökonomischen Konkurrenten der traditionellen Industrieländer sind die wichtigsten Erscheinungen, die mit dem Begriff der Globalisierung erfasst werden.201 In der Folge veralten nicht nur deren traditionelle staatlichen Steuerungsinstrumente, sondern es verändern sich die generellen Ausgangs- und Rahmenbedingungen nationaler Politik und als Folge die etablierten Strukturen gesellschaftlicher Steuerung.202 Dies führt unvermeidlich zu Anpassungsprozessen und folglich zur Konvergenz in einer Reihe von Politikfeldern, am deutlichsten in der Wirtschafts- und insbesondere in der Geldpolitik.203 Moderne Wohlfahrtsstaaten werden in dieser Sichtweise zu einem Luxusgut, das in seiner bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Die Folgen der Globalisierung machen aus dem Wohlfahrtsstaat einen „Wettbewerbsstaat“204, der sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt sieht. Er muss zunächst die Wettbewerbsfähigkeit von einzelnen Unternehmen und Wirtschaften erhalten und zugleich die generelle Standortqualität eines Landes bzw. eines Nationalstaates garantieren, um reale oder angedrohte Abwanderungen von Unternehmen zu verhindern. Die Sozialpolitik ist hier für beide Problemfelder relevant und gerät unter den Druck dieser Handlungsfelder, der für alle auf dem Weltmarkt operierenden Staaten im Prinzip gleichermaßen gilt. Welche möglichen Folgen hat dies für den Wohlfahrtsstaat? Die Konvergenzthese geht davon aus, dass sich mehr oder weniger alle Wohlfahrtsstaaten diesem einen Ziel verschreiben müssen: Die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften im globalen Kampf um Märkte zu verbessern, indem alle marktkorrigierenden oder markthemmenden Regelungen abgebaut und die Sozialausgaben gesenkt werden. Die Globalisierung – so resümiert Geoffry Garret diese Diskussion – lässt langfristig nur noch ein Politikmodell zu: „The imperatives of the market impose heavy constraints on the bounds of democratic choice. Good government is a market friendly government and this effectively rules out most of the ‚welfare state‘ policies that the left labored long and hard to establish in the forty years following the great depression.“205

Die Folge ist, dass der De-Kommodifizierungsgrad von Wohlfahrtsregimen zwar in unterschiedlicher Intensität, aber dennoch kontinuierlich abnimmt und alle mehr oder weniger auf liberale bzw. residuale Wohlfahrtsstaaten einschwenken. Handlungstheoretisch wird die von G. Esping-Andersen formulierte These von den Füßen auf den Kopf gestellt. Die Machtressourcen von (internationalen) Kapital- und Unternehmensbesitzern sind so groß, dass sie alle sozialdemokratischen, linken oder auch andere Alternativen ausstechen, ihre Position unter allen Umstände durchsetzen und dass diese Position immer die eines im Prinzip residualen bzw. liberal ausgerichteten Wohlfahrtsstaates ist.206 Die empirische Vielfalt der jetzt existierenden Wohlfahrtsstaaten wird dabei allerdings übersehen. Auch die institutionellen und politischen Vermittlungsprozesse, über die sich die

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vermeintlich universalistischen Anforderungen der Globalisierung in konkrete Sozialpolitiken übersetzen, bleiben weitgehend ausgeblendet.

5.8.4. Exklusion: Die Umkehrung der wohlfahrtsstaatlichen Dynamik und die Überflüssigkeit von Menschen Exklusion – der Begriff markiert einen politischen, sozialen und räumlichen Sachverhalt, den andere Begriffe, wie soziale Ungleichheit, Armut, u. ä. in dieser Radikalität nicht markieren können. Exklusion kann als eine Art Megacodierung betrachtet werden, die die funktionale Differenzierung von Gesellschaften samt ihrer sozialen und anderer Problematiken hinter sich lässt und eine Art Vorsortierung liefert.207 Menschen werden in zwei Gruppen sortiert, die Inkludierten und die Exkludierten, wobei die Inkludierten sich in den modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften bewegen bzw. aufhalten, während die Exkludierten sozusagen vor ihren verschlossenen Türen stehen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Ausführungen von N. Luhmann, weil er den Begriff der Exklusion zwar nicht eingeführt, aber dennoch systematisiert und vor allem radikalisiert hat. Zudem sind seine Theoretisierungen durch Erfahrungen geprägt, die er bei Fahrten in die Favelas in Brasilien und später in Armutsgebieten anderer Länder gemacht hat. Das dort Gesehene hat ihn so stark beeindruckt, dass er eine zwar nicht neue, aber in ihrer Radikalität neu ausformulierte Kategorie einführt und ihre Auswirkungen auf die soziale Lage von Menschen als unmenschlich betrachtet. Eine systemtheoretisch inspirierte Sichtweise geht davon aus, dass für moderne Gesellschaften die schrittweise „Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme“ typisch ist. In diesem Prozess werden Gruppen, die „am gesellschaftlichen Leben nicht oder nur marginal teilhaben“, nach und nach in die diversen Funktionssysteme der Gesellschaften aufgenommen. 208 Die umfassende Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Funktionssysteme der modernen Gesellschaften wurde von T. Parsons und später von N. Luhmann als Inklusion bezeichnet. T. Parsons betonte hierbei die Idee der vollen Mitgliedschaft im Gesellschaftssystem, wobei die Differenzierung in Bürger erster und zweiter bzw. Ober- und Unterklasse im geschichtlichen Prozess überwunden wird und eine einheitliche Staatsbürgerschaft entsteht. Sie umfasst – im Sinne von T. H. Marshall – alle drei Staatsbürgerrechte, die individuellen, die politischen und die sozialen, und inkludiert auf diese Weise die Menschen in die Gesellschaft. Sie macht sie zu vollwertigen Mitgliedern bei gleichzeitiger funktionaler Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme.209 Citizenship wird zum zentralen Inklusionsmechanismus der modernen Gesellschaft.

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N. Luhmann setzt die Akzente etwas anders. Für ihn umfasst Inklusion den Einbezug immer größerer Personenkreise in die vielfältigen Funktionssysteme der modernen Gesellschaften, die allerdings ihre jeweils spezifischen Inklusionsmechanismen ausgebildet haben und diese autonom regeln. Die Wirtschaft hat andere als die Religion, diese andere als die Bildung und diese wiederum andere als die Politik. Aber bei ihm ist – wie bei T. Parsons auch – die Dynamik der Inklusion eindimensional und moderne Gesellschaften realisieren sie umfassend. Der Ausschluss aus einem Funktionssystem kann sich selbstverständlich ereignen, aber das bleibt ein zeitlich begrenztes Phänomen und – am wichtigsten – er bleibt ohne Auswirkungen auf die Inklusion in die anderen Teilsysteme der Gesellschaft, also auch funktional begrenzt. Arbeitslosigkeit als Ausschluss aus dem ökonomischen System führt nicht zum Verlust des Wahlrechts oder zum Ausschluss aus dem Bildungssystem. Selbst abweichendes Verhalten führt nicht zum Ausschluss aus anderen funktionalen Teilsystemen, sondern – umgekehrt – begünstigt die Inklusion. Es wird zum Grund für „Sonderbehandlungen zum Zwecke der Inklusion. (...) Hoffnungslose Fälle werden psychiatrisiert, das heißt: als Krankheit aufgefasst, die in der Verantwortung der Gesellschaft liegen und mit Sonderrechten und Sonderpflichten, das heißt: anstaltlich, zu lösen sind.“210

Bei der Inklusionsdynamik spielt der moderne Wohlfahrtsstaat eine zentrale Rolle. Er ist der Mechanismus, über den die Inklusion in die funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft bewerkstelligt wird und zugleich den dauerhaften Ausschluss aus ihnen verhindert. „Wohlfahrtsstaat, das ist realisierte politische Inklusion“211 – und die Reduktion auf politische Inklusion hat seinen Grund darin, dass der Wohlfahrtsstaat vor allem über politische Entscheidungen die Gestaltung der Gesellschaft vollzieht und in die verschiedenen funktionalen Teilsysteme durch verbindliche Entscheidungen, also politisch, interveniert. Bei den Diskussionen über Inklusion ist sowohl bei T. Parsons als auch bei N. Luhmann die Eindimensionalität dieser Dynamik vorausgesetzt. Inklusion ist ein nicht umkehrbarer Prozess, der sich immer umfassender und systematischer vollzieht und eben zu modernen Gesellschaften bzw. modernen Wohlfahrtsstaaten führt. Erst rund 10 Jahre später taucht der Gegenbegriff, der der Exklusion, auf. Das Interessante daran ist, dass dieser Begriff nicht aus der theorieinternen Weiterentwicklung der Systemtheorie entstanden ist, sondern durch eine persönliche Erfahrung, die N. Luhmann tief beeindruckt und tief irritiert hat. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: „Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, dass es Exklusion gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, das sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebendig wieder herauskommt, kann davon berichten. (...) Es bedarf dazu keiner empirischen Un-

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tersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbare Erklärungen scheitern.“212

Sein Nachdenken über Exklusion wurde anlässlich einer Konferenz in Brasilien angestoßen, als er von den Gastgebern mit dem Auto an den Rand einer oder sogar in eine Favela gefahren wurde. Man kann spüren, wie tief der Schock bei ihm sitzt und welche Herausforderung das für ihn gewesen sein muss. Das massenhafte Elend ‚entzieht sich der Beschreibung‘, man kann es womöglich nur entsetzt sehen und spüren und ist mit etwas völlig Unerwartetem konfrontiert. Der hochabstrakt Denkende und hochwissenschaftlich Arbeitende war plötzlich mit Ausschnitten der faktischen Welt konfrontiert, die sein Vorstellungsvermögen übertrafen. Das von ihm beobachtete Phänomen war nicht ein Rand- oder regional begrenztes Phänomen, sondern es ging vielmehr um eine „in die Milliarden gehende Menge“, um „riesige Menschenmengen“, die von Exklusion betroffen sind.213 An anderer Stelle kommt sein Erschrecken und sein Unverständnis erneut zu Geltung: „Große Teile der Weltbevölkerung finden sich aus allen Funktionssystemen so gut wie ausgeschlossen: Keine Arbeit, kein Geld, keinen Ausweis, keine Berechtigungen, keine Ausbildung, oft nicht die geringste Schulbildung, keine ausreichende medizinische Versorgung und mit all dem wieder: keinen Zugang zur Arbeit, keinen Zugang zur Wirtschaft, keine Aussicht, gegen die Polizei oder vor Gericht Recht zu bekommen.“214

Das Gesehene lässt dem Systemtheoretiker keine Ruhe, denn an anderer Stelle und Jahre später kommt er abermals auf das Thema zurück und erweitert seinen Beobachtungshorizont. „In Bombay beispielsweise leben sicher mehrere Millionen Menschen auf der Straße. Wenn sie keine feste Adresse haben, können sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken und so weiter, mit allen Konsequenzen, die daraus folgen. Viele Leute in Brasilien haben keinen Ausweis. Die wurden von Leuten geboren, die auch keinen Ausweis hatten und wurden nicht angemeldet. Die Mutter hat vielleicht irgendwo als Hausmädchen gearbeitet. Die Kinder wurden von der Oma erzogen. Dann waren sie groß und hatten keinen Ausweis. Ohne Ausweis ist der Zugang zu Schulen ein Problem, ist jede Sozialleistung unerreichbar, kann man sich nicht als Wähler registrieren lassen und so weiter. (…) Das einzige, was in den favelas in Brasilien zu funktionieren scheint, ist die Impfung. Denn vor Ansteckung hat natürlich jedermann Angst. Die Impfung wird dotiert mit Gutscheinen für Milch für die Babys. Diese Gutscheine können ausgetauscht werden gegen Scheine für Bier. Und derjenige, der diese Scheine erwirbt, gibt einen gewissen Geldbetrag, davon können die Mütter Bohnen kaufen und sich selbst ernähren.“215

Erneut verbindet Luhmann seine gemachten Erfahrungen mit Orten, an denen er diesen Erscheinungen ausgesetzt war. Wieder argumentiert er mit dem Phänomen der Kettenreaktion: Aus einem Sachverhalt ergeben sich so viele, unvermeidlich andere, die bei den betroffenen Menschen eine Abwärtsspirale in Gang setzt und zur Exklusion führt. Unübersehbar ist zudem der Wandel in seinem Schreibstil: Seine ansonsten hochabstrakte Wissenschaftssprache bricht in sich zusammen

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und die reine Anschaulichkeit wird deutlich. Er versucht, das eigentlich Unbeschreibbare mit seinen manchmal etwas hilflos wirkenden Worten zu beschreiben. Doch was meint Exklusion in der Luhmannschen Sichtweise? N. Luhmann ist nicht immer klar, aber in einer ersten Näherung ist es der Ausschluss von Personen aus den funktionsspezifischen (Teil)Systemen einer Gesellschaft. „Von Exklusion kann man sprechen, wenn die weitgehende Ausschließung aus einem Funktionssystem (zum Beispiel extreme Armut) zur Ausschließung aus anderen Funktionssystemen (zum Beispiel Schulerziehung, Rechtsschutz, stabile Familienbindung) führt.“216

Wieder wird der Mechanismus der Kettenreaktion angeführt, nachdem der (weitgehende) Ausschluss aus einem Funktionssystem als unvermeidliche Folge den Ausschluss aus anderen nach sich zieht, im schlimmsten Fall aus allen Funktionssystemen einer Gesellschaft. Auch tauchen bei N. Luhmann nun Begriffe auf, die in seiner ansonsten strikt theoretisch durchgeführten Systemtheorie nicht auftauchen: Körper im Besonderen, aber auch Raum und Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit. Die Exkludierten sind für die Funktionssysteme der Gesellschaft nicht sichtbar, denn Exklusion „definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden.“217 Die Exkludierten leben in bestimmten Räumen, die ‚wohnmäßig separiert‘ sind und damit einen spezifischen Ort markieren, in dem sich die Inkludierten nicht bewegen oder ihren Wohnsitz haben. Sie ‚funktionieren‘ in anderen Räumen, die umgekehrt für die Exkludierten nicht oder nur schwer zugänglich sind. Es gibt Grenzen, die diese Räume voneinander trennen und so Inkludierte und Exkludierte separieren. Die Exkludierten werden dann für die Inkludierten in gewisser Weise unsichtbar. Auch wird eine Beobachterperspektive eingeführt, die sich von der ansonsten in seiner Systemtheorie verwendeten deutlich unterscheidet. Um das Phänomen der Exklusion zu erkennen, besser: zu ‚sehen‘, sind besondere Anstrengungen zu machen: „Exklusion folgt wie ein logischer Schatten und es bedarf einer besonderen Anstrengung, die Beobachtung über die Grenze hinweg auf Exklusion zu richten.“218 Ein einfacher Blick ist nun nicht mehr ausreichend, vielmehr bedarf es einer ‚besonderen Anstrengung‘ eines Beobachters, um das zu sehen, was man ansonsten nicht sieht. Der Sehende wird zu einer neuen Figur, an die Luhmann appelliert und zugleich mit der Aufforderung verbindet, sich dem von ihm beschriebenen Sachverhalt auszusetzen, indem man die besondere Anstrengung des genauen Hinsehens auf sich nimmt. Dann wird Exklusion zu einem Phänomen, das man skandalisieren, moralisch verurteilen und für bestimmte Gesellschaften als nicht akzeptabel betrachten kann. Da es immer auch ein politisches Phänomen ist, kann man es, ja muss man es politisieren.

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Zentral aber ist, dass zwar Exklusion/Inklusion als dichotome Kategorien formuliert werden, die aber in der gesellschaftlichen Realität so nicht wiederzufinden sind. Er betont, dass es keine „prinzipielle Exklusion aus Funktionssystemen (gibt) (...), aber es kommt über die genannten negativen Interdependenzen doch zu einer mehr oder weniger effektiven Gesamtexklusion aus der Teilnahme an allen Funktionssystemen.“219

An anderer Stelle formuliert er, dass die Geltung der Codes der jeweiligen Funktionssysteme davon abhängt, in welchem Segment der Gesellschaft man sich aufhält, denn sie gelten in dem einen und in einem anderen nicht.220 Moderne (und weniger moderne) Gesellschaften bilden somit nicht nur Differenzen zwischen den Inkludierten und Exkludierten, sondern auch Grauzonen, in denen für manche etwas gilt und für andere nicht. Manche haben beispielsweise Zugang zum Rechtssystem, andere dagegen nicht; manche haben Zugang zum Gesundheitssystem, andere dagegen nicht etc. Es hängt davon ab, an welchem ‚Ort‘ man sich in der Gesellschaft befindet bzw. welchen Ort man zugeordnet bekommt. Claus Offe hat diese Kategorie von Menschen auch als die „Überflüssigen“ bezeichnet, die man von den „Verlierern“ unterscheiden muss.221 Letztere nehmen noch am Verteilungsspiel der Gesellschaft teil, gehören (noch) zu den Inkludierten und haben Rechte, sind in Interessengruppen organisiert, wählen bestimmte politische Parteien etc., während erstere von diesen Rechten und Dynamiken ausgeschlossen sind. Die Differenzierung zwischen Inklusion und Exklusion ist dichotom, aber innerhalb der beiden Kategorien lassen sich Unterkategorien bilden, die Differenzierungen innerhalb der jeweiligen Kategorien ermöglichen. Wie bereits angedeutet kann man zwischen räumlicher, sozialer und politischer Inklusion unterscheiden. Gated communities wären beispielsweise eine Differenzierung innerhalb der räumlichen Inklusion, indem bestimmte Gebiete nur für bestimmte, im konkreten Fall sehr gut verdienende, Gruppen offen sind und gegenüber anderen Gebieten abgeschottet sind. In vielen Städten der Ersten, aber auch der Dritten Welt ist das gängige Praxis. Soziale Inklusion eröffnet allen Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, an den wichtigsten sozialen, kulturellen, ökonomischen und bildungspolitischen Prozessen einer Gesellschaft teilzunehmen. Realisierte Schulpflicht ist hierbei eine ebenso zentrale Variable wie ein mehr oder weniger stark ausgebautes System von sozialen Rechten, insbesondere bei Einkommensverlust und Krankheit. Sind bestimmte soziale Gruppen, etwa die Unterklasse, systematisch aus bestimmten Dynamiken, etwa der weiterführenden oder höheren Bildung – aus welchen Gründen auch immer – ausgeschlossen, so kann man zwar von sozialer Ungleichheit in den Bildungsprozessen sprechen, aber nicht von der Exklusion dieser Gruppe. Politische Inklusion erfolgt durch die Gewährung von akti-

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ven und passiven politischen Teilhaberechten bis hin zu garantierten individuellen und bürgerlichen Freiheitsrechten. Ist eine dieser drei Dimensionen nicht vollständig realisiert, so ist das nicht identisch mit Exklusion, aber mit einer Minderung des Status der Inklusion. Beteiligen sich bestimmte soziale Gruppen an Wahlen weniger systematisch oder gar nicht, so richten die politischen Parteien in der Regel ihre Programmatiken nicht an diesen aus. Die Nichtwähler sind uninteressant und die politischen Parteien konzentrieren sich auf die Wählenden und entwickeln für diese elaborierte Wahlstrategien.222 Umgekehrt sind die Interessen der WählerInnen in Wahlen (über)repräsentiert, wobei diese Gruppen ihre Interessen und Privilegien oft auch noch auf anderen Wegen durchsetzen können. Innerhalb der Inkludierten haben wir es eben mit Ungleichheiten, Ungleichgewichten, Privilegien und Benachteiligungen zu tun, die für Gesellschaften der Inklusion typisch sind. Auch gibt es eine Oberklasse, die eine herausgehobene Position einnimmt, weltweit anschlussfähig ist und auch bei ‚Migration‘ in andere Länder nicht (teil)exkludiert, sondern ohne weiteres inkludiert ist. Ihr juristischer Status (weltweit akzeptierte Nationalität), ihre materielle Ausstattung (Geldvermögen und Konten bei international operierenden Banken) und ihre kulturelle Prägung (gute Berufsausbildung, Englischkenntnisse u. Ä.) verleihen ihnen einen Status, der den Zugang zu anderen Nationalstaaten ohne Statusverlust bzw. im Extremfall ohne Exklusion ermöglicht. Migration und Statuserhalt ist bei ihnen gleichzeitig gewährleistet.223 Exklusion lässt sich in Unterkategorien aufteilen, wobei die Trennung in räumliche, soziale und politische erneut hilfreich ist. Die Verschärfung der europäischen Außengrenzen im Sommer/Herbst 2018 ist eine spezifische Form der räumlichen Exklusion, die bestimmte Gruppen aus der Dritten oder Vierten Welt an der Einreise nach Europa hindern soll, während politische Verfolgte weiterhin Asyl beantragen können, auch wenn die Kategorie ‚politisch verfolgt‘ in sich selbst variabel ist. Die angestrebte Errichtung eines Grenzzaunes zwischen Mexiko und der USA durch die Trump-Regierung in den Jahren 2018/2019 fällt in dieselbe Kategorie. Radikalere Formen der räumlichen Exklusion wären beispielweise die Errichtung von Lagern oder gar die Vertreibung von bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppen. Die radikalste Form der räumlichen Exklusion ist die Errichtung von Vernichtungslagern, in die bestimmte soziale Gruppen mit dem einzigen Ziel gebracht werden, sie dort so schnell und umfassend wie möglich zu vernichten. Die Vernichtung der Juden und der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten sowie die Vernichtung der Kulaken als Klasse in den Arbeitslagern des sowjetischen GULAG sind die beunruhigensten Beispiele dieses Jahrhunderts und sind Ausdruck der Exklusion durch die Politik der Tötung (vgl. dazu unten Kap. 7).

5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft?

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5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft? Das dominierende (sozial)politische Narrativ der modernen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts war das der Inklusion, untrennbar verbunden mit der Idee der Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Vor allem letzteres Prinzip wurde sowohl in den demokratischen wie diktatorischen Gesellschaften – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Mitteln – realisiert. Die Politik des Sozialen nahm hier eine Sonderrolle ein, die sie zwar nicht grundlegend, aber doch systematisch von anderen Politiken absetzte. Sie wandelte sich von der Gestaltung und Bearbeitung der Armen und später der Arbeiterfrage zur Gesellschaftspolitik. Aber nicht nur das: In den 70er Jahren sollte ‚Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik‘ (H. Achinger) nicht nur das gesamte Spektrum der Gestaltung von modernen Gesellschaften umfassen, sondern zugleich rational und zielgerichtet sein. An die Stelle der Gesellschaftspolitik trat folgerichtig die Idee der aktiven Gesellschaftssteuerung, die durch die neuen Computertechnologien und den damit verbundenen Simulationsmöglichkeiten begünstigt wurde. Man konnte nun die Gesellschaft auf den damals noch grünlich flimmernden Monitoren sichtbar machen und die Auswirkungen verschiedenster, nun integrierter Politiken durchspielen, die Wirkungen am Computer simulieren und die effektivste Variante realisieren. Nicht nur die Wirkungen von einzelnen Maßnahmen wurden nun sichtbar, sondern die Zukunft der modernen Wohlfahrtsstaaten insgesamt. Die Verfügbarkeit der Welt für die politischen Planer schien sich realisiert zu haben – der Traum eines jeden Planers. Die Finanzkrisen der 70er und 80er Jahre sowie die Eigendynamiken der politischen Prozesse ließen diese Träume platzen. Zudem wurde die Widerborstigkeit der Welt gegenüber den Intentionen der politischen Planer und Gestalter unübersehbar und die Politik musste sich ihre Begrenztheit eingestehen – ein bitterer und verschlungener Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Sozialpolitiker und Sozialwissenschaftler reden immer noch davon, dass Politik Probleme löst, so als ob es sich bei politischen Entscheidungen um die Lösung von Kreuzworträtseln handeln würde. Die Globalisierung tat ein Übriges. Nun wurde immer deutlicher, dass bestimmte ‚Probleme‘ nicht durch die nationalstaatlichen Politiken des Sozialen ‚gelöst‘ werden konnten, weil man nicht auf faktische oder eingebildete Ursachen kausal zugreifen konnte. Sozialpolitik wurde unvermeidlich reaktiv und Vorstellungen einer ziel- und zukunftsorientierten, auf Ursachen zugreifenden (Sozial)Politik wurden verabschiedet. Die sich am Ende des Jahrhunderts abzeichnende Sozialpolitik zweiter Ordnung musste sich dies eingestehen und neue Politikformen traten an die Stelle der bisherigen. Sie lösten sich vom ‚Sozialen‘ und seiner (demokratischen) Gestaltbarkeit und an ihre Stelle trat die Selbststeuerung der Systeme der sozialen Sicherung. Der Kern dieser Politik ist die Entpolitisierung des

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5. Die Politik des Sozialen

Sozialen und – gerade in den Sozialversicherungsstaaten – die Konzentration auf die Stabilisierung der in Umlage finanzierten Systeme der sozialen Sicherung und nicht mehr die zielgerichtete Gestaltung von Lebenslagen von sozialen Gruppen. Die liberalen, konservativen und universalistischen Typen sind durch normativ angeleitete und programmatische Politik entstandenen. Diese Typen befinden sich heute längst in Auflösung und durch situative Anpassungspolitiken entstehen rekombinante Wohlfahrtsstaaten, die liberale, konservative und universalistische Ideen und Bausteine problemlos zusammensetzen. Dies waren die ersten sichtbaren Schritte einer reaktiven Anpassungspolitik. Der Wandel von Wohlfahrtstaaten zu Wettbewerbsstaaten war der nächste Schritt, der die Sozialpolitik erster in die zweiter Ordnung vorantrieb. Die Abschwächung bzw. Umkehrung der Inklusionsdynamiken, die den Kern der modernen Wohlfahrtsstaaten ausmachten, trieb den Wohlfahrtsstaat erneut in eine neue Konstellation, in der neben den Inklusions- nun auch Exklusionsdynamiken relevant werden. Exklusion eröffnet eine neue Perspektive auf die Dynamiken der modernen Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts und auf den modernen Wohlfahrtsstaat. Er ist zwar nicht die exklusive Ursache für Exklusion, aber seine konkrete Ausprägung kann die Dynamiken von Inklusion/Exklusion massiv beeinflussen. Die möglichen neuen Politikformen sind noch nicht erschöpft und die Transformationen der Wohlfahrtsstaaten noch längst nicht abgeschlossen. Sie werden die sozialpolitischen Entscheidungsprozesse des 21. Jahrhunderts wie ein Schatten begleiten. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Prozess mit ungewissem Ausgang. Man kann allerdings mit Gewissheit sagen, dass der gentleman, von dem der britische Soziologe A. Marshall im Jahr 1873 gesprochen hatte, sich als generelle Gestalt des 20. Jahrhunderts noch nicht realisiert hat. Nach wie vor haben wir es mit dem working man zu tun, dem heute der Exkludierte zur Seite getreten ist und einen neuen sozialen Typus konstituiert. Er ist aus den Funktionssystemen der modernen Gesellschaften weitgehend ausgeschlossen und sein Status ist womöglich noch niedriger und unsicherer als der des working man im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen 1 Zit. nach Marshall, T. H. 1992a: 45. 2 Luhmann 1981: 195. 3 Vgl. etwa Franz-Xaver Kaufmann, der die Geschichte des sozialpolitischen Denkens, vor allem in Deutschland, meisterhaft nachgezeichnet hat; vgl. Kaufmann 2003a. 4 Kaufmann 2003a. 5 Kaufmann 2003a: 28-30. 6 Pankoke 1995: Sp.1227. 7 Zit. nach Kaufmann 2003a: 47; Herv. i. O.

8 Diese begriffliche Differenzierung geht zurück auf Zacher 1987: bes. 575ff. 9 Kaufmann 2003a: 269. 10 Zur Geschichte der (nicht nur deutschen) Sozialpolitik vgl. statt vieler Schmidt 1998; Frerich 1993; Althammer/Lampert 2014; Ashford 1986. 11 So der einprägsame Titel des kleinen, aber einflussreichen und paradigmatischen Buches von Hans Achinger; Achinger 1958. 12 Esping-Andersen 1990.

5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft? 13 Vgl. dazu Lamping/Rüb 2004. 14 Der Begriff wurde von F.-X. Kaufmann geprägt und hat in der sozialpolitische Diskussion bisher wenig Verbreitung gefunden; vgl. Kaufmann 2014b. 15 So Alfred Marshall; siehe FN 1. 16 „In den Ansichten über die Armen reflektierten sich in zunehmendem Maße Ansichten über das Sein schlechthin.“ Polanyi 1978: 147. 17 Ewald 1993: 79; Herv. i. O. 18 Als im Jahr 1842 das Allgemeine Preußische Landrecht reformiert werden sollte und keine ausdrückliche Ablehnung eines Klagerechts der Armen auf staatliche Unterstützung vorsah, intervenierten die Provinziallandtage massiv. Den Armen wurde danach ein Recht auf Unterstützung ausdrücklich nicht anerkannt. Zu den Motiven der Verweigerung des Rechts auf Unterstützung ließ der Gesetzentwurf keinen Zweifel: „(...) daß falsches Mitleid und mißverstandene Humanität in diesem Zweige der öffentlichen Ordnung leicht zu viel thun, daß jedes Zuviel hierbei sehr nachteilige Folgen habe und als Aufmunterung wirke, sich in den Stand der Armen zu begeben, und daß mithin als eine Kardinalmaxime der Armenverwaltung festgehalten werden müsse, nicht mehr als das äußerste Bedürfnis zu gewähren und nichts weiter als das wirkliche Umkommen im Elende verhüten zu wollen, überhaupt aber gar kein Recht, keinen im Rechtswege verfolgbaren Anspruch des Armen auf Unterstützung anzuerkennen, sondern nur über die eventuelle Verpflichtung der Kommunen und Provinzen dahin, daß jenes Äußerste vermieden werde, als über eine Verpflichtung, die ihnen nur gegen das Ganze, dem Staate gegenüber, nicht aber gegen die einzelnen Armen obliegt, zu statuieren.“ Zit. nach Brentano 1888: 10; Herv. i. O. 19 Vgl. Vogel, W. 1951: 152ff. 20 Evers/Nowotny 1987: 128; Herv. i. O. 21 Bernstein 1997: 202-208; Ewald 1993: bes. 174-206. 22 Zit. nach Bernstein 1997: 205. 23 Vgl. dazu Müller, W. 1988. 24 Ewald 1993: 216. 25 Vgl. dazu Bernstein 1997; Bonß 1995; Luhmann 1990; ders. 1991. 26 Nell-Breuning 1990 (1968). 27 Mater et magistra, Zi. 281, zit. nach http:// w2.vatican.va/content/john-xxiii/de/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_15051961_mater.html. 28 So in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahr 1931, Zi. 19 bzw. 20. 29 Rerum novarum, Zi. 1 und 2. 30 Rerum novarum, Zi. 29. 31 Rerum novarum, Zi. 36.

