Johannes Ward, die Geschichte eines Geistlichen [Reprint 2020 ed.] 9783112330869, 9783112330852

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Johannes Ward, die Geschichte eines Geistlichen [Reprint 2020 ed.]
 9783112330869, 9783112330852

Table of contents :
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel

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Johannes Ward, die Geschichte eines Geistlichen, von

Margarete Dealand.

Aus dem Englischen übersetzt von

M. L.

Berlin, Druck und Perlag von Georg Reimer.

1893.

Erstes Kapitel. Es war am Vorabend von Helene Jeffrcy's Hochzeit. Tic Familie saß noch einmal im Garten zusammen. „Drinnen im Hause kann man es garnicht aushalten; die Erwartung spukt in allen Ecken," bemerkte Prediger Howe, seiner Nichte Helene freundlich zunickend: „Ja, ja, große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus." Und in der That, eine Hochzeitsfeier in Ashurst besaß noch den vollen Reiz der Neuheit. „Wirklich," plauderte Howe weiter, „wenn ich nach­ rechne, es muß zehn, nein zwölf Jahre her fehl, daß Marie Drayton heiratete. Solche Festlichkeiten dürfen wir uns nicht allzu ost leisten; sie würden uns am Ende zn sehr aufregen." Ashurst gefiel sich nämlich darin, fern vom Verkehr der großen Welt ein träumerisches, beschauliches Dasein zu führen, das Hasten und Treiben andrer Ortschaften als ungehörig zu verurteilen. Ein langgestrecktes Dorf, dessen Hauptstraße bei dem hochgelegenen Pfarrhaus be­ gann und bei dem wohlumzäunten Garten der beiden Fräulein Woodhouse endete, war es nur langsam empor­ gewachsen. Jetzt lag seine erste Jugend so weit zurück, daß sich niemand mehr darauf besinnen konnte; vorüber 1*

4 waren die entsagungsreichen Tage mittleren Alters, vorüber die Aussichten weitrer Entwicklung, zumal an eine Eisen­ bahnverbindung nie zu denken war. Früher war einmal ein darauf zielender Plan aufgetaucht, mit Wonne bebegrüßt von dem Zimmermeistcr des Ortes und einigen andern Geschäftsleuten; versprach er sie doch unabhängig zu machen von dem Frachtfuhrmann Lhibbs, der bisher langsam und stumpfsinnig auf seinem schwerfälligen, knar­ renden Gefährt die Waaren von Mercer herschafftc. Andre freilich waren gegen ein Projekt, das ihr bischen Handel gefährden konnte. Einstimmig verurteilt aber wurde es von den bessern Familien, welche „Geschäftsinteressen" nicht kannten. Vereinzelt und ungehört verklangen die Lcmcrkungen des Obersten Drayton über „den steigenden Wert der Grundstücke", zumal solcher, die wie das seine an der geplanten Linie lagen. Am entschiedensten aber äußerte Prediger Howe seine Meinung: „Was um alles in der Welt", sagte er, seine Stirn mit einem großen sei­ denen Taschentuche wischend, „sollen wir mit einer Eisen­ bahn? Mein Großvater hat sich so was nicht träumen lassen; also können wir sie auch entbehren. Für das Dorf ist es zehnmal besser, ohne Eisenbahn zu existieren." Er hätte freilich eine seiner Scheunen opfern müssen und wenn auch dieser Umstand für Ashurst's geistliches und leibliches Wohl nicht in Betracht kommen konnte, hielt er doch zähe an seiner Ansicht fest, die übrigens von allen andern Familien geteilt wurde. Mit einem Gefühl allgemeiner Erleichte­ rung sah man die Eisenbahnunternehmer unverrichteter Sache weiter ziehn. Die einzige zurückgelassene Spur, ein Pflock auf Drayton's Wiese, war jetzt längst von jun­ gem Klee und wilden Rosen überwuchert. Unmittelbar an diese Wiese grenzte der Garten, der den beiden Schwestern

Woodhouse gehörte. Mit seinem dichten, grünen Gespinnst w-ntgab er das alte, graue Haus auf allen Seiten, vorn won der Landstraße durch eine hohe Mauer getrennt, wenn much nicht abgeschlossen; denn die schweren, eisernen Pforten standen seit Jahren gastlich offen; halb verborgen von den Ranken wilden Weines, die lustig an den eisernen Stäben hsinaufklcttcrtcn und sich oben auf dem spitzen Gitter im Sonnenscheine wiegten. Drinnen im Garten herrschte kühle, ginnte Dämmerung; die ehrwürdigen Bäume hatten drei Menschenalter gesehn; Jasmin und Flieder stand so dicht, d>aß sie kaum Luft genug hatten, ihre Blüten zu entfalten. Trotz sorgfältigen Stutzens war der Buchsbaum um die Beete her zu einer wahren Hecke emporgeschosscn, so daß die Wege dazwischen einen feuchten, grünen Moos­ schimmer zeigten. Bescheidne Sommerblumen wuchsen an derselben Stelle, an der ihre Vorfahren feit Jahrzehnten Duft und Farbe gespendet hatten. „Unser Veilchenbeet finde ich tut Dunkeln", versicherte Fräulein Ruth. Sie wußte ganz genau, wie weit sich im Frühling die Maiblumen aus­ zudehnen pflegten und welche Büsche beschnitten werden mußten, um den Nelken genug Licht zu gewähren. Fräulein Ruth war allezeit von Herzen bereit, Blumen zu verschenken; aber heute zur Feier von Helcnen's Hochzeit hatte sie ihre Beete vollkommen geplündert. Ihr Neffe sollte in aller Morgenfrühe die Kirche damit schmücken. Gifford Woodhouse war erst kürzlich nach dreijähriger Ab­ wesenheit aus Europa heimgekehrt. Daß in diesem Zeitraum der unselbständige Jüngling zum klaren, fertigen Mann gereift war, hatten seine guten Tanten nicht begriffen. Sie kommandierten ihren „lieben

6 Giff" nach wie vor, entwarfen Pläne zu seinem Besten und ahnten nicht, daß „der liebe Giff" einen eignen Willen hatte, den er auch in aller Stille als maßgebend und ent­ scheidend durchzusctzen verstand. Gifford's Plan, sich in Lockhaven als Rechtsanwalt niederzulassen, war natürlich ihre eigenste Idee: Jeder Zweifel daran würde die wür­ digen Damen entrüstet haben. Sie hatten ihrem Neffen unbedingt beigestimmt, daß Ashurst durch Herrn Rechts­ anwalt Denner aufs Beste versorgt sei, und daß auch Mercer für Gifford's Wünsche nicht in Betracht kommen könne, so lange Denner einmal wöchentlich dort in einem sehr bescheidenen Geschäftslokal Sprechstunden abhielt. Ein Klient war freilich noch nie aufgetaucht; aber da Gifford früher bei Denner gearbeitet hatte und den würdigen klciiicii Herr» liebte und verehrte, mußte auch jeder Schein von Konkurrenz vermieden werden. So bot Lockhaven die beste Aussicht, und als Gifford seine Freude anSsprach, dort auch Helene erreichbar zu haben, nickten die beiden Tanten in voller Billigung und rühmten sich ihres treff­ lichen Vorschlags. Ja, der liebe Neffe sollte im nächsten Frühjahr in Lockhaven installiert werden. Eben hatten sie ihn mit einer Bestellung nach dem Pfarrhause geschickt. „Der Aermste geht nur zu gern", sagte Fräulein Deborah, ihm nachblickend, „Du kannst es mir glauben; er leidet darunter, daß sie heiratet, so jung er ist." „Was Du sagst", rief Fräulein Ruth ungläubig, „ich kann mir nicht denken, daß er sich je für sie interessiert hat! Ich habe für dergleichen einen scharfen Blick," er­ widerte die ältre Schwester spitz, „und ich habe immer ge­ sagt, die beiden sind für einander bestimmt." Jedenfalls war in Gifford's freundlichen, grauen Augen nichts von der Verzweiflung eines unglücklichen Liebhabers

7 zu lesen: Im Gegenteil, er pfiff leise vor sich hin, als er den Garten betrat, wo er die Familie noch traulich, aber schweigsam bei einander fand. Prediger Howe, dessen Cigarre mit den Leuchtkäfern um die Wette glühte, war der einzige, welcher plauderte. „Na, Ihr Mädchen," fragte er, seine Asche fort­ pustend, „alles in Ordnung für morgen? Die hochzeit­ lichen Kleider geplättet? Am Ende müssen wir Dich noch hicrbehalten, Helene, um das Haus nach all dem Wirrwarr in Ordnung zu bringen, was meinst Du dazu, Luise?" Er unterdrückte ein Gähnen. „Darum brauchst Du Dich nicht zu ängstigen, Vater," sagte Luise, ihren Kopf von Helenen'S Schulter emporrichtend; „aber ich wünschte auch, Helene bliebe bei uns." Ihre Lippen zuckten. „Hören Sic, lieber Ward?" fragte der Prediger. „Ja, ja, sie wird uns allen fehlen; Gifford Woodhouse sagte heute auch, daß Ashnrst viel mit Dir verlöre. Ein Kom­ pliment für Dich, liebe Helene! — Wie hat sich der Junge in den drei Jahren draußen verändert. Wie alt ist er eigentlich? Daß man das doch nie von Menschen behalten kann, die man als Kinder gekannt hat." „Gifford ist jetzt sechs und zwanzig", versetzte seine Tochter. „Richtig, rich­ tig!" nickte ihr Vater, „er ist in demselben Jahr geboren, wie Dein Bruder, der wär' jetzt auch so alt. Nett ist er wirklich, der Gifford; schade, daß er sich nicht in Merccr niederläßt; aber er will Denner gewiß keine Konkurrenz machen; freilich hat der gute Denner niemals einen Pro­ zeß außerhalb Ashurst geführt; aber es zeigt doch Taktgefühl in dem Jungen, daß er lieber nach Lockhaven geht. Er kann ein bischen auf Dich aufpassen, Helene, und uns berichten, ob Du auch eine würdige Frau Pastor abgiebst. Ihnen wird er sicher auch gefallen, Herr Bruder,

8 — bitte um Entschuldigung — wollte sagen, lieber Jo­ hannes." Es wurde ihm immer wieder sauer, den Bräutigam vertraulich als nahen Verwandten anzurcden. „Ich achte Ward durchaus," gestand er gelegentlich seiner Schwester, „aber weiß der Himmel, ich wünschte, er wäre etwas mehr wie andre Leute." Das Wesen des jungen Geistlichen reizte ihn, vielleicht, weil er es wie einen stillen Vorwurf empfand: Ward's Eifer schien ihm übertrieben, seine ab­ solute Wahrhaftigkeit, die alle die freundlichen, kleinen Lügen des geselligen Verkehrs verschmähte, ein Zeichen innrer Unbildung. Da Johannes seine letzten Worte un­ beantwortet gelassen, sprach er weiter, lediglich, um zu reden: „Ich konnte Gifford schon als Kind so gut leiden; er hatte immer etwas Jungenhaftes, Keckes, war nie ein Schwätzer, der einem ein Loch in den Leib redet; was er sagte, hatte immer Hand und Fuß. Ich sehe ihn noch, wie er als Fünfzehnjähriger ein wildes Füllen zahm kriegte, — ich ging gerade vorbei, — es wollte durchaus nicht parieren; aber eins, zwei, drei saß er ihm im Sattel. Er hat viel von seinem Vater: Ihr wißt doch, daß der bei Lookout Mountain fiel?" „Ja wol," erwiderte Helene, „Gifford hat auch oft genug bedauert, daß er nicht Offizier geworden ist." „Mut und Kampfeslust hat der Junge," nickte Howe lächelnd, „und die verehrten Tanten, die ihn immer be­ schworen, nur ja nicht mit Straßenjungen anzubinden. Ich selber sollte dahin wirken: Haue nicht, Junge, pflegte ich ihm zu sagen, oder wenn Du's thust, dann ordentlich! Ich finde es auch jammerschade, daß er nicht Militär ge­ worden ist." „Wie soll er wohl fechten, wenn er nicht einmal weiß

9 für welche Fahne," rief Luise ungeduldig. „Neulich be­ hauptete er, man könnte ebenso gut für, wie wider die Secession streiten; er sähe kein Unrecht darin." „Dummes Zeug," brauste ihr Vater auf, „Ihr jungen Leute, die Ihr des Tages Last und Hitze garnicht kennen gelernt habt, wollt uns wohl gar belehren. Kein Unrecht? Ich dachte wirklich der Junge besäße doch ein Fünkchen Verstand. Kein Unrecht! Verdammt sind sie vor Gott und Menschen." „Aber Onkel Archibald," sagte Helene langsam, „wenn die Südstaaten ihre Ueberzeugung für die richtige halten, kannst Du sie doch keines Unrechtes zeihen." „Ach was," rief Howe ärgerlich, „davon verstehst Du nichts; dazu bist Du noch viel zu jung, meine gute He­ lene." Gleichsam zu seiner eignen Entschuldigung wandte er sich an Ward: „Ich fürchte, Sie werden ihre liebe Not haben mit diesem Kinde. Setzen Sie ihr nur den Kopf gründlich zurecht. Weiß Gott, von mir hat sie so etwas nicht gehört. Ueberzeugung! Unsinn! An ihren Geldbeutel haben sie gedacht, an weiter nichts." Dabei ließ er seine Faust nachdrücklich auf die Armlehne seines Sessels fallen. Johannes Ward heftete seine dunklen Augen auf den Redenden: „Ich habe volle Sympathie für eine falsch aufgefaßte Verpflichtung und möchte bestimmt glauben, daß viele der Südstaaten von der Reinheit und Berechti­ gung ihrer Ansprüche durchdrungen waren." „Darin kann ich Ihnen keineswegs beistimmen", antwortete stirnrunzelnd Prediger Howe; nur aus Höflichkeit gegen seinen Gast unterdrückte er eine heftige Aeußerung. Johannes aber verteidigte seinen Standpunkt mit sanfter Beharrlichkeit, ohne die erstaunten Augen des Predigers zu bemerken; ohne zu hören, wie Luise ihrer Nachbarin zuflüsterte: „Er

10 kriegt cs wirklich fertig, Vater zu widersprechen." „Sie glaubten eben für ihre Ideen die Autorität der Bibel an­ führen zu können; da war cs doch begreiflich, daß sie das Recht auf ihrer Seite sahen." „Ich kaun nur immer wieder sagen: Alles ungewaschues Zeng!" rief Prediger Howe heftig aus, „die Bibel lehrt doch nichts Ungött­ liches." „Ja aber", fuhr Ward hartnäckig fort, „so lange sie das geoffenbarte Gotteswort zu Gunsten einer Einrichtung anführen konnten, waren sic nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet für diese zu kämpfen, selbst wenn sie persönlich andrer Meinung gewesen wären. Würden Sie nicht auch für die Idee der Sklaverei eintreten, wenn Sie dieselbe durch die Bibel verteidigt glaubten?" „So etwas Thörichtes würde ich niemals aus der Bibel herauslcsen", erwiderte Prediger Howe achselzuckend. „Gesetzt aber, cs fände sich eine Stelle in der Bibel, die so gedeutet werden könnte, müßte dagegen nicht jede persönliche Ansicht schweigen?" Der Prediger lachte gezwungen und schleuderte ärger­ lich seinen Cigarrenstumniel in die Büsche. „Die meine nicht; außerdem würde ich mir lieber eine erbaulichere Stelle aussuchen. Ich gebe aber die Möglichkeit gar nicht zu, daß die Bibel die Sklaverei verteidigt: Man kann eben in jeden Text eine neue Bedeutung hineingehcimnissen." „Weißt Du, Onkel Archibald," sagte Helene, „für mich giebt es nur eine Alternative: Wenn die Bibel mir An­ schauungen zumutet, gegen die sich Erkenntnis und Ge­ wissen sträuben, so bleibt mir nichts übrig, als auf die Bibel zu verzichten." „Bewahre, bewahre," sagte kopfschüttelnd Howe, „Du gehst viel zu weit. Ehe Du auf die Bibel verzichtest, weil

11 eine Forderung Dir nicht gefällt, versuche erst, Dir all das zu eigen zu machen, was sie an tiefen Wahrheiten enthält. Bis dahin hast Du noch viel Zeit, nicht wahr, lieber Ward? Gott sei Dank, daß der Krieg vorüber ist, wer weiß, was aus uns geworden wäre! Ader kommt zu Bett; ich will morgen keine verschlafnen Augen sehn." „Aber Helene, wie kann eine Pastorsfrau so etwas sagen!" rief Luise aus, während sie ausbrachen. „Was sollen die Leute von Dir denken, wenn sie hören, daß Du auf die Bibel verzichten willst?" „Ich hoffe dringend, daß sie nie wieder etwas so Dummes sagen wird," brummte Howe, während Ward einen erstaunten Blick auf Luise warf: „Kommt es denn darauf an, was die Leute sagen?" fragte er. „Ach," rief Luise lachend, „das habe ich nur so hin ge­ sagt. Uebrigens ist Helene in ihrer Behauptung viel zu weit ge­ gangen: Im Ernst würde sie doch nie auf dieBibel verzichten!" „Aber ganz gewiß", versicherte Helene; sie hätte das Gespräch gern fortgesetzt, — denn den erschrocknen Blick ihres Verlobten konnte sie nicht sehn, — wenn nicht in dem Augen­ blick gerade Gifford den Gartenpfad heraufgekommen wäre, um Tante Ruth's Bestellung auszurichten. „Du kommst zu rechter Zeit, mein Junge," rief ihm Prediger Howe entgegen; „Helene hat ihrem Bräutigam eben einen schönen Begriff ihrer Orthodoxie gegeben. Komm, bestätige mir, daß Ihr sonntäglich von mir ganz gut be­ raten werdet." Gifford lachte. „Was nennt man denn Orthodoxie, Herr Prediger?" „Nun, was wir glauben, was wir glauben! Wirklich, lieber Ward, meine übrige Herde ist nicht so ketzerisch in ihrer Gesinnung."

12 „Ich kann mir kaum Rechenschaft von dem oblegen, was ich eigentlich glaube," bemerkte Helene leichthin. „Da haben wir's; das wird ja immer schlimmer. Lenchen, wenn ein kluges, ich könnte fast sagen ein geist­ reiches Mädchen solch einen Gemeinplatz ausspricht, ist es ein Zeichen, daß sie übermüdet ist. Du und Luise, Ihr habt einen heißen Tag hinter Euch, also gute Nacht! Gott segne Dich, mein Herzenskind!" —

Zweites Kapitel. Das Pfarrhaus in Ashurst, ganz von wildem Wein und Schlingpflanzen berankt, lag mitten in einem großen Garten, dessen überquellende Fülle der hohe, umgebende Zaun nicht bannen konnte. Flieder und Jasmin nickten hinüber; Kletterrosen streuten Blüten und Blätter auf den Weg, und die überhängenden Zweige der Obstbäume wur­ den von den Vorübergehenden geplündert. Das Haus, von Sandstein erbaut, hatte im Laufe der Jahre einen warmen, rötlichen Ton bekommen, als wenn es dauernd die Strahlen der untergehenden Sonne sesthielte. Am Abend des Hochzeitstages ging Prediger Howe langsam den Kiesweg auf und nieder, von Max, dem alten Wachtelhund, gefolgt. Luise, die ihren Vater ein Weilchen von ihrem Giebelfenster aus liebevoll beobachtet hatte, war eben die Treppe hinuntergelaufen und zu ihm getreten. „Weißt Du, was ich wissen möchte," sagte sie, ihn verstohlen unterfassend, „ob Wards wohl einen Garten haben. Ich wünschte es so sehr; denn Helene hat frische Blumen so gern. Aber ihr Bräutigam sprach ja nie von

13 solchen Dingen; wie im Traum ging er umher, vollkommen beseligt, wenn er sie überhaupt nur ansehn durfte." „Nun, das ist doch ganz in der Ordnung," antwortete ihr Vater, „möchtest Du es etwa anders haben? Liebes Kind, Du kannst Johannes Ward eben nicht leiden. Dabei ist er wirklich ein guter Mensch; ja gut ist das richtige Wort für ihn. Freilich sein Heiligenschein ist etwas unbequem; aber das liegt an uns," setzte er offen hinzu. „Ach, ich werde ihn schon liebgewinnen, wenn er nur Helene glücklich macht." Der Vater schüttelte den Kopf: „Verstehe schon; ja abgeschmackt war es, was er gestern über die Berechtigung der Sklaverei sagte. Dabei immer dieser Aufwand von Ueberzeugungstreue! Eins aber möchte ich Dir raten, Luise, laß niemand merken, daß Du mit Helenen's Wahl nicht einverstanden bist; es ist immer taktlos, kleine Familien­ mißhelligkeiten an die große Glocke zu hängen. Wozu? Du solltest es nicht einmal Tante Adele verraten." Er bückte sich, um etwas Unkraut auszujäten, das um den Stamm eines vollblühenden Hollunders wuchs. „Siehst Du," sagte er, „heute vor acht und dreißig Jahren habe ich den mit Deiner guten Mutter gepflanzt; wir waren gerade von unsrer Hochzeitsreise zurück; es war ein Ableger aus ihrem elterlichen Garten. Du lachst mich aus? Wahr­ scheinlich habe ich es schon hundertmal erzählt; ja solch ein Tag, wie der heutige weckt Erinnrungen." Sie hatten die Veranda erreicht, und während sich der Vater behaglich in den Rohrstuhl zurücklegte und eine Ci­ garre anzündete, setzte sich Luise auf die Treppenstufen und bohrte mit des Vaters Spazierstock Löcher in den Kies. Das Knarren der Gartenthür, näherkommende Schritte,

14 das Flackern einer Laterne meldeten Besuch. Den Garten­ weg herauf kamen die beiden Fräulein Woodhouse mit ihrem Neffen. Er glich einigermaßen einem Opferlamm, das zur Schlachtbank geführt wird; denn jede der beiden Tanten hielt einen seiner Arme krampfhaft fest, von dem holden Wahn befangen, ritterlich geführt zu werden. Zn Ashurst leistete die Freundschaft viel an Unbefangen­ heit. Denn obgleich diese Drei bereits den größten Teil des Tages im Pfarrhause zugebracht hatten, hülfreich be­ müht, die Räume mit Blumen zu schmücken, feine Schüsseln hcrzustellen, den Tisch festlich zu decken und endlich die teilnehmendsten Trauzeugen abzugcben, so fanden sie es doch angebracht, noch einmal Abends vorzusprcchen, nach­ dem die Toilette gewechselt war. Fräulein Deborah besaß einen stark ausgeprägten Sparsamkeitssinn, der ihr große Befriedigung gewährte. Sie würde es geradezu als ein Unrecht empfunden haben, ein Festgewand länger als geboten zu tragen; Fräulein Ruth, eine Künstlernatur, wie sie sich gern nennen ließ, liebte Tand und Puh; nur widerwillig war sie daher dem Beispiel der Schwester gefolgt. Bald saßen sie gemütlich in der offenen Halle des Pfarr­ hauses und besprachen mit ihren lebhaften, dünnen Stimmen die Ereignisse des Tages. Daß Luise und Gifford sich in die duftige Stille des Gartens geflüchtet halten, fiel nicht besonders auf. Gifford nnd Luise waren mit einander aufgewachsen; sie hatten sich als Kinder oft gezankt und unter Thränen und Küssen wieder versöhnt; in späteren Jahren sich von neuem ent­ zweit und wieder vertragen, wenn auch ohne Thränen und Küsse: Jederzeit aber waren sie die besten Freunde ge­ wesen. Dann kam die Zeit der Trennung; Gifford bezog

15 die Universität, und Luise sah ihn nur gelegentlich der Ferien; fast jedes Widersehn bereitete ihr eine Enttäu­ schung. „Gifford ist jetzt so entsetzlich höflich, ganz anders, wie früher," klagte sie ihrer Cousine. Als er sie einmal um eine Rose aus ihrem Strauße bat, fragte sie ganz verwundert: „Warum pflückst Du Dir nicht selber eine, Giss?" Und mit dem Ausdruck innerer Entrüstung auf Stirn und Wangen, der sie ihrem Vater lächerlich ähnlich machte, lief sie zu Helene: „Er ist nicht mehr der alte Giff; er will mich jetzt wie eine junge Dame behandeln!" Seitdem er aus Europa heimgekehrt war, hatte er es vollends mit ihr verdorben. Nur ein Band hielt bei aller Entfremdung die beiden jungen Herzen zusammen: Ihre Liebe zu Helene. Zu ihr kamen sie mit allen Streitig­ keiten — und es waren deren unzählige, — ihr Urteil wurde unbedingt von Luise anerkannt, obgleich es meistens zu Gifford's Gunsten ausfiel. So empfand Luise heute, da ihr Herz unter bitterm Abschiedsweh litt, Gifford's Sympathie als wohlthuend. Langsam wanderten die beiden zwischen den Beeten dahin, ihrem Lieblingsplatze, der alten Steinbank zu, wo sie so ost als Kinder gesessen. Zwei Stufen, ganz von Moos und Veilchen über­ wuchert, führten zu dem kunstlosen Sitz empor, dessen Rückenlehne durch den Stamm einer alten Silberpappel gebildet wurde. Das Gras war hier zu einer wahren Wildnis in die Höhe geschossen; seit Jahren wurde es nicht mehr geschnitten. Eine kleine Quelle nahm munter rauschend ihren Weg durch einen hohlen Akazienbaum, der durch das sickernde Wasser ganz grün und mosig geworden war. Luise und Gifford blieben einen Augenblick stehen,

16 um

in die duftige Ferne zu schauen; daun setzte sich das

junge Mädchen nieder. „Wann reisest Du ab, Gifford?" fragte sie.

„Noch weiß ich's nicht genau," antwortete er, „vierzehn Tage werden wohl noch vergehen, ehe ich mit allem fertig sein kann."

Er hatte sich auf die unterste Stufe gesetzt,

um ihr ins Auge zu blicken. bemerkte

Luise

ganz

„So spät?

enttäuscht.

„Ich

Wie schade!" dachte,

Deine

Abreise stände unmittelbar bevor." Gifford schwieg; er pflückte drei lange Grashalme, die er an einander knotete, während Luise zerstreut mit den Bändern ihrer Schärpe

spielte.

„Es thut mir besonders leid für Helene, daß sic Dich

in Lockhaven

nicht

gleich

nach

einer kleinen Pause.

wird," begann Luise „Natürlich werden wir Dich

finden

hier sehr vermissen; ach Gott, wie langweilig wird es ohne Helene sein!" „Ach ja," erwiderte Gifford in voller Sympathie, „cs wird Dir einsam genug vorkommen,

Luise." Wieder schwiegen beide, mit eignen Gedanken be­ schäftigt. Die weißen Blumen, die Luisen's Haar und Brust schmückten, schimmerten in der Dunkelheit, süßen Duft verbreitend.

Luise zerpflückte eine nach der andern

achtlos. „Ich begreife nicht,

daß

Du Deine

mehr beschleunigst," bemerkte sie, wäre schon seit vier Wochen

Abreise nicht

„ich an Deiner Stelle

in Lockhaven; hier ist es

doch zu langweilig! Wenn ich ein Mann wäre, ich würde darauf brennen, in die Welt zu kommen!"

„Nun,"

sagte Gifford

in seiner

langsamen Weise,

„Lockhaven ist nicht gerade die Welt." „Ich dachte auch," fuhr sie lebhaft fort, „Du würdest

17 gerne gehen; denke doch,

Helenen's wegen

welche Freude

für sie!" Er hatte die Halme zu einem Ring

Gifford lächelte. geformt;

jetzt probierte er ihn seinem kleinen Finger auf:

„Helene ist

es ganz gleich,

ob ich in Lockhaven bin oder

nicht; sie hat ja ihren Mann." „Das glaube ich nicht,"

wohl Johannes Ward Sie ist

rief Luise eifrig,

ihr je Vater und

„wie sollte

mich

ersetzen?

gewiß erst glücklich, wenn einer von zu Hause in

ihrer Nähe ist."

„Ich weiß es trotzdem besser", beharrte Gifford ruhig. „Wenn

man seinen Nächsten und Liebsten neben sich hat,

kann man sogar in der Wüste Sahara zufrieden sein."

„Jedenfalls scheinst Du eine sehr hohe Meinung von

Helenen's Mann zu haben", bemerkte Luise mit Empfind­ lichkeit.

„Ich habe

sehr viel Sympathie für ihn,"

auch

bestätigte Gifford, „aber Du,

Luise kannst ihn wohl nicht

„O doch,

fiel sie ihm fast heftig ins

leiden?" Wort,

o doch,"

„er ist mir nur für Helene nicht gut genug;

wahrscheinlich würde ich das von jedem sagen, reizt es mich, daß er so besonders ist."

aber

und dann

Gifford antwortete nicht; er hatte einen andern Gras­ halm gepflückt und versuchte mit diesem seinen Ring kleiner

zn machen.

„Ich

fuhr Luise fort,

sollte

es

„aber ich

sagen, als gerade Dir."

vielleicht nicht aussprechen,"

würde es auch keinem andern

„Du solltest es mir auch nicht

sagen", antwortete er mit leisem Vorwurf.

„Warum nicht? Dars man seine aufrichtige Meinung nicht aussprechen?"

„Das wohl," erwiderte Gifford, „aber

es kommt mir wie eine Entweihung vor, über die beiden zu reden, deren Glück so übergroß ist."

Luisens Empfindungen waren geteilt: der leise Tadel, 3cbannet' Ward. 2

18 den sie aus seinen Worten heraushörte, verletzte sie, und doch bewunderte sie sein warmes Gefühl. So ließ sie den Kopf sinken und meinte etwas beschämt: „Ich werde nicht wieder davon anfangen; vielleicht gewinne ich ihn auch bei näherer Bekanntschaft lieber." „Versuch' doch mal, ob er Dir paßt, Luise," sagte er und reichte ihr den kleinen Grasring, den sie lächelnd auf­ probierte. Gifford folgte ihrer Bewegung mit gespannter Auf­ merksamkeit. „Jedenfalls", fing sie wieder an, „bin ich sehr froh, daß Helene Dich erreichbar hat. Du mußt mir recht viel von ihr schreiben, sie selber thut es doch nicht." „Ach ja," rief er lebhaft, „wenn Du es mir erlaubst, schreibe ich Dir mit tausend Freuden!" Luise machte große Augen: Nun behandelte er sie wieder so feierlich und förmlich. „Wenn ich Dir's erlaube?" fragte sie ungeduldig. „Natürlich rechne ich darauf; Du mußt mir alles erzählen, was passiert. Was hätte ich sonst davon, in Lockhaven einen guten Freund zu wissen?" Die Hände über den Knieen gefaltet, bückte sie sich zu ihm nieder. Er wich ihrem Blick aus und sagte einen Strauß Veilchen pflückend: „Ich will Dir sagen, Luise, was ich meine; ich kann Dir nicht eher schreiben, bis Du alles weißt; es mag eine Dummheit sein, aber ich muß es endlich von der Seele haben." „Was denn?" fragte Luise beklommen. „Ach," rief Gifford leidenschaftlich, indem er seine hohe Gestalt aus der Dunkelheit aufrichtete, „ich kann es nicht länger aushalten, daß Du ewig von unsrer Freund­ schaft sprichst. Siehst Du, Luise, ich liebeDich ja so unendlich."

19 Einen Augenblick war alles still; neben ihnen klang nur die leise klagende Stimme der Quelle. Dann sagte Luise tief bekümmert: „Ach Gifford!" „Ja, ich liebe Dich", beteuerte er wie verzweifelt. „Ich weiß ja, daß Du es nie gemerkt hast; wie sollte ich es Dir auch zeigen, da Du so ahnungslos warst. Aber Luise, hast Du mich denn nicht auch lieb, ein klein wenig?" Luise lehnte sich gegen den Pappelbaum zurück und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. Seine liebende Für­ sorge für sie war so groß, daß er darüber seine Herzens­ angst vergaß. „Verzeih', daß ich Dich so erschreckt habe," sagte er, sich neben sie setzend, „aber ich konnte nicht anders han­ deln; ehe ich meine neue Thätigkeit beginne, mußte ich Gewißheit haben. Ach Luise, nur ein Wort: Darf ich hoffen?" Sie schwieg; und in freudigerem Tone wiederholte er: „Willst Du mir nicht antworten? Darf ich?" „Ach Gifford", rief Luise, sich mühsam ermannend und ihm ihr thränenfeuchtes Antlitz zukehrend, „Du weißt es ja, wie lieb ich Dich habe und wie gut ich Dir immer gewesen bin, nur nicht, so wie Du es meinst, und Gifford, Dir geht's ebenso; es ist nur Einbildung." „Nein," sagte er bestimmt, „es ist keine Einbildung; ich weiß noch so genau, wann es mir klar wurde, daß ich Dich liebte: Als ich zuerst von der Universität zurückkam. Ich wollte es Dir ja so gerne vor meiner Reise sagen, aber Du merktest es nicht. Deshalb wartete ich bis heute und ich werde Dich immer lieben und nie von Dir lassen." „Nein Gifford," rief Luise" voll innerster Betrübnis, 2*

20 „das darfst Du nicht! Siehst Du denn nicht ein, daß Du mir wie ein Bruder bist? Bitte, bitte, laß uns alles ver­ gessen, damit es wieder so wird, wie früher." „Das ist unmöglich," erwiderte er leise und freund­ lich. „Aber quälen will ich Dich nicht; so werde ich auch nicht wieder davon anfangen, wenn Du mir Schweigen auferlegst." „Ja das thue ich," rief sie in erleichertem Ton. „Es wird nie etwas daraus werden; darum vergiß, was heute gesprochen!" Als sie sah, daß er nur abwehrend das Haupt schüttelte, sprach sie noch dringender: „Laß uns doch Freunde bleiben; siehst Du, Gisford, ich habe Dich wirklich so sehr gern!" Ein bittres Lächeln umspielte seine Lippen. Die Freundschaft trennte sie mehr, als es der Haß je vermocht hätte. — „Und daun," fuhr das junge Mädchen fort, die so gern ihre Unfreundlichkeit und Unsicherheit verdeckt hätte, „und dann habe ich ja so viele Eigenschaften, die Du nicht leiden kannst: Weißt Du nicht, wie viel Du immer an mir auszusetzen hast?" „Ja," bekannte er offen; „aber wenn ich Dich nicht so lieb hätte, würde ich nicht so an­ spruchsvoll sein." Schweigend richtete Luise ihren Kopf empor, er sah, wie sie in der Erregung mit ihren Fingern spielte; sie hatte vergessen, den Grasring abzuziehn. „Es thut mir namenlos leid, Giff," sagte sie endlich, das peinliche Schweigen unterbrechend, „wirklich, ich kann cs mir selber nicht verzechn." „Dazu hast Du keinen Grund," versicherte er freund­ lich, „quäle Dich nicht mit Vorwürfen; die Liebe zu Dir macht mich besser und glücklicher und giebt meinem ganzen Leben einen Sporn. Nur etwas sollst Du mir versprechen."



21



„Was denn?" fragte sie zögernd, fügte dann aber in vollstem Vertrauen hinzu: „Was in meinen Kräften steht will ich Dir zusagen." Sie hatte sich aufgerichtet und stand eine Stufe über ihm. Er blickte auf ihre unruhigen, kleinen Hände, ergriff sie aber nicht, sondern sagte nur: „Sollte je der Tag kommen, da Du mir Hoffnung geben kannst, so sage es mir! Ich werde nie wieder darauf zurückkommen; denn ich sehe, daß es Dich unglücklich macht. Aber, lieben werde ich Dich ewig, sei es auch schweigend und in der Ferne. Also willst Du mir versprechen, wenn je Deine Gefühle für mich andre werden, es mir zu sagen?" „Das will ich gern", — rief sie, froh und erleichtert» etwas gewähren zu können. „Aber glaube mir, der Tag wird nie kommen." „Versprich es mir trotzdem!" bat er. „Du hast mein Wort", flüsterte sie ernsthaft. Er schaute ihr einen Augenblick fest ins Auge. „Gottes Segen über Dich, Du Gute!" murmelte er. „Ach Gifford!" rief das junge Mädchen, und in plötz­ licher Hingebung neigte sie sich zu ihm und drückte ihm einen leisen Kuß auf die Stirn. Dann schritt sie schnell an ihm vorüber, dem Hause zu, halb erschreckt und doch innerlich zufrieden mit dem, was sie gethan. Gifford stand noch einen Augenblick still, andächtig das Haupt geneigt, als habe er eine Segenspendung empfangen; dann wandte er sich um und folgte ihr.

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Drittes Kapitel. Luise Howe's Gemüt war an jenem Abend seltsam er­ regt: Die Empfindung stiller Befriedigung, leiser Wehmut, mit der jedes Mädchenherz der ersten Liebeserklärung lauscht, zitterte durch ihre Seele; daneben regte sich das beschämende Bewußtsein, den alten Freund gekränkt zu haben. Warum mußte aber auch Gifförd solch' thörichtes Zeug reden und sie zu dieser Antwort zwingen! Ihr war es doch nur darum zu thun, die gute, alte Freundschaft aufrecht zu erhalten. Immer reichlicher flössen ihre Thränen; zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sich Luise in ihrem eignen Herzen nicht zurechtfinden: Gewiß, alles kam nur daher, daß Helene fort war; ja sie hatte ein volles Recht, sich die Erleichterung heißer Thränen zu gönnen. Aber Luise war jung. Am nächsten Morgen, als sie ihr Fenster öffnete, fühlte sie volle Lebensfreudigkeit in ihrer Seele jauchzen. Sie beugte sich hinaus, um den neugierigen Kletterrosen zum Trotz die Fensterladen anzu­ haken; ein Regen frischen Taus netzte ihr Haar und Hals. Entzückt lauschte sie einen Augenblick den hellen Tönen eines Rotkehlchens, erfüllt von jener Wonne des Daseins, die vielleicht die äußerste Selbstlosigkeit ist, weil ihr jedes Bewußtsein individueller Freude sehlt. Leider aber mußte auch Luise die alte Erfahrung machen, daß dergleichen Stimmungen nicht vorhalten. Lähmend stieg in ihrer Seele die Erinnerung an den ver­ gangenen Abend auf, und mit bekümmertem Antlitz ging sie an ihr Tagewerk: Daß es heute ein reichliches gab, war ihr eben recht. In Ashurst herrschte noch die alte, gute Sitte, daß

23 jede Hausfrau ihr bestes Glas und Porzellan eigenhändig besorgte; mochte das Hausmädchen noch so tüchtig, noch so bewährt sein; mit dieser ehrenvollen Arbeit wurde es nie betraut. So machte sich auch Luise eifrig daran, Taffen und Teller zu spülen, und dann Stoß für Stoß in das Buffet einzuschließen. Mit tausend Stetigsten sah Hanna, die alte Wirthschasterin zu, wie schnell ihre junge Herrin alle die feinen Sachen bei Seite brachte. Das große Eßzimmer des Pfarrhauses war rings herum mit dunklem Holz getäfelt; trotzdem erschien es hell und freundlich; denn die weißen Gardinen an dem breiten Eckfenster waren allezeit bei Seite geschoben, da Prediger Howe die Sonne liebte. Auf dem Kamin stand eine Vase mit weißem Flieder; die große Punschbowle auf dem An­ richtetisch war mit Rosen geschmückt. Ueber den Thüren prangten Hirschgeweihe; an den Wänden hingen Stillleben, und das Bärenfell auf dem Fußboden war dem Besitzer eine liebe Jagderinnerung. Luise war jetzt beschäftigt, die schlanken, farbigen Weingläser, den besonderen Stolz ihres Vaters abzutrocknen; prüfend hielt sie jedes einzelne gegen das Licht, bevor sie es in den Eckschrank stellte. Sie war nicht mehr so eilig bei ihrer Arbeit; das Aufräumen war fast beendet, und sie fürchtete sich vor dem Augenblick, der sie müßig finden würde. Ihre Tante Adele hätte sie sicherlich saumselig ge­ scholten; aber Fräulein Deborah, die eben gekommen war, um ihre Hülfe anzubieten, fand gemessene Bewegungen bei einem jungen Mädchen viel feiner. „Aber nun laß mich auch helfen", sagte sie, ihre Handschuhe ausziehend und jeden einzelnen Finger gerade zupfend. „Wirklich, Fräulein Deborah," versicherte Luise

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„ich habe nichts mehr zu thun; eben wollte ich „Ach," meinte Fräulein Deborah sorgenvoll, „wenn nur Gifford's Schränke immer lächelnd,

Schrank abschließen."

meinen

hübsch in Ordnung find; Deine machen Dir und Hanna

alle Ehre. Es kommt alles darauf an, was er für ein Mädchen bekommt; man kann die Sachen so verschieden ansehen.

Ich habe alles bestens ausgeschrieben; aber wenn

es noch Zeit wäre, würde ich Helene doch bitten, die Sache persönlich zu überwachen. „Ich denke, Gifford will erst in 14 Tagen abreisen?" fragte Luise ganz überrascht. „Ja, wir haben es auch gedacht," erwiderte Fräulein Deborah, ihren Kopf schüttelnd, so daß die kleinen, grauen Löckchen tanzten, „aber gestern Abend sagte er Plötzlich,

er wolle doch gleich fort, d. h." fügte sie sich verbessernd hinzu, „Ruth und ich, wir sind der Ansicht, daß es so am besten für ihn ist; morgen reist er." Luise schwieg. „Ich will Dir etwas sagen," fuhr Deborah leiser fort, ,/der gute Giff ist innerlich nicht glücklich; Du natürlich

wirst es nicht bemerkt haben;

aber mir entgeht so etwas

Er ist seit einiger Zeit gedrückt."

nicht.

„Ich habe wirklich nichts davon gemerkt", antwortete Luise ausweichend. „Das wäre auch kaum schicklich; für mich ist es aber nicht überraschend; mein Lieblingsgedanke ist es immer ge­ wesen, daß die beiden, — ich meine Helene und Gifford, — ein Paar würden;

darum wundert es mich garnicht,

ihn

seit seiner Rückkehr so verändert zu finden, obgleich er ja durch

mußte.

meinen Brief auf die Verlobung vorbereitet sein Sie hätte übrigens ganz gut noch ein paar Jah:e

warten können!" Luise's Erstaunen bei

diesen Worten war so

daß fie ihr Handtuch fallen ließ,

gro;,

eine Unachtsamkeit,

die

25 ihr einen vorwurfsvollen Blick von Fräulein Woodhouse zuzog. „Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß unser lieber Giff sich sehr lebhaft für sie interessiert hat; ich denke aber, er wird es überwinden, Männer Pflegen über solche Dinge schneller Hinwegzukommen. Uebrigens würde ich gegen keinen Andern über die Geschichte reden; aber Gifford steht Dir ja nahe wie ein Bruder." „Ja gerade wie ein Bruder," erwiderte Luise hastig; „aber ich meine doch, ich müßte etwas davon bemerkt haben." „Bewahre, bewahre, mir selbst ist es erst gestern Abend so recht klar geworden; heute ist er schon wieder vergnügter; ich kenne das, bei Männern haftet dergleichen nicht. Wer weiß, ob er sich nicht sehr bald in Lockhaven in ein nettes Mädchen verliebt; bekanntlich sind verwun­ dete Herzen immer die empfänglichsten. Freilich", fügte Taute Deborah offenherzig hinzu, „ob eine Liebe, die durch Opposition gegen das Schicksal entfacht ist, sehr viel Dauer verheißt, ist mir eigentlich zweifelhaft." Sally kam, um Handtuch und Tassenwanne zu holen, und Luise blickte nach neuer Arbeit umher. Fräulein Deborah's Geschwätz war ihr unerträglich; sie empfand es als wahre Erleichterung, als Hanna daran erinnerte, daß die geborgten silbernen Löffel noch nicht zu Frau Dale zurück­ gebracht waren. „In Ordnung sind sie, ich habe sie selber nachgezählt," versicherte die alte Wirthschasterin, „Sally hätt' ich das nie überlassen dürfen; Frau Dale ist viel zu eigen; sie würde gleich denken, wir hätten sie verwechselt." Fräulein Deborah nickte: „Höchst wahrscheinlich, Frau Dale hat gute Augen; ich gehe jetzt und Fräulein Luischen begleitet mich ein Stückchen; dann kann sie die Löffel gleich abgeben."

26 Beide machten sich aus den Weg; Fräulein Woodhouse plauderte vergnüglich weiter; die arme Luise hörte nur mit halbem Ohr hin, ihre Gedanken nahmen einen andern Flug; wie froh war sie, sich endlich am Hause ihrer Tante Dale verabschieden zu können. Dem Dale'schen Hanse war eine gewisse kühle Statt­ lichkeit eigen, die jeder empfand, der durch das steinerne Eingangsthor mit den drohenden Sphinxen schritt. Unten waren die Fensterläden stets halb herüntergelasien; denn Frau Dale haßte verblaßte Teppiche; die Zimmer des ersten Stockwerkes wurden durch das weitvorspringende Dach der Veranda verdunkelt. Kahl ragten die Mauern empor, keine Schlingpflanze wurde geduldet, kein Baum wiegte seine Krone, kein Strauch breitete Zweige aus; nur ein einsames Teppichbeet unterbrach mit wundervollen Schnörkeln den sorgfältig gehaltenen, kleinen Grasplatz vor dem Hause. Freundlicher als die Fa^ade sah die Ostseite aus, nach welcher das Zimmer des Hausherrn lag. Sein Fenster war mit Ephcu umsponnen und hatte den Blick auf Buchen, Lärchen und eine hübsche Hecke, die das Stall­ gebäude verdeckte. Aber das waren mühsam errungne, widerstrebend gewährte Konzessionen. „Ich kann unordentliche Gärten nicht ausstehn," pflegte Frau Dale zu sagen; „Gärten, in denen alles durchein­ ander wächst, Blumen, Bäume, Sträucher sind mir ein Greul! Wie sich Ruth und Deborah auf ihrem verwilderten, alten Grasplatz wohlfühlen können, ist mir rätselhaft. Aber natürlich lernt man erst ordentlich wirtschaften, wenn man verheiratet ist." Luise traf ihre Tante in dem großen Vorderzimmer, beschäftigt Patience zu legen. Sie saß auf einem geradlehnigen Stuhl, — denn für bequeme Sitze hatte Frau



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Dale nichts übrig, — vor einem Spieltisch, dessen Kante mit Perlmutter und Elfenbein eingelegt war. Dreizehn Kartenpäckchen waren mit der größten Genauigkeit darauf ausgebreitet. „Nun Luise?" sagte sie, als ihre Nichte eintrat. „So, Du bringst die Löffel zurück?" Sie unterbrach sich, um mit gerunzelter Stirn und gekniffnen Lippen eine Karte anfznheben, sehr in Zweifel, wohin sie dieselbe legen sollte. „Ich sitze hier nämlich auf der Lauer", erklärte sie ihrem Besuch. „Ich muß gleich in die Küche, um nach meinem Kuchen zu sehn. Betty wurde heute früh zu ihrer kranken Mutter gerufen; deshalb liegt auf mir die ganze Last. Daß auch Dienstboten und ihre Verwandten sich für ihre Krankheiten immer den ungeeignetsten Augenblick aussuchen!" Sie zählte die Löffel nach und wandte sich dann wieder ihrem Spiel zu. Vielseitig genug machte sie trotzdem Unterhaltung und unterließ nicht, ihre Nichte auf Ver­ schiedenes aufmerksam zu machen, was bei der Hochzeit nicht comme il saut gewesen wäre. Wie der Garten, machte auch das Zimmer einen frostigen Eindruck. Luise dachte im stillen, als sie ihre Tante so einsam und feier­ lich Karten spielen sah, ob sie wohl irgend einen Aerger gehabt hätte. Das Hochzeitsthema in seinen Einzelheiten, das Luise so glühend interessiert hatte, die Toiletten, das Mahl, die Geschenke, das Wetter, alles schien Tante Adele kaum zu rühren. In ihren Augen war alles zweifelhaft, sogar das Glück des jungen Paares. „Ich hoffe, die Sache wird sich machen; ganz sicher bin ich freilich nicht; Ward ist Helene gegenüber viel zu schwach; das taugt nichts; im Hause soll der Mann das Regiment führen und nicht immer an der Schürze seiner Frau hängen. Na hoffentlich", schloß Frau Dale, der plötzlich ihre äugen-

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blickliche Lage einfiel, „hat Helene gleich ein ordentliches Mädchen; davon hängt das ganze Glück ab. Wenn Betty nicht heute fortgemußt hätte, wäre ich schon bei Dir ge­ wesen, Luise; ich weiß, wie viel man an dem Tage nach einem solchen Fest zu thun hat." „Du bist sehr freundlich, liebe Tante," versetzte Luise; „aber ich bin ganz gut fertig geworden; Fräulein Deborah war auch schon da, um zu helfen; aber wir hatten schon alles aufgeräumt." „Fräulein Deborah?" fragte Frau Dale gedehnt, „nun es ist mir lieb, wenn sie sich bethätigt; unpraktisch bleibt sie freilich immer. Du bist gut daran, Hanna neben Dir zu haben. Warte nur mein Kind, bis Du selbst Hausfrau bist; dann wirst Du erfahren, was man alles auf seinen Schultern hat." „Ach mit der Hausfrau hat's gute Wege", rief Luise lächelnd. „Du bist und bleibst ein dummes Ding!" antwortete Frau Dale sehr bestimmt. „Als ob man nicht viel glück­ licher daran wäre, wenn man verheiratet und versorgt ist. Allerdings muß ich bekennen, Deine Aussichten hier sind nur geringe; es giebt eigentlich hier nur einen Heiratskandidaten, und der verläßt jetzt Ashurst; freilich steht Ihr Euch ja wie Geschwister. Aber mit dem Heiraten ist es mein voller Ernst; wahres Glück giebt es nur in der Ehe." „Aber, erlaube liebe Tante, ich muß das doch am besten wissen, ob ich glücklich bin oder nicht; ich wünsche mir nichts anders, als bei Väterchen das Regiment zu führen, wie er es immer nennt." „Unsinn!" sagte Frau Dale mit großem Nachdruck. „Es wäre tausendmal besser, wenn Du einen Mann hättest, über den Du das Regiment führen könntest. Für mich sind die Armen und Verlassenen im Kirchengebet immer

29 die alten Jungfern; sie sind meiner Ansicht nach viel schlimmer dran, als die Witwen und Waisen, von denen immer so viel Aufhebens gemacht wird. Wenn Dein Vater Dich immer daheim behalten will, ist er eben ein Egoist. Glaubst Du, daß meine Töchter hier einen Mann gefunden hätten? Ich habe die größte Lust, Deinen Vater zu veranlassen, Dich für nächsten Winter in die Stadt zu schicken." „Ach liebe Tante, um alles in der Welt sage ihm das nicht; ich bin so glücklich und zufrieden in Ashurft!" „Sei nicht so albern," erwiderte Frau Dale in ruhi­ gem Ton, „und bilde Dir nicht ein, daß Du die einzige Person bist, die Deinen Vater lieb hat. Ich rede doch nur zu Deinem und seinem Besten; denn natürlich würde Dein Glück das seinige steigern." Sie schwieg, um ihre Karten zujammenzuschieben und neue Häufchen daraus zu machen; trotzdem war es ihren scharfen Augen nicht entgangen, daß Luise bei ihren letz­ ten Worten ärgerlich den Kopf geschüttelt hatte, und sie fuhr vorwurfsvoll fort: „Mit Deinen Manieren bin ich durchaus nicht einverstanden, liebe Luise; glaube mir, meine Töchter waren viel besser erzogen; aber es kommt nur da­ her, daß Du so wenig unter andre Leute kommst. Aber dabei fällt mir eine Neuigkeit ein, die Dich interessiren wird. Erinnerst Du Dich noch an Arabella Forsythe? Nein? Nun es ist auch schon sehr lange her, daß sie hier war; ich glaube 15 Jahre. Sie ist eine geborne Robinson; ihr Vater war ein reicher Knopffabrikant; die Familie ge­ hörte nicht zu den feinsten; immerhin waren es gute und ehrenhafte Leute. Arabella ist schon seit Jahren Witwe und lebt mit ihrem einzigen Sohn zusammen, einem sehr gebildeten, jungen Manne, etwas älter als Du; beide

30 wollen den Sommer hier verleben und haben das Haus nebenan gemietet. Weiß der Himmel, ob unser Nest je wieder eine so annehmbare Partie auszuweisen haben wird", fügte Frau Dale mit einem tiefen Seufzer hinzu. „Ja, allmählich taucht eine Erinnerung in mir auf," nickte Luise, ihre weiße Stirn runzelnd, „nicht wahr, eine große, schlanke Dame mit einem hübschen Gesicht?" »Ja, ganz hübsch," gab die Tante zu, „aber immer­ elegisch in ihrem Wesen; sie redet auch nur von Migräne und Neuralgie, so recht die Tochter des Knopffabrikanten. Ihren Jungen liebte sie schwärmerisch; er war auch ein bildschönes Kind." Ihr Blick verweilte prüfend auf Luise. „Ja, ich besinne mich jetzt auf ihn, — Gifford puffte ihn mal gehörig, weil er ungezogen war." „Ich furchte," erwiderte Frau Dale scharf, „daß der junge Woodhouse oft recht grob ist; aber freilich, wo sollte er feine Manieren gelernt haben; seine guten Tanten haben keine Ahnung von Erziehung." „Es ist nicht wahr, daß Gifford grob ist," rief Luise heftig. „Nun nicht direkt grob," begütigte Frau Dale, „aber jedenfalls ist ihm der junge Forsythe sehr überlegen; Gifford hat weder Geld noch Gelegenheit gehabt, sich nach der Richtung auszubilden." „Ich möchte wohl wissen, was Geld mit guten Ma­ nieren zu thun hat!" meinte Luise schnippisch. „Das verstehst Du nicht," sagte ihre Tante, „aber das kommt davon; eben habe ich einen Fehler gemacht und mir mein ganzes Spiel verdorben. Thue mir doch nur den einzigen Gefallen, Lutschen, und rede nicht immer

31 in diesem Ton von oben herab. Ich wollte doch nur her­ vorheben, daß Herr Forsythe sich jedenfalls vorteilhaft vor allen Deinen anderen Bekannten auszeichnen wird. Aber es nützt nichts, Dir etwas zu sagen, Du bleibst ein Fräulein Eigensinn! Wie ein Federkissen, solange man daraus preßt, bleibt der Eindruck; sobald man aber los­ läßt, schwupps, geht es wieder in die Höhe." Luise lachte und stand auf, um fortzugehen. „Be­ stelle nur Deinem Vater, was ich über einen Winter in der Stadt gesagt habe," rief ihr Frau Dale nach. Während sie ihre Karten fortlegte, sagte sie vor sich hin, und ein sauersüßes Lächeln ging über ihre Züge: „Wer weiß, vielleicht ist es garnicht mehr nötig." In diesem Augenblick trat ihr Mann zögernd in das Zimmer. Er trug einen geblümten Schlafrock, der von einer seidenen Schnur mit Quasten zusammengehalten wurde: sein spärliches, weißes Haar war mit einem rot­ seidenen Taschentuche bedeckt; in der Hand hielt er einen Band Novellen. „War Luise nicht hier?" fragte er, „es war mir, als hätte ich ihre Stimme gehört." „Ja wohl, sie ist eben fortgegangen," antwortete seine Frau, die noch immer vor sich hin lächelte, „ich habe ihr auch erzählt, daß Forsythes kommen wollen; es ist wirklich ein ausgezeichnetes Zusammentreffen." Was meinst Du eigentlich, Adele?" fragte Dale. „Meinen?" rief seine Frau, „was ich meine? Gott, Heinrich, Du hast doch auch gar kein Verständnis für solche Dinge!" „Ach," sagte ihr Gatte bescheiden, „Du denkst wohl, sie sollen sich verlieben?" „Nein, da hört aber alles auf!" rief sie, ungeduldig

32 mit dem Fuß stampfend, „wie kann ein vernünftiger Mann solch thörichtes Zeug schwatzen; man könnte wirklich denken, ich will das Mädchen unter die Haube bringen, und dabei giebt es kaum jemand, dem dergleichen ferner liegt, als gerade mir! Sich verlieben! Wirklich, Heinrich, ich finde diesen Ausdruck geradezu unzart. Natürlich würde ich froh sein, Luise gut verheiratet zu missen; es wäre mir auch nicht unangenehm, wenn sie den jungen Forsythe zum Mann nähme; im Gegenteil, es würde mir eine gewisse Befriedigung gewähren, da ich Arabella veranlaßt habe, das Haus nebenan zu mieten." „So, Du hast sie also veranlaßt?" „Nun ja, ich schrieb ihr, daß Ashurst für besonders gesund gehalten würde (ich kenne doch meine Leute!), ich hatte gehört, daß ihr Sohn im Herbst ins Ausland gehen wollte und dachte, wenn wir ihn nur erst hier hätten...!" „So, so!" sagte Dale.