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Rerum novarum, Zi. 42. Quadragesimo anno, Zi 1. Nell-Breuning 1990 (1968). Quadragesimo anno, Zi. 78. Quadragesimo anno, Zi. 79. Nell-Breuning 1990 (1968): 36. Quadragesimo anno, Zi. 127. Rerum novarum, Zi. 29. Quadragesimo anno, Zi. 129. Quadragesimo anno, Zi. 135. Vgl. zu den unterschiedlichen Typen von Wohlfahrtsstaaten und deren definitorischen Merkmalen, eben auch des christlich-konservativen, Esping-Anderson 1990; zu den christlichen Wohlfahrtsstaaten aber insbesondere die Arbeiten von Kersbergen 1995; Kersbergen/Manow 2009. Luxemburg 1899: 8; Herv. von mir. Luxemburg 1899: 27. Eduard Bernstein, zit. nach Luxemburg 1899. Evers/Nowotny 1987: 132. Zit. nach Evers/Nowotny 1987: 138. Dazu gibt es eine fast schon unüberschaubare Literatur; lesenswert aber immer noch Ritter 1991; Alber 1982; Ashford 1986; Baldwin 1990; Köhler/Zacher (Hg.) 1981. Manches in den folgenden Ausführungen greift auf Ideen zurück, die Frank Nullmeier und ich an anderer Stelle und vor längerer Zeit formuliert haben; vgl. Nullmeier/Rüb 1993: bes. 71-115. Zu den problematischen Details dieses Gesetzes vgl. insbesondere Reidegeld 1996: bes. 150-251; Ritter 1991. Vgl. zu diesem Krankheitsbegriff Parsons 2002. Zit. nach Gitter 1969: 33. Zit. nach Nullmeier/Rüb 1993: 80. Laband 1907: 297; Herv. i. O. Harris 1977. Beveridge 1943: Zi. 7-9. Beveridge 1943: Zi. 9. Beveridge 1943: Zi. 10. Beveridge 1943: Zi. 20. Beveridge 1943: Zi. 21. Beveridge 1943: Zi. 25. Beveridge 1943: Zi. 26. Beveridge 1943: Zi. 130. Beveridge 1943: Zi. 131; 440. So Beveridge in einer früheren Stellungnahme zur Bedeutung von Beiträgen zur sozialen Sicherung; zit. nach Beveridge, J. 1954: 57. Statt vieler sei hier nur das Vorwort von B. Badura in der Neuausgabe von Eduard Heimanns Buch erwähnt; vgl. Badura 1980. Heimann 1975 (1927). Zu den biographischen Hintergründen und seinem Leben insgesamt vgl. etwa Ortlieb 1968; Rathmann 1988; Rieter 2011. Heimann 1980 (1927): 184.

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5. Die Politik des Sozialen Heimann 1980 (1927): 14. Heimann 1980 (1927): 17. Heimann 1980 (1927): 14. Heimann 1980 (1927): 20. Heimann 1975: 24. Heimann 1975: 24f. Heimann 1975: 25. Ebd. Ebd. Heimann 1975: 27. Heimann 1975: 28f. Heimann 1980 (1927): 140. Heimann 1980 (1927): 143. Heimann 1980 (1927): 152. Heimann 1980 (1927): 168. Heimann 1980 (1927): 176. Wie weit die ökonomischen und sozialen Wandlungen gehen, hängt - so Eduard Heimann -, „gerade von der Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit ab, der sie (die soziale Bewegung, F.W.R.) begegnet; davon also, ob die politische oder produktionspolitische Notwendigkeit früher oder später, freudiger oder mürrischer anerkannt wird.“ Heimann 1980 (1927): 182. Heimann 1980 (1927): 184. Heimann 1980 (1927): 175. Heimann 1980 (1927): 192. Heimann 1980 (1927): 204-215. Heimann 1980 (1927): 242f. Heimann 1980 (1927): 247. Heimann 1980 (1927): 293. Heimann 1980 (1927): 292. Heimann 1975: 29. Sinzheimer 1992: 7. Sinzheimer 1922: 7; Herv. i. O. Sinzheimer 1922: 8. Ebd. Ebd. Sinzheimer 1922: 11. Ebd. Sinzheimer 1922: 12. Winschuh 1929: 10; zit nach Kaufmann 2003a: 121; Herv. i. O. Ich zitiere die Rede nach: Materialien aus dem Bundesarchiv, Heft 5: „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933-1945, bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Berlin 1998, Dok. Nr. 5. Siehe FN 104. Siehe FN 104. Vgl. dazu die Überlegungen bei Ostheim/ Schmidt 2007. Für die Diskussion um Kontinuität oder Bruch ist allerdings nicht allein die institutionell-organisatorische, sondern vor allem die normative Dimension wichtig, die alle institutionellen Regelungen und organisatorischen Ausprägungen überformt und deren Praktiken anleitet. Dann haben wir es ohne Frage nicht nur mit einem Bruch, son-

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dern einem fundamentalen Bruch zu tun. Dies schließt ein, dass man – wie etwa Sachße/ Tennstedt (1992) überzeugend fordern – zwischen dem Arbeitsrecht, der Sozialversicherung und der Fürsorge unterscheidet, die jeweils eigenständigen Logiken und Entwicklungsdynamiken im Nationalsozialismus unterlagen. Aber auch die Sozialversicherungen wurden „faschisiert“ und der nazistischen Ideologie in aller Radikalität unterworfen, auch wenn ihre institutionell-organisatorische Struktur im Wesentlichen beibehalten wurde. Sachße/Tennstedt 1992: 140ff. Ritter 1991: 134f. Bei dieser zeitlichen Phaseneinteilung orientiere ich mich an Mason 1978. Sachße/Tennstedt 1992: 58. Gladen 1974: 106. Aly 2005: 36. Aly 2005: 350. Aly 2005: 36. Zit. nach Aly 2005: 87. Alle diese Zahlen stammen von Aly 2005: 89. Aly 2005: 90. Die Begrifflichkeiten von Exit, Widerspruch und Loyalität gehen natürlich zurück auf Hirschman 1970. Schmidt, M. G. 2004: 67. Schmidt, M. G. 2004: 68. Zit. nach Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 11. Alle vorangegangenen Zitate sind aus Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 13, entnommen; Herv. von mir. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 14; Herv. von mir. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 15. Zit. nach Schmidt, M. G. 2004: 70. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 20. Vgl. dazu Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 20-26. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 24. Ebd. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 27. Ebd. Vgl. dazu oben die Kap. 5.7.2. und 5.7.4. Institut für Soziologie und Sozialpolitik 1979: 102. Die Statustheorie von G. Jellinek ist sicherlich die am besten ausgearbeitete Theorie, während T. H. Marshall den Begriff zwar einführt, damit aber keine weitreichende Theorie verbindet, sondern eher als deskriptive Kategorie verwendet. Dennoch sind Parallelen zu G. Jellinek nicht zu übersehen. Der Jellineksche „status negativus“ entspricht bei T. H.

5.9. Das Ende der (sozial)politischen Gestaltbarkeit von Gesellschaft?

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Marshall dem des liberalen bzw. dem des Schutzrechte gewährenden Staates 18. Jh., der „status activus“ dem der politischen Beteiligungsrechte des 19. Jh., während der soziale Status bei G. Jellinek noch nicht als eigenständiger Status auftaucht; vgl. Jellinek 1905. Marshall 1992b: 159. Marshall 1992b: 38. Ebd. Marshall 1992b: 40. Marshall 1992b: 52. Marshall 1992b: 54. Marshall 1992b: 61. Marshall 1992b: 64; Herv. von mir. Ebd. Marshall 1992b: 73. Marshall 1992b: 82. Zusammenfassend zu diesen Tendenzen das lesenswerte ‚Nachwort‘ von T. Bottomore zu einer Neuauflage von „Citizenship and Social Class“, das aber im Kern eine Relativierung von Marshalls Thesen für die 90er Jahre ist, in der sich die Kontexte für die Staatsbürgerschaft erheblich verändert haben; vgl. Bottomore 1992. Achinger 1958: 13. Achinger 1958: 12f. Meine Zählung ist sicher nicht vollständig, aber auf den Seiten 30, 32, 37, 38, 44, 49, 68 und 73 wird der Begriff der Unsicherheit definitiv erwähnt. Achinger 1958: 14f. Achinger 1958: 42. Der Keynesianismus löst diese Sichtweise auf und macht die Sozialpolitik zu einer spezifischen, zu einer Art Wirtschaftspolitik, die den ökonomischen Kreislauf wieder in Gang setzen kann, indem sie auf die Nachfrageseite des Marktes durch staatliche Investitionen und v. a. durch die ‚Quasi-Einkommen‘ der Sozialleistungen stabilisiert und antizyklisch wirkt; vgl. dazu unten Kap. 5.7.4. Achinger 1958: 54. Achinger 1958: 55. Achinger 1958: 63. Achinger 1958: 70. Achinger 1958: 102. Achinger 1958: 104. Achinger 1958: 135. Achinger 1958: 158. Achinger 1958: 14. Vgl. dazu ausführlich Vobruba 1983, bes. 127ff.; Rüb 1987: 121-140; Spahn 1981. Die wichtigsten Schriften im deutschsprachigen Raum kamen von Sozialwissenschaftlern, die sich im Umkreis der SPD befanden oder direkt mit sozialdemokratischen Regierungen zusammen gearbeitet haben; prototypisch etwa Pfaff/Voigtländer 1978; Krupp/Zapf 1977. Am Beispiel einer großen Rentenreform

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in den 80er Jahren vgl. Krupp u.a. (Hg.) 1981. Pfaff/Voigtländer 1978: 33. Pfaff 1978: 152ff. Pfaff 1978: 147. Pfaff 1978; vgl. auch Krupp 1978: 194. Pfaff 1978: 166-169. Baldwin 1996: 29. So der englischsprachige Titel seines Buches; Esping-Anderson 1990. Esping-Anderson 1990: 46. Esping-Anderson 1998: 39. Siehe dazu im Detail auch Kap. 4.2. Esping-Anderson 1990; (deutsch 1998); eine kritische Diskussion und teilweise Revision dieser drei Typen auf der Basis neuerer Daten findet man bei Goodin u. a. 1999. Esping-Anderson 1998: 41. Zu den wichtigsten Kritiken gehören ohne Frage Siegel, N. 2007; Lessenich/Ostner (Hg.) 1998; Kohl 1993; Offe 1993; Goodin u.a. 1999. Zudem hat Esping-Anderson sein im Jahr 1990 formuliertes Konzept später an verschiedenen Punkten präzisiert, ergänzt und z. T. revidiert; vgl. etwa Esping-Anderson 1999. Offe 1993. Borchert 1998. Vgl. zu diesen rekombinanten Typen ausführlich Lamping/Rüb 2010a; dies. 2010b. Vgl. etwa Lessenich/Ostner 1998. Vgl. zu dieser Diskussion Kornai 1998b. Vgl. statt vieler Ostner 1998. Dieser Begriff geht zurück auf Kaufmann 2014. Ich übernehme allerdings nicht alle Prämissen, die er mit diesem Begriff verbindet. Dazu und zum folgenden auch mit weiteren Literaturhinweisen Nullmeier/Rüb 1993: bes. Kap. 3.2. BT-Drs. 10/2608: 66. BT-Drs. 11/4124: 139. Wie bereits erwähnt geht der Begriff zurück auf Kaufmann 2014. Zu möglichen Zielsystemen von Alterssicherungen und deren Operationalisierung über Indikatorensysteme vgl. die Diskussionen der 80er Jahre, die u. a. bei Helberger 1982 und Zöllner 1982 aufgearbeitet wurden. Vgl. dazu Angelaki 2016: bes. 268. Myles 1996: 136. Pierson 1994. Zuerst entwickelt in Esping-Andersen 1990 und später modifiziert in ders. 1999. Vgl. dazu Lamping/Rüb 2001a; dies. 2010b. Vgl. dazu die ausgezeichneten Studien von Götting 1998; Götting/Lessenich 1998; Müller/Ryll/Wagener (Hg.) 1999; Müller, K. 1999b; Standing 1996. Es handelt sich hierbei konkret um Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lett-

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5. Die Politik des Sozialen land, Slowenien, Bulgarien und Rumänien; vgl. Baum-Ceisig u.a. (Hg.) 2008. Baum-Ceisig u.a. (Hg.) 2008: 436. Ebd. Szikra/Tomka 2009: 34; vgl. auch insgesamt den Sammelband von Cerami/Vanhuysse (Hg.) 2009. Vgl. dazu Busch/Plümper (Hg.) 1999; Busch 1999c. Windfuhr 1997: 229. Busch 1999c: 21. Heinze 1999; Nullmeier 1996. Garret 1998: 2. Vgl. zu dieser Diskussion Seeleib-Kaiser 1999; ZENS 1997. Vgl. zu dieser Diskussion statt vieler Stichweh 2005; Farzin 2006; Kronauer 2002; Bude/ Willisch (Hg.) 2008.

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Luhmann 1981: 25. Vgl. dazu umfassend Parsons 1976. Luhmann 1995b: 144. Luhmann 1981: 27; Herv. von mir. Luhmann 1995b: 147. Luhmann 2006: 390 bzw. 392. Luhmann 2000b: 242. Luhmann 2005: 80f. Luhmann 2000: 427. Luhmann 1997: 630ff. Luhmann 1995: 244. Luhmann 2000b: 303. Luhmann 1995. Offe 1996: bes. 274. Merkel (Hg.) 2015. Vgl. dazu Weiß 2008.

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6. Die Politik der Paranoia: Zur Psychopathologie des (Selbstmord)Attentäters und des wahnhaften Machthabers Das ‚kurze‘ 20. Jahrhundert begann 1914 mit einem politisch motivierten Attentat in Sarajewo auf den Kronprinzen Prinz Ferdinand, das den ersten Weltkrieg auslöste. Das ‚verlängerte‘ 20. Jahrhundert endete am 11. September 2001. An diesem Tag flogen islamistische Selbstmordattentäter mit zwei entführten Flugzeugen in die Türme des World Trade Center in New York und töteten über 3000 Menschen. Dieser barbarische Akt veränderte die Weltlage und die Wahrnehmung des Terrorismus grundlegend. Unter anderem hatte dies den ‚Krieg gegen den Terror‘ zur Folge, den der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, wegen dieses Anschlages ausrief und die militärische Intervention der US-Amerikaner in Afghanistan auslöste. Diese führte zwar zu keinem neuen Weltkrieg, aber beide Attentate rahmen das Jahrhundert ein und sind wie zwei Marksteine, die ihm das Gepräge geben. Zugleich verdeutlichen sie einen massiven Wandel des politischen Attentats: Am Ende des Jahrhunderts dominieren statt der bisher ‚normalen‘ Attentate nun Selbstmordattentate, die zur vorherrschenden Ausdrucksform der politischen Paranoia geworden sind. Zwischen dem 28. Juni 1914 und dem 11. September 2001 liegen unzählige weitere Attentate, die dem Jahrhundert ihren Stempel aufdrückten und es wie eine Blutspur durchziehen. Haben diese (und andere) Attentate etwas Gemeinsames, außer dass sie von Menschen begangen und dass Menschen getötet werden? Haben die Täter eine gemeinsame Psychostruktur oder gibt es eine „Psychologie des neuen Terrorismus“1, die sich erst am Ende des Jahrhunderts bei Selbstmordattentätern ausgebildet hat und sich von den Motiven der Attentäter zu Beginn des Jahrhunderts grundlegend unterscheidet? Wie kommt es, dass Selbstmordattentate am Ende des Jahrhunderts zur vorherrschenden Form des Terrorismus werden, zum Alptraum der Menschheit, weil keine andere Bedrohung so unheimlich, so unkalkulierbar und so allgegenwärtig geworden ist? Die Selbstmordattentate richten sich gegen eine umfassende, verschwörerische und dämonische Macht, die die ganze Welt versklaven will, und sind – herrschaftstopographisch formuliert – Anschläge von ‚unten‘, die von außerhalb der politischen Macht kommen. In einer zugespitzten Formulierung ist es der auf einen „Augenblick gerechnete Einzelgängerkrieg der Ohnmacht.“2 Aber es gibt auch eine politische Paranoia, die von ‚oben‘ kommt, die sich bei den Mächtigen einnistet und sie nicht mehr ruhig schlafen lässt. Sie ist der auf Dauer gestellte Einzelgängerkrieg der Macht. Die Machthaber fühlen sich von Mächten außerhalb ihrer unmittelbaren Macht bedroht, die überall lauern, die sich verstecken, die sich verschworen haben, die über unvorstellbare Mittel und Wege verfügen und die man ausschalten oder gar vernichten muss. Diese feindli-

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6. Die Politik der Paranoia

chen Mächte sind im Prinzip beliebig austauschbar, es können soziale Gruppen, (ethnische) Minderheiten, ein ganzes Volk sein, aber auch Personen im unmittelbaren Umkreis der Macht, die man dann verhaftet, in Prozesse verwickelt oder einfach tötet. Die Protokolle der Weisen von Zion waren beispielsweise ein (fiktives und gefälschtes) Dokument, das unübersehbar paranoiden Charakter hatte und eine religiöse Gruppe als zu bekämpfenden und im Zweifelsfall zu tötenden Feind betrachtete. Der paranoide Machthaber muss töten oder töten lassen, er kann sich nicht mittels eines Selbstmordattentates wehren, wie der Ohnmächtige. Auf den Selbstmordattentäter kommt es nicht an, er opfert sich. Auf den Machthaber aber kommt es an, er opfert andere. Politische Paranoia ist eine spezifisch politische Haltung, die Richard Hofstadter in einem bahnbrechenden Aufsatz Mitte der 60er Jahre tiefschürfend analysiert hat.3 Paranoia ist ein medizinischer Begriff, der eine (heilbare) Krankheit bezeichnet, aber R. Hofstadter verwendet ihn in einem nicht-klinischen Sinne. Er will eine politische Alltagsmentalität bezeichnen, die eine graduelle Abweichung von der ‚normalen‘ Politik signalisiert und in verschiedenen Intensitätsstufen auftreten kann.4 Das analytische Problem besteht aber darin, den paranoiden Stil von der ‚normalen‘ Politik abzugrenzen und zugleich verschiedene Intensitätsgrade innerhalb des paranoiden Stils zu identifizieren. Der paranoide Stil verändert die politischen Dynamiken stark, politisiert die politischen Konflikte, erhöht die Intensität des politischen Kampfes und treibt ihn in eine fundamentale Dimension, die Kompromisse schwieriger oder gar unmöglich macht. Immer ist damit die Gefahr der Transformation der Politik in das Politische verbunden: in FreundFeind-Konstellationen, die keine Kompromisse, sondern nur noch den tödlichen Kampf zulassen (vgl. dazu Kap. 1. 2.). Nimmt jedoch der Intensitätsgrad des paranoiden Stils zu und gibt es nur noch wenig politische Gegenkräfte, kann die Grenzüberschreitung zum Politischen nicht mehr verhindert werden. Wird aber diese Grenze von der Politik zum Politischen – aus welchen Gründen und auf Grund welcher Konstellationen auch immer – überschritten, dann haben wir es mit einem gewaltsamen Kampf zu tun, der bis zur völligen Vernichtung des Feindes geht. Das Politische bezeichnet eben nicht ein bestimmtes Sachgebiet, sondern den „Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen“, der Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft kreiert und die Menschen nach Freund und Feind unüberbrückbar gruppiert.5 Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Wandel der politischen Paranoia in diesem Jahrhundert und fragt zugleich nach Mustern und Dynamiken des paranoiden Politikstils. Ob die Paranoia eine für das späte 20. Jahrhundert charakteristische Mentalität6 oder untrennbarer Bestandteil der menschlichen Geschichte ist, muss hier nicht geklärt werden. Zentral ist vielmehr, dass dieses Phänomen im 20. Jahrhundert häufig auftaucht und seinen Gang in zentralen Situationen dramatisch (mit)bestimmt hat. Ohne die verschiedensten Ausprägungen

6. Die Politik der Paranoia

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der politischen Paranoia hätte das Jahrhundert einen völlig anderen Verlauf genommen. Sie ist ubiquitär, man findet sie in allen Schichten eines Volkes; der Massenwahn ist ebenso ihr Ausdruck wie die scharfe und destruktive Ausprägung bei manchen Staatsmännern und politischen Irrläufern des 20. Jahrhunderts, wie etwa Idi Amin oder Pol Pot. Vor allem an seinem Ende dominieren intensivere Erscheinungsformen dieses Politikstils und deshalb muss nach möglichen Gründen und Folgen dieser Intensitätssteigerung für die Politik gefragt werden. Ich diskutiere zunächst den Begriff des Politischen von Carl Schmitt und unterstelle hierbei, dass seine Konzeption in den Bereich der politischen Paranoia gehört – sicherlich eine bestreitbare Prämisse, die mir jedoch plausibel erscheint und die ich plausibel zu begründen hoffe (Kap. 6.1.). Danach kläre ich kurz die begrifflichen Differenzen zwischen politischem Mord, Attentat und Selbstmordattentat und das damit verbundene Ausmaß der politischen Paranoia (Kap. 6.2.). Dann versuche ich, die Merkmale der politischen Paranoia zu skizzieren, um sie von einem ‚normalen‘ Politikstil abzugrenzen (Kap. 6.3.). Ein Attentat, das in seiner Entstehung hochgradig kontingent war, hat zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges geführt und darf als Beispiel für die Zufälligkeit und die Folgen eines paranoid motivierten Attentats ebenso wenig fehlen (Kap. 6.4.) wie eine detaillierte Analyse des ersten Selbstmordattentates, das 1983 in Beirut stattfand und vielen weiteren als Vorbild diente (Kap. 6.5.). Alle diese (Selbstmord)Attentate sind Ausdruck einer politischen Paranoia ‚von unten‘, die meist ohne große ideologische Rechtfertigung auskommt. Ein zentrales Schlüsseldokument des Jahrhunderts, das in einer Politik der Paranoia ‚von ‚oben‘ wirkmächtig wurde und erhebliche mörderische Folgen hatte, sind die Protokolle der Weisen von Zion. Sie spielten vor allem im Antisemitismus der Weimarer Republik, dann in der Nazi-Propaganda gegen die Juden und schließlich auch im Genozid an ihnen eine Schlüsselrolle (Kap. 6.6.). Der paraniode politische Stil findet sich aber auch bei anderen politischen Machthabern, die ebenfalls eine blutige Spur durch das 20. Jahrhundert gezogen haben und die zuvor unvorstellbar schien. Hitler, Stalin, Idi Amin, Pol Pot und Bokassa sind die zentralen Figuren, die auch – allerdings nicht ausschließlich – aufgrund politischer Paranoia unzählige Menschen auf unvorstellbar grausame Weise töten ließen. Sie sind die paranoiden Schlächter des 20. Jahrhunderts (Kap. 6.7.). Abschließend versuche ich, die bisherigen Analysen zusammenzufassen, um eine Bewertung zu formulieren, welchen Wandel und welche Rolle die politische Paranoia in der Politik des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts gespielt hat (Kap. 6.8.). Ich komme zu dem Ergebnis, dass die politische Paranoia ein unausrottbarer Begleiter der Politik im 20. Jahrhundert war und sie auch im beginnenden 21. Jahrhundert wie ein desaströser Schatten begleiten wird.

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6. Die Politik der Paranoia

6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia? Der „Begriff des Politischen“ Die Politik der Paranoia hat im 20. Jahrhundert viele faktische Ausprägungen erfahren, aber es gab nur wenig politische Denker oder denkende Politiker, die dies zum Gegenstand einer Theorie oder einer begrifflichen Präzisierung gemacht hätten. Doch zu Beginn des Jahrhunderts, wenn auch mit etwas Verzögerung, gab es einen politischen Denker, der nicht nur ein fundamentales Gegenkonzept gegen die Politik und ihre verschiedenen konzeptionellen wie faktischen Ausprägungen formuliert hat. Er hat zudem dem tradierten Begriff der Politik eine Politikvorstellung entgegengeschleudert, die in ihrem Kern eine Politik der Paranoia formulierte und diese als ‚das Politische‘ im Gegensatz zur Politik bezeichnet hat. Keine andere Schrift hat das Denken über die Politik und das Politische im 20. Jahrhundert so herausgefordert wie C. Schmitts kleine Schrift „Zum Begriff des Politischen“. Sie ist in mehreren, sich erheblich unterscheidenden Auflagen erschienen. Die erste Veröffentlichung, erschienenen im Jahr 1927 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“7, ist im Vergleich zu der 1933 unter dem Nationalsozialismus erschienenen Version eine ‚harmlose‘ Version. Diese Schrift, in den Sozialwissenschaften meist nach der 1932er Version und 1963 erneut aufgelegten und mit einem aktuellen Vorwort versehenen Auflage zitiert, machte ihn berühmt und berüchtigt. Berühmt, weil er wie kein anderer die Diskussion um die Politik und das Politische mit bisher nicht formulierten Ideen und Begriffen befeuerte; berüchtigt, weil er mit seiner Unterscheidung von Freund und Feind als das Wesen des Politischen die Notwendigkeit der Tötung des Feindes und damit den Krieg bzw. den Bürgerkrieg ins Zentrum des Politischen rückte. Über die Politik als Politik sagt die Schrift jedoch wenig. Sie beschäftigt sich kaum mit Politik – aber sie wird abgehandelt durch ihre Diskreditierung bzw. durch ihr Verschweigen. Schärfer formuliert: Wer sich auf den Politikbegriff konzentriert und sich damit intensiv beschäftigt, ist bereits ein Feind, der bekämpft und im Extremfall getötet werden muss. Er erkennt nicht das Wesen, das das Politische ausmacht. Dies aber zu erkennen ist die Voraussetzung, um den Kern der gegenwärtigen Krise und den damit verbundenen Kampf um politische Begriffe zu verstehen. In allen drei Varianten des „Begriff des Politischen“ variiert der Feindbegriff. In der 1927er Ausgabe ist der Feind weniger der Andere, sondern mehr der Fremde, während in der 1933er Ausgabe der Andere der gefährlichere ‚Feind‘ ist: Der sich unkenntlich machende und sich nicht wesentlich vom ‚Freund‘ unterscheidende, weil assimilierte Jude. Raphael Gross hat diese Differenz scharf herausgearbeitet und den durchgehend antisemitischen Zug des C. Schmittschen Denkens wie kein Anderer analysiert und in den Mittelpunkt seiner Theoriebildung gerückt.8

6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?

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C. Schmitts kleine Schrift ist zugleich ein großes Rätsel. Eine einheitliche oder gar definitive Interpretation oder Auslegung gibt es nicht und die politischen Theoretiker und politischen Schriftsteller, die sich mit ihr auseinandergesetzt haben, können kein einheitliches Bild abgeben. Dies hängt mit der jeweils eigenen Positionierung zusammen, der damit verbundenen Distanz zu C. Schmitt und natürlich auch der Einschätzung seiner Rolle im Nationalsozialismus. Was am meisten erstaunt ist die Unkenntnis oder das Nicht-Wahrnehmen-Wollen des durchgehenden Antisemitismus in C. Schmitts Schriften. Nicolaus Sombart hat dies als erster betont und Raphael Gross hat es als zentralen Kern seines Denkens erneut und schärfer herausgearbeitet.9 Und in der Tat, die Differenz ist zentral für das politische Denken und die politische Theorie. Die häufig anzutreffende Gleichsetzung der beiden Begriffe verdunkelt zentrale Sachverhalte der politischen Theorie, die allein durch die Konturierung einer Differenz sichtbar werden. Das Politische – um es als These der folgenden Überlegungen vorweg zu nehmen – ist das gewalttätige Vagabundieren einer tödlichen Differenz, die von keiner institutionell vorgesehenen Instanz entschieden wird, sondern sich im existentiellen politischen Kampf selbst herauskristallisiert. Sie wird von der entscheidenden Gruppe selbst bestimmt und konstruiert eine fundamentale Differenz zwischen „uns“ und „den Anderen“, die keiner faktischen oder ernst zu nehmenden Bedrohung entspringen muss. Sie wird konstruiert und entschieden und kann paranoide Züge annehmen, vor allem wenn sie der Entlarvung eines sich tarnenden Feindes dient, der erst durch die Feinbestimmung zum zu tötenden Feind wird, dessen Bekämpfung existentiell ist. Denn dadurch, dass ein bestimmtes Volk „nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.“10 Ob C. Schmitt auch der wichtigste Theoretiker einer politischen Paranoia war, soll hier nur angedeutet, aber nicht entscheiden werden. Man darf allerdings behaupten, dass viele seiner Theorien paranoide Züge tragen. N. Sombart hat in seinem sicherlich sehr umstrittenen Buch über C. Schmitt diese Vermutung nicht nur nahe gelegt, sondern auch explizit formuliert: „Carl Schmitts wissenschaftliche Theoriebildung gehört mit zur ‚Geschichte des deutschen Unglücks‘. Sie ist das Symptom einer Krankheit. In ihrem manifesten Gehalt ist sie für uns historisches Quellenmaterial wie anderes auch.“ Und an andere Stelle, an der er über die Geistesverwandten von C. Schmitt schreibt, sagt er: „Dann stellt sich heraus, dass sie gleich gedacht haben, weil sie dieselbe psychische Struktur hatten. Nicht nur die Organisation ihres intellektuellen Apparats, auch die ihres Triebhaushaltes war identisch. Ihr ‚Denken‘ ist symptomatisch für eine psycho-pathologische Deformation, eine ‚Krankheit‘. Es handelt sich um eine ‚symptomatologische‘ Gruppe (...).“11

Es gibt noch einen weiteren Autor, der eine solche Interpretation nahelegt. Waldemar Gurian, einer der Schüler C. Schmitts, der sehr engen persönlichen Kon-

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6. Die Politik der Paranoia

takt zu ihm hatte, schrieb bereits 1934, dass C. Schmitt stets nach einer „höchsten Entscheidungsinstanz“ sucht, die seiner „Verzweiflung an der von ihm hinter allen Fassaden erkannten Anarchie ein Ende bereiten könnte.“12 Überall lauert der Feind – hinter allen Fassaden – das ist der Geist der Paranoia, der hier sein Unwesen treibt. Und die Idee, dass nur er selbst der Katechon, der Aufhalter der aus dem Ruder laufenden Weltgeschichte sei – auch das ist wissenschaftlicher oder theoretischer Größenwahn, der als Kostüm aus dem Kleiderschrank der Paranoia entliehen ist. Auch Reinhard Mehring schreibt in seiner kleinen Einführung zu C. Schmitt, dass sein Denken immer im Gegensatz zum „‚jüdischen Geist‘ formuliert sei, wobei er zu einer hermeneutischen Verflüchtigung aller nachweislichen Bezüge ins Willkürliche und geradezu Paranoische neigt. (...) Die Feindidentifikationen geraten zu einem Maskentanz hermeneutischer Enthüllungen, bei der die Identifikation des ‚Juden‘ vorab feststeht.“13

Friedrich Balke hat C. Schmitts Denken explizit als „Politische Paranoia“ bezeichnet und dies an Hand vieler seiner Schriften nachzuweisen versucht. Hinsichtlich eines totalitären Politikbegriffs, der seiner Ansicht nach immer paranoide Bausteine enthalten muss, schreibt er: „Politik wird totalitär in dem Augenblick, indem sie der prinzipiellen Überlegenheit der im Verborgenen wirksamen, subrepräsentativen Mächte dadurch Rechnung trägt, dass sie ihrerseits konsequent aus dem Verborgenen herausoperiert und jede Bezugnahme auf die Ansprüche juristischer und medialer Form zurückweist.“14

Es sind die im Verborgenen wirkenden Kräfte, die den Feind ausmachen und der immer aus der „Überlegenheit des Unsichtbaren“15 operiert. Er zeigt sich nicht offen, er gibt sich nicht zu erkennen, er versteckt sich hinter Masken. Daraus ergibt sich die welthistorisch unvermeidliche Aufgabe des Aufhalters: Den Feind nicht nur zu identifizieren, sondern ihm auch die Maske vom Gesicht zu reißen. Demaskierung, Entlarvung und Durchschauen des Feindes wird dann zur zentralen Aufgabe des selbsternannten Aufhalters. Was sind aber die weiteren Bausteine des paranoiden politischen Denkens bei C. Schmitt? Zentral ist sicherlich seine Freund-Feind-Konstruktion des Politischen und die damit verbundene Feindbestimmung. Wer ist der Feind? Welche Eigenschaften sind für ihn prägend? Wie kann man den sich tarnenden und im Verborgenen agierenden Feind erkennen? C. Schmitt hat in seinem Glossarium geschrieben, das Wesen der Angst besteht darin, „einen unbestimmten Feind zu wittern“, die Sache der Vernunft sei es indes, den „Feind zu bestimmen“.16 Das ist der Singsang der Hyperrationalität des paranoischen Denkens. Und auch in C. Schmitts Lehre vom Katechon, dem Aufhalter, ist ebenfalls eine paranoische Denkfigur enthalten, die dem „Bösen“, dem Sieg der Lüge, den Verwirrungen des Geistes, den falschen Deutungen und dem Spiel verborgener Mächte endlich und grundlegend Einhalt gebietet.