Viertes Kapitel. Johannes und Helene Ward brachten die ersten Tage ihrer jungen Ehe in einem stillen Gebirgsthal zu. Ein Rausch unendlichen Glückes umfing die beiden; das wun­ dervolle Wetter, die Klarheit der Sommerluft, die herrliche Natur schien ihnen nur ein Abglanz ihrer eigenen inneren Glückseligkeit. Wie ein Träumender ging Johannes ein­ her: Vergessen war, was ihn doch so oft während der Verlobungszeit gequält, zu den ernstesten Vorsätzen ge­ drängt hatte: Die Pflicht, Helcnen's Seele zu retten. . Gleich bei der ersten Bekanntschaft hatte er mit Be-

trübnis, ja mit Entsetzen erkannt, wie fern sie der gött­ lichen Wahrheit stand, wie fern jeder geistlichen Erkennt­ nis. Sie erzählte nnbefangen von Onkel Archibalds reli­ giösen Anffasfungen, lachte über seine harmlosen Predigten; Johannes hörte zu und gedachte der strengen Lehren, denen er auf seiner Kanzel in Lockhaven allsonntäglich Ausdruck gab. Von „Erwählung", von „Borherbestim­ mung" ahnte Helene nichts. Seinem Glauben an die Erbsünde trat sie lebhaft entgegen: „Daß ich ein armer Sünder bin, wie wir alle, weiß ich, Herr Pastor; aber au die Erbsünde glaube ich nicht!" Und als er von der ewigen Verdammnis sprach, blickte sic ihn mit ihren ruhigen, braunen Augen ganz be­ troffen an: „Wie ist es Ihnen nur möglich, Herr Pastor, eine solche Auffassung zu verteidigen, die doch direkt mit unserem Glauben au Gottes Güte streitet?" „Ja, Fräulein Jeffrey, wir dürfe» eben nicht ver­ gessen, daß Gott nicht nur gut, sondern auch gerecht ist." „Wen» Sic wirklich glauben, daß Gott einen Men­ schen zu ewigen Höllenqualen verurteilen kann, so ist da­ mit für mich ein Glaube an die göttliche Güte unverein­ bar; ich kann mir keine schlimmere Ketzerei vorstellen, als Gottes Güte in Frage zu ziehen, und das thun wir, wenn wir ihn für grausamer ausgeben, als Menschen es je sein würden." „Und doch sagt die Bibel...", fing er an, als sie ihn unterbrach: „Damit dürfen Sie mir nicht kommen. Ich sehe in der Bibel nur ein geschichtliches, poetisches und politisches Bekenntnis der Juden." Mit einem sichern Lächeln schaute sie in sein ernstes Antlitz. „So halten Sie die Bibel nicht für eine unmittelbare Offenbarung des göttlichen Willens?" 'rbaniicc- '2'3art.

34 „Nein", erwiderte Helene. Es war nicht die Art des jungen Geistlichen, andre Leute zu verurteilen; er fragte nicht, wer sie in diesen Lehren erzogen habe; aber er ging heim bekümmerten Herzens: Wie war cs gekommen, daß dieses reine, edle Mädchen, das er so aufrichtig bewunderte, in ihrem Seelenheil so vernachlässigt geblieben war? Sie ahnte ja den Abgrund ihres Unglaubens nicht; die Wahrheit war ihr verborgen geblieben. Während er darüber sann und grübelte, überkam ihn plötzlich heiß und lodernd die Ueber­ zeugung, daß er sie liebe, wie keinen andern Menschen auf der Erde. Und doch ließ er Monate darüber vergehn, bevor er sich aufmachte, ihr von seiner Liebe zu reden. Er kämpfte einen heißen Kampf mit seinem Gewissen: Wenn er kniend für die Errettung ihrer Seele betete, fragte er sich oft, ob es nicht ein Unrecht sei, eine Ungläubige zu lieben, — eine Seele, welche die Wahrheit verschmähte. War es nicht seine heilige Pflicht, ein Weib heimzuführen, die als ein ausgewähltes Rüstzeug des Herrn ihn in den vielseitigen Auf­ gaben des Gemeindelebens unterstützen könne? Johannes Ward, eine langsame, treue Natur, sah in seinem Glauben seinen teuersten Besitz, dessen unendlicher Wert ihm für alle Zeiten feststand. Die Möglichkeit einer Entwicklung auf religiösem Gebiet, durch Zeit und Verhältnisse bedingt, war ihm völlig unverständlich. Wohl war der Wunsch nach vollkommener Erkenntnis in ihm lebendig; aber die Gnade dieser Erkenntnis war ihm ge­ worden, ein Wachstum darin undenkbar. So war es nur logisch, wenn er, von dem Gesichtspunkt ausgehend, die Bibel sei eine unmittelbare Offenbarung des Höchsten, geduldig und treu an der Presbyterianer Kirche sesthielt. Völlig verschieden davon war Helenens religiöser

35 Standpunkt. Mehr noch in der Eigenart ihrer Natur be­ gründet, als das Resultat der Erziehung ihres Onkels. Praktisches Christentum, das war Prediger Howes Losung. „Sei ein gutes Kind, Lenchen!" In diesem einfachen Satz gipfelte seine religiöse Erziehung. So ging Helene ruhig den üblichen Weg; getreulich und unbeirrt lernte sie ihren Katechismus, wurde eingesegnet, kam in eine Pension und kehrte als ein wohlerzogenes, junges Mädchen heim. Allsonntäglich hörte sie den guten Onkel predigen, sang sie fleißig im Kirchenchor mit, den Rechtsanwalt Denner so herrlich zu begleiten wußte, alles, weil es eine gute heilsame Gewöhnung war. Ihren Glauben zu Ge­ richt zu rufen, war ihr noch nie in den Sinn ge­ kommen. Erst nach ihrer Bekanntschaft mit Johannes empfand sie es, auf wie schwachen Füßen ihr ganzes Glaubens­ leben stand. Wachgcrüttelt durch feine ängstlichen Fragen prüfte sie sich im stillen, und ohne die aufstcigenden und streitenden Gedanken Zweifel zu nennen, — denn wie konnte sie zweifeln, wenn sie nie wirklich geglaubt hatte, — fing sie an, sich nach und nach eine eigene Religion aufzubauen. Liebe zum Guten schien ihr gleichbedeutend mit Liebe zu Gott. Der Himmel war die Fülle aller guten Gaben, die Hölle der Mangel jeglichen inneren Friedens. Es dünkte ihr, als könne beides dem Menschen schon auf Erden verliehen werden. Sehr kurz, sehr einfach war dieser Glaube und dennoch er die Pforte, durch welche Kummer und Geduld einziehen sollten, — das Leid dieser Welt, das Geheimnis der Sunde und die Hoffnung des Friedens. Einzelheiten suchte Helene nicht; ihr genügten die Grund­ gedanken.

36 Johannes ahnte nichts von der Wandlung, die sie aus dem ruhigen Kinderglauben hineinführte in den Nebel der Unklarheit, der Zweifel. Nach langem Kampfe hatte er sein nagendes Gewissen, das ihm immer wieder den Spruch vorhielt: „Haltet nicht zu den Ungläubigen!", ver­ söhnt, versöhnt durch den heiligen Schwur, nicht ruhen, nicht rasten zu wollen, bis er Helenens Seele, die ihm teurer war, als die eigne, errettet habe. Ja, es war seine Pflicht, sic der Atmosphäre religiöser Gleichgültigkeit zu entziehen, sie zum wahren Licht und Leben zu geleiten. So gewann die Liebe den Sieg; auf ihren Flügeln eilte er zu Helene. Er hatte nicht lange zu werben: „Ich habe Dich längst geliebt", sagte sie, vertrauensvoll zu ihm aufschauend, und Johannes war so überselig, daß jede Zaghaftigkeit aufging in dem Bollgesühl der Dankbarkeit, daß Gott ihm diese Liebe geschenkt habe. Während der Verlobungszeit hatten sich die beiden nur selten gesehen: aber auch brieflich verschwieg er ihr, was er an Hoffnungen und Wünschen für ihr innerstes Leben hegte, — er meinte, es sei besser damit zu warten, bis sie ganz sein eigen sei. Zudem führte ja die Liede die Feder, wo blieb da Raum für theologische Ausein­ andersetzungen. Aber seine Fantasie malte es sich so gern aus, wie er ihr in Zukunft die Sicherheit und Majestät der offen­ barten Religion erschließen wolle: Ja, gewiß, auch sie würde untertauchen in diesen lebendigen Quell; ihr künftiges Heim würde ein Tempel Gottes werden. — „Also morgen höre ich Dich zum ersten Mal predigen", sagte Helene am Soiinabend nach ihrer Rückkehr. „Ist es nicht sonderbar, daß ich Dich nie gehört habe, obgleich wir uns länger als ein Jahr kennen?"

37 Er saß am Pult in seinem Arbeitszimmer, das den Stempel äußerster Einfachheit trug. Sie stand neben ihm, die Hand leicht ans seine Schulter gelegt. „Wer weiß/' meinte er, zu ihr aufblickend, „ob Dir meine Predigten gefallen werden." Eine leise Schwermut verschleierte Augen und Stimme. „Ach," rief sie mit strahlender Gewißheit, „sie werden mir schon gefallen! Außerdem sind sich ja alle Predigten so ähnlich; einige vou Onkel Archibald wußte ich aus­ wendig. Der Inhalt ist ja auch immer derselbe; also kommt's doch nur auf eine gute Form an." „Den Hauptpunkt können wir nicht oft genug betonen", antwortete Johannes, „alle unbekehrten Seelen sollten täg­ lich daran erinnert werden, daß es sich um ewiges Leben oder um ewige Verdammnis handelt." „Du wirst doch nicht furchtbare Lehren verkünden?" fragte sic lächelnd. „Zuweilen ist die Wahrheit furchtbar", versetzte er sanft. Als sic hinausgegangen war, ihn seiner Arbeit zu überlassen, saß er lange in tiefes Nachdenken versunken. Nein, noch war sie nicht reif für die Worte, die ihm auf den Lippen schwebten. Nur allmählich kann ihr die wahre Erkenntnis kommen; ein zu schnelles Vorgehen würde sie dem wahren Lichte nur ferner rücken. Er legte die be­ gonnene Predigt zurück und wählte statt des drohenden Textes aus dem Ebräerbrief den Spruch: „Ihr sollt meine Söhne und meine Töchter werden, spricht der allmächtige Gott." Helene hatte das Gespräch bald vergessen. Die Liebe zu ihrem Gatten erfüllte sie so vollkommen, daß sie keine Zeit hatte, über seine Glaubenssätze nachzudenken. Mochte

38 er doch glauben, was er wollte; er gehörte ihr; das war genug. Mit einem Lächeln des Glückes auf den Lippen betrat sie ihre Küche und sah durch die offne Thür hinten im sonnigen Garten ihr nettes Dienstmädchen fleißig bei

der Arbeit. Alfaretta hatte Handtücher getrocknet und kam damit beladen den Gartenweg herauf, mit der vollen Kraft ihrer sechzehnjährigen Lunge ein Lied schmetternd. Helene lauschte den Worten: „Mein Herz, von Furchtbarem erfüllt, Denkt der verdammten Seelen, Für die der Gnadenborn nicht quillt, Die immerdar sich quälen. Vergebens dringt ihr banges Schrein Empor zu Gottes Thron; — Er steigert ewig ihre Pein, Begangner Sünden Lohn!"

„Aber Alfaretta," rief ihre Herrin entrüstet, „wie kannst Du ein so fürchterliches Lied singen?" Alfaretta blieb stehn, sichtlich gekränkt. Der Gegensatz, den die Hoff­ nungslosigkeit ihrer Verse zu ihrer eignen behaglichen Er­ scheinung bildete, reizte Helene fast zu einem Lächeln; doch fügte sie streng hinzu: „Laß mich dieses Lied nicht wieder von Dir hören." „Aber, Frau Pastor," sagte das Mädchen empfindlich, „ich übte gerade; ich singe doch im Kirchenchor mit." „Solche Lieder kannst Du doch nicht in der Kirche singen?" rief Helene ganz entsetzt. „In welche Kirche gehst Du denn?" „Na, in dieselbe, wie Sie, Frau Pastor; den Choral sollen wir morgen können." „Das muß ein Irrtum sein", sagte hastig Helene; „ich bin überzeugt, daß mein Mann die Verse garnicht kennt."

39 „Aber das ganze Lied geht so, es heißt ..." — „Ich will nichts weiter davon hören; ich habe mehr als genug," rief Helene, „ich hätte nie gedacht, daß der­ gleichen existieren könnte." Hier brach sie kurz ab; denn es wurde ihr plötzlich klar, daß die Stellung einer Pre­ digerfrau Vorsicht erheischt. Alfarettas Vater war eine gewichtige Persönlichkeit, Gemeindeältester. Aus diesem Bewußtsein heraus sprach das Mädchen ohne Scheu weiter: „Frau Pastor können also nur die Worte nicht leiden?" Sie war augenscheinlich erleichtert, daß ihr Gesang nicht beanstandet worden war. „Ja natürlich die Worte, findest Du sie denn nicht selber gräßlich?" Alfaretta, ihre dicken, rothen Hände auf die Hüften gestützt, sah Helene aufmerksam an: „Ja, Frau Pastor, ich finde sie auch gräßlich," und indem sie den Blick nach der Decke richtete, sang sie weiter, sich hin und her wiegend: „Und fdjiteU und fürchterlich erscheint Der Eiltet des Gerichts, Das; er zu ew'ger Oual vereint . . .

Ja, das klingt fürchterlich. Aber man gewöhnt sich dran. Ich habe das Lied schon so oft gesungen und mir nie etwas dabei gedacht. Und Thomas David erst! der so gottlos ist und nichts thut als Fluchen und Trinken; der hat doch auch im Chor mitgesungen, und das Lied hat ihn nicht bekehrt." Helene überließ Alfaretta ihren weitren Betrachtungen und wandte sich nach dem Arbeitszimmer ihres Mannes. Aber die Thür war verschlossen; man hört die fleißige Feder über das Papier eilen. In einem Pfarrhause aus­ gewachsen, kannte Helene zu sehr die Bedeutung wahrer

40 Predigtmußc; darum ging sie zurück. Johannes aber hatte ihren leichten Schritt gehört und machte schnell auf. „Laß nur," sagte sie ihm liebevoll winkend, „ich will Dich nicht stören." „Du störst mich nie, Helene, sage nur, was Du hast?" „Alfaretta sang ein so fürchterliches Lied und behauptete, Du hättest es dem Chor für morgen aufgegeben; es must ein Mißverständnis sein". „Weißt Du nicht, wie cs anfängt, liebes Herz?" „Ich kann es nicht wörtlich citieren; es behandelte die Qualen der Verdammten." „Jetzt weiß ich schon, welches Du meinst." Dann fügte er langsam hinzu: „Was hast Du an dem Lied auszusetzen?" Erstaunt sah sie ihn an: „Es ist sinnlos, entsetzlich!" Johannes schwieg; dann sagte er mit einem tiefen Seufzer: „Das Lied soll morgen nicht gesungen werden." „Aber sage mir nur, Johannes, warum wird ein solches Lied überhaupt noch gedruckt? Es ist doch undenk­ bar, daß jetzt noch irgend jemand buchstäblich an die Hölle glaubt?" „Alle aufrichtigen Christen glauben daran: So wahr cs einen persönlichen Gott giebt, einen Gott, der da ist, der da war und der da sein wird, so wahr giebt es eine Hölle." Helene schüttelte den Kopf. „Wir sollen Gott lieben und ihm vertrauen, aber nicht ihn für grausam halten." Johannes Antlitz klärte sich aus: „Ob er mich gleich züchtigt, so will ich doch auf ihn hoffen," sagte er mit der Einfachheit völliger Ueberzeugung. Als er wieder allein war, freute er sich doppelt seines Entschlusses, das Werk der Bekehrung nur langsam und

41 vorsichtig zu fördern. So wurde das Lied gestrichen; und der Chor fang am andern Tage den Vers: „Komm seliger Tag der Ruhe!" der ohnehin besser zur Predigt paßte.

Fünftes Kapitel. Einer alten, lieben Gewohnheit folgend, versammelten sich an jedem Sonnabend Abend Dale, Denner und die beiden Schwestern Woodhouse zu einer gemütlichen Whist­ partie im Pfarrhause. Warum gerade hier, war nicht recht erfindlich. Der Prediger verstand nichts vom Spiel, wie er offen bekannte: Möglich, daß er es durch fleißiges Zu­ sehn lernen wollte. Luise natürlich spielte niemals; denn wenn einer der vier Teilnehmer fehlte, war Tante Adele mit Freude bereit einzuspringen. Luisen fiel an den Spiel­ abenden die Rolle der freundlichen Wirtin zu. In Afhurst galt es für das schöne Vorrecht der Jugend, ältere Leute bedienen zu dürfen. Zwar erbot sich Denner jedesmal, Luise zu helfen, wenn sie am Ende des ersten Rubber aufstand, um Wein und Kuchen zn bestellen, aber hätte sie je seine Hülfe an­ genommen, so wäre er aufs äußerste erstaunt gewesen. War doch Luise bis auf den heutigen Tag ein Kind in seinen Augen. Die Jahre waren spurlos an ihm vorüber­ gegangen; große Schicksale hatte er nicht erlebt; ein Tag war so sacht dahingeschlichen wie der andere. Alles war beim Alten geblieben: Was Wunder, daß er die Flucht der Zeit nicht empfunden, daß er sich und seine Altersgenossen, obgleich das zweiundsechzigste Jahr sie bereits gegrüßt, für Leute in den besten Jahren hielt.

42 Er hatte seine Arbeitskraft nicht allzusehr anzuspannen: Man lebte in Äshurst schlecht und recht; Prozesse kamen selten vor, und die Testamente, welche von Denners Vater herrührten, blieben unangefochten. Trotzdem hatte Denner durchaus die wohlthuende Empfindung, sein Dasein nach jeder Seite hin auszufüllen. Erstlich übte er viel auf der alten Orgel in St. Michael; dann mußte er täglich nach dem Mittagessen seinem kleinen Neffen lateinische Vocabeln über­ hören; nicht zu unterschätzen war ferner die Mühe, welche ihm seine Angelgeräte bereiteten; abends endlich, wenn Willi schlief, und Marie die alte Haushälterin am Kaminfeuer ihren Kalender las, brütete Denner über Schachaufgaben oder dachte über die letzte Whistpartie nach. Einmal in der Woche pflegte er auch nach Mercer zu fahren, um dort in einem sehr unfreundlichen Geschäftslokal auf Klienten zu warten, leider meistens ohne Erfolg. Trotz aller dieser Beschäftigungen fühlte sich der gute Denner oft sehr ein­ sam. Das Regiment der alten Haushälterin lastete schwer auf ihm. Ja, wenn er eine Frau gehabt hätte! Die Spielpartien am Sonnabend waren ihm ein wahrer Trost. Das Zimmer war so gemütlich, das Spiel so interessant. Zudem dursten die Herren rauchen, wenngleich sie sich jedesmal aufs Neue die Erlaubnis dazu erbaten, eine Erlaubnis, die jedesmal ebenso feierlich erteilt wurde. Jeder in der Gesellschaft hätte im Voraus die Worte sagen können, mit denen Denner regelmäßig sein Streichholz anzuzünden pflegte, indem er den Damen eine Verbeugung machte: „Wenn das schöne Geschlecht unsern Fehlern gegen­ über so nachsichtig ist, wollen wir uns ja nicht besseren; es ist so süß, sich verzeihen zu lassen." Der kleine Advokat rauchte eine Cigarre, während Dale eine altmodische, silberne Pfeife aus der Tasche zog,

43 die lang und dünn eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Besitzer zeigte. Die Spieler saßen auf steislehnigen Stühlen um einen Spieltisch, dessen glänzend gebahnte Platte von Sallys Fleiß und Eigenheit beredtes Zeugnis ablegte. An allen vier Ecken prangte ein silberner Armleuchter; denn der Schatten einer Hängelampe war verpönt. Es war ein heißer Augustabend, Thüren und Fenster standen weit auf, um jedem Lüftchen Einlaß zu gewähren. Mar, der Teckel, hatte sich vor dem Kamin niedergelegt, weil ihm die kalten Steine besser behagten als der warme Teppich, der den ganzen Fußboden bedeckte. Vorschrifts­ mäßige Stille herrschte, nur zuweilen unterbrochen durch einen leisen Ausruf über ein verspätetes Atout. Indes gegeben wurde, trat eine kleine Erholungspause ein, in der sich Prediger Howe, der, auf Zehenspitzen von einem zum andern gehend, allen in die Karten gesehen hatte, allerlei kritische Bemerkurgen gestattete. „Warum ließen Sie Ihren Partner in Stich, Fräulein Woodhouse? — Um alles in der Welt, Denner, wie kannst Du in der zweiten Hand einen Buben werfen!" Während einer dieser Pausen ließ Frau Dale ihr Strickzeug in den Schoß sinken und sagte: „Du hast doch heute meinen Bescheid bekommen, Archibald, daß Arabella Forsythe sich nicht frisch genug fühlte, um zur Partie zu kommen: Ich hatte ihr sehr zugeredet, Heinrichs Platz ein­ zunehmen; aber es war ihr zu viel." Frau Dale räusperte sich mit Würde; es lag ihr durchaus fern, ihre Freundin lächerlich zu machen. „So, so?" fragte ihr Mann erstaunt, „Du hattest über meinen Platz verfügt, davon höre ich ja das Erste, nun, Du hattest ganz Recht, es zu thun." „Selbstver­ ständlich hatte ich Recht", erwiderte Frau Dale sehr ent-

44 schieden, während der Prediger einschaltetete: „Ja, Richard Forsythe kam ja in Deinem Auftrag." Frau Dale blickte aufmerksam zu Luise hinüber, die in einer der tiefen Fensternischen saß und eifrig las. „Ich forderte ihn auf, den Abend mit uns zu verleben; aber er wollte seine Mutter nicht allein lassen." „Ganz in der Ordnung, sehr rücksichtsvoll", murmelten die Zuhörer; nur Frau Dale sagte scharf: „Nun er wußte wohl, daß hier nicht allzuviel Unterhaltung zu finden ist, und ich hätte es unter keinen Umständen zugelassen, daß Heinrich ihm etwa seinen Platz eingeräumt hätte." Dabei schweifte ihr Blick zu Denner hinüber, der deutlich ahnte, welch Schicksal ihm aus Richard Forsythe's Kommen er­ wachsen wäre, der arme Denner, er hatte niemand, der ihn in Schutz nahm! „Ich möchte nur wissen", sagte Fräulein Deborah, die ihre Karten fächerförmig ordnete und dabei alle Bilder auf die rechte Seite steckte, „warum der junge Forsythe den ganzen Sommer hier geblieben ist; es hieß doch an­ fangs immer, er wolle ins Ausland." Frau Dale nickte bedeutungsvoll, ein-, zwei- und drei­ mal und ließ wieder ihre Blicke zu Luise hinüberwanderu, die immer noch ganz vertieft in ihre Lektüre schien. „Mir kommt es fast vor", meinte Dale zögernd und seine Frau bedenklich ansehend, „als ob der junge Mann etwas launisch wäre: Heute so, morgen so!" „Rede nicht so dummes Zeug, Heinrich!" fiel ihm seine Frau gereizt ins Wort: „Es ist doch ein Zeichen großer Beständigkeit, wenn er sein Vaterland Europa vor­ zieht." Die letzten Worte sprach sie im Flüsterton; denn Denner hatte gegeben und das Spiel begann von neuem. „Ich fürchte, Herr Dale, Sie haben ganz Recht,"

45 sagte Fräulein Deborah in der nächsten Pause, „wenn Sie das Temperament von Herrn Forsythe launisch nennen; seine Mutter klagt ost genug darüber, besonders, daß er so unbeständig in seinen Herzensangelegenheiten ist, sie schwebt dauernd in der Angst, daß er eine thörichte Wahl treffen könnte. Ihre Gesundheit leidet förmlich darunter." Frau Dale warf den Kopf ärgerlich zurück; ihre Na­ deln klapperten unheildrohend. Sie bat Luise, nach dem Abendbrot zu sehen. Jedenfalls hatte diese alles gehört; aber ohne sonderliche Erregung. Der Grund, der Richard veranlaßte, seine Reisepläne aufzugeben, kümmerte sie nicht weiter; sie wußte nur eins: Solch heiterer Sommer war ihr noch nie geworden. „Ich komme mir viel jünger vor, als sonst", sagte sie, und wirklich hatte sie von ihrem täg­ lichen Gefährten einen Ton übermütiger Fröhlichkeit ange­ nommen, der sonst in Ashurst nicht üblich war. Während sie aufstand, dem Wunsche der Tante zu folgen, sagte Frau Dale: „Was hast Du für Nachrichten von Helene, lieber Archibald?" Sie wollte unter allen Umständen das angefangene Gespräch abbrechen. „Heinrich ist in solchen Dingen gar zu urteilslos," gestand sie sich, „man kann nicht wissen, was für dummes Zeug er und Deborah noch zusammenreden. Aber freilich, von ihr ist nichts andres zu erwarten." „Danke, es geht ihr ganz gut", versicherte ihr Bruder, der eben Dale und seiner Partnerin in die Karten geguckt und mißbilligend die dichten Augenbrauen zusammenge­ zogen hatte. „Gehört Ward eigentlich zur alten oder zur neuen Schule?" fragte Dale. „Ich weiß nicht, was Du damit sagen willst; jedenfalls ist er ein Fanatiker, wie er im Buch steht."

46 „Nun," bemerkte Dale, „das könnte er als Anhänger beider Schulen sein. Mir ist als einziger Unterschied ge­ nannt worden, daß Sonntags der Braten kalt oder warm gegeben wird. Darin sind sie jedenfalls einig, daß alle Andersdenkenden höllenreif sind." Das laute Lachen, mit dem Prediger Howe diese Be­ merkung begrüßte, dämpfte sich schnell, da das Spiel wie­ der anfing. Kaum aber war die Pause eingetreten, so erzählte er den Anwesenden wie sich Johannes Ward zur Sklavenfrage gestellt habe. „Könnt Ihr Euch solche bornierten Ansichten vorstellen?" rief er noch ganz heiß und rot in der ärgerlichen Erin­ nerung. „Leider konnte ich ihm damals nicht so dienen, wie ich gern gethan hätte. Ich möchte wohl seine politischen Ansichten kennen; die sind gewiß ultrakonservativ. Natür­ lich muß man bis zu einem gewissen Grade an den Tra­ ditionen festhalten; das thue ich auch; ich kann es garnicht leiden, wenn junge Leute sich für alles Neue blindlings be­ geistern, wie z. B. Gifford, der sich am liebsten Demokrat nennen hört. Nichts für ungut Fräulein Woodhouse. Nett bleibt er darum doch!" „Bitte, bitte, lieber Herr Prediger, Sie wissen in der Politik haben die Damen keine Meinung", erwiderte Fräu­ lein Deborah höflich. „Ja er sollte nie vergessen, daß sein Vater für die Union gestorben ist; aber er wird seine Ansichten schon noch ändern; Ward dagegen wird das einmal Erfaßte ewig festhalten." „Merkwürdig," sagte Denner, „nach Deiner Schilderung würde ich Ward ganz für das Gegentheil eines Konserva­ tiven halten, für einen Anarchisten." „Wie so?" fragte Howe. „Einer, der für alle seine

47 Handlungen einzig und allein den Maßstab der Bibel gelten läßt, und zwar in wörtlichster Auslegung, ohne sich auch nur im Geringsten um moderne Auffassungen zu kümmern, ist doch wahrhaftig so konservativ, wie man nur feilt kann, lieber Denner." „Das kann ich nicht zugeben", erwiderte Dale mit seiner sanften, verschleierten Stimme. „Ward wird nur so lange einer Partei angehören, als sein Gewissen es zuläßt. Und sein Gewissen ist sehr zart und empfindlich; ich glaube, er wird am liebsten eilt Kommunist sein wollen, entsprechend den ersten Lehren des Christentums. Freilich kenne ich ihn nur wenig; mein Urteil ist daher auch ein ganz ober­ flächliches." „Warum giebst Du es dann überhaupt ab?" fragte seine Gattin. „Siehst Du denn nicht, daß Deborah aus­ geteilt hat, und daß alle auf Dich warten?" Der letzte Rubber fing an: Denner, welcher der offnen Thür gegenüber saß, konnte die geräumige Diele übersehn und hinten an der Wand die alte Uhr, auf der Sonne und Mond gemalt waren, erkennen: Es fehlten noch fünf Minuten an neun. So galt es, sich zu eilen; er geriet in eine nervöse Hast, spielte Howes Warnungsruf zum Trotz einen niedrigen Trumpf, verlor den Trick und damit den Rubber. In heller Verzweiflung warf er die Karten auf den Tisch und fing eben an zu seiner Entschuldigung auscinanderzusetzen, daß er den Buben statt des Königs ge­ griffen habe, als Luise mit Sally eintrat, welche ein großes Präsentierbrett trug, das immer dieselben Eßwaaren dar­ bot. Neben der dickbäuchigen Krystallflasche mit Sherry, zwei Sorten Kuchen, und ein Körbchen mit selbstgemachtem Konfekt für Dale, der in zwei Dingen schwelgen konnte, in Konfekt und Novellen. In letzter Zeit war Frau Dale

48 diesen beiden Liebhabereien des Siebzigjährigen gegenüber milder geworden. Luise stellte die vier Leuchter auf den Kamin, um Raum zu schaffen; denn den Schreibtisch des Vaters zu benutzen, war ein Ding der Unmöglichkeit, da er über und über bedeckt war mit Kirchenakten, Jagdzeitschriften, illu­ strierten Journalen und unbeantworteten Briefen. Die Damen blieben sitzen, breiteten kleine Servietten über den Schoß, nippten vom Wein und kosteten den Kuchen, die Herren nahmen ihren Imbiß stehend. Dabei wurde aller­ seits das letzte Spiel eifrig besprochen. Nur Luise waltete schweigend ihrer Pflichten; so wollte es der gute Ton in Ashurst; junge Leute hatten znzuhören. Als sie sah, daß es nichts mehr für sie zu thun gab, schlüpfte sie hinans und setzte sich auf die unterste Treppenstufe. Max folgte ihr und legte seine kalte Nase an ihre Hand. Sie bemerkte cs nicht; denn ihre Gedanken weilten bei dem letzten Gespräch. Mit innerster Befriedigung rief sie sich zurück, welch liebenswürdigen Empfang ihr Frau Forsythe allezeit bereitete. Nein, in diesem Sommer würde die verehrte Frau nichts Unangenehmes erleben, zu­ dem war es in Ashurst gar nicht möglich eine „ganz thörichte Wahl" zu treffen. „Guten Abend", sagte plötzlich eine heitre Stimme; Richard Forsythe stand vor ihr. Er war so leise den Kiesweg herausgekommen, verdeckt durch Spiräen und Gold­ regenbüsche, daß sie ihn garnicht bemerkt hatte. „Ach," sagte sie zusammenschreckend, „ich denke, Sie wollten heute Abend nicht kommen, ist Ihre Frau Mutter..." Lachend fiel er ihr ins Wort: „Ich bin wie der Mann aus dem Evangelium, der da sagte: „Ich will nicht" und es nachher doch that. Er folgte ihr ins Zimmer.

49 „Ich wollte noch einen kleinen Abendspaziergang machen, Herr Prediger, und verlief mich hierher. Danke für Kuchen, ein Glas Sherry nehme ich schon. Also die Partie ist zu Ende? Darf man Ihnen gratulieren, Herr Dale? Was mich betrifft, ich habe mich nie für das Spiel begeistern können. Fräulein Luise, wollen Sie mir nicht ein bischen von Onkel Dale's Konfekt spendiren?" Der ganze Kreis außer Frau Dale lauschte mit Er­ staunen dem Fluß seiner Unterhaltung. Seine leichte Art, sein spöttischer Witz wurden als geistige Ueberlegenheit em­ pfunden. Mehr oder weniger fühlte sich jeder der älteren Leute in der Gegenwart dieses flotten Gesellschafters ge­ hemmt, obgleich es allen interessant war, in ihm ein Stückchen der „großen Welt" zu sehn. Dale reichte mit einer so ungeschickten Bewegung das Konfekt hinüber, daß mehrere Stücke auf die Erde fielen. Eine neue Gelegen­ heit für Richard sich zu amüsieren. Fräulein Deborah strich nervös die Kuchenkrümel von ihrem Kleid und wandte sich an ihre Schwester mit der Bemerkung, daß es hohe Zeit sei, nach Hause zu gehen. Denner, mitten in einem Gespräch über Forellenköder, unterbrach sich, ihr beizu­ pflichten; doch zögerte er den Anfang zu machen: Es war doch zu interessant den jungen Forsythe mit Frau Dale reden zu hören. An die Tante gerichtet, waren die Worte doch nur für die Nichte bestimmt. Das Schweigen um ihn her, schien Richard nicht zu bemerken: Um so mehr genoß es Frau Dale. Sie ant­ wortete nur durch beifälliges Kopfnicken und zustimmende Ausrufe; ihre Blicke aber wanderten herausfordernd von einem zum andern, bcisallsuchend für den jungen Mann, den sie als ihre ureigenste Entdeckung betrachtete. „Bei solchen Gelegenheiten entbehren wir unsern lieben ZohanneZ Ward. 4

50 Giff recht", sagte Fräulein Deborah, die auf den Flur ge­ treten war, um ihre Ueberschuhe anzuziehen. „Er war immer so aufmerksam, der gute Junge!" Luise eilte her­ bei, um ihr behülflich zu sein; Denner war viel zu schüch­ tern, um sich anzubieten, Howe zu dick und Dale zu zer­ streut. Forsythe wurde erst aufmerksam, als Luise hinzu­ getreten war; seine Hülfe wurde dankend abgelehnt; Fräulein Woodhouse genierte sich viel zu sehr vor dem eleganten sungen Mann. Natürlich mußte Richard gleich­ zeitig mit den andern aufbrechen; denn wenn man ihn auch noch so liebenswürdig fand, ein längeres Bleiben hätte man ihm nicht verziehen. So schloß er sich DaleS an, um wenigstens noch über Luise reden zu können. Sara, das alte Mädchen der Fräulein Woodhouse stand draußen schon wartend mit der Laterne. Denner war bitter enttäuscht über ihr Erscheinen, machte es doch seine Ritterdienste überflüssig. Prediger Howe und seine Tochter geleiteten die Gäste bis zur Gartenpforte und schauten ihnen nach, so lange sie dem Blicke erreichbar blieben. „Weiß der Himmel", sagte Howe, fast hätt' ich über das Vergnügen meine Predigt versäumt. Nächste Woche muß ich früher damit anfangen." Diese Bemerkung wurde ebenso regelmäßig gemacht, als die Whistpartie stattfand. Die beiden Schwestern Moorhouse trippelten hinter Sara her, die einen schnellen Schritt anfchlug. Richard hatte sich zu Frau Dale gesellt; als letzte folgten Dale und Denner. „Ein sehr guter Gesellschafter", sagte Denner auf Richard Forsythe weisend, „spricht wirklich ausgezeichnet." „Jedenfalls sehr viel", versetzte sein Freund. „Schüchternheit, wenn ich mich so ausdrücken darf,

51 scheint er nicht zu kennen", fuhr Rechtsanwalt Denner fort. „Nicht die geringste", brummte Dale. „Obgleich er so viel herumgekommen ist, muß es ihm doch hier behagen; ich freilich finde, daß Ashurst sehr an Munterkeit eingebüßt hat, Heinrich." Bei diesen Worten nahm sein Schritt eine gewisse Jugendlichkeit an, als wollte er bewerfen, daß ihm noch Munterkeit verblieben sei. „Ich habe ihn neulich beob­ achtet, als Luise in der Kirche sang; eine volle Stunde hat er aufmerksam gelauscht, jedenfalls eine tief angelegte Natur." „Ach was," antwortete Dale, „er wollte nur Luise singen hören." „Was Du sagst!" ries Denner erstaunt, „an der­ gleichen habe ich nicht gedacht." Aber als er etwas später allein in seinem Garten unter den traurigen Pappelbäumen stand, spann er die Gedankenreihe fleißig weiter, allerdings mehr mit Richards als Luisens Schicksal beschäftigt. „Der Glückliche, er wird eines Tages heiraten, (vielleicht unser kleines Lieschen) und dann ein gemütliches Haus haben." Gedankenvoll setzte sich der kleine Mann aus die Treppenstufen vor seiner großen, weißen Eingangsthür, deren messingner Drücker so energisch von Marie geputzt zu werden pflegte, daß ringsherum die Farbe abgebröckelt war. Das Haus sah freudlos und kalt aus; die Fenster­ läden auf der Ostseite, wo Willis Mutter gewohnt hatte, waren seit jenem traurigen Tage, da man sie zur ewigen Ruhe gebettet hatte, kaum wieder hochgezogen worden. Sonnenschein und Behagen waren aus dem Hause ge­ schwunden, seitdem Marie zur unumschränkten Herrschaft gelangt war; von Jahr zu Jahr wurde Denners Lebens­ weise einsamer und freudloser.

52 Während er darüber grübelte, nahm sein sonst so freund­ liches Gesicht einen trübseligen Ausdruck an. Durch eins der engen Fenster sah er in den Hausflur hinein, wo eine schlecht geputzte Lampe auf ihn wartete. Doch zögerte er noch einzutreten; der klare Sternenhimmel, das sanfte Blätterrauschen waren ihm willkommener, als die frostige Einsamkeit seines dunklen Zimmers. Er ließ seine Ge­ danken in die verschiedenen Häuser seiner guten Freunde und Bekannten einkehren. Ueberall sah es freundlicher und heller aus, als an seinem eignen, trüben Herde. Welche wohlthuende Heiterkeit herrschte allezeit im Prediger­ hause! Wie gemütlich war Dales Arbeitszimmer und wie reizend, zierlich und elegant das Wohnzimmer der Fräulein Woodhouse, „der beiden jungen Damen", wie er sie gern nannte. Ja, das war eine Umgebung, die wohl-

Wie angenehm und sanft klangen ihre Stimmen, wie ausgezeichnet kochte Fräulein Deborah und wie künst­ lerisch malte Fräulein Ruth! Ach, wie anders würde sich auch sein Leben gestaltet haben, wenn Gertrud Drayton... Doch wozu? Er stand seufzend auf, öffnete seine Haus­ thür und stieg auf Zehenspitzen die Treppe zu seinem Schlafzimmer herauf. that.

Sechstes Kapitel.

Gifford Woodhouse war bald in Lockhaven eingerichtet. Seine einfache Wohnung bestand aus Bureau und Schlaf­

zimmer. Glücklicherweise ahnte die gute Tante Deborah nicht, daß ihre sorgfältig niedergeschriebenen Anweisungen

53 über Behandlung der Wäsche ewig neben den Lavendel­ säckchen im Koffer liegen blieben und der irischen Auf­ wärterin, die für Gifford sorgte, nie zu Gesichte kamen. In einer Hoffnung aber hatten sich die Tanten nicht getäuscht. Helenens freundliches Auge wachte über dem Behagen des jungen Rechtsanwalts, und er fühlte sich bald im Pastorat wie zu Hause. Helene wußte nichts von Giffords heißer Liebe, nichts von der bittern Enttäuschung, die er erfahren. Wohl fiel ihr sein verändertes Wesen, die Zurückhaltung, mit der er von Luise sprach, auf: Es kam ihr auch einmal flüchtig der Gedanke an den wahren Zusammenhang. „Aber nein, es war nicht möglich, daß er sich ernstlich für Luise inter­ essierte. Wahrscheinlich hatten sie sich beide wieder einmal gründlich entzweit." Luisens Reizbarkeit war ihr immer ein Rätsel gewesen. Gifford dagegen glaubte sich von Helene verstanden und genoß dankbar die stille Sympathie, die sie jedem bekümmertem Gemüte entgegenzubringen wußte; es gehörte zu seinen liebsten Freuden, bei dem jungen Ehepaar Thee zu trinken und Nachrichten über Luise einzuheimsen. Johannes und Helene brachten ihn oft nach Hause, obgleich er in einem andern Stadtteil wohnte, unten am Fluß nahe den Fabriken. Eines Abends, als sie auf der baufälligen Brücke stehend, die Gewalt der braunen Fluten beobachteten, die brausend gegen die wurmstichigen Holz­ pfeiler schlugen, fragte Helene ihren Freund nach Richard Fortsythe. „Erzähle mir doch etwas über ihn," bat sie, „Du hast ihn doch noch nach seiner Studienzeit gesehen? Ich kann mich garnicht mehr recht auf ihn besinnen, obgleich mir seine Mutter deutlich vorschwebt. Eine große, kränk-

54 liche Dame mit einem hübschen aber melancholischen Gesicht und drei Haarpuffen auf jeder Seite." „Außer daß die Puffen jetzt weiß sind, sieht sie noch genau so aus," erwiderte Gifford, „über ihren Sohn kann ich Dir wirklich nichts Besondres sagen; als Jungen konnten wir uns nicht leiden; jetzt hat er die Manieren eines Gentleman." „Versteht sich das nicht ganz von selbst?" fragte He­ lene lachend. „Nach meinen letzten Briefen scheint er oft bei Howes zu sein?" „Ja wohl," versetzte Gifford; „aber er gehört zu den Leuten, denen man trotz verfeinerter Manieren doch anmerkt, daß ihre Bildung ein mühsam angeeigneter Firnis ist." „Was schadet das?" fragte Johannes, „die Hauptsache bleibt doch der gute Mensch." „Nein, gewiß es schadet nichts", versicherte Gifford etwas gezwungen. „Ja, aber was mag ihn nur in Ashurst halten?" sagte Helene sinnend; „ich begreife nicht, daß er seine Ge­ schäfte so lange in Stich lassen kann." „Nun er kann sich's leisten; er ist sehr reich." Helene blickte den jungen Mann, dessen Ton trotz aller Selbstbeherrschung gereizt klang, forschend an: „Es kommt mir vor, als könntest Du ihn nicht leiden, Gifford," sagte sie endlich. „Mein Urteil ist von gar keiner Bedeutung; aber nach allem, was Tante Ruth schreibt, ist ihm ja Luisens Anerkennung sicher." Helene aufs neue betroffen, hätte gern noch Einzelnes gehört; aber ihr Mann hatte die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand gelenkt, auf die Aussichten, die

55 sich dem jungen Rechtsanwalt in Lockhaven erschließen würden. „Ich fürchte, Sie werden viel Unerquickliches zu thun bekommen," sagte er. „Es herrscht hier viel Zank und Streit zwischen den Arbeitgebern und ihren Leuten." „Nun," erwiderte Gifford, seine breiten Schultern schüttelnd, „mir soll ein reichlich Tagewerk willkommen sein. Nach meiner Ansicht kann man auch dem Zank und Streit eine ideale Seite abgewinnen; schließlich ist doch der Drang nach persönlichem Vorwärtskommen, nach per­ sönlichem Recht ein Streben aufwärts, also ein wichtiger Faktor in der Civilisation. Eine oder zwei Generationen weiter, und die Kinder dieser mühselig ringenden Väter werden zu den gebildeten Klassen gehören." Wehmütig schüttelte der Geistliche das Haupt. „Und das jetzige Uebel?" „Nun das müssen wir als eine Durchgangsstufe be­ trachten; wenn man nach dem Besten strebt, was man kennt, so liegt darin schon eine gewisse Moralität; diese Leute kennen nichts Höhres als die Selbsterhaltung; an ihrer Zukunft brauchen wir nicht zu verzweifeln", sagte Gifford mit Wärme. „Moralität genügt nicht," antwortete Johannes sanft, „damit ist noch nie eine Seele gerettet, lieber Herr Rechts­ anwalt." Helene lachte heiter: „Liebster Johannes, Gifford ahnt nichts von Deinen fürchterlichen Lehren, laß ihn damit zu­ frieden; er ist doch unverbesserlich!" „Du hast ganz recht, Helene; ich muß mich schon als Ketzer bekennen, Herr Pastor. Aber glauben Sie nicht, daß der Hauptgrund der schrecklichen Versumpfung hier an dem übermäßigen Schnapsgenuß liegt?"

56 „Ganz und gar", stimmte Johannes bei. „Wenn man ihn nur verbieten könnte?" „Das einzige Mittel wäre, ihn höher zu versteuern," meinte Gifford, den das Gespräch zu interessieren begann. Johannes' Mienen umdüsterten sich von neuem. „Nein, mit Zugeständnissen bekämpft man die Sünde nicht; wenn es nach mir ginge, sollte man in ganz Lockhaven auch nicht einen Tropfen Wein oder Schnaps finden." „Was aber würden Sie in Krankheitsfällen thun, Herr Pastor?" „Selbst dann würde ich ihn nie anwenden", versicherte Ward eifrig. „Nein, Johannes, Du gehst zu weit", mischte sich He­ lene in das Gespräch, „es kommt doch oft vor, daß ein Glas Wein die schwindende Lebenskraft erhält. Gesetzt, cs wäre mir ärztlich verordnet." Johannes antwortete nicht gleich; ein schmerzlicher Zug umspielte seine Lippen: „Besser sterben als sündigen," sagte er langsam und freundlich, „freilich, freilich, wenn Du, Helene... Niemand kennt seine Schwäche, bis die Versuchung naht." Er sprach diese Worte in einem so tief traurigen Ton, daß Gifford gutmütig antwortete: „Was denken Sie eigent­ lich von uns, die wir uns zu einem Glas Rotwein bei Tische bekennen?" „Ja, und was muß er erst zu Onkel Archibalds Freude am Essen und Trinken gesagt haben!" rief Helene. „Ich glaube kaum, daß ich sie überhaupt bemerkt habe," sagte Johannes einfach. „Du warst da und das genügte mir." „Na Helene, da hast Du's, nun gieb nach!" rief Gif­ ford, „gute Nacht für heute." — Er lauschte noch einen Augenblick den Schritten des Ehepaares; dann trat er in sein Zimmer; während er die



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Lampe anzündete, sagte er kopfschüttelnd vor sich hin: „Wie soll das noch enden? Keiner von den Beiden wird seine Meinung aufgeben, und Ward darf es ja garnicht mit an­ sehn, daß seine Frau Ansichten sesthält, welche direkt in die Hölle führen." Lange verweilten seine Gedanken nicht bei diesem Punkt; sein neuster Rechtsfall, Henry gegen Kagswell, nahm seine Aufmerksamkeit bald ganz in Anspruch. Auch Johannes und Helene hatten das Gespräch ver­ gessen und sich nur ihrer gegenseitigen Liebe erfreut. „Es ist nett, ihn oft zu sehn," sagte Johannes, „aber doch viel netter, mit Dir allein zu sein." Sie antwortete nur durch einen raschen, zärtlichen Blick; dann vertieften sich beide in jene holden Erinne­ rungen, die glückliche Gatten nicht müde werden, wieder und wieder heraufzubeschwören. Was er gedacht, als er sie zuerst sah; wie gespannt sie seiner ersten Anrede gelauscht hatte. Jeder einzelne Moment stand ihnen so klar, so un­ auslöschlich vor der Seele. „Ich weiß noch so gut, was für ein Kleid Du an­ hattest," sagte Johannes; „es sah so seidig und weich aus, knisterte und glänzte garnicht, es that meinen Augen förm­ lich wohl." Ein Kind kam die einsame Straße herauf, ihnen ent­ gegen, mühsam mit beiden Händen einen Krug tragend. „Guten Abend, Herr Pastor," rief es zuthulich. Johannes stand still und neigte sich hinunter, um das Gesichtchen zu erkennen, das von einer Mähne strohgelben Haares fast verdeckt war. „So, Du bist es, Molly," sagte er mit freund­ licher Stimme; „wo kommst Du denn noch so spät her? Ach ich sehe schon, hast wohl Vaters Abendbier geholt?" Molly lächelte stolz.

58 „Ja, Herr Pastor," nickte sie und trippelte weiter. Gleich darauf aber schrie sie entsetzt auf: In ihrer Freude über die Begegnung war sie über einen Stein gestolpert und hatte das Bier verschüttet. Daß der Krug ganz ge­ blieben, gewährte ihr nur einen geringen Trost. „Vaters Bier ist vergossen", schluchzte sie und fiel wie ein Klümpchen Unglück zur Erde. Johannes kniete neben ihr, vergebens bemüht, sie zu beruhigen. „Laß nur sein, Molly, wir gehen zusammen zu Vater und erzählen ihm die Geschichte." Molly aber schüttelte das Köpfchen: „Er haut mich doch; er kam schon so wütend nach Hause; ganz betrunken war er." Traurig blickte Johannes auf das weinende Kind. „Ich werde Dich erst nach Hause bringen, Helene, und dann mit der Kleinen gehen!" „Laß mich doch mitkommen", bat Helene lebhaft. „Nein, Liebste," antwortete er, „solche Eindrücke sollen Dir erspart bleiben." „Komm, Molly, erst gehst Du mit uns und dann bitten wir Vater um Entschuldigung." Er hob das Kind freundlich empor und bückte sich dann nach dem Krug. Bald war das Pfarrhaus erreicht, wo Helene zwar widerstrebend, dort wortlos stehen blieb. Lange schaute sie dem Gatten nach; der kleine blonde Kopf war auf seine Schulter gefallen, Molly schlief sanft und süß. Tom Davis wohnte in einer der verwahrlosten Hütten am Flusse. Sie waren aus Pfählen erbaut, zur Sicherung gegen die Frühjahrsüberschwemmungen; doch hatten sie durch den Anprall der zutreibenden Eismassen manchen Stoß erlitten; Putz nnd Farbe des Mauerwerkes war ab­ gefallen: Ueberall zeigten sich Risse. Auf zerbrochnen Trep­ penstufen gelangte man zu einer halb zerstörten Thür, deren

59 Holzbekleidung vor Schmutz starrte. Klinke und Füllung waren bei der letzten Schlägerei herausgestoßen worden. Die schmalen Fenster hatten keine Läden; nur ein dünnes, grünes Papier wehrte dem Einblick in das Innre des Zimmers. Molly öffnete ängstlich die Augen: „Daß mich Vater nur nicht haut!" „Nein, mein Kind," beruhigte Johannes sie, als er in den Flur trat und rechts anklopfte, „hab' keine Angst." „Herein", rief eine Frauenstimme. Am kalten Heerde saß Frau Davis beim spärlichen Licht einer kleinen Lampe mit Ausbessern beschäftigt. Ihr Gesicht trug den Ausdruck hoffnungsloser Gleichgültigkeit. Es erhellte sich für einen Augenblick beim Eintritt des Geistlichen. „Guten Abend, Herr Pastor," sagte sie, stand auf, nestelte an ihrem unordentlichen Haar und zupfte die aufgestreiften Aermel zurecht. „Der Kleinen hier ist ein Unglück passiert", erklärte Johannes, der inzwischen das Kind zu Boden gesetzt hatte. „Hat's Bier verschüttet", sagte die Frau, einen gleich­ gültigen Blick auf den leeren Krug werfend. „Kommt nicht drauf an; er schläft, und morgen weiß er von nichts. Hole einen Stuhl für Herrn Pastor, Molly, den nicht, der ist entzwei." Als sie Ward leise Molly danken hörte, fuhr sie fort: „Ist nicht nötig, der da hört bis morgen früh nichts." Der Arbeiter lag in schwerer Trunkenheit; sein Kopf ruhte auf dem zusammengerollten Rock; ein Arm bedeckte das rote, aufgedunsne Gesicht, von dem nur der schwache, hülflose, geöffnete Mund sichtbar war. Die muskulösen Hände lagen matt und kraftlos ausgestreckt. Die mächtige Gestalt in ihrer völligen Willenlosigkeit und Schwäche wirkte erschüt-

60 ternd. Ein Opfer der Verhältnisse, war der Unglückliche durch Geburt, Erziehung und Vorbilder mit unwidersteh­ licher Notwendigkeit auf diesen abschüssigen Weg gedrängt, der ihn in immer tiefres Elend zu führen drohte. Was das Schicksal an dem Betrunknen verschuldet, bedachte Johannes nicht; ihm war er nur der sündenbeladne Mensch. Sein Antlitz, das eben noch Molly so liebe­ voll zugelächelt hatte, nahm einen strengen Ausdruck an: „Schon das dritte Mal, seitdem Tom zu mir kam und Besserung gelobte. Ich hoffte so bestimmt, Gottes Geist habe ihn berührt." „Ja, es ist schrecklich mit ihm," versetzte die Frau, indem sie den Rock, den sie flickte, umdrchte und die Lampe näher rückte, „alles Geld geht drauf, nicht mal Schuhe für die Kinder kann ich kaufen, und zu einem anständigen Kleid für mich wird's wohl überhaupt nie mehr langen. Es ist schrecklich für mich, Herr Pastor." „Aber noch viel schrecklicher für ihn, liebe Frau, denken Sie nur an seine unsterbliche Seele. Haben Sie ihn wohl manchmal darauf hingewiesen, welche furchtbare Zukunft ihn erwartet?" „Ob ich's ihm sage? Rede ost genug von der Hölle; aber nutzen thut's nichts. Einmal, als er eine Predigt über die Hölle von Ihnen gehört hat, blieb er zwei Monate nüchtern. Ich bin jetzt lange nicht in der Kirche gewesen, erst vorigen Sonntag wieder, aber Herr Pastor haben nicht so erwecklich wie sonst über die Hölle gepredigt; nicht, daß e§ nicht auch ganz hübsch gewesen wäre," fügte sie hinzu, beseelt von dem Wunsch, möglichst höflich zu sein. Johannes errötete. „Ja, ich hatte ein andres Thema: Aber sollte die Liebe zu Gott nicht ebenso viel über uns vermögen, wie die Angst vor der Hölle?"

61 Frau Davis seufzte. Toms geistiger Zustand ver­ mochte sie nicht lange zu erregen: Das Bewußtsein eignen Elendes war zu groß. „Ja, es ist schrecklich für mich", wiederholte sie mit zuckenden Lippen. Ward blickte sie mit unendlichem Mitleid an: „Ihr Schicksal ist schrecklich, weil ewige Qual Ihren Mann be­ droht. Retten Sie darum seine Seele; beten Sie für ihn ohne Unterlaß, auf daß er sich bekehre, so lange es Tag ist." Er trat zu dem Betrunkenen, tutete neben ihm nieder und nahm eine der starren Hände in die seinen. Frau Davis ließ das Nähzeug sinken und beobachtete ihn; der Pastor betete gewiß für ihren Mann, obgleich seine Lippen regungs­ los blieben. Als er sich erhob, ihr Lebewohl zu sagen, zeigte sein Gesicht eine tiefe Niedergeschlagenheit, die sie nicht zu verstehen vermochte. Molly trippelte herbei und strich leise die Hand ihres freundlichen Beschützers: „Du bist gut, Herr Pastor," sagte sie. Sein Antlitz strahlte; die Liebe der Kinder gewährte ihm die schönste Befriedigung. Mit einem Segenswunsch auf den Lippen und im Herzen verließ er das freudlose Haus. Langsam ging er heim, die Hände auf dem Rücken verschränkt, das Haupt gesenkt. Die Worte der Frau über seine letzte Predigt beun­ ruhigten ihn: „Ich muß bei meinen Besuchen jede Gelegen­ heit wahrnehmen, um über die ewige Verdammnis zu reden; auf der Kanzel muß es noch eine Zeit lang unter­ bleiben, um Helenens willen. Ich werde ihr ja die volle Wahrheit noch erschließen; aber allmählich: Sie ist noch nicht genügend vorbereitet." So war sein Herz wieder bei ihr, und die Erinnerung an sein großes Glück durchflutete seine Seele mit heißem Dankgefühl; er blickte zu den

62 Sternen empor und sagte leise: „Mein Gott, wie gut bist Du; wie glücklich hast Du mich gemacht."

Siebentes Kapitel. In Ashurst wurde die Anwesenheit der beiden Frem­ den allgemein als eine wohlthuende Abwechslung em­ pfunden. „Natürlich ist Arabella anders als wir," sagte Frau Dale, „aber es ist immerhin erfrischend, einmal einen neuen Menschen zu sehen, selbst wenn er nichts andres zu reden weiß, als Krankheiten und Arzeneien." Luise, welche die Einsamkeit des Sommers ohne He­ lene so sehr gefürchtet hatte, begrüßte es freudig, in Richard Forsythe einen Altersgenossen zu finden, mit dem sie sich unterhalten, mit dem sie spazieren gehen konnte. Ihr Vater freilich befand sich immer in stiller Angst, wie Tante Adele das Verhältnis der beiden jungen Leute beurteilen würde. Aber wunderbarer Weise schien Fran Dale nichts Besondres zu bemerken, ja sie äußerte sich sogar eines Tages sehr scharf gegen Deborah Woodhouse, daß es eine altjüngferliche Beschränktheit sei, jedes junge Mädchen be­ ständig unter mütterlicher Aufsicht halten zu wollen. „Wenn Luise überhaupt noch eine Mutter hätte!" fügte sie mit einem leisen Triumph in der Stimme hinzu. Der neue Freund hatte in Luisens Seele das Bild des alten mehr und mehr verdrängt, was um so leichter geschehen konnte, als sich ihre Gefühle Gifford gegenüber in lebhaftem Zwiespalt befanden. Was sie zuerst als Er­ leichterung empfunden, daß seine Briefe vollkommen ruhig und heiter nur der Gegenwart Rechnung trugen, mit

63 keinem Worte die Vergangenheit berührend, stimmte sie mit der Zeit wehmütig, fast empfindlich. „Fräulein Deborah hat ganz recht," sagte sie sich im stillen, „junge Leute haben einen leichten Sinn; er hat mich vergessen, was mir schließlich auch das liebste ist, freilich" . . . Und da­ bei fiel ihr wieder ein, was Deborah über Helene und Gifford gesagt hatte; vergeblich versuchte sie die Vermutung, als aus der Luft gegriffen, abzuschütteln; sie stieg ihr immer wieder quälend auf. Wie der Sommer aber vorrückte, und der Besuch von Frau Forsythe mancherlei Zerstreung bot, vergaß sie Furcht und Hoffen und lebte ganz der heitern Gegenwart. Den größesten Teil ihrer freien Zeit brachte sie bei Frau Forsythe zu, welche der jungen Freundin eine leb­ hafte Sympathie entgegenbrachte. Luise fühlte sich bei ihr äußerlich und innerlich in einer ganz neuen Welt: Das sonnige Wohnzimmer mit den zierlichen, eleganten Möbeln, den vielen geschmackvollen Nichtigkeiten, bot eine so viel erfreulichere Umgebung, als die sonstigen Ashurster Stuben, die alle genau nach der Schablone eingerichtet waren. Und dann wie herrlich wußte Frau Forsythe aus ihrer Jugendzeit zu erzählen, da sie die Schönste unter den Schönen alle die Freuden der großen Welt genossen, die Luisen so begehrenswert schienen. So war sie gern bereit, auf jede Aufforderung hin zu kommen, um der Leidenden vorzulesen, Blumen ordnen zu Helsen oder andre Tochterdienste zu verrichten. „Es ist möglich, daß Richard zu Hause ist, Herzchen," pflegte Frau Forsythe wohl zu sagen, „aber es wird Dich nicht weiter stören." O nein, es störte Luise durchaus nicht. Im Anfang hielt sie sich sehr zurück; denn sie scheute

64 seine scharfe Zunge, die so gern über Ashurst und seine Bewohner spottete; mit der Zeit aber, gehoben durch die Empfindung ihm zu gefallen, wurde sie lebendiger und unbefangner und gewann endlich im Verkehr mit ihm dasselbe angenehme Gefühl völliger Freiheit und Freund­ schaft wie ehedem zu Gifford. Freilich war es doch noch süßer und reizvoller, weil cs eine stille Möglichkeit zuließ, die sie sich zunächst selbst kaum zu gestehen wagte. Richard täglich zu sehn, war ihr bereits eine so liebe Gewohnheit, daß sie morgens ihr Tagesprogramm immer mit der Beschränkung entwarf: „Für den Fall, daß Herr Forsythe kommen sollte" . . . Und Herr Forsythe kam: Ein Vorwand dazu war allezeit vorhanden: „Viele Grüße von Mama, sie läßt bitten, Fräulein Luise möchte ihr doch heute nachmittag ein Stündchen vorlesen," oder „Ich bringe mit bestem Dank das Glas zurück, die Gelee war ausgezeichnet." Luisens Vater sah der Entwicklung der Dinge mit stillem Behagen zu; wenn er auch keine wirklichen Zukunftspläne machte, so schmeichelte es ihm doch sichtlich, sein Töchterchen von einem Mann der Welt so verehrt zu sehen. Ganz gegen seine Gewohnheit schwieg er geduldig still, wenn Luise nicht gleich bei der Hand war, ihn zu bedienen. Ja, seine Nachsicht ging so weit, daß er eines Morgens, nachdem er seine Tochter im ganzen Hause ver­ geblich gesucht hatte, um ihr einen Brief vorzulesen, das Blatt wieder in die Tasche steckte mit den Worten: „Es hat ja keine Eile." Seinen Augen waren zwei jugendliche Gestalten im Garten nicht entgangen. So trat er in sein kühles Arbeitszimmer, streckte sich mit einem Lächeln innerster Befriedigung auf das bequeme Sopha und gab sich dem ausgiebigen Genuß der Zeitung hin.

(55 Der Garten strahlte in der verschwenderischen Pracht des Hochsommers, der überall Duft und Farbe wach ge­ küßt hatte. Luise war beschäftigt für alle ihre Vasen, Gläser und Schalen Blumen zu pflücken, was ihr den ganzen Sommer hindurch täglich neue Freude gewährte. Ihr schlanke Gestalt in hellblauem Kleide bot ein hübsches Bild: Die Fülle der Blumen zu bergen, hatte sie es vorn emporgenommen; ein Rosenzweig lag auf ihrer Schulter; ein Paar fein gefiederte Ranken schleppten nach, wäh­ rend die linke Hand zwei Sonnenblumen hielt, größer als sie selber, die bestimmt waren, den Hausflur zu schmücken. In dem Augenblick öffnete Richard die Gartenthür; seine Augen strahlten, als er ihr entgegeneilte, sie von ihrer duftigen Last zu befreien. Wie gewöhnlich hatte er eine Bestellung: „Mama fühlt sich heute nicht wohl genug, um auszufahren; würde es Ihnen morgen ebenso gut paffen?" „Natürlich", rief Luise ungeduldig; „aber es thut mir leid, daß Ihre Frau Mutter wieder leidend ist." Der zärtliche Sohn zuckte unmerklich die Achseln; „ich glaube, es geht ihr im Grunde ganz gut; aber das Klönen macht ihr Spaß. Wollen Sie mir nicht ein paar Blumen für sie schenken?" Luise war gleich bereit; er aber bestand darauf, erst die gepflückten Blumen zu ordnen und dann für seine Mutter frische zu holen. „Sie sehen, es kommt mir darauf an, das Beste für sie zu haben"; beide lachten. Beistimmendes Gelächter über kleine Witze ist ein guter Kitt für die Herzen. Sie gingen nach der Veranda, wo es schattig war, und Luise holte mit Sally's Hülfe alle Vasen, Schalen und Gläser heraus, die irgendwie mit Blumen geschmückt werden konnten, und stellte sie in eine Reihe. Richard Fohanneö Ward. 5

66 mußte Wasser holen; sie selber bewaffnete sich mit einer Gartenscheere; endlich konnte es an die Arbeit gehen. Die Blumen lagen in holdester Verwirrung zwischen ihnen; Max saß ernsthaft an Luisens Seite, als wolle er den An­ stand wahren. Der Vater hörte in seinem Zimmer die vergnügten Stimmen, das laute Gelächter. Endlich fiel es ihm ein, daß es doch wohl angemessen sei, das Treiben der Jugend etwas näher zu prüfen: Allerdings das Aufstehn war mühsam; er gähnte ein- zweimal, überlegte es sich wie kühl und bequem doch sein Sopha sei, nickte noch ein Viertel­ stündchen und stand endlich auf, ein Opfer seiner päda­ gogischen Prinzipien, wie er meinte. Den Brief in der Hand trat er zu den beiden, die noch immer Blumen ordneten. Richard hatte so viel auf dem Schoß, daß er nicht aufstehn konnte, sondern sich begnügen mußte, den Gruß des Predigers mit einem lustigen Halloh und einem strahlenden Lächeln zu erwidern. „Luise," sagte ihr Vater, „ich habe soeben einen Brief von Helene bekommen und möchte ihn gleich beantworten. Hast Du etwas zu bestellen? Herr Forsythe entschuldigt es gewiß, wenn Du ihn schnell liesest?" „Selbstverständlich," versehte Richard, „mir ist es fast, als kennte ich Frau Pastor Ward schon, so oft hat mir Fräulein Luise von ihr erzählt." „Wie komisch das klingt, Frau Pastor Ward!" rief Luise lachend, indem sie den Brief zur Hand nahm. „Ich wundre mich nur," fuhr Richard fort, „wie sie es in Lockhaven aushalten kann; solch ärmlicher, kleiner Ort, so viel Elend! Unangenehme Eindrücke! Ich gehöre nicht zu denen, welchen ihr Mittagbrod erst recht schmeckt, wenn sie an alle die Armen denken, denen es versagt ist." Luise

67 dachte, während sie den Brief ihrer Cousine durchflog, welch' gutes Herz Richard doch haben müsse. Helene schrieb betrübt über das viele hoffnungslose Elend um sie her. Sein Anblick weckte ihr die alte Frage, warum Kummer und Leid überhaupt vorhanden seien. Um eine Antwort verlegen, hatte sie sich an den Onkel gewandt. Er wußte nicht recht, ob er sich darüber ärgern oder be­ lustigen sollte. „Was sagst Du nur zu Helenens Betrachtungen?" fragte er seine Tochter, welche ihm den Bries wiedergab, „ich weiß wirklich nicht, was für ein Geist über sie ge­ kommen ist. Wo war gleich die Stelle?" Er suchte seine Brille und durchflog mit zusammengezogenen Augenbrauen und vorgeschobener Unterlippe den Brief: „Ach ja hier: Meinst Du nicht, daß unverschuldetes Elend das Gemüts­ leben des Menschen verbittert und es ihm schwer macht, an eine persönliche Führung durch Gottes Hand zu glau­ ben?' — Ich finde es geradezu albern von Helene, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was weiß sie von Ge­ mütsleben und unverschuldetem Elend? Ich werde ihr schreiben, sie thäte besser, ihres Mannes Strümpfe zu stopfen, als theologische Probleme lösen zu wollen." „Ja aber Vater," erwiderte Luise, „Du mußt doch zugeben, daß manches Befremdende in der Welt passiert." „Um Gottes willen Luise, nun fang' Du auch noch an", rief ungeduldig Prediger Howe, „ich dächte, einer in der Familie wäre gerade genug." Das ist recht!" stimmte Richard vergnügt bei, „warum soll man Dingen auf den Grund gehen, die grundlos sind?" „Vollkommen meine Meinung," versicherte Howe, „laßt uns gut und tüchtig sein; das ist meine Maxime; die spekulativen Fragen des Christentums haben noch 5*

68 keinen Menschen glücklich gemacht.

Ihnen nachzudenken,

halte ich für einen Blödsinn und werde nicht verfehlen, Es ist jetzt eine wahre Mode bei den jungen Leuten über Dinge zu reden, die jenseits ihres Horizontes liegen, und das endet meist in einem Skepticis­ Helene das klar zu machen.

mus, den ich gründlich verachte. Außerdem", fügte er lachend hinzu, „möchte ich wissen, wozu sie eigentlich einen Mann

hat, der Pastor ist; mag sie den doch mit ihren theologi­ schen Fragen öden.

„Du weißt doch Vater,"-rief Luise vorwurfsvoll, „wie selbständig Helene gesonnen ist; sie wird nun und nimmer­ mehr eine Religion darum anerkennen, weil ihr Mann sie predigt."

„Nun", lenkte ihr Vater ein, „ich will sie ja auch nicht zu streng beurteilen; aber sie muß auch nicht zu thöricht sein. Uebrigens wollte ich Dich nur fragen, ob die fünfundsiebzig Mark, die ich für innere Mission be­ stimmt hatte, nicht sehr gut in Helenens Händen ange­

wendet wären. Soll ich sie ihr schicken?" „Ach ja," rief Luise lebhaft, „thue es gleich." „Gestatten Sie mir dieselbe Summe beizusteuern", bat Richard und nahm seine Brieftasche heraus. Obgleich der Prediger Einwendungen machte, setzte Forsythe seinen Willen durch: „Sehen Sie denn nicht ein, lieber Herr Prediger," sagte er lächelnd,

„welche wunder­

volle Beruhigung es für mein Gewissen ist, wenn Frau

Ward mein Geld auf so wohlthätige Weise anwenden will?

Offen gesagt, mir ist der Gedanke an Armut und Schmutz Freilich bin ich ja auch ein arger Egoist." Er sagte das so gutmütig und offenherzig, daß Pre­ diger Howe lächeln mußte: „Ganz so schlimm wird's wohl

gräßlich.

nicht sein; eine so reichliche Gabe deckt der Sünden Menge."

69 Luise sah mit geteilten Empfindungen zu, wie Richard

das Geld aufzählte:

Bewunderung über die Bereitwillig­

keit und Mißmut übtzr seine Art und Weise kämpften in ihr;

am Ende war es bequtzm sich loszukaufen. „Danke sehr", sagte Howe in herzlichem Ton:

haben" .... „Bitte kein Wort mehr!"

„Sie

lehnte der Geber ab;

„es

ist wirklich nicht der Rede wert."

Howe steckte das Geld in eine abgenutzte Brieftasche, die

fadenscheinig an den Deckeln, zersetzt an den Ecken war. Eine Unzahl Zeitungsausschnitts und Zettel quollen daraus her­

vor; eine Reihe Angelhaken waren in der inneren Klappe befestigt; er blieb noch einen Augenblick stehen, um sie in

Ordnung zu bringen, ehe er in das Haus ging, um seinen Brief an Helene zu schreiben. Er duckte sie in seiner gut­

mütigen Art und riet ihr, kümmern,

sich um etwas Bessres

theologische Fragen ohne

als um

zu be­

praktischen

Wert.

Freilich konnte er während des Schreibens eine leise Mißempfindung nicht abschütteln. Sein Gewissen rief ihm

längst vergessene Zeiten zurück: Auch ihm waren einst Zweifel gekommen; auch er hatte das Angstgefühl des

Herzens, das den Boden unter den Füßen schwinden sieht,

Aber er war nicht der Kämpfer gewesen,

gekannt:

abzusteigen in

diese bange

Nächt

und

sich

durch

hin­ eig­

nes, selbständiges Fvrschen zur siegreichen Höhe emporzu­ schwingen.

Es war genug, daß jeder Tag feine eigne Plage hatte; darum

und

ließ

Archibald Howe das

wanderte

breiten,

den

Glaubensanschauung. lich,

daß

er als

Fragen und

Forschen

ausgetretenen Pfad

üblicher

Freilich empfand er es oft schmerz­

Seelsorger den geängsteten

Gemütern

70 nicht die Fülle der Erfahrung entgegenbringen konnte, son­ dern nur mit Sprüchen und Liedern zu trösten verstand. Solchen Erlebnissen war auch

der Vorsatz gefolgt,

den

eignen Glauben zu Gericht zu rufen und zu prüfen; aber über den guten Vorsatz war er nie hinausgekommen; die Gewohn­ heit ist eine zu starke Macht; sie fesselt Körper und Geist.

Richard Forsythe hatte unterdessen seinen Besuch mög­ lichst ausgedehnt: Seine Bitte um Blumen für die Mutter war ein herrlicher Vorwand, um noch einmal den ganzen

Garten zu durchwandern.

Als er endlich Luise an der

Gartenpforte Lebewohl sagen mußte, war er verliebter denn

je, und auch Luise gestand sich, als sie langsam zurückging, daß Ashurst ohne Forsythe sehr einsam sein würde.

Richards Liebe verlangte nicht nach Schweigen und Einsamkeit: Zu reden war ihm in jedem Stadium des Lebens Bedürfniß. So lief er Dale her, den er aus Denners Straße hinaufgehen sah. „Ich komme eben von Ihren als er den alten Mann eingeholt

„So?"

auch jetzt hinter Onkel Büreau treten und die

Verwandten", sagte er, hatte.

antwortete dieser kurz.

Er war der Einzige

in Ashurst, der sich durch Richards Sicherheit nicht ver­ blenden ließ, sondern ihn in seiner Eitelkeit und Oberfläch­ lichkeit vollkommen richtig

beurteilte.

So weit es seine

milde Art erlaubte, verhielt er sich ablehnend gegen den

jungen Mann.

Auch jetzt ging er schweigend neben dem

redseligen Gefährten; die Hände auf dem Rücken, die Schul­

tern vorgebeugt, das Gesicht durch den breiträndrigen Filz verdeckt.

Seine Aufmerksamkeit erwachte erst, als Richard

im Lauf seiner Rede den Namen Ward erwähnte und ihn „als wunderlichen Heiligen" bezeichnete. das?" fragte Dale.

„Wie meinen Sie

71 Er selbst kannte Ward sehr wenig, hatte weder etwas für noch gegen ihn; aber er besaß ein warmes Interesse für Menschen, einen gesunden Blick für ihren Wert: Es war längst sein Wunsch gewesen, Helenens Gatten näher zu treten; deshalb hörte er auch jetzt aufmerksam zu, als Richard fortfuhr: „Ja, wenn es derselbe ist, und daran kann ich kaum zweifeln, lang und mager, zerstreuten Blickes, Namens Ward, der zu meiner Zeit auf der Universität studierte, — so habe ich mit ihm eine Geschichte erlebt, die ich keinem Andern zutrauen würde." „Da bin ich doch gespannt?" fragte Dale, seine mil­ den, blauen Augen auf den Sprecher richtend. Dieser lachte, des Beifalls im voraus gewiß. „Einmal zur Mittagszeit, wo bekanntlich der Verkehr am lebhaftesten ist, stand ich mit ein paar guten Freun­ den vor dem Kasino in der Hauptstraße; da kam eine betrunkne Frauensperson vorbei: Total betrunken, sage ich Ihnen; sie fiel immer von einer Seite auf die andre, und dabei trug sie ein blökendes Kind in den Armen, das sie jeden Augenblick fallen lassen konnte, schrecklich komisch sah es aus! Während wir noch nachsahen, kommt Ward vor­ bei, — ich kannte ihn damals noch nicht, erfuhr feinen Namen erst später. Die Frau sehen, auf sie zutreten und ihr das Kind abnehmen, ist eins, und damit nicht genug, reicht er ihr sogar den Arm und führt sie durch das Ge­ dränge fort, die armselige, geschminkte Kreatur. Na, die Witze können Sie sich denken!" Richard blickte seinen Begleiter bedeutungsvoll an, als erwarte er eine Antwort. Da sie ihm nicht wurde, fügte er halb enttäuscht hinzu: „Die Geschichte scheint Sie nicht so zu amüsieren, wie neulich Ihren Herrn Schwager. Wissen Sie, was der dazu sagte: „Hatte denn Ward nicht

72 so viel gesunden Menschenverstand, um einen Schutzmann zu rufen?" Dale erwiderte nichts; aber das Bild, wie der junge Pastor das arme, verlorne Geschöpf mit seinem kräf­ tigen Arm vor aller Welt liebevoll gestützt hatte, verfolgte ihn, und als er allein in der kühlen Stille seines Arbeits­ zimmers war, sagte er leise vor sich hin: „Welch guter Mensch!"

Achtes Kapitel.

Es war einer jener köstlichen Abende, wie sie der Herbst so gern beschert. Tags über hatte die sonnig klare Luft einen fast berauschenden Dust ausgeströmt; jetzt lagerte ein feiner Nebel über den Hügeln, und darüber funkelten die Sterne in wundervoller Klarheit. Daß ein helles Feuer in Wards Studierzimmer brannte, war der reine Luxus; aber es sah so gemütlich aus, und Johannes erfreute sich nach einem heißen Tagewerk doppelt der Ruhe des Feierabends. Nachmittags war er mit einer Gesellschaft von Dorf­ kindern ausgezogcn, um auf einer sumpfigen Wiese Enzian zu suchen, blau wie der klare Oktoberhimmel. Helene hatte ihn nicht begleiten dürfen. „Du würdest Dich zu müde machen, mein Herz!" Ihm selber war nie etwas zu viel, obgleich er die längste Zeit hindurch eins der Kinder trug und dazu allen andern über Gräben und Pfützen hin­ weghalf oder ihnen Blumen und Farrenkräuter pflückte. Zum Schluß sammelte sich die ganze Schar um den ge­ liebten Lehrer mit der Bitte, ihnen eine Geschichte zu er­ zählen. In diesem Genuß gipfelte jeder Spaziergang. Voll atemloser Wonne hörten sie mit an, was er von

73 Zwergen, Feen, Wolkenpalästen und Felsenhöhlen zu be­ richten wußte. Daß er sie jedesmal auf das Märchenhafte seiner Erzählung aufmerksam machte, störte die Befriedi­ gung der Zuhörer nicht, ebenso wenig die Moral, der er zum Schluß Worte lieh. Gewöhnlich wurde sie nur an­ gedeutet; denn Johannes wollte die Kinder mehr unter­ halten als belehren. Jedenfalls erntete er lebhafte Dankbarkeit und unge­ teilte Bewundrung. Für die Kinder war der junge Pastor der gute Engel, der in ihrem ärmlichen, freudlosen Dasein Licht und Wärme verbreitete. Und er war glücklich, die Liebessülle seiner Natur über sie ausgießen zu können. Was stand ihnen in Zukunft anders bevor als Elend und Schuld? Wie sollten sie zu Reinheit und Heiligkeit gelan­ gen in einer Umgebung des Lasters? In seiner Angst, sie dem ewigen Verderben zu entziehn, suchte er fast heiß­ hungrig ihre Liebe, ihr Vertrauen als einziges Mittel sie zu retten. Wie immer, hatten sich auch heute die Kinder nur widerstrebend an der Gartenthür von ihrem freundlichen Begleiter getrennt, nicht ohne das Versprechen einer bal­ digen Wiederholung des Vergnügens erlangt zu haben. Johannes hatte noch ein kurzes Stündchen, um die An­ sprache, mit der er heute die Gebetsversammlung eröffnen wollte, zu durchdenken. Helene mußte immer lachen, wenn sie sah, wieviel Zeit und Mühe ihr Mann auf jede Arbeit verwendete. „Du solltest nur mal sehen, wie schnell Onkel Howe immer mit seinen Predigten fertig wird." „Er hat auch eine andre Gemeinde", gab Johannes mit freundlicher Entschuldigung zurück. „Und dann denke doch Helene, welche Verantwortlichkeit als Diener des Höchsten zu reden, für die Ewigkeit, bedenke, was das heißt!" Sie sah ihn

74 ernsthaft an:

„Du nimmst Dir diese Dinge zu sehr zu

Herzen, Geliebter! Ist das notwendig?" Er zögerte einen Augenblick und sagte dann sanft: „Es giebt auf der Welt nichts Heiligres; leben wir doch nur,

um uns für jenes

Dasein vorzubereiten, und können wir die Dinge zu ernst nehmen, wenn es sich um ewige Seligkeit handelt? Darin

sehe ich

doch

immer den Sporn,

der mich treibt,

meine

Pflicht an der Gemeinde nicht zu versäumen."

„Ich

weiß,"

versicherte Helene;

bitten, denke an Deine Gesundheit."

„aber laß Dich er­ Zärtlich legte sie ihm

die Hand auf die Schulter; er konnte nichts thun, als sie dankbar küssen und den guten Vorsatz, der sich eben mächtig geregt,

jetzt über ihr eignes Seelenheil zu sprechen, ver­

tagen. Diese Bibelstunden waren für Helene jedesmal ein Stein des Anstoßes. Sie vermißte die schöne, feierliche

Liturgie, die sie daheim so sehr geliebt hatte.

„Ich kann es nicht mit anhören," sagte sie lachend, im Grunde aber

bitter ernst, „wenn Dean als Gemeindeältester, vom Geiste

getrieben, Gott den Allmächtigen belehrt."

Trotzdem ging sie regelmäßig hin, schon um das Vergnügen des gemein­ samen Weges auszukosten. Zudem hatte sie sich daran zuzuhören, ohne den Sinn zu erfassen, und sich

gewöhnt,

dadurch

manche Mißempfindung über ihre Umgebung er­

spart.

An jenem Mittwoch Abend aber wollte dieses Mittel

nichts

fruchten.

Sie konnte nicht umhin,

sich über die

grenzenlose Selbstgerechtigkeit und Unduldsamkeit der ein­ zelnen Redner, — das Wort war jedem gestattet, der sich berufen fühlte, — zu empören; ein fester Entschluß keimte in ihr aus; doch lieh sie ihm erst Worte, als der Frieden der

eignen vier Wände die beiden wieder umfing.

Das

Zimmer war dämmrig; das Feuer brannte träumerisch; die

75 große Uhr tickte langsam in der Ecke. Die Herzen der beiden Gatten waren erfüllt von jenem dankbaren Gefühl innigster Harmonie, das sich am liebsten in beredtem Schweigen kündet. Johannes saß auf einem niedrigen Schemel; sein müdes Haupt ruhte in Helenens Schoß, so daß er ihr in die ruhigen, braunen Augen schauen konnte, während er eine ihrer Hände an die Lippen zog. Dann strich er sanft darüber hin und sagte: „Was für eine gute Hand, wie stark und fest!" „Groß genug jedenfalls", versetzte sie lächelnd. Er maß die seine dagegen, durch deren Finger ein nervöses Zucken ging. „Ungefähr dieselbe Größe," fuhr Helene fort; „aber sieh nur die Tintenflecke an Deinem Zeigefinger; das kommt von dem vielen Schreiben. Du solltest Dir überhaupt nicht zu viel aufbürden, Johannes; es ängstigt mich merklich, Dich abends immer so abgespannt zu sehen." „Laß gut sein, liebes Herz," fiel er ein, sie liebevoll an­ blickend; „dafür genieße ich nun auch doppelt ein Ausruhen an Deiner Seite." Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Ich bin überzeugt, Liebste, ich würde gegen jeden Schmerz Wider­ standsfähigkeit haben, wenn ich nur Deine Hand halten dürste, so stark und zuverlässig erscheint sie mir." „Ich muß sie mir darauf hin doch noch einmal be­ trachten", rief Helene und entzog ihm ihre Hand. „Es ist mein voller Ernst", bestätigte Johannes; „ich sehe in ihr ein sichtbares Zeichen der Kraft, die Du mir bedeutest. Mit Deiner Hülfe könnte ich alles ertragen, sogar", fügte er zögernd hinzu, „die schwerste Aufgabe übernehmen, Dir Schmerz zu bereiten." Sie sah verwundert zu ihm nieder: „Was meinst Du nur, Johannes?" fragte sie. „Ich will einmal annehmen, — schließlich kann man

76 alles annehmen, — daß ich Dir zu Deinem eignen Besten Schmerz bereiten müßte: Glaubst Du, daß ich das fertig bekäme?" „Ich hoffe," sagte sie ernst, „daß ich die Kraft haben würde, Dich darin zu unterstützen." Wieder schauten beide schweigend in das Feuer, die Herzen voll warmen Empfindens für einander. Endlich erhob sich Helene auS ihrer Träumerei mit einem Seufzer vollkommnen Behagens. „Uebrigens habe ich heute einen Entschluß gefaßt: Ich gehe nicht mehr in die Bibelstunde!" Ward schaute sie betroffen an und fragte dann mit beklommner Stimme: „Warum nicht, Helene?" Sie blieb vollkommen ruhig. „Du kannst mir glauben, lieber Mann,

daß ich triftige Gründe habe. Meine Ehrfurcht vor den ewigen Dingen ist zu groß, als daß ich es länger anhören könnte, was der Aelteste Dean und Bruder Schmidt darüber quaseln. Die Redensarten, mit denen Schmidt Gott dem Allmächtigen dankt, daß wir nicht wie die Heiden im Schatten des Todes sitzen und Deans geschmacklose Schilde­ rungen der Hölle empören mich einfach. Hat er nicht heute wörtlich von den Seelen gesprochen, „die sich im Schwefel­ pfuhl winden?" Ich glaube nun einmal nicht an die Hölle, warum soll ich mir also dergleichen vorpredigen lassen? Auf unsern hübschen Nachhauseweg verzichte ich deshalb nicht," fügte sie lächelnd hinzu, „ich komme Dir dann immer entgegen." Johannes war ausgestanden, während sie sprach; er lehnte gegen den Kaminsims, sein Antlitz mit der Hand bedeckend. Ihre leichthin gesprochnen Worte hatten ihn so tief erschüttert, daß alles Blut zum Herzen drängte, und er einen Augenblick nicht zu sprechen vermochte. Zum ersten Mal wurde es ihm klar, daß es sich bei ihr nicht nur um Gleichgültigkeit, sondern um positive Ungläubigkeit handle.

77 O,

daß er es so weit hatte kommen lassen! Nach einer

Pause sagte er leise: „Aber ich, mein Weib, ich glaube an

die Hölle." „Ich weiß es," erwiderte sie noch immer lächelnd, „aber für unser Verhältnis ist es doch ganz gleich, was wir glauben.

Meinetwegen sei Muhamedaner, wenn Er wellte

Du nur gut und glücklich dabei sein kannst."

sie unterbrechen; aber sie fuhr mit eifriger Ueberzeugung „Die religiösen Bedürfnisse der einzelnen Menschen sind doch so sehr verschieden. Es giebt Leute, die zum Katholiken geboren sind, gleichviel, was ihre Umgebung fort:

denkt, und so bist Du zum Presbyterianer gestempelt durch

Temperament und

Anlage;

Du

bedarfst

dieser ernsten,

strengen Anschauungen, um Dich gegen Deine eigne Milde

zu wappnen; denn Du bist eine so zarte, liebevolle Seele,

mein guter Mann, wie ich keine andre auf Erden kenne." Und dabei richteten sich ihre Augen mit einer Fülle der Liebe und Anerkennung auf ihn, der tief bekümmert neben ihr stand.

„Ach Helene,"

sagte er sich aufraffend, wie zu einer

schweren Arbeit, „längst habe ich mit Dir davon sprechen

wollen, Du wirst die Hölle nicht so schroff ablehnen, wenn ich Dir beweise, daß"...

„Still", unterbrach

sie ihn,

sanft feinen Mund zuhaltend, „beweisen hilft nichts.

Ich

kann nur das glauben, was meiner innersten Seele ent­

spricht; ich müßte mir selber untreu werden, wollte ich an die Hölle glauben, fändest Du das recht?" Sie schaute ihm dabei mit einem so zuversichtlichen, strahlenden Lächeln an, als könne sie seine Herzensangst

besiegen: „Nun laß es genug sein, Johannes, wir wollen diese Gespräche ein für allemal begraben. mich unglücklich und ändern doch nichts."

Sie machen

„Aber weißt Du denn nicht, daß der geistlichen Selbst-

78 mord begeht, der sich wissentlich vom Wege der Wahrheit entfernt?" „Ach, Du verstehst mich falsch", unterbrach sie ihn, „nach Vollkommenheit soll natürlich jede Seele trachten; nur ist es überflüssig über Einzelheiten zu streiten, die für die großen, unvergänglichen Wahrheiten bedeutungslos sind. Also, merke Dir", sagte sie mit lächelnder Strenge, „nie wieder!" Wie beschwörend lehnte sie sich an ihn und schaute zu ihm auf: „Wir sind so glücklich, Johannes, so glücklich, warum willst Du unsern Frieden stören?" So schwieg er auch dieses Mal bezwungen durch die Liebe zu dem schönen Geschöpf, das bittend vor ihm stand. War es ein Wunder, daß der Seelsorger hinter dem Gatten zurücktrat? Ganz freilich ließ sich das Gewissen nicht be­ schwichtigen: „Wenn Du mich nur sagen lassen wolltest.. „Nein, nein, jetzt nicht!" Helenens Stimme war eine Liebkosung. „Das Predigen ist doch Deine Wonne, weißt Du wohl, daß Du sogar am ersten Tage unsrer Bekannt­ schaft den Pastor herausgekehrt hast?" Wieder einmal bei den lieben, holden Erinnerungen der Brautzeit angelangt, vertieften sich beide Gatten so sehr in die Vergangenheit, daß sie die Gegenwart völlig vergaßen und erst aufmerksam wurden, als sich draußen ein eiliger Schritt hören ließ. „Gewiß Gifford Woodhouse," meinte Johannes, indem er gastlich das Feuer heller schürte. „Der kann's nicht sein," gab Helene zur Antwart, „Giff pfeift doch sonst." Aber es war doch Gifford, der eintrat. Die auflodernde Flamme beleuchtete ihn, und Helene bemerkte, daß er nicht wie sonst heiter und ruhig aussah, sondern, daß sein Antlitz einen Ausdruck der Unruhe und Betrübnis zeigte. „Verzeiht, daß ich noch so spät komme," sagte er, als ihm beide einen freundlichen Willkomm boten; „ich habe

79 Euch wohl unterbrochen?" Ward nickte. „Ja, aber es ist mir sehr lieb; denn ich habe noch zu arbeiten und freue mich, wenn Sie inzwischen meiner Frau die Zeit vertreiben wollen. Entschuldigt mich ein Weilchen; ich komme nach­ her wieder." Damit schloß er die Thür, trotz aller Ein­ wendungen, die Helene und Gisford machten. Die Unterbrechung hatte ihn zur Wirklichkeit zurück­ geführt; von neuem fühlte er den Schmerz und Schrecken den Helenens Worte ihm bereitet, verschärft durch das Be­ wußtsein vernachlässigter Pflicht. Er mußte allein sein, um sich zu sammeln: Grübelnd ging er in seinem kalten Zimmer auf und nieder: Wie sollte er Liebe und Pflicht vereinigen? Aber ach, er kam zu keiner Klarheit. Bei Helenens leb­ haftem Widerwillen gegen das Dogma war es völlig aus­ sichtslos, sie durch Beweise bekehren zu wollen, ebenso aus­ sichtslos ihr zum ferneren Besuch der Bibelstunde zuzureden. „Nein sie kann die kräftige Nahrung, welche meine Ge­ meindeältesten bieten, noch nicht vertragen," gestand er sich seufzend. — „Ich hätte doch wohl nicht so spät kommen sollen," sagte unterdessen Gifford zu Helene, „Du bist gewiß böse, daß ich Deinen Mann vertrieben habe; aber es lag mir so viel daran, Dich zu sprechen, liebe Helene." Es kostete die junge Frau, deren Gedanken noch ganz bei ihrem Gatten waren, eine lebhafte Anstrengung, sich los­ zureißen; doch erwiderte sie mit ihrer allezeit gleichbleiben­ den Liebenswürdigkeit: „Ein so guter Freund, wie Du, stört nie, Gifford; Johannes hätte auch ohne Dein Kommen noch arbeiten müssen; mir ist es nur eine Sorge, ob er sich oben in dem ungeheizten Zimmer nicht erkältet; er hat schon lange einen hartnäckigen Husten; aber was wolltest Du mir denn erzählen?" Sie nahm von ihrem

80 Tischchen ein Strickzeug und fing an zu arbeiten.

Er saß

ihr gegenüber; die Hände in den Taschen, die Füße aus­ gestreckt, den Kopf auf die Brust gesenkt, starrte

er ins

Feuer.

„Was quält Dich, Gifford?" fragte sie freundlich. Er fuhr zusammen, wechselte die Stellung, lehnte seine Ell­

bogen auf die Knie, stützte sein Kinn auf die Hände und fuhr fort ins Feuer zu sehn.

„Ich

möchte Dir etwas

sagen; aber ich weiß nicht recht, wie ich es Dir deutlich

machen kann.

Ein Brief von Tante Ruth

beunruhigt

mich." „Ist irgend etwas bei Howes vorgefallen?" fragte Helene erschreckt und ließ ihre Arbeit sinken. „Nein, nein," beruhigte sie Gifford. „Es ist ganz etwas Andres; um cs offen zu sagen; . . . Tante Ruth meint Luise werde sich demnächst mit Dick Forsythe verloben!" Er brachte die Worte so mühsam heraus, daß Helene sich in ihrer ersten Vermutung bestärkt fühlte und ihn mit einem Aus­ ruf inniger Sympathie anblickte. Er aber wehrte ihr mit der Hand und rief unwillig errötend: „Du darfst mich

nicht mißverstehen; ich will nicht von meiner eignen Ent­ täuschung reden. Eifersucht liegt mir wirklich fern. Wenn der Mann Luisens wert wäre, weiß Gott, ich würde der erste sein, ihm zu

gratulieren.

Du glaubst mir doch,

Helene?" „Zch glaube alles, was Du mir sagst," versicherte sie freundlich, „aber ich verstehe Dich nicht recht; bis jetzt ist

alle Welt des Lobes voll gewesen über den jungen For­ sythe und sogar unsre kritische Tante Adele hat nichts an ihm auszusetzen gehabt." Gifford stand auf und schritt die Stube aus und.

nieder; in seinem Gesicht malte sich die peinlichste Unruhe

81 „Das ist es ja gerade," sagte er, „Tante Ruth schwärmt ja auch für ihn; ich kann auch nichts Greifbares gegen ihn vorbringen; aber das weiß ich bestimmt, daß er ein alberner, eitler Geck ist. Dich wollte ich nur fragen, ob Du — natürlich habe ich kein Recht zu solchen Fragen, ob Du es für möglich hieltest, daß . . ." Hier hielt er inne. Helene hatte ihn verstanden: „Aber Gifford, Du weißt doch selbst, daß Luise sich nun und nimmermehr für einen Mann interessieren wird, den Du als eitel und albern bezeichnest." Er setzte sich nieder und spielte unruhig mit ihrem Knäuel: „Vielleicht merkt sie es nicht", sagte er entschul­ digend. „Wenn Du Vertrauen zu Luise hättest," rief Helene lebhaft, „würdest Du so etwas nicht sagen. (Wenn es Dir möglich ist, bring' mir das Garn nicht in Unord­ nung!) Aber warum fragst Du sie denn nicht selber nach ihrem Urteil über Forsythe, das wäre doch bei weitem das Einfachste." „Ja, wenn ich das dürfte! Aber siehst Du Helene, wenn ich etwas an einem Bewerber tadle, muß sie mich für eifersüchtig halten; sie weiß ja, wie ich für sie fühle, ob­ gleich sie mir jede Hoffnung genommen hat. Dabei gebe ich Dir mein Wort, ich würde sie ihm gönnen, wenn er ein guter Mensch wäre und ich von ihrem Glück an seiner Seite überzeugt sein könnte. Aber er steht so tief unter ihr." Helene antwortete nicht gleich; sie strickte ihre Nadel zu Ende, zog das Knäuel näher und fragte dann: „Was wirfst Du ihm denn eigentlich vor, Gifford?" Er sand es nicht leicht, daraus zu antworten. „Ein allgemeines Miß­ trauen, das sich nicht in Worte fassen läßt, warnt mich vor ihm. Ach Helene, könntest Du nicht an Luise darüber Johannes Ward. 6

82 schreiben?" Die junge Fran schüttelte entschieden den Kopf: „Niemals und wozu auch? Habe doch Vertrauen zu unsrer Luise, einen Unwürdigen wird sie nie lieben; das ist meine feste Ueberzeugung." Gifford schwieg und sah niedergeschlagen vor sich hin. „Vielleicht," wagte Helene nach einer kleinen Pause zu sagen, „vielleicht wird Luise doch noch die Deine." Er blickte sie traurig an: „Das ist ein für allemal vorbei." Ein Wort weitrer Ermutigung, das Helene auf den Lippen hatte, wurde ihr durch Wards Eintritt abgeschnitten. Gifford stand auf, um sich zu verabschieden. „Ihre Frau hat mich gescholten, Herr Pastor; aber es hat mir gut gethan. Vielen Dank, Helene! Gute Nacht!" — Helenens Vertrauen zu ihrer Cousine wäre wohl eini­ germaßen ins Schwanken geraten, hätte sie beobachten können, mit welcher Wonne Luise die Huldigungen ihres Bewerbers cntgegennahm, bestärkt durch den Beifall ihrer Umgebung. An demselben Abend, als Gifford der alten Jugend­ freundin die Bedrängnisse seiner Liebe bekannte, saß Luise Howe vergnügt neben Richard Forsythe und lauschte ge­ spannten Ohres, was er ihr von der großen Welt und seinem flotten Studcntenleben zu berichten wußte. Der Prediger, ganz vertieft in einen Zeitungsartikel, dessen feindselige Tendenz seiner eignen Partei gegenüber ihn bitter ärgerte, hatte die beiden jungen Leute ganz vergessen. Mar schien zu fühlen, daß die Verantwortlichkeit auf ihm ruhe; denn er blinzelte, aus seiner Herrin Schoß sitzend, Richard mißtrauisch an. „Der Hund kann mich nicht leiden," sagte Forsythe lachend, „und dabei habe ich ihm heute ein Biskuit mitge­ bracht. Nun rede mir noch einer von Dankbarkeit bei

83 Tieren; alles bare Uebertreibung!" „Aber Max liebt mich," entgegnete Luise und nahm den Kopf des Teckels zwischen ihre Hände. „Das ist auch ganz etwas andres," rief Richard, „möchte wissen, wie er dem widerstehen sollte. Er teilt damit das Schicksal aller Welt." Luise hielt den Fächer, mit dem sie sich gegen das Feuer schützte, so hoch, daß ihr Nachbar nur noch die Löckchen auf ihrer Stirn sehen konnte: „Wie heiß das Feuer ist!" In diesem Augenblick faltete ihr Vater mit vielem Geräusch seine Zeitung zusammen: „Setz' Dich nicht so nah," versetzte er auf ihre letzte Bemerkung, „als ich so jung war, bürsten Kinder dem Kamin nie näher kommen, als der Teppich reichte." Die jungen Leute lachten, indes er wieder mit seinen politischen Gedanken beschäftigt, murmelte: „Der Reporter kann mir gestohlen bleiben!" Richard schaute zu dem Zerstreuten hinüber und flüsterte hastig: „Max liebt Sie Fräulein Luise, weil Sie so gut gegen ihn sind; man möchte mit ihm tauschen, um —" „Knochen von mir zu bekommen?" fragte Luise errötend. „Ja es ist hier zu heiß; soll ich das Fenster aufmachen, lieber Vater?" Prediger Howe sah sie befremdet an: „Wenn es Dir behagt, mein Kind. Weiß Gott, lieber Forsythe, ich bin nicht fehr unterhaltend gewesen; aber die verdammte Poli­ tik: was meinen Sie zu diesem Angriff auf unsern Kandi­ daten? Verächtlich, was? Wer solch ein Treiben nicht für schmachvoll erklärt, kriegt es mit mir zu thun." „Ja, es ist empörend, lieber Herr Prediger," sagte Richard laut und flüsterte dann Helene zu: „Meine eigentlichen Ansichten darf ich ihm garnicht bekennen; er würde sich schön

wundern!" Als Luise später allein in ihrem Zimmer war, fühlte sie sich durchglüht von einer Empfindung freudigen Stolzes, G*

84 die ihre Wangen heißer machte, als es das Feuer vermocht; still lächelte sie in der Dunkelheit vor sich hin.