6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?

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Wer aber ist nun der Feind, der aus allen Spalten und Fassaden schaut, der überall lauert, den die Angst (vor was eigentlich?) wittern muss und der sich überall verbirgt, maskiert und unerkannt bleiben will, um sein zerstörerisches Werk zu vollenden? Die Antwort bei C. Schmitt ist klar: Es ist der Jude, konkreter der assimilierte Jude. Er ist das Böse, er spielt das Spiel der verborgenen Mächte, er ist der schlimmste aller Betrüger. Der durchgehende Antisemitismus C. Schmitts ist auch – aber nicht ausschließlich – die Frucht seines paranoischen Denkens. In seiner Schrift über den Leviathan fabuliert er, dass neben den Geheimbünden, Logen, Freimaurern, Sektierern etc. es „vor allem auch hier wieder der rastlose Geist des Juden (ist), der die Situation am bestimmtesten auszuwerten wusste, bis das Verhältnis von Öffentlich und Privat, Haltung und Gesinnung, auf den Kopf gestellt war.“17 Die Juden haben als „Doppelwesen einer Maskenexistenz“18 daran mitgewirkt, einen „lebenskräftigen Leviathan zu verschneiden.“19 Und der Leviathan ist die mythologische Figur für den autoritären Staat, der dauerhaft gegen den Anarchismus der Individuen ankämpft – und gegen die Juden als ‚Maskenwesen‘, die den Leviathan notorisch und dauerhaft zerstören wollen. Insofern muss man C. Schmitts Theorie des Politischen immer auch – aber nicht ausschließlich – als eine (antisemitische) Theorie der politischen Paranoia lesen.

6.1.1. Die Anwesenheit der Politik durch ihre Abwesenheit: Was ist C. Schmitts Verständnis von Politik? In seiner kleinen Schrift taucht der Begriff der Politik kaum auf, aber er schreibt über Politik, indem er nicht über sie schreibt. Die weitgehende Abwesenheit dieses Begriffs wird dadurch ersetzt, dass ein anderer Begriff ins Zentrum rückt und dies ist der Begriff des Politischen. Die zentrale Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Wie markiert er die Differenz zwischen beiden Begriffen und welche Folgen ergeben sich aus den jeweils unterschiedlichen Begriffen? Wenn C. Schmitt über Politik spricht, sind damit bestimmte Konnotationen verbunden und diese liegen darin, dass der Begriff des Politischen immer als Gegensatz zur Politik verstanden wird. „(...) hört also die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf, so gibt es nur noch politikreine Weltanschauung, Kultur, Zivilisation, Wirtschaft, Moral, Recht, Kunst, Unterhaltung usw., aber weder Politik noch Staat. (…) Eine Welt, in der die Möglichkeit eines solchen Kampfes (zwischen Freund und Feind, F.W. R.) restlos beseitigt und verschwunden ist, ein endgültig pazifizierter Erdball, wäre eine Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind und infolgedessen eine Welt ohne Politik. Es könnte in ihr auch mancherlei sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben, Konkurrenzen und Intrigen aller Art, aber sinnvollerweise keinen Gegensatz, aufgrund

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6. Die Politik der Paranoia dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten.“ 20

Hier ist die zentrale Differenz zwischen der Politik und dem Politischen deutlich markiert. In der Politik kann es ‚interessante Gegensätze‘ geben, ja auch faszinierende Intrigen und ähnliche ‚Unterhaltungen‘, aber das alles sind liberale Vorstellungen, die ihm verdächtig sind und die er verächtlich macht. Es kann keine liberale Politik an sich geben, sondern nur eine „liberale Kritik der Politik“21 – und darüber kann man dann die Personen identifizieren, die diese Kritik formulieren und eine Welt ohne Politik wollen, eben den pazifizierten Erdball. Hier setzt C. Schmitt Politik und das Politische begrifflich noch gleich, meint aber gleichwohl Letzteres und die Intention der liberalen Kritiker des Politischen ist deutlich: „Der politische Begriff des Kampfes wird im liberalen Denken auf der wirtschaftlichen Seite zur Konkurrenz, auf der anderen, „geistigen“ Seite zur Diskussion; an die Stelle der klaren Unterscheidung der beiden verschiedenen Status „Krieg“ und „Frieden“ tritt die Dynamik ewiger Konkurrenz und ewiger Diskussion. Der Staat wird zur Gesellschaft, und zwar auf der einen, der geistig-ethischen Seite zu einer ideologisch-humanitären Vorstellung von der „Menschheit“; auf der anderen zur ökonomisch-technischen Einheit eines einheitlichen Produktions- und Verkehrssystems.“22

Selten finden sich in seiner Schrift so viele Kursivsetzungen und man kann davon ausgehen, dass diese Passagen und die dort aufgeführten Begriffe von größter Bedeutung für ihn sind. Hier wird bereits der Kampf zwischen Freunden und Feinden geführt und wer nicht den Primat des Kampfes, die Tötung des oder der Anderen eingeschlossen, akzeptiert, ist bereits ein Feind, der bekämpft werden muss – wie auch immer. Denn es ist nur die Feindposition, die die „spezifisch politische Spannung“23 hervorbringen kann und die Freund-Feind-Konstellationen ermöglicht. Nur im Ernstfall, nur im spezifisch intensivierten Konflikt tritt das Politische hervor, während alles andere, das diese Intensität nicht erreicht, zu Unterhaltung wird. Politik als Unterhaltung – das ist das Programm des Liberalismus, der Pazifisten, der Diskutanten und anderer verweichlichter Theoretiker oder politischer Denker. Politik ist nur dann ‚richtige‘ Politik, wenn sie durch das Politische ersetzt wird, aber dann gibt es keine Politik mehr. An ihre Stelle ist dann etwas anderes getreten, das durch einen anderen Intensitätsgrad der ‚politischen Spannung‘ gekennzeichnet ist und nun eine tödliche Dimension erhält. Töten oder getötet werden – das ist die Grundkonstellation dieser Vorstellung von ‚Politik‘, die dann keine Politik mehr ist, sondern etwas Neues und grundlegend Existentielles. Das liberale Denken hat Träger und diese Träger zu markieren, zu benennen und zu identifizieren ist keine leichte Aufgabe. Dies muss der Aufhalter erledigen, nur er verfügt über die grundlegende Wahrheit, nur er kann hinter der Maske die Existenz des Feindes ausmachen und ihn identifizieren. Er hat eine besondere

6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?

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Verantwortung und eine besondere Machtposition, aus der heraus er seine Aufgabe erfüllen kann. Nur aus dieser Position heraus kann der Paranoiker seine „exaltierte Stellung“24 ableiten und sie ist immer mit der Vorstellung verknüpft, mit einem höheren und imaginären Wesen verbunden zu sein, das über ein gesondertes Wissen verfügt und zu dem der Aufhalter Zugang hat. Der Feind muss erkannt und benannt werden und der Konflikt zwischen dem Feind und einem selbst bzw. der eigenen Gruppe ist so fundamental, dass es nur eine Option gibt: töten oder getötet werden – das ist die Ursituation des Politischen und das Ende der ‚tradierten‘ Politik. Wer Feind ist und wer nicht, ist nicht ein für allemal festgelegt. Über den Feind muss in einer konkreten historischen Situation entschieden werden und die „Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“25 Aber sie muss getroffen werden, denn der Feind muss benannt sein, um gegen ihn nicht nur kämpfen, sondern um ihn vernichten zu können. Solange er existiert, ist man selbst immer bedroht und der eigenen Vernichtung ausgesetzt. Man ist vom Feind umstellt, er ist ubiquitär und sein Blick fällt selbst durch kleinste Ritzen und durchschaut einen.

6.1.2. Die Frage nach der Natur des Menschen: Gut oder Böse? Die Frage nach der Natur des Menschen, die immer auch eine theologische ist, hängt eng mit der Frage nach dem Wesen des Politischen zusammen. C. Schmitt selbst sagt nicht nur, dass alle Begriffe des modernen Staatsrechts und der politischen Theorie säkularisierte theologische Begriffe sind, sondern dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen der politischen Theorie und den religiösen Dogmen gebe: „Das theologische Grunddogma von der Sündhaftigkeit der Welt und des Menschen führt (...) ebenso wie die Unterscheidung in Freund und Feind zu einer Einteilung des Menschen, zu einer ‚Abstandnahme‘26, und macht den unterschiedslosen Optimismus eines durchgängigen Menschenbegriffes unmöglich. In einer guten Welt unter guten Menschen herrscht natürlich nur Friede, Sicherheit und Harmonie Aller mit Allen; die Priester und Theologen sind hier ebenso überflüssig wie die Politiker und Staatsmänner.“27

Priester und Politiker haben also eine gemeinsame Aufgabe, in der sich ihre Bestimmung überschneidet: Die Bekämpfung des Bösen und des Sündhaften. Und die Möglichkeit des Krieges Aller gegen Alle – so die Hobbes‘sche Denkfigur – ist die elementare Voraussetzung eines spezifisch politischen Denkens. Hier fließen Theologie und politische Theorie unmittelbar zusammen und so kommt auch seine zentrale Prämisse zustande, die nicht am Anfang seiner kleinen Schrift steht, sondern eher in der Mitte:

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6. Die Politik der Paranoia „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewusst oder unbewusst, einen ‚von Natur bösen‘ oder einen ‚von Natur guten‘ Menschen voraussetzen. Die Unterscheidung ist ganz summarisch und nicht in einem speziell moralischen oder ethischen Sinne zu nehmen. Entscheidend ist die problematische oder unproblematische Auffassung des Menschen als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung, die Antwort auf die Frage, ob der Mensch ein ‚gefährliches‘ oder ungefährliches, ein riskantes oder ein harmlos nicht-riskantes Wesen ist.“28

Dass diese Auffassung „ganz summarisch“ sei, ist natürlich eine Irreführung. Vielmehr ist sie elementar und für C. Schmitt nicht in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Alle, die diese Prämisse hinterfragen oder gar verneinen, sind Feinde. Diese Auffassung ermöglicht eine ‚Abstandnahme‘, sie macht eine Differenzierung möglich zwischen denen, die gut, und denen, die böse sind. Präziser: zwischen denen, die Freunde sind und denen, die keine Freunde sind, sondern die Anderen, Fremdartigen und „Artfremden“, wie es dann in der 1933er Ausgabe heißt, und die – sofern sich der Intensitätsgrad steigert – zu Feinden werden.

6.1.3. Der Dezisionismus C. Schmitts Die Entscheidung über Freund und Feind wird nicht von einem Souverän und normativ aus dem Nichts gefällt, wie C. Schmitt in seinem Dezisionismus immer wieder betont. Wird sie aber in der faktischen Welt einmal getroffen, so muss sie in einem Prozess mit zunächst offenem Ausgang und innerhalb eines normativ akzeptierten Rahmens gefunden werden, in dem es verschiedene Optionen gab und die schließlich auf eine verdichtet wurden. Alle bisher angeführten Typen von dezisionistischen Entscheidungen, auch die im totalitären Staat nationalsozialistischer oder stalinistischer Prägung, unterscheiden sich grundlegend von Dezisionen als unrealistische und existentialistische Fiktion, wie sie von C. Schmitt begründet und in der Politikwissenschaft häufig und fälschlicherweise als einzig mögliche Form des Dezisionismus betrachtet wird. Grundsätzlich kann man zwei Ebenen des Dezisionismus unterscheiden. Zunächst die von einfachen bzw. regulativen Policy-Entscheidungen, wie ich sie oben skizziert habe und die man in zwei Untertypen, in demokratische und nicht-demokratische, unterteilen kann. Dann zweitens in substantielle Entscheidungen, die die fundamentale Grundordnung einer Gesellschaft betreffen, was eine Freund-Feind-Unterscheidung in der Regel einschließt. Hier nun stellt sich bei C. Schmitt die Frage, wie man bei substantiellen Grundentscheidungen entscheiden soll, wenn man von allen normativen Orientierungen und von allen Pfadabhängigkeiten abgeschnitten ist? Unter Berufung auf vorgegebene Normen und anschlussfähige Traditionen kann es keine wirkliche Entscheidung im exis-

6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?

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tentiellen Sinne mehr geben. Sie muss daher völlig frei sein von allen Bindungen und die „Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“29 Und er sagt weiter: „Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab.“30

Wer die ‚zuständige Stelle‘ ist, insbesondere bei existentiellen Freund-Feind-Entscheidungen, lässt C. Schmitt mehrdeutig offen. An anderer Stelle spricht er von der politischen Gruppe, „die sich am Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb die maßgebende menschliche Gruppierung.“31 Es ist die Gruppe oder Person, die sich willkürlich und jenseits aller verfassungsrechtlichen Verfahren zur entscheidenden Stelle erklärt. Sie trifft dann folgerichtig die Entscheidung über den „maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist.“32 Die rechtliche Kraft der Dezision ergibt sich nicht aus ihrer Begründung, sondern aus der Entscheidung selbst, die nun gilt. Sie wird „im Augenblick (ihrer Entscheidung, F.W.R.) unabhängig von der argumentierenden Begründung und erhält einen selbständigen Wert.“33 Die Konzeption C. Schmitts ist eine unrealistische Fiktion und erscheint als reine Willkür, als heroischer Willensakt eines Einzelnen oder einer homogenen Gruppe, die in einer Freund-Feind-Entscheidung die Pluralität demokratischer Gesellschaften und die Kontingenzen der Moderne vernichten will. Diese Form des Dezisionismus ist „philosophischer Extremismus, der, von antiparlamentarischen, antidemokratischen, antiintellektuellen und antibürgerlichen Affekten und Motiven getrieben, sich als diktatorischer Gegenentwurf zur politischen Ordnung der vernunftbegründeten und revolutionsgeborenen Menschenrechte artikuliert, ist theoretischer Ausdruck einer politisch-existentiellen Haltung, einer normalitäts- und kompromissverachtenden Ästhetik der Ernstfalleigentlichkeit.“34

C. Schmitts Konzept der Entscheidung ist als unrealistischer und deshalb fiktionaler Willenskraftakt konzipiert. Dies deshalb, weil alle Entscheidungen immer auf vorangegangene Entscheidungen rekurrieren, sie entstehen in einem im Prinzip einerseits offenen, gleichwohl beschränkten Korridor von faktisch möglichen Entscheidungen, der zwar Dezisionen ermöglicht, aber vollkommener Willkür wirkungsvolle Riegel vorschiebt. Nie entsteht eine Entscheidung normativ betrachtet aus dem Nichts, sie ist nicht nur normativ, sondern auch politisch, institutionell und kulturell immer pfadabhängig.

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6. Die Politik der Paranoia

6.1.4. Die Politik und „das Politische“: Zur Notwendigkeit und den Folgen einer Differenz Die Politikwissenschaft hat es bisher versäumt, beide Begriffe systematisch zu rekonstruieren und ihnen eine klare Kontur zu geben. Natürlich findet man systematische Abhandlungen zu beiden Begriffen und auch zu ihrer Differenz, aber oft trennen sie nicht rigoros genug zwischen den beiden oder sie sie haben meist eine klare Präferenz für den Begriff des Politischen. Vor allem die französische politikwissenschaftliche und sozialphilosophische Diskussion, die meist von Heidegger inspiriert ist, zieht diesen Begriff vor und hat hierbei eine ganze Bandbreite unterschiedlicher begrifflicher Fassungen vorgelegt.35 Das Politische ist der fundamentalere Begriff in dieser Diskussion, geht es doch beim Politischen ums Ganze: Um die Neufundierung der Gesellschaft als Gesellschaft insgesamt und das ist natürlich eher Gegenstand (sozial)philosophischer Diskussion als die Politik als Alltagsgeschäft, die wir in der laufenden Berichterstattung der Presse und des Fernsehens beobachten können. Es mag auch daran liegen, dass die Politik eine fast nicht überschaubare und typologisierbare Bandbreite an politischen Aktivitäten hervorbringt, die man begrifflich nur schlecht fassen kann und die sich einer Kategorisierung sperren. Was haben zum Beispiel ein politisch motivierter Terrorist, der bei einem Anschlag unzählige Menschen tötet, und ein Hinterbänkler in einem Parlament, der langweilige und ermüdende Reden hält, gemeinsam? Worin mag die gemeinsame Schnittstelle zwischen Drohnenangriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Drahtzieher von Attentaten liegen im Vergleich zur Änderung eines Parameters in der Rentenformel zur Variation des Rentenniveaus nach – sagen wir – 45 Versicherungsjahren? Beim Politischen dagegen geht es ums Ganze. Hier stehen sich fundamentale und sich gegenseitig ausschließende Konzeptionen von der Gesellschaft und ihren grundlegenden Prinzipien gegenüber, die sich so gravierend unterschieden, dass dieser Grundkonflikt nur gewaltsam gelöst werden kann. „Lösung“ ist ein schwieriger Begriff, denn eigentlich kann dieser Grundkonflikt nur entschieden werden – so oder auch anders und diejenige politische Kraft setzt sich durch, die ihre Position allen Anderen mit Gewalt aufzwingen kann. Wenn man diese Grundfrage von den philosophischen Höhen in die wirkliche Welt, in die der politischen Aktion, zurückholt, dann ist es im Kern eine revolutionäre Situation, in der antagonistische Kräfte um die Souveränität kämpfen: Wer ist in der Lage, der Gesellschaft sein Modell, seine Grundvorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, im Zweifelsfall mit Gewalt, zu oktroyieren? Es ist eine Situation, in der etwas neu gegründet, begründet, von Grund auf neu geschaffen werden soll. Eine Gesellschaft soll konstituiert werden, die sich nicht nur gegen widerstrebende Kräfte, sondern gegen antagonistische widerstrebende Kräfte durchsetzen

6.1. Carl Schmitt als Theoretiker der politischen Paranoia?

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muss. Eine fundamentalere und existentiellere Situation kann man sich kaum vorstellen. Die (Neu)Gründung erfolgt ohne universellen oder letzten Grund, was nicht heißt, dass die neue Gesellschaft keine Begründungen für sich in Anspruch nehmen oder ins Feld führen kann. Das Problem stellt sich dann nicht dramatisch als Problem völliger Grundlosigkeit, sondern als das kontingenter Gründe, die so oder auch anders sein könnten. Der Boden der Begründungen beginnt zu schwanken, aber endet nicht in völliger Beliebigkeit. Gleichwohl ist eine revolutionäre geschichtliche Situation immer damit konfrontiert, dass virtuell alles möglich sein könnte, was aber faktisch nur im Extremfall der Fall wäre. Aber es geht nach wie vor um das grundlegende Ganze: Welche Verfassung soll ein Gemeinwesen haben? Wie werden die Rechte und Pflichten von Einzelnen oder von sozialen Gruppen geregelt? Wer hat wie Zugang zu den zentralen Entscheidungsinstanzen der Gesellschaft? Kann man die Entscheider politisch verantwortlich machen, entweder durch (Ab)Wahlen oder auch durch Gerichte? Welche Formen des Wirtschaftens und des Verteilens sollen begründet werden? Welche kulturellen, ethnischen, geschichtlichen oder religiösen Identitäten wollen wir haben? Wie kann man uns beitreten und wie nicht? Das sind – neben vielen möglichen anderen – zentrale Grundfragen, die beantwortet werden müssen und sich im antagonistischen Konflikt gegen andere Positionen – oft und vielleicht als Regel – mit Gewalt durchsetzen müssen. Fast im Gegensatz dazu steht die Politik. Sie wird – betrachtet man die französische Diskussion – eher als Übel, als Regierungstechnik zur Unterdrückung, als Polizei, als letztlich unbedeutsam betrachtet. Der französische Philosoph Paul Ricoeur hat beispielsweise formuliert, dass „die Politik (la politique) spezifische Übel hervor(bringt), politische Übel eben, Übel der politischen Macht.“36 Mit dieser Position steht er nicht allein; sie wird von fast allen französischen Theoretikern des Politischen geteilt, auch wenn die Terminologie unterschiedlich ist. Und dem gegenüber steht dann das Politische: Statt des „Übels der politischen Macht“ stellt sie ein „menschliches Verhältnis“37 dar, das sich nicht auf Klassenkämpfe oder auf andere sozio-ökonomische Spannungen (also auf Politik!) reduzieren lässt. ‚Menschliches Verhältnis‘ versus ‚Übel‘ stehen sich nicht nur begrifflich gegenüber, sondern auch in ihrer Werthaltigkeit. Die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen wird bei ihm zudem als eine Spaltung beschrieben, die sich aus den unterschiedlichen Logiken der beiden Sphären ergibt, wobei für die Politik die strategischen, taktischen und konfliktorischen Machtkämpfe zentral sind. Spaltung bedeutet nicht unüberbrückbare Trennung, sondern untrennbare Bezogenheit. Die Logik des Politischen ergibt sich aus ihrer antagonistischen Grundlegung, die eine Grundstruktur der Gesellschaft instituiert. Dadurch wird das Politische in Politik überführt, die sich nun in den Regeln und Verfahren vollzieht, die durch das Politische vorgegeben wer-

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6. Die Politik der Paranoia

den. Aber die Politik kann sich – und das ist zentral für die Argumentation – jederzeit als das Politische konstituieren und sich dadurch der Verrechtlichung entziehen. Politische Konflikte werden dann in grundlegende und im Kern nicht lösbare Konflikte rücktransformiert und wandeln sich dadurch von ‚normalen‘ Konflikten in antagonistische. Dann wird aus Politik das Politische und die daran beteiligten Akteure sehen sich mit den fundamentalsten Entscheidungen über die Ausprägung des „menschlichen Verhältnisses“ konfrontiert. Wie ein Vulkan bricht sich dann das Politische Bahn, während im Normalbetrieb der Politik der Vulkan ‚schläft‛ und nur ab und zu kleine Rauchwolken oder kleine Mengen an Lava ausstößt. Politik ist die Normalität, bei der das Abwesende Politische aber immer als Anwesendes präsent ist: Der Vulkan kann – als abstrakte Möglichkeit – jederzeit und ohne Vorwarnung ausbrechen, obwohl das eher die Ausnahme sein dürfte. Aber jederzeit kann das Politische unter unbestimmten Bedingungen zum Ausbruch kommen. Die Spannung zwischen dem Politischen und der Politik als untrennbare Aufeinanderbezogenheit lässt sich in einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension beobachten. (i) Auf der zeitlichen Ebene ist die Differenz klar: Politik findet kontinuierlich statt, in einer etwas übertriebenen Formulierung könnte man sagen, sie findet Tag und Nacht statt. Während der oder die Machthaber schlafen, überlegen die der Macht unterworfenen, wie sie diese loswerden könnten und welche Strategien und Taktiken sie dabei anwenden müssten; und Analoges gilt für Verteilungsund andere Fragen der Gesellschaft. Im Gegensatz dazu ist das Politische sporadisch, selten und nur in bestimmten Augenblicken präsent. Die (Neu-)Gründung eines Gemeinwesens hat dagegen einen identifizierbaren Anfang. Aber irgendwann ist die Revolution zu Ende, die neuen Institutionen sind gegründet und die neuen Akteure in Amt und Würde – und die Revolutionäre können dann endlich schlafen gehen. (ii) Auf der sachlichen Ebene ist die Differenz ebenso deutlich. Während die normalen Machtkämpfe der Politik sich etwa darum drehen, wer welche Ressourcen bekommen soll, wer welche Rechte in Anspruch nehmen kann oder wer welche Autobahnmaut bezahlen soll, geht es beim Politischen ums Ganze: Wie eine neue Gesellschaft aussehen soll, kann nur gegen andere, widerstrebende Kräfte mit Gewalt durchgesetzt werden, weil es um fundamentale und antagonistische Konflikte geht. Dies verweist auf die letzte Dimension. (iii) Auf der sozialen Ebene tritt eine Akteurkonstellation auf, in der sich zwei Gruppierungen unversöhnlich gegenüberstehen, die Bewahrer und Verteidiger des Alten und die Kräfte des Neuen. Ihr Konflikt kann nur durch Gewalt ausgetragen und entschieden werden und hat dann eine Intensität erreicht, die ihn in einen antagonistischen Konflikt transformiert, den zwischen Freund und Feind. Dann ist Politik in das Politische umgeschlagen.

6.2. Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat

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„Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad eine Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen.“38

Diese Bestimmung ist eine rein formale Bestimmung, denn alle sachlichen Bestimmungen, wie schön/hässlich, gut/böse, moralisch/unmoralisch lassen sich zu einem bestimmten, dem ‚äußersten‘ Intensitätsgrad steigern, ab dem sie dann zu einem politischen Gegensatz im Sinne des Politischen werden. Er ist dann erreicht, wenn die fundamentale Negation des Anderen nicht nur denkbar, sondern auch faktisch machbar erscheint; denn das Freund-Feind-Schema hält „seinen realen Sinn dadurch, dass insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug“ genommen werden kann.39 „Seinsmäßige Negierung“40 ist der Kern der sozialen Dimension, während in der Politik der Andere ein Gegner ist, den man zwar bekämpft, manchmal mit fairen oder weniger fairen Mittel, aber seinsmäßig nicht negiert bzw. nicht tötet. Der Kampf – wenn der Begriff selbst nicht bereits überzogen ist und durch den des Konflikts ersetzt werden sollte – vollzieht sich in erwartbaren und legitimen Formen und schließt die seinsmäßige Negation des politischen Gegners systematisch aus. Nach einer Niederlage bleibt der Gegner präsent in Form der (politischen) Opposition und kann umgehend und erneut um Anteile an politischer Macht kämpfen. Zudem sind die Konflikte hier dem Kompromiss zugänglich und statt durch Tötung durch Verhandlungen oder andere friedlichen Mechanismen der Konfliktbearbeitung entscheidbar. Über die Formen der Gewaltausübung in den kriegerischen Freund-Feind-Konstellationen schweigt sich C. Schmitt weitgehend aus, aber immer kämpfen bei ihm soziale, besser durch das Politische konstituierte Gruppen gegeneinander. Dies können eigentlich nur größere Gruppen Gleichgesinnter sein, die dann kriegerisch zusammenprallen und sich auf Leben und Tod bekämpfen. Aber es gibt noch viele andere Formen der Gewaltausübung, die in der Politik eine zentrale Rolle spielen und im Folgenden diskutiert werden.