Neuntes Kapitel. „Es unterliegt keinem Zweifel, liebe Ruth," sagte Fräulein Deborah auf der Schwelle des Ateliers stehend, „daß wir ein Diner geben müssen; es wird allgemein von uns erwartet, gerade jetzt da Forsythes in die Stadt ziehn." Fräulein Ruth, allezeit den schwesterlichen Vorschlägen gegenüber etwas ablehnend, meinte gleichmütig: „Nun, ich glaube nicht, daß es von uns erwartet wird; aber immerhin können wir es ja thun; ich hatte sogar schon daran gedacht, es Dir vorzuschlagen." Der trübe No­ vemberhimmel hatte die Malerin veranlaßt, ihre Staffelei mit dem begonnenen Apfelblütenzweig beiseite zu sehen und sich einer Arbeit zu widmen, gegen die sich ihr Inner­ stes sträubte, die sie aber trotzdem in stiller Resignation vollzog: Sie wusch ihre Pinsel. Es war unmöglich Hände und Schürze dabei ganz fleckenlos zu erhalten, obgleich sie zum Schutze ersterer Handschuh trug, und die ganze Hal­ tung der Künstlerin drückte einen Protest gegen ihre Thätig­ keit aus: „Laß doch Deine Pinsel von Sara waschen," bat Deborah „und komm' ins Wohnzimmer, damit wir unsre Gesellschaft besprechen können." „Was denkst Du Dir eigentlich," entgegnete die Schwester verdrießlich, „Du weißt doch, daß Sara die ganze Farbe auf den Stiel brin­ gen würde; Du hast eben keine Ahnung, wie eine Künst­ lerin empfindet." Sie zog die Handschuh mit Muße aus, band die Schürze fester und machte sich von neuem ans

85 Werk. „Es mag sein," erwiderte die Nettere, „meinetwegen können wir die Sache ja auch gleich bereden, obgleich es hier kalt ist. Ich denke, wir nehmen Donnerstag, als den geeignetesten Tag. Wäsche und Plätterei ist vorüber, Mittwoch können wir die Speisen machen und Cremes kochen, Donnerstag Vormittag die letzten Vorbereitungen treffen und Freitag wieder alles über Seite bringen; Sonn­ abend giebt es ohnehin immer so viel thun." Ruth war natürlich andrer Ansicht. „Mir wäre Freitag lieber." „Du verstehst eben nichts vom Haushalt," gab Deborah kurz zurück, „und dann weißt Du doch, daß wir Freitags Wilhelm Denner nicht ein­ laden können, weil er abergläubisch inbezug auf den Tag ist. Ueberhaupt paßt mir Freitag nicht." „Nun meinet­ wegen, so laß es bei Donnerstag bleiben; ich kann nur nicht behaupten, daß mir der Tag so besonders paffend er­ scheint." Nachdem Fräulein Ruth so den Mut eigner Ueber­ zeugung bewiesen hatte, fuhr sie eifrig in ihrer Arbeit fort. „Schade, daß heute die Whistpartie abgesagt ist," bemerkte die ältere Schwester, „wir hätten gleich unsern Plan be­ sprechen können; ich werde mir Adele, wenn ich sie morgen in der Kirche treffe, jedenfalls sichern." „Ich bitte Dich dringend, das nicht zu thun," fiel Ruth schnell ein, „wir müssen durchaus schriftlich einladen; der Anstand will es so." „Dummes Zeug," erwiderte Deborah, „an Arabella wollen wir natürlich schreiben; den andern werde ich es aber doch mündlich sagen können!" „Zn diesen Dingen habe ich mehr Urteil, liebe Deborah, ein Mittagessen ist immer etwas Förmliches; etwas ganz andres, als wenn wir Dales oder Howes auf ein Butterbrod bitten." „Un­ sinn!" murmelte die Schwester. Ruths blaffe Wangen

86 röteten sich; sie kniff die Lippen zusammen: „Ich werde mir doch erlauben, Karten zu schreiben." — Wie immer setzten auch dieses Mal die beiden Schwestern ihren Willen durch: Fräulein Deborah wartete am nächsten Tage bei strömendem Regen an der Kirchenthür auf ihre Freunde, um jeden Einzelnen persönlich zu bitten; Fräulein Ruth schickte in der Mittagsstunde Karten herum, aus denen in ihrer feinen, zierlichen Handschrift zu lesen war, daß Fräulein Deborah und Fräulein Ruth Woodhouse sich beehrten, ihre Freunde am nächsten Donnerstag um halb sieben Uhr zu einem einfachen Mittagbrod einzuladen. Die Festsetzung der Essensstunde war natürlich wieder eine Ver­ anlassung zu Meinungsverschiedenheiten. Fräulein Ruth hatte als feierliche Stunde acht Uhr gewünscht, Fräulein Deborah auf sechs Uhr, der üblichen Mittagszeit in Ashurst bestanden und nur sehr ungern der Schwester eine halbe Stunde später bewilligt. Während der nächsten Tage empfand es die arme Ruth sehr bitter, von den interessanten Unterhaltungen zwischen ihrer Schwester und Sara, der erprobten Köchin, ausgeschlossen zu sein, nicht erfahren zu dürfen, welches der vielen selbstgeschriebnen Rezepte zur Anwendung kom­ men würde. Aber auch ihr Glanzpunkt kam: Selbst De­ borah mußte zugeben, daß Ruth ein besondres Talent habe, eine Tafel festlich herzurichten. Die hohen, silbernen Arm­ leuchter, die durchbrochnen Porzellankörbchen mit Obst, die altmodischen Karaffen, die schlanken Weingläser, als Mittel­ stück die Krystallschale mit Ehysanthemum wußte keiner so zierlich und geschmackvoll hinzustellen, wie gerade Ruth. „Du hast wirklich künstlerischen Schwung", versicherte De­ borah, die eben mit großer Befriedigung das Buffet be­ trachtete, auf dem alle ihre herrlichen Gelees und Compots

87 prangten. „Bitte," fragte Ruth, indem sie ruhig eine Obstschale zurechtrückte, die ihre Schwester verschoben hatte, „bitte, wo ist das Zuckerwerk für Freund Dale; es muß nach Tisch auf einem Präsentierbrett im Salon serviert werden." „Sara bringt es schon", erwiderte Deborah, in­ dem sie auf die eben Eintretende wies, die in der einen Hand ein Körbchen mit Konfekt, in der andern ein kunst­ voll aufgebautes Gericht trug, das sie vorsichtig niedersetzte. „Der arme, gute Dale," fuhr Ruth fort, „ich glaube er bekommt zu Hause nicht halb so viel Süßigkeiten, wie er mag; aber was für ein Gericht hat Sara da hereinge­ bracht?" „Ach," erwiderte Deborah in etwas unsichrem Ton, „wenn auch nicht Ostern ist, so habe ich das beliebte Gericht doch gemacht; Du kennst es ja: Sic itur ad astra." Es war eine Speise, die Fräulein Deborah als höchsten Triumph ihrer Kochkunst einst ersonnen und die Prediger Howe als halb religiöser Natur mit jenem lateinischen Namen beehrt hatte, der allerdings von Fräulein Deborah seltsam genug ausgesprochen wurde. Fein geschnittne, zart kandierte Apfelsinen- und Citronenschalen bildeten ein kunst­ volles Nest, in welchem farbige Eier von Wein-Gelee her­ gestellt, ruhten. Weder Kosten noch Mühe waren gespart, um dieses Wunderwerk der Küche vollendet darzustellen, und Deborah's Antlitz strahlte vor Stolz. Streng und ablehnend dagegen blickte Ruth: „Dieses Bauerngericht willst Du doch nicht etwa servieren lasten? Zu Ostern mag es eine gewisse Berechtigung haben; aber jetzt ist es gerade­ zu widersinnig!" „Aber es schmeckt doch so gut", behauptete Deborah. „Das will ich nicht bestreiten," gab Ruth zu, die nichts dagegen hatte es morgen und übermorgen zu verzehren, „aber Du mußt selbst sagen, daß es bei einem feinen Mittagessen nicht stilgemäß ist." Jede weitre De-

88 batte war zwecklos; jede der beiden Damen war zum äußersten Widerstand entschlossen, weil sich jede auf ihrem ureigensten Gebiet bedroht fühlte. Auch in diesem Fall behauptete jede ihren Standpunkt. Das Gericht wurde nicht herumgereicht, sondern prangte auf dem Serviertisch; doch wurde jeder Gast gefragt, ob ihm ein wenig Sikituradastra (Sara hielt es für ein Wort) beliebe. Noch ein wichtiger Punkt blieb zu erledigen: die Toilette der beiden Wirtinnen. Die guten, schwarzseidncn Kleider hatte Sara schon zurcchtgelegt, aber die letzten Feinheiten des Anzuges bestimmten die Damen selber. Deborah hatte noch ihre Spitzen zu wählen nnd Ruth stand lange unentschlossen, ob sie ein blaßlila oder ein silbergraues Sammetband als kleidsamer anlegen solle. Die ältre Schwester war zuerst fertig; eine schöne Brosche mit dem Miniaturbildchen ihres Urgroßvaters hielt die echten Spitzen am Halsausschnitt zusammen. Ihre kleine Gestalt sah in der steifen, glänzenden Seide unge­ wöhnlich würdevoll aus; in feierlich aufrechter Haltung rauschte sie in das Zimmer der Schwester, um mit ihr zusammen hinunterzugehen. Ruth stand noch in ihrem grauen Alpaka-Unterrock gedankenvoll vor ihrer Schublade und hielt zweifelnd die beiden Bänder nebeneinander. War es möglich, daß ihr in dem Augenblick Richard Forsythes elegante Erscheinung, der auch sie gefallen wollte, vor­ schwebte? „Ruth!" sagte mißbilligend Fräulein Deborah. Die Angeredete fuhr zusammen, ließ die Bänder fallen, als wenn sie sich ertappt fühlte und antwortete: „Ich bin gleich fertig." „Es ist auch die höchste Zeit!" und mit bewußter Würde verließ Deborah das Zimmer, indes Ruth eilig ihre

89 Toilette vollendete. Die Verantwortlichkeit das richtige Band zu wählen, überließ sie dem Schicksal, indem sie mit zugemachten Augen in ihren Kasten griff und das zuerst erfaßte mit einer schönen, alten Nadel am Halse befestigte. Die Aufregung verlieh ihrem verblühten Gesichtchen einen Schimmer leiser Röte, ihre Augen glänzten, das Haar saß hübsch und wellig, wie ein Blick in den Spiegel sie be­ lehrte; eine Regung längst vergessener Eitelkeit durchglühte sic, als sie die Treppe hinuntereilte. „Höchste Zeit," rief ihr die Schwester entgegen, die vor dem Kamin stand und sich nervös die Hände rieb. „Warum? wir haben noch eine volle Viertelstunde." „Ja, aber Du mußt doch hier sein; ach Gott, wenn sie nur recht pünktlich kommen; ich habe strikte Ordre ge­ geben, das Wildpret fünf Minuten vor sieben aus dem Ofen zu nehmen. Bitte sieh doch mal nach, was auf der Diele die Uhr ist; es kommt mir ganz so vor, als verspä­ teten sich unsre Gäste." Kaum aber hatte Ruth die Schwelle überschritten, als sie schon zurückgerufen wurde: „Bleib' nur hier, Ruth; Du mußt doch neben mir stehen, wenn sie kommen." Mit diesen Worten eilte sie selber hinaus, um dem Hausmädchen zu sagen, daß sie sich bereit halten müßte, aufzumachen, obgleich die schwesterliche Be­ hauptung, daß noch eine volle Viertelstunde fehle, durchaus berechtigt war. Ruth machte sich inzwischen noch allerlei zu thun, sie stellte hier und da einen Stuhl anders, zupfte die Decken zurecht, hing die Bilder gerade und blieb dann am Klavier stehen, um die Wachskerzen fest zu stecken. Ihre Ruhe war unerschütterlich, während Schwester Deborah in der Sorge um die Rehkeule immer nervöser wurde: „Endlich!" Mit diesem Seufzer der Erleichterung hörte sie den ersten

90 Wagen vorfahren, dem Ehepaar Daale, „Adele in ihrem unvermeidlichen, braunen Atlas," entstieg. Fräulein De­ borah nahm sofort ihren Posten am Kamin ein, strich sich die Spitzen an Kragen und Aermeln zurecht, rieb sich die Hände und bat ihre Schwester in aufgeregtem Flüsterton, „doch ja die Ruhe zu bewahren". Die eintretenden Gäste wurden mit der ganzen Feier­ lichkeit begrüßt, die solche Gelegenheiten fordern. „Welche Freude Dich zu sehen, meine liebe Adele!" „Es ist wirk­ lich zu nett von Euch zu kommen." Und Frau Dale ant­ wortete mit gleicher Liebenswürdigkeit. Vollkommen ver­ gessen war der heftige Streit, den sie heute früh auf der Post gegen Deborah Woodhouse ausgefochten hatte, weil diese behauptete, Tischtücher müßten vierfach zusammengelcgt werden, während ihrer Meinung nach doch dreifaches Falten das einzig Richtige sein konnte. Der nächste Gast war Denner, und gleich nach ihm wurden auch schon Forsythes gemeldet. Richard blickte über die kleinen Wirtinnen hinweg, als suche er jemand, und seine Mutter bekannte seufzend, daß es recht anstrengend sei, Gesellschaften zu be­ suchen. Als mit dem Glockenschlage halb sieben auch Howes und Draytons eintraten, blickte Fräulein Deborah siegesgewiß um sich: Das Essen brauchte nicht zu stehen. Sie ergriff Frau Forsythes Arm, um sie ins Wohnzimmer zu geleiten; Ruth schloß mit Richard Forsythe den kleinen Zug. Es war den guten Tanten nicht in den Sinn ge­ kommen, Richard neben Luise zu sehen, wie sein Wunsch gewesen war; immerhin konnte er sich bei der kleinen Tafelrunde jedem bemerkbar machen: Mit vollem Bewußt­ sein spielte er den Löwen des Tages. Luise war ganz einverstanden, sich neben ihrem väter­ lichen Freunde Denner, eignen Gedanken hingeben zu kön-

91 nen; sein freundliches, aber einförmiges Gespräch begehrte keiner Antwort, sondern war mit einem beistimmenden Lächeln zufrieden. Es waren immer dieselben Gedanken, die sich aufdrängten, immer dieselbe Frage, die ihr im Herzen und Gewissen brannte: „Liebte sie Richard Forsythe?" Er war ja so freundlich und liebenswürdig, brachte ihr ein so warmes Empfinden entgegen und wie verlockend war das Leben, das er ihr bot: Und doch, warum vermochte ihr Innres ihm nicht zuzujubeln, warum stieg Angst und Scheu in ihr auf, wenn sie versuchte, sich an seine Seite zu denken? In dem Augenblick schlug ein Wort Dales an ihr Ohr. „Wie sehr müssen Sie Ihren lieben Neffen entbehren, Fräulein Woodhouse!" „Ach ja, er fehlt uns sehr; wie schade, daß er Herrn Forsythe nicht kennen gelernt hat," antwortete Tante Ruth. Unwillkürlich mußte Luise lächeln; ihre Gedanken nahmen eine andre Richtung: Sie sah im Geist die duftige Dämm­ rung des Pfarrgartens, hörte den Wind in den Pappel­ bäumen rauschen und den milden Ton einer vertrauten Stimme. Als sie mit den andern Damen ins Wohnzimmer zurückging, fühlte sie sich unsicher und unberatener denn je. Auf dem Flur gesellte sich Frau Forsythe zu ihr: „Wie sehr wirst Du mir im Winter fehlen, Luischen," sagte sie mit ihrer sanften, klagenden Stimme, indem sie freundlich die Hand des jungen Mädchens streichelte. „Du bist so liebevoll gegen mich gewesen; keine Tochter hätte sorgsamer handeln können. Ich könnte auch eine eigne nicht lieber haben als Dich: Weißt Du wohl, daß mein armer Sohn nicht glücklich ist?" „So? das thut mir leid," stotterte Luise. „Nun ich hoffe und erwarte bestimmt, daß er sein Glück noch finden wird, bevor er Ashurst verläßt," flüsterte

92 Frau Forsythe auf der Schwelle. Luise wandte sich ab. Durfte sie diese zärtliche Mutter, die so leicht erregbare, betrüben? „Sie wird noch dahinter kommen, was für einen Charakter Arabella hat," dachte Frau Dale, welche sie be­ obachtet hatte, „aber zunächst kann sie sich ja noch in holden Illusionen wiegen." Sie ihrerseits wollte alles thun, die erwünschte Partie herbeizuführen. Dem Wunsche der Wirtin entsprechend, war Luise an das altmodische Klavier getreten, um ein Lieblingslied der beiden Tanten zu singen; aber sie war nicht bei der Sache, die Stimme klang unsicher, die Hände beherrschten die Begleitung nicht; denn hinter sich hörte sie Frau Dale, unter dem Vorwand die Noten zu verfolgen, flüstern: „Du weißt, Luise, sie gehen am nächsten Sonnabend fort; Bitte sei vernünftig! Du findest nie wieder einen, der so blind in Dich verliebt ist, wie er. Nicht wahr, Du bist Sonntag allein zu Hause?" Als die Herren sich von neuem den Damen zugesellten, fand Richard schnell seinen Weg zu Luise, die noch immer musizierte. „Weiter!" bat er, als sie sich bei seinem An­ blick unterbrach. „Nein, es ist hier so kalt, wir wollen ans Feuer gehen," mit diesen Worten schlüpfte sie neben ihren Vater. Sie verharrte den ganzen Abend hindurch in ihrem Schweigen; freilich fiel es nicht sonderlich auf, da Richard die Unterhaltung beherrschte. Später folgte eine Spiel­ partie und zum Schluß wurde Denner um ein Lied ge­ beten. Er stand auf, hustete verlegen, schielte nach For­ sythe und meinte endlich, er wolle es heute lieber lassen. Aber die Damen beharrten mit großer Höflichkeit bei ihrem Wunsch: „Ja, wenn mich Fräulein Ruth begleiten wollte, würde ich es wagen."

93 Fräulein Ruth sträubte sich etwas, da sie nicht ge­ wohnt war „vorzuspielen;" der kleine Rechtsanwalt aber ermutigte sie: „Solche Schüchternheit muß man überwin­ den, liebes Fräulein; ich weiß zwar, daß es nicht ganz leicht ist; aber sie darf nicht zur Gewohnheit werden; je früher sie abgelegt wird, um so besser!" So ließ es denn Fräulein Ruth zu, daß er sie zum Klavier führte, und nachdem sich beide über die Wahl des Stückes geeinigt hatten, sang Denner mit dünner aber wohlklingender Stimme ein altes Liebeslied, das allerseits mit großem Beifall ausgenommen wurde. Gleich darauf trennte man sich, und die beiden Wir­ tinnen blieben, wenn auch etwas müde, doch sehr befriedigt, allein, um nun noch eine ausgiebige Unterhaltung über alle Einzelheiten des Abends zu genießen. Da Prediger Howe es vorzog, den Heimweg zu Fuß zu machen, kam Luise, die gefahren war, lange vor ihm nach Hause. Sie trat in des Vaters Studierzimmer, warf ihren Umhang ab und hockte am Feuer nieder: Ach sie wollte heute noch Klarheit gewinnen; Frau Forsythes letztes Wort: „Sei gut gegen meinen Sohn" hatte sie wieder in tausend Zweifel versetzt. Das Feuer wollte nicht recht brennen, Luise mußte erst noch ein frisches Scheit aufwersen und tüchtig mit dem Blasebalg nachhelfen, um eine lustige Flamme zu wecken; dabei kamen ihre Gedanken ins Wan­ dern; erst hörte sie dem knisternden Ton des frischen Holzes zu, dann dachte sie an den heute verlebten Abend, an Denners Liebeslied, an Fräulein Deborahs gute Gerichte und an Gifford, der überall fehlte. In ihre Träumereien versunken, hatte sie nicht gehört, daß die Hausthür und gleich daraus auch die Zimmerthür geöffnet wurden; erst durch einen knurrenden Ton ihres treuen Max aufmerksam

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gemacht, erkannte sie Richard Forsythe vor sich, der mit seltsam unsichrer Stimme sagte: „Guten Abend, Fräulein Luise, ich störe Sie doch nicht?" Sie sprang auf, ehe er ihr helfen konnte und schaute ihn lebhaft erstaunt, fast unwillig an: Was würde Tante Adele sagen, was Fräulein Deborah denken? Wie durfte ein junges Mädchen Abends allein einen jungen Mann empfangen! „Vater ist noch nicht zu Hause," sagte sie hastig, und verlegen fügte sie hinzu: „Es ist hier so dunkel; der Feuerschein so blendend; ich will gleich Licht bestellen," damit schlüpfte sie hinaus, ohne auf seine abwehrende Bitte zu achten. Nach kurzem trat sie wieder ein, gefolgt von Sally, auf deren Antlitz die lebhafteste Mißbilligung zu lesen war: Sie kannte die Sitten in Ashurst und wußte besser, was sich schickte, als Herr Forsythe. Ihr junger Mann mußte immer schon um 9 Uhr nach Hause gehen. „Wie nett war es heut Abend bei Fräulein Wood­ house," fing Luise von neuem an, als sie wieder beide allein waren, „es ist nirgends gemüthlicher als bei den beiden Tanten." Obgleich Luisens Stimme nicht ganz fest klang, fühlte sie sich doch im Innern zu ihrer eignen Ueberraschung ganz ruhig, fast gleichgültig. „Ja, nein, Fräulein Luise ich weiß wirklich nicht... Ich mußte sie heute Abend noch sprechen und da ich Sie hier allein wußte, bin ich gekommen, um meiner Qual ein Ende zu machen: Ich kann die Ungewißheit nicht länger ertragen." Luisens Herz schlug heftig; dann wurde es ganz still in ihr: Ja mit der Entscheidung würde der lang ersehnte Frieden kommen. Sie sagte kein Wort, stand aber beun­ ruhigt durch seinen flehenden Blick, aus. Er ergriff ihre Hände, drückte sie heftig, unbekümmert um ihren Ausruf

95 des Schmerzes, um ihre Bemühungen sich loszumachen, sprach er leidenschaftlich: „Sie wissen, daß ich Sie liebe; warum wollen Sie mich nicht erhören? O Luise, wie rei­ zend sind Sie, wie glücklich werden wir zusammen sein!" Dabei küßte er ihre Hände mit solcher Glut, daß sie sich erschreckt losriß. Betroffen blickte er sie an, und fuhr ruhiger fort: „Verzeih', ich wollte Dir nicht wehe thun, aber Du weißt ja, wie ich Dich liebe: Ach Luise nur ein Wort, daß auch Du mir gut bist, daß Du ewig die meine sein willst: Nicht wahr, Du willst?" Vor seinem verzehren­ den Blick schlug sie die Augen nieder: Ein leises „Nein," kam über ihre Lippen. Sein lebhaftes, knabenhaftes Ge­ sicht flammte in plötzlichem Aerger auf: „Sie wollen nicht? Sie müssen, warum wollen Sie nicht?" Aber Luise war endlich zu Sicherheit und Klarheit gelangt; traurig und beschämt bekannte sie: „Weil ich Sie nicht liebe, Herr Forsythe." „Aber wie ist das möglich?" rief er heftig, „haben Sie nicht gewußt, was ich für Sie fühlte, sind Sie mir nicht darin entgegen gekommen und jetzt wollen Sie thun, als sei es ein Scherz gewesen: Das kann ich nicht glauben." Luise schwieg: O wie verächtlich erschien sie sich selber, „Es thut mir ja so sehr leid," begann sie von neuem; er aber hörte sie kaum: Mit leidenschaftlichen Worten begann er zu bitten, zu verheißen: „Wir können so glücklich mit ein­ ander werden, wenn Du mich nur ein bischen lieb haben willst. Denke doch, welches Leben sich vor Dir aufthun soll: Jeder Wunsch wird Dir erfüllt werden, Luise," und er fuhr fort, ihr die Zukunft an seiner Seite in den hei­ tersten Farben zu schildern. Sie vermochte den Strom seiner Worte nicht zu wehren, und als er endlich innehielt, war er seines Sieges gewiß. Luise aber schüttelte traurig

96 den Kopf: „Ich kann wirklich nicht, Herr Forsythe; ver­ suchen Sie alles zu vergessen und mir zu vergeben." Er starrte sie an, als verstehe er sie nicht. „So ist es Ihr Ernst? Sie wollen mich für mein ganzes Leben unglücklich machen? Vergessen! Wollte Gott, ich könnte es." Luise blickte schweigend vor sich nieder; sie wußte nichts zu antworten. Er aber fuhr immer lebhafter fort: „Sie haben doch immer gethan, als wenn auch Sie mir gut wären; meine ganze Zukunft hab' ich darauf gebaut, und nun soll ich verzichten. Ach Luise, versuche es doch mit mir; ich will Dich ja so glücklich machen!" „Bitte, bitte," flehte sie, „es kann niemals sein." Für einen Augenblick hatte Richards Stimme einen weichen Klang angenommen, jetzt sprach er hart und bitter: „So haben Sie Sich also den ganzen Sommer hindurch herrlich amüsiert, Fräulein Howe, mich und alle Welt ge­ täuscht." Der Vorwurf traf das Mädchen empfindlich, um so mehr, als sie ihn für unberechtigt hielt. Sie warf ihren Kopf zurück und sah ihn mit ihren großen Augen an, in denen der helle Unwille blitzte. „Ist es männlich, mich zu tadeln? Kann ich dafür, wenn ich Sic nicht lieben lernte?" „In einem solchen Augenblick wählt man seine Worte nicht," rief er eifrig und fügte noch einmal bittend hinzu: „Am Ende besinnen Sie Sich noch, Fräulein Luise. Ich will getrost warten, wenn Sie mir für später Hoffnung geben. Oder lieben Sie jemand anders?" „Nein, davon ist nicht die Rede", erwiderte Luise erregt. „O dann lieben Sie mich, ohne es zu wissen, weil Sie das Wesen der Liebe noch nicht kennen, sagen Sie doch, daß ich Recht habe!" Für den Grad ihrer innern Erregung antwortete Luise sanft genug: „Ich kann es nicht:

97 Zch habe nur den einen Wunsch: Vergessen und vergeben Sie, wenn Sie können; ich bin tief beschämt, Ihnen das angethan zu haben." Ein peinliches Schweigen folgte. Man hörte nur das Feuer knistern. Richard ergriff seinen Hut, um zu gehen; auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um: „Verwinden werde ich diese Enttäuschung nie; das Leben hat fürderhin keinen Reiz mehr für mich; Sie haben schlecht an mir gehandelt; denken Sie daran Fräu­ lein Howe, wenn Sie Sich wieder amüsieren wollen!" — Er war fort, und Luise atmete tief auf, als sie die Hausthür unten ins Schloß fallen hörte. Sie kauerte am Feuer nieder, vor Aerger und Erregung am ganzen Körper zitternd. Hatte sie wirklich schlecht gehandelt? Thränen tiefster Beschämung, bitterster Reue rollten ihr über die heißen Wangen. Mit dem eigentümlichen Verständis treuer Hunde kam Mar leise heran, leckte ihr das Gesicht und blickte sie mit seinen sanften braunen Augen wahrhaft liebe­ voll an. „Ach mein einziger Max," rief Luise, ihren Arm um ihn schlingend und ihr Gesicht an seinem glänzenden Fell bergend: „Was bist Du für ein Trost: Wie viel netter sind Tiere als Menschen!"

Zehntes Kapitel. Unterdessen ging Prediger Howe friedlich und ahnungs­ los neben seinem Freunde Denner her. „Nach einem so guten Mittagessen ist eine kleine Bewegung Doppelt not­ wendig; weiß der Himmel, Deborah Woodhouse kocht doch ausgezeichnet." „Ach ja," erwiderte Denner, der sich trip­ pelnd bemühte mit seinem Begleiter Schritt zu halten, „das habe ich auch schon oft bemerkt." ?>cl>iniu'ö L'T.i >d. 7

98 Der kleine Mann war wieder ganz angethan von dem freundlichen Behagen, das die Häuslichkeit der beiden Schwestern ausströmte, und sein eignes Heim erschien ihm heut Abend, nachdem er mühsam im Dunkeln seine Lampe angezündet, mühsam das verlöschende Feuer aufgemuntert hatte, doppelt kahl und freudlos. Marie führte ein gar zu strenges Regiment, jeder kleine, freundliche Schmuck war verbannt: „Staubfänger kann ich nicht brauchen," Pflegte sie zu sagen, und ihr Wort war Gesetz. „Ja, wenn meine kleine Schwester am Leben geblieben wäre," dachte er, fröstelnd in die schwindende Glut des Feuers starrend, „würde es hier anders aussehn; vielleicht hätte sie malen gelernt wie Fräulein Ruth und jedenfalls so vortrefflich gekocht wie Fräulein Deborah. Wir würden ruhig und behaglich mit einander leben und ich hätte nicht nötig, (hier errötete der gute Denner etwas,) ans Heiraten zu denken. Schon früher hatte er sich zuweilen diesen Gedankenflug gestattet und stets als Gegenstand seiner Verehrung die Damen Woodhouse ins Auge gefaßt. Nie aber war er sich darüber klar geworden, welche der beiden Schwester er „mehr bewundre," wärmer wagte er seine Zuneigung nicht auszudrücken. Heute Abend aber, als er so allein saß und sich das nette Zusammensein zurückrief, indes das Feuer langsam erlosch und draußen der Wind seufzte, faßte er einen heroischen Entschluß. Er wollte sich zur Klarheit hindurchringen, sich für eine der beiden entscheiden. „Ja," sagte er sich, „diese Ungewißheit soll ein Ende haben. Es ist unrecht von mir an Fräulein Ruths Malerei und Musik zu denken und daneben Fräulein Deborahs Kochkunst im Sinn zu haben. Ich werde mich entschließen, gleich mor­ gen." Wesentlich beruhigt ging er zu Bett, litt nächtlicher­ weile unter einem beängstigenden Traum, in dem Mariens

99 brummiges Gesicht immer wieder auftauchte, und frühstückte am andern Morgen mit feierlicher Hast. Er beobachtete verstohlen seine Köchin, die mehr in Amtsstimmung denn je, mit den Tellern klapperte, mit den Thüren warf, und stellte sich mit stillem Herzklopfen vor, was sie zu der Neuigkeit sagen werde; dabei tröstete ihn der Gedanke, daß Fräulein Ruths freundliches Herz ausgleichende Mittel und Wege finden werde; ja er verstieg sich sogar zu der Aussicht einer netten, kleinen Pension für Marie, freilich war es zweifelhaft, ob Fräulein Deborahs Sparsamkeit eine solche billigen könne. Der gute Denner hatte sich doch mehr Festigkeit zu­ getraut, als ihm in Wirklichkeit beschieden war. Vergeb­ lich grübelte er den lieben, langen Tag, prüfte und verglich die beiden verehrten Gestalten. Die Wage stand immer ganz gleich, und hülfloser und bekümmerter denn je, saß er abends an seinem einsamen Herde. Dieser Zustand pei­ nigender Ungewißheit dauerte ganze Tage, ganze Wochen; der kleine Rechtsanwalt verlor Appetit und Farbe, blaß und zerstreut ging er einher. Endlich eines Morgens, als er mit ausgegangner Pfeife über seinen Akten saß, wiederum mit ganzer Seele bei dem Heiratsplan, kam ihm ein er­ lösender Gedanke. Es gab einen Ausweg: Eilig stand er auf, legte die Pfeife auf den Kaminsims, nachdem er sorg­ sam die Asche in den Kohleneimer geschüttet hatte und machte sich daran, seine Taschen zu untersuchen. Auf seinem Gesicht malte sich die größeste Spannung, als er nach und nach ein Messer, ein Metermaß, ein Nadelkissen, ein Schlüsselbund und endlich eine alte Münze herausholte; obgleich sehr abgegriffen, konnte man den Stempel noch erkennen; sie war in Denners Geburtsjahr geprägt worden. Er rieb sie sorgsam an seinem Rockärmel blank, hielt sie 7*

100 prüfend empor und

sagte vor sich hin:

Deborah. Schrift Ruth.

„Kops bedeutet

O Gott, welche von beiden wird

es sein?" Dann kniete er mühsam nieder,

ließ die Münze mit

zitternder Hand kreisen, bückte sich nach vorn und beobach­

tete atemlos, wie sie sich nach rechts und links neigte und endlich unter den Bücherschrank rollte. Zu aufgeregt, um aufzustehen,

rutschte

er

auf

den

Knieen

bis

vor

den

schweren Schrank, bückte sich so tief, daß seine Backe fast

die Erde berührte, und versuchte zu erkennen,

wohin sein

ihn wiese. Kein Wunder, daß er in diesem kritischen Augenblick den Eintritt seines kleinen Neffen nicht bemerkte, der über die Stellung seines Onkels höchlichst Schicksal

verwundert, hülfsbercit fragte: „Dn hast wohl etwas ver­

loren, Onkelchen?" Ohne die Antwort abzumartcn, war er

schon

auf der Erde und halb unter dem Bücherschrank:

„Ich sehe schon, Dein Heckpfennig, den wollen wir gleich

haben; hier ist er schon, er steckte in einer Ritze," und er reichte seinem Onkel, der inzwischen aufgestanden war, die

Münze. EtwaS verlegen griff dieser danach, drehte sie zwischen den Fingern und fragte endlich zögernd: „Hast Du vielleicht bemerkt, welche Seite oben lag?" „Nein, Onkel," antwortete der Kleine, — und sein sommersprossiges

Gesichtchen drückte unverhohlenes Erstaunen aus —

„das

konnte mau auch nicht sehen, weil der Pfennig aufrecht stand." Die Scene hatte ihm aber doch Eindruck gemacht; denn als er nach wenigen Minuten mit seiner Mappe auf

dem Rücken, nach der Schule lief, murmelte er vor sich hin:

„Komisch! ob Onkel Wilhelm wohl den ganzen Tag

in seinem Büreau Kopf oder Schrift spielt?" Der arme Denner starrte inzwischen noch immer auf die Münze, die ihn so bitter enttäuscht hatte.

Was sollte

101 er nun machen? Er war zu abergläubisch, um das Schick­ sal noch einmal auf dieselbe Weise zu befragen, auch wenn in dem Augenblicke nicht Prediger Howe in das Zimmer ge­ treten wäre. „Ich möchte den Verkauf des Pfarrackers mit Dir besprechen, lieber Denner," sagte er, sich die erfrorneu Hände reibend. Der Rechtsanwalt ließ eilig seine Münze in die Tasche gleiten, ganz rot bei dem Gedanken, in welcher Stellung Howe ihn noch vor fünf Minuten getroffen haben würde. „Weiß der Himmel, Denner," sagte der Prediger, als die Geschäftssache erledigt war und er sich zum Gehen anschickte: „Deine Bude hier ist kalt und feucht; das Feuer brenut auch nicht ordentlich." Und ohne weitres machte er sich daran, es gründlich aufzustöbern, obgleich er daheim jeden fremden Eingriff in seine Ofen­ verhältnisse übel zu nehmen pflegte: Für Denners Feuer aber fühlten sich alle seine Freunde verantwortlich. „Ja, Du hast ganz recht," erwiderte Denner, „ich leide auch darunter; bei andern Leuten ist es immer so schön warm, bei Euch, bei Dales, bei Fräulein Woodhouse." Howe lag noch immer auf den Knieen, — seine um­ fangreiche Gestalt beengte den kleinen Raum förmlich, — und blies aus Leibeskräften in die Flamme, so daß sein Gesicht fast purpurrot wurde. „Ich will Dir sagen, Denner, woran es liegt, Dein Mädchen paßt nicht ordentlich auf, sonst könnte das Rohr nicht dermaßen verstopft sein." „Ja," seufzte der Angeredete, „auch darin muß ich Dir Recht geben, sie versteht nicht viel von der Wirtschaft; aber es giebt ja auch nur wenige, die den Haushalt so gut zu leiten verstehen, wie z. B . . . . Fräulein Deborah Woodhouse." „Ganz gewiß," rief Prediger Howe, seine Pelzhandfchuh anziehend: „Ihr Salat neulich Abend, delikat! Kann

102 einem

Sterbenden wieder auf die

Beine

helfen!" und

lachend faßte er nach der Klinke.

„Ganz meine Meinung;

Fräulein Deborah ist eine

höchst ehrenwerte Persönlichkeit, aber steht nicht Fräulein Ruth noch höher, sage mir doch, welche der beiden Damen verehrst Du am meisten?" fragte Denner. Ein vielsagendes Lächeln blitzte in Howes Augen, als er erwiderte:

„Habe

wirklich noch nie daran gedacht, die beiden zu vergleichen; sie sind,

wie Du ganz richtig sagst,

beide höchst ehren­

wert." „Ja wohl," fiel Denner hastig ein, „ich erwähnte es

auch nur, weil

ganz im allgemeinen, es war nur im Vertrauen, ich hätte gerne Deine Ansicht gehört, aber ich lege weiter keinen Wert darauf," schrie er fast, während

der kalte Schweiß auf seiner Stirn perlte.

Die Angst, sich

verraten zu haben, war grenzenlos. Der Freund wendete den Kopf, um sein Gelächter zu

verbergen: „Es ist auch ebenso gut, daß Du's nicht thust, Denner, wie gesagt, ich verehre die beiden von ganzem Herzen, seit meiner Knabenzeit her."

Denner fühlte den leisen Spott hindurch und hustete „Ich sprach wirklich ganz ohne Absicht,"

voller Verlegenheit.

versicherte er nochmals; „Natürlich,

natürlich,"

bestätigte

Howe gutmütig einen nahe liegenden Scherz unterdrückend; um Denners Oual nicht noch zu steigern. Aber als er

außer Hörweite war, lachte er noch einmal hell „Ein kostbarer Einfall, Denner und Fräulein De­

draußen auf:

borah!" Aber seine Heiterkeit dauerte

nicht lange;

er hatte

heute selber Sorgen, die sich nicht abschütteln lassen wollten. Schwester Adele hatte ihm in ihrer bekannten,

rücksichts­

losen Weise die Leviten gelesen, und seine Laune noch mehr

103 zu verderben, war gleich daraus einer von Helenens Briefen angckommen. Beides lag ihm nun im Sinn. Ahnungslos und vergnügt war er vor einer halben Stunde bei seinem Schwager Dale eingetreten, um ihm ein lustiges Bild aus einer Zeitschrift zu zeigen. Aber ihre Freude daran wurde bald durch Frau Dale unter­ brochen, die sofort auf ihren Bruder einzureden begann: „Gut, daß ich Dich treffe Archibald, so kann ich Dir doch wenigstens endlich meine Meinung über Luise sagen. Pfui,

wie riecht es hier nach Rauch! Unausstehlich!" „Na, was hat denn mein armes Kind wieder gethan?" fragte Howe begütigend. „Bitte, thue nicht so, als wenn ich nichts weiter thäte, als die Menschen tadeln; allerdings halte ich es für meine Christenpflicht, jedermann auf seine Fehler aufmerksam zu machen." „Weiß Gott Adele," antwortete Howe mit einer Offenheit, die den Bruder, nicht den Geist­ lichen, charakterisierte; „Du bist sehr bei der Hand, diese Christenpflicht auszuüben. Warum nicht lieber bereit sein, zu loben, anzuerkennen? Das ist doch eine viel edlere Pflicht, meinst Du nicht auch, Heinrich?" Ehe aber Dale, der voll Bewundrung zu seinem mutigen Schwager empor­ schaute, ein Wort der Beistimmung fand, rief Frau Dale aufgebracht: „Habe ich Grund zu Lob und Anerkennung, so spende ich sie gern; aber Ihr werdet doch Luisens Be­ tragen gegen den jungen Forsythe nicht gutheißen? Ara­ bella sagt, er wäre ganz niedergeschmettert durch den Schlag." „Bah," murmelte Dale, „Unkraut vergeht nicht;" Howe aber fragte ungeduldig: „Was meinst Du eigentlich mit dem Schlag?" „Na, den Korb, den Luise ihm ge­ geben hat, was soll ich wohl sonst meinen?" „So? Da­ von höre ich jetzt das erste Wort," versetzte Howe, „nun sie muß es am besten wissen!" „Mir ist es ganz recht,"

104 sagte Dale. „Es war kein Mann für unsre Luise, — laß mich nur reden, liebe Frau, — sie paßten garnicht zu­ sammen. Ich habe mich oft mit ihm unterhalten, auch hier und da mit ihm gespielt. Er spielte nicht wie ein Gentleman, Archibald." „Dummes Zeug," rief Frau Dale in Heller Entrüstung. „Als wenn es darauf ankäme, wie einer spielt; wirklich Heinrich, Du bist doch zu einfältig! Es steht bombenfest, daß Luise eine große Dummheit be­ gangen hat; ich hoffe sehr, sie besinnt sich noch." Howe schwieg; er mußte cs sich zugestehn, daß die Nachricht ihn enttäuscht hatte, und auf dem Wege über­ legte er hin und her, ob er Luise wohl zureden dürfe. „Lieber nicht, dergleichen ist Franensache; es kann mir auch ebenso recht sein, sie noch zu behalten; sie würde mir überall fehlen." So hatte er seine verletzte Eitelkeit bald beruhigt und erfreut Helenens Brief ergriffen, den ihm der Posthalter, der zugleich einen kleinen Kaufladen verwaltete, über den Ladentisch hinüberreichte. Zn einer Ecke, zwischen Tüten und Säcken stehend, überflog er die vier Seiten, aber, ob­ gleich er durch kauflustige Leute dauernd gegrüßt und in der Lektüre unterbrochen wurde, begriff er bald, daß He­ lenens Mitteilungen sich wieder auf religiöse Dinge be­ zogen. „Immer von neuem diese Auseinandersetzungen über das Dogma; warum nur Ward ihren thörichten Ge­ danken nicht endlich einen Riegel vorschiebt", murmelte er verdrießlich. „Es fällt mir immer wieder als befremdend auf," schrieb Helene, „daß Engherzigkeit und Unduldsamkeit sich mit der strengsten Gläubigkeit paaren. Du solltest nur einmal hören, mit welcher Zähigkeit unsre Gemeindeältesten die schrecklichsten Lehren festhalten, nach denen jeder An­ dersdenkende einfach verdammt werden muß. Am schlimm-

105 ften treibt es Alfarettas Vater darin, der sich auf dem Gipfel aller Erkenntnis fühlt; als wenn nicht wie überall im Leben auch auf religiösem Gebiet eine Entwicklung, ein Wachstum vorhanden wäre, so daß wir stufenweise zur Klarheit geführt werden. Und dann erscheint mir, wie ich schon gestern zu Gifford sagte, die Form bedeutungslos dem ewigen Inhalt gegenüber." „Alles dummes Zeug," brummte der Prediger, heftig mit seinem Stock fuchtelnd, „ich werde aber auch Gisford schreiben, daß er garnicht auf solche Unterhaltungen ein­ gehn soll; sie fördern keine Menschenseele, am allerwenigsten ein Frauenzimmer." In dem wieder auftauchenden Mißmut über Helenens Brief hatte Howe Freund Denners Lage ganz vergessen, indes dieser Aermste noch darunter litt. Wie Stunde auf Stunde langsam dahin zog, bemächtigte sich seiner eine wahre Verzweiflung. Wieder ein Tag vorüber, der ihn dem erhofften Ziele um keinen Schritt näher gebracht hatte. Das Abendbrot erschien, und pflichtgetreu wie immer, da­ bei aber völlig zerstreut, tranchierte er den Braten, ohne auszuteilen. Das Zimmer war kalt; durch die schlecht verfchlofsnen Fenster drang ein leiser Zug, der die Lampe flackern ließ. Denner fühlte nichts, sah auch nicht, wie sein kleiner Neffe betrübt seine Hände in die Taschen steckte, teils um sich zu erwärmen, teils um anzudeuten, daß er ganz unbeschäftigt sei; da sein Teller leer geblieben war. Willi, als gut erzogner Junge, sprach sonst nur, wenn man ihn anredete; heute aber unter dem Drucke des Hungers empörte sich seine fügsame Seele, und als der schweigsame Onkel sogar klingelte, um abräumen zu lassen, da stieß er die Worte hervor: „Hat das Abendbrot geschmeckt, lieber Onkel?"

106 Eine Stunde später, — Denner war wieder in seine Grübelei verfallen, — trat Marie ein und legte die auf­ geschlagne Bibel vor ihn nieder; ein Zeichen, daß es Zeit sei, mit der Abendandacht zu beginnen, die für Willi jeden Tag aufs neue eine qualvolle Viertelstunde bedeutete. Das Zimmer war so dunkel; des Onkels Stimme klang so selt­ sam feierlich, Mariens Gestalt, mit schläfrig nickendem Kopfe, die Arme in die Schürze gerollt, warf einen so wunder­ lichen Schatten, daß es dem armen Kleinen graulich zu Mute wurde und er nur den Gedanken an das „Amen" hatte. Desto mehr war der Hausherr selber bei der Sache; weniger aus religiöser Begeisterung, als weil ihm hier die in seinem Beruf so vergeblich ersehnte Gelegenheit gegeben war, sich pathetisch zu äußern. Er genoß es wahrhaft, mit voller Stimme und reicher Modulation JesaiaS donnern, Jeremias klagen zu lassen. Er mußte es selber zugeben, Freund Howe, der allsonntäglich in so fröhlicher Hast Evan­ gelium und Epistel hernnterlas, hätte viel lernen können, wäre es ihm, wie Marie und Willi, vergönnt gewesen, täg­ lich Denners Andachten zu lauschen. Heute war die Ge­ schichte Jephthas an der Reihe. Marie schlummerte fried­ lich, Willi zählte die kleinen Scheiben des Fensters und erwog im stillen, was er thun solle, wenn ihm plötzlich ein Geist erschiene, indes Denner feierlich und langsam vorlas; plötzlich hielt er inne, — es war die Stelle, da der Richter sein Gelübde ablegt, — Angst und Freude spiegel­ ten sich auf seinem Antlitz, er streckte die Hand wie be­ schwörend aus: „War das nicht die erhoffte Offenbarung?" Marie fuhr auf: „Was giebt's, hat's eingeschlagen?" schrie sie. Willi mit ängstlichem Blick das Fenster und das weiße Tischtuch streifend, rutschte vom Stuhl und kniete nieder, weil er die Vorlesung für beendet hielt. Durch

107 seine Bewegung aufmerksam gemacht, kam Denner wieder zu sich; ärgerlich fuhr er sich über die Stirn und las weiter: „Jephtha begann zu fechten gegen die Kinder Am­ mons und Gott gab sie in seine Hand." Als er aber später allein war, schmunzelte er vergnügt vor sich hin: „Jetzt weiß ich, wie ich es anfange, die soll es sein, die mir zuerst begegnet."

Elftes Kapitel.

In dem hochgelegnen Lockhaven war die Winterkälte noch strenger und anhaltender, als in Ashurst. Da der Verkehr auf dem Flusse schon seit vier Wochen eingestellt war, lagen die großen Sägemühlen in unfreiwilliger Ruhe. Der große Holzvorrat war zu rohen Brettern verschnitten, auf dem Zimmerplatz aufgestapelt, um beim ersten Tau­ wetter verladen zu werden. Die stille, kalte Luft roch stark nach frischem Tannenholz, der Erdboden war dick mit Säge­ mehl bedeckt, so daß die Fußtritte unhörbar, wie auf Sammet verhallten. Pastor Ward, von einem Kranken­ besuch heimkehrend, schritt über den Holzplatz, auf dein eine Gruppe müßiger Arbeiter bei einander stand; sie schrieen und lachten laut; augenscheinlich angetrunken, bemerkten sie Ward erst, als er neben ihnen stand. Tom Davis, einer der Hauptschreier, fuhr zusammen und versuchte scheu seine Branntweinflasche zu verstecken: „Dummer Kerl," rief ein andrer, „halt' die Flasche doch nicht so schief, Du gießt ja's Beste auf die Erde," und mit unsichrer Bewegung wollte er sie ihm entreißen. „Halt's Maul," stieß Davis heiser hervor, „der Pastor!"

108 Johannes blickte traurig und schweigend auf die beiden Arbeiter; Davis schlug beschämt die Augen nieder, holte aus seiner zerrissenen Tasche seine Pfeife und fing an, fie mit ungeschickten Fingern zu stopfen, indes der andre gegen den Holzstoß lehnend mit offnem Munde den Geistlichen anstierte. Ein kleiner Junge, der auf den Balken gespielt, war bei Wards Anblick eilig herbeigesprungen, um ihm die Hand zu geben. „Tom," sagte Johannes, „wir haben denselben Weg, begleiten Sie mich nach Hause, und Sie Jim, geben Sie mir die Flasche." „Kann noch nicht mit­ kommen, Herr Pastor," murmelte Tom, „soll noch was kaufen für die Gören; sie hat's gesagt, für die Gören." „Ist es schon besorgt?" fragte Ward. Der Arbeiter lachte einfältig: „Nee noch nid), soll noch geschehn." „Hören Sie Davis," begann Johannes in strengem Ton, „hier das Kind hat Sie aus dem Wege zur Hölle gesehn; wenn ihm der schreckliche Eindruck bleibt, wird seine Seele gerettet werden." Bei dem Wort „Hölle", schreckte Davis zusammen, stieß einen weinerlichen Ton aus und flüsterte: „Na, Herr Pastor, ich bekehre mich noch." Wo diese gesunkene Seele zu fassen war, hatte Ward nur zu richtig erkannt: Liebe, Hoffnung, Scham verhallten seinem Ohr und Gewissen klanglos; Furcht allein erschütterte ihn: Fast nüchtern geworden, brummte er: „Ich komme ja," und taumelnd schritt er neben Johannes hin: „Soll'n mich nicht wieder so treffen, Herr Pastor." Die andern Arbeiter zerstreuten sich auch, da der Geistliche ihnen den Brannt­ wein genommen hatte; nur der kleine Junge kehrte zu seinem Spiel zurück: Der Platz in dem geschützten Winkel­ chen zwischen den Bretterhaufen auf dem weichen Sägemehl mochte ihm behaglicher dünken als das trübe Elternhaus.

109 An seiner Hausthür blieb der Arbeiter stehn, einen letzten verdrossenen Blick auf seinen Begleiter richtend: Augenscheinlich war die unangenehme Empfindung, fich er­ tappt zu sehn, viel größer als das Bewußtsein der Sünde. Ward ging langsam weiter; die Augen zu Boden ge­ richtet, in tiefem Nachdenken: „Der unglückliche Davis!" sagte er leise, „welche Zukunft erwartet ihn!" Dabei fiel ihm ein, was Frau Davis ihm über seine Predigten ge­ sagt hatte. Er seufzte tief, das Bewußtsein, seine Gemeinde zu schädigen bedrückte ihn, und doch fühlte er sich Helenens Ungläubigkeit gegenüber machtlos. Es war sein heiligster Vorsatz, ihre Seele zu retten; aber er brauchte Zeit und Vorbereitung dazu: Sie brachte der heiligen Sache noch zu wenig Verständnis entgegen: Mehr als einmal hatte er versucht, sie auf die Bahn der Wahrheit zu weisen, ihr die Erhabenheit seiner Glaubenssätze, sonderlich der Lehre von der Verwerfung zu erschließen, vergeblich; freundlich aber fest hatte sie jede Besprechung abgelehnt. Von dem nagenden Kummer, den sie ihm damit bereitete, ahnte sie nichts, und er vermochte nicht, sie durch ein Bekenntnis zu betrüben. O des Widerspruches in seiner Liebe! Aus Liebe schwieg er, obgleich Liebe ihn zum Reden drängte. In solchen Gedanken ging er langsam längs des Flusses hin, dicht an der gefrornen Fläche, unter der das dunkle Wasser so vernehmlich rauschte. Sein Weg führte ihn an dem baufälligen Schuppen vorbei, der die alte Feuerspritze barg; im Vorbeigehn konnte er durch die halboffne Thür, die lose in den Angeln hing, erkennen in welch schlechten Zustand sich sämtliche Geräte befanden. Geborsten, undicht, zum Teil ohne Boden standen die Schöpfeimer mit die eingerostete Spritze.

110 Er machte sich

nicht

klar,

die Gefahr dieser Vernachlässigung

zu lebhaft mit dem Gedanken an Helene be­

schäftigt: Wie immer beruhigte er auch heute sein Gewissen,

das zu entschiednem Handelu drängte, mit kleinen Zuge­ ständnissen: „Ich kann sie nur behutsam anfassen, ihr nach

und nach die siegreiche Schönheit der Wahrheit enthüllen; nur meine Predigten sollen nachdrücklicher werden." Helene, die schon lange noch ihm ausgeschaut hatte, trat ihm auf dem Flur entgegen: „Wie spät Du kommst!" rief sie und preßte seine erstarrten Finger gegen ihre warme Backe, „Du bist gewiß ganz erfroren!"

sich und küßte sie mit Ueberzieher ablegte.

Er bückte

strahlendem Lächeln, ehe er den

sagte sie und zog ihn schnell in sein Ar­ „Sieh nur, welch herrliches Feuer! Was macht Deine Patientin?" „Danke, cs geht ihr besser; ach Helene, wie gemütlich

„Komm,"

beitszimmer:

ist es hier, wir haben uns ja seit Mittag nicht gesehn."

„Ja, ich habe auch

große Sehnsucht gehabt; aber nun

wollen wir auch unsern stillen Abend recht genießen; paß auf, wie behaglich Du hier am Feuer essen sollst."

Er folgte ihrem hausfraulichen Thun mit leuchtenden Augen, die Seele voll Dankbarkeit und Behagen. Sie deckte ihm ein Tischchen am Kamin, stellte Schwarzbrot Honig und Butter

hin und holte aus der Küche ein gebratenes Hühnchen: „Selbst gebraten,"

schmecken. dacht,

sagte sie vergnügt,

„nun laß es Dir

Eigentlich hatte ich Dir Thee statt Kaffee zuge­

aber denke Dir: mein ganzer Vorrat ist spurlos

verschwunden." „Ach Helene," erwiderte er lächelnd, während sie ihm Sahne in seinen Kaffee goß,

„ich vergaß ganz Dir zu

sagen, daß ich den Thee heute für die Kranke mitgenommen

111 habe: Ich dachte mir nämlich, daß die arme Seele doch keinen im Hause haben würde, und hättest Du ihre Freude sehen können: Es war wirklich rührend! Ich habe ihn ihr selber gekocht, sie hat mir gesagt, wie," schaltete er auf Helenens ungläubiges Lächeln hin ein, „und sie fand ihn sehr gut." „Ach das war pure Höflichkeit," rief heiter die junge Frau, „oder Anerkennung Deiner Großmut, denn Du hast ihr doch jedenfalls auch meinen hübschen, lackierten Theekasten verehrt?" „Ja das ist wahr, den habe ich dort gelassen." „Willst Du ihn nicht noch holen?" fragte sie scherzend, indem sie sich freundlich zu ihm herniederbeugte und ihm die Tasse abnahm; er streichelte ihr die Wange: „Wie heiß Dich das Feuer gemacht hat." Ein beredtes Lächeln ant­ wortete ihm, Glück und Zufriedenheit kündend. Sie blieb neben ihm stehen, sich seiner Ruhe nach heißem Tagewerke freuend. „Sieh nur den roten Schein, Johannes," rief sie plötz­ lich nach dem Fenster eilend, „sieht es nicht aus wie Feuer?" Er wandte sich um, stand auf und trat hinter sie: Eine seltsame Helligkeit wogte auf und ab, allmählich den ganzen Himmel mit fahlem Schein bedeckend: „Es ist wirklich Feuer!" antwortete er erschreckt, „gieb mir schnell meinen Ueberzieher; ich muß fort!" „Aber Johannes, iß doch erst fertig," bat sie, „Du warst ja so hungrig und müde." Aber schon war er auf dem Flur und hatte seinen Hut ergriffen; sie hielt ihn fest: „Warte einen Augenblick; ich komme mit." Gleich darauf fiel die Thür hinter beiden ins Schloß; „ich fürchte, es ist auf dem Zimmerplatz und der Fluß ist zugefroren," sagte Johannes, als sie in die Dunkelheit hinauseilten.

112 Die bis vor kurzem so stille Straße bot ein bewegtes Bild: Die ganze Bevölkerung schob und trieb durcheinan­ der; mühsam drängte sich der Pastor mit seiner Frau hin­ durch, dem Holzplatze zu. Schon ehe er sichtbar wurde, hörte man die Flammen mit gierigem Ton an den Balken hinauflecken: Als die beiden um die letzte Ecke bogen, sahen sie die lodernde Glut gen Himmel steigen. Wie gebannt durch das schaurig schöne Schauspiel verharrte die Menge regungslos; in der vordersten Reihe erkannte Helene ihren Freund Woodhouse: „Sage nur Gifford," fragte sie atem­ los, als sie endlich hinter ihm stand, „warum geschieht nichts, warum wird nicht gelöscht?" „Weil das völlig aus­ sichtslos ist," erwiderte er, „man hat es zu spät entdeckt; jetzt muß man es herunterbrennen lassen, falls der Wind sich dreht, müßte man die angrenzenden Häuser zu schützen versuchen." Ward schüttelte den Kopf: „Es muß etwas geschehen; wir können die Hände nicht in den Schoß legen." Er wußte nur zu genau, daß diese Feuersbrunst seiner Ge­ meinde völlige Arbeitslosigkeit und damit körperliches und geistiges Elend bedeute. „Leute!" schrie er, „nach der Spritze! nach dem Fluß!" „Es ist zu spät," versicherte Gifford, als die Menge dem forteilenden Pastor nachstürzte. Nur wenige Leute waren zurückgeblieben; unter ihnen Tom Davis, der, durch den Schrecken ernüchtert, an einem Baum lehnte und teilnahmslos in die Glut stierte, obgleich ein neben ihm stehender unglücklich verkrüppelter Mensch ihn mit tausend Verwünschungen beschwor, sich am Rettungswerk zu beteiligen, für welches er selbst zu schwach war. Die Weiber drängten sich mit lauten Klagen und Flüchen händeringend um Helene, die vergeblich nach Worten der Beruhigung suchte. „Wie kam das Feuer aus?" fragte

113 sie endlich die ihr zunächst stehende Frau, die vor Aufre­ gung kaum ihr kleines Kind festzuhalten vermochte. „Er soll/' sie wies mit dem Kopfe nach Davis, „heute nachmittag mit andern auf dem Holzplatz geraucht und getrunken haben; da wird wohl ein Funken daneben ge­ fallen sein; wenn die Leute betrunken sind, wissen sie nie was sie thun," fügte sie mit der Einfalt der Erfahrung hinzu. „Ja," sagte ein andres Weib aus dem Haufen, „den Männern ist ja alles egal; Du da," redete sie Tom an, ihre geballte Faust vor seinen stieren Augen schüttelnd, „würdest keinen Finger rühren, und wenn wir alle drauf gingen. Und Deine arme Frau, eben erst aus den Wochen raus, nu wird er sie noch mehr quälen, wenn er keine Arbeit hat: Jeden Dreier trägt der Mensch in die Schenke," wendete sie sich an Helene. „Als wenn's Dein Mann an­ ders machte!" murrte Tom gereizt durch ihre Beschuldi­ gungen. „Wer giebt's aber immer an?" kreischte das wütende Weib, „meiner nimmt nur ab und zu einen Trop­ fen, und auf dem Holzplatz ist er heute auch nicht gewesen." Sie unterbrach sich; denn das Feuer kam drohend näher und trieb die Menschen in die enge Seitenstraße hinein. Zischend stiegen die verheerenden Flammen zum schwarzen Himmel empor; Funken sprühten nach allen Seiten, als mit furchtbarem Krachen ein Holzhaufen nach dem andern in sich zusammensank. Noch immer blieb die Hülfe fern. Die kostbare Zeit verrann; indes die Leute mit steifen Fingern die zerbrochne Spritze in Stand setzten und mit Aexten Löcher in das Eis hieben, um Wasser schöpfen zu können. Immer blutiger wurde der Himmel hinter ihnen, immer schauriger der Widerschein der Flammen auf dem Eise. Endlich war die Spritze an Ort und Stelle; aber '3l'baunes IVarb.

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114 die größeste Anstrengung vermochte ihr nur einen schüchternen Wasserstrahl zu entlocken, der kaum die vordersten Bretter­ haufen traf. Höhnisch zischten die Flammen, loderten und züngelten ununterbrochen weiter, ihr furchtbares Zerstör rungswerk vollendend. Atemlos kam Johannes zu seiner Gattin: „Was machst Du Helene; Du stehst so nah, komm hierher." Als er die Frau neben ihr erkannte, blickte er suchend umher: „Wo haben Sie Ihren Jungen, Frau Hevins?" „Weiß, nicht, Herr Pastor, wird sich schon zum Abendbrot ein­ stellen?" Obgleich sie ihr Kind bis zu dem Augenblick nicht vermißt hatte, las sie doch in den besorgten Augerr des Geistlichen eine furchtbare Botschaft: „Geh zurück,. Helene," sagte er hastig, „bis hinten an die Häuser, ich ängstige mich sonst um Dich," und zu Frau Hevins ge­ wendet, fügte er hinzu: „Wir müssen Karlchen suchen; er hat heute Nachmittag auf dem Holzplatz gespielt." Mit diesen Worten eilte er fort, um nach dem verlorenen Kinde zu forsche; hinter ihm klang die gellende Stimme der Mutter, die gleich einer Wahnsinnigen schrie: „Mein Junge verbrennt! Hülfe, Hülfe!" Durch ihr Klagegeschrei aus seinem Stumpfsinn aufgerüttelt, blickte Davis auf die jammernde Gestalt, und was das Laster ihm an guten Trieben gelassen hatte, erwachte in seiner Seele: Einen Augenblick stand er zögernd; dann warf er hastig den Rock ab, legte ihn um seinen Kopf, um sich gegen die fallenden Balken zu schützen und stürzte, eine Hand vor den Augen, die andere tastend ausgestreckt, in die dichten Rauchwolken. In banger Erwartung harrten schweigend die Weiber und selbst Frau Hevins verstummte, bis sich ihr plötzlich ein Freudenruf entrang; Ward kehrte zurück und hatte Karlchen an der Hand.

115 „Sie müssen besser auf Ihr Kind achten," sagte er streng; „ich sand den Jungen dicht neben der Spritze." In einem Taumel von Freude und Angst packte die Mutter den Wiedergefundenen; pötzlich fiel ihr Tom ein: „Herr Pastor," schrie sie, ,,o Gott, Tom sucht ihn im Feuer!" „Dort?" fragte Johannes mit der Hand nach dem Flam­ menmeer deutend; „Gott stehe ihm bei!" Davis war hinter zwei hohen, noch verschont gebliebenen Bretterhausen verschwunden; eine plötzlich daraus empor­ züngelnde Flamme schnitt ihm den Rückweg ab. Ihm bei­ zuspringen war unmöglich: Zitternd und zagend stand jeder Einzelne; furchtbare Spannung malte sich auf jedem Ant­ litz: Wie lange sie angehalten, wußte keiner von ihnen, als plötzlich, wie aus dem Höllenrachen selber, Tom tau­ melnd herausstürzte, die Arme tastend ausgebreitet, den versengten Rock noch ums Haupt gelegt. Einen Augenblick stand er wie geblendet still; im nächsten sank er zu Boden. Man hob den Unglücklichen auf, trug ihn aus dem blendenden Feuerschein in die dunklere Nebenstraße. Hülfreiche Hände, liebevolle Worte umgaben ihn von allen Seiten; selbst die Spritzeuleute hatten ihre Arbeit ver­ lassen; sie war ohnehin vollkommen fruchtlos. Johannes drängte sich durch, hob Molly, die sich dicht an ihren starren Vater geschmiegt hatte, sanft empor und legte forschend Hand und Ohr auf Davis'Herz; als er sich auf­ richtete, sahen alle an seinem Ausdruck, daß es mit Tom für immer vorbei sei. Trunkenheit, Hitze und Schrecken mochten einen Herzschlag herbeigeführt haben. Schweigend und entsetzt betrachtete die Menge den häßlichen, aufge­ dunsenen Körper, auf dem jetzt die Würde des Todes ruhte. „Er ist wie ein tapfrer Mann gestorben," sprach Jo­ hannes; „aber seine Frau, die arme Seele!"

116 Schneeflocken begannen zu fallen; unsicher, plötzlich, die Vorboten eines nahenden Sturms. Leise deckten sie das Antlitz des Toten zu, als wollten sie.es jedem un­ freundlichen Blick entziehn. Helene, die Molly von dem traurigen Anblick entfernt hatte, trat zu Johannes: „Ich nehme die Kleine mit, bitte sage es Frau Davis." „Kann Dich Gifford nach Hause bringen?" fragte Ward, den die zärtliche Fürsorge um seine Frau nie verließ. Dann gesellte er sich zu dem traurigen Leichenzug, der schweigend die noch immer feuerhellen Straßen durchschritt. Die Erregung, welche eine große That zu wecken pflegt, war geschwunden; Mitleid und Schrecken beherrschten die Gemüter. Johannes ging gesenkten Hauptes neben der Leiche her; kurz vor Davis' Hause, bat er die Leute durch einen Wink stillzustehn und sprach feierlich und ernst, auf den Verstorbnen weisend: „Hört mich, meine Freunde: Gott redet zu Euch durch den Mund dieses Toten: Höret Seine Worte: Zeit oder Stunde weiß niemand: Seid Ihr bereit, vor das Antlitz Gottes zu treten? Wisset, was ein Mensch säet, das wird er ernten." Mitternacht war längst vorüber, als sich der dichte Menschenknäuel vor Frau Davis' Wohnung zerstreute. Die Aufregung über die Feuersbrunst trat zurück hinter dem unbezwinglichen Interesse am Tode, das allen Menschen gemeinsam, von den Gebildeten verurteilt und verschwiegen, von den Ungebildeten um so schrankenloser geäußert wird. Ward hatte der unglücklichen Witwe zuerst die Trauer­ kunde überbracht; zart und rücksichtsvoll, wie es seine Art war. Sie war gerade beschäftigt, ihr Kleinstes zu be­ ruhigen, als er eintrat, seine Gefährten mit ihrer unheim­ lichen Last zurücklassend. Fragend und beängstigt schaut die Frau in seine ernsten, bekümmerten Augen. Er nahm

117 ihr erst das Kindchen ab, wiegte es zärtlich in seinem Arm, ergriff fest ihre Hand und erzählte ihr voll innigster Teil­ nahme, was geschehn war: „Wie ein Held ist er gestorben, liebe Frau Davis," schloß er freundlich. Kein Klagelaut entrang sich ihren Lippen; sie stand auf und fing an mit nervöser Hast das Zimmer aufzuräumen und alles zu be­ sorgen, was für den Toten nötig war. Es wurde Johannes schwer, die Frau zu verlassen; aus dem Bewußtsein seiner eignen Liebe heraus konnte er ihr das Leid lebendig nachfühlen; aber seine Aufgabe hier war für heute beendet; so stand er auf, legte das Kind, das auf seinen Armen eingeschlasen war, nieder und reichte der Witwe mit freundlichem Abschiedsgruß die Hand. Sie aber hielt ihn auf. An der Leiche ihres Gatten stehend, das deckende Laken glättend, sagte sie leise: „Er war be­ trunken, Herr Pastor!" „Ich weiß es," versetzte er leise und freundlich. „Heut' früh ging er fort, er wollte was für die Kinder kaufen; trinken wollt' er wirklich nicht, die Schenke garnicht sehn; ich weiß es ganz genau. Nachher hat ihn die Nachbarin doch rauskommen sehn; aber ge­ wollt hat er's nicht, Herr Pastor!" Er nickte traurig. „So wird's wohl gewesen fein, Frau Davis." Mit zittern­ der Stimme fuhr sie fort: „Kann er denn was dafür, wenn er's doch nicht vorgehabt hat? Ist er am Ende nicht in Sünden gestorben?" Ihre Stimme brach; sie kniete nieder und verbarg ihr Antlitz an der Brust des Todten. Vergessen war die schlechte Behandlung, die ihr der Trun­ kenbold zugefügt, vergessen Kummer und Groll; er war ihr wieder der, dem ihre erste Neigung gehört. Dieser harte, stumpfsinnige Mann, dieses verarbeitete, vergrämte Weib, hatten einst Jugend und Liebe geteilt. Johannes vermochte, von tiefstem Mitgefühl ergriffen,

118 nicht gleich Worte zu finden. Noch einmal fragte fie in heiserm Ton mit fast drohender Geberde: „Sagen Sie mir Herr Pastor, wird es ihm angerechnet: Ist er in Sünden gestorben?" „O, daß ich nein sagen könnte!" rief er. Mit wildem Schrei verbarg fie das Antlitz: „So halten Sie ihn für ewig verdammt?" Johannes ergriff ihre Hände: „Halten Sie Sich daran, liebe Fran, daß Ihr Mann helden­ mütig in den Tod gegangen ist, nm ein andres Leben zu retten. Ueberlassen Sie die göttlichen Gerichte Gott dem Herren; uns steht es nicht zu, ihm vorzugreifen." Aber sie ließ sich nicht abweisen. Zu erschöpft um weiter zu knieen, war sie gegen das Bett gesunken, die Hand des Toten umklammernd: „Sie glauben also, daß mein Mann auf ewig verworfen ist, weil er in der Trunken­ heit starb?" „Nein," sagte er, „das glaube ich nicht". „So kommt er in den Himmel?" schrie sie in er­ regtem Ton. Der Geistliche gab keine Antwort. Sie packte mit hagern Fingern seinen Arm, schüttelte ihn, neigte ihr ab­ gezehrtes Antlitz dicht zu ihm hinüber und hauchte mehr, als sie sprach: „Bekehrt hat er sich nie, — ich weiß es, — aber würde der Herr ihn in seinen Sünden so plötzlich ab­ gerufen haben, hätte er ihn nicht erretten wollen?" „Lassen Sie uns Seiner Weisheit und Güte vertrauen, Frau Davis." „Aber Sie glauben doch, daß Tom in die Hölle kommt?" Sie las die Antwort in Wards Augen, die mit unendlichem Mitleid auf sie herniederblickten. Ihr Gesicht wurde totenblaß, sie faßte sich nach dem Halse, als sollte sie ersticken.

119 „Gott weiß, was seinen Kindern gut ist," sprach Jo­ hannes: „Er weiß, warum er Ihnen diese Prüfung auf­ erlegt." „Meinen Sie," fragte die Frau langsam, „daß es für Tom gut war, daß er starb?" „Ich meine, es ist gut für Sie, liebe Frau Davis; Gott zieht durch Leid die Seelen der Menschen zu sich." „O," rief sie und ihre Stimme klang heiser und ge­ brochen: „Ich will nichts Gutes für mich, wenn Tom des­ halb sterben mußte. Warum sollte Gott mich lieber haben, als meinen Mann? Es ist ungerecht, daß ihm keine Gna­ denfrist zur Bekehrung gegeben wurde. Vielleicht hätte er sich bei der nächsten Erweckung bekehrt; Sic hätten ge­ wiß über Hölle gepredigt, Herr Pastor. Es kann nicht sein, daß er jetzt im ewigen Feuer brennt, und ich soll leben und dadurch besser werden. Nein, nein! Herr Pastor, sagen Sie nein!" Sie lag zu seinen Füßen; sie umklam­ merte zitternd seine Knie. Aber ob sein Herz im Mitge­ fühl überfloß, sein Glaube blieb unerschütterlich. „Der Tod ist der Sünde Sold," klang es in seiner Seele. Trostes­ worte über des Toten künftiges Geschick zu spenden, hätte er als bewußte Unwahrhaftigkeit empfunden.

Zwölftes Kapitel.

Es hatte bis gegen Morgen geschneit; aber der Tag brach hell und klar herein; wolkenlos wölbte sich der Him­ mel über weißen Dächern. Johannes besuchte in aller Frühe Frau Davis, in deren kleinem Zimmer sich teilnehmende Nachbarn und

120 Freunde drängten: Die Witwe genoß es, der Mittelpunkt allgemeiner Teilnahme zu sein und wurde nicht müde, jedem Ankommenden das traurige Ereignis ausführlich zu be­ richten. In Wards Gegenwart wurde sie schweigsamer: Von neuem peinigte sie die Angst um Toms Seelenheil. Helene hatte ihren Besuch bei Frau Davis auf den Nachmittag verschoben, weil sie mit Recht vermutete, daß sich bis dahin der Schwarm der Neugierigen verlaufen haben würde. Vorher aber packte sic mit Alfarettas Hülfe noch ein Körbchen voll Eßwaren, Brod und Honig für die Kinder. „Sie sagen alle, Frau Pastor," bemerkte Alfaretta, während sie eine Serviette darüber band, „daß Tom Davis gestern in die Hölle gefahren ist; bekehrt hat er sich nie; das weiß ich auch; aber es kommt mir vor, da er doch Karlchen retten wollte, als wäre es nicht ganz gerecht," — hier senkte sie furchtsam die Stimme, „glauben Sie auch, daß er jetzt brennt, Frau Pastor?" „Das glaube ich nun und nimmermehr!" rief Helene mit großer Bestimmtheit. „Ich glaube überhaupt nicht, daß Gott ewige Strafen sendet; denn Er ist gut; darum dürfen wir uns Ihn nicht so grausam vorstellcn. Würden es denn Menschen fertig bekommen, ewig zu zürnen, und ist Gott nicht viel besser als jeder Mensch?" Alfaretta war augenscheinlich beruhigt: „Aber die ewige Gerechtigkeit?" „Gerechtigkeit?" fragte Helene zurück: „Wäre cs gerecht, wenn ich ein kleines Kind an eine gefährliche Stelle setzte, wo es fallen müßte, und es nachher strafen wollte, wenn es gefallen wäre? Wollte denn das Kind dorthin? So hat uns Gott auf die Erde gebracht, wo wir sündigen müssen, kann er uns dafür in Ewigkeit strafen?"

121 Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Kann sein, daß Sie Recht haben, Frau Pastor, aber der Herr Pastor sagen es anders." Helene antwortete nach einer kleinen Pause: „Ja, jetzt hat er etwas andre Ansichten, vielleicht ändert er sie später noch. Siehst Du, selber so gut und freundlich, ist es ihm schrecklich, daß nicht alle Menschen Gott lieben sollten, und er meint, die müßten dafür gestraft werden." Helene fühlte vollkommen das Hinkende dieser Erklä­ rung; Thränen brannten ihr in den Augen, als sie unter­ wegs darüber nachdachte; es widerstrebte ihrer ehrlichen Seele, seine Anschauungen zu entschuldigen. In einem Augenblick der Schwäche drängte es sie, sich auch seinem Glauben zu beugen, um sich ganz eins mit ihm zu wissen Doch nein, seine Glaubenssätze waren zu widersinnig: „Es kommt auch nicht darauf an," dachte sie mit glücklichem Lächeln; „unsere Liebe steht so hoch und fest; religiöse Un­ terschiede können ihr nichts anhaben!" Einen Augenblick blieb sie am Holzplatz stehen, die Stätte der Zerstörung betrachtend. Die schwarzen, ver­ kohlten Balken hoben sich traurig von den beschneiten Bergen und der strahlenden Bläue des Firmamentes ab. Trotz der schneidenden Kälte standen mehrere Gruppen von Arbeitern zusammen: Das gestrige Feuer gewährte ihnen reichlichen Unterhaltungsstoff; denn seine Folgen griffen unmittelbar und grausam in ihr Leben ein. Wie soll­ ten sie ihr tägliches Dasein fristen, da ihnen jede Ar­ beitsmöglichkeit genommen war? Wochen mußten vergehn, ehe ein neuer Holzvorrat ins Thal geschafft werden konnte, die feiernden Hände zu beschäftigen; Wochen, während welcher es zu hungern oder zu betteln galt! Dean, der Gemeindeälteste, im Bewußtsein „höhrer Weisheit" immer

122 bereit, andre zu beraten, hatte den Arbeitern eben die Sachlage ausführlich auseinandergesetzt. Er war zwar selber Zimmermann, hielt aber daneben einen kleinen Kram­ laden; so war es ihm ein Leichtes in dem Gefühl eigner Sicherheit, die andern zu bemitleiden. Als er Helene bemerkte, trat er zu ihr: „Ist es nicht eine wunderbare Fügung der göttlichen Vorsehung, daß der Fluß gestern zugefroren sein mußte, Frau Pastor?' Dean pflegte vor jedem Satz seinen Mnnd für einer Augenblick offen zu halten, — wie um die Spannung feineu Zuhörer zu steigern, — und dann seine Worte mit großer Feierlichkeit auszusprechen. Helene sand seine ganze Art sa unangenehm, daß sie ihm gewöhnlich voller Ungeduld das letzte Wort abschnitt, was er jedes Mal als bitter kränkend empfand. Auch heute fehlten ihr Geduld und Zeit für ein Gespräch mit ihm, und deshalb antwortete sie noch ehe er geendet hatte: „Mir wäre es sehr viel wunderbarer vorge­ kommen, wenn der Fluß um diese Zeit nicht zugefroren wäre." Noch stand Dean offnen Mundes, — die Antwort hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht, — als einer der Arbeiter fragte: „Die plötzliche Heimberufung aus unsrer Mitte wird doch wohl Gegenstand der heutigen Gebetsver­ sammlung sein, Herr Gemeindeältester?" In Deans Ge­ genwart bediente man sich gern biblischer Wendungen. „So wird es sein," bekräftigte der Aelteste. „O mögen alle ungläubigen Seelen sich ein Beispiel daran nehmen!" Er blickte bedeutungsvoll auf Helene: „Sie sind so lange nicht in unsern Bibelstunden gewesen, Frau Pastor. Warum besuchen Sie die Stätte des Segens nicht, wo das Herz des Sünders vom lebendigen Fener Gottes berührt wird? Dort lernt der Sünder zu wandeln im Lichte des Herrn,

123 ja ttn Lichte des Herrn!" wiederholte er im salbungsvollen Ton, als spräche er zur versammelten Gemeinde. Helene schwieg. Er aber ließ sich nicht abweisen, sondern fuhr mit Nachdruck fort: „Ich hoffe, wir sehen Sie in Zukunft regelmäßig unter uns, Frau Pastor; die gnadenreiche Zeit der Erweckung ist nahe. Warum hielten Sie sich so lange fern?" Helene errötete bei seinen dreisten Fragen vor Aerger; doch erwiderte sie ruhig: „Ich halte nichts von diesen Gebetsversammlungen, Herr Dean." Ehe der Aelteste sich von dieser Antwort erholen konnte, wurde er von Fran Hevins angeredet: „Sind Sie schon bei der armen Davis gewesen, Herr Dean? Denken Sie, erst um zwölf Uhr ist sie zur Ruhe gekommen; so lange hat sie gejammert, die Nachbarin hat's erzählt." „Ja, ich habe sie besucht," erwiderte der Angeredete und neigte feierlich das Haupt. „Trost zu spenden, war ich dort. O welches furchtbare Strafgericht ist doch über diesen Verlornen gekommen; er hat die Gnadenfrist ver­ paßt, nun muß er ewig in der Hölle brennen, wie ich der Fran auch gesagt habe. Ja, Gottes Gerechtigkeit ist groß; das muß ihr Trost sein!" „Um Himmels Willen," rief Helene, „Sie werden doch der unglücklchen Frau nicht gesagt haben, daß ihr Mann in der Hölle ist?" Ihr Ton drückte ein so lebhaftes Ent­ setzen aus, daß Dean nur stotternd heransbrachte: „Gewiß habe ich ihr das gesagt." „Wie konnten Sie es wagen," rief Helene in heller Empörung, ohne sich um die Umstehenden zu kümmern, „wie konnten Sie es wagen, Gottes Güte so zu schmähen? Tom Davis, der den Tod der Aufopferung starb, ist gewiß nicht in der Hölle!" Ihre Worte begegneten tiefem Schwei­ gen. Dean war zu verblüfft, um überhaupt eine Antwort

124 zu finden, und die andern Leute, ergriffen durch ihre Warm­ herzigkeit, waren fest überzeugt, daß sie Recht hatte. Sie hofften mehr zu hören; aber Helene wandte sich ab und eilte fort tief erregten Gemütes. Endlich, nachdem er zweimal vergeblich den Mund geöffnet hatte, fand Dean Worte: „Möge der Allmächtige ihr vergeben! Tom Davis nicht in der Hölle; ich möchte nur wissen, wozu sie sonst dienen sollte." Helenens Herz brannte in heißem Mitgefühl für das Leid, welches so grausam verschärft worden war. „Es ist schändlich so etwas auszusprcchen; aber ich werde der un­ glücklichen Frau sagen, daß es nicht wahr ist, nicht wahr sein kann!" dachte sie vor Frau Davis'armseliger Wohnung stehen bleibend. Auf ihr Klopfen trat ihr die Witwe ent­ gegen, die Aermel aufgestreift, den Rock hochgesteckt, die Hände voller Seifenschaum: „Ich bin beim Waschen," sagte sie, „Toms Sonntagshemd muß doch morgen sauber fein!" Helene nahm freundlich die nasse Hand und streichelte sie leise: Worte fehlten ihr angesichts dieser Ruhe. Sie folgte Frau Davis in die kleine Küche, um sie von ihrer Arbeit nicht zurückzuhalten und setzte sich auf eine Bank, möglichst aus dem Bereich einer kleinen Flut, die aus dem lecken Fasse heruntertropfte und sich mehr und mehr aus­ breitete. „Ich bringe etwas zu essen für die Kinder, liebe Frau DaviS," sagte Helene, „ich weiß, daß man in solchen schweren Zeiten nicht an Speise und Trank denken mag." Aber die Frau schien kaum darauf zu hören; sie wusch stetig weiter; nur einmal entrang sich ihrer Brust ein schwerer Seufzer und mit nasser Hand fuhr sie sich über die Augen. Litt sie unter Deans grausamen Worten?

125 Helene vermochte nicht länger zu schweigen: „Liebe Frau Davis, es thut mir so leib." So einfach dieses Wort war, es fand den Weg zum Herzen der Unglücklichen, die den ganzen Vormittag hin­ durch stumpfsinnig und gedankenlos die Beileidsbezeigungen der Nachbarn mit angehört hatte. Eine große Thräne rollte ihr über die Wange und fiel in das Waschfaß. „Danke Ihnen, Frau Pastor!" antwortete sie. Sie wen­ dete sich nach dem kleinen Fenster zu, hielt prüfend das Hemd gegen das Licht, um es dann auszuringen; als sie wieder sprach, klang ihre Stimme sicher und ruhig: „Herr Dean hat gesagt, ich sollte Gottes Gerechtigkeit preisen und nicht betrübt sein; gute Christen freuten sich, wenn Sünder in die Hölle kämen, auch wenn's das eigne Fleisch und Blut wär'!" „Ich bin überzeugt," versetzte Helene, die durch die Ruhe der Frau ihre eigne Fassung wiedergewonnen hatte, „daß Sie ein volles Recht haben, Ihren Gatten zu be­ trauern; aber Sie brauchen ihn nicht in der Hölle zu suchen; was Dean darüber sagt, ist nicht wahr." Frau Davis blickte von ihrer Arbeit auf; eine leise Ueberraschung malte sich in ihren schlaffen Zügen; doch versetzte sie kopfschüttelnd: „Nicht daß ich sagen will, er hätte Unrecht, und Tom wär nicht am Ort der Qual, ich bin eine gute Christin und bekehrt seit ich zwölf Jahre war; Tom hat sich nie bekehrt; aber er wollte immer noch umkehren; denn gut war er, seelensgut, aber 'n ordentlicher Christ war er nie, und darum sage ich auch nicht, daß er nicht verworfen ist, alles, was ich sage, ist" — und dabei preßte sie in plötzlicher Leidenschaft die Hände vors Ge­ sicht, — „daß ich Gott nicht mehr lieben kann; er hat die Macht und läßt Tom verderben."

126 Vergeblich wollte Helene ihr zureden; Frau Davis ließ sich nicht mehr zügeln: „Nein," schrie sie, „und wenn sie zehnmal die Frau Pastor sind, ich sag'L doch: Gott hat Tom keine Frist gegeben und jetzt soll "ich ihn noch lieben! Er", — mit zitterndem Finger zeigte sie nach dem Sarge, — „ist so zu sagen in der Trunkenheit erzeugt. Sein Vater ist dran gestorben, und seine Mutter hat ihm Schnaps in die Milch gegossen, und hat er je was gelernt? Nichts, nur Prügel hat es gegeben, ist es ein Wunder, daß er unbe­ kehrt geblieben ist?" „Das weiß ich alles, liebe Frau Davis," wollte Helene von neuem anfangen; aber mit steigender Heftigkeit fuhr die erregte Frau fort: „Und all das Elend um uns her; sehn Sie sich nur das Haus an und die Dielen, wie das Wasser runterläuft, alles schief und krumm und ein einziges Fenster, das knapp einen Sonnenstrahl reinläßt; hier müssen wir leben zu sechsen, seit das Kleine da ist. Und die Leute um uns her, was thun, sie anders, als fluchen und trinken: Kann sich da einer bekehren; ich sage noch mal: Gott hätt' es ändern können und hat Tom verworfen; ich kann ihn nicht mehr lieben! Es nützt alles nichts." Ein harter, verzweifelter Ausdruck lag auf ihren Zügen, als sie das Hemd nahm und es am Ofen zum Trocknen aufhängte. Helene folgte ihr, umschlang liebevoll die ma­ gern, gebeugten Schultern und rief mit zitternder Stimme, mühsam ihre Thränen zurückhaltend: „Sie haben vollkommen Recht, solch einen Gott kann man-nicht lieb haben; aber wir haben ja einen gütigen Vater im Himmel, nicht einen strengen Richter; glauben Sie doch, daß seine Allmacht Mittel und Wege finden wird, Ihren guten tapfern Mann selig zu machen." Frau Davis stand wie versteinert. Sie konnte den Blick nicht wenden von den schönen, braunen

127 Äugen, die voll unendlichen Mitleids den ihren begegneten. Ihre Lippen zuckten; furchtsam flüsterte sie: „Meinen Sie wirklich, Frau Pastor, daß mein Tom nicht in der Hölle ist?" „Ader ich weiß es ganz gewiß, es würde eine schreiende Ungerechtigkeit fein; gerade, wie Sie sagen, mußte Tom durch die gegebenen Verhältnisse so werden, wie er geworden; dafür kann Gott ihn doch nicht strafen." „Aber," stotterte die Witwe, „er ist doch in seinen Sünden heimgeholt, darum ist er in Ewigkeit verdammt; der Herr Pastor haben's selber gesagt: Auf ewig verdammt!" Die letzten Worte verklangen in einem verzweifelten Schrei. Helene seufzte tief: Welch Zwiespalt! Durfte sie den Worten ihres Gatten widersprechen? „Hören Sie mich, liebe Frau Davis," sprach sie langsam und freundlich, „Ich weiß nicht genau, was mein Mann gesagt hat; das aber weiß ich, daß Gott nicht grausam sondern gnädig ist; er hat Tom nicht verdammt." Der starre Ausdruck im Antlitz der Frau wich mehr und mehr; ihr hoffnungsloser Glaube war erschüttert, nicht durch Beweisgründe, sondern durch die siegreiche Ueber­ zeugungskraft, die aus Helenens Worten strahlte. „Frau Pastor/' fragte sie flehend, „sagen Sie mir wirklich die Wahrheit?" „Aber ganz gewiß," bestätigte Helene, deren Thränen auf Frau Davis Hand fielen. „Gott sei Dank," rief die Frau, „dann darf ich trauern, wie froh bin ich! So lange ich keine Hoffnung mehr hatte, konnte ich's ja nicht, nun kann ich wieder, Gott sei Dank." Sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus; ob es ihren ganzen Körper erschütterte, sie empfand es als eine Er­ leichterung; immer von neuem murmelte sie: „Ich bin so froh, ich bin so froh!" Lange saßen die beiden Frauen bei einander; Helenens

128 liebevolle, tröstliche Reden gossen neue Zuversicht in die arme Seele der Witwe, die heißhungrig jedes Wort ver­ schlang. Vergessen war der schwere Verlust, vergessen die Sorge für die Kinder; nur eine Empfindung beherrschte sie: „Tom sollte gerettet werden?' Die untergehende Sonne, die mit plötzlicher Glut das kleine Vorderzimmer erhellte, mahnte Helene an den Auf­ bruch: „Ich muß jetzt fort; morgen sehe ich wieder nach Ihnen." Auch Frau Davis erhob sich, mit flüchtigem Lächeln antwortete sie: „Möchten Sie Sich nicht noch den Sarg besehn; ich habe den feinsten genommen, den ich kriegen konnte." Sic traten in die kleine Stube, wo Toms Leiche gebettet war. Die Frau strich liebevoll über den lackierten Sargdeckel, als wenn der arme, elende Körper darunter die Berührung hätte spüren können. „Nicht wahr, er ist schön?" fragte sie; „er ist von dem Geld, das mir Herr Pastor gegeben hat. Sie brauchen nicht zu denken, Frau Pastor, daß ich vergessen werde, was Sie mir gesagt haben, ... das über Tom," fügte sie ängstlich hinzu, wie jemand, der von neuem einem furchtbaren Traum zu verfallen fürchtet. „Es ist gut, liebe Frau Davis, behalten Sie es immer im Sinn, und wenn Sie die Gründe vergessen sollten, setze ich sie Ihnen gern noch einmal auseinander." „Danke," versetzte die Frau, „aber der Herr Pastor?" Mit derselben Mißempfindung wie vorher gegen Alfaretta sprach Helene die Ueberzeugung aus, daß er später ihre Ansichten teilen werde. „Auf Wiedersehn morgen, Frau Davis!" und schnell trat sie in die weiße Dämmerung hin­ aus, um sich dem Dank der Frau zu cutziehen. Der Wind blies ihr den feinen Schnee entgegen, als sie mit schnellen Schritten die menschenleere Straße hinuntereilte. Der geschwärzte Holzplatz war bei der starken Kälte, die

129 nach Sonnenuntergang fühlbar wuchs, völlig verödet; der Schnee, der auf den rauchenden Balken geschmolzen war, hatte sich zu langen Eiszapfen.verdichtet; splitternd fiel einer nieder in dem Augenblick, da sie die traurige Stätte betrat. Plötzlich tauchte ihr eine liebe Erinnerung auf, ohne daß sie sich den Zusammenhang mit der Gegenwart hätte erklären können: Luisens weiße Tauben tummelten sich unter dem blauen Julihimmel; der Ashurster Pfarr­ garten stand in voller Farbenpracht vor ihren Augen; es war ihr, als atme sie seine sommerlichen Düfte. Vielleicht war es der Gegensatz zur wachsenden Dunkelheit, zur schneidenden Kälte, der ihr diese lichten Bilder wachrief. Sie seufzte: O hätte sie sich mit ihrem Gatten flüchten können aus dieser drückenden Luft des Elends, der Sünde, die zu verbessern sie machtlos war; ihn befreien können von den hemmenden Glaubensfesseln! „Schließlich hat Frau Davis ganz recht," dachte sie, ihre Schritte beschleunigend, um sich zu erwärmen, „es ist sehr schwer Gott wirklich zu lieben. Er giebt längst nicht allen die gleiche Gelegen­ heit, sich zu bekehre»; alle sind wir an die unvermeid­ liche Vergangenheit gebunden, und ist das nicht ebenso hart, wie ungerecht bestraft zu werden? O wo ist Gott?" Hinter sich hörte sie eine bekannte Stimme und erkannte Gifford Woodhouse. „Du bist wohl bei der armen Davis gewesen?" fragte er, ihr den leeren Korb abnehmend; „ja Giff," antwortete sie seufzend; „aber das Herz ist mir schwer von all dem körperlichen und seelischen Elend: Es ist unglaublich, mit welch entsetzlichen Wahnvorstellungen die Leute sich hier peinigen." Und in beslügelten Worten erzählte sie ihm, was sie heute Nachmittag erlebt hatte. Gifford hörte aufmerksam zu, sein Antlitz wurde immer ernster: „Ja, das ist ihre Vorstellung von Gott," bemerkte Johannes M^td. (J

130 er, als sie schwieg. „Ich freilich würde mir den Teufel so denken; aber es thut mir doch leid, daß Du dem Aeltesten so lebhaft Deine Meinung über die Lehre von der Ver­ werfung gesagt hast. In Deiner Stellung ist Vorsicht ge­ boten!" „Meinst Du etwa als Pastorsfrau sollte ich sol­ chen Blödsinn schweigend mit anhören?" fragte sie lächelnd. „Uebrigens glaube mir, Johannes liebt auch freien Mei­ nungsaustausch." Gifford widersprach dem nicht, obgleich er Ward anders beurteilte, sondern fügte nur hinzu: „Ich will nur hoffen, daß Dean sich nicht etwa vom heiligen Geist getrieben fühlt, öffentlich mit Dir zu verfahren." Beide lachten. „Am Ende darf man doch nicht vergessen," sing der junge Rechtsanwalt von neuem an, „daß in jeder religiösen Ansicht, so eng und thöricht sie auch sein mag, doch ein Fünkchen Wahrheit schlummert, und was kann wahrer sein, als daß die Sünde ewig bestraft wird. Das Fürchterliche an ihren Lehren ist nur, daß sie Gott und nicht die Menschen dafür verantwortlich machen und ihm diese entsetzlichen Strafgerichte mit Schwefel und Feuer zu­ schreiben. Auch in der Wahrheit giebt es Stufen, und es ist nicht recht, jemand hinabzustoßen, weil er die oberste Sprosse noch nicht erklommen hat. Ich glaube bestimmt, daß auch der Glaube an die ewige Verdammnis nur eine Phase in der religiösen Entwicklung ist." „Aber Gifford, Du kannst doch nicht im Ernst mit meinem Protest unzufrieden sein?" fragte Helene ganz ver­ wundert. „Ich habe nichts gegen Deinen Protest, hoffe nur, daß die Art desselben Deinem Mann nicht Unan­ nehmlichkeiten bereiten wird." Trotz ihrer Niedergeschlagen­ heit mußte sie lachen: „Solche Bedenklichkeit kenne ich ja garnicht an Dir; der .große Dean' hat sicherlich die ganze Geschichte schon vergessen, und wenn ich sie heute Abend

131 Johannes nicht erzähle, bekommt er sie überhaupt nicht zu wissen."

Dreizehntes Kapitel. Friedlich und ereignislos verging der Winter in Ashurst: Wirklich aufregend wirkten nur Helenens Bericht über das Feuer und der Gichtanfall, der den tapfern Oberst Drayton packte. In alt hergebrachter Weise spann sich das Alltags­ leben von Tag zu Tage weiter, wohlthuend unterbrochen durch die ebenfalls alt hergebrachte Reihe kleiner Gesell­ schaften und Spielpartien. Aber so beruhigend und freund­ lich auch das Dasein in Ashurst nach außen erschien, ein­ zelnen Gemütern legte es doch schwere Prüfungen auf. So litt z. B. der arme Denner noch immer unter der Un­ gewißheit seines Schicksals; denn auch Jephthas Vorbild war ihm nicht förderlich gewesen, obgleich er genau nach Vorschrift gehandelt hatte. Gleich am andern Morgen war er gewillt, die Entscheidung herbeizuführen. Er machte mit größester Sorgfalt Toilette, zog seinen besten, schwarzen Rock an, ja ergriff, was noch kaum dagewesen, den neuen Hut, mit dem er sonst nur bei den höchsten Feierlichkeiten aufzutreten pflegte. Es war so schönes, klares Wetter, ge­ wiß ein gutes Omen für den wichtigen Gang. Denner fühlte sich so leichtbeschwingt, wie ein jugend­ licher Liebhaber, der des Jawortes gewiß, vor seine Er­ wählte tritt. Ein altes Liebesliedchen summend, mit dem Stock vergnügt in der Luft fuchtelnd, schlug er den Weg nach dem Woodhouseschen Grundstück ein. Schon bog er um die letzte Straßenecke, als ihn eine bittre Enttäuschung aus allen Himmeln riß. Arm in Arm kamen ihm zwei 9*

132 kleine Gestalten entgegen: Denners Augen waren nicht mehr ganz so scharf, wie ehedem, er fühlte nach seiner Brille; aber eine Ahnung der Wahrheit überkam ihn schon jetzt. Sein Lied erstarb; unschlüssig wandte er sich, als wollte er fliehen. Es war zu spät. Denn schon hatte er und zwar ganz gleichzeitig Fräulein Deborah und Fräulein Ruth Woodhouse erkannt. So ging er ihnen denn ent­ gegen; aber sein Schritt war schleppend, sein Blick umdüstert. Es fiel den beiden Schwestern auf, wie zerstreut und verlegen er sie grüßte. „Was mag nur Wilhelm Denner heute haben?" fragte Ruth. „Er ärgert sich jeden­ falls über seinen Haushalt," versetzte Deborah. „Es ist auch ein Skandal, wie abgerissen ihn seine Marie gehn läßt; dabei bin ich überzeugt, daß sie viel zu viel ausgiebt; denn eine Frau, die mit Nadel und Faden spart, pflegt auf der andern Seite oft zu verschwenden." „Ja, es ist jammerschade, daß er sich nicht verheiratet hat," bestätigte Ruth. „Adele behauptet zwar, er wäre nie wieder verliebt gewesen, seitdem Gertrud Drayton. . ." „Es ist wirklich wenig nett von unsrer guten Adele so zu reden," antwortete Deborah in scharfem Ton. „Wer weiß, er hätte vielleicht doch geheiratet, wenn seine Schwägerin früher gestorben wäre." „Aber liebste Deborah, ich finde ihn noch garnicht zu alt zum Heiraten, natürlich müßte er eine Dame in passenden Jahren wählen, nicht zu jung; aber auch nicht zu alt." Deborah antwortete nicht gleich. „Vielleicht hast Dn recht. Jedenfalls ist es meiner Ansicht nach gut, wenn beide alt genug sind, um über sich selbst klar zu sein; denn solche Partie, wie sie Adele durchaus zwischen Luise Howe und dem jungen Forsythe zu Stande bringen will, werde ich nie billigen. Die beiden sind in meinen Augen noch viel zu jung."

133 „Du darfst nicht vergessen, daß er ein wirklich be­ deutender Mensch ist," warf Ruth ein. „Das bestreite ich garnicht; aber", — hier zögerte sie einen Augenblick, „es fehlt ihm die nötige Bescheidenheit." „Ein Mensch, der so viel gesehn hat, wie er, muß doch wohl mit anderm Maßstab gemessen werden?" „Ich gebe das alles zu und bleibe doch dabei," — Fräulein Deborah kämpfte augen­ scheinlich mit einer unangenehmen Erinnerung, — „daß er sehr eingebildet ist. Weißt Du, was er mir neulich antwortete, als ich ihn fragte, ob er auch Whist spielte? Ja ich habe es in einem Winter mal gelernt. In einem Winter! Wozu ein ganzes Leben gehört!" Eine solche Keck­ heit war in der That unverzeihlich; das mußte auch die milde Ruth zugeben. „Wenn Forsythes im April wieder das Haus beziehen, wird die Sache wohl zum Klappen kommen," meinte De­ borah, „Adele sagte neulich, die Verlobung wäre noch nicht officiell, einig werden sie wohl schon sein, davon bin ich fest überzeugt." Durchdrungen von dieser Ueberzeugung hatte Deborah keinen Augenblick gezögert, auch Gifford eine daraus be­ zügliche Mitteilung zu machen, selbstverständlich unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses. Das jedenfalls stand fest: Frau Forsythe hatte das Haus in Ashurst wiederum für Frühjahr und Sommer ge­ mietet, dem Wunsche ihres Sohnes entsprechend, der trotz der erfahrnen Enttäuschung doch an der Hoffnung festhielt, Luisens Gunst mit der Zeit zu gewinnen. Der Wunsch, das schöne Mädchen zu besitzen, war größer, als seine Em­ pfindlichkeit; darum schrieb er ihr einen höchst sentimentalen Brief, stellte seine baldige Ankunft in Aussicht und erging sich in einem kläglichen Liebesgewimmer. Aergerlich und

134 verletzt warf Luise die Zeilen ins Feuer und sah mit einer ge­ wissen Befriedigung zu, wie schnell und spurlos sie verschwanden. „Er ist wirklich zu albern; ich wünschte, er bliebe fort; ich ärgre mich doch nur über ihn," sagte sie vor sich hin. Gut, daß Richard das Schicksal seines Briefes nie erfuhr; der Arme hatte so viel Mühe darauf verwendet und voll und ganz die Schwierigkeit empfunden, Herzensergüsse in guten Stil zu bringen. Inzwischen hatten die beiden Fräulein Woodhouse auf dem Postamt einen Brief vorgefunden, dessen wichtige Neuig­ keit jegliches andre Interesse in den Schatten stellte. Gifsord wollte nächste Woche, von einer Geschäftsreise heimkehrend, einen Tag bei ihnen zubringen. Welche Seligkeit! Tante Deborah bereitete so viele Delikatessen, daß selbst Giffords jugendlicher Appetit sie nicht bewältigen konnte, und Tante Ruth hing ihr letztes Bild, einen schönen Apfelzweig, über seinem Bett auf und stellte ihm ihr bestes, selbstgemachtes Parfüm auf die Toilette. Als er ihnen endlich erreichbar war, umgaben sie ihn unaufhörlich mit einer Fülle kleiner Zärtlichkeiten und Liebkosungen, als wollten sie alles nach­ holen, was ihnen in der Zeit seiner Abwesenheit entgangen war. Er hatte sich einen stillen Abend im Predigerhause gewünscht, wobei ihm die Gesellschaft der Tanten entbehr­ lich erschienen wäre; doch brachte er es, angesichts ihrer Freude, nicht übers Herz sie allein zu lassen. So machte er den Vorschlag, nachdem er sich durch Tante Deborahs Gerichte tapfer durchgegessen hatte, gemeinschaftlich noch auf ein Stündchen hinüberzugehn, ein Vorschlag, der den beiden Dämchen sehr gefiel, da er ihnen Gelegenheit gab, mit dem lieben Neffen Staat zu machen. „Weiß der Himmel," rief Prediger Howe, über seine Brille hinwegschauend, als sie in die Thür traten, „es

135 thut wahrhaft wohl, Dich endlich einmal wieder zu sehn: Was macht Helene?" Er stand auf, seine Zeitung bei Seite schiebend. Max kam schnüffelnd und mit dem Schwänze wedelnd zu Gifford, als wollte er gestreichelt werden. Luise allein begrüßte den alten Freund kühl, und Giffords frohe Empfindungen wurden durch den gleichgül­ tigen Ausdruck ihrer Augen sehr herabgestimmt: „Sie hat nichts für mich übrig," dachte er, während er die Fragen des Predigers beantwortete und Max mit der linken Hand streichelte. „Helene mag inbezug auf Richard Forsythe recht haben; an mich aber denkt sie ebenso wenig." „Komm setz' Dich hierher, lieber Gifford," rief Tante Ruth auf den Stuhl neben sich dcniend. „Nein, da zieht's," ries Tante Deborah ängstlich; „komm lieber ans Feuer Gifford!" Der Neffe lächelte freundlich, blieb aber stehen und hörte, am Kamin lehnend, Howes Fragen nach Helenen an. „Es geht ihr sehr gut," antwortete er, „sie ist die glück­ lichste Frau unter der Sonne." „Ich will Dir mal was sagen, junger Freund," erwiderte Prediger Howe, der es liebte, junge Leute zu begönnern, „Du bist auf dem besten Wege ihr Glück zu stören, wenn Du theologische Unter­ haltungen mit ihr führst. Frauenzimmer verstehn der­ gleichen nicht; ich meine junge," wandte er sich an Tante Deborah, um sich gleich darauf aus Aerger über seine Ungeschicklichkeit auf die Lippen zu beißen. Gifford run­ zelte die Stirn: „Aber Helene sucht solche Gespräche; sie ist nicht danach angethan, sich ihre Religion einimpfen zu lassen." „Das muß sie aber als Frau ihres Mannes!" rief Howe mit unter drücktem Lachen. „Sie wird den Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie sich darauf einläßt, über Prädestination und Erbsünde zu reden."

136 „Das fällt ihr garnicht ein," antwortete Gifford, „mit solchem Ballast hat sie sich nie beschwert; für eine Frau ist sie merkwürdig frei von den Fesseln der Tradition." Luise warf unwillig den Kopf empor, eine Bewegung, die dem jungen Rechtsanwalt völlig entging; er hatte keine Ahnung, wie aufmerksam sie jedem seiner Worte gefolgt war. „Johannes Ward freilich," hob Gifford wieder an,, „ist der ausgesprochne Presbyter, logisch bis zur äußersten Strenge. Neulich kam ein Arbeiter, ein Trunkenbold, bei dem Feuer um, als er ein Kind retten wollte, Helene hat Euch wohl davon geschrieben? Könnt Ihr Euch denken, daß Ward diesen Mann, der den Tod der Aufopferung gestor­ ben ist, trotzdem in der Hölle glaubt, weil er nie bekehrt worden?" Eine allgemeine Entrüstung wurde bei diesen Worten laut. „Schrecklich!" rief Howe und ließ seine Faust schwer auf den Tisch fallen, „das hatte ich bei Gott Ward nicht zugetraut! Empörend!" „Ja, er muß selber ein grausamer Mann sein, sonst könnte er doch solche An­ sichten nicht haben," versicherte Luise, während Tante De­ borah völlig unvermittelt fragte: „Wie haben sich eigent­ lich Deine Flanellhemden getragen, Gifford?" Er ant­ wortete nicht darauf, sondern sagte zu Howe und Luise gewendet, sehr ernst: „Sie beurteilen Ward falsch, lieber Herr Prediger, und grausam ist er ganz und gar nicht, Luise, im Gegenteil der zarteste und rücksichtsvollste Mensch, den ich kenne; er zieht nur die äußersten Konsequenzen." „Meinetwegen mag er so logisch sein, wie er will," erklärte Howe, der immer zum Einlenken bereit war; „meinetwegen mag er auch solche Ideen hegen, wenn sie ihn glücklich machen, aber sie aussprechen ist zu unvor­ sichtig. Medio tutissimus ibis, wie Du weißt. Es muß doch seine Gemeinde beleidigen, wenn er zu Gunsten ihrer

137 Mitglieder so freigebig über die Plätze in der Hölle verfügt." „In der Beziehung hat er nichts zu befürchten, seine Herde kann viel vertragen. Die Leute sind in ihrem Glauben ebenso aufrichtig, wie er, besitzen aber keinen Funken seiner Milde und seines Feingefühls: Ach ja, das religiöse Leben in Lockhaven liegt recht im Argen." „Es muß überhaupt ein gräßlicher Ort sein!" rief Luise. „Helene wird's natürlich nicht zugeben, aber nach allem was man hört, scheint sie keinen einzigen, anständi­ gen Menschen dort zum Verkehr zu haben." „Du kannst mir glauben, Helene verkehrt mit allen," berichtigte Gifford sie in seiner langsamen Weise, ruhig in ihr erregtes Ge­ sicht blickend. „Luise," mahnte ihr Vater, „sei nicht so aufgeregt, „ich kann solche Uebertreibungen nicht leiden." „Ja, es ist noch wie früher, Luise interpunktiert nur mit Ausrufungszeichen," lachte Gifford; seine gute Absicht, die väterliche Rüge abzuschwächen, empfand das junge Mädchen als eine neue Kränkung. „Sage mir nur um alles in der Welt," fragte Howe, „was sagt denn Helene zu solchem Geschwätz?" „Sie legt dem nicht die geringste Bedeutung bei; Wards Persönlich­ keit befriedigt sie so vollkommen, daß ihr seine religiösen Ansichten ziemlich gleichgültig sind. Freilich bei dem Fall mit Davis geriet sie auch in Feuer," und Gifford erzählte ausführlich, wie kräftig sie dem Gemeindeältesten geant­ wortet habe. Der Prediger hörte mit mißbilligendem Kopfschütteln zu. „Dean," schloß Gifford, „hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen, wie er mir selber gesagt hat, er beehrt mich nämlich von Zeit zu Zeit mit seiner Kundschaft, ein dummer aufgeblasener Kerl; bei einer

138 solchen Gelegenheit vertraute er mir an, daß wer nicht an die Hölle glaube dem Atheismus verfallen sei; ich denke aber nicht, daß er den Mut hat, Helene bei ihrem Mann

zu verklagen." „Es bleibt immer eine grenzenlose Thorheit von He­ lene," rief Howe in hellem Zorn. „Sie sollte wahrhaftig mehr gesunden Menschenverstand haben: Paßt auf, sie wird mit solchem Geschwätz ihrem Mann eine schöne Suppe ein­ brocken. Wie sie zu solchen Albernheiten kommt, verstehe ich absolut nicht; sie ist genau so erzogen, wie Luise, und der würde es doch nicht einfallen, plötzliche Bekehrungs­ versuche anzustellen!" Er war aufgestanden und schritt ärgerlich im Zimmer aus und ab, plötzlich blieb er vor Gifsord stehen und sprach, seinen Finger nachdrücklich erhebend: „Ich finde es zu albern von einer jungen Frau, sich um solche Dinge zu bekümmern; es wäre zehnmal besser, wenn sie ihren Haus­ halt besorgen und ihrem Mann ein gutes Mittagbrod kochen wollte." Luise lachte gereizt: „Dazu hat sie ja eine Köchin." „Schweig' Jungfer Naseweis," brummte ihr Vater, während Tante Deborah begütigend einschaltete: „Helene soll eine sehr gute Hausfrau sein." Nun frage ich einen Menschen," fuhr Howe in wachsender Erregung fort, „was geht es sie an, was andre Leute glauben: Sie soll treulich ihre Pflicht thun an dem Platz, da Gottes Ermessen sie hingestellt hat und sich nicht über theologische Probleme den Kopf zerbrechen. Ich werde ihr aber auch morgen ganz gehörig meine Meinung sagen." (Er führte diesen Vorsatz auch aus; da aber wie immer bei ihm sein Zorn nur Flackerfeuer gewesen und über Nacht gänzlich verraucht war, fiel der Brief zahm genug aus.) „Was ich von dem

139 guten Ward denken soll, weiß ich auch nicht," fuhr Howe fort; „er hat zu komische Seiten; habe ich eigentlich je er­ zählt, daß er seit seiner Verheiratung auf sein Gehalt ver­ zichtet hat, zu Gunsten der Armen, weil er findet, daß Helenens Vermögen für ihrer beider bescheidne Ansprüche reicht; wie kann ein Mann von der Tasche seiner Frau leben? In meinen Augen ist er ein . . ." „Christ," ergänzte Gifford den Satz; „folgt er nicht wörtlich Christi Vorbild?" „Es kann ihm aber doch kaum angenehm sein, sich von seiner Frau erhalten zu lassen," beharrte Howe. „Ich glaube Herr Prediger, daß ihn das am aller­ wenigsten stört; er fühlt sich so vollkommen eins mit ihr, daß die Gütergemeinschaft ihm ganz selbstverständlich er­ scheint." „Würdest Du dergleichen fertig kriegen, Hand aufs Herz, Gifford?" fragte Prediger Howe. „Ich glaube nicht," antwortete dieser achselzuckend; „aber ich bin auch kein Ward!" „Gott sei Dank, nein," bekräftigte Howe lachend. Obgleich er selber das Gespräch auf die Dauer mißempfand, fügte er hinzu: „Thu' mir den einzigen Gefallen, Gifford, und bestärke Helene nicht in ihren lächerlichen Anschauungen. Wenn Ward einverstanden wäre, hätt' ich nichts dagegen; aber so kann es nur Zwie­ tracht in die Ehe bringen; denn mit einem bigotten, eigen­ sinnigen Menschen läßt sich nicht streiten. Außerdem solltest auch Du etwas Bessres thun, als Dich mit Zweifeln interessant machen, Verehrtester!" Bewundernd blickten die beiden Tanten auf ihren Seelsorger. „Ja," sagte Deborah zu Luise, „Dein Vater hat ganz Recht, wir wollen Gifford auch warnen, Helene nicht darin zu bestärken, über solche Fragen nachzndenken.

140 Nachdenken ist überhaupt unweiblich. Unser guter Gifford vergißt so leicht, daß sie nur eine Frau ist; er unterhält sich zu gern mit ihr; er kann's eben nicht vergeffen, wie anders es hätte kommen können." Die letzten Worte hauchte Tante Deborah nur. Auch auf dem Heimwege war von nichts andern: die Rede, als von Howes Erregung; beide Tanten waren voll­ kommen seiner Ansicht: „Eine Frau muß immer dieselbe Meinung haben wie ihr Mann, und es ist durchaus un­ recht von der guten Helene, eigne Wegezugehen; sie wird sich ins Unglück bringen. Wirklich, es kann uns allen eine Lehre sein," erklärte Fräulein Woodhouse mit großer Würde. Gifford war zu pietätvoll, um hervorzuheben, daß Tante Deborah wohl kaum noch Gelegenheit haben werde, von dieser Lehre zu profitieren. Er hatte zudem nur mit halbem Ohr hingehört: Ihn beschäftigte Luisens Wesen, für das er keine Erklärung sand.

Vierzehntes Kapitel.