6.2. Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat Der politische Mord begleitet die Politik wie ein Schatten und ist ein Phänomen, das wir seit der Antike kennen. Er ist die vorsätzliche und geplante, gleichwohl ungesetzliche Tötung einer Person, die ein Regime, eine Machtstruktur oder eine Ideologie repräsentiert und die vom Mörder angegriffen – besser – bekämpft wird.41 Der Mörder ist meist eine Einzelperson, es kann sich aber auch um eine kleine, verschworene Gruppe von Personen handeln, die entweder selbst oder im Auftrag von Dritten handelt. Der politische Mord gehört zum Spiel der Macht und findet meist innerhalb der Gruppe der politischen Machtträger statt. Ihm liegt eine rationale Kalkulation zu Grunde, deren Ausgangsprämissen dennoch falsch sein können. Mit dem politischen Mord ist eine erwartbare Folge verbun-

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6. Die Politik der Paranoia

den: Der Mörder hat die Absicht, die dann leere Stelle der Macht unmittelbar selbst zu besetzen oder ein Machtvakuum zu generieren, in das andere politische Kräfte eindringen und eine neue Machtstruktur aufbauen. Die Ermordung Gaius Iulius Caesars, an der auch Caesars Sohn Brutus beteiligt war – und sie somit zugleich zu einer Familienaffäre machte –, ist eine Art Urszene des politischen Mordes, die in Literatur, Geschichte und Philosophie des 20. Jahrhunderts eine große Rolle spielte und paradigmatisch für einen tödlichen Machtkonflikt innerhalb der politisch Herrschenden stand. Politische Mörder wollen – wie Attentäter auch – einen Eintrag in die Geschichtsbücher der Menschheit erreichen. Doch bereits nach Caesars Ermordung wurde das schwere Verbrechen der Ermordung eines Machtträgers, das crimen majestatis, mit dem Tode bestraft. Zusätzlich aber durfte der Name des Mörders nicht auf dem Grabstein stehen und auch sonst nicht erwähnt werden. Dem Namen und damit der Person sollte durch die verordnete Anonymität der Eintrag in die Geschichtsbücher der Menschheit und damit in ihr Gedächtnis verwehrt bleiben. Oft werden politische Morde von Dritten in Auftrag gegeben, wie etwa der (gescheiterte) Mordanschlag auf den kubanischen Staatschef Fidel Castro durch den amerikanischen Geheimdienst CIA. In der Regel wird der Begriff des politischen Mordes für die Tötung eines Einzelnen verwendet, aber oft wird der Mord – in fahrlässiger Weise – mit einem Attentat gleichgesetzt, wenn man beispielsweise vom Attentat auf John F. Kennedy oder Martin Luther King spricht. Beides waren politische Morde. Das politische Attentat dagegen ist „der auf einen Augenblick gerechnete Einzelgängerkrieg der Ohnmacht.“42 Es trägt bereits die Züge der Paranoia im Gesicht und ist eine Gewalttat, die absichtsvoll Einen oder eine kleine Gruppe von Menschen tötet. Es ist der individuell (oder als kleine Gruppe) vollzogene Aufstand gegen die Macht der Macht. Ihm mag ein politisches Kalkül zugrunde liegen, aber meist ist es die von einem Grenzgänger verübte Gewalttat, für den sich ein lange gehegter Verdacht in einem zufälligen Zeitpunkt zu einer fatalen Gewissheit verdichtet, jetzt töten zu müssen. Der Attentäter teilt blitzartig seine Erleuchtung, seine Erkenntnis, seine Sicht der Welt allen anderen mit und rechnet mit der medialen Wirkung seiner Tat. Er will in den Seiten der Geschichtsbücher seinen Niederschlag finden und mit seiner Tat – hier dem Attentat43 – eine Botschaft hinterlassen. Das Finalattentat steht für sich selbst, findet seinen Wert in der Tat allein und will nichts anderes erreichen als die Tötung des Machthabers an sich. Das Initialattentat dagegen will zum Auslöser von etwas werden: einer Revolution, einem Staatstreich, einem Machtwechsel oder einer Rebellion, obwohl es meist nicht die erhofften politischen Wirkungen zeigt. Dies liegt unter anderem daran, dass sich seine Motivation meist nicht aus vernünftigen, sondern aus paranoiden Motiven speist. Wie irrational die Motive auch scheinen mögen,

6.2. Vom politischen Mord zum Selbstmordattentat

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der Attentäter will überleben, er will nach seiner Tat über sich und seine Motive öffentlich Rechenschaft ablegen und für sie mit seinem Namen einstehen. Das Selbstmordattentat unterscheidet sich grundlegend vom Attentat und ebenso von den Kamikaze-Aktionen der Japanischen Piloten im Zweiten Weltkrieg.44 Man kann es als absichtsvolle Selbsttötung bezeichnen, die die absichtsvolle Tötung von Anderen als primäres Ziel beinhaltet, um vorrangige politische oder ideologische Ziele zu erreichen. Hierin liegt der Unterschied zum (einfachen) Selbstmord. Die meisten Selbstmordattentate richten sich nicht gegen bestimmte Machthaber, wie beim politischen Mord, sondern gegen völlig zufällig anwesende Menschen, die sich gerade in einem Bus oder einer U-Bahn befinden. Wer und wie viele Menschen getötet werden, hängt davon ab, ob sich der Attentäter um 11.18 Uhr und nicht um 11.22 Uhr in die Luft sprengt. Liegen Selbstmordattentaten (vermeintliche) politische Motive zu Grunde, so muss man fragen, ob es rationale Erwägungen sind, ob sie von einem grenzenlosen Hass diktiert werden oder ob sie aus religiösen Motiven verübt wurden. Bei letzterem wird unterstellt, dass der Islam als Religion eine besondere Rolle spielt, weil am Ende des Jahrhunderts der überwiegende Teil der (Selbstmord)Attentäter entweder aus muslimischen Staaten kommt oder – wie die Attentäter des 9/11 – sich auf den Islam berufen. Der Selbstmord ist in den meisten Religionen, insbesondere aber im Islam, verpönt, weil er geistige, moralische oder anderweitige Verzweiflung signalisiert und man sich aus egoistischen Gründen selbst tötet. Er untergräbt zudem das Vertrauen in Gott, weil man ein Leben beendet, das er geschenkt hat. Der Märtyrertod dagegen wird völlig anders gesehen und vom Selbstmord scharf abgegrenzt. Man begeht ihn zu Ehren eines Gottes – also als ein Opfer. Dies ist dann am größten, wenn man sein eigenes Leben hingibt. Und es muss eine Gruppe von Menschen geben, die weiter leben und dieses Opfer würdigen und/oder bewundern können. Das Selbstmordattentat „(...) stellt alle Regeln des Krieges und der Macht auf den Kopf, weshalb konventionelle Mittel zu seiner Bekämpfung wirkungslos bleiben, ja sogar kontraproduktiv werden können. Denn wer das Märtyrertum als Ausweg aus einer als wertlos erachteten irdischen Existenz betrachtet, für den hat der Tod seinen Schrecken verloren – und damit die Ultima Ratio jeder Macht ihre Bedeutung, denn mit mehr als dem Tod kann sie eben nicht drohen.“45

Die Terroristen der RAF, die in den 70er Jahren eine große Rolle in Deutschland spielten, durch Entführungen und Morde auftrumpften und zum Teil in Trainingscamps im Nahen Osten ausgebildet wurden, wollten keine Selbstmordattentate ausführen. Das ehemalige RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock sagte in einem Interview: „Nein, niemand der dort ausgebildet wurde, wollte Selbstmord begehen, auch die Palästinenser nicht. Wir wollten Ziele erreichen: Flugzeuge entführen, Gefangene befreien, Geld

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6. Die Politik der Paranoia beschaffen, Geiseln nehmen. Dass wir dabei unser Leben verlieren konnten, wusste jeder. Aber es war nicht unsere Absicht.“46

Die Selbsterhaltung war hier ebenso dominant wie die Erreichung von politischen Zielen. Die zentrale Frage, die beantwortet werden muss, ist die nach der Plausibilität oder gar Rationalität dieser politischen Ziele. Denn die Einbildungskraft kann eine „falsch dichtende Einbildungskraft“47 sein, die den Boden der ‚richtig‘ dichtenden Einbildungsraft verlassen und paranoide Züge angenommen hat. Die entfaltete Paranoia – nicht der paranoide politische Stil im Sinne von R. Hofstadter48 – ist die politischste aller Geisteskrankheiten, weil sie sich immer um Machtbeziehungen dreht und hierbei die politische Macht ebenso im Zentrum steht wie potentielle fundamentale Gegner, ja politische Feinde, die die Dynamik der Politik grundlegend ändern wollten.49

6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia Politische Paranoia ist ein schwer zu erfassendes Phänomen, das aber zugleich unhintergehbarer Bestandteil jedes Versuches sein muss, den Politikbegriff umfassender zu erfassen. Paranoia und Politik schließen sich nicht aus, sondern gehen unter besonderen Bedingungen eine Einheit ein, in der beide untrennbar miteinander verwoben sind. Erschwert wird ihre analytische Erschließung dadurch, dass ihre wesentlichen Merkmale sowohl an einer pathologischen als auch an einer nicht-pathologischen Ausprägung entwickelt wurden. Für ersteren Versuch steht das nach wie vor lesenswerte und interessante Buch von Elias Canetti „Masse und Macht“, der sein Konzept am Beispiel eines klinischen Falles, des Geheimrates Daniel Paul Schreber, entwickelt hat.50 Ein anderer Versuch, Richard Hofstadters „The paranoid style in American politics“, betont ausdrücklich, dass sein Konzept bei „more or less normal people“ entwickelt wurde, diese voraussetzt und Paranoia „not in a clinical sense“ begriffen wird, sondern „a clinical term for other purposes“ ausleiht.51 Beide gehen von entgegengesetzten Polen aus, einem klinischen und einem nicht-klinischen, und kommen erstaunlicher Weise dennoch zu ähnlich gelagerten Merkmalen. Politische Paranoia ist nicht nur die politischste, sondern auch die „intellektuellste unter den Geistesstörungen“, die sich leicht mit verschiedenen politischen Ideen und Ideologen verbinden kann.52 Sie ist in der Politik häufig anzutreffen, weil sie sich oft nur wenig vom normalen politischen Handeln unterscheidet. „Im weitesten, nicht pathologischen Sinne des Wortes unterscheidet sich die paranoide Reaktion qualitativ nicht von anderen Reaktionen, denen man im menschlichen Verhalten begegnet. Die Paranoia ist lediglich die Übertreibung eines an sich bewährten Verhaltens in der Politik, das durch Wachsamkeit, scharfe Beobachtung und kluge Prävention gekennzeichnet ist. (...) Die politische Paranoia verzerrt konventionelle und nützliche Re-

6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia

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aktionen auf eine Gefahr. Sie verdankt ihre einzigartig zerstörerische Kraft also nicht nur ihrem krankhaften Argwohn und Wahn, sie verdankt sie ironischerweise auch der (Über-)Aktivierung eines gesunden psychologischen Verhaltens und klugem politischen Handeln.“53

Demnach wäre die Paranoia allein eine graduelle Abweichung vom normalen politischen Verhalten, das ‚lediglich‘ durch Übertreibung, durch Überaktivierung entsteht und eine besondere Intensität annimmt, die über das ‚normale‘ Maß hinausschießt. Insofern muss man von einer erheblichen Spannbreite verschiedenster Intensitätsstufen von Paranoia ausgehen, die von paranoiden Einzelgedanken bis hin zu robusten Wahnsystemen reichen. Doch gibt es eine Grenze, ab der die Zunahme in eine neue Qualität umschlägt, in einen Zustand, der jenseits der graduellen Abstufungen liegt? Manche bezeichnen einen solchen Zustand als „persecutory delusion“, also als einen krankhaften Wahnzustand, der medizinisch-psychologischer Behandlung bedarf und sich grundlegend von den graduellen Intensitätsstufen unterscheidet.54 Dieser krankhafte Zustand ist in der Politik eher selten, aber er kann nicht ausgeschlossen werden. R. Hofstadter spricht deshalb von einem „paranoiden Stil“ der Politik, 55 der normale Konflikte überinterpretiert und in eine Dimension treibt, in der die Konflikte paranoid und der Tendenz nach unüberbrückbar werden. Der Paranoiker hat sich nicht ganz und gar von der Welt verabschiedet, er steht – mindestens noch – mit einem Bein in ihr, aber er überzieht und überdehnt viele der ‚normalen‘ Phänomene und interpretiert sie überzogen, aber noch nicht völlig krankhaft oder irrational. Bei Letzterem wäre die graduelle Abweichung in eine neue Qualität umgeschlagen und der Paranoiker würde in einer von der wirklichen Welt abgeschlossenen Sphäre leben. Das Wahnsystem ist dann geschlossen, alle relevanten Brücken zur wirklichen Welt sind abgebrochen und es ist der Kritik, der empirischen Evidenz und der vernünftigen Argumentation prinzipiell nicht mehr zugänglich. Dann hat die Paranoia den Status eines krankhaften Wahnzustandes erreicht. Die politische Paranoia ist zunächst also nur eine graduelle Abweichung von einer klugen und vernünftigen Politik, die sich in Abstufungen vollzieht. Es geht „weniger um unverhohlene Wahnvorstellungen. Sie sind eher die Ausnahme und für andere klar zu erkennen. Die größte Gefahr geht von Wahngedanken aus, die im Grenzbereich bleiben und daher von anderen nicht so einfach als Produkte des Irrsinns identifiziert werden. Bei den meisten Paranoikern in der Politik ist es wahrscheinlich, dass ihr Wahn die Übertreibung und Störung wirklicher Ereignisse und vernünftiger Überzeugungen enthält und nicht rein psychologischer Erfindung entspringt.“56

Die milderen Ausprägungen der Paranoia beruhen auf einer realistischen und vernünftigen Deutung der Welt, klammern sich an nur einen, damit selektiven Ausschnitt und übersteigern, überdeuten und intensivieren diesen. Zwar sind für Politik die intensive Auseinandersetzung und der intensive Konflikt mit Rivalen

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6. Die Politik der Paranoia

und Gegnern konstitutiv, aber erst wenn daraus „Feinde werden, betreten wir das Reich des Wahns.“57 Entscheidend für meinen Kontext ist die prinzipielle Machbarkeit – ja, politische Herstellbarkeit – der Paranoia durch bestimmte Aktivitäten von Einzelnen oder Parteien. Einer der Pioniere der modernen Psychologie, Eugen Bleuler, hat sie am Anfang des Jahrhunderts so definiert: Paranoia ist „die Ausbildung eines aus gewissen falschen Prämissen entwickelten und in seinen Teilen logisch verbundenen unerschütterlichen Wahnsystems, ohne nachweisbare Störung aller anderen Funktionen, also auch Mangel aller ‚Verblödungssymptome‘, wenn man nicht die Kritiklosigkeit gegenüber den Wahnideen dazu rechnen will.“58

Hier werden alle zentralen Elemente der (politischen) Paranoia präzise beschrieben. Zu erwähnen sind zuerst die ‚falschen Prämissen‘, mit denen der Paranoiker arbeitet. Er nimmt die Welt nicht plausibel oder realistisch wahr, sondern deutet viele Sachverhalte fehl. Intern aber sind seine Gedanken logisch schlüssig und sein Wahnsystem ist unerschütterlich. Es ist die Gewissheit, nicht der Zweifel, die den Kern des Wahns ausmacht. Politische Paranoia müsste dann einen Politikstil hervorbringen, der die moderne Politik als rational, vorhersehbar und planbar betrachtet, sofern man den kognitiven Schlüssel hierfür in der Hand – besser: im Kopf – hat und alle Phänomene, alle Erscheinungsformen der Politik und des Politischen auf letzte und eindeutig erkennbare Gründe zurückführt. Es versteht sich von selbst, dass der Paranoiker – womöglich als Einziger – diese letzten Gründe zu erkennen und somit das politische Geschehen vollständig zu durchschauen glaubt. Was sind nun die zentralen Merkmale der (politischen) Paranoia? Zunächst ist festzuhalten, dass alles zum Auslöser einer Paranoia werden kann: Die eigene Homosexualität, die Religion, die verdrängte Kindheit, die soziale Lage, die Machtlosigkeit in einer politischen Konstellation, die (eigene) Abwahl etc. Wesentlich ist – gerade weil die Anlässe beliebig sind – die formale Struktur und das formale Muster, mit dem der Paranoiker die Welt wahrnimmt und hierbei spielen Machtverhältnisse eine zentrale Rolle. Die Grundstruktur der politischen Paranoia lässt sich durch sieben zentrale Merkmale beschreiben.59 (i) Der Paranoiker glaubt, der grundlegenden Wahrheit der Welt näher gekommen zu sein als alle Anderen. Nur er allein oder ein erlauchter Kreis von Mitwissern durchschaut die tiefen Triebkräfte des Weltgeschehens. Daraus leitet er ein „Positionsgefühl“, eine „exaltierte Stellung“60, eine besondere Machtposition in einem wie auch immer gearteten sozialen Gefüge ab, die häufig mit einer vermeintlichen Verbundenheit mit höheren, imaginären, übersinnlichen, meist religiösen Mächten einhergeht. Er weiß etwas, was andere nicht wissen bzw. nicht wissen können (und sollen) und leitet daraus seine spezifische Machtstellung ab. Massive Selbstüberschätzung – ja: Größenwahn – ist die unvermeidliche Folge dieser Psychostruktur. Der ‚normale‘ Machthaber teilt mit dem Paranoiker das

6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia

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Gefühl, dass Machthaben eine ‚existentielle Situation‘ ist, die man unbedingt verteidigen und sichern muss. Das subjektive Gefühl eines ‚normalen‘ Machthabers und das eines Paranoikers unterscheiden sich oft nur graduell, denn beide teilen das Gefühl des Bedrohtseins oder des Komplotts gegen sich und ihre exklusive Position. (ii) Der politische Paranoiker fühlt sich permanent bedroht und interpretiert diese permanente Bedrohung als systematische Konspiration von „bösen Mächten“, die überall lauern, überall anwesend sind, überall ihre Finger im Spiel haben und denen man nicht entkommen kann. Insofern ist politische Paranoia immer eng mit weltlichen Verschwörungstheorien61 oder religiösen Wahnvorstellungen verknüpft. Beide können als ein Denkschema betrachtet werden, das die als bedrohlich wahrgenommene Wirklichkeit als direkten Ausfluss einer verschwörerischen Kraft betrachtet, die im Geheimen operiert und ihre böswillige Tätigkeit bis zum Ende führen will. Jedes Ereignis wird kausal auf das Wirken dieser verschwörerischen und im Geheimen teleologisch operierenden Kraft zurückgeführt. Das Gefühl der permanenten Bedrohung ist ubiquitär, es kann jeden einzelnen Sachverhalt erfassen. Es können politische Gegner, fremde Mächte, aufrührerische Massen, Strahlen, Giftstoffe oder was auch immer sein, die einen selbst oder eine gegebene gesellschaftliche Ordnung bedrohen. Diese fundamentale Bedrohung kommt vom politischen Gegner oder anderen Gegenkräften, die die eigene Machtposition bekämpfen. (iii) Der Paranoiker unterliegt einem Kausalitätszwang, er ist der strengen Überzeugung, dass auf der Welt nichts ohne (tiefen) Grund geschieht. Jedes Unbekannte kann so systematisch auf ein bereits Bekanntes zurückgeführt werden. Dies führt zu einem ununterbrochenen Begründungszwang, der demaskiert, entlarvt, zurückführt, Kausalitäten innerhalb paradigmatischer Wahnsysteme konstruiert etc. Hinter jedem Unbekannten, hinter jeder Person, hinter jedem Gesicht, hinter jedem Ereignis ist das Eigentliche verborgen: Der ubiquitäre Feind, der sich hinter einer Maske versteckt. Kontingenzen und Zufälligkeiten können von der paranoiden Vernunft nicht akzeptiert werden, alles muss einen tiefen Sinn haben, alles geschieht nach Plan und kann deshalb auf einen letzten Grund zurückgeführt werden. Das Begründen wird zum (paranoiden) Zwang und E. Canetti hat hierfür verschiedenste Begriffe geprägt: Es kommt zum „Denkzwang“, zur „Begründungssucht“, zur „Kausalitätssucht“ u. Ä. Alle Begriffe signalisieren, dass man zwanghaft etwas demaskieren, etwas entlarven und dazu die verborgenen Gründe, Fakten, Sachverhalte etc. aufdecken und aus dem Dunkel ans Licht bringen muss. Hinter allem steckt eine umfassende Verschwörung. Ein weiterer Faktor tritt hinzu. Moderne Politik ist nie eindeutig, immer gibt es – zumindest in pluralistischen und offenen Gesellschaften – gewollte Mehrdeutigkeit, verschiedene Meinungen, konfliktäre (parteipolitische) Akteure. Das Gebiet der Politik

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6. Die Politik der Paranoia „ist keinesfalls das Vernünftige, Regelhafte, Berechenbare, Gesetzmäßige, sondern der feindlichste Gegensatz: das Zufällige, Kontingente, Unvorhersehbare. Nicht die Algorithmen der Verwaltung, der stumme Gleichlauf der bürokratischen Akte, machen das Politische aus, sondern das Unerwartete.“62

Die Paranoia arbeitet ununterbrochen an der Beseitigung dieses Grundmerkmals der Politik und die erfundenen ‚letzten‘ Gründe sind in der Regel fiktive Unterstellungen oder Erklärungen, die für Handlungen oder Entscheidungen nachträglich konstruiert werden oder Ausdruck einer schon immer wirkenden verschwörerischen Kraft sind. (iv) Damit ist die „Ursituation der Paranoia“63 erreicht. Der Paranoiker hat das Gefühl, von einer Meute, Masse oder von Feinden umstellt zu sein, die gegensätzlich eingestellt sind. Überall lauert die feindliche Meute, ihre Augen sind von überall auf einen gerichtet und man fühlt den unhintergehbaren Zwang, sie zu jagen, zur Strecke zu bringen und endgültig zu vernichten. Jedoch ist die feindliche Meute oder der Feind als „Gestalt“ eine Hydra, die immer neu ihren Kopf erhebt und das Böse immer neu nachwachsen lässt. Es gibt kein Entrinnen, es gibt keine Ruhe, sondern allein den Zwang zum Kampf. Grundlegend für den Paranoiker ist seine „feindselige Haltung zur Welt“64, denn überall lauern nicht nur Gegner, Konkurrenten oder Kombattanten, sondern böswillige Feinde. Daher auch die Nähe zu Bestimmungen der Politik, die durch Freund-Feind-Konstruktionen geprägt sind und dann zum Politischen werden.65 (v) Konstitutiv ist die Fehlwahrnehmung der Welt. Soziale, ökonomische und politische Ereignisse oder Umstände werden nicht realitätsgerecht in den Wahrnehmungshorizont eingebaut, sondern auf der Grundlage paranoider Wahrnehmung. Es kommt zum Phänomen der ‚falsch dichtenden Einbildungskraft‘ (Kant). Was immer geschieht oder was immer ein Anderer tut, sei es ein faktischer oder vermeintlicher politischer Gegner oder Feind, es wird im paranoiden Wahnsystem immer als Bestätigung der eigenen (wahnhaften) Weltsicht interpretiert. Es gibt keine Instanz oder gedankliches Verfahren, die die „falsche“ Wahrnehmung falsifizieren könnte. Paranoide Wahnsysteme sind – in ihrer Extremform – geschlossene Systeme, die innerhalb ihrer eigenen Welt einer strengen Logik unterliegen, die alles und jedes systematisch in das Wahnsystem einbauen. Deshalb ist auch der krampfhafte Versuch vergeblich, bei den in den Flugzeugen sitzenden Terroristen etwas Auffälliges, Abnormales oder gar Abartiges zu suchen. Die von einem der Terroristen an der Technischen Universität in Hamburg verfasste Diplomarbeit ist eine gute Diplomarbeit, die sich durch nichts von anderen unterscheidet. Warum sollte sie auch? Denn hier wird doch die gleiche systematische Logik angewendet wie innerhalb des Wahnsystems. Wahnsysteme ergreifen nicht den ganzen Menschen, sondern möglicherweise nur einen Teil von ihm, weil Menschen in sich nie völlig konsistent sind. Eine vom Wahn befallene

6.3. Zur Psychodynamik der politischen Paranoia

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Person kann durchaus „normale“ Tätigkeiten verrichten, sofern diese nicht von der Paranoia erfasst werden. (vi) Der politische Paranoiker ist zudem ein „Neurotiker des Bildes und handelt als Ikonoklast.“66 Seine Kritik und vor allem seine Anschläge gelten Bildern – auch im übertragenen Sinne –, sofern diese als Repräsentationen oder Symbole einer bestimmten Macht interpretiert werden können, seien sie personeller Art – vom Präsidenten bis zum Popstar – oder baulicher – wie etwa die Twin Towers in New York 2001. Der Bildersturm ist eine typische Ausdrucksform für intensive politische Konstellationen und tritt meist in revolutionären Situationen auf. Die Französische Revolution begann mit dem Sturm auf die Bastille, die Russische Revolution 1917 mit dem Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg. Die Bilder vom Sturz der Saddam Hussein-Statue auf dem Bagdader Firdosplatz am 9. April 2003 durch die Truppen der USA waren ein ebenso spektakulärer Akt des Ikonoklasmus wie die Sprengung der Buddha-Statuen in Afghanistan durch die Taliban oder die Einschläge der an 9/11 entführten Flugzeuge in die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington. (vii) Der Paranoiker folgt in der Interpretation der äußeren Zeichen und den Schlussfolgerungen, die er zieht, strikt den Gesetzen der formalen Logik. Das Problematische ist die falsche oder überinterpretierte Wahrnehmung der äußeren Welt. Zudem schiebt er alle Tatsachen und Sachverhalte, die der paranoiden Wahrnehmung widersprechen, als Täuschung, als Blendwerk, als Irreführung finsterer Mächte ab. Für den Paranoiker beweisen scheinbar widersprechende Fakten allein die Gerissenheit und Schlauheit des Feindes, sie stehen für seine immer präsente Täuschungsabsicht. Jeder vom Verfolgungswahn Befallene interpretiert Erscheinungen und Begebenheiten der Welt in seinem inneren, von anderen nicht beeinflussbaren Rahmen. Während der normale Durchschnittsmensch das Geräusch aus der Nebenwohnung nicht als das Bohren eines Abhörlochs interpretiert, sondern als unvermeidliches Geräusch beim Bohren von Löchern, sieht sich der vom Wahn Befallene in seinem Wahn bestätigt. Alle Erscheinungsformen, alle Ereignisse werden als Bestätigung des Wahngebildes gelesen. Aber die formale Logik des Paranoikers ist eine primitive Logik, die auch paläologische Logik67 genannt wird. Dabei können zwei Dinge, die ein gemeinsames Merkmal haben, identisch werden. Wenn ein Moslem vor 50 Jahren jemanden ermordet hat, dann sind gemäß dieser Logik alle Moslems für immer Mörder. Zudem wird die räumliche und inhaltliche Gleichzeitigkeit zweier getrennter Ereignisse unterstellt. Ein Paranoiker lebt in einer teilweise, weitgehend oder völlig geschlossenen Vorstellungswelt, einer ignorantia invincibilis. Er hat sich gegen jedwede Einwände, die seiner Theorie widersprechen, immunisiert. Es ist das beunruhigende „Bekenntnis zur Logik ohne Vernunft“68, das die (fundamentalistischen) Paranoiker kennzeichnet und sie so immun gegenüber der evidenzbasierten Vernunft macht.

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6. Die Politik der Paranoia

Paranoide oder fanatische Taten bedürfen keiner großen Ideen oder religiöser Überzeugungen. In der Regel genügen weit profanere Motive wie Mordlust, Habgier, das Streben nach Macht oder schlichte Dummheit, auch wenn manche Verbrechen mit einer Kaskade von Begründungen und Erklärungen gerechtfertigt werden. W. Sofsky hat zu Recht festgehalten: „Utopische Visionen, religiöse Travestien, mythische Erzählungen oder totalitäre Entwürfe der Weltordnung, solche Erfindungen der Intellektuellen haben die Exekutoren des Terrors selten beflügelt. Intellektuelle neigen dazu, die Wirkung von Ideen oder Ideologien maßlos zu überschätzen. Daher rührt auch der weithin verbreitete Irrglaube, Gewalttäter seien stets von Verblendungen geschlagen und bedürften nur gründlicher Aufklärung, damit sie von ihrem Tun ablassen. Aber die Untaten benötigen neben ein paar Parolen nichts mehr als pure Gedankenlosigkeit.“69

Die flottierende Aggression richtet sich im Kern gegen beliebige Objekte und die Selbstrechtfertigungen der Tat sind ebenso beliebig. Als Timothy McVeigh ein staatliches Gebäude in Oklahoma sprengte und 168 Menschen in den Tod riss, sagte er, es richte sich „gegen Washington“ – eine völlige Leerformel. In seinem Prozess, in dem er zum Tode verurteilt wurde, machte er keine Aussage zur Begründung seiner Tat. Das war konsequent, es gab keine Begründung. Wenn die Beliebigkeit auch die Begründungen erfasst, dann werden sie leer und das Beschweigen ist folgerichtig, weil es nichts Sinnvolles zu sagen gibt. Ob ein Terroranschlag gegen den „Imperialismus der USA“, gegen die „westliche Zivilisation“, ob als Beitrag zum „revolutionären Befreiungskampf“ des Volkes X oder Y, ob aus Langeweile oder aus Ausländerhass begangen wird – die Formeln sind beliebig austauschbar, das pseudo-politische Gestammel ergibt keinen ernsthaften Sinn. Das Problem sind die wissenschaftlichen oder politischen Interpreten. Jedem noch so substanzlosen Satz wird eine Bedeutung zugemessen, die er nicht hat und man fragt sich laufend, warum dem Satz eines Irren mehr geglaubt wird und ihm mehr an Wahrheitsgehalt und Plausibilität unterstellt wird als ihm gebührt. Dabei gibt es eine gültige Frage für solche fragwürdigen Fälle: Stimmt das wirklich? Welche Evidenzen gibt es dafür oder dagegen? Was sagt unsere politische Urteilskraft hierzu?

6.4. Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges Attentate können gut geplant sein und ihre Durchführung mag den Attentätern leicht vorkommen, auch wenn sie sich für Eventualfälle des Misslingens vorbereiten mögen. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau, die damals 46-jährige Herzogin Sophie von Hohenberg, wurde von serbischen Anarchisten ausgeführt. Das Attentat war geplant, die beteiligten Personen hatten zum Teil (politische) Motive und die organisatorischen Vorberei-

6.4. Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges

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tungen genügten gewissen Ansprüchen. Im Nachhinein muss man sich jedoch über den erstaunlichen Dilettantismus ebenso wundern wie über die Motivlage70, die eher jugendlichem Abenteurertum als politisch motivierten Gründen entsprach.71 Auch die Durchführung selbst war äußerst ungeschickt und machte schon im Vorfeld den Erfolg fraglich. Die Zufälligkeit des ganzen Unternehmens wurde jedoch durch den konkreten Gang der Dinge auf die Spitze getrieben. Der gesamte Ablauf des Attentates war so merkwürdig und absurd, dass man es als eine „Serie von grotesken Zufällen“72 beschreiben muss. Auch hat es nicht den Ersten Weltkrieg in einem ursächlichen Sinne ausgelöst, sondern bestimmte Akteure haben es sich zu Nutze gemacht, es für ihre Macht- und Kriegsinteressen ausgenützt und so war der Krieg das Ergebnis einer Kettenreaktion, die auch anders hätte ausgehen können. Aber der deutsch-österreichische Kriegsdurst war so groß, dass der Ausgang, den die Geschichte dann genommen hat, wahrscheinlich war und ‚in der Luft‘ lag.73 Die Attentäter waren eine lose verbundene Gruppe, allesamt noch sehr jung, zum großen Teil Schulabbrecher und von einem diffusen serbischen Nationalismus angetrieben. Drei von ihnen waren enger mit einer serbisch-nationalistischen Organisation, dem Geheimbund Schwarze Hand, verbunden, von dem die Attentäter auch ihre Waffen und Bomben bekamen. Die Fahrtroute des herzoglichen Paares wurde erst vier Tage zuvor bekannt gegeben, so dass die konkreten Planungen erst am 24. Juni 1914 beginnen konnten. Danilo Ivic, ein Mitglied der Schwarzen Hand, war am Tag des Attentates in Sarajewo und machte den Jugendlichen Mut, die ihm etwas ängstlich und unentschlossen erschienen. Andere Mitglieder der Schwarzen Hand wollten sie gar nicht erst in die Rolle der Attentäter schlüpfen lassen, aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Ob die jugendlichen Attentäter von dieser Organisation rekrutiert wurden oder ob sie sich an diese wandten, ist umstritten. Jedenfalls hatten drei von ihnen Kontakte zu ihr und die Führung, insbesondere Oberst Dragutin Dimitrijević, auch Apis genannt, wusste von den Plänen. Er war offiziell Chef des Militärischen Geheimdienstes und zugleich Führungsfigur der Schwarzen Hand. Auch in Sarajewo hatte man einen Verbindungsoffizier, der die Jugendlichen anleitete und ihnen zur Seite stand. Dass Herzog Franz Ferdinand schließlich zum Ziel des Anschlages wurde, ist dem Zufall zu verdanken. Einer der späteren Attentäter, Nedeljko Ĉabrinović, bekam Ende März 1914 in einem anonymen Brief einen Zeitungsausschnitt zugeschickt, in dem der Besuch des Thronfolgers und seiner Frau in Sarajewo angekündigt wurde. Er zeigte den Ausschnitt am selben Tag seinem Freund Gavrilo Princip und am selben Abend trafen sie sich in einem Park und sprachen über ein mögliches Attentat.74 Am Ende beschlossen sie, zusammen mit den Anderen, diesen umzubringen. Die Verschwörer hatten durchaus noch verschiedene andere Personen in Erwägung gezogen, aber die Wahl fiel – eher zufällig – auf ihn. Was fehlte, waren die entsprechenden Waffen

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6. Die Politik der Paranoia

und so wandten sie sich an einen gewissen Major Tankosić, der Kontakte zur Schwarzen Hand hatte, dort vorstellig wurde und von „Jungs aus Bosnien“ berichtete, die „ihn schon richtig mit ihrem Durst nach ‚großen Taten‘ (nerven)“ würden.75 Im Prozess gegen drei der am Attentat Beteiligten sagte der Todesschütze G. Princip, dass er ein „jugoslawischer Nationalist“ sei, dessen „Tendenz die Vereinigung aller Jugoslawen (sei), in welcher Staatsform auch immer und befreit von Österreich.“ Er wollte dies „durch Terror“ erreichen und das heißt „dass man diejenigen tötet, beseitigt, die der Vereinigung im Weg stehen und Böses tun. Das Hauptmotiv, das mein Handeln bestimmt hat, war die Rache für all das Leiden, welches mein Volk unter Österreich erdulden musste. Er (der Großherzog, F.W.R) hat im Allgemeinen der ganzen Welt Böses angetan.“76 ‚Der ganzen Welt im Allgemeinen Böses angetan‘ – das also ist das Motiv gewesen und allgemeiner, unpräziser und unkonkreter hätte man es nicht formulieren können. Leerformeln für einen Mord, der womöglich ganz andere Hintergründe und Motive hatte, die man aber vor einem öffentlichen Gericht nicht sagt. Nach eigenen Aussagen, die G. Princip im Gefängnis gegenüber dem Psychiater Martin Pappenheim gemacht hat, war er bereits als 11-jähriger Junge tief beeindruckt von einem Attentat, das ein gewisser Bogdan Žerajić ausgeübt hatte, um den österreichischen Statthalter in Bosnien-Herzegowina, General Marijan Vareśanin, zu töten. Seine fünf Schüsse verfehlten ihr Ziel und mit der sechsten Kugel tötete er sich selbst. Angeblich nannte ihn der überlebende General „dreckigen Hund“ und trat den toten Attentäter mit den Füßen in die Seite. In Sarajewo hatte G. Princip ganze Nächte an dem anonymen Grab vor dem Friedhof verbracht, indem man Selbstmörder und Attentäter verscharrte.77 Zudem hatte er in der Nacht vor dem Attentat versucht, mit einer gewissen Jelena in einem Park Geschlechtsverkehr zu haben, die dies aber strikt abgelehnt hatte. G. Princip sei – so die Aussage eines Freundes – darüber so wütend gewesen, dass er „sogar Gott erschossen hätte.“ Und schließlich wurde dem 17-jährigen wegen körperlichen Schwächen der Eintritt in das Militär bzw. halb-militärische Verbände verwehrt, was er als tiefe Demütigung empfand und durch eine „Großtat“ kompensieren wollte.78 Der bereits erwähnte Psychiater M. Pappenheim notierte in seinen Unterlagen während der Gespräche mit G. Princip im Gefängnis, dass dieser ein Idealist sei und „(die) Motive (für das Attentat, F.W.R): Rache und Liebe. Ganze Jugend in solcher revolutionärer Stimmung. Sprachen von anarchistischen Flugschriften, die zu Attentaten angereizt haben.“79 Und „Attentate auf Herrscher und Politiker waren damals an der Tagesordnung“ – stellt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler lakonisch in seinem Buch über den Ersten Weltkrieg fest.80 Ob es ein oder mehrere, klare oder diffuse, oder gar keine politische Motive gab, sondern es jugendliches Abenteurertum war – all das braucht hier nicht abschließend geklärt zu werden. Überdeutlich wird aber die unglaubliche Kontingenz und Zufäl-