Die Kunde von Helenens Ungläubigkeit verbreitete sich mit Windeseile in der ganzen Stadt; jeder Einzelne, der in den nächsten Tagen Frau Davis besuchte, erfuhr von ihr haarklein, was Frau Pastor über Toms Schicksal gesagt habe. Nur ganz kurze Zeit war es der unglücklichen Frau vergönnt gewesen, von der Hoffnung, die ihr Helene so trostvoll erschlossen, zu zehren: Mit der ganzen Wucht seiner aufgeblasenen Persönlichkeit hatte Dean sie ihrem beküm­ merten Herzen geraubt. Bittrer denn je, wollte sie nichts

141 mehr davon hören. „Es nützt nichts Frau Pastor, nochmal davon anzufangen," sagte sie mürrisch, als Helene sie nach dem Begräbniß besuchte. „Beide, Herr Pastor und Aeltester Dean, haben dasselbe gesagt: Ich habe keine Hoffnung; er -rennt ewig in der Hölle," und als Helene sie unterbrechen wollte, schüttelte sie nur traurig den Kopf: „Es that wohl Ihnen zuzuhören und war gut gemeint, aber die Wahrheit war's nicht, auch keine Religion." Es war unmöglich die eisernen Fesseln der Gewohn­ heit und Tradition zu sprengen: Die Unselige war aus dem Abgrunde völliger Hoffnungslosigkeit nicht zu erretten. Helene berichtete ihrem Gatten davon, als sie Abends, durch seine bloße Gegenwart schon beglückt und getröstet, neben ihm amFener saß. „Ich weiß ja," schloß sie, „daß auch Du an die Hölle glaubst; aber ist es denn nicht schrecklich?" Er strich ihr sanft über den Scheitel: „Ich fürchte, Frau Davis hat Recht; jede Hoffnung ist ausge­ schlossen, muß ausgeschlossen bleiben: Es stehet geschrieben: Die Seele, die sündigt, muß sterben. Sollte der Richter Himmels und der Erden ungerecht sein können?" „Das ist ja gerade der Punkt!" rief sie leidenschaftlich emporspringend. „Er ist die Gerechtigkeit selber. O wenn ich glauben könnte, daß Gott Tom wirklich in die Hölle schickt, müßte ich ihn hassen!" Johannes wollte sie unter­ brechen; aber sie schnitt ihm das Wort ab: „Nie wieder darf davon zwischen uns die Rede sein; glaube, was Du willst, Liebster, aber sprich nicht mit mir davon, wenn Du mich lieb hast. Ich kann es nicht ertragen; gieb mir Dein Wort." „O Helene," versetzte er mit leisem Vorwurf, „wie kann ich Dir verbergen, was mich aufs Tiefste bewegt? Sollten wir jeder unsern eignen Weg gehen? Laß mich

142 Dir doch die Wahrheit und Gerechtigkeit beweisen, laß mich Dir zeigen, wie die Lehre von der Erwählung das Ge­ heimnis von Sünde und Strafe löst." „Nein, nein,” beharrte sie, ihre schmerzliche Erregung niederkämpfend, „nein ich kann nicht darüber sprechen: Zch fühle deutlich, daß ein solcher Glaube mich durch und durch schlecht machen müßte. Also bitte Johannes, schweige davon.” Sie schlang ihre Arme um ihn, küßte ihn zärtlich und eilte hinaus. Er blieb allein, von tausend quälenden Ge­ danken beunruhigt. Er würde noch mehr gelitten haben, hätte er geahnt, wie lebhaft man sich bereits in der Ge­ meinde mit Helenens Ketzerei beschäftigte. Was sie aus der Fülle ihres warmen Herzens heraus in jener stillen Stunde der Witwe gesagt hatte, war durch die vielen Wiederholun­ gen von Mund zu Mund, getrübt, entstellt, übertrieben, schließlich zur vollkommenen Gottesleugnung gestempelt worden. Vor allen war es der würdige Dean, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, von der Höhe seines eignen vortrefflichen Standpunktes herab die junge Predigerfrau, als „das räudige Schaf der Herde”, als „das Unkraut unter dem Weizen”, als „ein Kind der Finsternis” zu bezeichnen. Freilich stieß er eines Abends, als er sich im engsten Familienkreise wiederum in solchen Wendungen er­ ging, auf völlig unerwarteten Widerspruch. Alfaretta, die den Abend bei den Ihren zubrachte, verteidigte ihre geliebte Herrin aufs lebhafteste: „Du kennst sie nicht Vater, sonst würdest Du so etwas nicht sagen, sie ist eine Heilige. Wie hat sie den ganzen Winter für die Armen gearbeitet!” „Deshalb ist sie doch eine Abtrünnige; denn was nutzen die Werke ohne den Glauben? Ein Mensch wird

143 gerecht, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Wie steht im Katechismus, Alfaretta?" fragte der Vater feierlich. Das Mädchen, der Macht der Gewohnheit gehor­ chend, fing an, ihre Antwort herzuleicrn: „Weder durch unsre Sünden, nach durch Sündenvergebung allein können wir das ewige Leben erhalten," .... hier stockte sie. „Weiter," sagte Dean ihr einhelfend: „Werke Unbekehrter können Gott nicht gefallen, fahre fort." Aber Alfaretta wußte ebenso wenig weiter, wie er selber; so beharrte er nicht länger darauf, sondern fügte nur mit großer Würde hinzu: „Du siehst also, daß Mildthätigkeit und Güte ihr nicht helfen; es kommt allein darauf an, was sie glaubt; davon hängt ihre ewige Seligkeit ab, und wenn sie sich nicht bekehrt, bleibt ihr der Himmel ewig verschlossen." Alfaretta aber war eigensinnig: „Ich glaube es nicht Vater; denn sie ist die beste Frau, die ich außer Mutter kenne, und wenn einer in den Himmel kommt ist sie die Erste; glaubst Du nicht auch Thadens?" Thadeus war Alfaretta's „Zukünftiger", der sie all­ wöchentlich zum Ausgehn abholen und Abends hcimbringen durfte. Er hatte dem Gespräch nur wenig Aufmersamkeit geschenkt, es im Gegenteil als unwillkommene Störung empfunden; seine Seele war einzig von dem Gedanken beherrscht, daß jedes neue Wort, zwischen Vater und Tochter gewechselt, seine Hoffnung auf einen ausführlichen Abend­ spaziergang mit der Herzallerliebsten gefährde; ungeduldig auf seinem Stuhl wippeud, den hübschen blonden Kopf gegen die Wand gelehnt, schaute er unverwandt nach der großen Wanduhr, die so rücksichtslos weiter tickte, der ge­ fürchteten neunten Stunde immer näher. Es war ihm sehr unangenehm so plötzlich um seine Meinung befragt zu werden; denn er wünschte des Vaters Beifall zu gewinnen

144 und der Tochter Liebe nicht aufs Spiel zu setzen. So ließ er seinen Stuhl geräuschvoll nach vorn fallen, blickte die Streitenden bedeutungsvoll an und schwieg diplomatisch. Das genügte Alfarettas Eifer keineswegs; ungeduldig wiederholte sie: „Meinst Du nicht auch, Thadeus?" wäh­ rend ihr Vater in äußerstem Erstaunen noch immer schwieg. Der unglückliche Jüngling, von dem Bestreben beseelt, beiden zu gefallen, antwortete endlich: „Ich denke, man kann das Beste hoffen; das ist nicht gegen den Katechismus." Alfaretta strafte diese matte Aeußerung mit einem Blick gründ­ licher Verachtung, ihr Vater aber sprach, nachdem er zweibis dreimal den Mund vorbereitend geöffnet hatte: „Schärfer denn Schlangenbiß verletzt die Undankbarkeit eines Kindes. So manches Mal habe ich ihr das Licht der Wahrheit ge­ zeigt, ihr erklärt, wie jede andre Religion vom Vater alles Bösen stammt. Ich habe sie erzogen im Katechismus und im Bekenntnis; nun will sie mich belehren. Aber das kommt nur daher," rief er wütend mit der Faust auf den Tisch schlagend, daß die große Familienbibel polternd auf den Boden fiel, „daß sie sitzet, wo die Spötter sitzen, daß sie kochet in der Küche einer Ungläubigen. Aber Du sollst ihren Dienst verlassen; ich werde das Seelenheil meines Kindes bewahren, und wenn Bruder Ward selber kochen müßte. Und ich werde ihm die Augen öffnen; er ist ein Verblendeter. Er muß sie bekehren, und wenn er's nicht thut, wird der Gemeindevorstand die Sache in die Hand nehmen." Bei dieser furchtbaren Drohung versagte selbst Alfaretta die Stimme; neben sich hörte sie ihre Mutter flüstern: „Kein Wort mehr, Netta, Vater ist zu böse auf Dich." „Ja," fuhr Dean mit erhabner Stimme fort, „diese Frau ist eine Beule am Leibe der Gemeinde, sie verbreitet Unreinigkeit und Verkehrtheit, wo immer sie ist.

145 Aber sie soll sich bekehren, vorladen werde ich sie öffent­ lich." Dean hielt inne, um Atem zu schöpfen; seine Tochter aber kam ihm zuvor: Ebenso heftig, wie ihr Vater, sprang sie lebhaft auf und rief mit dem Fuße stampfend: „Du darfst so etwas von ihr nicht sagen; es ist eine Lüge; wenn es Engel auf Erden giebt, so ist sie einer und in die Hölle kommt sie niemals, davon bin ich fest überzeugt. Und lieber will ich mit ihr verdammt werden, als ohne sie in den schönsten Himmel kommen, mit allen goldnen Kronen und Harfen." Sie brach in lautes Schluchzen aus. Vergeblich streichelte sic der mitleidige Thadeus: „So weine doch nicht Retta", sic schüttelte ihn heftig ab, immer lauter weinend, brachte sic mühsam die Worte heraus: „Dir ist's doch überhaupt ganz egal, wo ich mal hinkomme." Der Gemcindeälteste war vollkommen niedcrgcschmcttcrt. Sein eignes Fleisch und Blut lästerte Gott den Herrn. „Geh' jetzt nach Hause meine Tochter," sagte er mit feier­ lichem Ernst; „ich werde morgen mit dem Herrn Pastor sprechen; seine Frau hat genug Schaden angcrichtet, Du kündigst ihr; ich werde doch sehenden Auges mein Kind nicht dem Teufel übergeben!" „Ach laß mich doch bei ihr, lieber Vater," schluchzte das Mädchen, vergeblich bemüht, ihre heißen Thränen her­ unterzuschlucken, „sage doch dem Herrn Pastor nichts da­ von! Ich habe das alles ja von mir selber, nicht von ihr." „Hat sie je zu Dir gesagt," fragte der Vater, mit er­ neutem Nachdruck seinen plumpen Finger erhebend, „daß Tom Davis nicht in der Hölle ist?" „Ich weiß nichts," rief Alfaretta verzweifelt, „als daß sie die beste Frau ist, die es giebt." „Darauf kommt's nicht an," erwiderte Dean mit seiner ?'ol'.innes iVart. 10

146 harten, eintönigen Stimme. „Antworte mir, hat Deine Frau Dir gegenüber je die Hölle geleugnet?" Obgleich Alfaretta durch Anlage und Erziehung die Wahrhaftigkeit selber war, bequemte sie sich doch, so sauer es ihr wurde, zu einer Lüge, nur um ihre geliebte Herrin zu retten. „Nein, sie hat niemals etwas über die Hölle zu mir gesagt," erwiderte sie trotzig. Der Vater schwieg, wie ent­ täuscht, einen Augenblick; dann fuhr er, würdevoll umher­ blickend, fort: „Wenn sie's nicht zu Dir gesagt hat, so haben es doch andre von ihr gehört, und mir bleibt die heilige Pflicht, ihrem verblendeten Gatten die Augen zu öffnen. Fürbitte hat diesem verhärteten Gemüte nichts ge­ nutzt; habe ich ihrer Seele nicht in jeder Gebetsversamm­ lung gedacht? Paulus mag pflanzen, Apollo mag gießen; aber es thut nicht gut." Alfaretta kannte den Eigensinn ihres Vaters zu genau, um noch irgend eine Widerrede zu versuchen. Betrübt wischte sie sich die Augen, setzte ihren Sonntagshut mit den wallenden Federn auf und sagte den Ihren mit un­ sichrer Stimme gute Nacht. Thadens stand bereits wartend an der Thür: Die verkörperte Sympathie. Dean war bei allem Fanatismus doch ein Geschäftsmann. Es gab in Lockhaven wenige gute Stellen für junge Mädchen, und die Zeiten waren schlecht. Darum rief er der Tochter, die schon auf dem Flur war, noch nach: „Heute Abend brauchst Du noch nicht zu kündigen, Alfaretta; ich will erst mit dem Herrn Pastor sprechen. Aber sei auf Deiner Hut und rede so wenig wie möglich mit ihr, und Gott der Herr schütze Dich, mein Kind." Trotz seiner Gewissensnöte mußte der Aelteste seine Mitteilungen noch eine Weile für sich behalten. Heftiger

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Rheumatismus in allen Gliedern fesselte ihn ans , Haus, und als er ihn überwunden hatte, war Ward auf acht Tage in Amtsgeschäften verreist. Alfaretta war zu tief bekümmert, um sich an dem letzten Wort des Vaters aufzurichten, thränenfeuchten Auges trat sie in die dunkle Straße. Der gute Thadeus mußte fast rennen, so eilig und ungeduldig strebte sie vorwärts; sie beachtete ihn garnicht, obgleich er, um seine völlige Zer­ knirschung an den Tag zu legen, auf dem schmutzigen Damm trabte, statt neben ihr auf dem Bürgersteig zu gehn. Ihr Schweigen drückte ihn tief. „Netta," fing er schüchtern an, „thu' mir doch den Gefallen," und dabei wollte er den Arm um ihre Taille legen, was ihm schon öfters gestattet worden. Sie aber wehrte ihm und sagte schnippisch: „Bitte, bemühen Sic Sich nicht weiter um mich, Herr Thadeus Green; jeder, der Frau Pastor für die Hölle reif hält, mag mir fern bleiben." „Aber ich sage ja garnichts," fing Thadeus weinerlich an, wurde aber von der entrüsteten Freundin unterbrochen: „Wenn Du überhaupt solche Angst um verlorene Seelen hast, begreife ich nicht, daß Du Dir neue Stiefeln kaufst, statt Dein Geld den Armen zu geben." Vielleicht war es die Erwähnung der neuen Stiesel, die Thadeus veranlaßte, auf das Trottoir zu kommen; er faßte ihre Hand und sagte aufrichtig: „Siehst Du, ich hatte ja nur solche Angst vor Deinem Vater; denn wenn er mich nicht für gläubig hält, dürfen wir nicht mehr ver­ kehren; Du weißt doch, warum ich überhaupt Sonntags in die Kirche gehe?" „Gut," sagte Alfaretta in versöhnlicher Stimmung, „so glaubst Du also, daß Frau Pastor in den Himmel kommt?" „Ganz gewiß," antwortete Thadeus mit großer 10'

148 Zuversicht, „wo sollte sie auch bleiben," fügte er mit einem Anflug von Galanterie hinzu, „wenn sie mit Dir zusammen geht; Dir ist doch der Himmel sicher."

Fünfzehntes Kapitel. Mitte April bezog Frau Forsythe das Haus in Ashnrst; zunächst kam sie allein, da ihr' Sohn, wie sie erzählte, für die nächsten vierzehn Tage verhindert sei. Luise atmete erleichtert auf; der Aufschub gewährte ihr willkommne Ge­ legenheit, die hochverehrte, mütterliche Freundin fleißig zu besuchen. Mit ihrer feinen Erscheinung, den rosigen Wangen, dem welligen weißen Scheitel, den wohlgepflegtcn Händen, der melancholischen Stimme war Frau Forsythe das ganze Ideal deS jungen Mädchens; ihr leidender Zustand, den sie so gern zur Schau trug, verlieh ihr in Luisens Augen einen Hauch interessanter Gebrechlichkeit, der ihre Liebe und Verehrung nur steigerte. Der Gedanke, diese zarte Gestalt mit Rücksicht und Sorge umgeben zu können, that ihrem warmherzigen Gemüte wohl. Und Frau Forsythe war ganz die Persönlichkeit, sich mit Grazie anschwärmen zu lassen. Ihr Sohn hatte sie niemals durch Hingebung und Zärtlichkeit verwöhnt; so genoß sie es doppelt, Luise zur Vertrauten ihrer Leiden, ihrer Ergebung, ihrer Him­ melsahnung zu machen und den Eindruck ihrer Worte auf das erregbare, junge Herz zu beobachten. Daß sie hier nnd da auf die Zukunft ihres Sohnes anspielte, auch zu­ weilen ein Wörtchen zu seinen Gunsten einflocht, konnte Luise den Genuß der schönen Gegenwart nicht verkümmern.

149 Seine Ankunft würde dem freundlichen Verkehr früh genug ein Ende machen; darum hielt sie sich den Gedanken daran möglichst fern. So kam der wunderschöne Monat Mai, erweckte die Natur aus ihrem Winterschlaf und hauchte den Menschenherzen jene unbezwingliche Freudigkeit ein, die das Leben an sich schon zum Genuß macht. Je jünger und unberührter das Herz, um so empfänglicher. Auch Luise, mit ihren achtzehn Jahren, schwelgte in Frühlings­ ahnungen und Frühlingsglück. Eines Morgens war sie in aller Frühe in den Garten zur Steindank geeilt, nm zu sehen, ob nicht die Hyacinthen über Nacht die Augen aufgeschlagen hätten. Ihre Seele war voll dankbarster Freude. Eben hatte ein Brief von Helene gemeldet, daß sie in acht Tagen den längst versprochnen Besuch in Ashurst abstatten wolle, eine herrliche Aussicht, von der sich Luise um so mehr versprach, als Richards Ankunststermin sich abermals verzögert hatte. Einen Strauß Erstlingsblumeu in der Hand, schaute sie ihren weißen Tauben zu, die den roten Scheuncngiebel umkreisten, indes neben ihr die kleine Quelle, durch die Frühjahrsregen geschwätziger denn je^ plauderte. Sie schreckte aus ihrer Betrachtung auf, als sie hinter sich ihren Namen rufen hörte. Rechtsanwalt Denner mit seinen Angelgeräten beladen, nickte ihr über die Hecke zu. „Ein herrlicher Tag heute, uicht wahr LuiSchcn?" fragte der kleine Mann, in dessen freundlichen Augen ein Lächeln glänzte. „Ja," rief das junge Mädchen, „und sehen Sie nur, was der Garten schon für hübsche Blumen bietet." Ihren Strauß bewundernd, fragte er, ob Frau Forsythe wohl heute zur Whistpartie kommen werde, und hörte mit unverhohlner Befriedigung, daß ihr Befinden ein Ausgehn unmöglich mache. Er hätte es bitter genug empfunden, ihr wiederum wie das letzte Mal seinen geliebten

150 Platz opfern zu müssen. Mit freundlichem Gruß ging er weiter, nachdem er sich noch nach Richard Forsythes An­ kunft erkundigt hatte. „Wenn er erst hier ist, wird wohl die Verlobung gleich stattfinden," dachte er seufzend: „Merk­ würdig, wie leicht und glatt sich die Liebesgeschichten andrer Leute abspielen." Er selber war einer Entscheidung ferner denn je. „Könnten die beiden Schwestern es doch unter sich ab­ machen!" murmelte er mit wehmütigem Lächeln. Da blitzte ihm ein guter Gedanke auf: Das war vielleicht ein Ret­ tungsanker; warum war ihm das nur nicht früher einge­ fallen? Er wollte sich den Rat einer dritten unparteiischen Persönlichkeit erbitten. Aber kaum fühlte er sich durch diese Aussicht erleichtert, siel ihm auch drückend die Frage aufs Herz, wen er denn befragen könne. Die Liste seiner Freunde war nicht lang. Prediger Howe? Nein, der nahm die Sache nicht ernst genug; Denner erinnerte sich ungern der Scene in seinem Büreau. Frau Dale? Vom prakti­ schen Standpunkt ans würde sie gewiß verstehen, die Ver­ dienste der beiden Damen abzuschätzen; aber sie war keine wohlwollende Seele und Denner litt unter der Vorstellung, was sie wohl alles an ihren Freundinnen aussetzen könnte. Oberst Drayton? Ein alter, von der Gicht geplagter Jung­ gesell war nicht der geeignete Ratgeber für Liebeswerbun­ gen. Schon verdüsterte sich sein Blick, als ihm plötzlich der richtige Mann einfiel: Heinrich Dale! Ja, der war gerecht und gütig und würde ihm helfen; gleich heute Abend auf dem Heimweg von der Whistpartie wollte er ihm den Fall unterbreiten. Der Tag verging dem würdigen, kleinen Herrn un­ endlich langsam; er war froh, als endlich der laue Früh­ lingsabend mit seinen tausend Wohlgerüchen frischen Wachs-

151 tums hereindämmerte; da es noch zu früh war, um zu gehen, setzte er sich ans offne Fenster und spielte allerlei Lieblingsweisen auf der Geige. Er beobachtete, wie die beiden Fräulein Woodhouse nach dem Pfarrhause wanderten, Sara in angemessner Entfernung hinter ihnen, die Laterne schwingend, die zum Heimlcuchten dienen sollte. Denner machte keine Anstrengungen, die Damen einzuholen. Es war ihm Glücks genug zu wissen, daß eine Entscheidung nahe. „Vielleicht schon morgen," dachte er und ging in eine Walzermelodie über. Ganz vertieft in heitre Zukunfts­ bilder verzögerte er sich und erschien zu spät am Whist­ tisch; von Frau Dale vorwurfsvoll empfangen, spielte er schlechter und zerstreuter denn je, so daß ihn sogar die liebenswürdige Ruth zur Ordnung rufen mußte, und war doch keineswegs zerknirscht wie sonst; im Gegenteil er be­ gegnete heute jedem Vorwurf mit einem seligen Lächeln. Endlich war der Augenblick gekommen, da sich die kleine Gesellschaft zerstreute, Frau Dale grüßte noch aus ihrem Wagen, und die beiden Fräulein Woodhouse em­ pfahlen sich. Denner trabte neben Dale her, der, große Schritte nehmend, eilig vorwärts strebte, so daß die Schöße seines braunen Ueberziehers um seine langen, dünnen Beine flogen; nur einmal blieb er stehn, um einen knospenden Zweig abzupslücken. Denner räusperte sich: „Ich möchte Dich nach Hause bringen und etwas mit Dir besprechen, lieber Heinrich." Der Atem versagte ihm fast bei diesen Worten: Der erste Schritt war gethan. „Nun das ist nett," versetzte der Freund, „ich dachte schon, ich müßte die zweite Hälfte des Weges allein gehen." „Ja aber Du bist zu Hause nicht allein, während das doch bei mir so sehr anders ist," bemerkte Denner absichtsvoll. „Ja ganz anders," murmelte Dale.

152 „Sichst Du, ich bin sehr einsam", fuhr Denner fort, „nur meine Cigarre leistet mir Gesellschaft." „Ich kann's mir denken; aber Du darfst doch rauchen, wo cs Dir beliebt, ich habe Dich oft um Deine Unab­ hängigkeit beneidet, lieber Denner." „Ja, sic hat wohl ihre gute Seiten; auf die Dauer aber wird sie zur Ein­ samkeit." Die Freunde hatten ihr Ziel erreicht und traten in Dales tief gelegnes Arbeitszimmer ein. Indes Denner seinen langen blauen Shawl abwickelte, zündete der Wirt eine Lampe an und ermunterte mit vieler Mühe das ver­ glimmende Feuer zu neuer Glut; dann hing er ein Kesselchcn darüber, um für sich eine Tasse Thee, für Denner einen steifen Grog zu brauen. Während das Wasser leise zu singen begann, warf er seinen Nock auf das Sopha, das mit Stößen von Büchern und Schriften bedeckt war, schlüpfte in seinen großblumigen Schlafrock und deckte sein rotseidnes Taschentuch über seinen ehrwürdigen, kahlen Scheitel. Denner hatte inzwischen, ohne eine Aufforderung abzuwarten, aus dem Wandschränkchen eine dunkle Flasche und einen alten silbernen Becher geholt. Er goß vorsichtig den Inhalt der Flasche in den Becher, fügte reichlich Zucker, sparsam heißes Wasser hinzu und rührte das fertige Ge­ tränk gründlich um, mit dem einzigen vorhandnen Löffel, den beide gemeinschaftlich benutzten. „Ja, wenn mir immer solche Abende beschieden wären," bemerkte Denner Rum und Wasser schlürfend und die Beine behaglich kreuzend, „dann würde ich an keine Veränderung denken." Da der Freund schwieg, fuhr er fort: „Deine Frau würde wohl verstehen, was ich mit der Vereinsamung meine, lieber Heinrich, ein Haus ohne Herrin ist wirklich nicht das Richtige." Auch diese Bemerkung bedurfte keiner Antwort; schweigsam lehnte Dale in seinem

153 großen ledernen Sessel und blickte tränmerisch den blauen Ranchwölkchen nach, die er seiner langen Pfeife entlockte. Denner wurde unruhig; die Unterhaltung kam nicht so in Gang wie er gehofft: (5s war ihm so peinlich, das auszusprechen, was er so gerne hätte erraten lassen. Sich nach dem Feuer bückend, führ er hastig und abgebrochen fort: „Wirklich Heinrich, ich fühle den Mangel mehr und mehr, je älter ich werde: Ich sehne mich nach Heiterkeit, nach Behagen .... und hätte ich nicht um meiner selbst willen den Wunsch, so wäre es auch meine heilige Pflicht, Willis wegen daran zu denken?" „Woran zu denken?" fragte Dale. Denner rieb sich in äußerster Verlegenheit die Hände: „Ja, siehst Du ich meinte nur, daß weil mir Behag­ lichkeit im Hause fehlt ... ich au ei» weibliches Wesen, verstehst Dn Dale?" dieser blickte auf, „so zu sagen an eine Frau denken muß." Dieses Wort wirkte: Dale fuhr empor, die Pfeife zwischen den Lippen, packte er krampfhaft die Lehne seines Stuhles und schaute Denner wahrhaft entsetzt an. Stot­ ternd fuhr dieser fort: „Ja, Heinrich, es ist so; ich habe kürzlich, .... ich meine das ganze letzte Jahr darüber nachgedacht." Dale sah ihn noch immer starr an, räusperte sich mehrere Mal, brachte aber kein Wort heraus. Denners Verlegenheit war grenzenlos: „Ich habe es mir reiflich überlegt," wiederholte er. „Denner," sagte endlich sein Freund mit Nachdruck: „Denner, Du bist verrückt!" „Wenn Du etwa auf mein Alter anspielst," sprudelte der andere heftig hervor, fast mit den Thränen kämpfend, „so kann ich das nicht gerechtfertigt finden; sie ist in ganz entsprechendem Alter, und Willi gegenüber ist es mir

154 Pflicht; auch bin ich erst einundsechzig Jahr, also ein ganz Teil jünger, als Du." Dale wischte sich mit seinem roten Taschentuch die Stirn ab und brummte: „Den Teufel auch!" „Aber Heinrich," beschwor ihn der Rechtsanwalt mit emporgehobencn Händen, „wir sprechen ja von Damen, wie kannst Du nur solch ein häßliches Wort gebrauchen." Dale schwieg. „Du in Deiner glücklichen Häuslichkeit an der Seite einer geliebten Gattin, ahnst ja garnicht, wie einem solchen armen Schlucker, wie mir zu Mute ist, und je älter ich werde, um so lebhafter drückt mich mein ein­ sames Los: Du siehst also, das Alter spricht für den Ent­ schluß." „An das Alter dachte ich nicht," erwiderte Dale kleinlaut. „Dann," rief Denner triumphierend, „kann ich mir überhaupt keinen vernünftigen Einwand Deinerseits denken. Weiblicher Einfluß wirkt immer beglückend und veredelnd, und dann mein Haushalt, ach wenn Du ahntest, was für Gerichte auf meinen Tisch kommen ...." „Es giebt Verhältnisse, unter denen ein Gericht Pell­ kartoffeln und Hering einem gemästeten Ochsen vorzuziehen ist, lieber Freund," sagte Dale seufzend, wie von unange­ nehmen Erinnerungen hcimgesucht. „Ganz und gar meine Ansicht," rief der kleine Advokat, der viel zu aufgeregt war, um überhaupt auf Dales Einwendungen einzugehn. „Das ist ja gerade mein Kummer, Marie macht immer ein brummiges Gesicht, wenn ich nur das Geringste anders haben will, wie es ihr beliebt." Aber Dale konnte sich noch immer nicht zu wärmerer Teilnahme aufraffen und der arme Denner mußte, um sich selber Mut zu machen, fortfahren: „Ich hatte gehofft, lieber Heinrich, daß Du, von der Notwendigkeit meines Schrittes

155 durchdrungen, mir zugleich einen Rat geben würdest, nicht so sehr aus Deinem Herzen als aus Deiner Erfahrung als Romanlcser. Ist nicht in einer Deiner Liebesgeschichten ein Fall vorgekommen, der mir als Vorbild zum Entschluß verhelfen könnte?" „Ob Du es überhaupt thun sollst?" fragte Dale zum ersten Mal lebhaft werdend. Aber Denner wehrte ihm mit höflicher Geberde: „Der Entschluß selbst steht unerschütterlich fest; es handelt sich einzig und allein darum, welche ich wählen soll." „Welche?" fragte Dale zurück, als habe er nicht recht gehört. „Nun ja, Du merkst doch jedenfalls, daß ich die beiden Damen Woodhouse meine; wie Dn weißt, verehre ich sie schon lange von ganzem Herzen; nur weiß ich nicht, welcher den Vorzug geben, sie sind beide so außerordentlich liebens­ wert .... und wie gesagt, ich dachte Du als Mann der Erfahrung, verheiratet und so bewandert in der schönen Literatur würdest mir gewiß raten können." Zn Dales milden Augen leuchtetete ein heller Spott, den aber Denner in dem Gefühl, seiner Verantwortlichkeit ledig zu sein, nicht bemerkte. Er lehnte sich erleichtert zu­ rück, leerte seinen Becher und schaute erwartungsvoll auf seinen Freund. Ein langes Schweigen folgte; nur einmal von Denner unterbrochen, der mit bewegter Stimme sagte: „Du begreifst, lieber Heinrich, wie reiflich die Sache durchdacht sein will." Endlich richtete sich Dale mit einem langen Seufzer aus seinem Stuhl auf: „Du willst also meine Ansicht hören, lieber Freund, ob Du den Schritt thun und welche der beiden Damen Du heimführen sollst?"

15ß „Nur das letzte," versicherte Denner, „die Vorbedin­ gung steht fest." „So?" antwortete Dale, „nun also gut." Denner war so aufgeregt, daß er ihn noch einmal unterbrechen mußte: „Ja es ist von der größesten Wichtig­ keit für mich, bitte vergiß es ja nicht. Wie gesagt, beide sind höchst liebenswert: Aber die Wahl muß doch getroffen werden; denke an Fräulein Deborahs Wirtschaftlichkeit, — solche Gerichte wie sie kocht kein andrer in ganz Ashnrst, und dabei ist sie so sparsam, — Fräulein Ruth wiederum ist Künstlerin und", . . . eine leise Röte flog über sein kleines, verwittertes Gesichtchen — „so hübsch. Das Ver­ mögen geht in zwei gleiche Teile," fügte er hinzu, sichtlich bestrebt, auch die geschäftliche Seite der Angelegenheit zu beleuchten. „Das weiß ich alles, Denner; aber es ist wirklich nicht möglich, die Verdienste der beiden Damen abzuschätzen; dazu gehört Liebe und Zuneigung. Für welche empfindest Du mehr?" „Das-ist ja gerade mein Kummer, meine Gefühle sind für beide ganz dieselben; damit kommen wir nicht weiter." Denner mußte sich gestehen, daß Dales Benehmen ihn bitter enttäuschte; er hatte für seine Herzensangelegen­ heit die wärmste Teilnahme erwartet, und nun saß der alte Mann da in seinem Lehnstuhl ganz in sich zusammen­ gekauert, ohne ein Zeichen wirklichen Interesses. Er hustete, um sich dem andern wieder in Erinnerung zu bringen, und fuhr fort: „Man sollte meinen, es gäbe eine Regel, eine bewährte Methode, vielleicht ein Sprüchwort, solche Komplikationen zu lösen; sieh mal, wenn z. B. noch ein drittes Fräulein Woodhouse da wäre, würde die'

157 Geschichte ja noch verwickelter sein. Aber ich muß gehen." Er stand auf, und ergriff seine Sachen; cs war spät, das Feuer vollkommen heruntergebrannt; Dale lehnte sich nach vorn, die Ellbogen auf seine Knie gestützt, klopfte er sachte die Asche aus seiner silbernen Pfeife. Dann erhob auch er sich, faßte die Schöße seines Schlafrocks bequem unter jeden Arm, legte den Kopf etwas auf die Seite und sah seinen Frnund aufmerksam an, als wollte er etwas sagen. Denner war der Ausdruck nicht entgangen: Begierig fragte er: „Hast Du etwa noch einen glücklichen Gedanken, lieber Heinrich?" „Ja," versetzte Dale, „es kam mir etwas in den Sinn, eine Art Sprüchwort, wenn Du willst, — aber e-s ist mir wieder entfallen." Denner, der seinen Neberziehcr zur Hälfte angezogen hatte, stand erwartungsvoll still: „Es könnte einem zur Klarheit verhelfen," fuhr Dale sehr lang­ sam fort; „laß mal sehen, wie heißt's doch!" „Zur Klarheit verhelfen," rief Denner voller Begeiste­ rung, „das ist cs ja gerade, was ich brauche. Ja, ja, in den Sprüchwörtern drängt sich die Weisheit der Jahrhun­ derte zusammen; ich bin ganz einverstanden, mich durch ein solches Wort leiten zu lassen." Dabei blickte er voll zitternder Spannung auf Dale, der aber uoch immer zögerte, sein Orakelwort preiszugeben. Endlich sagte er, indem er die Augen nach der Decke richtete: „Es fängt an': Bist du im Zweifel so ...." „Das klingt mir be­ kannt," rief Denner, zitternd vor Freude, „wie geht's doch weiter?" „Ach," sprach der Freund etwas verlegen, „ganz paßt's doch nicht; ich fürchte, es wird Dir doch nicht helfen: Du weißt, wir sagen beim Whist: Bist du im Zweifel, so nimm den Stich."

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Sechzehntes Kapitel. Johannes und Helene feierten ein glückliches Wieder­ sehn nach vierzehntägiger Trennung. Neues hatten sie sich zwar Dank des täglichen Briefaustausches nicht mitzuteilen; aber das Glück des Zusammenseins, der persönlichen Er­ reichbarkeit erfüllte sie mit überwältigender Freude. Helene stand neben seinen Schreibtisch, beschäftigt die ersten Veil­ chen des Gartens in einer Krystallschale zu ordnen: „Heute früh sind sie Dir zum Willkomm aufgebrochen, riech' nur wie prachtvoll sie duften!" rief sie heiter, „aber sage mal, darf ich denn hier in Deinem Allerheiligstcn bleiben, hast Du nicht zu arbeiten?" „Heute ist ja Donnerstag," ant­ wortete er, „meine Predigt habe ich schon unterwegs ge­ macht; nur noch der Bericht ist zu schreiben. Last mich nur ein bischen faul sein; ich kann's heute garnicht ohne Dich aushalten," fügte er hinzu, liebvoll ihre Hand er­ greifend, um sie zu sich zu ziehen: „Ach Helene, fern von Dir ist nur ein halbes Leben!" „Siehst Du, und in drei Wochen willst Du mich nach Ashurst schicken," sagte sie vorwurfsvoll, „hätte ich doch nur in Deiner Abwesenheit fahren dürfen; aber es mag ja richtig sein, das Haus nicht allein zu lassen." „Nun, Liebste, es bleiben uns ja noch volle drei Wochen; die wollen wir dankbar genießen; nun muß ich Dich aber wirklich hinauswerfen, sonst kommt mein Bericht nie zu Papier." Sie nickte ihm zärtlich zu und faßte die Klinke. „Das Zimmer sieht noch mal so hell und freundlich aus, wenn Du drin bist; Dein Haar hält ordentlich den Sonnenschein fest; es schimmert so goldig, wie Eichenblätter

159 im Oktober." „Nein Johannes," rief sie und schlug lachend die Hände zusammen, „wie die Liebe Dich verän­ dert hat, läßt sich garnicht schildern; so etwas hättest Du früher nie gesehn, geschweige denn ausgesprochen!" In frohster, dankbarster Stimmung ging sie in den Garten, wo Alfaretta beschäftigt war, die Frühjahrsbeete umzugraben. „Hier wollen wir Wicken säen, und wäre es nicht nett Dein Küchcnfenster mit Geißblatt zu umranken?" Sie bekam keine Antwort: Alfaretta starrte auf die Land­ straße, um dann gleich darauf mit geballten Fäusten nach der Gartenthür zu stürzen: „Ich lasse ihn nicht herein," murmelte sie vor sich hin. Helene ging dem aufgeregten Mädchen, dessen Betragen ihr rätselhaft war, nach und sah Vater Dean steif und langsam, — der Rheumatismus steckte ihm noch immer in den Gliedern, — über den Damm auf das Gitterthor zuschreiten. Alfaretta erreichte es gleich­ zeitig mit ihm; ohne sich einen Augenblick zu besinnen, warf sie es heftig ins Schloß und schob den Riegel davor. „Alfaretta," sagte ihr Vater mit dem ganzen Aufwand seiner Würde, „öffne mir das Thor, mein Kind!" „Wenn Du mich besuchen wolltest, Vater," antwortete das Mädchen ängstlich, „ich kann jetzt nicht, heute Abend darf ich ausgehn, da komme ich zu Euch!" „Mit Dir werde ich später reden," antwortete der Vater mit bedeutungsvollem Kopfnicken, „zunächst muß ich den Herrn Pastor sprechen; also flink mach' auf, Mädchen!" fügte er ungeduldig hinzu. „Er ist jetzt nicht zu sprechen; er hat zu viel zu arbeiten Papachen," versicherte Alfaretta. „Das ist kein Hinderungsgrund für mich, mach' auf," beharrte der Aelteste. Alfaretta war blaß geworden; noch immer hielt sie krampf-

IGO hast die Thür zu. „Er ist für Dich nicht zu sprechen," schrie sic, obgleich ihre Stimme zitterte, „nun weißt Du's!" „Aber Alfaretta, was fällt Dir nur ein?" fragte He­ lene, die hinzugctreten war, ganz erstaunt, „natürlich wird sich mein Mann freuen, Deinen Vater zu sehen; hoffentlich geht es mit Ihrem Rheumatismus besser, Herr Dean?" Ohne auf ihre freundliche Frage zu antworten, war Dean, dem sich die Thür endlich geöffnet hatte, an ihr vorüber­ geschritten dem Hause zu. Helene wandte sich in strengem Ton an ihr Mädchen: „Sage mir, was bedeutet das alles, wie kannst Du solche bewußte Unwahrheit sprechen?" Alfaretta antwortete nicht; sie kniete nieder, um die einzelnen Pflänzchen einzusehen, mußte aber immerfort mit der Hand nach den Augen fahren, um die strömenden Thränen abzuwischen, so daß ihr Gesicht bald merkwürdig gesprenkelt aussah. „Warum weinst Du Alfaretta," fragte Helene ernstlich böse über die Lügenhaftigkeit des Mädchens; „schämst Du Dich, daß Du eine Unwahrheit gesagt hast?" „Darum nicht," schluchzte Alfaretta. „So höre auf und geh' hinein und besinne Dich erst!" schalt. Helene. Alfaretta blickte sie vorwurfsvoll mit nassen Augen an, vergrub dann das Gesicht in ihren Händen und weinte fassungslos. „Er will mich ja hier wegnehmen," brachte sie endlich hervor. „Dich hier wegnehmen?" fragte Helene überrascht. „Ist Dir der Dienst zu schwer?" „Ach nein, Frau Pastor, das nicht." „Ich will gleich mit ihm sprechen; wir können ja die Arbeit anders einteilen, wenn er fürchtet, Du könntest Dich überanstrengen." Leichten Schrittes eilte sie die Treppe hinauf und klopfte an das Studierzimmer: „Bitte Johannes, ich möchte

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Dich einen Augenblick sprechen." Sie hörte, wie drinnen ein Stuhl zurückgeschoben wurde; Johannes erschien auf der Schwelle mit seltsam verändertem Ausdruck: „Ich habe jetzt keine Zeit für Dich, Helene," sagte er mit künstlicher Fassung, „bitte gehe hinunter; ich muß allein sein." Er schob sie sanft zurück, schloß die Thür und drehte den Schlüssel um. Sie war aufs äußerste verwundert. Was bedeutete das nur? Alfarettas Schmerzen waren ver­ gessen; allein der Gedanke an ihren Mann beherrschte ihr Gemüt. Sie nahm eine Arbeit, später ein Buch zur Hand; aber sic vermochte nicht dabei zu verweilen; still und traurig saß sie an ihrem Fenster, nur die eine Frage auf den Lippen: Was konnte Johannes quälen? O welch lan­ ger trauriger Vormittag! Johannes schaute von seinem Schreibtisch auf, als Dean ins Zimmer trat. „Guten Morgen," sagte er herz­ lich, dem Aeltesten die Hand reichend. „Ich freue mich, Sie zu sehn, ist alles in der Gemeinde in Ordnung ge­ wesen während meiner Abwesenheit?" Dean nickte nur; er schien nichts Besondres mitteilen zu wollen, ließ sich viel­ mehr ausführlich über die Synode berichten, indes er ver­ legen seinen Hut in den Händen drehte. Endlich, nachdem er mehrfach den Mund geöffnet hatte, sagte er: „Herr Pastor, der Geist des Herrn treibt mich, Ihnen eine Mitteilung zu machen. Meiner Seele ist bange!" „Lieber Dean, was bekümmert Sie? Hoffentlich keine ernst­ liche Sorge in Ihrer Familie?" fragte Ward in seinem warmherzigsten Ton. „O nein, Herr Pastor," lautete die feierliche Ent­ gegnung; „Krankheit des Körpers ist es nicht. Wie sagt die Bibel zum Gläubigen? Er wird Seinen Engeln BeJohann?-) 5Z?,irb. 11

162 fehl über Dir thun. Ich bin gnädig bewahrt; denn ich und mein Haus, wir dienen dem Herrn! Mein Rheumatis­ mus war schlimm genug; jetzt aber ist er Gott sei Dank besser. Krankheit der Seele dagegen ist ein größres Uebel!" „Hat des Satans Macht Sie in Zweifel verstrickt?" fragte Johannes voller Besorgnis. „Solche Krankheit der Seele ist allerdings schlimmer denn jegliches Siechtum des Körpers." „Nein," erwiderte der Andre, „des Herren Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege! Verborgne Dinge sind mir offenbar; Zweifel kenne ich nicht; aber welch fürchterliches Uebel ist der Zweifel, Bruder Ward." „Ja, das muß er wohl sein!" bestätigte Johannes demütig. „Gottes Gnade hat es gefügt, daß er mir alle­ zeit ferne geblieben ist." „Wäre es nicht sehr bedauerlich," fuhr Dean fort, der mehr und mehr seine Verlegenheit überwand, „wenn der Wurm des Zweifels in die Herzen nnd Häuser unsrer treuen Gemeinde kröche? Mir will es manchmal erscheinen, als habe es in letzter Zeit bei uns an der rechten Unter­ weisung gefehlt, Herr Pastor. Das Brot des Lebens kann jeglicher der Bibel entnehmen; aber die Lehrsätze der Kirche müssen verkündigt werden." Johannes sah betroffen aus, als empfinde er den Vorwurf als berechtigt. „Ich muß zugeben, Bruder Dean," sagte er, „daß meine Predigten in letzter Zeit weniger dem Dogma gewidmet waren, als ehedem; aber sind wir nicht auch ebenso sehr berufen, ein praktisches Christentum, wie es unser Herr und Heiland verkörpert hat, zu lehren? Auch sind Sie im Irrtum, lieber Dean, wenn Sie meinen, daß die Lehrsätze der Kirche nicht aus der Bibel geschöpft .wären."

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„Sie sind aber nicht so klar ausgesprochen, daß auch der Irrende sie herausfindet; viele würden sich nur an das Wort halten: Gott ist die Liebe, und dabei außer Acht lassen, daß Er auch ist ein verzehrendes Feuer." Johannes antwortete nicht gleich, obwohl ihn ein banges Vorgefühl peinigte; endlich fragte er: „Haben Sie die Empfindung, als ob durch diese Vernachlässigung irgend einer Seele Unrecht geschehn wäre? Sie wissen, es ist Ihre Pflicht, mir dergleichen mitzuteilen." In diesem Augenblick hörte man Helenens Klopfen; als Johannes seinen Sitz wieder eingenommen hatte, blickte er dem Ankläger klar ins Auge: „Ist irgend einer Seele Unrecht geschehen?" fragte er noch einmal. „Das will ich nicht gerade sagen; aber warnen muß ich Sie Herr Pastor; es reget sich ein böser Geist in der Gemeinde, wie ich leider an meinem eignen Fleisch und Blut bemerke." „Für Alfaretta haben Sie nichts zu befürchten, sie ist ein tüchtiges Mädchen." „Tüchtig mag sie sein," gab Dean zurück; „aber sie stehet nicht mehr auf dem rechten Glaubens­ grund!" „Wollen Sie sagen, daß ihr Glaube durch Zweifel er­ schüttert ist? Das kommt bei ganz jungen Christen oft vor, pflegt aber nicht anzudauern. Alfaretta ist durch die Gnadenwahl erkoren; wir haben begründete Hoffnung, daß sie ausharren wird bis ans Ende. Aber wie ist das Kind zu dem Zweifel gekommen? Durch Einfluß?" „Ja wohl durch Einfluß," bestätigte Dean. „Und worauf bezieht sich ihr besondrer Zweifel?" „Ihre Vorstellungen über die Hölle zerreißen mir das Herz," versetzte der Gemeindeälteste düster. Johannes schaute in die Ferne; sein Blick ruhte im Geist auf Helene. „Das ist allerdings bedenklich," gab er zu. 11*

164 „Aber wer hat sie denn beeinflußt?" fragte der Pastor,

ganz in eigne Gedanken versunken. Seelen,

die schwach

in

„Ich kenne ja einzelne

der Gnade und schwach

in den

guten Werken sind; aber keine die glaubensleer wäre." „Und doch reget sich dieser böse Geist unter uns und

suchet, welchen er verschlinge; darum beschwöre ich Sie, Herr Pastor, wieder über die Heilslehren zu predigen, be­ sonders über die Lehre von der ewigen Verdammnis. Mit Alfaretta wäre ich schon allein fertig geworden; aber im Namen der Gemeinde fordre ich, daß der schlimme Ein­ fluß, unter dem sie gelitten hat, bekämpft werde. Ich spreche von einer Fran, die dem Buchstaben nach zu unsrer Gemeinde gehört, mit ihrem Herzen aber fern davon ist, und weil sie Unkraut unter den Weizen säet und unsrer Jugend Verderben bedeutet, soll sie, so hat es der Ge­ meindekirchenrat beschlossen, öffentlich vorgeladcn werden." Liebe und Amt waren für Johannes zwei so ver­ schiedene Welten, daß ihm auch jetzt noch nicht Helene in den Sinn kam, obgleich Dean fortfuhr: „Wenn es sich um die Errettung einer unsterblichen Seele handelt, müssen auch die zärtlichsten Gefühle schweigen, teurer Bruder

Ward!" „Ganz gewiß," nickte Johannes, der noch immer träumerisch in die Ferne blickend, nur mit halbem Ohr zuhörte. „Ist denn aber auch alles geschehn, um sie auf die Bahn der Wahrheit zurückzuführen, haben Sie mit ihr gesprochen, sie zu überzeugen versucht? Das sollte doch zunächst geschehn und zwar mit der größesten Schonung und Geduld."

„Nun", bemerkte Dean bedeutungsvoll, „mir ist es des aber bin ich

leider nicht vergönnt, auf sie zu wirken;

sicher, daß sie von Fürbitte umgeben gewesen ist."

165 „Ich habe jedenfalls noch nicht mit ihr geredet," ver­ setzte Johannes, „wer ist cs denn eigentlich?" „Herr Pastor," antwortete Dean mit großer Feierlichkeit, „wenn Sie wirklich noch nicht mit ihr gesprochen haben, so ist das eine furchtbare Pflichtverletzung, und wenn Sie dieser armen Seele auch noch die letzte Gnadenfrist weigern und sie nicht vor das Gemeindegericht stellen, so begehn Sie eine Sünde gegen den Heiligen Geist. Die Kirche fordert, daß das Unkraut mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde. Wie saget die heilige Schrift? „So Dich Dein Auge ärgert, reiß' es aus und wirf es von Dir!" Beide waren aufgestanden. In Johannes' Seele däm­ merte eine furchtbare Ahnung; Dean erkannte es an dem entsetzten Blick, den er plötzlich auf den Sprecher heftete, und zog sich scheu nach der Thür zurück: „Wen meinen Sie?" fragte Johannes heiser. „Ach Herr Pastor, sehn Sie mich nicht so an .... ich habe ja nur wegen meiner Tochter Seelenheil gesprochen und damit der Gemeinde nicht ferner Aergernis widerfährt." „Ich will ihren Namen wissen!" „Ihren Namen? O Herr Pastor, Sie wissen sehr gut, daß es Ihre Frau ist." Der Geistliche stürzte auf den Aeltesten zu, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn mit einem unartiku­ lierten Schrei. „Meine Frau! Wie dürfen Sie es wagen von ihr zu reden!" Er hielt inne, nach Atem ringend. „Meine heiligste Pflicht," versicherte der Aelteste, der sich vergeblich bemühte, den unsanften Druck abzuschütteln, „meine heiligste Pflicht! Sie laßen unsre Gemeinde hun­ gern und dürsten, Herr Pastor!" Der Angeredete erblaßte, und Dean, den Vorteil wahrnehmend, fuhr mit gesteigertem

166 Nachdruck fort: „Erinnern Sie Sich des Gelübdes, das Sie vor sechs Jahren abgelegt haben? Ist es Ihnen noch heilig? Reichen Sie Ihrer Gemeinde das wahre Brot des Gebens oder lassen Sie Ihre anvertraute Herde hungern

um Ihres Weibes willen, deren Beispiel die Seelen ver­ derbet?" Johannes hatte den Sprechenden jäh losgelassen. Er stand gegen die Wand gelehnt, das Haupt auf die Brust gesenkt, die Hände geballt in fassungslosem Schmerz. Dean sah ihn scheu von der Seite an; er wußte nicht recht, wie er sich auf eine gute Art empfehlen sollte. Alfarettas Kündigung hatte er längst vergessen. Endlich ermannte sich Ward. „Sie haben genug gesagt: Sie können gehn!" Damit wies er mit zitternder Hand nach der Thür. Der Gemeindeälteste stand noch einen Augenblick un­ schlüssig; dann ergriff er seinen Hut und stolperte hinaus. Der junge Pastor folgte ihm wie ein Träumender, ohne die dargebotne Hand zu sehn, verschloß er die Thür hinter ihm. Heller Sonnenschein flutete unbarmherzig durch das Fenster, die Veilchen auf dem Schreibtisch mit goldnem Lichte übergießend: Johannes vermochte es nicht mit anzusehn; er rückte die Schale beiseite.

Siebzehntes Kapitel.

Kaum hatte Dean die Schwelle überschritten, als Hekene schon vor der verriegelten Thür stand: Sie versuchte aufzudrücken; sie klopfte leise: „Johannes," fragte sie ängst­ lich, „Johannes hörst Du mich?" Keine Antwort. „Jo­ hannes!" wiederholte sie bittend, „mach mir auf, laß mich

167 wissen, was Dir fehlt!" Kein Ton drang zu ihr, als das Rauschen des Frühlingswindes draußen im Garten. Sie rüttelte an der Thür und horchte mit klopfendem Herzen: Ein tiefer Seufzer drinnen weckte ihr namenlose Angst. „Johannes!" rief sie noch einmal. Langsam schleppende Fußtritte näherten sich der Schwelle; ihr Gatte sprach mit seltsam fremder Stimme: „Ich muß allein sein, Helene bitte laß mich; ich bin nicht krank; aber Ruhe ist mir un­ bedingt notwendig." „Nur einen einzigen Angenblick, Ge­ liebter," flehte Helene an der Klinke rüttelnd, „ich will Dich ja nicht stören; aber die Empfindung, ausgeschlossen zu sein, ist zu entsetzlich. Nur einen Blick gönne mir; ich gehe gleich wieder." „Nein," gab er trübe zurück, „ich kann und darf Dich nicht sehen; ich muß mit mir allein sein." „Sage mir eins! Du bist wirklich nicht krank?" bat sie. „Ganz gewiß nicht." „Gut," sagte sie mit großer Ueberwindung; „dann will ich jetzt gehn, aber nicht wahr, Du rufst mich, sobald es irgend möglich ist?" „Ja, aber komm auch nicht vorher!" Helene stand in tiefer Bekümmernis: Ihr Gatte litt, und sie durfte seinen Kummer nicht teilen! Aber ob cs ihre ganze Seele drängte, dem Geliebten Zärtlichkeit und Sympathie zu spenden, sie hielt sich zurück, seinem Wunsche gehorchend; eine der seltnen Frauen, die den rechten Augen­ blick zu erwarten wissen. Ruhelos ging sie umher, unfähig sich zu beschäftigen, unaufhörlich ihren Gatten mit liebe­ vollen, sorgenden Gedanken umgebend. Noch immer verharrte er in dem peinigenden Schwei­ gen, obgleich die Essensstunde längst vorüber war. Endlich, es war fast fünf Uhr, hörte sie ihn den Stuhl rücken; sie

168 saß auf der untersten Treppenstufe, erschöpft vom Grübeln und Warten, das Haupt gegen das Treppengeländer gelehnt; wiederum drang ein tiefer Seufzer der Beklemmung an ihr Ohr. Gott sei Dank, die Ungewißheit war zu Ende. In zitternder Erregung preßte sie ihre Hände zusammen, biß sich auf die Lippen um nicht früher zu sprechen, als ihm lieb sein würde. Er kam die Treppe herunter, müde und traurig. Sorge und Liebe erstorben aus ihrer Lippe: „Was hast Du Johannes?" flüsterte sie. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, schaute sie mit ernstem, fast drohendem Aus­ druck an: „Helene, das Herz blutet mir, Dich so betrübt zu haben; aber es mußte also sein; Einsamkeit thut mir not! Nein," und er legte sanft seine Hand auf ihren Mund, als wollte er ihre stumme Frage beantworten, „höre mir zu mein Herz: Seelische Not drückt mich nieder; ich kann jetzt noch nicht davon sprechen; laß mich ein paar Tage allein kämpfen." Ein Gefühl der Erleichterung kam bei dieser Erklärung über Helene: Seelische Not? Wahrscheinlich Gewissens­ skrupel, also doch lange nicht so bedrohlich wie etwa Krank­ heit des Körpers. „Sage mir doch, was Du hast Johannes!" bat sie noch einmal. Sie hätte ihm so gern gut zugeredct ans der Fülle ihres warmen Herzes heraus, ohne doch eine Ahnung von der Größe seiner innern Not zu haben. Ward schüttelte abwehrend den Kopf: „Du kannst mir nicht helfen; glaube mir, es ist besser für uns beide, wenn ich jetzt noch nicht spreche; laß nur erst den Tag des Herrn vorüber gehn, dann wirst Du alles erfahren, willst Du noch ein paar Tage Geduld mit mir haben, liebe Helene?" Zärtlich und bewegt lehnte sie ihr Haupt an seine Brust: „Wie Du willst, mein geliebter Mann; aber vergiß

169 es nicht, daß ich immer dankbar bereit sein werde, Hälfte Deines Grames auf mich zu nehmen."

die

Sie zog ihn in die duftige Kühle des Gartens, ver­

suchte ihn auf andre Gedanken zu bringen, indem sie ihm erzählte, was während seiner Abwesenheit alles im Hause geschehn sei, und wie sehr sie ihn vermißt habe; aber sie vermochte kein Lächeln auf sein trübes Antlitz zu zaubern; in sich gekehrt und schweigsam hörte er ihrem liebens­ würdigen Geplauder zu, augenscheinlich mit andern Ge­ danken beschäftigt. Nachdem er seinen Thee getrun­ ken, wandte er sich wieder seinem Studierzimmer zu. „Du willst doch nicht heute noch arbeiten?" fragte He­

lene, „laß uns doch unsern ersten Abend zusammen genießen!" Seine Augen begegneten den ihren vorwurfsvoll: „Ich muß meine Predigt machen," sprach er ernst. „Aber Johannes, Du sagtest doch selbst, sie wäre schon fertig!" rief Helene. „Es ist mir klar geworden, daß ich einen andern Text wählen mußte, als ich ursprünglich gethan habe. Du weißt, ich tausche dieses Mal mit Bruder Grier aus Chester, und da er hier über Heidenmission sprechen will, muß ich seiner Gemeinde gegenüber das Gleiche thun." Helene wunderte sich über diese ausführliche Ausein­ andersetzung; die sonntägliche Predigt pflegte sonst nicht der Gegenstand ihres gemeinsamen Interesses zu sein.

Als sie ihm seine Arbeitslampe angezündet hatte, küßte er sie zärtlich: „Gottes Segen über Dich, mein Weib, gute Nacht." „Schließe nicht ab, Johannes, ich will Dich nicht stören; aber ich kann es nicht aushalten, wenn Du mich

ausschließest!" bat sie mit zuckenden Lippen.

„Nein, nein!"