6.4. Das Attentat von Sarajewo und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges

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ligkeit der Motive, die letztendlich zum Attentat führten. Und der Ablauf selbst war erneut so absurd und zufällig, dass man ratlos und irritiert vor den Tatsachen steht. Warum kam der Großherzog nach Sarajewo? Er wollte in der Nähe von Sarajewo die Manöver bosnischer und dalmatinischer Verbände beobachten und dann – entgegen manchen Warnungen – in einen Autokorso durch Sarajewo fahren. Die Bevölkerung sollte dem Kronprinzen und seiner Frau zujubeln und deshalb war die Route vorher öffentlich bekannt gegeben worden. Die sieben Attentäter kannten sie genau und hatten sich an verschiedenen Stellen, mit Bomben und Pistolen ausgerüstet, positioniert und warteten auf den Wagen. Als der Korso an dem ersten Attentäter, dem Tischler Muhamed Mehmedbašić, vorbei fuhr, verließ ihn der Mut und er zündete seine Bombe nicht. Auch der nächste Attentäter, ein siebzehnjähriger Schüler Namens Ćabrinović, schoss aus Mitleid mit der Herzogin nicht. Der dritte Attentäter jedoch zündete seine Bombe und warf sie auf den vorbeifahrenden Wagen. Es war der erst neunzehnjährige Drucker Nedeljko Ćabrinović, der den Wagen jedoch nicht exakt traf. Die Bombe rollte von dem zurückgeschlagenen Dach des Wagens auf die Straße, explodierte erst unter dem nachfolgenden Wagen und verletzte zwei Insassen und mehrere Zuschauer leicht. Der Konvoi setzte nach einem kurzen Aufenthalt seinen geplanten Weg fort und fuhr bis zum vorgesehenen Halt weiter. Er kam am fünften Attentäter vorbei, den ebenfalls der Mut verließ. Er war der Organisator des ganzen Anschlages, der Lehrer Danilo Ilić, der aber unbewaffnet war und verschwand. Der sechste Attentäter, G. Princip, war durch die dicht gedrängten Zuschauer nicht in der Lage, bis zu dem Wagen vorzudringen und konnte seine Tat nicht ausführen. Der letzte Verschwörer, der Student Trifko Grabež, schritt ebenfalls nicht zur Aktion. Am Rathaus angekommen begannen die geplanten Reden und man beschloss danach, die Route für die Rückfahrt zu ändern. Aber man vergaß, dies den Fahrern der Wagen verlässlich mitzuteilen. Der erste Wagen der Kolonne fuhr an einer Kreuzung nicht wie verabredet gerade aus, sondern bog nach rechts ab. Der zweite Wagen, der den neuen Weg wusste, folgte gleichwohl dem ersten, falsch fahrenden Wagen ebenso nach wie der gesamte Rest der Kolonne. G. Princip, der sich schon auf dem Heimweg befand, bemerkte die Kolonne, die gerade gestoppt wurde, um die Route doch noch zu ändern. Er konnte zu dem Wagen des Großherzogs vordringen, schoss dann mehrmals auf das großherzogliche Paar und traf den Herzog in den Kopf und seine Frau in den Magen; beide Verwundungen waren so schwer, dass sie nach kurzer Zeit zum Tode führten. „Princip hätte keine Chance zum Angriff gehabt, wenn man sich an die vorgesehene Änderung der Route gehalten hätte. So fanden die Schüsse ihr Ziel (…). Das Ereignis von Sarajewo wurde aber zum Lehrbeispiel für die Zufallslaune der Geschichte, weil die Sache an einem Haar hing. Hätte man die Fahrer der beiden ersten Wagen korrekt darüber

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6. Die Politik der Paranoia instruiert, dass die Rückfahrt über eine andere Route gehen sollte, wären die Attentäter unverrichteter Ding nach Hause gegangen. Es hätte also nicht sein müssen. Es hätte auch anders kommen können.“81

So kommentiert der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider den Sachverhalt und beschreibt damit die groteske Zufälligkeit dieses Mordes treffend. Ja, es hätte auch anders kommen können und der Erste Weltkrieg ist aus einer Laune der Kontingenz entstanden und war keine unvermeidliche Folge welcher politischen Konstellationen auch immer. Die Analyse des Attentats und seiner Hintermänner durch die österreichische Regierung war in dem Maße falsch, dass man von „einem der größten welthistorischen Irrtümer sprechen kann.“82 Eine Frage bleibt jedoch offen: War dieses Attentat der Ausdruck der politischen Paranoia oder hat Manfred Schneider recht, dass „diesmal die paranoische Vernunft nicht beteiligt (war)“?83 War dieses Attentat die kontingente, ja absurde Erschütterung, die – von der paranoischen Vernunft angetrieben – das Beben des Ersten Weltkrieges auslöste? Oder war es jugendliches Abenteurertum, das vage motiviert und diffus politisch gerechtfertigt, zu diesem Mord und in der Folge zum Weltkrieg führte? Die Forschung ist sich darüber nicht einig, aber man kann davon ausgehen, dass die politische Paranoia ihre Finger mit im Spiel hatte. Wie anders kann man eine Aussage interpretieren, dass „das Hauptmotiv, das mein Handeln bestimmt, hat, die Rache (war) für all das Leiden, welches mein Volk unter Österreich erdulden musste“? Was sagt der Satz, dass durch die Ermordung von Franz Ferdinand der Attentäter, hier G. Princip, „ein Übel beseitigt habe, und dass ich gut bin. Er (der Thronfolger, F.W.R) hat im Allgemeinen der ganzen Welt Böses angetan.“ Im ‚Allgemeinen der Welt Böses angetan‘ und dies wird durch einen zufälligen Mord an einer zufälligen Person gerächt und beseitigt – legt das eine strategisch kalkulierende Vernunft nahe oder sind das die Einflüsterungen der politischen Paranoia?

6.5. Vom Attentat zum Selbstmordattentat, oder: Das Lächeln der Attentäter Was ist nun das Neue am Selbstmordattentat im Vergleich zum ,normalen‘ politischen Attentat? Woher kam diese Idee und wer hat sie in die politische Auseinandersetzung eingeführt? Diese Fragen werden in der einschlägigen Forschung nicht eindeutig beantwortet, aber es zeichnet sich eine herrschende Meinung ab. Sie sieht den Ursprung der Selbstmordattentate im Libanon-Krieg, in dem sie von der Hisbollah zum ersten Mal ausgeführt wurden und iranische Kämpfer als Vorbilder eine zentrale Rolle spielten.84 An einen sonnigen Sonntagmorgen, es war der 23. Oktober 1983, fährt ein gelber Lastwagen vor dem Hauptquartier der US-Marines in Beirut auf und ab

6.5. Vom Attentat zum Selbstmordattentat, oder: Das Lächeln der Attentäter

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und biegt dann plötzlich in die Einfahrt ein. Der Fahrer beschleunigt, gibt Vollgas, durchbricht den Zaun, rast auf den Haupteingang zu, kracht in das Hauptgebäude, in dem rd. 300 Angehörige der Marines noch schlafen, und detoniert dort mit einer gewaltigen Explosion, die das gesamte Gebäude zum Einsturz bringt. 241 amerikanische Soldaten sterben bei dieser gewaltigsten nicht-nuklearen Explosion nach dem Zweiten Weltkrieg. Angeblich sind fünfeinhalb Tonnen TNT, angereichert mit verschiedensten Chemikalien, explodiert. Den Fahrer konnte man nie identifizieren, er hatte sich – ebenso wie die meisten amerikanischen Soldaten – in Staub aufgelöst. Auch der wachhabende Soldat konnte keine Beschreibung des Mannes geben: „Er schaute direkt zu mir her und lächelte. Kaum hatte ich den Lastwagen rüberkommen sehen, da wusste ich, was passieren würde.“ Weder an die Hautfarbe, noch an die Kleidung, noch an die Statur konnte er sich erinnern. Einzig das Lächeln des Selbstmordattentäters hatte sich ihm eingeprägt.85 Es gab noch mehr Männer, die dieses Lächeln im Gesicht hatten. Einer von ihnen fuhr, nur Sekunden später, in die sechsgeschossige Unterkunft der französischen Fallschirmjäger und tötet bei diesem Selbstmordattentat 58 Soldaten – der größte Verlust an Soldaten für Frankreich seit dem Ende des Algerienkrieges. Ein anderer war zuvor am 18. April 1983 in die amerikanische Botschaft gefahren und hatte dort die gesamte CIA-Spitze für die Nahostaufklärung durch sein Selbstmordattentat mit in den Tod gerissen. Vom Fahrer verblieb keine verwertbare Spur, einzig sein Lächeln blieb in Erinnerung. Alle drei Attentate – und viele andere – führten zum Abzug der amerikanischen, französischen und auch der israelischen Streitkräfte aus Beirut bzw. dem Libanon. Doch zuvor erfolgten einige Vergeltungsbombardements auf mutmaßliche Hisbollah-Camps, bevor die amerikanischen und israelischen Politiker ihre Kapitulation vor dieser neuen Form der Gewalt bekannt gaben. Vor einem Kongressausschuss bemerkte US-Staatssekretär Lawrence Eagleburger damals resignierend: „Es ist nahezu unmöglich, sich dagegen zu verteidigen, wenn der Fahrer bereit ist, sich selbst umzubringen.“86 Auch wenn die Amerikaner und andere Akteure in der Region immer unterstellten, solche Pläne könnten nur von einem kalt berechnenden, kühlen und strategischen Kopf kommen, ist es nicht gelungen, diesen ‚Kopf‘ zu finden. Es gab ihn womöglich gar nicht und das neue und beunruhigende war nicht nur die alle Regeln brechende Form dieses Terrorismus, sondern auch seine dezentrale, ja sich fast selbst organisierende Struktur. Unübersehbar hatte sich eine neue Form des Terrorismus herausgebildet, die in der Treibhausatmosphäre des libanesischen Bürgerkrieges entstand und zum Vorbild für viele weitere und wichtige Selbstmordattentate wurde. Der 11. September 2001 in New York war allein die zugespitzteste Form hierfür. In allen Selbstmordattentaten realisiert sich eine paranoide Grundlogik, die ihnen allen – auch wenn sie in unterschiedlichen Kontexten stattfanden – gemein-

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6. Die Politik der Paranoia

sam ist. Die Attentäter und die sie unterstützenden Gruppierungen sehen sich in einen permanenten und existentiellen Krieg verstrickt, in dem man sich gegen einen übermächtigen Gegner verteidigen muss, um sein eigenes Überleben zu retten. Der Kampf gegen diesen Gegner wird dann zur Pflicht, im Zweifelsfall zur heiligen Pflicht jedes Mitglieds der Gruppe und rechtfertigt alle Mittel. Das bevorzugte Mittel der Ohnmächtigen ist das Selbstmordattentat, das von den Ungläubigen, den feindlichen Mächtigen, so schwer zu bekämpfen ist und eigentlich nur hingenommen werden kann. Die Medialisierung dieser Attentate tritt in den 90er Jahren hinzu. 1995 nimmt ein TV-Team der Hisbollah ein Selbstmordattentat im Libanon auf, bei dem ein Vater von drei Kindern mit seinem mit 450 kg Sprengstoff beladenen Wagen in einen israelischen Konvoi fährt. Die Bilder liefen dann in fast allen libanesischen Sendern in den Abendnachrichten.87 Die Attentate werden seither durch ein geschicktes politisches Marketing begleitet und Selbstmordattentate und ihre politische Vermarktung gehören nun untrennbar zusammen. Attentate haben immer Folgen88, wie unberechenbar sie im Einzelnen auch sein mögen. Sie sind nie folgenlos und steigern die Kontingenz der politischen Gewaltkonflikte und machen ihre Dynamiken unberechenbarer.

6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“: Über die blutige Wirksamkeit einer paranoiden Fiktion Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sollen neben der Bibel das meist gelesene Buch der Welt sein – und sie sind erst in diesem Jahrhundert ‚erschienen‘.89 Man kann diese Aussage sicherlich bezweifeln, aber ohne Frage sind die Protokolle in diesem Jahrhundert außerordentlich wirkmächtig geworden. Der ‚eliminatorische Antisemitismus‘90 der Nationalsozialisten ist ohne diese Protokolle eben so wenig denkbar wie der Antisemitismus generell. In keinem anderen ‚Text‘ dieses Jahrhunderts sind die Vorurteile gegen eine bestimmte soziale Gruppe, manche sagen ‚Rasse‘, so konzentriert zusammengetragen wie in diesem fiktiven Dokument. Es hat keinen Autor im tradierten Sinn, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext sozialisiert wurde, sondern eher einen fiktiven. Bis heute ist es nicht schlüssig gelungen, den oder die Verfasser der Protokolle ausfindig zu machen; es gibt gleichwohl Vermutungen über mögliche Autoren, vom Leiter der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, Pjotr Ivanovich Ratschkowsky, bis hin zu dem russischen Schriftsteller Sergej Nilus, der eine Fassung in seinem 1905 erschienen Buch „Das Große im Kleinen“ veröffentlichte.91 Ob diese russischen Versionen auf eine französische (Ur-)Fassung zurückgehen, ist bis heute unklar. All das verweist auf einen irritierenden Sachverhalt: Die Protokolle sind aus einem bestimmten Zeitgeist, einem gesellschaftlich-ideologischen Kontext heraus

6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“

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entstanden, spiegeln diesen wider und bedurften keines individuellen Autors, um die dort enthaltenen paranoiden Wahnvorstellungen zu formulieren, die dann im 20. Jahrhundert blutige Weltgeschichte schreiben sollten. Aus dem Kontext entstand der Text sozusagen von selbst, indem sich der Kontext in den Protokollen zu einem wüsten antisemitischen Text verdichtete. Er gerinnt zu einem Dokument der Paranoia, das sich als Collage aus verschiedenen Texten von verschiedenen Autoren präsentiert und keine Fälschung eines wie auch immer gearteten Ursprungsdokuments, sondern eine paranoide Fiktion ist. Alle wesentlichen Merkmale der politischen Paranoia sind in diesem Dokument besonders stark, sozusagen in Reinform, ausgeprägt. Seit ihrem Erscheinen sind die Protokolle die „Referenz für den Antisemitismus schlechthin.“92 Nicht nur haben führende Größen des Nationalsozialismus sie gelesen und in ihren eigenen Schriften verarbeitet, sie wurden auch durch Erlass des zuständigen Reichsministeriums vom 13. Oktober 1934 offizieller Lesestoff an deutschen Schulen.93 Einer der führenden Ideologen des Dritten Reiches, Alfred Rosenberg, hat eine kommentierte Ausgabe herausgegeben und dort festgehalten: „Die Politik der Gegenwart entspricht bis heute ins einzelne genau den Absichten und Plänen, wie sie vor über 35 Jahren besprochen und niedergelegt wurden.“94 Dies ist der Inbegriff der politischen Paranoia, denn es wird unterstellt, dass alle Ereignisse in der Geschichte, wirklich alle, auf diesen einen Plan kausal zurückgeführt werden können und sich Geschichte nur als eine Art bewusstlose Realisation dieses Planes, ohne Zwischentreten menschlicher Handlungen, verwirklicht. Zudem hat es diesen Plan nie gegeben, er ist – wie bereits erwähnt – eine paranoide Fiktion. Aber die bereits vorherrschende anti-jüdische Paranoia wurde durch die Berufung der Nazis auf die Protokolle bis zum Äußersten gesteigert. Der fiktive Verfasser der Protokolle beansprucht eine herausgehobene Machtposition, nur er weiß um die Pläne der Weltverschwörung. Alle politischen und gesellschaftlichen Phänomene werden von ihm kausal auf den Willen dieses Einzelnen bzw. der kleinen Gruppe zurückgeführt. Er sieht sich einer permanenten Bedrohung ausgesetzt, die einer Freund-Feind-Konstellation gleichkommt und in der es ums Ganze geht. Die Wahrnehmung der Welt wird von der ‚falsch dichtende Einbildungskraft‘ diktiert und aus diesen ‚falschen Prämissen‘ werden formallogisch die ‚richtigen‘ Schlüsse gezogen. Und diese Schlüsse sind absolut tödlich, denn sie müssen eliminatorisch sein, will man sein eigenes (Über-)Leben sichern. Die Grundfiktion ist deshalb klar: Die Protokolle geben die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung wieder, die sich in Form einer Untergrundorganisation zusammen gefunden hat. Sie handelt im Auftrag aller Juden und jeder Jude ist somit an dieser Verschwörung beteiligt und für sie mit verantwortlich. Mittels verschiedener Mechanismen und Techniken, wobei Liberalismus, Demokratie, die Presse und – im Grunde unvermeidlich – das Finanzkapital eine bedeutende Rolle spielen, soll die bestehende Gesellschaftsordnung zunächst zerstört und

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6. Die Politik der Paranoia

dann auf ihren Trümmern eine neue Weltherrschaft errichtet werden, die völlig von den Juden dominiert wird. Es geht – wie bereits angedeutet – ums Ganze, um die Weltherrschaft der Juden. Dies wird an vielen Stellen der Protokolle immer wieder neu bekräftigt und an einer Stelle heißt es unmissverständlich: „Die Anerkennung unseres Weltherrschers kann schon vor der endgültigen Beseitigung aller Verfassungen erfolgen. Der günstigste Augenblick dafür wird dann gekommen sein, wenn die von langen Unruhen geplagten Völker angesichts der – von uns herbeigeführten – Ohnmacht ihrer Herrscher alles Vertrauen zu denselben verloren haben und den Ruf ausstoßen werden: ‚Beseitigt sie und gebt uns einen einzigen Weltherrscher, der uns alle vereint und die Ursachen des ewigen Haders – die völkischen Gegensätze, die Verschiedenartigkeit des Glaubens, die Grenzen der Staaten und ihre Ausdehnungsbestrebungen – beseitigt, der uns endlich Frieden und Ruhe bringt, den wir vergeblich von unseren Herrschern und Volksvertretungen erhofft hatten‘.“95

Der Gewaltcharakter und der nicht zu bändigende Wille zu dieser Weltherrschaft beruht auf Terror, darüber lassen die Protokolle keinen Zweifel. „Tatsächlich gibt es für uns keine Hindernisse. Unsere Oberherrschaft steht außerhalb aller gesetzlichen Schranken; ihre Grundlagen sind so fest, dass sie nur mit dem Kraftworte Gewaltherrschaft bezeichnet werden kann. (…) Von uns geht das Schreckgespenst aus, der allumfassende Terror.“96

Es gibt ‚keine Hindernisse‘ – diese Formulierung ist typisch für den Geist der Protokolle, in der die unbedingte Machbarkeit alles Weltgeschehens vorausgesetzt und propagiert wird. Diese Machbarkeit setzt ungebändigte Macht voraus. Sie wird durch einen Staatsstreich erobert, der die einzigartige Möglichkeit bietet, die freie Presse, die Parteien, die Rede- und Gewissensfreiheit, das Wählen und vieles Andere sofort und endgültig abzuschaffen. Neben dieser politischen Dimension spielt das Geld eine ebenso zentrale Rolle. Die Macht über das Geld, insbesondere das Gold, die „größte Macht der Gegenwart“97, ist von allergrößter Bedeutung und eine richtige Geld- und Steuerwirtschaft bildet „den Kern unseres ganzen Planes“.98 Insofern werden sehr detaillierte Ausführungen zur Steuer, dem Staatshaushalt, der Staatsverschuldung u. a. gemacht, die hier im Detail nicht wiedergegeben werden müssen. Aber die Spekulationen an den Börsen müssten zunehmen, weil so „alle Schätze der Welt“99 ihnen ausgeliefert seien. Indem sie diese dem Finanzkreislauf entziehen, kann man „umfangreiche (…) Krisen im Wirtschaftsleben herbeiführen“ und nicht-jüdische Staaten könnten zu hohen Zinsen gezwungen werden, die sie schließlich in die „völlige Abhängigkeit“100 von ihren jüdischen Kreditgebern bringt und sie in der „Schuldknechtschaft (…) unrettbar verloren“ gehen.101 Die Kontrolle der Presse ist ein weiteres wichtiges Moment zur Eroberung der Weltherrschaft. Sie ist die „letzte Großmacht“, die nun unter Kontrolle gebracht werden muss, aber abgesehen von „ganz wenigen Ausnahmen (….) liegt die ganze Presse in unseren Händen.“102 Die Manipulation der Öffentlichkeit ist ein

6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“

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wichtiges Instrument, weil darüber die Masse gelähmt und durch „geistloses, schmutziges und widerwärtiges Schrifttum“ die öffentliche Meinung verwirrt und den Menschen das eigene Denken abgewöhnt werden kann. Die Weltereignisse würden durch die „bunten Gläser der Brillen“, die den „Nichtjuden“ aufgesetzt werden, gesehen. Das „gedruckte Wort“ soll ein „Werkzeug in der Hand unserer Regierung sein“103 sein, die jedes Wort der Vorprüfung unterwirft. Unschwer ist zu erkennen, dass hier eine umfassende Kontrolle des Pressewesens und der öffentlichen Meinung propagiert wird, die die Masse verdummen und einlullen soll. Analoges wird im Bildungssystem angestrebt. „Wir haben die nichtjüdische Jugend verdummt, verführt und verdorben. Dieses Ziel wurde von uns dadurch erreicht, dass wir ihre Erziehung auf falschen Grundsätzen und Lehren aufbauten, deren Lügenhaftigkeit uns sehr wohl bekannt war, die wir aber trotzdem oder gerade deswegen anwenden ließen.“104

Auch geht es den Protokollen um die „Unschädlichmachung der Hochschulen.“ Hierzu soll die Lehrfreiheit aufgehoben, die Verwaltungen einem strengen und geheimen Diktat unterworfen, die Ernennung der Hochschullehrer selbst vorgenommen und alle staatsrechtlichen Fragen aus den Lehrplänen entfernt und alles, was „irgendwie zersetzend wirken kann“, aus den Hochschulen verbannt werden. Immer wieder wird die Bedeutung des Staatsrechts betont, das auf keinen Fall Verbreitung finden darf, weil es nur „freisinnige Schwärmer“ und „schlechte Staatsbürger“ erzeugt.105 Parallel dazu muss in der Politik die Lüge bzw. der politische Opportunismus dominieren: „Der oberste Grundsatz jeder erfolgreichen Staatskunst ist die strenge Geheimhaltung aller Unternehmungen. Was der Staatsmann sagt, braucht keineswegs mit dem übereinstimmen, was er tut.“106

Und an anderer Stelle heißt es: „Staatskunst hat mit dem Sittengesetz nicht das Geringste zu tun. Ein Herrscher, der an Hand der Sittengesetze regieren will, versteht überhaupt nichts von der Staatskunst und ist daher keinen Augenblick sicher auf seinem Throne. Wer regieren will, muss mit Verschlagenheit, List, Bosheit, Verstellung arbeiten. Hohe sittliche Eigenschaften – Offenheit, Ehrbarkeit, Ehrlichkeit – sind Klippen für die Staatskunst, denn sie stürzen die Besten vom Throne, wenn sich der Feind anderer und wahrhaft wirksamer Mittel bedient.“107

Hier werden alle Vorurteile gegenüber der Politik konzentriert zusammengefasst und als positiv im Sinne der effektiven Ausübung der gewaltsamen und terrorgestützten Herrschaft bezeichnet: politischer Opportunismus, Verlogenheit, Nichtöffentlichkeit – und dies alles wird zur ‚Staatskunst‘. Zudem muss man die Schwächen der Anderen ohne zu zögern nutzen, denn dadurch kann man die Unterwerfung und die Schreckensherrschaft stabilisieren. Die Anleihen bei Machiavellis „Il pricipe“ sind unübersehbar und gewollt, da etliche Passagen der Protokolle wörtlich aus dem Buch von Maurice Joly „Dialogue aux Enfers entre Machiavel et Montesquieu“, übernommen wurden, das 1886 in Brüssel erschien und

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6. Die Politik der Paranoia

einen fiktiven Dialog zwischen Machiavelli und Montesquieu enthält und als Kritik an Napoleon III. gedacht war.108 Eine Passage aus dem Buch verdient noch Erwähnung. Es handelt sich um einen Abschnitt, der sich mit den damals noch in Planung befindlichen Untergrundbahnen in den großen europäischen Hauptstädten beschäftigt. Falls die Nichtjuden wider Erwarten gegenüber der jüdischen Gewaltherrschaft nicht widerstandsfähig sein sollten, so bliebe „ein letztes, furchtbares Mittel (...), vor dem selbst die tapfersten Herzen erzittern sollten. Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir im Falle der Gefahr für uns die ganzen Städte mit den Staatsleitungen, Ämtern, Urkundensammlungen und den Nichtjuden mit ihrem Hab und Gut in die Luft sprengen.“109

Hier wird ein Mythos des aus dem Untergrund-Kommens formuliert und propagiert, der später in der Theorie des Partisanen, vor allem bei C. Schmitt, erneut auftaucht.110 Der tellurische Charakter des Partisanen signalisiert seine Verbundenheit mit der Erde; er unterliegt noch nicht der Motorisierung und Entortung der modernen terroristischen Kämpfer. Die verblüffendsten und zugleich unübersehbaren Parallelen sind dagegen bei den heutigen islamistischen Terroranschlägen zu beobachten. Die Bombenanschläge am 7. Juli 2005 in der Londoner UBahn kosteten 76 Menschen das Leben und verletzten über 700 Personen. Über zehn Jahre später, am 22. März 2016, ereigneten sich in Brüssel zwei Explosionen, ebenfalls in Metro-Stationen, die 31 Menschen das Leben kosteten und viele weitere verletzten. Die Terroranschläge in Paris am 13. November 2017 mit insgesamt über 130 Toten und sehr vielen Verletzten wurden dagegen ‚oberirdisch‘ ausgeführt. Aber die Idee des ‚In-die-Luft-Sprengens‘ von U-Bahnschächten taucht bereits in den Protokollen auf und ist als ein ‚letztes, furchtbares Mittel‘ des Freund-Feind-Kampfes in dieser Zeit vorgedacht. Welche Rolle dieses Buch bei der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten gespielt hat, ist umstritten. Nicht umstritten dagegen sind die Parallelen zwischen der in den Protokollen beschriebenen Terrorherrschaft und dem totalen Staat der Nationalsozialisten und der Stalinisten. Hannah Arendt betonte diese Parallelen in ihrer 1951 erschienenen Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Sie hatte die Vermutung, dass die Protokolle nicht nur ein, vielleicht sogar das wesentliche Motiv, sondern zugleich auch das Modell für Hitlers Praxis der Machteroberung und Herrschaftsausübung gewesen sein könnte. „Die Nazis begannen mit ihrer ideologischen Fiktion einer Weltverschwörung und organisierten sich mehr oder weniger bewusst nach dem Modell der fiktiven Geheimgesellschaft der Weisen von Zion.“111

Manche sagen, die Folgen der Protokolle seien „hunderte von lokalen Judenmassakern“ gewesen.112 Wieder andere behaupten, sie seien der Vorwand für die blutigen Progrome im zaristischen Russland gewesen, um von den politischen und

6.6. „Die Protokolle der Weisen von Zion“

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agrarischen Reformbewegungen abzulenken113 und wieder andere sehen in ihnen die Anleitung für die totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts. Wie dem auch sei, ihr Einfluss war und ist vor allem ideologischer Art und spielt auch noch heute eine große Rolle. Vor allem die islamistische Propaganda bedient sich der Protokolle, um den Kampf gegen den Staat Israel zu legitimieren, seit den militärischen Aktionen der USA gegen Afghanistan und den Irak spielen sie im Nahen und Mittleren Osten erneut eine große Rolle. Auf der Buchmesse in Frankfurt im Jahr 2005 wurde auf dem Stand des Iran eine englische Übersetzung der Protokolle angeboten – herausgegeben von der „Islamic Propagation Organization“ der „Islamic Republic of Iran“. Unbestreitbar dagegen ist, dass in den Protokollen ein paranoider Imperativ formuliert wurde, wie er bisher in dieser Schärfe noch nicht formuliert wurde. Die Politik wird hier in einem apokalyptischen Narrativ präsentiert, in dem es ums Ganze geht: beherrscht werden oder nicht beherrscht werden. Der Begriff des Feindes taucht mehrfach auf und wird auf die Juden projiziert. Sie sind es, die das Nicht-Judentum völlig vernichten wollen und deshalb muss das Judentum präventiv und strategisch vernichtet werden. Der Feind, das Böse, der teuflische Andere – all das sind Konstruktionen der paranoiden Vernunft, die aber gleichwohl als ‚objektive‘ Wahrheit, als unhintergehbare Wirklichkeit den Paranoiden zutiefst beunruhigen. Die paranoide Furcht wird nicht nur bestätigt, sondern im Extremfall verstärkt. Nur sie kennt den Feind ‚wirklich‘, weil es seine eigene Konstruktion – oder besser: Projektion – ist. Alle Anderen verharmlosen, beschwichtigen, entschärfen – was den Paranoiden umgekehrt in seiner Position bestärkt. Der paranoide Imperativ kann in eine als existentiell interpretierte Situation umschlagen: Will der Andere mich vernichten – und nicht nur beherrschen –, so muss ich ihm zuvorkommen. Der paraniode Imperativ wird dann apokalyptisch. Es geht dann nicht mehr um beherrschen oder beherrscht werden, sondern um vernichten oder vernichtet werden.114 Dieser Imperativ des Textes legt denselben Imperativ im politischen Handeln nahe, sofern es sich – wenn auch nur locker – an den Grundprämissen dieses Textes orientiert. Der Text wirkt dann auf seinen Kontext zurück, in diesem Fall blutig, vernichtend, genozidär. Nicht nur in den völkischen und nationalistischen Kreisen haben die Protokolle zu Beginn der Weimarer Republik eine bedeutende Rolle gespielt; sie erreichten bis 1923 acht Auflagen, die neunte erschien dann konsequenterweise im Parteiverlag der NSDAP, der inzwischen die Rechte daran erworben hatte.115 Im Vorwort hieß es dann, dass das „kommende nationalsozialistische Großdeutschland dem Judentum die Rechnung präsentieren (wird), die dann nicht mehr mit Gold zu bezahlen ist.“ In einer anderen Ausgabe, die im antisemitischen Hammer-Verlag erschien, schrieb der Herausgeber in seinem Vorwort:

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6. Die Politik der Paranoia „Wenn es eine Tatsache ist, dass – wie die Protokolle rühmend verkünden – die jüdische Internationale heute die Völker beherrscht, – seit Jahrzehnten beherrscht – , wenn sie mit allen Mitteln der List, des Truges, der Massenbetörung und der Finanz-Machenschaften die Schicksale der Völker lenkt, (…) so ist es eine unabweisbare Tatsache, dass alle großen politischen Geschehnisse der letzten Jahrzehnte ein Werk der Juden sind und nur mit deren Willen und Einverständnis sich vollzogen haben – auch das furchtbare Verbrechen des Weltkrieges! Sie allein sind die Verantwortlichen für die furchtbare Notlage der Völker. Und für alles (…) Elend müssen wir die wirklichen Machthaber als die allein Schuldigen zur Verantwortung ziehen: den geschworenen Feind der ehrenhaften Menschheit – das verbrecherische, international verbündete Judentum.“116

Auch A. Hitler hat sich in „Mein Kampf“ auf die Protokolle bezogen und festgehalten: „Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten ‚Protokollen der Weisen von Zion‘ gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die ‚Frankfurter Zeitung‘ in die Welt hinaus: der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. (…) Es ist ganz gleich, aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, dass sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlussfolgerungen darlegen. Wer die geschichtliche Entwicklung der letzten hundert Jahre von den Gesichtspunkten dieses Buches aus überprüft, dem wird auch das Geschrei der jüdischen Presse sofort verständlich werden. Denn wenn dieses Buch erst einmal Gemeingut eines Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.“117

Die Paranoia wird in beiden – etwas längeren – Zitaten überdeutlich: Der Verlauf der Geschichte in allen ihren Verästelungen wird völlig und ausschließlich auf das faktische Wirken der Juden zurückgeführt, sie ist monokausal von ihnen bewirkt und zu verantworten. Die nachgewiesene Fälschung ist das wirksamste Indiz für ihre wahrhaftige Existenz. Um die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen, muss man die Juden und ihre Handlanger und Verbündeten ausschalten und töten. Der eliminatorische Antisemitismus findet hier seinen zugespitztesten Ausdruck. Wird diese individuelle Paranoia mittels Propaganda in eine kollektive ‚übersetzt‘, dann werden ganze Gruppen, ja Völker davon befallen und die von ihnen ausgeübte Gewalt nimmt Ausmaße an, die ein einzelner (Selbstmord-)Attentäter niemals realisieren kann. Ergreift die politische Paranoia die Massen, nimmt sie leicht genozidäre Formen an. Auch der Völkermord in Ruanda an den Tutsi und an oppositionellen bzw. moderaten Hutu durch die Hutu-Mehrheit kann durch den Ausbruch einer politischen Gruppen- oder Massenparanoia erklärt werden. Sie wurde durch den Abschuss der Präsidentenmaschine ausgelöst und kostete nach internationalen Schätzungen zwischen 0,8 und 1 Million Menschen das Leben.118

6.7. Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern

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6.7. Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern und seine blutigen Folgen Die Paranoia an der Macht: Das hatte in allen Fällen verheerende Konsequenzen. Es gibt nur wenige Fälle, in denen sie unkontrolliert und weitgehend ohne Gegenkräfte agieren konnte. Aber genau diese Fälle sind instruktiv und auf grausame Weise lehrreich. Welche Beispiele gibt es im 20. Jahrhundert neben den beiden bekannten des Stalinismus und des Hitlerismus? Zu erwähnen sind sicherlich die Extremfälle von Idi Amin in Uganda, von Pol Pot in Kambodscha und von Jean-Bédel Bokassa aus der Zentralafrikanischen Republik, der nicht nur als Massenmörder bekannt wurde, sondern auch 17 Ehefrauen hatte und eine unbekannte Anzahl an Kindern hinterließ. Gelangt ein Paranoiker an die Spitze eines Staates, kann er die ganze Gesellschaft mit seiner Paranoia anstecken bzw. seiner Paranoia unterwerfen. „Durch seinen außergewöhnlichen Argwohn, seine Feindseligkeit und seine Ich-Bezogenheit schafft der paraniode Politiker nicht nur graduell, sondern prinzipiell eine völlig andere Gesellschaft. Insbesondere in einem totalitären Regime, in dem ihm alle Mittel zur Verfügung stehen und in dem er durch keine demokratische Verfassung eingeschränkt ist, kann er die Gesellschaft nach dem Bild seiner eigenen Seele schaffen.“119

Der amerikanische Präsident Richard Nixon war nach übereinstimmenden Berichten eine paranoide Persönlichkeit, die man auch als „kriegerische Persönlichkeit“ bezeichnen kann.120 Sein politischer Stil trug wahnhafte Züge, die eine Ursache in seiner überzogenen Reaktion auf seine zunehmende Isolation durch sein Amt und die ihm kritisch gegenüberstehenden Presse hatte. Sein Biograph hielt fest, dass es zu seinen Haupteigenschaften gehörte, niemanden zu vertrauen und es im Präsidentenamt ein gefährlicher Luxus wäre, sich intime Freundschaften zu leisten.121 Seine paranoide Disposition kam auch darin zum Ausdruck, dass er keine Konflikte aushalten konnte und notorisch überreagierte, v. a. gegenüber der Kritik der Presse an ihm und seiner Politik. Durch seine Überreaktionen steigerte er umgekehrt die Kritik der Presse, was wiederum zu gesteigerter Empfindlichkeit bei ihm führte. Letztlich betrachtete er die Presse als Feind, die ihn umstellte und der nichts entging. Schließlich ließ er Listen von Journalisten anfertigen, die als seine ‚Feinde‘ keinen Zugang zum Weißem Haus mehr bekamen. „Nixons politischer Wahn war mithin so vielschichtig wie Nixon selbst, er war eine Mischung aus aktiver und reaktiver Vorsicht, die, aus bitterer Erfahrung geboren, in provokativen Handlungen gegen angebliche Feinde abglitt, die so zu wirklichen Feinden wurden. Sein Wahn spielte eine entscheidende Rolle bei seinem Aufstieg zur Macht, und ohne ihn wäre es wahrscheinlich nicht zu seiner Amtsenthebung gekommen.“122

In R. Nixons Fall wurde seine politische Paranoia durch die Umgebung und die verfassungsrechtlichen und politischen Schranken des Präsidentenamtes in Schach gehalten. Die ‚paranoide Vernunft‘ kann dann vollständig zur Entfaltung

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6. Die Politik der Paranoia

kommen, wenn sie durch keine rechtlichen oder konstitutionellen Schranken eingegrenzt werden kann. Sie schafft sich dann in der Tat eine Gesellschaft nach ihrem Bild – und die ‚Kosten‘ für die Gesellschaft sind dann insbesondere in der Zahl der Getöteten hoch. In Kambodscha hat das totalitäre Regime unter Pol Pot von der Machtergreifung im April 1975 bis zur Intervention der vietnamesischen Armee im Januar 1979 rd. 15 % der Gesamtbevölkerung getötet.123 Die Pol-PotRegierung verkündete nach ihrer gewaltsamen Machtübernahme, dass das Elend Kambodschas einzig und allein auf den Einfluss fremder Mächte zurückzuführen sei. Sind erst alle diese Einflüsse beseitigt, würde ein idealer Staat entstehen, der das Kambodschanische zur vollen Entfaltung bringen und eine ideale Gesellschaft formen würde. Das gespenstische Paradox besteht gerade darin, dass die Roten Khmer bei dem Versuch, diese Einflüsse zu negieren, mehr Unheil und Tote produziert haben als alle Mächte zusammen, die Kambodscha über Jahre besetzt hielten.124 Die Pol-Pot-Regierung wollte in ihrem fremdenfeindlichen Wahn die ursprüngliche bäuerliche Lebensweise erneut einführen und siedelte die gesamte Stadtbevölkerung von rund 2,5 Millionen Menschen in einer konzentrierten Aktion auf das Land um. Dort starben diese Menschen an Hunger, Malaria und anderen Krankheiten massenweise. Wer sich dagegen auflehnte oder diese Politik kritisierte, wurde sofort liquidiert. Die Lebens- und Verhaltensweisen, die Verbindungen zum Ausland signalisierten, also Brillen, Uhren, Schmuck, die Verwendung von Fremdwörtern, zarte Hände oder lange Haare – dies alles wurde als Indiz für einen Kontakt mit ausländischen und damit fremden Mächten interpretiert. Die sofortige Tötung war die unmittelbare Folge. Der 1976 nach chinesischem Vorbild eingeführte Vierjahresplan war ein Fehlschlag, dessen Scheitern allein und ausschließlich auf Sabotage zurückgeführt wurde und zur massenhaften Tötung von den am Plan Beteiligten führte. Als Pol Pot und seine Genossen das Zentrum der Sabotage in den nördlichen Provinzen vermuteten, wurden unter den früheren Guerillaführen und der dortigen Bevölkerung Säuberungen durchgeführt, die die gegen die früheren Anhänger des alten Regimes an Grausamkeit weit übertrafen. Seine Paranoia hat Pol Pot in einem Interview mit dem Journalisten Jan Myrdal auf den Punkt gebracht. Den Roten Khmer sei es gelungen, „(…) alle Einmischungspläne und -aktivitäten, alle Subversionen und Umsturzversuche seitens unserer vielfältigen Feinde“ zu vereiteln.125 Alles wird nicht nur auf die (fiktiven) Einflüsse fremder Mächte zurückgeführt, sondern zugleich eine Vielfalt von Feinden unterstellt, die die Machthaber bedrohen. All das sind konstitutive Merkmale eines weit fortgeschrittenen und intensiven paranoiden Wahnsystems, von dem nicht nur Pol Pot, sondern die gesamte kambodschanische Führungsclique befallen war. Ihre politische Paranoia hat in der Tat eine prinzipiell völlig neue Gesellschaft kreiert, die selbst paranoid

6.7. Der paranoide politische Stil bei den politischen Machtträgern

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wurde, weil niemand wusste, wer zu wem gehört und sich wie verhalten würde. Die Leichenberge und Massengräber waren die grausigen Folgen. Die politische Paranoia kann auch ohne Ideologie oder politisches Programm zu einer Tötungsmaschinerie werden. Ein ehemaliger Boxweltmeister eines afrikanischen Landes, der kaum lesen oder schreiben konnte und auch sonst ungebildet war, reicht dafür allemal aus. Der selbstverliehene Titel dieses bizarren Herrschers lautete vollständig: „Seine Exzellenz, Präsident auf Lebenszeit, Feldmarschall Al Hadschi Doktor Idi Amin Dada, Viktoria-Kreuz, Distinguished Service Order, Military Cross, Herr aller Tiere der Erde und aller Fische der Meere und Bezwinger des Britischen Empires in Afrika im Allgemeinen und Uganda im Speziellen“. Völlig unideologisch verfolgte Idi Amin in Uganda nur ein Ziel: sich ungehemmt zu bereichern und dabei seinen Größenwahn und seine Brutalität auszuleben. Seine Herrschaft war durch alle wesentlichen Merkmale der politischen Paranoia gekennzeichnet: wahnhafte Furcht vor Verschwörungen, übergroßes Misstrauen, maßlose Ichbezogenheit, Feindseligkeit gegen alles Fremde und Andere, Projektionen und Wahnideen und Furcht vor dem Verlust seiner Autonomie. Während seiner Herrschaft von 1971 bis 1979, die durch eine militärische Intervention Tansanias beendet wurde, tötete er rund 375 000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von 11 Millionen. Bereits zu Beginn seiner autoritären Herrschaft ergriff er eine Maßnahme, die wir heute als ethnische oder rassistische Vertreibung bezeichnen würden: Er wies die gesamte asiatische Bevölkerung – die rd. 80 000 Personen umfasste – aus Uganda aus. Wer nicht freiwillig ging, wurde liquidiert. Zudem wurde ihm seine eigene Unzulänglichkeit immer wieder deutlich und die zu seinem Amt gehörenden Verpflichtungen drohten ihm über den Kopf zu wachsen, was seine paranoiden Tendenzen verschärfte und Verschwörungstheorien den Weg bereiteten. Sein Hass auf Intellektuelle der ugandischen Oberschicht, die er wegen ihrer Überlegenheit verachtete, äußerte sich auch darin, dass er diese Schicht fast vollständig umbringen ließ und sich so von dieser psychischen Bedrohung ‚befreite‘. Oft steigern sich paranoide Veranlagungen zu intensivsten Ausprägungen: Die Furcht vor Verschwörungen ruft unterdrückerische Reaktionen des Machthabers hervor, die dann in der Tat Verschwörungen hervorrufen können, diese wiederum steigern die Furcht und Angst des Herrschers, der mit mehr Repressionen und Gewalttätigkeiten reagiert usw. So entstehen sich selbst verstärkende Eigendynamiken.126

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6. Die Politik der Paranoia

6.8. Politische Paranoia und die Zukunft der Politik in (post)modernen Gesellschaften Die politische Paranoia ist ein Begleiter der (modernen) Politik, der nicht mehr weg zu denken ist. Wie ein dunkler Schatten begleitet sie diese und kommt in den unterschiedlichsten Intensitätsstufen zum Ausdruck. Von ihr können politische Führer, politische Parteien, politische (Massen-)Bewegungen und auch herrschaftskritische Bewegungen befallen sein. Auch kann die Politik der Paranoia von rational agierenden politischen Kräften instrumentell benutzt werden, um in einer bestimmten politischen Konstellation daraus Nutzen zu ziehen. In Gesellschaften mit polarisierter statt moderater Parteienkonkurrenz steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die an den Rändern des Parteienspektrums agierenden Parteien diese Politik verfolgen; dies gilt erst recht für Antisystemparteien, die ein bestehendes demokratisches Regime oder eine ganze Gesellschaftsordnung bekämpfen. Insbesondere bei politisch inspirierten Identitätsbildungen sind Feinbilder wichtig, weil auf diese Weise die Widersprüchlichkeiten und Konflikte im Inneren verwischt oder überspielt werden können. Sie ist in der Tat die „politische Krankheit schlechthin“, weil sie sich um „Machtbeziehungen dreht. Der Paranoiker kann ohne Feinde nicht leben, und wo sonst könnte man sie so zahlreich finden wie auf der politischen Bühne?“127 Hinzu kommt dass „(…) im weitesten nicht-pathologischen Sinn des Wortes sich die paranoide Reaktion nicht qualitativ von anderen Reaktionen (unterscheidet), denen man im menschlichen Verhalten begegnet. Die Paranoia ist lediglich die Übertreibung eines an sich bewährten Verhaltens in der Politik, das durch Wachsamkeit, scharfer Beobachtung und kluger Prävention gekennzeichnet ist. Ihre politische Brisanz entspringt ihrer bemerkenswerten Fähigkeit, sowohl ein heftig aggressives Verhalten gegenüber eingebildeten Objekten als auch energische und erfolgreiche Reaktion auf echte Gefahren zu stimulieren.“128

Das Problem einer Politik der Paranoia ist darin zu sehen, dass deren jeweilige Intensitätsstufen nur schwer zu unterscheiden und eher fließend sind. Sind Übertreibungen und Verschärfungen in der Politik bereits Ausdruck einer Politik der Paranoia oder bewegen sie sich noch im Rahmen der ‚normalen‘ Politik? Die Grenz- und Graubereiche lassen sich nur schwer identifizieren; dasselbe gilt für Verhaltensweisen, die dominierend oder ausschließlich dem paranoiden Wahn entspringen. Aber die Entwicklungen dieses Jahrhunderts machen deutlich, dass beispielsweise ethnische Konflikte wie im ehemaligen Jugoslawien durch politische Führer soweit eskaliert werden können, dass sie nicht nur paranoische Dimensionen annehmen, sondern – sobald diese die Massen ergreift – auch in genozidäre Politiken umschlagen. Wann und wie werden aus ‚normalen‘ politischen Gegnern intensive Gegner und wann werden sie zu politischen Feinden, für die andere Verhaltensregeln und Gesetze gelten? Dann wäre die Politik der Paranoia in das Politische umgeschlagen, in eine Konstellation, in der es ums Ganze geht –

6.8. Politische Paranoia und die Zukunft der Politik

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massenhafte Vertreibung, Tötung und Vernichtung des Feindes eingeschlossen.129 Politik schlägt dann um in eine Politik der systematischen Tötung. Und was ist mit der Politik der Paranoia von unten, den Selbstmordattentätern? Schlägt hier die Form der paranoiden Politik ebenfalls um in eine der systematischen Tötung? Hier sind die Diagnosen durchaus verschieden, aber die Mehrheit der Analysten geht vor allen seit Beginn des 21. Jahrhunderts von einer neuen Form des Terrorismus aus, einem Dschihad 2.0. Zunächst kann man eine Entwicklung zu einem führerlosen Dschihad beobachten, der sich in einem globalen Netzwerk realisiert und nur noch lose von den ehemals wichtigen Führern wie Osama Bin Laden, nach dessen Tod im Mai 2011 durch Aiman az-Zawahari und anderen Mitgliedern der Gründergeneration von al-Qaida, geführt wird. Zwar boten bzw. bieten diese Köpfe noch Inspiration und Ideologien an, aber ihr konkreter Einfluss auf das terroristische Geschehen der global agierenden Selbstmordattentäter nimmt ab und verschiedene lokale Gruppen oder individuelle Täter werden in ihren Aktionen immer autonomer.130 Vor allem durch den Militäreinsatz in Afghanistan wurde die Dominanz dieser Führungsgruppe zerschlagen, die zwar nie eine exklusive Führungsrolle etablieren konnte, aber durch Ausbildung, Finanzierung, logistische Unterstützung und Planung immer eine Art hierarchisches Zentrum des internationalen Terrorismus gewesen war. Parallel dazu vollzieht sich vor allem in Europa eine Radikalisierung der zweiten und dritten Generation von Migranten, aus denen sich die neue Generation von Selbstmordattentätern rekrutiert. Diese sind zwar von den ‚alten‘ Ideologien beeinflusst, aber die Anschläge werden meist unabhängig von al-Qaida organisiert.131 Schließlich ist al-Qaida sowohl ideologisch als auch organisatorisch weniger einheitlich als je zuvor. Die Anschläge am 19. Dezember 2016 in Berlin und am 22. März 2017 in London zeigen deutlich den fundamentalen Wandel dieser Selbstmordattentate. Sie wurden von sogenannten ‚homegrown terrorists‘ ausgeführt, sie wurden von sich selbst radikalisierenden Einzeltätern vollzogen und brauchten außer einem geraubten Lastwagen bzw. einem gemieteten PKW und einem Messer keine weiteren logistischen Feinheiten. Das Ziel und die gerade anwesenden Menschen waren ebenso beliebig wie der Ort des Anschlages. Dass sich der Islamische Staat dieser Anschläge rühmt und die Verantwortung dafür reklamiert, kennen wir von unzähligen anderen Anschlägen auch. Die Empirie belegt das Gegenteil und Trittbrettfahrertum ist nun auch in der internationalen terroristischen Szene zum beliebten Spiel geworden. Anmerkungen 1 Schmidtbauer 2003; Herv. von mir. 2 Schneider, M. 2010: 5; alle Herv. von mir. 3 Hofstadter 1964.

4 „In using the expression ‚paranoid style‘, I am not speaking in a clinical sense, but borrowing a clinical term for other purposes.“ Hofstadter 1969: 3.

316 5 Diese Formulierungen gehen unübersehbar auf Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ zurück; vgl. Schmitt 1963 (1932): 38f.; Herv. i.O. 6 So vermuten Robins/Post 2002: 66. 7 Bd. 58, Heft 1, S. 1-33. 8 Gross 2005; vgl. aber auch Sombart 1991. 9 Sombart 1991; Gross 2005. 10 Schmitt 1963 (1932): 54. 11 Sombart 1991: 12 und 17. 12 Zit. nach Gross 2005: 331. 13 Mehring 2009: 95. 14 Balke 1996: 153. 15 Balke 1996: 144. 16 Zit. nach Schneider, M. 2010: 604. 17 Schmitt 1982 (1938): 92. 18 Schmitt 1982 (1938): 109. 19 Schmitt 1982 (1938): 100. 20 Schmitt 1963 (1932): 54 bzw. 36. 21 Schmitt 1963 (1932): 69. 22 Schmitt 1963 (1932): 71; Herv. i.O. 23 Schmitt 1963 (1932): 35. 24 Canetti 1980: 489. 25 Schmitt 1966 (1922): 37f. 26 Die Abstandnahme wird an anderer Stelle definiert als Intensitäts- und Dissoziationsgrad, als durch Leidenschaft geprägte Differenz zwischen Freund und Feind. Ludwig Feuerbach machte eine ähnliche Beobachtung: „Der Glaube ist also wesentlich parteiisch. Wer nicht für Christus ist, der ist wider Christus. Für mich oder wider mich. Der Glaube kennt nur Feinde oder Freunde, keine Unparteilichkeit; er ist nur für sich eingenommen. Der Glaube ist wesentlich intolerant – wesentlich, weil mit dem Glauben immer notwendig der Wahn verbunden ist, dass seine Sache die Sache Gottes sei (...).“ Feuerbach 1969: 380. 27 Schmitt 1963 (1932): 64. 28 Schmitt 1963 (1932): 59. 29 Schmitt 1996 (1922): 37f. 30 Schmitt 1996 (1922): 37. 31 Schmitt 1963 (1932): 39. 32 Ebd. 33 Schmitt 1996 (1922): 37. 34 Kersting 1992: 28. 35 Vgl. als Überblick etwa Marchart 2010. 36 Zit. nach Marchart 2010: 32. 37 Ebd. 38 Schmitt 1963 (1932): 27. 39 Schmitt 1963 (1932): 33. 40 Ebd. 41 Der Mord an Caesar und viele weitere im Verlauf der Geschichte sind hierfür typisch. 42 So Schneider, M. 2010: 5. 43 Von seinem etymologischen Ursprung her kommt das Wort aus dem Lateinischen (attentatum) und meint „das Versuchte“ und hat

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mit dem Wort „Tat“ in diesem Sinne nur wenig zu tun. Die Kamikaze-Aktionen der Japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg waren zwar auch unvermeidlich mit der Selbsttötung der Piloten verbunden; aber die zentrale Differenz zu den Selbstmordattentaten liegt in ihren systematischen Einbindung in die Aktionen der (japanischen) Armee und ihren damit verbundenen Befehlsstrukturen. Zudem wurde die Ausbildung zum Kamikaze-Piloten von der japanischen Armee vollzogen und von eigens dafür ausgebildeten Militärs vorgenommen. Vgl. dazu Axell/Hadeaki 2002; Tanaka 2005; Arct 1998. Reuter 2002: 13. Reuter 2002: 14. Kant Werke Bd. 10, S. 530; § 49: Anthropologie in pragmatischer Absicht; zit. nach Schneider 2010: 7. Vgl. dazu FN 3. Dies betonen übereinstimmend Canetti 1980; Robins/Post 2002; Schneider 2010. Canetti 1980: bes. 487-521. Hofstadter 1996: 3 Robins/Post 2002: 25. Robins/Post 2002: 37f.; alle Herv. von mir.. Zwei amerikanische Psychologen gehen davon aus, dass 15 bis 20 % aller Amerikaner „have frequent paranoid thoughts. (…) But a further 3 to 5 per cent have severe paranioa – what psychologists call persecutory delusions. For this smaller group of people, their paranoia is serious enough to need medical treatment.“ Freeman/Freeman 2008: 10f. Hofstadter 1996. Robins/Post 2010: 39. Robins/Post 2002: 44. So ein Pionier der frühen Psychologie, Eugen Bleuler, im Jahr 1911; vgl. Bleuler 1911: 8; zit. nach Robins/Post 2002: 19. Freeman/ Freeman definieren ähnlich, bei ihnen ist Paranoia „the unrealistic belief that other people want to harm us.“ (2008: 23; vgl. auch 8; 27). Vgl. dazu grundlegend Canetti 1980; Hofstadter 1964; ders. 1996; Robins/Post 2002; Freeman/Freeman 2008; Schneider 2010, die alle etwas anders akzentuierte Definitionen bzw. Merkmalslisten vorstellen, die aber große Überschneidungen aufweisen. Die folgenden Merkmale sind eine Synthese aus dieser Literatur. Canetti 1960: 489. Unter einer Verschwörungstheorie verstehe ich nicht eine Theorie im wissenschaftlichanalytischen Sinne, sondern allein ein konsistentes Denkgebäude, das geschlossen und in sich logisch und systematisch ist, allerdings von falschen Annahmen über die Wirklichkeit

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bzw. die Welt ausgeht. Insofern kommt der Begriff denen des Verschwörungsdenkens oder der Verschwörungshypothese nahe. Vgl. dazu und zu Verschwörungstheorien erhellend Ramsey 2006; Wippermann 2007; Kelman 2012; Seidler 2016. Schneider 2010: 12. Canetti 1960: 514. Robins/Post 2002: 27. Vgl. dazu oben Kap. 1.2. zur Differenz zwischen dem Politischen und der Politik. Dort wird die Grundstruktur des Politischen und die damit verbundene Freund-Feind-Konstruktion ausführlich diskutiert. Schneider 2010: 15; Herv. von mir. Diesen Begriff verwenden Robert S. Robins und Jerrold M. Post, um das intellektuelle Niveau der formalen Logik der Paranoia zu beschreiben; vgl. Robins/Post 2002: 25. Robins/Post 2002: 236. Sofsky 2001: 35. Die folgende Darstellung beruht vor allem auf Ponting 2002; Sösemann 1996; Schneider 2010. Einer der später festgenommenen Attentäter, der Gymnasiast Vaso Ĉubrilović, sagte in seiner Vernehmung, dass er sich wegen seines Zorns über das Durchfallen an der Schule zum Attentat bereit erklärt hatte; aber „als ich den Erzherzog sah, tat es mit leid, ihn zu töten. Anfangs hatte ich diese Absicht, weil ich in den Zeitungen gelesen hatte, dass er gegen die Slaven ungerecht sei (…); auch weiß ich nicht, aus welchem Motiv ich das Attentat begehen wollte.“ Zit. nach Sösemann 1996: 301. So Schneider 2010: 369. Vgl. dazu die ausgezeichnete Darstellung bei Münkler 2013: bes. 34ff. Mayer 2014: 92ff. Zit. nach Mayer 2014: 95. Zit. nach Mayer 2014: 139f. Mayer 2014: 16f. Alles nach Mayer 2014: 15, 18, 21, 125. Zit. nach Mayer 2014: 22f. Münkler 2013: 32. Schneider 2010: 371. Ebd. Schneider 2010: 374. Zum Folgenden vgl. ausführlich Reuter 2002: bes. 88-134. Seiner Vermutung nach waren die Selbstmordbataillone von Kindern, die von der iranischen Militärführung im Krieg gegen den Irak eingesetzt wurden, der Ausgangspunkt für die später folgenden Selbstmordattentate. In diesem Krieg schickten die Iraner Zigtausende von 12- bis 15-jährigen Kindern in den Tod, die als „menschliche Angriffswellen“ in das Maschinengewehrfeuer der irakischen Soldaten liefen. Sie trugen klei-

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317 ne Schlüssel um den Hals, die nach ihrem Märtyrertod die Pforte zum Paradies öffnen sollten. Diese Schlüssel waren zuerst aus Eisen, später wurden sie durch Plastikschlüssel ersetzt, die einfach billiger waren. Vgl. dazu Reuter 2010: bes. Kap. 3. Diese und alle folgenden Details sind dem sehr lesenswerten und reflektierten Buch des damaligen STERN-Journalisten Christoph Reuter entnommen. Am Beispiel dieses Buches kann man den dramatischen Unterschied zwischen den Erkenntnissen der Wissenschaft und des aufgeklärten und reflektierten Journalismus studieren. Ich habe aus diesem Buch mehr über politische Paranoia gelernt als durch alle akademischen Bücher zu diesem Thema; vgl. Reuter 2002. Zit. nach Reuter 2002: 95. Reuter 2002: 116. Folgen müssen begrifflich und materiell von Wirkungen unterschieden werden: „‚Folge‘ meint primär Ereigniskette, ‚Abfolge‘, Prozess und damit auch indirekt ‚Dauer‘. Wirkung betont dagegen Kausalität, in auch absehbarer Zeit(spanne) erkennbares Ergebnis.“ Böhret 1990: 36. Dies hat seinen tiefen Grund darin dass „(d)ie Welt viel zu komplex (ist), als dass wir sie mit unseren Beobachtungen und Analysen einfangen können. In dieser sozialen und natürlichen Welt sind die Interaktionen und Interdependenzen so vielfältig und unüberschaubar, dass wir allenfalls die offensichtlichsten und durchschlagensten Folgen erfassen und auch analysieren können. Es geschieht noch viel mehr, es werden überall – für uns nicht fassbar und erkennbar – Folgen produziert, deren ‚Ursprung‘ verdeckt bleibt.“ Böhret 1990: 28. So Michael Hagemeister; vgl. Hagemeister 2001: 89. Der Begriff stammt aus Daniel Goldhagens umstrittenen Buch „Hitlers willige Vollstrecker“. Die entsprechende Stelle lautet: „Bereits lange vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland (hatte sich) eine bösartige und gewalttätige ‚eliminatorische‘, also auf Ausgrenzung, Ausschaltung und Beseitigung gerichtete Variante des Antisemitismus durchgesetzt (...), die den Ausschluss des jüdischen Einflusses, ja der Juden selbst aus der deutschen Gesellschaft forderte. Als die Nationalsozialisten schließlich die Macht übernommen hatten, fanden sie sich an der Spitze einer Gesellschaft wieder, in der Auffassungen über die Juden vorherrschten, die sich leicht für die extremste Form der ‚Beseitigung‘ mobilisieren ließen.“ Goldhagen 1996: 39.

318 91 Siehe dazu umfassend Sammons 2001; Cohn 1969; aber auch knapp Wippermann 2007: 68. 92 Benz, W. 2007: 64. 93 Ebd. 94 Rosenberg 1923: 132. 95 Alle Zitate aus den Protokollen stammen aus dem von Jeffrey L. Sammons herausgegebenen Buch „Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlagen des modernen Antisemitismus“, Göttingen 2001, in dem die Protokolle in Gänze abgedruckt sind; Zitat S. 64. 96 Protokolle: 56. 97 Protokolle: 108. 98 Protokolle: 96. 99 Protokolle: 51. 100 Protokolle: 99. 101 Protokolle: 106. 102 Protokolle: 53. 103 Protokolle: 68. 104 Protokolle: 58. 105 Protokolle: 87. 106 Protokolle: 53. 107 Protokolle: 31. 108 Eine sehr schöne deutsche Übersetzung ist „Ein Streit in der Hölle. Gespräche zwischen Machiavelli und Montesquieu über Macht und Recht“; vgl. Joly 1990. 109 Protokolle: 58. 110 Vgl. Schmitt 1963 (1932). 111 Arendt 2017 (1958): 795. 112 Cohn 1969: 111.