170 versicherte er, ihr noch einmal liebevoll zunickend, „ach Helene, daß ich Dich so quälen muß!" Die beiden nächsten Tage dehnten sich trostlos; soweit Johannes nicht am Schreibtisch saß, machte er seelsorge­ rische Besuche, die ihm so viel Zeit und Kräfte kosteten und in Helenens Augen so überflüssig waren. Einmal, als er sie traurig am Fenster stehn und in den regnerischen Garten starren sah, trat er schnell zu ihr und drückte sie schweigend ans Herz. Unter dem Wohlgefühl seiner Zärt­ lichkeit, die sie so schmerzlich entbehrt hatte, löste sich der Druck, der auf ihrer Seele gelastet hatte, und als der Sonntagmorgen, doppelt klar und frisch nach den beiden Regentagen hereinbrach, fühlte sie sich froh und glücklich, und der Gedanke an den gemeinsamen Ritt in der ersten Morgenfrische überhauchte ihre blassen Wangen mit rosigem Schimmer. Der Weg nach Chester führte durch ein lieb­ liches Thal zwischen Hügelreihen hindurch, deren ernste Tannenwand hier und da durch das helle Laub einer Kastanie oder Esche unterbrochen wurde. Neben dem Fuß­ pfade plätscherte ein muntres Bächlein dahin, bald unter den herabhängenden Zweigen verschwindend, bald wieder in dem hellen Sonnenschein blitzend. Mit Wonne sog Helene den Morgenwind ein, der Tannenduft und Kühlung herübertrug; launisch und keck wehte er ihnen mehr denn einmal die tropfenschweren Zweige ins Gesicht, bog Blumen und Gestrüpp über den Weg und ließ fantastische Wolken­ schatten über die frisch geackerten Felder treiben. „Wie der Wind Dein Haar zerzaust hat!" sagte Jo­ hannes freundlich. Sie wollte es zurechtstreichen. „Laß doch," bat er, „cs sieht so hübsch aus, wie lauter kleine Ranken, die in der Sonne flattern." Helene lachte, blickte ihn aber doch besorgt an: In

171 dem Hellen Sonnenschein kam er ihr so elend, so «-gear­ beitet vor. „Dn überanstrengst Dich, Geliebter, es ängstigt mich!" „Ach ich habe ja noch nichts vor mich gebracht!', schrie er mit plötzlich ausbrechender Leidenschaft: „O mein verlorenes Leben, Helene, mein Leben, das Dich geschädigt und betrogen hat!" „Johannes!" rief sie erschreckt. Und doch wie bezeichnend für ihre ganze Ausfassnngsweise: Auch in diesem Ausbruch sah sie nur ein Symptom geistiger Ueberanstrengnng, körperlicher Müdigkeit. Doch als sie endlich die kleine Kirche in Chester er­ reicht hatten und Johannes sie vom Pferde herunterhob, fühlte sie sich wieder von jener unbestimmten Angst gepackt, und alle Freude an dem schönen, klaren Morgen war ge­ schwunden. Sie banden ihre Pferde an den dicken Stamm einer der vielen Kastanien, die in stattlicher Allee zu dem kleinen, weißen Gotteshause führten. Helene trat hinein und wählte ihren Platz dicht am Fenster; ihr Gatte legte ihren Mantel hinter sie, grüßte sie mit einem langen, flehenden Blick und schritt schweigend mit demütig ge­ senktem Haupt in die Sakristei. Das erste Lied wurde angestimmt; Helene sang eifrig mit, innerlich erbaut durch die schöne, kräftige Melodie, welche Trost und Zuversicht kündete. Beides that ihr not; denn als sie ihren Mann beobachtete, wie er vor dem Altar das Evangelium verlas, fiel ihr sein angegriffenes Aussehen mit neuer Sorge aufs Herz. Ganz mit seiner geliebten Persönlichkeit beschäftigt, hatte sie der Liturgie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Sie erwachte aus ihrer Träumerei erst, als jene leise Bewegung in der Gemeinde entstand, die der Predigt voranzugehen pflegt: Die Männer kreuzen die Beine, die Frauen nesteln an ihren Hutbändern,

172 teilen den jüngern Kindern Ermahnungen und Bonbons aus und reichen den größeren das Gesangbuch zur Privat­ erbauung. Johannes breitete sein Manuskript aus: „Mein Text steht: Römer 6. 21. Das Ende aller Dinge ist der Tod." Die Gemeinde war auf eine Missionspredigt vorbe­ reitet und hörte deshalb geduldig zu, wie der Geistliche zu­ nächst die Fortschritte der Heidenmission während der letzten Monate schilderte, und alsdann ausführlich den Wert dieser Liebesthätigkeit darlegte. „Der Gedanke, daß Tausende und Abertausende in der Schuld und Dunkelheit ihres Un­ glaubens dem ewigen Verderben preisgegebcn sind, fällt wie eine schwere Last der Verantwortung auf unser Herz." Die Ueberzeugungstreue, mit welcher der Geistliche be­ wies daß die Heiden schuldig und verdammenswert sein müßten durch ihre angeborene Erbsünde, sand in den Herzen seiner Zuhörer ein lebendiges Echo. Allen stand es fest, daß der göttliche Zorn auf jeder unbekehrten Seele laste, so lange sie sich dem Lichte der Offenbarung ver­ schließe. Durch bedeutsames Kopfnicken deuteten die älteren, wohlgeschulten Christen in der Gemeinde dem jungen Pastor ihre Zustimmung an; sie verfehlten nicht in dem Gefühl eigner Sicherheit, drohende Blicke auf diejenigen zu werfen, die bekanntermaßen das Licht der Gnade noch nicht em­ pfangen hatten. „Die Möglichkeit einer Errettung ohne Christi Ver­ mittlung ist ausgeschlossen; wehe den Unglücklichen, die hoffnungslos dem ewigen Tode entgegengehn, weil kein Lichtstrahl des Christentums auf ihren Pfad fällt. Und dürfen wir den Allmächtigen der Ungerechtigkeit zeihen, weil er Seelen verdammt, denen niemals die Möglichkeit»

173 der Bekehrung angeboten worden ist? Hat nicht die ganze Menschheit in Adam das dargebotene Heil zurückgewiesen? Und wer will dem Töpfer verwehren, das Gefäß, das er selbst gefertigt, zu zerschlagen, wenn immer es ihm beliebt?" Ward sprach tief bewegt, eindringlich, zürnend: Die Ge­ meinde hatte er vergessen; ihm galt es einzig und allein Helenens Seele zu bewegen, zu retten. Nach ihr streckte er flehend seine Hände aus, als er fortfuhr: „Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit hat den Weg gefunden, die Gerechtigkeit zu versöhnen durch Christi Opfertod. Er bietet seine Gnadcnhand allen dar, kommt, ergreift sie, be­ kehrt Euch; lasset Euch weißwaschen durch Christi Blut! Bedenket, was auf dem Spiel stehet: Hier ewige Seligkeit durch den Glauben an den Erlöser, dort ewige Verdammnis für alle Seelen, welche dem Heiligtum fern bleiben. Tretet vor das Bild des Heilandes, sehet seine blutende Seite, seine durchbohrten Hände, leset in seinen Augen unendliches Mitleid, unerschöpfliche Barmherzigkeit. Für Deine Sünde, für meine Sünde litt der Göttliche und wir sollten uns abwenden und weitergehn auf dem lichtlosen Wege, der zur Verdammnis führt? O noch ist der Tag des Lichtes er­ reichbar, kommt ehe es zu spät ist, kommt ehe Euch das flammende Schwert göttlicher Gerechtigkeit auf ewig die Pforten des Paradieses schließt: Seele, Christus harret Deiner!" Er stand einen Augenblick nach vorn gelehnt; über die aufmerksamen Gesichter der Zuhörer hinweg, schaute er nur nach der geliebten Gestalt. Ihr Gesicht trug einen finstern, abwehrenden Ausdruck, während sich in der Gemeinde eine lebhafte Erregung kund gab: Viele Frauen weinten. Dem kurzen Schlußgebet folgte ein Lied, vom Kirchenchor ge­ sungen; die Melodie schluchzte und klagte, der Text war

174 fürchterlich genug, trotzdem wurde der Gesang nach der drohenden Predigt wie eine wohlthätige Lösung für die Gemüter, wie eine Verheißung der Hoffnung empfunden. Helene kam sich wie traumbcfangen vor: Sie schaute hinauf nach der Empore, wo die Singenden standen; hübsche, rosige Dirnen im schmuckem Sonntagsstaat, junge kräftige Männer, denen Gesundheit und Lebensfreude aus den Augen blitzte, alle sangen sie aus vollen Kehlen mit Hin­ gebung und Begeisterung: „O Sündenlast, die uns verdammt O Sündenpftthl, der ewig flammt!"

War es denkbar, daß ihnen diese Worte Wahrheit bedeuteten und sie trotzdem so getrost und zuversichtlich ins Leben schauen konnten, wie sie es offenbar thaten? Helene vermochte diese Frage nicht zu beantworten. Ohne sich umzusehn, verließ sie nach dem Segen die Kirche und trat zu ihrem Pferde, das unter den Kastanien graste. Sie streichelte seine graue Mähne und ließ zer­ streut ihre Reitpeitsche durch das hohe Gras fahren. Nur wenige Gemeindemitglieder kannten sie; diese aber drängten sich neugierig hinzu; das Gerücht über Frau Pastor Wards Ungläubigkeit war weit über Lockhaven hinausgedrungen. Eine Frau fühlte sich sogar berufen, sie anzureden: „Ist cs denkbar, daß solche Lehren taube Ohren finden können? Halten Sie es nicht auch für eine furchtbare Sünde, die ewige Verdammnis zu leugnen, Frau Pastor?" fragte sie mit drohendem Blick. „Nein," antwortete Helene ruhig. Nach wenigen Minuten trat Johannes zu ihr; beide schlugen schweigend den Weg nach dem kleinen Pfarrhause ein, wo sie essen sollten. Frau (Stier, die Gattin des Geist­ lichen, mit dem Johannes heute getauscht hatte, eine magre, abgehetzte Frau, früh gealtert durch die kleinen Sorgen

175 des Lebens, trat ihnen auf der Schwelle entgegen. Sie bat Johannes sich in dem Studierzimmer ihres Gatten, das noch dürftiger war als das (einige daheim, auszuruhen, während sie Helene nach dem Fremdenzimmer geleitete, um ihr bei der Toilette zu helfen. Sie setzte sich in einen alten Korbstuhl und sah zu, wie Helene ihr schönes, gold­ braunes Haar vor dem Spiegel ordnete. „Es war heute recht voll in der Kirche," sagte sie, „die Leute sind von weit und breit hergekommen, um Ihren Gatten zu hören, liebe Frau Pastor. Die Gemeinde von Lockhaven ist ge­ wiß stolz auf einen solchen Kanzelredner." „Bitte," antwortete Helene höflich, „sie wird heute nicht minder entzückt sein, Pastor Grier zu hören." „Nun ja," gab Frau Grier zu, während sie sich nach­ lässig in ihrem Stuhl schaukelte, „jede Abwechslung wird angenehm empfunden. Mein Mann wollte über denselben Gegenstand sprechen; er ist immer dankbar; freilich an der Kollekte merkt man's nicht. Aber sie haben's gern, äufgerüttelt zu werden, und je mehr sie innerlich schaudern, um io angenehmer ist es ihnen. Ich denke mir, die Kinder dieser Welt haben eine ähnliche Empfindung, wenn sie im Theater sind und ein recht grauliches Stück sehn." Helene lächelte zerstreut. Ihre Gedanken waren weit­ ab; aber Frau Grier ließ sich nicht entmutigen, sondern fuhr mit ihrem Geschwätz fort, bis es Zeit war, zu Tisch zu gehn. Keine Möglichkeit für die beiden Gatten sich einen Augenblick allein zu sprechen, so sehr auch beider Herz danach verlangte. Johannes sah Helene prüfend an; aber ihre Augen blickten träumerisch verschleiert. Sie war innerlich noch mit der Predigt beschäftigt, freilich in ganz andrer Weise, wie er es gewünscht hätte. Es war ihr plötzlich klar geworden, daß sie mit der gedrückten Seelen-

176 stimmnng ihres Mannes Zusammenhängen müsse, und diese Erkenntnis nahm ihr einen Stein vom Herzen. Ward hatte seine Kanzel mit der gehobnen Empfindung eines Menschen verlassen, der einer schweren Pflicht nach bestem Wissen und Vermögen genügt hat. Von seiner eignen Glut fortgerissen, hatte er sich in eine Stimmung siegesfroher Gewißheit hineingeredet, die ihm Helenens Bekehrung als et­ was Nahbevorstehendes, Selbstverständliches erscheinen ließ. Das Mittagessen verlief sehr ungemütlich, da es Frau Pastor Griers pädagogischen Anstrengungen nicht gelang, ihre vier ungezognen Kinder zum Schweigen zu bringen. Erst als zwei der ärgsten Quälgeister entlassen waren, konnte sie die versäumte Pflicht der Wirtin nachholen: „Sie haben uns eine höchst erweckliche Predigt gehalten, Herr Pastor; mir fehlte es nur, daß Sie uns nicht ein Wort über die Seelen der Unmündigen gesagt haben. Mein Mann hat darin andre Ansichten, als seine Gemeinde­ ältesten." „Was glaubt Bruder (Stier über diesen Punkt?" fragte Ward. „Er behauptet, daß alle Kinderseelen für den Himmel bestimmt sind, während seine Aeltesten daran festhalten, daß im Bekenntnis steht: Nur die Erwählten können selig werden, und das ist auch die Lehre in der ich groß geworden bin. So Ellen, nun geh' mit Schwesterchen in den Garten und sei ein vernünftiges Mädchen." Mit diesen Worten hob sie ihr Kleinstes aus dem hohen Stuhl und legte sein Händchen in das der älteren Schwester. „Frau Pastor," rief Helene lebhaft, „Sie würden diesen Glauben nicht haben, wenn Sie ein Kind hätten hergeben müssen." „Wir haben eins begraben," erwiderte die Frau mit zuckender Lippe und feuchtem Auge; „aber das kann an meinem Glauben nichts ändern, zudem haben wir die Ueberzeugung, daß sie zu den Erwählten gehörte."

177 Helene fühlte, daß es grausam sein würde nach der näheren Begründung dieser Hoffnung zu fragen. Mit wahrer Erleichterung hörte sie, daß ihr Mann diese furcht­ bare Anschauung nicht teilte: „Ich stimme ganz mit ihrem Gatten überein; denn wenn auch alle Kinder in Sünden geboren, in Gottes Augen ein Greuel sein müssen, hat Er sie doch in Seiner Barmherzigkeit durch Christi Blut rein­ gewaschen. Deshalb steht ihnen allen der Himmel offen." Fra» Grier schüttelte den Kops: „Ich bleibe auf dem Stand­ punkt des Katechismus; die Heiden betreffend ist er ja auch ganz der Ihre, Herr Pastor, wie ich gehört habe." Helenens Antlitz trug den Ausdruck stiller Entrüstung, was Fran Griers neugierig forschenden Augen nicht entging. Sic hätte die junge Frau so gern zu einer Aeußerung ver­ anlaßt, um mit eignen Ohren zu hören, ob das Gerücht ihrer Ketzerei begründet sei. „Mir ist es ganz unbegreiflich, daß es wirklich Men­ schen geben soll, die über diesen Punkt anders denken; aber freilich manchmal wird ja gerade das Einfachste, Selbstverständlichste bezweifelt. Wie oft hat mein Vater gesagt, daß die ewige Seligkeit allein vom Glauben an die Verwerfung abhinge. Das ist doch wohl auch Ihre An­ sicht Herr Pastor, trotz Ihres abweichenden Standpunktes über die Seelen der Unmündigen?" . „Ja wir müssen daran festhalten," nickte Ward, „denn sonst wäre Christi Tod ein vergebliches Opfer." „Und Sie, Frau Pastor," wandte sich die neugierige Fragerin an Helene, und ein leiser Spott lag in ihrem Ton, „teilen selbstverständlich ganz diese Ansichten, nicht wahr?" Mit gespanntem, sorgenvollem Ausdruck schaute Jo­ hannes zu seiner Frau hinüber, die vollkommen ruhig Johannes W.irk. 12

178 erwiderte: „Nein Frau Pastor, ich habe meine eignen An­ sichten." Entsetzt hob Frau Grier ihre kleinen, magern Hände empor: „Eigne Ansichten? Und bitte, was glauben Sie über die Heiden? Müssen die nicht der Verdammnis preisgegeben werden?" „Ich glaube auch das nicht," versicherte Helene. Frau Grier räusperte sich in mißbilligendem Erstaunen und blickte erwartungsvoll auf Ward, der schweigend zuhörtc, ihr die Entgegnung überlassend. „Ich muß sagen," fuhr sie fort, „wenn man die Heiden nicht für verdammenswert hält, ist cs widersinnig, an den Heilsschluß Gottes zu glauben. Sie müssen ewig verdammt sein!" „Nun," rief Helene in plötzliche Leidenschaft aus­ brechend, „dann will ich lieber zu den Heiden gehören, als zu den Erwählten; wie ist es möglich, sich der eignen Er­ rettung zu freuen, wenn so viel andre verstoßen sein sollen!" Sie brach schnell ab; erschreckt durch den trostlosen Aus­ druck in ihres Gatten Antlitz. Frau Grier, welche diese Scene wahrhaft genoß, bemerkte kühl: „Das muß ich ge­ stehen, Frau Pastor, Ihre Ansichten überraschen mich außerordentlich," und dabei ruhten ihre Augen so neu­ gierig und spöttisch auf Helenens hübschen Zügen, daß diese verletzt und errötend sich hülfesuchend mit einem flehenden Blick an ihren Mann wandte. „Meine Frau teilt unsre Ansichten noch nicht ganz," jagte Johannes freundlich, „Sie wissen wohl, verehrte Frau Schwester, daß sie erst seit kurzem zu unsrer Kirche gehört." Er war bei diesen Worten aufgestanden und zu Helene getreten. Frau Grier hörte, wie die junge Frau ihn halb­ laut bat: „Ich möchte heute nachmittag nicht noch einmal

179

in die Kirche gehen; ist es Dir Recht, wenn ich Dich hier erwarte?" „Ich kann mir denken, daß Ihre Frau keine Lust hat, noch Weitres über diesen Gegenstand zu hören, da sie ja die Heiden alle großmütig genug in den Himmel spediert," sagte die Wirtin scharf. «Wohin die Heiden kommen, weiß ich nicht Frau Pastor," erwiderte Helene ärgerlich; „denn ich bin garnicht sicher, daß es überhaupt einen Himmel giebt. Das aber glaube ich zuversichtlich: Wenn wirklich ein persönlicher Gott lebt, der unser Wohl und Wehe leitet, kann er nun und nimmermehr so grau­ sam, so ungerecht sein, das zu bestrafen, was in Unwissen­ heit geschieht." „Allmächtiger, ist es möglich!" rief Frau Grier ent­ setzt, ihre Augen gen Himmel richtend, als wolle sie ein unmittelbares Strafgericht über diese offenbare Ketzerei her­ abbeschwören. „Wenn Du lieber nicht gehen willst, mein Herz, so warte hier auf mich," antwortete Johannes, „Frau Pastor ist gewiß so freundlich, Dir ein stilles Plätzchen anzu­ weisen, wo Du Dich auSruhen kannst." „Mit Vergnügen," nickte die Angeredete. Da auch sie den NachmittagSgottesdicnst nicht besuchte, hoffte sie das Verhör unter vier Augen fortsetzen zu können. Aber Helene forderte sie nicht auf, mit heraufzukommen: Sie bedurfte der Einsamkeit, um sich zu besinnen, um sich klar zu werden, um die lebhafte Mißempfindung über ihres Gatten Predigt niedcrzukämpfen. Sich zu gestehn, daß seine Ansichten ihr Innerstes verletzt und beleidigt hatten, schien ihr schon eine Lieblosigkeit, und um ihn vor sich selbst zu entschuldigen, vertiefte sie sich wiederum wie schon so oft in seine milde, gütige Persönlichkeit. Ja, seine reli­ giösen Anschauungen umgaben ihn wie ein fremdes Ge12*

180 wand. Sein Innerstes, Bestes blieb ihr eigen; daran durste sie unbeirrt zehren. Ihr Antlitz hatte nach und nach seinen alten, heitern Ausdruck wiedergewonnen, und in dankbarer froher Stimmung blickte sie in den Garten hin­ unter, der sich unter ihrem Fenster ausbreitete. Eben sah sie Ellen mit ihren beiden Brüdern über den Rasenplatz kommen und unter dem Fliederbusch anhalten. Es mochte wohl ein Lieblingsplätzchen der Kinder sein, wie allerlei zerstreut umherliegendes Spielzeug anbeutete. Heute aber übte dieses keine Anziehungskraft aus; die Kleinen hatten augenscheinlich etwas anderes vor: „Setzt Euch ruhig hin, Jungen," rief Ellen, „ich will Euch den Katechismus ab­ fragen." „Und bitte, wer soll Dich nachher überhören?" fragte Bob mürrisch. „Du willst immer Lehrerin sein, wenn wir Schule spielen; das ist langweilig!" „Heute spielen wir nicht Schule," antwortete die Schwester, ge­ schickt über die erste Frage sortgleitend, „Ihr wißt doch, daß es gottlos ist, am Sabbath zu spielen. Setzt Euch hin." In ihrer Ausdrucksweise lag ein gut Teil mütter­ liche Schärfe; unsanft drückte sie die Brüder auf ein Bänk­ chen nieder und begann, ein gelbes Büchelchen aufschlagend, ihr Verhör: „Wieviel Arten der Sünde giebt es, Jim?" „Zwei," antwortete der Kleine. „Welche beiden, Bob?" „Erbsünde und eigne Sünde," lautete die Antwort. „Was ist Erbsünde?" fragte Ellen mit emporgehobnem Zeigefinger, Bob zum Stillsitzen ermahnend. Für den kleinen Jim war die Frage zu schwierig, und selbst Bob gelangte nur mit einigem Stottern zur Antwort: „Erbsünde ist die Sünde, in der ich empfangen und geboren bin." „Nun Jim," sagte Ellen ermutigend, „die nächste

181 Antwort weißt Du auch; nur ein Wort, das mit j an­ fängt." „Pfui, vorsagen gilt nicht!" schaltete Bob entrüstet ein. Aber seine Schwester fuhr unentwegt fort: „Ist der Mensch durch diese Erbsünde zur Hölle verdammt?" „Ja!" brüllte Jim im Vollgefühl, auf richtiger Fährte zu sein. „Was bist Du also von Natur?" wandte sich Ellen wieder an den älteren Bruder: „Ich bin ein Feind Gottes, ein Kind des Satans und ein Erbe der Hölle", antwortete Bob geläufig. „Was wird aus dem Gottlosen?" fragte die kleine Lehrerin, deren Eifer allgemach nachließ. Bob gähnte und sagte verächtlich: „Ach laß doch, der fährt natürlich zur Hölle." „Du sollst doch wörtlich antworten!" rief Ellen vor­ wurfsvoll, obgleich sie im Grunde ihrer Seele auch zu­ frieden war, die letzte Frage stellen zu können: „Was wer­ den die Gottlosen auf ewig in der Hölle thun?" „Sie wer­ den in alle Ewigkeit fluchen, brüllen und Gott lästern," gab Jim vergnügt zurück, während Bob seine unverhohlne Freude über die glücklich beendete Stunde durch einen Purzelbaum und unbändiges Geschrei andeutete. „Hurrah, ich fluche, ich brülle!" Ellen steckte eilig ihren Katechismus in die Tasche; dann wandte sie sich geheimnißvoll zu den Brüdern: „Ich will Euch was verraten; aber nicht weiter­ sagen!" „Ich klatsche nicht", versicherte Jim, während Bob nichts weiter herausbrachte als: „Los!" „Ihr besinnt Euch doch noch auf den Cirkus tut vorigen Jahr, mit all den Fahnen und der seinen Musik?" „Natürlich!" riefen die Brüder.

182 „Wißt Ihr noch die schöne Dame, die immer auf dem Pferde Kunststücke machte?" „Ja," riefen beide Jungen atemlos. „So eine will ich werden, wenn ich groß bin," sagte Ellen langsam und feierlich. „Ich habe den Katechismus und das ewige Predigen satt; eines Tages lauf' ich davon und werde Kunstreiterin." „Na Vater wird Dich schon kriegen!" rief Jim pfiffig, während Bob, neidisch über einen so glücklichen Gedanken hinzufügte: „Wer sagt Dir denn überhaupt, daß Du im Eirkns keinen Katechismus brauchst?" Der Mangel an brüderlicher Sympathie lähmte Ellens Unternehmnngsgcist keineswegs: „Ich fange immer an, mich zu üben!" Und während ihre Brüder lebhaft interessiert zuschanten, kletterte sie auf einen großen, umgestülpten Pflanzenkübel und tanzte auf einem Bein darauf herum, sich geschickt mit ihren Armen balancierend: „Seht Ihr, das ist mein ungesatteltes Pferd!" rief sie. Die Knaben brachen in lauten Jubel aus, und auch Helene freute sich des hüb­ schen Bildes. Frau Grier dagegen durch den Lärm herbeigerufen, hatte ganz andre Gefühle: Entsetzt über die Sündhaftig­ keit des kindlichen Spiels, rief sie zürnend: „O Ihr un­ gezognen Gören, wißt Ihr denn nicht, daß es Sünde ist, am Sabbath zu spielen und noch dazu Cirkus! Habe ich Euch nicht oft genug gesagt, daß alle Kunstreiter verlorne Seelen sind, die in die Hölle kommen? Pfui, schäme Dich Ellen, geh gleich zu Bett und Ihr Jungens werdet jeder einen Psalm lernen; Abendbrot giebt's heute nicht, merkt Euch das gefälligst!" Die Kinder weinten und flehten; aber die Mutter blieb unerbittlich, und als Helene nach einer Viertelstunde

183 herunterkam, herrschte tiefes Schweigen im ganzen Hause. Vergeblich versuchte sie die aufgeregte Mutter über ihre ungeratenen Kinder zu beruhigen; ihre freundlichen Worte bestärkten Frau Grier immer mehr in ihrer Ansicht, Helene als ein Kind dieser Welt zu verurteilen. Merkwürdig anregend für die eigne Stimmung ist das Bewußtsein der Sündhaftigkeit andrer Leute: Frau Griers Abschiedsgrnß war sehr herzlich; sie strich sorgsam Helenens Reitkleid zurecht und gab dem Grauen ein Stück Zucker. Helene erzählte unterwegs ihrem Mann von der Scene unter dem Fliederbusch; aber sein bekümmertes Gemüt vermochte den Humor derselben nicht nachzuempfinden. Der alte Druck lastete auf seiner Seele; die frohe Stim­ mung vom Vormittag war verschwunden, und seine Augen hatten wiederum den trüben, verschleierten Ausdruck, der Helene die ganze Woche geängstigt hatte; besorgt schaute sie zu ihm herüber: „Du hast Dich gewiß überanstrengt, Johannes, Du siehst so müde ans." Er seufzte, als wollte er einen schmerzlichen Gedanken verscheuchen. „Es hat nichts zu sagen, liebes Weib; aber hast Du Dich heute nachmittag recht auSgeruht?" „Nein," antwortete sie rasch, „ich konnte nicht schlafen; mir ging zu viel durch den Sinn." Gespannt sah er sie an: „Ich ahne jetzt, was Dich in den letzten Tagen so unglücklich gemacht hat, Johannes," fuhr sie ernst fort. „Du mußt unter Deinen eignen fürchterlichen Vorstellungen leiden: Wenn Du wirklich glaubst, daß alle Heiden verdammt sind, wie kannst Du Dich eignen Glückes freuen?" Er schüttelte traurig und enttäuscht das Haupt. „Was mich quält, ist etwas Näherliegendes; das traurige Bewußtsein, im ganzen letzten Jahr die heiligsten Pflichten vernach-

184 lässigt zu haben; die Pflicht gegen meine Gemeinde, und was noch schlimmer ist, die Pflicht gegen mein Weib." „Gegen mich?" rief sie erstaunt. „Ja, gegen Dich, die Du mir theurer bist, als mein eignes Leben; ich habe Deinen Unglauben gekannt und ihn nicht bekämpft: Gott verzeihe mir die Sünde!" „Aber Johannes," rief sie, ihr Pferd dicht an seine Seite bringend, „wie kannst Du Dich mit solchen über­ flüssigen Gedanken peinigen: Bin ich denn nicht unendlich glücklich an Deiner Seite? Ist es denn so wichtig, was ich glaube?" Und als er immer noch schwieg, setzte sie lächelnd hinzu: „Und wo ist Ihre christliche Duldsamkeit geblieben, Herr Pastor?" Aber sein Antlitz blieb düster: „Hüte Dich Duldsamkeit und Gleichgültigkeit zu verwechseln!" antwortete er traurig. Schweigend mit eignen Gedanken beschäftigt, ritten die beiden neben einander her durch die stille Landschaft, die im Golde der Abendsonne strahlte. Mehr als die Hälfte des Heimweges war schon znrückgelegt, als sie bei einer kleinen Quelle kurze Rast machten, um ihre durstigen Pferde zu tränken. In dem Augenblick, als sie wieder aufsitzen wollten, hörte man Pferdegetrappel von der an­ dern Seite; Pastor Grier bog um die Ecke des Weges. Mit pastoraler Würde und Freundlichkeit begrüßte er das Ehepaar und sprach ihnen sein Bedauern aus, sie nicht länger unter seinem Dach zu wissen. Obgleich die Pferde ungeduldig stampften und Helene zum Aufbruch drängte, fuhr Grier ruhig fort mit Johannes über Gemeindeverhältniffe und Amtsgeschäfte zu sprechen. Plötzlich richtete er ganz unvermittelt das Wort an Helene: Obgleich es für meine Frau eine große Freude gewesen ist, Sie heute bei uns begrüßen zu können, hätte es mir doch zur besondern

185 Genugthuung gereicht, Sie, Fran Schwester, heute unter meinen Zuhörern zu wissen." Grier war ein großer, magerer Mann mit wasser­ blauen Augen und einem spärlichen, blonden Bart, der das Kinn von einem Ohr zum andern, wie eine Franse einrahmte. Helene lächelte. „Trauen Sie mir eine so reichliche Beisteuer zur Heidenmission zu?" „Nein, Frau Pastor," versetzte er feierlich, „die Heiden meinte ich nicht, .sondern das Heil Ihrer eignen unsterb­ lichen Seele!" Helene errötete; unmutig warf sie den Kopf zurück: „Sie meinen es sehr gut, aber" ... Der Geistliche ließ sie nicht weiterreden: „Ja, Ihr Seelenheil liegt mir am Herzen; Bruder Ward, sei meiner Fürbitte für Dein Weib gewiß!" „Danke," erwiderte Johannes, „meine Frau ist dem Herrn nicht völlig entfremdet; noch ist ihr die reine Wahr­ heit verhüllt; aber es wird kommen!" „Gott gebe es in Seiner Gnade!" antwortete Grier in feierlichem Ton, winkte und ritt weiter. „Was fällt ihm ein?" rief Helene in heller Entrüstung unbekümmert, ob er noch in Hörweite war. Johannes sah sie mit unendlicher Zärtlichkeit an: „Es thut mir leid, daß er in dem Ton mit Dir sprach, meine Helene, aber die Fürbitte eines Gerechten" .... „Brauche ich nicht," rief sie ärgerlich; „sie erscheint mir, wie eine unberechtigte Anmaßung." „Nein Helene," erwiderte er sanft, „Du darfst die Fürbitte für eine gefährdete Seele nicht unberechtigt schelten; sie entspringt dem heiligsten Gewissensdrang. Deine Seele schwebt in Gefahr; meine Schuld ist es, so lange geschwie-

186 gen zu haben. Soll ich nun nicht dankbar sein, wenn ein treuer Amtsbruder mit seinem Gebet das meine unterstützen will, daß Gott Dich zur ewigen Wahrheit führen wolle?" „Und das alles nur, weil es mir widersteht, an die Hölle zu glauben! Ach Johannes, wenn Du wüßtest, wie bedeutungslos, wie gleichgültig mir das erscheint, Du würdest mich und Dich nicht mehr damit quälen." Er

seufzte tief und schwieg.

Neunzehntes Kapitel. Gifford Woodhause befand sich in großer Selbst­ täuschung, wenn er einen Besuch in Ashurst mit Sehnsucht nach seinen beiden verehrten Tanten begründete. Die eigentliche Triebfeder war der Wunsch, Luise wiederzusehn. Der Umstand, daß die Verlobung mit Richard Forsythe nicht zu stände gekommen war, verlieh seiner eignen Hoff­ nung neue Schwingen. Er verließ Lockhaven wenige Tage, nachdem Ward in Ehester gepredigt hatte. „Die Predigt soll sehr erwecklich gewesen sein, schade, daß sie nicht unsrer Gemeinde zu gute gekommen ist," bemerkte der Aelteste Dean, in dessen kleinen Laden Gifford eben eingetreten war. „Ich denke, solche Predigten sollen vor allen Dingen den Heiden zu gute kommen, Herr Gemeindeältestcr; ihr Hauptzweck ist doch immer eine möglichst reichliche Kollekte?" Mit belei­ digter Würde sah Dean den jungen Rechtsanwalt an und öffnete zweimal den Mund, ehe er antwortete: „Welch be­ dauerlicher Irrtum! Aus solchen Predigten soll der wahre Christ lernen, daß die Heiden in alle Ewigkeit verdammt

187 sind, und sich doppelt seiner eigenen Erweckung freuen oder, wenn er noch nicht zu den Erwählten gehört, sich eiligst bekehren!" Sein Blick ruhte streng und bedeutungs­ voll auf Gifford; er kannte ihn als nnregelmäßigen Kir­ chenbesucher, somit als schlechten Christen. Einmal in sei­ nem Fahrwasser fuhr Dean fort zu predigen; seine gereizte Stimmung brachte ihn sofort wieder auf den „Stein des Anstoßes", „die abtrünnige Pastorsfrau, die Unkraut unter den Weizen säet und die Jugend durch schlechtes Vorbild verderbet." Mit steigender Angst hörte Woodhouse diese Schlagworte mit an; Deans Ton klang so drohend und herausfordernd, als wenn er etwas Böses gegen Helene im Schilde führte. Gifford konnte ein Gefühl der Beun­ ruhigung über ihr Schicksal nicht unterdrücken; es trübte ihm die erste WiedersehnSfrende mit den Lieben daheim, deren herzliche Erkundigungen nach Helene er nicht mit voller Unbefangenheit zu beantworten wußte. Luise entging es nicht; doch fragte sie nicht weiter nach der Ursache; schüchtern, fast verlegen vermied sie jedes längere Gespräch mit Gifford, was ihn bitter enttäuschte. „Ich war ein Narr herzukommcn," dachte er, „wie es auch mit Forsythes Aussichten stehen mag, ich habe nichts da­ bei gewonnen. Hätte sie nur wenigstens noch ihren alten freundschaftlichen Ton; aber alles ist vorbei. Ich hätte eS vorher wissen sollen: Gott sei Dank, daß ich dem alber­ nen Bengel wenigstens nicht zu begegnen brauche." Er konnte seine niedergeschlagne Stimmung nicht ver­ bergen; unruhig und planlos ging er umher, zur tiefen Bekümmernis für seine Tanten, die alles aufboten, ihn zu unterhalten und zu zerstreuen. „Er ist garnicht wieder zu .erkennen, der gute Gifford," seufzte Ruth, „er hat gewiß Sehnsucht nach irgend einem niedlichen Mädchen in Lock-

188 Haven, was meinst Du Deborah?" „Es ist immerhin möglich", nickte Deborah, „obgleich ich daran festhalte, daß er gewiß Helene nachtrauert: Die Vorsehung hatte die beiden für einander bestimmt." „Aber kannst Du denn nicht mit demselben Recht sagen, daß Helene und Johannes Ward von der Vorsehung zusammengeführt sind; sie sollen sich doch so sehr lieben, so unendlich glücklich mit einander sein! Ich denke mir immer," und dabei flog ein leises Rot über ihre welken Züge, „wenn ich ein ältres Mädchen oder einen alten Jung­ gesellen sehe, daß sie unverheiratet geblieben, weil der andre Teil, der ihnen bestimmt war, in der Kindheit gestor­ ben ist." Fräulein Deborah zuckte die Achseln: „Ich glaube nicht, daß alle Ehen im Himmel geschlossen werden; sonst wäre es nur ein Beweis, daß auch der Himmel sich irren kann: Denke an Dales! Hätte nicht der gute Heinrich eine andre Gefährtin finden können, ebenso perfekt als Hausfrau und dabei viel liebenswürdiger im Wesen?" Auch Luisen gegenüber erwähnten beide Tanten ihre Ver­ mutungen. Ruth blieb bei dem niedlichen Mädchen in Lockhaven, Deborah bei seiner alten Liebe zu Helene stehen. Klopfenden Herzens hörte Luise zu: Gifford erschien ihr jetzt in einem ganz andern Licht. Wie oft hatte sie des Gespräches an der Steinbank gedacht, wie ost sich ihres Versprechens erinnert! „Er hat es gewiß längst vergessen; Tante Deborah sagt, Männer überwinden dergleichen so leicht!" Armer Gifford! Er gehörte nicht zn den Männern, die leicht überwinden; auch ihm blieb die Steinbank ein Lieblingsplätzchen, das er gern und häufig aufsuchte, um sich ganz von Erinnerungswonne, von Erinnerungsweh

189 durchfluten zu lassen. Auch eines Morgens war er, fast ohne es zu wissen, hierher gelangt; von der Stimmung des Augenblicks ergriffen, nahm er Papier und Bleistift zur Hand, um seinen Liebesschmerz in einem Gedicht ausklin­ gen zu lassen. Leicht und mühelos flössen die ersten Zeilen. Aber o irdische Unvollkommenheit, die eine göttliche lyrische Stimmung an mangelnden Reimen scheitern läßt! Das Folgende wollte sich weder reimen, noch dem Rhythmus an­ passen. Hoffnungslos saß er fest: Hätte er nur den rich­ tigen Reim, die Gedanken würden schon von selber kom­ men . . . Diese Hypothese auf ihre Nichtigkeit zu prüfen, war ihm nicht bcschiedcn. Er wurde unterbrochen: Pre­ diger Howe und Rechtsanwalt Denner, von einer Angelparthie heimkehrcnd, wählten den näheren Heimweg durch den Pfarrgarten. Gifford trat ihnen mit freundlichem Gruß entgegen: „Viel Glück gehabt, Herr Prediger?" Dieser schüttelte betrübt den Kopf: „Denner hat zwei herrliche Forellen gefangen; mir war das Schicksal heute nicht hold. Wie steht's denn in Lockhaven mit dem Angeln: Hat Ward Freude daran?" Gifford lachte. „Ach nein, er fischt dem Evangelinm entsprechend nur Menschen. Er ist in letzter Zeit eifriger denn je dabei; die Sorge um die armen Seelen, die ohne ihn im Höllenfcuer braten müßten, läßt ihm keine Ruhe." „Dummes Zeug!" brummte Howe, „er ist und bleibt ein Narr!" „Nein, er ist einer der edelsten Menschen, die es giebt!" versicherte Gifford mit Wärme. „Und was seinen Glauben betrifft, halten Sie denn nicht auch an dem Begriff der Hölle fest, Herr Prediger?" „Na natürlich!" rief Howe lachend und blinzelte vergnügt mit den Augen. „Wer hier in der Theorie an sie glaubt, braucht sie drüben nicht praktisch kennen zu lernen; ich bin immer dafür, auf der sichren Seite zu stehen. Guten

190 Morgen, Denner, laß Dir Dein Glück gut bekommen!" Damit wandte er sich dem Hause zu, während Denner stehen blieb. „Es ist gar zu nett, Dich wieder einmal daheim zu sehen, Gifford," sagte der kleine Herr freund­ lich, „Deine Tanten sind gewiß sehr glücklich darüber?" „Das Vergnügen ist mehr auf meiner Seite," er­ widerte Gifford, „ich wünschte, ich könnte sie beide mit mir nach Lockhaven entführen!" „Was beide?" fragte Denner ganz beunruhigt. „Natürlich," antwortete der Neffe, „die beiden sind doch unzertrennlich!" Denner seufzte: „Das habe ich auch schon bemerkt." „Ich fürchte nur," fuhr Gifford fort, „daß sie in Lockhaven nicht sehr glücklich sein würden ohne ihre guten Bekannten, ohne ihren Prediger!" „Glaubst Du wirklich, daß sie uns sehr entbehren würden?" fragte aufgeregt Denner. „Ganz gewiß", nickte Gifford. Er war nicht so sehr bei der Sache; sondern blickte zerstreut auf die Veilchen im Grase, die ihm so viel zu sagen schienen. „Ich muß sagen," fuhr Denner fort, „ich bin erfreut, das zu hören.... sehr erfreut. Wir würden sie auch sehr ungern hergeben!" Da Gifford auf diese Bemerkung keine Antwort gab, fügte er in augenscheinlicher Verlegenheit hinzu: „Uebrigens Gifford, ich möchte Dich etwas fragen., ein Freund von mir hat mich um meinen Rat gebeten inbezug auf eine... Heiratsangelegenheit." Interessiert sah der Angeredete auf: „Handelt es sich um einen Erbvertrag?" „Du. .. nein .... Du verstehst mich nicht ganz," antwortete Denner hastig, ... „es handelt sich um eine Herzensangelegenheit. Natürlich bist Du noch viel zu jnng,

191 nm irgend welche Erfahrung in solchen Dingen zu haben; aber ich dachte als Jurist könntest Du den Fall verstandes­ mäßig beleuchten und mir einen Rat geben?" „Mit Vergnügen," versicherte Woodhouse, der die Sache erfaßt zu haben glaubte. „Ich habe erst ganz vor kurzem einen solchen Fall in Lockhaven gehabt: Meiner Klientin wurde eine bedeutende Entschädigungssumme zugesprochen: Zwölf Jahre waren die Leute verlobt gewesen, als er sie hinterging, schändlich, solche Treulosigkeit!" — Denner sprang entsetzt empor: „Aber lieber Junge, von solchen Dingen ist bei mir absolut nicht die Rede, keine Spur davon ... Du mißverstehst mich völlig. Mein Freund ist innerlich erwärmt für.... er wünscht einen Rat hinsichtlich der Wahl." „Hinsichtlich der Wahl?" Gifford brach in lautes Gelächter aus. „Ich dachte, dabei wäre sich der Bewerber meist klar; aber ich kann mich auch irren." „So ist es in diesem Falle," erwiederte Denner mit einem Anflug von Empfindlichkeit. „In Deinem Alter ist man geneigt, den Ernst des Schrittes und die Wichtigkeit guter Ratschläge zu unterschätzen. Die Sache verhält sich folgendermaßen. „Mein Freund verehrt zwei Damen, Schwestern; er schildert sie beide gleich anziehend und ehren­ wert, und nun kann er nicht zum Entschluß kommen, welcher von beiden er den Vorzug geben soll. Und ich vermag ihm auch nicht zu raten." „Kennen Sie denn die beiden jungen Damen?" fragte Gifford. „Von Ansehn, ja," gab Denner zu. „Und bitte, was haben Sie ihm geraten?" fragte Gifford weiter, der nur mit großer Mühe seinen Ernst bewahren konnte.

192

Denner sah betrübt vor sich hin: „Ich war leider auch nicht im Stande, ihm zu helfen: Ob Du klarer siehst, wenn ich sie Dir eingehender schildre, jede in ihrer Eigenart? Wie gesagt, beide sind ganz vorzügliche Mädchen. Mein Freund hoffte eigentlich, es durch ein Sprichwort zu entscheiden." „Durch ein Sprichwort?" rief Gifford. „Ja wohl!" bestätigte Denner; „es ist in der That gar kein übler Gedanke; aber ein darauf zielendes Wort zn finden, ist so schwer." Er sprach mit beleidigter Würde; denn Giffords müh­ sam unterdrückte Heiterkeit kränkte ihn. Vergeblich versuchte sich der junge Rechtsanwalt damit zu entschuldigen, daß ihn die Neuheit des Falles überrascht habe; der kleine Herr packte seine Angelgeräte zusammen und sagte, sich zum Gehen wendend: „Wir wollen die Sache fallen lassen, guten Morgen!" „Hören Sie lieber Herr Denner," rief ihm Gifford, der endlich seine Fassung wiedergewonnen hatte, nach. „Wenn es nicht gerade Zwillinge sind, so wüßte ich wohl ein passendes Wort." Denner wandte sich lebhaft nm: „Nein, Zwillinge sind es nicht, sie sind fast zehn Jahr aus einander." „Nun, so mag Ihr Freund doch beherzigen: Alter vor Schönheit! und die Aeltre nehmen." Denner warf die Angelgeräte zur Erde und ergriff mit Wärme Giffords Hand: „Du bist ein außerordentlich guter Jurist; ich wußte es im Voraus und bat deshalb meinen Freund, Dich zuziehen zu dürfen. Er wird sehr beglückt sein: Nimm durch mich seinen allerverbindlichsten Dank. Er wird sich ewig in Deiner Schuld fühlen." Seine Feierlichkeit reizte Giffords Lachmuskeln von neuem so sehr, daß er froh war den väterlichen Freund gleich darauf außer Hörweite zu sehn und sich einem un­ gestörten Gelächter hingeben zu dürfen.

193 In völliger Ahnungslosigkeit, welchen Eindruck er auf seinen jungen Zuhörer gemacht hatte, tänzelte Denner ver­ gnügt die Straße hinunter: Endlich war er am Ziel: Seine Freude war grenzenlos: „Eine ganz vortreffliche Entscheidung!" murmelte er, „merkwürdig, daß ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Alter vor Schönheit. Paßt ausgezeichnet." Aus diesen glückseligen Betrachtungen wurde er auf­ geschreckt durch uäherkommendes Pferdegetrappel und un­ regelmäßiges Rädergerassel: Es klang, als wenn ein Wagen hin und hergeschleudert würde. Erschreckt sprang er zur Seite und sah den Howeschen Wagen, von einem dnrchgehcnden Pferde gezogen, dahcrrasen, in beständiger Gefahr umgeworfcn werden. Eine Wolke von Staub umhüllte die Insassen, so daß Denner nur flüchtig zwei weibliche Ge­ stalten erkennen konnte. Die eine schien Lnise; wer aber war die andre grau gekleidete Dame? Eine plötzliche Ein­ gebung überkam ihn. Es war eine der Schwestern; sie schwebte in Lebensgefahr; er wollte sie retten, sie sich er­ obern: Damit sein Schicksal entscheiden. Das alles ging ihm mit Blitzesschnelle durch den Kopf, schon war er auf den Damm gesprungen und unerschrocken dem rasenden Tier in die Zügel gefallen. Im nächsten Augenblick fühlte er sich zu Bodeu gerissen, durch einen schweren Hufschlag verletzt: Es war ihm noch, als sähe er die graue Gestalt aus dem Wagen geschleudert werden; dann schwanden ihm die Sinne. Als er wieder zum Bewußtsein kam, schienen ihm Bäume und Büsche wunderlich zu tanzen. Mühsam ver­ suchte er die Situation zu erkennen: Neben ihm kniete Gifford; auf dem Damm hielten zwei Männer das schaum­ bedeckte Pserd; der Wagen lag zerbrochen daneben; die Icl'.inneo W,nd. 13

194 beiden weiblichen Gestalten waren verschwunden. „Wer war es?" fragte er schwach. „Beide sind Gott sei Dank unverletzt, Herr Rechtsan­ walt, Ihrer Tapferkeit danken sie ihr Leben," antwortete Woodhouse tief erschüttert. Denner bewegte die Lippen: „Wer?" .... „Er möchte wissen, wer es gewesen ist," sagte Prediger Howe, der hinzugetreten war. „Meine Tochter, Freund, Gott lohne es Dir, und Frau Forsythe." Der Verwundete seufzte schmerzlich: „Also wieder keine von beiden." „Er phantasiert," sagte Gifford leise, „ich glaube der Fall ist recht ernst, Herr Prediger, ob wir ihn transpor­ tieren können?" Leise hoben sic ihn ans und trugen ihn in seine Wohnung, in deren Nahe der Unfall stattgcfundcn hatte; Gifford versprach alles Nötige zu besorgen, während cS den Prediger drängte, im eignen Hause nach dem rechten zu sehen. Er fand seine Tochter weinend neben dem Lager ihrer mütterlichen Freundin, deren ohnehin angegriffne Nerven durch die Erschütterung schwer gelitten hatten. „Sie wird sterben, ich weiß cs," schluchzte Luise, „und ich trage die Schuld durch meine Unbedachtsamkeit: O Gott, was soll ich thun!" Leider war sehr wenig zu thun, und Frau Dale, die man eiligst herübergeholt hatte, da sie bekanntermaßen eine vorzüg­ liche Krankenpflegerin war, schickte Luise zu Bett, um sie, wie sie behauptete los zu sein, in Wahrheit aber, um dem armen Kinde die Wohlthat der Schlafoergcssenheit zu gönnen. „Ich will Dir was sagen," bemerkte sie zu ihrem Bruder, „jetzt hat die gute Arabella endlich die längst ersehnte Gelegenheit abzuscheiden: Es wird ihr übrigens eine große Befriedi­ gung sein, ihr Krankheitsregister in so interessanter Weise

195 vermehrt zu haben." Daß sie selbst Sorge um den Zustand der Kranken hatte, verriet sie nicht: Im Gegenteil, sie redete Luise gut zu, gab ihr ein Brausepulver und versicherte, daß morgen alles in bester Ordnung sein werde. Aber der Morgen brachte die erhoffte Besserung nicht; der Arzt aus Mercer machte ein sehr bedenkliches Gesicht: „Vollständige Nervenerschütterung, Folgen nicht abzusehn." Luise war so fassungslos, daß ihr niemand Denners schwere Verletzung mitzuteilen wagte, die doch alle Gemüter mit unmittelbarer Sorge erfüllte. Man hatte ihm in seinem Studierzimmer ein Lager aufgeschlagen und ihn so vorsichtig wie möglich gebettet. Bei allen Leiden, bei aller Schwäche blieb er derselbe höf­ liche, rücksichtsvolle Mann, der er in guten Tagen gewesen war. Kaum im Stande klare Gedanken zu fassen, fand er doch Worte der Entschuldigung für alle Mühe, die er seiner Umgebung verursachte. Noch am ersten Nachmittag ermannte er sich, winkte Gifford herbei und bat ihn, sein Angelgerät gut fortzupacken und die beiden Forellen in dem Korbe mit vielen Grüßen an seine beiden Tanten zu überbringen. Nachdem Gifford den Auftrag ausgeführt hatte, sprach er noch einen Augenblick im Pfarrhause vor, um Erkundi­ gungen einzuziehen. Er traf Frau Dale in dem Vollge­ fühl ihrer Verantwortung als Krankenwärterin. „Es geht Arabella schlecht; ich glaube nicht, daß sie es übersteht. Luise ist Gott sei Dank ganz unverletzt geblieben, aber natürlich sehr unglücklich, weil sie sich die Schuld an dem ganzen Unfall znschreibt." „Wie so?" fragte Gifford. „Gott, natürlich war's ihre Schuld," rief Frau Dale, mit dem Taschentuch eine verräterische Thräne abwischend, „aber wir wollen sie schonen und es ihr ausreden. Sic hat eben 13*

196 wieder einmal ihr Köpfchen durchsetzen und selber fahren wollen, — was für Frauenzimmer immer ein Unsinn ist, — dabei hat sie die Zügel fahren lassen in dem Augen­ blick, da das Pferd durch ein Stück Papier scheu geworden ist; alles andre weißt Du; ich finde aber doch, man soll sie in ihren selbstquälerischen Gedanken nicht noch mehr bestärken." Gifford schwieg einen Augenblick: „Wäre es nicht richtiger, ihr die volle Wahrheit zu sagen?" „Dummes Zeug," rief Frau Dale in sittlicher Em­ pörung: „Weiß Gott, ich hätte Dir mehr Sympathie zu­ getraut." Auch Fräulein Deborah und Fräulein Ruth Woodhouse waren von innigster Teilnahme für die Kranken erfüllt. War cs ihnen auch nicht vergönnt neben Frau Dale pflegen zu dürfen, so fanden doch auch sie Mittel und Wege, sich thatkräftig und hilfreich zu erweisen. Stunden­ lang stand Fräulein Deborah am Herde, um ihre köst­ lich klaren Wein-Gelees zu bereiten, in deren Herstellung sie niemand zu übertreffen vermochte. „Komm wir wollen gleich die Gelee zu dem armen Wilhelm Denner bringen," sagte sie, die kunstvoll gestürzte Form in der Hand in Ruths Atelier tretend. „Aber Deborah," versetzte zögernd die jüngre Schwester, „ist das wohl angängig? Wäre es nicht richtiger, wenn Gifford den Auftrag ansrichtete?" „Warum?" rief Deborah, „er darf ja Besuch haben." „Das meine ich nicht," antwortete Ruth errötend, „ich finde es für uns nicht ganz schicklich, er ist doch im Bett..." „Nun," versetzte Deborah ihren Kopf sehr gerade auf­ richtend, „ich dächte, wir wären doch wohl alt genug."

197 „Möglich, daß Du es bist," gab Ruth zurück. „Ich bin es jedenfalls nicht; es wäre doch sehr verlegen, ihn später wiederzusehn; natürlich wüßte man, daß es mit ihm zu Ende ginge, wäre es ganz etwas andres." „Du hast vielleicht recht", stimmte die ältre Schwester nach einigem Besinnen bei: „Einzelstehende Mädchen können nicht vor­ sichtig genug sein inbezug auf ihren Ruf; wir wollen Gifford schicken. Ach Gott, der arme Denner; er wäre nächstes Mal mein Partner gewesen." „Keineswegs," entgegnete Ruth mit großer Bestimmt­ heit, „er hätte mit mir gespielt." —

Zwanzigstes Kapitel. Die Ungewißheit lastete schwer auf Luise Howe; denn wenn ihr auch der freundliche Rechtsanwalt Denner auf ihre täglichen Erkundigungen hin allerlei Tröstliches und Hoffnungsvolles heraussagen ließ, ahnte sie doch, wie schwer­ leidend er sei. Gifford, der die Pflege mit größester Treue besorgte, hatte Luise kaum gesehn. Heute endlich konnte er sich die Freude machen, sie heimzugeleiten, da Onkel Dale, mit dem sie gekommen war, ihn bei dem Kranken vertreten wollte. Es war ein schöner, klarer Frühlingsnachmittag; Frieden und Sonntagsruhe allenthalben, nur nicht im Herzen des tief traurigen Mädchens, das gesenkten Hauptes neben ihrem Gefährten dahinschritt, kaum im Stande, seine teilnehmenden Fragen zu beantworten. „Ist bei Frau Forsythe keine Spur von Besserung vorhanden?" Luise schüttelte traurig den Kopf: „Nicht die geringste."