6. Die Politik der Paranoia 113 Bracher 1969: 65. 114 Diese Argumente sind unübersehbar von Richard A. Landes und Charles B. Strozier übernommen, die die Idee des „paranoiden Imperativs“ anhand der Protokolle entwickelt haben: vgl. insbesondere Landes 2012; Strozier 2012. 115 Wippermann 2007: 139. 116 Zit. nach Wippermann 2007: 138f. 117 Hitler 1937: 337. 118 Zum Genozid in Ruanda vgl. statt vieler Harding 1998; Kuperman 2001; Des Forges 2002; Uvin 2001; Straus 2006. 119 Robins/Post 2002: 327 120 Zu Nixons ‚kriegerischen Persönlichkeit‘ vgl. erhellend Robins/Post 2002: 45ff. 121 Zit. nach Robins/Post 2002: 47. 122 Robins/Post 2002: 52. 123 Robins/Post 2002: 329. 124 Diese und die folgenden Sachverhalte sind im Wesentlichen Robins/Post 2002: bes. 331-342 entnommen. 125 Zit. nach Robins/Post 2002: 338. 126 Robins/Post 2002: 350. 127 Robins/Post 2002: 37. 128 Ebd. 129 Vgl. dazu im Detail die Ausführungen zum Begriff des Politischen und seiner paranoiden Grundstruktur in Kap. 1. 130 Dies ist die zentrale These von Marc Sageman; vgl. Sageman 2004. 131 Post 2007: bes. Kap. 15.

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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft „Du sollst töten“ – für das Handeln der nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrecher hat Hannah Arendt dieses Prinzip detailliert herausgearbeitet und als Kern des totalitären Politikverständnisses gekennzeichnet. In der Tat: Diese Regime haben in das 20. Jahrhundert eine Spur des Blutes gegraben, die in keinem Jahrhundert zuvor gegraben wurde. Sie wurde durch eine Politik des Tötens realisiert, die die Vernichtung spezifischer sozialer bzw. religiöser Gruppen zum Ziel hatte, entweder durch unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern, die unvermeidlich zum Tode führen mussten, oder durch die direkte und industriell anmutende Vernichtung, insbesondere der Juden. Die totalitären Regime haben das Unvorstellbare vorstellbar gemacht und durch Politik realisiert. Erstaunlicherweise gibt es über die Politikbegriffe der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts kaum sozial- oder politikwissenschaftliche Literatur. Immerhin hinterließen diese Regime eine derartig mörderische Spur, dass sie dem Jahrhundert seinen politischen Stempel aufdrückten. Wie in keinem anderen Politikverständnis liegen die Ausübung von politischer Macht und die politisch gewollte, umfassende Tötung von bestimmten sozialen Gruppen so dicht nebeneinander wie im Totalitarismus. Töten scheint der Inbegriff dieser Form der Politik zu sein, das Töten steht über allem und es wird von der totalitär herrschenden Clique propagiert und organisiert. Umgekehrt schließt dies die Möglichkeit ein, dass die Machthabenden und ihre Gefolgsleute, manchmal die aufgehetzten Massen, selbst getötet werden, auch wenn die Machtasymmetrien in den totalitären Regimen unübersehbar einseitig zugunsten der Totalitären ausgeprägt sind. Aber die Politik musste Täter wie Opfer so indoktrinieren, dass sich eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen oder dem fremden Tod einstellte. Das Verständnis der Politik des Totalitarismus wird in den Selbstbeschreibungen der totalitären Machthaber – wenn überhaupt – nur am Rande gestreift. Das erstaunt, denn nach dem eigenen Selbstverständnis sind sowohl die nationalsozialistischen als auch die kommunistischen Totalitarismen politische Projekte, die von entsprechenden politischen Akteuren in Gang gesetzt werden. Deren Politikverständnis ist von der Vorstellung geprägt, dass diese Projekte nicht nur wegen erwarteter Widerstände, sondern unabhängig davon nur als Gewaltprojekte realisiert werden können und deren oberstes Gesetz lautet: Du sollst töten, ja du musst töten – und kannst selbst getötet werden. Diese Politikvorstellung ist mit dem Paradox konfrontiert, dass sich der Spielraum der Politik einerseits dramatisch reduziert und sich andererseits dramatisch erweitert. Der Spielraum der Politik wird reduziert, indem sich die politischen

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Projekte auf die Realisation vorgegebener ‚Gesetze‘ konzentrieren. Die politische Führung oder der Führer muss – wie es ein führender Ideologe des Nationalsozialismus formulierte – den „ehernen Gesetzen der Geschichte“1 gehorchen, wobei diese Gesetze selbst gesetzt sind. Es sind von den politischen Akteuren formulierte Gesetze, die einer perversen Logik unterliegen und die J. Goebbels unnachahmlich auf den Punkt gebracht hat: „Es gibt nur eine Wahrheit. Entweder lügen wir, dann haben die anderen Recht. Oder wir sagen die Wahrheit, dann lügen alle anderen. Dass die Wahrheit aber bei uns liegt, das glauben wir mit der Unverbrüchlichkeit des Blutes.“2

Die Logik der Selbstimmunisierung gegenüber anderen ‚Wahrheiten‘ ist in diesem verqueren Denken unvermeidlich angelegt. Denn der ‚Glaube‘ und nicht die argumentativ begründete oder durch empirische Evidenz belegte ‚Wahrheit‘ steht hier für die Wahrheit. Sie wird zudem durch die ‚Unverbrüchlichkeit des Blutes‘ garantiert und ist infolgedessen nur einer bestimmten Rasse, insbesondere deren Führung, zugänglich. Aber diese vermeintlich selbstevidenten ‚Wahrheiten‘ sind nicht einmal in den jeweiligen totalitären Parteien bzw. Bewegungen unumstritten, wie die Säuberungen oder die Vernichtung von abweichenden ‚Wahrheiten‘ in den Parteien bzw. Bewegungen der beiden Regime überdeutlich gemacht haben. Die so begründeten Gesetze und deren Wahrheitsprämissen sind für totalitäre Politik handlungsleitend. Während bei den Nationalsozialisten die Rassengesetze dominant sind, sind es bei den kommunistischen Regimen die ‚ehernen Gesetze‘ der Geschichte. Konkret: Die gesetzmäßige Abfolge unterschiedlicher Gesellschafts-, besser Klassenformationen, die unvermeidlich in der weltweit gedachten, klassenlosen Gesellschaft enden. Auch die Selbstimmunisierung gegenüber Kritik ist dieser Ausprägung totalitärer Politik immanent, denn nur die kommunistische Partei und ihre Führung kennt die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung und führt die revolutionäre Klasse zum Sieg über die Gegner, besser Feinde oder Konterrevolutionäre. Die Konflikte und Kontingenzen der Politik werden hier unübersehbar auf genau diese eine Aufgabe bzw. dieses eine Ziel reduziert: Den ‚ehernen Gesetzen‘ der Rasse oder der Geschichte mit Gewalt zum Durchbruch zu verhelfen und hierbei die Prämisse zu realisieren: Du sollst, ja du musst töten! Dadurch wird der Spielraum der Politik zugleich ins grenzenlose erweitert und ist unvermeidlich mit direkter und brutaler Gewaltanwendung verbunden. Gewalt ist für diese Form der Politik nicht nur konstitutiv, sondern wird mit Tötung identisch, wobei ein Spezifikum unübersehbar ist. Die Gewalt richtet sich weniger gegen faktische Gegner, also gegen wirkliche Opponenten. Das zwar manchmal auch, aber sie richtet sich vorwiegend gegen politisch definierte und politisch konstruierte ‚objektive Feinde‘, die als soziale Gruppen aufgefasst werden und

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deren Vernichtung oder Umerziehung in Lagern als notwendig erachtet wird. Nur so kann den ‚ehernen Gesetzen‘ zum Durchbruch verholfen werden. Der Höhepunkt der Entgrenzung der Politik ist die Vernichtung ganzer sozialer und religiöser Gruppen, wobei die systematische Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten in der stalinistischen Politik des Tötens keine Entsprechung fand. Zwar waren auch andere Gruppen von der Vernichtung betroffen, wie etwa die Sinti und Roma, die Homosexuellen oder Kommunisten und Sozialisten, aber die Vernichtung der Juden war in ihrer Radikalität und Intensität einmalig. Diese fand an einem bestimmten Ort statt: Den Vernichtungs- oder Tötungslagern der Nationalsozialisten. Die Politik der Tötung und die Errichtung von Lagern hängen unmittelbar zusammen. Das Lager ist zweifach grenzenlos. Die dorthin zu verbringenden Personengruppen sind grenzenlos in dem Sinne, als die Politik beliebig und je nach Lage der Dinge entschieden kann, wer in die Lager zu verbringen ist. Zum anderen gibt es für die Wärter keine moralischen, ethischen oder (menschen)rechtlichen Grenzen, ihnen ist alles, wirklich alles erlaubt und möglich gemacht, von der Folter bis hin zur langsamen und qualvollen Tötung. Ihre Macht ist grenzenlos. In der Sowjetunion traf der Terror ebenfalls verschiedene soziale Gruppen, die auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft als ‚objektive Feinde‘ definiert wurden. Dies waren ab 1917 zunächst die Kosaken und dann später – insbesondere unter der Herrschaft Stalins – weitere soziale Gruppen. Hier waren es vor allem die Kulaken, aber auch ethnisch-nationale Minderheiten in den Grenzregionen und deren Führungseliten, die später zu Opfern wurden. Die Tötungen erreichten zwischen 1938 und 1941 ihren absoluten Höhepunkt. Im Zweiten Weltkrieg wurden v. a. die ethnisch-nationalistisch motivierten Tötungen angeheizt, wie beispielsweise in der Ukraine, den baltischen Staaten und in Polen. Aber auch die Deportationen der Tschetschenen und Inguschen gehören in diese Phase. Beide Politiken des Tötens weisen unübersehbar bestimmte Parallelen auf, aber beide sind in jeweils unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten entstanden, deren Differenzen nicht zu negieren sind. Zudem unterscheiden sie sich hinsichtlich der konkreten Formen der Politik des Tötens. Die systematische Vernichtung einer ganzen religiös-ethnischen Gruppe, der Juden, findet in der Sowjetunion unter Stalin keine Entsprechung. Ein zentrales Instrument dieser Politiken des Tötens waren die Lager, in denen die politisch bestimmten Gruppen konzentriert und manche schließlich industriell getötet wurden. Dies schlägt sich auch in den jeweils angewandten Gewaltmitteln nieder. Zwar waren Lager, insbesondere Konzentrationslager, für beide totalitären Politiken typisch, aber die reinen Vernichtungs- und Tötungslager gab es nur unter dem Nationalsozialismus. Die Lager des GULag hatten andere Funktionen, auch wenn sie faktisch ebensolche Totenberge aufhäuften wie die Vernichtungslager der Nationalsozialisten.3 Noch viel mehr gilt dies für die chinesischen Arbeitslager, die

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Laogai, die aber in der tradierten Totalitarismusdiskussion kaum erwähnt werden.4 Aber sie alle verkörpern – trotz fundamentaler substantieller Differenzen – eine Politik des Tötens, die in der bisherigen Geschichte der Menschheit keine Entsprechung fand – und hoffentlich nie wieder finden wird. Welche Differenzen und Übereinstimmungen gibt es aber nun in den Politikbegriffen des Nationalsozialismus und des Leninismus bzw. Stalinismus als den zwei wichtigsten Totalitarismen des 20. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte hierbei die Ideologie, die glaubte, die Gesetze der Natur bzw. die der geschichtlichen Entwicklung zu kennen und diesen Gesetzen zum Durchbruch verhelfen wollte? Warum waren bestimmte Lager, konkret Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager, in allen totalitären (aber zum Teil auch in anderen politischen) Regimen zentral und welche Bedeutung hatten sie in den jeweiligen Politikverständnissen? Der Zusammenhang von politischer Macht und Konzentrationslager (KZ) ist von Hannah Arendt vermutlich am deutlichsten formuliert worden. Sie sind die „konsequenteste Institution totaler Herrschaft“5 und ein, wenn nicht das wichtigste ‚Element‘ dieser Herrschaft. Sie eröffnen einen „uns bisher gänzlich unbekannten Spielraum des ‚alles ist möglich‘. Und dieser Spielraum ist gerade dadurch charakterisiert, daß weder Nutzen noch wie auch immer verstandenes Interesse ihm Grenzen ziehen.“6

Das Prinzip des ‚Alles ist möglich‘ ist der Kern der totalitären Herrschaftsausübung und das Konzentrationslager ist nicht ‚nur‘ der Ort der Erniedrigung, Demütigung, Ausrottung und Vernichtung. Es ist auch der Ort, der „dem ungeheuerlichen Experiment (dient), unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird (…). Nur in den Konzentrationslagern ist dieses Experiment möglich, und sie sind daher nicht nur ‚la société la plus totalitaire encore réalisée‘ (David Rousset), sondern darüber hinaus das richtungsgebende Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft überhaupt.“7

Das KZ dichtet sich von seiner Umgebung ab, ist also umgeben mit Grenzzäunen und setzt sich so von der Welt der Lebenden überhaupt ab. Der Stacheldraht, ursprünglich in den USA zur Einzäunung großer Viehherden benutzt, wird zum Symbol für Konzentrationslager schlechthin, in denen nun ‚menschliches Vieh‘ eingezäunt und überwacht wird.8 Im Gegensatz zu Gefängnissen sitzen in Lagern nicht individuell verurteilte Personen ein, sondern soziale Gruppen, also Massen, die präventiv von Polizei oder (Sonder)Militärs in die Welt der Lager verfrachtet und dort – abgegrenzt von der restlichen Welt – in deren künstlich geschaffener Welt mit Gewalt und Terror festgehalten und getötet werden. Die Willkürherrschaft des Totalitarismus zielt statt auf strafrechtlich verurteilte Individuen auf spezifische Massen, die von den totalitären Machthabern durch politische Entscheidungen als gefährlich oder als zu vernichtend definiert werden. Sie werden

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nicht festgehalten für etwas, was sie getan haben, sondern dafür, dass sie durch die Politik als jemand definiert wurden, der etwas ist: etwas Gefährliches, Zerstörerisches, Ansteckendes, Feindliches, Böses – wie auch immer die Bezeichnung im Einzelnen lauten mag. In der Politik des Tötens nehmen die Lager – seien es Arbeits-, Konzentrations- oder Vernichtungslager – eine zentrale Bedeutung ein. Sie sind der konzentrierte Ort, an dem, durch Stacheldraht abgegrenzt von der ‚normalen‘ Welt, eine eigene Welt errichtet wird. In ihr wird – wie Hannah Ahrendt formuliert – das ‚richtungsgebende Gesellschaftsideal der totalitären Herrschaft überhaupt‘ realisiert. Mit ihm ist, auch wenn es in den jeweiligen Totalitarismen durchaus unterschiedlich begründet bzw. abgeleitet wird, untrennbar die Politik des Tötens verbunden. Ich stelle zunächst den Politikbegriff des Nationalsozialismus dar (Kap. 7.1.) und diskutiere anschließend den des Leninismus bzw. Stalinismus, wobei Leo Trotzkis Theorie der „permanenten Revolution“ eine besondere Rolle spielen wird. Knappe Anmerkungen zu den Politikbegriffen und der Politik des Tötens bei Pol Pot in Kambodscha und Mao Tse-tung in China ergänzen dieses Kapitel (Kap. 7.2.). Daran schließt sich die Darstellung der Konzentrations- und Vernichtungslager an und ich frage, welchen spezifischen Stellenwert sie in der Politik des Tötens hatten und warum sie – der GULag als System der Lager in der Sowjetunion und die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten – in den beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhundert eine so überragende Rolle eingenommen haben. Eine kurze Darstellung des Lagersystems in Kambodscha schließt sich an, wobei hier der ganze Staat zum Lager geworden ist, während in China eine fast unübersehbare Anzahl von Arbeits- und Umerziehungslagern zu beobachten ist. Eine knappe Skizze auf das von der amerikanischen Regierung als Reaktion auf die terroristischen Anschläge in New York und Washington unter Georg W. Bush eingerichtete Lager in Guantánamo Bay schließt das Kapitel über die Politik der Lager ab, wobei es eine herausragende Sonderstellung einnimmt, weil es weder ein Konzentrations- noch ein Tötungs- oder Vernichtungslager ist (Kap. 7.3.). Danach befrage ich Analysen und Interpretationen des Totalitarismus, was diese zum Verständnis der Politik der Tötung beitragen können, insbesondere die Totalitarismustheorie von Hannah Arendt (Kap. 7.4.). Die Totenberge, die die totalitären Ideologien und die ihnen entsprechenden Tötungsmaschinerien dem 20. Jahrhundert hinterlassen haben, erfordern eine ausführliche Beschäftigung. In keinem anderen Jahrhundert in der bisherigen Menschheitsgeschichte sind so viele Menschen in Lagern und damit mittels der Ausübung politischer Macht getötet worden als im 20. Jahrhundert. Es ist – vielleicht und vor allem – das Jahrhundert der Lager.

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7.1. Der Politikbegriff der Ideologen des Nationalsozialismus und die Politik des Tötens Die nationalsozialistischen Ideologen waren sich zu Beginn der Machtergreifung nicht einig und suchten nach Theorien der Politik und deren Bedeutung für die Bewegung. Unumstritten war die Vorstellung des Primats der Politik gegenüber der Wirtschaft, insbesondere gegenüber der Großindustrie, dem Mittelstand und dem Bauerntum.9 Stand in den Jahren 1933 bis 1936 die kurzfristige Überwindung der ökonomischen Krise im Mittelpunkt, so zielten die dann folgenden Maßnahmen bereits massiv auf eine wirtschaftliche „Wehrhaftmachung“ Deutschlands. Die Ausrichtung vor allem von Teilen der Großindustrie auf die Aufrüstung begann schon sehr früh, der sogenannte Neue Plan vom September 1934 stellte die ersten Weichen in Richtung militärische Aufrüstung, die von den Spitzen der Wirtschaft willig unterstützt wurde. Neben der Wirtschaftslenkung gehört zur totalen Politik ebenso die Gleichschaltung der Erziehung, der Wissenschaft und Bildung sowie der Medien, die im Kontext der Propaganda eine zentrale Rolle spielten. Für den nationalsozialistischen Totalitarismus war der Primat der Politik gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Bereichen selbstverständlich. Aber was durch Politik über konkrete Entscheidungen realisiert werden sollte, ist damit noch nicht geklärt. Welche Bedeutung misst die nationalsozialistische Ideologie der Politik zu? Was soll durch Politik konkret erreicht werden? Ist Politik ‚Kunst‘ oder ist sie rein instrumentelles Mittel zur Durchsetzung der totalitären Ideologien? Zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung suchten viele Ideologen und Propagandisten, das neue Regime auf fundierte theoretische Grundlagen zu stellen. Dennoch erstaunt, dass es zum nationalsozialistischen Politikverständnis nur wenig grundsätzliche Schriften gibt. Eine davon hat Dr. Otto Dietrich verfasst, damals Reichspressechef der NSDAP und SS-Obergruppenführer, später dann als Pressechef der Reichsregierung einer der höchsten Vertreter im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda.10 Bereits vor der Machtergreifung arbeitete er eng mit A. Hitler zusammen und organisierte unter anderem auch seine Wahlkämpfe. Im Nationalsozialismus war er sein ständiger Begleiter, den er sowohl auf Reisen als auch im Führerhauptquartier über die wichtigsten Nachrichten aus der deutschen und internationalen Presse unterrichtete. 1938 wurde er Staatssekretär im Reichspropagandaministerium und hatte damit die gesamte Kontrolle über das Pressewesen inne. Zwischen ihm und Joseph Goebbels gab es immer Spannungen. Zwar war J. Goebbels als Minister seinem Staatssekretär in der Ämterhierarchie übergeordnet, aber auf der Parteiebene waren sie ranggleich, beide waren Reichsleiter in der NSDAP. Insofern agierte O. Dietrich auch in seinem staatlichen Amt weitge-

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hend unabhängig und selbstständig von J. Goebbels. Sein Einfluss auf die Politik, insbesondere die Presse und ihre nationalsozialistische Propaganda, war außerordentlich groß. Durch seine Reden und Schriften wollte er dazu beitragen, die ideologischen Prämissen der ‚neuen‘ Weltanschauung zu verbreiten. Sein Wort hatte Gewicht, auch und gerade in den Kompetenzstreitigkeiten mit J. Goebbels und anderen Nazi-Größen. Erst im März 1945, also kurz vor Kriegsende und dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, konnte J. Goebbels seine Entlassung bei A. Hitler durchsetzen. Nach dem Zusammenbruch des totalitären Regimes wurde er in den Nürnberger Prozessen zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber vorzeitig entlassen. Danach war er als Werbefachmann bei der „Deutschen Verkehrsgesellschaft“ beschäftigt, bis er im Jahr 1952 verstarb. Im Februar 1934 hielt O. Dietrich an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin einen Vortrag, der die Gleichschaltung der Hochschule begleitete, ja in gewisser Weise schon abschloss und „Die neue Sinngebung der Politik“11 zum Inhalt hatte. Ein Jahr später veröffentlichte er eine weitere grundlegende Schrift, die sich mit den „philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus“12 beschäftigte, eine Schrift, die J. Goebbels als „greulichen Unfug“ und „dilettantisch“ und ein Jahr später in seinem Tagebuch als „philosophischen Edelquatsch“13 abkanzelte. Gleiches mag für die Schrift über das Politikverständnis nicht gelten, denn J. Goebbels übernimmt später eine Formulierung von O. Dietrich, die im Nationalsozialismus immer wiederkehrt und C. Schmitt in einem Artikel unter dem Stichwort „Politik“ im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften“ aus dem Jahr 1936 ebenfalls zitiert, aber nun J. Goebbels zuschreibt (vgl. dazu Kap. 6). O. Dietrich formuliert hier zum ersten Mal und in aller Schärfe eine, vielleicht sogar die Position des nationalsozialistischen Politikverständnisses und es ist kein Zufall, dass dies der Reichspressechef der NSDAP selbst vornimmt. In seinem Vortrag erfolgt zunächst eine knappe, aber dennoch Auseinandersetzung mit der Vorstellung, dass Politik lehrbar sei. In der Tat, so O. Dietrich, muss der Politiker die „Grundgesetze alles organischen Lebens beherrschen,“14 d. h. die Gesetze der Geschichte, der Individual- und Massenpsychologie, der Naturwissenschaften und – für die Rassentheorien der Nationalsozialisten unvermeidlich – der Biologie. Im Gegensatz zu seinen Ausführungen über die „philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus“, in der Liberalismus und Individualismus die Hauptfeinde sind, ist es in der „Sinngebung“ der Marxismus. Die bürgerlichen Wissenschaftler hätten ihn in der Weimarer Republik zwar kritisiert, aber das reiche nicht aus. Vielmehr müsse man „von den Lehrstühlen herunter mit den Fäusten draufschlagen und mit den Füßen dieser Schlange den Kopf zertreten“, weil er die „gefährlichste aller Lügen“ sei.15 Die neue Politik des Nationalsozialismus unterliege Gesetzen und diesen Gesetzen folgt die nationalsozialistische Politikvorstellung. Es gibt das „Gesetz der Homogenität von Volk,

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Staat und Führung“ und der „Totalitätsanspruch der nationalsozialistischen Partei ist in diesem Gedanken ursächlich begründet.“16 Zudem gibt es weitere Gesetze, die die neue Politik erkennt und anwendet: Das „Gesetz der Kraftgewinnung durch Konzentration“ der Politik auf die wesentlichen Aufgaben, dann die „Gesetze des Lebens“17, also die rassisch-biologisch begründeten Prämissen des deutschen Volkes, und dann das „Gesetz des Willens“.18 Alle diese Gesetze vollzieht die neue Politik und das Gesetz des Willens wird im Verlauf der Ausführungen zum wichtigsten Gesetz; es macht den Kern des Politikbegriffes aus. Im Mittelpunkt steht deshalb die Absetzung von Bismarcks Diktum der „Politik als Kunst des Möglichen“. Diese verhängnisvolle Definition lasse in jeder Situation Tür und Tor offen für politische Entschlusslosigkeit, für „faule Kompromisse“ und für „volksschädigende Politik“ und rechtfertige das „Nichtkönnen“ der bisherigen Politiker und den „bösen Geist der deutschen Nachkriegspolitik.“19 Stattdessen – so heißt es apodiktisch – ist „Politik im neuen Deutschland nicht die Kunst des Möglichen. Sie ist für den Nationalsozialismus umgekehrt die Kunst, das unmöglich Erscheinende möglich zu machen. (…) Das Gesetz des Willens ist eine der fundamentalsten Erkenntnisse, welche die nationalsozialistische Weltanschauung dem deutschen Volke gegeben hat.“20

Politik hat die Aufgabe, nach „höheren Zielen zu streben“, die jedoch allein einem Genie, konkret dem Führer des deutschen Volkes, A. Hitler, zugänglich sind. Der Wille, das ‚unmöglich Erscheinende möglich zu machen‘ realisiert sich in der Führungskraft eines Einzelnen, in der Führerpersönlichkeit. Sie versteht es, die „gleiche Kraft des Willens im deutschen Volke zu erwecken“21, dem durch die nationalsozialistische Bewegung Inhalt und Form gegeben wird. Der Wille des Führers „(durchglüht) die Bewegung wie ein Strom“22 und die Realisation dieses Willens ist „ein Krieg, indem nicht Soldaten aufmarschieren, sondern seelische Energien.“23 Die Kunst der Politik besteht dann darin, diese Energien zu mobilisieren, was eine „meisterhafte Beherrschung der Psychologie“ voraussetzt. Das Führerprinzip ist die eine Seite einer politischen Gleichung, die auf der anderen Seite durch die „Politisierung der Geführten“24 ergänzt wird, um dem jedem Volk immanenten und blutsmäßig bedingten „Willen zur Selbstbehauptung“ zur Geltung zu bringen. In ihm muss die nationalsozialistische Weltanschauung durch Propaganda verankert werden. In einer Umkehrung einer später von Mao Tsetung formulierten Prämisse25 verkündet O. Dietrich, dass die Macht des nationalsozialistischen Staates „nicht auf den Bajonetten, sondern auf den völkischen Energien und Kraftreserven (beruht).“26 Aber Politik bleibt Kunst, was immer das auch hier heißen mag, und sie wird mit der fanatischen Vorstellung eines Willens verbunden, der im Prinzip alles kann und deshalb in Gewalt, konkreter: in der tötenden Gewalt, ihren Niederschlag finden muss. Diese extrem elitistische Vorstellung wird mit der Idee verkoppelt, dass der Führer „alle verfügbaren Willenskräfte zu organisieren“ in der

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Lage ist und so die Geschichte in seine Hände nimmt. Das „Gesetz des Willens“27, das keine Grenzen und keine Unmöglichkeiten anerkennt, ist wesentlich für das neue Politikverständnis und macht so die Bahn frei für einen radikalen Voluntarismus, dem alles möglich sein soll. Dass hierfür Gewaltanwendung konstitutiv ist, versteht sich von selbst, aber die Rolle der Gewalt, insbesondere der tötenden Gewalt, wird in dieser Schrift fast nie explizit erwähnt. Eine ähnliche Position – auch wenn Akzentverschiebungen unübersehbar sind – wird von Eugen Hadamovsky formuliert, ebenfalls eine wichtige Größe im nationalsozialistischen Propagandawesen. Er wurde von J. Goebbels zum Sendeleiter des Deutschlandsenders ernannt, später zum Reichssendeleiter und zugleich zum Direktor der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, die an der Gleichschaltung des Rundfunks ebenso beteiligt war wie an der nationalsozialistischen Propaganda. Während des Zweiten Weltkriegs übernahm er die Frontberichterstattung im Rundfunk. J. Goebbels belohnte ihn mit der Ernennung zum Leiter der Rundfunkabteilung im Reichspropagandaministerium. Nach Differenzen mit ihm wurde er aus dieser Position entlassen und fiel im März 1945 im Krieg, nachdem er sich als Freiwilliger bei der Wehrmacht gemeldet hatte. Die nationalsozialistische Politik muss – so E. Hadamovsky – „allein den ehernen Gesetzen der Geschichte gehorchen und mit hartem Schritt über alle sogenannten liberalen Errungenschaften des öffentlichen Lebens hinweggehen.“28 Politik wird erneut auf den Vollzug von Gesetzen reduziert, sie hat nur noch ein einziges und unumstrittenes Ziel: Den ‚ehernen‘ Gesetzen der Geschichte, besser der Rassentheorie, zum Durchbruch zu verhelfen. Damit untrennbar verbunden ist die „Ausschaltung aller ernsthaften Widerstände in den Massen, um ihnen, gestützt auf den einsatzbereiten nationalen Massenwillen, durch eine machtvolle Nationalpolitik das Brot zu sichern.“29 Eine solche Aufgabe kann nur durch Politiker bewältigt werden, die „soldatisches oder allgemein gesprochen kämpferisches Blut haben und die Politik nicht mit der amtlichen Karriere verwechseln. Der eine wie der andere, Soldat und Politiker, müssen gleicherweise zum Äußersten entschlossen sein.“30

Der Politiker wird hier in Analogie zum Soldaten gedacht, der kämpft und nicht nur andere tötet, sondern auch seinen eigenen Tod in Kauf nimmt, ihm auch ins Auge sieht und bereit ist, bis zum ‚Äußersten‘ zu gehen. Gewaltanwendung wird hier als systematische Tötung gedacht, als unhintergehbare Notwendigkeit, und ist konstitutiv für dieses Politikverständnis. Sie ist im Kern schrankenlos und nicht wie in (demokratischen) Rechtsstaaten durch einen rechtlichen Rahmen begrenzt. Neben dem Führer als alles überragender Person muss parallel ein „politischen Typus“ gezüchtet werden, der sich einerseits scharf von den Massen abgrenzt, aber andererseits ein Teil von ihnen bleibt. Auch die Massen müssen das

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gewaltorientierte Politikverständnis internalisieren, was durch Propaganda erreicht werden soll. Der politische Typus ist eine am „Führervorbild geschulte Persönlichkeit, nach einem leitenden Prinzip bewusst und rassemäßig gestaltet.“31 Er setzt sich von den einfachen Massen mit „terroristischen Wirkungen“ ab und bildet eine „höhere Gemeinschaft“.32 Das nationalsozialistische Verständnis von Politik musste sich von zwei konkurrierenden Ideen gravierend unterscheiden. Die eine war die des (sowjetischen) Kollektivismus, der die höheren Kreise erniedrigt, auf das Niveau der Niedrigsten und Gemeinsten hinab zieht und so ein Massenkollektiv des Schlechten produziert. Zum anderen vom Liberalismus, der die hemmungslose Erhöhung des Individuums auf Kosten der Gemeinschaft und des Volkes predigt. Davon abgegrenzt soll ein politischer Typus entstehen, dessen Vorbild der Soldat und der preußische Verwaltungsmensch sein soll. Beide dienen bzw. führen Befehle aus, der eine, indem er den Befehlen der Vorgesetzten, der andere, in dem er den bürokratischen, unpersönlichen Regeln gehorcht. Aber beide Typen sind zunächst unpolitisch und müssen in dem Sinne politisiert werden, dass sie zu Führern und Unterführern des Volkes werden und die Ideen des Führers instinktiv erspüren und ausführen. „Unser Leben heißt Politik. Unsere Aufgabe ist es heute, den neuen politischen Typus zu züchten, der, Soldat oder Verwaltungsfachmann, mit unbeirrbarem politischen Instinkt den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft gewachsen ist.“33

Die nationalsozialistische Propaganda hat unter anderem genau die Aufgabe, bei der Züchtung dieses politischen Typus mitzuwirken. Darüber hinaus trägt sie zu der Gestaltung des nationalen Willens bei, die mittels des zensierten Rundfunks und der Presse erfolgen soll. Noch ein letzter und dritter Autor soll kurz erwähnt werden, der einen kleinen, aber wichtigen Handbuchartikel unter dem Stichwort „Politik“ verfasst hat. Dieser spielt in der Rezeption der Schriften dieser Person nur eine marginale Rolle, obwohl die sozial- und politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm fast unüberschaubare Ausmaße angenommen hat. Es war C. Schmitt, der sich – in tiefer Anbiederung an den Nationalsozialismus – ebenfalls Gedanken über deren Politikbegriff gemacht hat. Nicht nur hat er seinen „Begriff des Politischen“ im Jahr 1933 an die Sprachregelungen und politischen Vorgaben des Nationalsozialismus in vorauseilendem Gehorsam angepasst.34 In einem Handbuchartikel, pikanterweise im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften“, hat er – zum Teil in Abgrenzung zum „Politischen“ – ebenfalls einen Politikbegriff in einer nationalsozialistischen Variante formuliert. Zunächst kritisiert C. Schmitt die enge Bindung des Politikbegriffs an den Staat und die staatliche Macht, die die vielen Varianten der Politik, wie Außen-, Innen-, Finanz-, Kultur-, Sozial-, Kommunal- etc. Politik, ermöglicht. Heute da-

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gegen ist das „Volk der Normalbegriff der politischen Einheit“ und deshalb „bestimmen sich alle politischen Begriffe vom Volk her. Politisch ist alles, was die Lebensfragen eines Volkes als einheitliches Ganzes betrifft.“35 In einer Kritik an den bisherigen Politikbegriffen, vor allem denen der Weimarer Republik, entwickelt er dann einen neuen: Unter dem „Eindruck der Erfolge Adolf Hitlers (konnte) die Politik als ‚die Kunst, das unmöglich Scheinende möglich zu machen‘ (J. Goebbels) bestimmt werden.“36 Diese angeblich auf J. Goebbels zurückgehende Formulierung wird weder bei C. Schmitt noch bei anderen Autoren mit einem Nachweis belegt und konnte von mir auch nicht nachgewiesen werden.37 Aber die Nähe bzw. Übernahme des Politikbegriffs von O. Dietrich ist unübersehbar und Politik – so C. Schmitt weiter – muss deshalb mit Widerständen rechnen und kann „nicht auf den Kampf verzichten und sich auf die Taktik des bloßen Ausgleichens und Ausweichens beschränken.“38 Politik bedeutet vor allem Tötung, Freund und Feind muss man klar unterscheiden können und der tiefste Gegensatz besteht heute darin zu bestimmen, „worin Krieg und Kampf ihren Sinn finden.“39 Der Krieg ist – er beruft sich hier auf Clausewitz – die Fortsetzung des politischen Verkehrs unter Beimischung anderer Mittel und dies ist auch „die Auffassung vom Wesen der Politik, die der (…) Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler zugrunde liegt.“40 Nur er und die nationalsozialistische NSDAP können darüber entscheiden, was politisch und unpolitisch ist und wie man politisch agiert. Sie verfügen über das Monopol dieser fundamentalen Entscheidung. In der Politik des Nationalsozialismus ist prinzipiell alles politisierbar, selbst die kleinste Gegebenheit, sobald sie „in die Kampfzone der streitenden Gegensätze hineingerät.“41 Aber was politisch werden soll, muss zuvor politisch entschieden werden. „Infolgedessen ist die Entscheidung, darüber, ob etwas unpolitisch ist, im Streitfalle ebenfalls eine politische Entscheidung. Das beweist, wie sehr heute eine einheitliche, entscheidungsfähige politische Führung für jedes Volk notwendig geworden ist, um den Vorrang der politischen Entscheidung (Primat der Politik) gegenüber der Aufspaltung in verschiedene Sachgebiete (Wirtschaft, Technik, Kultur, Religion) zu gewährleisten.“42

Diese Position unterscheidet sich nicht wesentlich von den Positionen, die von den Mitgliedern der nationalsozialistischen Partei formuliert wurden. Politik im nationalsozialistischen Verständnis ist also die menschliche Tätigkeit, die einen faktischen oder fiktiven Willen des rassisch-biologistisch bestimmten Volkes organisiert, diesen Willen exzessiv deutet, indem ihm alles zugetraut wird und die Organisation dieses Willens nach dem Führerprinzip und der Einheit bzw. Homogenität von Volk, Staat und Führer zur Voraussetzung hat. Politik ist dann die Kunst, alles, wirklich alles zu realisieren und alle Gegenkräfte, welcher Art auch immer, zu überwinden, zu unterdrücken, zu beseitigen und zu vernichten. Während zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur der Kampf gegen die großen ideologischen Strömungen des Liberalismus und des Marxismus im Mit-

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telpunkt stand, so wandelte sich diese Position später. Der zentrale und elementare Feind wurde nun der Jude. Zwar wurden mit der Machtübernahme die Übergriffe gegen Juden häufiger und brutaler, aber die nationalsozialistische Propaganda hielt sich bei der Berichterstattung erstaunlich zurück. Das Attentat des in Deutschland aufgewachsenen polnischen Juden, Herschel Grynszpan, auf den Ligasekretär an der deutschen Botschaft in Paris am 7. November 1938 änderte die Lage dramatisch. Ernst vom Rath wurde bei diesem Attentat erheblich verletzt, die Propaganda nutzte dies und setzte eine anhaltende Welle in Gang, die in den sogenannten Novemberprogromen gegen die Juden ihren blutigen Ausdruck fand.43 Immer noch spielte die Propaganda diese Ereignisse herunter. Der Zeitpunkt der Wendung zur systematischen Vernichtung der Juden ist umstritten, aber nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Sprache und die Zeichen deutlicher und die Propaganda während des Russlandfeldzuges intensiviert. Bolschewismus und Judentum wurden nun als identische ideologische Gegenkräfte gekennzeichnet. Auf einer Pressekonferenz am 5. Juli 1941 forderte J. Goebbels, dass die Presse die Aufgabe hätte, das „verbrecherische, jüdische, bolschewistische Regime anzuprangern“44 und setzt Judentum und Bolschewismus gleich. Anlass dieser erneuten und massiven Pressekampagne waren Massaker der sowjetischen Geheimpolizei NKWD, die sie beim Abzug aus Lemberg an ukrainischen Aufständischen und politischen Gefangenen vollzog. Mitte 1941 intensivierte sich die antijüdische Propaganda erneut, weil die Kennzeichnung der Juden durch die gelben Sterne unmittelbar bevorstand. Mitte Oktober begannen dann die rund einen Monat zuvor von A. Hitler angekündigten Deportationen der Berliner und später dann der anderen Juden. Zeitgleich verschlechterte sich die Position Deutschlands im Krieg wegen der immensen Kriegskosten (im weitesten Sinne) und die militärischen Erfolge an der Ostfront blieben aus. Die nationalsozialitische Propaganda verknüpfte nun die Frage der Kriegsentscheidung direkt mit der ‚Judenfrage‘. An den ausbleibenden Kriegserfolgen seien vor allem die Juden Schuld und durch ihre beschleunigte Vernichtung sei der Sieg im Krieg garantiert.45 Am 16. November 1941 erschien im Reich ein Artikel von J. Goebbels, in dem zum ersten Mal in dieser radikalen Form formuliert wurde, dass „das Weltjudentum nun einen allmählichen Vernichtungsprozess (erleide).“46 Ab 1942 verschärfte sich der Ton abermals und der Terminus „vernichten“ wurde nun von den Spitzen des Regimes, vor allem von A. Hitler und J. Goebbels, durch „ausrotten“ ersetzt. In einer vom Rundfunk übertragenen Rede formulierte J. Goebbels dann am 5. Oktober 1942: „Was würde denn das Los des deutschen Volkes sein, wenn wir diesen Kampf nicht gewinnen würden? (…) Sie haben ja gelesen, was man mit unseren Kindern vorhätte, was mit unseren Männern gemacht würde. Unsere Frauen würden dann eine Beute der wollüstigen hasserfüllten Juden werden. Deutsches Volk, du musst wissen: Wird der Krieg verloren, dann bist du vernichtet. Der Jude steht mit seinem nie versiegenden Hass hinter

7.1. Der Politikbegriff der Ideologen des Nationalsozialismus

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diesem Vernichtungsgedanken (…). Dieser Krieg ist nicht der zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist der große Rassenkrieg. (…) Der Jude ist hinter allem, und er ist es, der uns den Kampf auf Tod und Verderben angesagt hat. (…) (S)eine Rachsucht gilt dem ganzen deutschen Volke. Was reinrassig, was germanisch ist, was deutsch ist, will er vernichten. (…) Und darüber mache sich nur keiner eine falsche Vorstellung: Dieser Krieg wird gewonnen werden, weil er gewonnen werden muss.“47

Hier sind alle zentralen Punkte der totalitären Propaganda versammelt: Der Jude als Abstraktum, der ‚hinter allem steckt‘. Er hat zudem einen invariablen Charakter, der in seinem ‚nie versiegenden Hass‘ zum Ausdruck kommt und nur in der Vernichtung seines Gegners sein Ende findet. Die Vernichtung ist eine zentrale Gedankenfigur, der man zuvorkommen muss und eine Logik der präventiven Gewalt in Gang setzt: Wenn man nicht vernichtet werden will, so muss man den Gegner, besser: Den Feind zuvor vernichten. Und der Feind tut in seinem Hass alles Böse, er ist unmoralisch, verachtenswert, hat selbst keine Werte: Er tötet die unschuldigen Kinder, vergewaltigt die Frauen und bringt die Männer um. So wird dieser Krieg kein normaler Krieg sein, sondern ein ‚Rassenkrieg‘, der ums Ganze geht. Während hier noch von Vernichtung gesprochen wird, wird später der Ton verschärft. Sollte Deutschland den Krieg gegen die Juden verlieren, so „würden wir nicht nur derohalben, sondern überhaupt absolut vernichtet.“48 J. Goebbels beginnt im Jahr 1943 – so als müsse er sich noch einmal des Charakters des Juden vergewissern – erneut die Protokolle der Weisen von Zion zu lesen. In einem Tagebucheintrag vom 13. Mai 1943 kann man die beunruhigenden Überlegungen dazu nachlesen. Die Juden sind – entgegen der Meinung vieler in der NSDAP – sehr wohl für Propaganda geeignet und er stellt fest: „Wenn die zionistischen Protokolle nicht echt sind, so sind sie von einem genialen Zeitkritiker erfunden worden.“49 In einem Gespräch mit A. Hitler wird dessen Haltung überdeutlich, aber für A. Hitler sind die Protokolle ohne jeden Zweifel echt und tiefer Ausdruck des Jüdischen. J. Goebbels hält über dieses Gespräch erneut in seinem Tagebuch fest: „Der Führer vertritt die Ansicht, dass die Zionistischen Protokolle absolute Echtheit beanspruchen können. So genial könne kein Mensch das jüdische Weltherrschaftsstreben nachzeichnen, wie die Juden es selbst empfinden. (…) Der intellektuelle Mensch hat der jüdischen Gefahr gegenüber nicht die natürlichen Abwehrmittel, weil er wesentlich in seinem Instinkt gebrochen ist. Infolgedessen sind Völker mit einem hohen Zivilisationsgrad am ehesten und am stärksten der Gefahr ausgesetzt. (…) Daraus resultiert die eigentlich jüdische Gefahr. Es bleibt den modernen Völkern nichts anderes übrig, als die Juden auszurotten. (…) Es ist fast unverständlich, dass die Juden durch Schaden nicht klug werden. (…) Das liegt nicht in ihren Absichten, sondern in ihrer rassischen Veranlagung. Es besteht deshalb auch nicht die Hoffnung, die Juden durch eine außerordentliche Strafe wieder in den Kreis der gesitteten Menschheit zurückzuführen. (…) Der Jude hat auch als erster die Lüge als Waffe in der Politik eingeführt. (…) Er kann deshalb nicht nur als Träger, sondern auch als Erfinder der Lüge unter den Menschen angesehen werden. (…) Un-

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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft sere und insbesondere meine Aufgabe besteht also jetzt darin, genauso wie die Frage des Antibolschewismus nunmehr die Frage des Antisemitismus zu produzieren.“50

Was immer auch die Formulierung des ‚Produzierens‘ konkret heißen mag, in allen diesen Äußerungen ist die Politik der Tötung als selbstverständlich und nicht weiter beunruhigend unterstellt und mitgedacht. Ebenso unhinterfragt ist die Prämisse der Machbarkeit: Man kann nicht nur, sondern muss die Vernichtung und völlige Ausrottung der Juden betreiben, weil einem sonst dasselbe Schicksal durch die Juden widerfährt. Deren Widerstände, welcher Art auch immer, sind allein durch den radikalen Einsatz von Gewalt und deren unmittelbare Tötung überwindbar. Für das Machbare gibt es keine objektiven, sondern nur noch subjektive und deshalb überwindbare Grenzen. Widerstände sind kein Kennzeichen faktischer oder ernsthafter Probleme, anderer legitimer Interessen oder eines anderen Wissens, sondern Ausdruck von Verschwörungen, feindlicher Gegenkräfte, Sabotage oder böswilligen Absichten Anderer. Und diese sind durch Willen und Wissen überwindbar. Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung (wenn auch in Form von Ideologien) tritt neben die Absolutheit des Willens und verschmilzt zu jener barbarischen und grausamen Vorstellung, dass nicht nur alles möglich ist, sondern auch durch ein ideologisch fundiertes ‚Wissen‘ gerechtfertigt. Politik ist dann nicht mehr das Ergebnis des Suchens, des Austestens, des Austricksens, des Kompromisse-Schmiedens oder gar des Überzeugens, also Ausdruck eines ungewissen Abenteuers, sondern der erbarmungslose Ausdruck des Willens, des Wissens und des Machenkönnens von Geschichte durch die Anwendung von Gewalt. Diese ist tötende Gewalt, die die vollständige Vernichtung von politisch definierten sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen einschließt. Totalitäre Politikvorstellungen, nationalsozialistisch oder stalinistisch, sind ohne Gewalt, ohne Gewaltpropaganda und ohne die Präparierung der Täter wie der Opfer für den Tod nicht denkbar. Das Töten wird zum Alltag des politischen Handelns, nicht das Wählen, Stimmen-Maximieren oder Chancen-im-Machtkampf-eröffnen etc. Politik und Tötung werden synonym und bei der Tötung wird das Lager zentral. Der totalitäre Politikbegriff setzt auf ununterbrochene Bewegung, auf die „permanente Revolution“ (Leo Trotzki), auf den immer neue Aufgaben setzenden Führer, auf die immer neue Mobilisierung der Massen und, um der Ideologie zum weltweiten Durchbruch zu verhelfen, auf Gewalt und Töten. Um die Gesetze der Natur bzw. der Geschichte zu realisieren, müssen alle anderen Gesetze, v. a. das positive Recht und die Bürger- und Freiheitsrechte, gebrochen werden und die Menschen durch Terror zu einem eisernen Band zusammengeschmiedet werden, um diesen Gesetzen zum Durchbruch zu verhelfen und zu den bekannten Massenmorden der beiden Totalitarismen führten.51 Wie sah nun – im Gegensatz zum nationalsozialistischen Totalitarismus – das Politikver-

7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“

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ständnis in der totalitären kommunistischen Diktatur, insbesondere unter Josef Stalin, aus?

7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“ und die permanente Tötung als kommunistisches Ideal Butowo war ein Vorort von Moskau, eine eher dörfliche Datschengegend mit einem Gestüt.52 Es hatte zudem einen Schießplatz, wie viele solcher dörflichen Gegenden um Moskau, und dieser Schießplatz wurde zum Sinnbild der Entfesselung des ‚Großen Terrors‘ in den Jahren 1937/1938. An manchen Tagen wurden dort bis zu über 500 Personen erschossen, die dem Schießstand aus Moskau zugeführt wurden. Sie wurden zuvor an von Baggern ausgehobene Gruben geführt, durch einen Pistolenschuss in der Hinterkopf aus nächster Nähe erschossen und in die ausgehobenen Gruben gestürzt, die dann von den Baggern wieder zugeschüttet wurden. Dieser eher unbedeutende Schießstand stand „für das, was im ganzen Land zwischen Juli 1937 und November 1938 vor sich ging: die Entfesselung des Großen Terrors, dem in den 15 Monaten zwischen der Ingangsetzung der Massenoperationen im Juli 1937 und der Absetzung Jeshows im November 1938 rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen, von denen ungefähr 700.000 ermordet worden sind. Der Schießplatz von Butowo (…) wurde zum Schauplatz des Großen Terrors im Moskauer Maßstab.“53

Die bestehenden Friedhöfe Moskaus reichten für die Bestattungen der auf diese Weise Ermordeten nicht mehr aus. Sie konnten mit einem „solchen Strom von Bestattungen“54 nicht mehr fertig werden und neue Plätze und anderen Möglichkeiten der ‚Bestattung‘ mussten gefunden werden. Selbst Hunde mit menschlichen Gliedmaßen im Gebiss wurden zu dieser Zeit immer häufiger beobachtet.55 Die Mehrzahl der Todesurteile wurde von Gremien bzw. Organen außergerichtlicher Gewalt verhängt, von verschiedenen Kommissionen, die eigens für die Aburteilungen während des Großen Terrors gegründet wurden. Die allermeisten kamen nicht wegen irgendwelcher konkreter Vorfälle oder wegen abstrakter Zugehörigkeit zu einer der ethnischen oder sozial gefährlichen Gruppen zu Tode, sondern weil Quoten noch nicht erfüllt waren. Töten nach vorgegebenen Quoten – das war der groteske und absurde Höhepunkt des Großen Terrors. Wie konnte es dazu kommen? Zuvor jedoch, am 2. Juli 1937, hatte das Politbüro der Kommunistischen Partei eine Resolution „Über antisowjetische Elemente“ beschlossen, dem ein Telegramm Stalins folgte, das einen Tag später an alle Sekretäre der republikanischen und regionalen Parteiorganisationen ging. Darin hieß es unter anderem: „Es wurde festgestellt, dass eine groß Zahl ehemaliger Kulaken und Krimineller, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aus verschiedenen Regionen in den Norden und nach Sibiri-

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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft en deportiert wurden und nach Ablauf ihrer Verbannungszeit in ihre Heimatregionen zurückgekehrt sind, die Hauptunruhestifter aller Arten von antisowjetischen Verbrechen einschließlich Sabotage in Kolchosen und Sowchosen wie auch im Verkehrswesen und in bestimmten Industriezweigen sind. Das ZK der WKP (B) empfiehlt allen Sekretären der regionalen und territorialen Organisationen und allen Vertretern des NKWD in den Regionen, Gebieten und Republiken, alle Kulaken und Kriminelle, die nach Hause zurückgekehrt sind, zu registrieren, um mittels einer Dreierkommission (troika) die gefährlichsten unter ihnen unverzüglich zu verhaften und zu exekutieren und die übrigen, weniger aktiven, aber nichtsdestotrotz feindlichen Elemente zu erfassen und in vom NKWD bestimmte Rayons zu verbannen.“56

Dieses Telegramm ist ein Dokument der Verselbstständigung des Terrors, denn Exekutionen und Verbannungen werden von einer Kommission vorgenommen, die Personen, die ihre Strafen bereits abgesessen haben, erneut selektiert und diese Menschen unmittelbar erschießen oder in die erneute Verbannung schicken kann. Die von den Regionen aufgestellten Listen wurden vom NKWD zu einer Liste zusammengefasst, in der nach zwei Kategorien – Erschießen und Verbannen – nun Tötungsquoten für die jeweiligen Regionen festgelegt wurden. Nachdem diese vom Politbüro verabschiedet wurde, ging diese Liste ‚streng geheim‘ an die Parteisekretäre aller Landesteile, die diese Quoten umzusetzen hatten. Diese Liste war der Befehl „Über die Operationen zur Repressierung ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“ und ging als Befehl Nr. 00447 in die Geschichte des Großen Terrors ein. In dem Befehl selbst hieß es, dass spezifische Gerichte, sogenannte Troikas, zu bilden seien und ehemalige Kulaken, Mitglieder antisowjetischer Parteien, Gendarmen, Priester, Kriminelle, Rückkehrer etc., zu registrieren und ein Strafmaß für ihre Bestrafung festzulegen sei, wobei nur Erschießen oder Verbannung in Frage kam. „Aus den Untersuchungsmaterialien in den Strafsachen gegen antisowjetische Gruppierungen wird klar, dass sich im Dorf eine große Anzahl ehemaliger Kulaken niedergelassen hat. (...) Niedergelassen haben sich auch viele in der Vergangenheit repressierte Vertreter der Kirche und von Sekten, ehemaliger aktiver Teilnehmer antisowjetischer bewaffneter Aktionen. Fast unberührt blieben auf dem Dorf bedeutende Gruppen antisowjetischer politischer Parteien (...) sowie Gruppen ehemaliger aktiver Teilnehmer von Banditenaufständen, Weißen, Strafexpeditionen, Repatriierten u. a. Außerdem nisten sich bis heute auf dem Land und in der Stadt noch bedeutende Gruppen von Schwerverbrechern ein, Vieh- und Pferdediebe, Wiederholungstäter, Räuber u. a., die ihre Strafe abgesessen haben, aus den Gefängnissen entlassen sind und sich der Repression entzogen haben. (...) Wie festgestellt wurde, bilden alle diese antisowjetischen Elemente die Hauptstütze jeder Art von antisowjetischen und Divisionsverbrechen sowohl in Kolchosen und Sowchosen als auch im Verkehrswesen und einigen anderen Industriezweigen.“57

Diese Aufzählung entwirft ein Bild, als ob das Land nur noch von schwerstkriminellen antisowjetischen Gruppierungen und Agenten bevölkert ist, die das beste-

7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“

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hende System bedrohen und zerstören wollen. Dann folgert der Befehl unmissverständlich: „Den Organen der Staatsicherheit stellt sich die Aufgabe, auf die erbarmungsloseste Weise diese Bande antisowjetischer Elemente zu zerschlagen (...) und schließlich ein für alle Mal mit ihrer niederträchtigen zerstörerischen Arbeit gegen die Grundlagen des sowjetischen Staates Schluss zu machen. In Übereinstimmung damit ORDNE ICH AN – VOM 5. AUGUST 1937 IN ALLEN REPUBLIKEN, KREISEN UND GEBIETEN EINE OPERATION ZUR REPRESSIERUNG EHEMALIGER KULAKEN, AKTIVER ANTISOWJETISCHER ELEMENTE UND KRIMINELLER ZU BEGINNEN.“58

Der Beginn derselben Aktionen wird in anderen Gebieten wie Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisien und für die sibirischen und Fernostgebiete jeweils fünf Tage später stattfinden. Aber der Befehl geht noch weiter: Er legt – wie bereits angedeutet – die jeweiligen Kategorien und Kontingente der zu tötenden und zu verbannenden Gruppen fest. Die „Kontingente, die der Repression unterliegen“, werden in neun Gruppen unterteilt, zu denen u. a. die ehemaligen Kulaken, „sozial gefährliche Elemente“, Mitglieder antisowjetischer Parteien, Kirchenleute, sich in Lagern befindliche Menschen etc. gehören. Dann legt der Befehl zwei Kategorien von Strafen fest und definiert zugleich die Quoten: „1. Alle zu repressierenden Kulaken, Kriminelle und andere antisowjetische Elemente zerfallen in zwei Kategorien: Zur ersten Kategorie gehören die aktivsten unter den oben erwähnten Elementen. Sie unterliegen der unmittelbaren Verhaftung und nach Behandlung ihrer Fälle durch die Dreierkommission der ERSCHIESSUNG. Zur zweiten Kategorie gehören alle übrigen, weniger aktiven und dennoch feindlich gesonnenen Elemente. Sie unterliegen der Verhaftung und Inhaftierung in Lagern für eine Frist von 8 bis 10 Jahren, während die böswilligsten und sozial gefährlichsten unter ihnen zu gleichen Fristen in Gefängnissen inhaftiert werden, wie von der Dreierkommission festgelegt. 2. In Übereinstimmung mit den Volkskommissaren des NKWD der Republiken und den Leitern der Gebiets- und Regionalverwaltungen des NKWD gelieferten Daten wird folgende Zahl von Strafmaßnahmen unterworfenen Personen festgelegt:“59

Dann folgt in dem Dokument eine lange Tabelle, in der diese Quoten festgelegt waren.60 Für die Aserbaidschanische SSR 1.500 Erschießungen und 3.750 Verbannungen; für die Weißrussische SSR 2.000 Erschießungen und 10.000 Verbannungen; für Westsibirien 5.000 Erschießungen und 12.000 Verbannungen und im Gebiet Moskau 5.000 Erschießungen und 30.000 Verbannungen, um nur einige Gebiete bzw. Regionen zu nennen. Insgesamt wurden per Quote 75.950 Erschießungen und 195.000 Verbannungen festgelegt. Später sind diese Quoten massiv erhöht worden. Bis November 1938 wurden 767.397 Menschen verhaftet und verurteilt, davon wurden 386.798 erschossen.61 Zudem wurden alle Familien, aus denen Personen in die erste oder zweite Kategorie fallen, registriert und unter systematische Beobachtung gestellt. Die ganze Aktion hat am 5. August 1938 zu

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7. Die Politik des Tötens: ‚Du sollst töten‘ als Imperativ totalitärer Herrschaft

beginnen und ist nach vier Monaten abzuschließen, wobei die Verhaftung der zu Erschießenden Vorrang hat. Allein zwischen dem 5. und dem 31. August 1938 wurden im Zuge der Anti-Kulaken-Aktion 150.000 Urteile gefällt und 30.000 Menschen im Gebiet Moskau erschossen. Der Befehl Nr. 00447 war gleichwohl nicht der einzige, wenn auch der zugespitzteste und typischste dieser Art. Weitere Befehle und Massenoperationen folgten im gleichen und den folgenden Jahren. Sie betrafen die Rumänen in der Ukraine, Finnen in Karelien, Iraner, Afghanen, Griechen, Esten, Letten, Litauer, Bulgaren, Mazedonier und andere meist in den Grenzregionen siedelnde Minderheiten. Parallel dazu wurden aber auch spezielle politische Gruppierungen verfolgt, wie etwa die ehemalige Partei der Sozialrevolutionäre.62 Aus den Regionen und Gebieten kamen laufend Anfragen von Parteifunktionären, die Quoten zum Teil massiv zu erhöhen und die Fristen der Repression zu verlängern. Konnten die Quoten nicht erfüllt werden, so suchte man Personen nach soziologischen oder beruflichen Merkmalen oder aus einem bestimmten Wirtschaftssektor zum Verhaften und Töten aus. Die Verhöre der Verhafteten wurden schablonenartig vollzogen, die Angeklagten zum Teil geschlagen und gefoltert, um die entsprechenden Geständnisse zu bekommen, die dann der Troika vorgelegt wurden. Diese konnte fließbandartig ‚urteilen‘, meist Dutzende von Urteilen in einer Sitzung. Den Rekord stellte eine Omsker Troika am 10. Oktober 1937 mit 1301 Urteilen in einer Sitzung auf. Die obersten Behörden, denen die Urteile zur Bestätigung vorgelegt werden mussten, arbeiteten pro Abend oft 1000 bis 2000 Urteilsbestätigungen ab.63 Die Opferzahlen des stalinistischen Terrors dieser Jahre sind zwar noch umstritten, aber man geht davon aus, dass in den Jahren 1937/1938 von den Sicherheitsorganen über 1,5 Millionen Menschen verhaftet wurden, davon über 80 % aus politischen Gründen, und rd. 1,34 Millionen wurden ‚verurteilt‘, sofern man diese Verfahren als Urteilsverfahren bezeichnen will. Insgesamt kann man von einer Zahl von rund zwei Millionen Todesfällen ausgehen, die unmittelbar mit den Verfolgungen in dieser Zeit zusammen hängen. So überraschend diese Maßnahmen durch einen Beschluss des Politbüros begonnen hatten, so überraschend wurden sie beendet. Ein Beschluss vom 17. November 1938 forderte den Abschluss der Massenaktionen des Tötens. Zwar wurde weiter zum Kampf gegen ‚antisowjetische Elemente‘ und die Feinde des Sozialismus aufgerufen, auch die Politik des Tötens wurde bestätigt, aber in diesem Ausmaß kritisiert. Es wäre zu ungerechtfertigten Massenverhaftungen gekommen, die Protokolle seien unkorrekt geführt bzw. gefälscht worden etc. Aber alles sei das Werk der Feinde gewesen, die bis in die Spitzen der Sicherheitsbehörden vorgedrungen seien. Nun kamen die Spitze und die Mitarbeiter des NKWD ins Visier der Politik und auf das „Ende der Massenoperationen folgte nun die Verhaftung und Erschießung des Führungspersonals des NKWD.“64 Der Terror wendete sich nun

7.2. Lenin, Stalin und Trotzki: Die „permanente Revolution“

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gegen die, die zuvor den Terror selbst organisiert und ausgeführt hatten und nichts kennzeichnet den Sachverhalt besser, dass der stalinistische Terror unberechenbar war und sich – je nach Lage der Dinge – immer gegen jemand anderen bzw. neuen richten konnte. Alle bisher erwähnten Gewaltexzesse waren eine Form des Krieges gegen einen im Einzelfall variablen, aber immer fiktiven, gleichwohl inneren und politisch definierten Feind, der sich angeblich mit den äußeren Feinden, die es faktisch gab, verbündet hatte. Der Terror war von Beginn der Machtergreifung an ein ständiger Begleiter des sowjetischen Regimes, dessen Intensität und Brutalität jedoch variierten. Nicolas Werth hat im „Schwarzbuch des Kommunismus“ einen fundierten und zugleich erschütternden Überblick über die „Abfolge der Gewaltzyklen“ bis zum Ende der Stalinzeit geschrieben.65 Parallel zu den Gewaltzyklen erfuhren die Konzentrationslager des GULag eine ununterbrochene und beträchtliche Ausweitung. Die Politik des Tötens hat sich zwar in bestimmten Phasen des Sozialismus bzw. Kommunismus verselbstständigt, aber ihr lagen dennoch bestimmte ideologische Prämissen zu Grunde. Die russischen Revolutionäre wollten ihre Gesellschaft nicht ordnen, strukturieren, entwickeln oder ihr eine spezifische Gestalt geben. Vielmehr „ordneten sie ihr Projekt in ein Heilsgeschehen ein, in eine Teleologie der Erlösung. Der Sozialismus war demnach nicht einfach eine Ordnung, in der Untertanen gehorchten. Er war ein Gesellschaftsentwurf, der ohne Feinde auskommen wollte und sie dennoch permanent erzeugte. In dieser Zeit gab es keinen Platz für Widerspruch und Widerstand.“ Wo dieser auftrat, „musste er im Auftrag des bolschewistischen Ordnungsprojekts vernichtet werden.“66

Versteht man unter dem ‚bolschewistischen Ordnungsprojekt‘ nicht eine stabile, sondern eine bewegliche und sich laufend verändernde Struktur, dann kommt man dem Sachverhalt näher. Die sozialistische Heilserwartung war untrennbar mit der Idee einer „permanenten Revolution“ verbunden, die von Leo Trotzki67 im Jahr 1929 systematisch entwickelt wurde, aber explizit und implizit bereits bei K. Marx, später bei R. Luxemburg und vielen anderen Marxisten auftauchte und zum sozialistischen Gemeingut wurde. K. Marx verwendete den Beg