198 „Ist ihr Sohn schon benachrichtigt?" „Nein," sagte Luise, „er ist verreist, ohne Angabe seiner Adresse, also nicht zu erreichen." Gifford schwieg. „Ich wünschte, er käme bald," rief Luise leidenschaft­ lich, „damit er mir Vorwürfe machen könnte." „Hoffentlich bleibt Dir das erspart; Fran Forsythe

kann ja wieder gesund werden." „Nein, nein, wir haben keine Hoffnung für sie," schluchzte das Mädchen. „Sei doch etwas gefaßter," bat er, „der Arzt spricht doch nur von Nervenerschütterung; ich glaube wirklich, es wird wieder besser." „Ach Du kennst sie nicht," rief Luise noch immer weinend, „sie ist so zart und anfällig, und dann Onkel Denner: Ich kann keinen Augenblick das Gefühl der Ver­ schuldung loswerdcn!" Sie kamen an der Stelle vorbei, wo der Anfall statt­ gefunden hatte: Luise wendete sich schaudernd von den Spuren ab: „Ach Gifford, nie wieder werde ich sorglos und glücklich sein können!" „Ich verstehe es," bestätigte Gifford, „aber vielleicht hast Du in Zukunft doppelten Grund zur Dankbarkeit." Sie waren am Eingang des Pfarrgartens angekommen; Gifford hielt die Thür einen Augenblick auf, „komm," bat er ans die Steinbank weisend, „laß uns einen Augenblick hier sitzen bleiben, hier traf ich den armen Rechtsanwalt Denner neulich, ach," fügte er leiser hinzu, „denke doch, was uns der Gute an Kummer und Leid erspart hat. Mir ist es, als könnte ich es ihm nie genug danken." Luise hörte nicht; sie war in Träumerei versunken. Die Erinnerung an jene stille Stunde, da er ihr hier seine Liebe gestanden, stieg in ihrer Seele empor und belebte

199 ihre blassen Wangen für einen Augenblick, um schon im nächsten dem tiefen Schmerzgefühl über die traurige Gegen­ wart zu weichen. „Wie unrecht von mir, daß ich über­ haupt noch an etwas Andres denken kann," und sie fuhr fort sich mit bittern Worten anzuklagen. „Jeder sagt zwar, ich wäre nicht schuld, aber wenn sie sterben sollten, bin ich doch ihr Mörder." Verzweiflungsvoll rang sie die Hände, während er sie mit innigstem Mitleid betrachtete. „Nein Luise, es ist nicht recht das zu sagen; Du würdest doch gewiß gern Dein Leben für sie hingeben." „Also beschuldige Dich „Ach ja, ach ja!" schluchzte sie. nicht mehr, als nötig." „Nötig?" fragte sie langsam, „wie meinst Du das? Die Andern sagen doch, ich hätte keine Schuld." Er schwieg; in seinen Augen leuchtete die innigste Sympathie. „Du findest also, daß ich schuld habe?" Gifford faßte lebhaft ihre Haud: „Ich fühle ja nur mit Dir, möchte Dir tragen helfen; aber wenn Unachtsamkeit wirklich die Veranlassung gegeben hat, ist es doch besser, cs sich zu gestehn, meinst Du nicht auch?" Luise machte mit dem Kopf eine Bewegung, als wolle sie einem Schlage trotzen. „Du hast ganz recht; ich weiß, daß ich schuld habe; es kann mir keiner helfen; bitte las; uns jetzt gehen". „Ach Luise, wenn ich Dir doch helfen könnte!" sagte er betrübt, als sie ihm an der Thür gute Nacht bot. „Das kann niemand!" antwortete sie abweisend, „ich selber kann es nicht einmal gutmachen: O Gott könnte ich es doch mit meinem Leben sühnen." Gifford ging heim, niedergeschlagen und verwirrt. Er war noch nicht alt genug, um zu wissen, wie schnell die

200 Jugend mit Todessehnsucht bei der Hand ist; er machte sich Vorwürfe, so rücksichtslos gegen Luise gewesen zu sein. „Die Wahrheit zu hören mußte ihr lieb sein; aber ich hätte mich vorsichtiger ausdrücken sollen." Luise eilte indessen zu Frau Forsythe, die sie mit resigniertem Lächeln empfing. „Keine Spur von Besserung; ich kann eben noch atmen, das ist alles. Aber gräme Dich nicht, mein Herzchen!" Luise kniete nieder und küßte mit unterdrücktem Schluchzen die zarten Hände, die wie leblos auf der scidnen Decke lagen. Obgleich schwer leidend, wußte die Kranke doch die Lage der Sache geschickt auszuuutzen. „Meine einzige Sorge ist das Geschick meines armen Sohnes. Wer wird sich seiner annehmeu, wenn ich nicht mehr bin! O mein guter Richard, wie wirst Du Deine Mutter entbehren." Frau Forsythe hatte sich nicht verrechnet; in Luisens zer­ knirschtem Gemüt erwachten allerlei Gedanken an eine Sühne, bei der sie ihr Eigenstes zum Opfer bringen konnte; aber wie schwer würde ihr das werden! Eine Beute schmerz­ lichster Gedanken saß sie in einer dunklen Ecke des Kranken­ zimmers. Gifford erging es nicht besser; auch seine Seele war von tausend Zweifeln zerrissen, und dabei galt es doch immer Denner, der seine Schmerzen so geduldig trug, ein freund­ liches Gesicht zu machen. Sein kleines, blasses Antlitz war in der Dämmerung kaum erkenntlich: „Gifford," sing er mit schwacher Stimme au, „es kommt mir vor, als wenn der Arzt heute mit meinem Zustand weniger zufrieden ge­ wesen wäre, als sonst. Ich fragte ihn, ... ob .. ja ob meine Verletzung lebensgefährlich wäre, da wich er mir aus und hatte augenscheinlich Eile fortzukommen. Ich wollte ihn nicht in Verlegenheit setzen; darum fragte ich nicht

201 weiter; aber ich glaube doch, er hält mich für sehr krank,

was meinst Du?" Gifford war in

derselben

Lage wie der Arzt;

freundlichen Ausflüchten beruhigte er den Kranken.

mit

„Er hat

mir nichts Bedenkliches gesagt; nur ein Wort der Aner­

kennung über Ihren großen, persönlichen Mut, lieber Herr

Rechtsanwalt." Ein flüchtiges Lächeln huschte über die welken Züge Denners. „Eigentlich kam es ganz zufällig,"

flüsterte er. „Zufällig? Was meinen Sie damit? Ich sah Sie doch, sich dem Wagen entgegenwerfen und dem Pferde in die Zügel fallen?"

Denner seufzte.

„Es war doch ein Spiel des Zufalls.

Ich befand mich in einem Irrtum; aber es ist mir ganz recht so, wer weiß, ich hätte mich sonst vielleicht besonnen."

„Ich verstehe wirklich nicht ganz," sagte Gifford, den Kranken besorgt ansehend.

Aber dieser schwieg und schaute wie träumend in die wachsende Dunkelheit. Nach einer Weile fing er wieder an, indem er mit zit­ ternder Hand nach dem großen Schlüsselbund unter seinem Kopfkissen tastete: „Willst Du mir wohl den Gefallen thun, lieber Gifford, und mit dem kleinen Messingschlüssel hier die kleine

Schublade linker Hand

in meinem Cylinder­

steht noch auf." Die ganze Zeit hindurch hatte es seine Ordnungsliebe peinlich berührt, daß der Schreibtisch offen geblieben war; aber er

bureau aufschließen?

Die Klappe

hatte niemand bemühen wollen, ihn zuzuschließen.

„In der kleinen Schublade findest Du ein flaches, vier­ eckiges Päckchen und darunter ein längliches Kästchen, nicht

wahr?"

„Ja wohl," reichen?"

bestätigte Gifford,

„soll ich

es

Ihnen

202 Denner streckte die Hand aus: „Bitte schließe erst die Schublade und dann das Pult; danke sehr!" Mit zitternden Fingern löste er sorgfältig das Seiden­ papier, welches das Kästchen einhüllte. „Es ist ein Pastell­ bildchen meiner kleinen Schwester; Du hast sie nicht mehr gekannt; sie starb, als ich zwanzig Jahre alt war, also vor einundvierzig Jahren. Wie lange habe ich sie entbehren müssen, die einzige ihres Geschlechts, die ich wirklich geliebt habe. Jeden Abend habe ich das Bild angesehn; deshalb soll es anch jetzt hier neben mir liegen. Die Perlen im Rahmen haben allen Glanz verloren; willst Du dafür sorgen, daß es frisch gefaßt wird? Und — falls ich nicht wieder gesund werde, möchte ich, daß es eine Deiner verehrten Tanten bekommt?' Gissord trat zu dem Kranken und drückte schweigend seine Hand voll innigster Sympathie. Er verstand Denners Blick wohl, der um Bestätigung seiner Lebenshoffnung slehte; aber es widerstand seiner ehrlichen Seele den Kran­ ken zu täuschen. Denner fuhr leise fort, als spräche er zu sich selbst: ,,Einer von beiden soll es gehören; im Testament steht's nicht, weil ich es nur einer ganz nahestehenden Seele schenken wollte. Es giebt Leute, die ihr bischen Eigentum mitnehmen; aber nein, nicht ins Grab mit meiner kleinen Schwester; sieh nur, das liebe, kleine Ge­ sichtchen, Gifford, — halte es mal ans Licht, — nein bei Deinen Tanten ist es gut anfgehoben; ich finde es sogar ganz in der Ordnung, es „ihr" zu hinterlassen." Gifford nahm das Bildchen aus der Hand des Kranken und betrachtete es tief bewegt: War das rosige Kindergefichtchen auch nicht besonders hübsch, so hatte es doch dem einsamen Mann täglich Freude und Lebensniut zugclächelt.

203 „Pergiß es also nicht," wiederholte Denner, „cs ist für eine Deiner Tanten bestimmt." „Ich werde es nicht vergessen," sagte der junge Rechts­ anwalt ernst und legte das Bild auf das Kopfkisfen nieder. Während der nächsten Augenblicke war alles still; dann fing Denner wieder an: „Wie gesagt, es war nur ein Mißverständnis, daß ich Frau Forsythe und Luischen half; ich hatte geglaubt, eine Deiner Tanten zn erkennen, und die wollte ich retten. Besinnst • Du Dich noch auf unsere Unterhaltung an dem letzten Nachmittag? Was ich Dir damals von einem Freunde erzählte, betraf mich selber, Gifford." Gifford schwieg überrascht und erschüttert: O wie lebendig ihm alles vor Angen stand: Der sonnige, stille Nachmittag, das sanfte Rauschen der Silberpappeln, die abgerissene Geschichte Denners: Jetzt erkannte er wie pa­ thetisch, wie rührend die kleine Scene gewesen war; die Angen wurden ihm feucht. „Ich verstehe jetzt," sagte er leise. „Das hoffte ich," fuhr Denner in erleichtertem Ton fort, „und darum kann ich es auch nicht für ungehörig halten, wenn ich es Dir erzähle; Du bist freilich noch sehr jung; aber die letzten Tage haben Dich gereift, Du bist, wenn ich mich so ausdrücken darf, gesetzter geworden und ich meine als Haupt der Familie steht Dir das Recht zu, über diese kleinen Andenken zu verfügen." „Nehmen Sie meinen Dank für so viel Vertrauen, lieber Herr Denner," rief Gifford. „Ist ganz in der Ordnung; also, wenn es, ... . schmerzlich zögerte der Kranke, „notwendig werden sollte, wirst Du es ihr übergeben?"

204 „Ganz gewiß," beteuerte Woodhouse, „aber Sie haben noch nicht bestimmt, welche von beiden es haben soll." Denner schwieg, wandte sich nach dem Fenster, das einen letzten Tagesschimmer hereinließ und seufzte. „Nein, ich habe mich noch nicht entschieden, welcher ich es geben will. Was meinst Du, welche von beiden Hütte wohl die größeste Freude daran?" „Sie können überzeugt sein, lieber Herr Denner, daß jede von ihnen es in Ehren halten würde." Denner antwortete nicht; seine Gedanken wanderten: O wie viele Hoffnungen waren ihm durch den Unfall zer­ stört worden! Dabei fiel ihm Giffords Sprüchwort ein, und aus seiner Träumerei erwachend, sagte er mit großer Entschiedenheit: „Gieb das Bildchen Deiner Tante De­ borah." Es war, als habe die Entscheidung sein Gemüt be­ ruhigt; er schloß die Augen und schlief ein, das Andenken mit fiebernder Hand festhaltend. Am nächsten Morgen ging Gifford zu Howes, um Nachrichten auszutauschen. Leider konnte er über seinen Patienten nichts Gutes berichten: Das Fieber war gestiegen, die Lebenskraft gesunken. Gifford fürchte sich vor dem Augen­ blick, Luise davon Mittheilung zu machen und war doch ent­ täuscht, als sie nicht erschien. „Sie ist möglichst viel bei Frau Forsythe," bemerkte Tante Dale, die ihn empfing. „Arabella ist dieses Mal wirklich krank; obgleich sie ein fabelhaftes Talent hat, viel ans ihren Leiden zu machen, so daß man getrost immer ein Drittel auf Uebertreibung setzen kann. Aber ich habe ein sichres Auge: Dieses Mal ist es ein ernster Fall." Frau Dale genoß die Wichtig­ keit, einen „ernsten Fall" unter Händen zu haben, so sehr, daß sie auf das erfreuliche Symptom eines gesteigerten

205 Appetites keinen Wert legte. „Wir haben schon zweimal an ihren Sohn telegraphiert, obgleich sie sich wunderbarer Weise gar nicht so sehr nach ihm sehnt. Ich wäre doch unter solchen Verhältnissen unglücklich ohne meine Kinder! Und wie findest Du es, daß er ihr nicht schreibt? Seit­ dem er fort ist, hat sie keine Zeile von ihm bekommen; sie weiß nur, daß er mit guten Freunden eine Vergnügungs­ reise gemacht hat." Vergeblich versuchte Luise durch eifrige Thätigkeit im Krankenzimmer ihr aufgeregtes Gemüt zu beruhigen: Die Angst vor dem tödlichen Ausgang der Krankheit beraubte sie jeder Lebensfreudigkeit; ihre Bewegungen waren matt, ihre Züge eingefallen, die sonst so strahlenden Augen blickten trübe und freudlos. Denners Geschick bedrückte sie weniger, vielleicht, weil sie daran nur einen mittelbaren Anteil gehabt hatte, vielleicht auch, weil sie nicht ahnte, wie qualvoll sein Leiden, wie nahe sein Ende. Luise hatte Giffords Stimme aus dem Nebenzimmer her erkannt: Von neuem fühlte sie den Stich, den ihr seine anklagenden Worte verseht hatten. In dieser bittern Em­ pfindung war sie doppelt geneigt, Frau Forsythes Reden auf sich wirken zu lassen, die in der Gewißheit ihres nahen Todes nur noch von der Zukunft ihres Sohnes sprach: „Siehst Du, Luise," sagte sie mit ihrer sanften, klagenden Stimme, die zuweilen zum Flüsterton herabsank, „siehst Du, er hat niemand, der ihm nahe steht, wenn ich die Augen geschlossen habe; niemand, der für ihn sorgen, nie­ mand, der ihm gut zureden wird. Er ist ja nicht schlecht und verderbt wie andre, aber lebensfroh und verwöhnt; er braucht ein gemütliches Heim. O was soll aus dem Armen werden, wenn ich dahin bin!" Da Luise schweigend vor sich hinstarrte, fuhr die auf-

206 geregte Mutter fort: „Ja, wenn er mit einem liebens­ würdigen, netten Mädchen verheiratet wäre, wie zufrieden, wie glücklich wollte ich fein!" „Das wünschen wir ihm ja alle," versicherte Luise. „Wie wird ihn mein Tod betrüben! Wer wird ihn trösten! Ich weiß ja, mein Kind, daß es Dir schmerzlich sein muß, mich so reden zu hören; aber angesichts des TodcS scheut man sich nicht, die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Ich kenne den Kummer, der ihn fortgetrieben hat: Mein Sohn, o mein geliebter Sohn: Könnte ich doch Deinen Pfad ebnen; sichst Du Luise, — vielleicht sollte ich nicht davon sprechen, — wenn Du Dich entschließen könntest, ihn zu lieben, ich würde gern und leicht sterben." „Wir haben ihn ja alle lieb!" schluchzte Luise. Frau Forsythe schüttelte den Kopf: „Auf Dich allein kommt es an; wenn Du mir Deine Liebe zu ihm geständest, wie überglücklich wollte ich sein! Er hat mir alles erzählt, — der gute Junge hat ja keine Geheimnisse vor mir, — ich weiß, daß Du ihn abgewiesen hast; aber er kommt wieder mit neuer Hoffnung: Was wirst Du ihm antworten: Sage ja, Luise, erleichtre mein Ende." Ihre Stimme zitterte, ihre Augen flehten, ihr Antlitz zeigte die Bläsie des Todes. Luise schauderte und legte bittend ihre Hände auf das Krankenbett: „Alles will ich für Sie thun, Frau Forsythe, nur das Eine erlassen Sie mir!" „Aber ich verlange nichts weiter, als nur das Eine," fiel ihr die Kranke heftig in die Rede, „gieb mir Dein Versprechen, damit ich in Frieden sterben kann: Willst Du ja sagen?" Luise hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen. „Die einzige Sühne, die mir bleibt," flüsterte sie mit beben-

207 den Lippen. Endlich sprach sie laut: „Ich will alles thun, was Sie wollen." Segnend legte Frau Forsythe ihre Hand auf das ge­ senkte Haupt des Mädchens: „Du giebst mir neues Leben, Luise; also Du versprichst ja zu sagen?" „Ich verspreche cS, wenn er mich noch einmal fragt." „Gott sei gelobt", rief Frau Forsythe und brach in Thränen aus. Luise vermochte sich nicht länger zu halten, obgleich die Kranke nur von Thränen der Freude sprach; sie rief Tante Dale und eilte fort, mit ihrem Kummer allein zu sein. Oben auf ihrem Giebclzimmerchen saß sie lange das Gesicht in den Händen vergraben, ein Bild tiefster Bekümmernis. „Er hat gesagt, ich wäre schuld," schluchzte sie, indes die Thränen unaufhaltsam durch die Finger auollcn, „darum habe ich mich jetzt geopfert." Sie genoß nicht einmal die Befriedigung, mit der sich sonst junge Seelen am Bewußtsein ihres Märtyrertums weiden. Vollkommen tröst- und fassungslos weinte sie sich schließlich wie ein Kind in den Schlaf. Nach ein paar Stunden fuhr sie erschreckt empor: Tante Dales scharfe Stimme wurde an der Thür hörbar. „Was fällt Dir ein Luise, mach keine Dummheiten; eben ist Richard Forsythe angekommen: Die bare Höflich­ keit fordert, daß Du ihn begrüßest."

Einundzwanzigstes Kapitel. Durch die traurigen Nachrichten aus Ashurst beunruhigt, entschloß sich Helene, eine Woche früher, als ursprünglich beabsichtigt war, zu reisen; die Beschleunigung war ihr

208 ganz recht; denn sie empfand ein dringendes Bedürfnis nach Ausspannung. Leib und Seele waren ihr müde ge­ worden durch den aufreibenden kleinen Kampf des täglichen Lebens. Aeltester Dean hatte sie mit Bekehrungsversuchen gemartert, denen sie zuerst ein geduldiges Ohr geliehen in der Hoffnung, ihren eignen Standpunkt, wenn nicht recht­ fertigen, so doch erklären zu können, die sic sich aber end­ lich hatte verbitten müssen, weil ihr die völlige Aussichts­ losigkeit ihres Bemühens klar geworden. Auch Pastor Grier, entsetzt über die Mitteilungen seiner Frau, fühlte sich berufen, Ward ein kräftiges Wort über die offenbare Ketzerei unter seinem Dache zu sagen. Da er Johannes nicht daheim fand, ließ er sich bei Helene melden und redete ihr scharf ins Gewissen, um ihres Seelenheiles willen, wie er ihr mehrfach versicherte. Die ruhige Haltung, die kühle Höflichkeit der jungen Frau verblüfften den eifrigen Amtsbruder einigermaßen; er empfahl sich bald, ohne zu ahnen, wie sehr Helene unter seiner Zudringlichkeit gelitten hatte. Aehnlich peinvoll berührten sie die ausführlichen religiösen Gespräche, in die ihr Gatte sie täglich verwickelte. Daß er noch immer auf ihre Bekehrung hoffte! Mit leiser Bitterkeit gestand sie es am Abend vor der Abreise ihrem Mann, wie sich in der letzten Zeit ihr glück­ liches, harmonisches Leben verdüstert habe. „Du kannst glauben Johannes, daß es nicht angenehm ist, dauernd als das räudige Schaf der Herde bezeichnet zu werden." „Dean meint es so gut," versetzte Johannes freund­ lich, „aber ich gebe gern zu, daß seine Art ungeschickt ist. Vielleicht kommt Dir in der Ferne die richtige Auffassung für unser Streben. Ich weiß bestimmt, mein Weib, daß auch Du an das Ziel gelangen wirst." Sie schüttelte müde das Haupt. „Ich fürchte, Du irrst Dich Johannes; der

209 Glaube an die ewige Verdammnis widersteht meiner inner­ sten Natur. Natürlich weiß ich, daß die Sünde für den menschlichen Charakter die verderblichsten Folgen hat und dem Sünder eine Hölle auf Erden bereitet; aber Deine Art des Höllcnglaubens werde ich nie teilen. „So lange ich für Dich beten kann, so lange hoffe ich auch!" antwortete Ward mit Ueberzeugung." Helene seufzte schmerzlich: „Ach, wenn Du mich doch verstehen könntest: Siehst Du, ist es denn nicht ein jämmer­ licher Glaube, der uns zwingen will, aus Furcht vor Strafe gut zu sein? Sind nicht die andern Fragen so viel größer, so viel entscheidender? Warum existiert die Sünde über­ haupt? Warum läßt Gott die Liebe und den Tod neben einander bestehn: ist das nicht so furchtbar grausam, daß man sich in Versuchung fühlt, überhaupt au Gottes Dasein zn zweifeln?" „Diese Fragen können nur entstehen, wenn wir nicht an die ewige Gerechtigkeit glauben," versetzte Johannes eifrig, „versuche es doch Helene, alles würde Dir sonnen­ klar werden; die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen ist eben grundlegend." „Ich verstehe es nicht," rief sie fast verzweifelt, „ach Johannes wir lieben uns, das ist genug, und wenn meine Anschaunngen den Frieden der Gemeinde stören, so laß uns Lockhaven verlassen und an einem andern Ort neue Zelte bauen!" „Das wäre bittres Unrecht gegen meine Gemeinde, gerade, weil ich sie leider vernachlässigt habe, muß ich auf meinem Posten ausharren bis aufs Letzte, um wieder gut zu machen, was ich an ihr gefehlt habe." „So laß Dir an meinem Versprechen genügen, daß ich von nun an über alle diese Fragen schweigen will." „Wie darf ich das, mein geliebtes Weib? Ich soll Dich Jo donner Warb. 14

210 schweigend dem ewigen Tode entgegengehn sehn? Nimmer­ mehr, so lange ein Atemzug in meiner Brust ist, werde ich Dich zu retten versuchen. So wahr mir Gott helfe!" Er schwieg erschöpft; sie hatte keine Antwort. Traurig saßen beide neben einander, bis Alfaretta die Lampe brachte. Helene ging an ihren Schreibtisch, um mit flüch­ tiger Feder einige Anordnungen für ihr Mädchen nieder­ zuschreiben, während Johannes in seiner brütenden Stellung verharrte. Endlich blickte er zu ihr hinüber: „Liebe He­ lene," — seine Stimme zitterte, — „ich muß Dir noch etwas sagen, ehe Du gehst". Sie seufzte: „Alles, was Du willst, Geliebter!" „Siehst Du, mein Weib," sprach er leise und traurig, „ich leide furchtbar unter dem Gedanken, daß Du fortgehst. Nicht allein darum, weil mir das Leben ohne Dich so leer und einsam erscheinen wird, sondern weil ich in den nächsten Wochen keine Macht über Deine Seele habe, meine Sünde nicht wieder gntmachen kann. Ich kann Dir den Weg zur Wahrheit nicht zeigen; aber nicht wahr, Helene Du wirst ihn suchen? Ich beschwöre Dich noch einmal, öffne Dein Herz: Denke nur, wenn wir jetzt sterben müßten, welche entsetzliche Strafe für mich allein ins Paradies einzugehn; würde es mir ohne Dich nicht zur Hölle werden?" Er war in der Erregung aufgestanden und schritt das Zimmer auf und ab, die Hände in einander gepreßt, das Antlitz voll hoffnungsloser Verzweiflung. Helene hielt ihn auf in liebevoller Umarmung. „Höre rnich doch, Geliebter; mir genügt es, daß ich den Himmel hier auf Erden gefunden habe in der Liebe zu Dir; was jenseits ist, überlaß einer höhern Hand. Giebt es einen gütigen, gerechten Gott, so wird er Mittel und Wege finden, uns beide zu sich zu ziehn, und ist er wirklich so

211 grausam, wie Eure Theologie ihn darstellt, so werden wir ohne seinen Himmel fertig werden und wollen beide in der äußersten Finsternis verharren!" Johannes schauderte: „Vergieb ihr, sie weiß nicht, was sie spricht!" hörte sie ihn flüstern. „Ach Helene," fuhr er traurig fort, „ganz derselbe Gedanke ist auch mir gekommen; denn ich habe mich schwer versündigt gegen meinen Herrn: Ich habe geschwankt zwischen Ihm und Dir. O könnte ich Dich doch retten! — Wiederum bin ich ein elender, sündiger Mensch; denn ich will Dich retten, nicht Ihm zum Ruhm, sondern um meiner Liebe willen: O Gott, o Gott, sei mir armen Sünder gnädig!" In seiner leidenschaftlichen Erregung hatte er sich von ihr frei gemacht und stund nun zitternd mit cmpcrgehobenen Händen, als erwarte er vom Himmel Erhöruug. Helene sprach nicht: Sie konnte wohl den Grad seines Schmerzes ahnen, aber nicht verstehn, und darum fühlte sic nur, wie schmerzlich, wie bitter es ist, sich dem Liebsten, dem Nächsten entfremdet zu wiffen. Trostlos schlug sie die Hände vor das Gesicht und weinte leise. „Helene," bat er liebevoll, „weine nicht, sondern höre mir zu; laß mich noch einmal sagen, warum ich gerade an der Lehre von der Widervergeltung sesthalten muß: Mit ihr steht und fällt unser Glaube: Giebt es keine ewige Verdamnis, dann brauchen wir auch keine Erlösung, und Christi Opfer, der ganze Heilsplan Gottes wäre zwecklos." Dagegen, welche Logik, welche Größe der Glau­ bensanschauungen, wenn wir die Lehre von der Verwerfung zu Grunde legen: Der Mensch ist ein armseliger Sünder; der ewige Tod ist der Sünde Sold, so will es die göttliche Gerechtigkeit; doch läßt sich die Gnade des Vaters am 14*

212 Opfertode des Erlösers genügen, und die Seele, die sich dieser Sühne bedient, darf gerechtfertigt vor Gottes Antlitz treten. Welche wundervolle Lösung!" — Mit traurigen Augen sah Helene zu ihm empor. „Wir können nicht darüber streiten, weil wir von zwei ganz verschiednen Gesichtspunkten ausgehn: Du siehst in der Bibel das geoffenbarte Wort Gottes; mir ist sie nur ein ehr­ würdiges Dokument menschlicher Entwicklung: Wie können wir da auf Gemeinsamkeit hoffen? Ich weiß zwar, daß es Dich unglücklich macht, wenn ich das sage; aber Wahr­ haftigkeit muß doch zwischen uns herrschen!" „Ich ließ cs zu lange gewähren," seufzte Johannes und begann von neuem auf- und abzugehen; mit beküm­ mertem Blick folgte Helene jede seiner Bewegungen. „Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben," sagte er endlich, „cs muß noch Mittel und Wege geben, Dich in die Wahrheit zu leiten; Gott der Herr selber wird sie mir deuten. Es mag kosten was es will, Mühe, Sorge, Ge­ wissensangst: Ich werde Deine Seele heimbringen: Gottes Berheißungen können nicht trügen." Und mit siegesfroher Lebhaftigkeit faßte er ihre Hand und schaute ihr mit heißer Liebe ins Auge: Widerstandslos legte sie das Haupt an seine Brust; auch über sie kam ein sanftes Gefühl der Beruhigung: „Ja, es würde noch alles gut werden!" Das Scheiden am andern Morgen wurde Helene sehr schwer; Johannes brachte ihr im letzten Augenblick, als sie schon reisefertig an der Thür stand, ein paar Rosen von ihrem Lieblingsstrauch, den beide tut vorigen Jahre gepflanzt hatten, und Helene eilte noch einmal zurück, um eine davon auf seinen Schreibtisch zu legen und einen flüchtigen Kuß auf die Lehne seines Arbeitsstuhles zu drücken. Schweigend wanderten sie beide in der sonnigen Frühe

213 dem Bahnhöfe zu; niemand begegnete ihnen; nur aus den Fenstern folgte ihnen manch neugieriger Blick; denn die junge Pastorsfrau war den biedern Spießbürgern LockHavens gar zn interessant. Unmittelbar vor dem Abfahrtssignal faßte Johannes noch einmal ihre Hand: „Helene," bat er mit gepreßter Stimme, „um meines ewigen Glückes willen suche die Wahrheit, suche die Wahrheit!" Unter Thränen nickte sie ihm Antwort. Wie ein unruhiger Traum verging ihr die lange Fahrt; so sehr sie sich auch bemühte, ihre Gedanken auf das Wiedersehn mit ihren Lieben in Ashurst zu richten, sie schweiften immer von neuem zu dem einsamen Gatten zurück, und erst als sie beim Einfahren in den Bahnhof das rote, strahlende Gesicht ihres Onkels sah, der ihr zärtlich beide Hände entgegenstrecktc, vermochte sie es, der Gegenwart gerecht zu werden. „Weiß der Himmel," rief er, „es ist zu nett, Dich mal wieder zu sehn, Leuchen; hier ist soviel Pech passiert, daß uns Deine Gegenwart doppelt wohlthun wird. Also der Herr und Gebieter konnte Dich nicht begleiten? Schade druni! Verstehe schon, hat zu viel mit dem Amt zu thun. So hier ist der Wagen, Georg, Fräulein Helene ist mal wieder da. Steig ein, mein gutes Kind, .... so nun gieb Deinem alten Onkel einen sanften Kuß und laß uns recht gemütlich plaudern." Helene war zu beidem gern bereit: Es war so wohl­ thuend in der warmen Empfindung echter Familienzusam­ mengehörigkeit unterzutauchen und für Augenblicke die Sorgen und Aufgaben Lockhavens zu vergessen. „Erzähle mir alles, lieber Onkel: Wie geht's Luise, was machen Eure Patienten?"

214 „Frau Forsythe ist auf der Besserung; wir haben sichre Aussicht, sie durchzubekommen, obgleich es anfangs recht mäßig mit ihr anssah; aber mit Freund Denner steht's schlecht; er ist schwerkrank!" antwortete Onkel Howe betrübt. „Luise ist ganz auf dem Posten, freilich fehr niedergeschlagen über die ganze Geschichte; sie behauptet schuld daran zu haben; das ist natürlich Unsinn; irgend ein Esel gab seine Zeitung auf dem Damm den Winden preis, dadurch ist das Pferd scheu geworden. Ich hoffe, Du wirst das Kind recht aufmuntern." „Gott, der arme Rechtsanwalt Denner!" rief Helene voll Teilnahme aus. „Und Gifford hat ihn so gut ge­ pflegt?" „Ja wirklich," bestätigte der Prediger, „es war ein Gluck, daß er gerade hier war; ich weiß garnicht, wie wir ohne ihn hätten fertig werden sollen." „Ist denn der junge Forsythe endlich gekommen?" fragte Helene weiter. „Ja wohl, gestern," nickte Howe „aber weiß der Him­ mel, es sind schnurrige Leute, die Forsythe. Denke Dir, er war ganz verstimmt darüber, daß man ihn hertelegraphiert hatte. Anstatt sich bei Tante Dale zu bedanken, war er unzufrieden, seine Mutter nicht in ihrem Hause zu finden, er meinte, es hätte überhaupt kein Grund zur Besorgnis Vorgelegen, und nur die vielen alten Weiber hätten die Kranke so erregt. Na, Du kannst Dir Tante Adelens Empörung vorstcllen! Er hat denn seine Mutter auch gleich fortbringen taffen und eine geprüfte Pflegerin genommen. Nach Tan­ lens Ansicht soll sie garnichts verstehn und Frau For­ sythe kränker sein denn zuvor; das glaube ich aber nicht," schloß er mit stillem Lachen. „Und mit Denner ist es wirklich so schlimm, denkt man an sein Ende?" Howe nickte traurig, und Helene fragte weiter:

215 „Weiß er cs, Onkel Archibald?" „Nein," stieß Prediger Howe ärgerlich hervor, „das ist es ja gerade!" Er war augenscheinlich sehr erregt und ließ seinen Zorn an den Wagenfenstern aus, die er unsanft hochzog, um sie nach kurzer Zeit wieder herunterzulassen. Endlich brummte er: „Nein, er weiß es nicht; der Arzt hat es mir erst heute früh gesagt, daß es sich nur noch um Tage hanbeln kann; er ist ganz ruhig und wie immer der höf­ lichste Mensch unter der Sonne. Sonnabend hat er sich bei allen entschuldigen lassen, daß er nicht zum Whist käme." Howe kaute an seinem grauen Schnurrbart und sah zer­ streut aus dem Fenster. „So viel mir scheint," hob er wieder an, „hat er keine Ahnung, daß er... . nicht wieder werden wird." Das Wort sterben war ihm merkwürdig unangenehm; er scheute sich, es auszusprechen. „Aber sollte man ihn nicht darauf Hinweisen?" fragte Helene nachdenklich. „Ja, ja, der Arzt meinte es auch, zumal er doch seine Angelegenheiten ordnen müsse," versetzte Onkel Howe. „Weiß der Himmel, was soll er denn viel zu ordnen haben? Sein Testament ist schon seit fünfzehn Zähren abgesaßt!" „Aber wäre es nicht möglich, daß er irgendwo Ver­ wandte oder Freunde hätte, die benachrichtigt werden müßten, falls er sie noch einmal zu sehn wünschte?" „I bewahre," rief Howe. „Ich kenne Denner seit sechzig Jahren; er hat niemand außerhalb Ashurst; sein bißchen Geld kommt an den Kleinen, was also sollte noch zn besprechen sein?" „Ja," erwiederte Helene langsam, „ich meine auch

216 nicht allein wegen der äußern Dinge; wäre es nicht Pflicht, ihn auf die Ewigkeit vorzubereiten?" „Mag fein, mag fein," nickte der Prediger, dem die Unterhaltung peinlich war, in augenscheinlicher Verlegen­ beit nahm er feine Brille ab, putzte sie ausführlich und fügte dann hinzu, ohne Helene anzusehn: „Der Arzt meint eben, ich müßte es ihm beibringen." „Eine schwere Pflicht für Dich, lieber Onkel." „Das soll wohl sein! Dem Arzt scheint es ganz selbst­ verständlich, daß ich es übernehme; ich bin sein Pastor; er hat immer zu meiner Gemeinde gehört; freilich znm Abend­ mahl ist er nie gegangen!" „Warum nicht, Oukel Archibald?" „Liebes Kind, wie soll ich das wissen! Wahrscheinlich hatte er seine guten Gründe; ich habe mich niemals darum gekümmert, und siehst Du, das macht es ja gerade so peinlich für mich, mit ihm darüber zn sprechen. Wir haben uns nur über Nettes unterhalten, alle Metaphysik beiseite gelassen, das ist allgemein so unter Männern; seitdem wir aus den Kinderschuhen heraus sind, haben wir zusammen Whist gespielt, geangelt, Politik getrieben, aber nie solche Dinge berührt. Wir waren eben die besten Freunde. Weiß Gott, wie mir der gute Denner fehlen wird!" Beide schwiegen; der Wagen hielt einen Augenblick vor Denners Gartenpforte; Gifford trat an den Schlag, um Helene zu begrüßen und über den unveränderten Zustand seines Kranken zu berichten. Er sprach mit gedämpfter Stimme, als wäre er noch im Krankenzimmer; „Denkt Euch, er wollte heute durchaus die Abendandacht abhalten lassen; dergleichen dürfte nicht einfchlafen. Willi mußte Marie ein Kapitel aus den Königen vorlefeu; es war so komisch, die beiden als Gruppe!" Gifford lächelte, als.er die Wagenthür schloß; aber Howe

217 lehnte sich betrübt zurück: „Dieses Klappen der Wagen­ thür ist zu gräßlich, erinnert mich nur an einen Ton. Ja, morgen werde ich es ihm sagen." Seufzend und kopfschüttelnd lehnte er in einer Wagen­ ecke mit ärgerlich gerunzelter Stirn. Das Leben verlangte auch gar zu viel von ihm! Als der Wagen vorfuhr, stand Luise schon vor der Pforte; in ihrer freudigen Ungeduld die lang entbehrte, schwesterliche Freundin zu begrüßen, war sie schon seit einer Stunde vor der Thür auf- und abgewandert, freilich immer in der stillen Sorge, Richard Forsythe zu begegnen. Seit seiner Ankunft hatte sie ihn nur ganz vereinzelt gesehn; er schien ihr merkwürdig verlegen und zerstreut; durch das Bedürfnis, ihre Schuld zu sühnen, gedrängt, eingedenk ihres Versprechens hatte sie sich vorgenommen, ihm bei der ersten Gelegenheit ein Wort der Ermutigung zu sagen; aber die Gelegenheit wollte sich nicht finden lassen, da er sich dem Pfarrhause augenscheinlich fern hielt, unangenehme Erinnrungen scheuend, wie Luise meinte, die in ihrer jetzigen reumütigen Stimmung sich jedermann gegenüber für den schuldigen Teil hielt. Sie hätte sich sein verändertes Wesen wohl anders er­ klärt, hätte sie beobachten können, wie er an jenem Abend, am Schreibtisch seiner Mutter sitzend, viele Seiten eleganten Briefpapiers mit seiner ungeschickten Kinderhandschrift füllte; denn die Anrede lautete seltsam genug: „Geliebte Lisa!"

Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Nachdem er Helenen einen letzten Scheidegruß zugewinkt hatte, wandte sich Johannes traurig und lebensmüde dem

218 Pfarrhause zu. Der sich täglich erneuende Konflikt der letzten Wochen hatte ihn auss äußerste angestrengt. Das Haus schien ihm leer und freudlos. Ein leises Lächeln stahl sich über sein Antlitz, als er Helenens Blumen­ gruß bemerkte; erschöpft ließ er sich auf seinen Stuhl nie­ der, ruckte die Vase heran und sog begierig den Duft der Rose ein, wie eine letzte Liebkosung der teuren Hand. Dann rückte er sie vor ihr Bild und hing dem Gedanken nach, wann sie wohl heimkehren würde, eine frische hineinzusetzen. Damit aber war er wieder bei seinem Leide, bei seiner nagenden Sorge angelangt. Wieder und wieder überdachte er alles, was er ihr an Beweisgründen vorgeführt hatte; es fielen ihm neue, wichtige Punkte ein, auf die er sie schriftlich Hinweisen wollte; vielleicht würden sie der Fernen mehr Eindruck machen, als das gesprochne Wort. Aber lange vermochte er seine Gedanken nicht zu sammeln; Liebe und Sehnsucht trieben ihn ruhelos durch die Zimmer, He­ lenens Spuren suchend. Er vermochte den Bann erst zu breche», als ihn die Pflicht in die Gebetsversammlung rief; aber auch hier war er nicht völlig bei der Sache. Nach­ dem er wenige einleitende Worte gesagt hatte,, überließ er die Versammlung sich selbst, ohne sonderlich auf die ein­ zelnen Redner zu achten, die heute der Geist zu Aeuße­ rungen drängte. Schon schien ihm die Zeit zum Schlußgebet gekommen, als er plötzlich den Aeltesten Dean aufstehn und mit großer Feierlichkeit dem Pult zuschreiten sah; er nahm ihm einen Zettel ab, den der Aelteste schweigend überreichte und las mühsam bei dem zweifelhaften Licht der Talgkerzen, die zu beiden Seiten brannten, die ungebildete Handschrift. Zu seiner Ueberraschung wurde ihm mitgeteilt, daß gleich nach Schluß der Gebetsstunde eine Sitzung des Ge-

219 meindekirchenrates stattfinden werde; der Grund für diese seltsame Anordnung war nicht angegeben; schweigend legte Johannes den Zettel neben sich und entliefe mit Gebet und Segen die Gemeinde, die sich bis auf die vier Aeltesten zerstreute. Gespannt erwartete Johannes daö erste Wort, nach­ dem er seiner Pflicht, als Vorsitzender die Sitzung zu er­ öffnen, nachgekommen war. Aber keiner unter den vier Männern schien den Anfang machen zu wollen. Johnson, der jüngste, hustete verlegen, streckte seine Beine ans und sah auf die drei andern Aeltesten, die mit gesenktem Haupt schweigend und feierlich vor sich hinblickten. „Lieben Brüder," begann Johannes, „wir haben den Segen des Höchsten für unsre Beratung erfleht; es ist an der Zeit, zum Gegenstand derselben zu kommen." Dean stietz heimlich Schmidt an; dieser aber ant­ wortete in vernehmlichem Flüsterton: „Du bist dran, Bru­ der Dean." Schwerfällig und ungeschickt erhob sich Dean, sein Antlitz erglühte unter dem fragenden Blick des Geistlichen; er öffnete mehrfach den Mund, blickte hilfesuchend umher und sagte endlich stockend: „Der Gemeindekirchenrat ist zu­ sammengetreten, .... um den geistlichen Zustand der Ge­ meinde zu prüfen. Die Pflichten der Aeltesten sind schwer­ wiegend und .... und schmerzlich. Aber," hier warf sich der Redner in die Brust, „diese Pflichten werden treu­ lich erfüllt; die Gemeinde erwartet cs; sie soll nicht ent­ täuscht werden, wenn die Pflichten auch, wie ich schon sagte, sehr schmerzlicher Natur sind." Dean hielt inne und hustete. Johnson, unruhig auf seinem Platz hin und herrückend, blickte unverwandt nach der Thür, als habe er die größeste Lust, davonzulaufen;

220 die andern beiden verharrten schweigend in ihrer Stel­ lung. Die Augen des Vorsitzenden ruhten durchbohrend auf dem Redner, als wolle er die Worte ans ihm herauslesen. „Weiter!" sagte er. „Wie ich schon sagte," nahm Dean von neuem das Wort, „scheuen wir uns nicht vor schmerzlichen Pflichten und sind heute Abend versammelt, das geistliche Wohl der Gemeinde, mehr noch das geistliche Wohl einer einzelnen Seele zu erörtern. Sie ist eine verlorne, gottentfrcmdete Seele, die ferne von den Weideplätzen Israels wandelt. Aber nicht nur das: Wie eine böse Krankheit frißt ihr Unglaube weiter, führt sie und andre Seelen in die Hölle. Das Bewußtsein unsrer Pflicht drängt zu der schmerzlichen Frage, warum diese Seele so vernachlässigt geblieben ist?" Johannes war aufgestanden; die Hände in einander gepreßt, die Augen drohend auf den Redner gerichtet, fragte er mit übermenschlicherRuhe: „Sprechen Sie von meiner ft-rau?" Alle drei Beisitzer blickten gleichzeitig empor, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, während Dean mit halboffnem Munde den Pastor anstarrte. „Ich wünsche eine Antwort!" sprach Johannes. „Herr Vorsitzender," erwiderte der Aelteste in weiner­ lichem Ton, „ich spreche hier nicht so sehr.von Ihrer ft-rau, als von einer armen, sündigen Seele, die vernachlässigt worden ist, ja schändlich vernachlässigt und gerettet werden muß; wenn sie znfällig Ihre ft-rau ist, thut es mir leid, Herr Pastor!" Tiefes Schweigen folgte. Das flackernde Lampenlicht fiel auf die weißen, kahlen Wände und beleuchtete die be­ schämten Gesichter der vier Männer. Eine Lampe blakte und Bent, der dritte Aelteste, stand auf, um sie herunter-

221 znschrauben; Johnson blätterte nervös in einem Gesang­ buch: Für einen Augenblick hörte man nichts weiter als das Umwenden der Seiten. Obgleich Johannes aufs tiefste verletzt war, den großen Schmerz seines Lebens so vor die Oeffentlichkeit gezerrt zu sehn, schwieg er noch immer: Ein Wort der Anklage, ein Wort der Verteidigung war seiner ehrlichen Seele unmöglich; er empfand den Borwurf als völlig ge­ rechtfertigt. Endlich ermannte er sich und sprach mit mühsamer Fassung: „Ich sehe keine Notwendigkeit, die Angelegenheit öffentlich zu besprechen, sondern ziehe als Geistlicher vor, das Heil dieser Seele allein zu überwachen nach dein Maß von Weisheit, das Gott der Herr mir gegeben hat. Ich bedarf dabei Eures Rates nicht." Dean sah bedeutsam seine Gefährten an und erhob, wie abwehrend die Hände. Schmidt antwortete auf diesen Blick, indem er aufstand und mit immer noch niederge­ schlagenen Augen sprach: „Wie Sie die Sache auffassen, Bruder Ward, ist nicht richtig. Ihre Weisheit hat die Dinge zu weit gehen lassen; es ist vom Wohl der Ge­ meinde die Rede und wir sind dafür verantwortlich; das ist unsre Pflicht, und wenn der Herr Pastor seine Pflicht vergessen hat, wir sind noch da und wollen für Ordnung sorgen; Unglauben muß ausgerottet werden!" Bei diesen Worten wiegte er bekräftigend das Haupt und setzte sich befriedigt nieder. Johannes war zu tief getroffen, um sich klar zu machen, wie schnell diese Leute, die ihn noch vor kurzem zu vergöttern pflegten, Ehrfurcht und Bewunderung vergeffen hatten. Rohen Gemütern ist es allezeit eine doppelte Befriedigung da zu triumphieren, wo sie früher gekniet

222 hatten. Wie verschwindend war aber alles Aeußerliche vor­ der laut anklagenden Stimme seines Gewissens. Totenbleich, die Lippen auf einander gepreßt, starrte er vor sich hin ins Leere. Dean erhob sich abermals, viel sichrer, wie zuerst; es war eine große Erleichterung, daß Bruder Schmidt ihn so trefflich unterstützte. „Wie Bruder Schmidt sagt," bemerkte er, „müssen wir einschreiten, weil die Gemeinde in Gefahr ist; wenn es nur eine Seele wäre, könnten wir die Sache noch rnhen lassen, obgleich unsre Pflicht uns auch drängen müßte. So aber müssen wir sie vorladen und sehn, ob wir sie zum Bewußt­ sein ihrer verlornen Lage bringen können, wenn nicht, werden andre Maßregeln am Platz sein; wir scheuen vor dem Aeußersten nicht, gehoben durch das Bewußtsein der Pflicht und .... der göttlichen Gnade." Unmittelbar nach ihm stand Johnson auf; Dean run­ zelte mißbilligend die Stirn: „Der wird gewiß alles ver­ derben," murmelte er vor sich hin. „Ich wollte nur bemerken," sagte der jüngre Mann, „daß ich dem Beschlusse nicht beitrete." Gespannt blickte Johannes auf den Redner, der mit klarer Stimme fortfuhr: „Zwang nutzt bei solchen Sachen nichts, die Zeiten sind vorbei, liebe Brüder, wo man die Leute zum Glauben zwingen konnte. Laßt es ruhig gehn, wie es geht; stört den Frieden nicht; ich bin für Ruhe und Frieden und für ein glückliches Leben. Und es giebt nichts, was die Gemeinde oder die Familie mehr stört als Glaubenszänkereien, ich weiß es, denn ich bin ein verheirateter Mann. Drum rate ich Euch, gebraucht Euren Einfluß in einer stillen, freundlichen Weise: Es wird sich schon alles zurechtziehn."

223 Er setzte sich; Dean und Schmidt fielen in augen­ scheinlicher Entrüstung über ihn her; es enstand eine leb­ hafte Unterhaltung, im Flüsterton geführt. Das ernste Ant­ litz des jungen Geistlichen verriet noch immer Kummer und Zweifel. „Wir dürfen nicht," sprach er endlich langsam und ernst, „die Sünde todtschweigen, und ich bin vollkommen überzeugt, daß den Anwesenden das Wohl der Gemeinde als heiligste Pflicht am Herzen liegt; aber ich glaube nicht, dasi das vorgeschlagene Heilmittel frommen wird, weder der Gemeinde, noch der einzelnen Seele, von der die Rede ist. Jedenfalls müßte ein letzter Beschluß vertagt werden, bis sie wieder unter uns weilt. In der Zwischenzeit hoffe ich, wird mir Gott der Herr Seine Weisheit geben und ihr, die der Gegenstand Eurer Fürbitte sein mag, Frieden und Gnade gewähren. Wenn ich zur Entscheidung gekommen sein werde, soll cs der Ge­ meindekirchenrat erfahren. Für heute erkläre ich die Sitzung für geschlossen." Eilig und verlegen wandten sich die Aeltesten, bis auf Johnson, zur Thür; es war ihnen unbehaglich dem Geistlichen, den sie so tief gekränkt wußten, ins Angesicht zu sehn. Sie stolperten an ihm vorbei, murmelten undeut­ lich ein Wort des Abschieds und erst an der Thür sagte Dean: „Wir werden nicht aufhören für Sie zu beten." Johnson folgte ihnen langsam: „Nehmen Sie Sichs nicht zu Herzen, Herr Pastor," wendet er sich noch einmal zu Johannes, „versuchen Sie es, sie leise und nach und nach herumzubekommen; nur keinen Zwang; man hat nur Aerger davon." Johannes nickte ihm ein Lebewohl zu; zu sprechen vermochte er nicht: Johnsons gutgemeinte Worte hatten

224 ihn am tiefsten verletzt, weil sie ihm seinen eignen lauen Standpunkt wiederzuspiegeln schienen: Er sank zusammen unter der Wucht seiner Schuld.

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Als Helene am andern Morgen in Ashnrst aufwachtc, vermochte sie kaum sich zu besinnen: Das Jahr in LockHaven erschien ihr wie ein Traum. Wie lieb und vertraut war alles um sie her; das kleine, weiße Bett, der alt­ modische Toilettentisch von Kirschbaumholz mit seinen blanken Ringen und Beschlägen, die blendend weißen Gar­ dinen, die vom Morgenwind sanft gebläht wurden, der Flügelschlag der Tauben vor dem Fenster, sogar der Zweig weißen Flieders in der zierlichen Base, alles genau, wie sie es seit ihren Kinderjahren gekannt und geliebt hatte. Ja, die Umgebung war unverändert geblieben; sie selbst aber war die alte Helene nicht mehr: Sie wurzelte in anderm Boden. Das hatte sie schon gestern Abend empfun­ den, als sie Luisens Beichte, mit der das warmherzige Kind nicht länger zurückhalten konnte, mit anhören mußte. In Luisens Augen war sie dieselbe zuverlässige, treue Freundin, etwas ernster vielleicht als früher; aber Luise hatte ja selber den Ernst des Lebens kennen gelernt, und rücksichtslos und unaufhaltsam schüttete sie Helenen ihr über­ volles Herz aus und ahnte nicht, daß diese, während sie in warmer Sympathie znhörte, doch einen Gedanken nach dem andern liebevoll und fürsorgend hinüberschickte nach Lockhaven zu dem einsamen Gatten. Seltsames Doppel­ leben, das sie führte: Alle Fasern ihres Herzens hafteten

an dem kleinen Pfarrhause in Lockhaven, und die Freuden und Leiden von Ashurst zogen wie ein Schauspiel an ihrer Seele vorüber. Obgleich sie hülfsbereit und thätig an den vielen Aufgaben tcilnahm, die es zu Gunsten der Kranken zu bewältigen galt, konnte sie das Gefühl völliger Zugehörig­ keit zu den Ihren nicht wieder gewinnen; ohne Johannes war sie einsam. — Gleich am andern Morgen kam Frau Dale. Man hatte eben das Frühstück beendet, als ihre laute, tadelnde Stimme im Flur hörbar wurde. Sally hatte nicht gut aufgemischt. Noch vor kurzem würde Luise einen derartigen Vorwurf wie eine unberechtigte Einmischung empfunden haben; heute von ernstem Sorgen gedrückt, rührte es sie nicht. „Ah Helene, freue mich Dich zu sehn," sagte Tante Dale eintretend und der Nichte ihre Wangen bietend, in der festen Ueberzeugung sie zu küssen. „Es ist hohe Zeit, daß Du Dich mal wieder sehn lässest; ich hoffe, Du wirst Luise den Kopf ganz gehörig zurcchtsetzen; das dumme Ding schläft nicht und ißt nicht. Hast Du heute schon etwas von Frau Forsythe gehört, Luise?" Luise sah betrübt aus: „Mir kam sie gestern so viel besser vor, und heute morgen läßt sie sagen, es wäre im­ mer dasselbe." „Unsinn!" rief Frau Dale, „bei mir war sie ja schon beinah gesund; so verschlimmert kann es sich doch bei der Wärterin nicht haben. Aber ich weiß genau, was es be­ deutet: Arabella hat gar keine Eile gesund zu werden; es ist doch so sehr interessant, Gegenstand allgemeinster Teil­ nahme und Fürsorge zu sein. Ich versichre Dich Helene, wohl sechs Mal hat sie schon von uns und von der Welt Iobanne? 'h?a r b. jß

22G Abschied genommen. Nichts ist charakteristischer für einen Menschen, als sein Benehmen auf dem Sterbebett. Macht etwa der arme Denner solch ein Aufhebens von seinem nahen Ende! Wirklich, er zeigt sich als würdiger Enkel des Admiral Denner. Arabella Forsythe dagegen hat uns täglich mit Gesprächen über ihr Begräbnis geödet; daran erkennt man so recht, daß sic aus kleinen Kreisen stammt, daß ihr Vater ein kleiner Knopffabrikant war." „Sage mir Tante Adele," fragte Helene, „hältst Du Rechtsanwalt Denner auch für so krank? Ist keine Hoff­ nung mehr?" „Nicht die geringste!" antwortete Frau Dale mit großer Bestimmtheit. „Ich denke mir, Archibald, Du wirst es ihm heute mitteilen?" „Es wird wohl so kommen," seufzte Howe, „ich möchte ihn nur nicht unnütz aufregen." „DaS hast Du nicht zu befürchten," versetzte seine Schwester hartnäckig. Achselzuckend fügte sie hinzu, als er das Zimmer verlassen hatte: „Er scheut sich davor und ist doch ein Prediger; mir wäre es ein Leichtes; aber ich möchte wetten, Luise, daß er es schließlich noch Gifford über­ trägt. So liebes Kind, nun laß mich ein Bischen mit Helene allein." Prediger Howe besaß doch mehr Energie, als seine Schwester ihm zutraute: Obgleich ihm der Weg sehr sauer wurde, und er. unterwegs sich selbst Mut zusprechen mußte, trat er doch festen Schrittes, heitren Blickes an das Kran­ kenbett seines alten Freundes, den er seit gestern sehr ver­ ändert fand. „Wie geht es Dir heute?" fragte er, die schmalen Finger des Kranken mit seiner festen, warmen Hand um­ fassend.

227 „Danke," antwortete Denner, mühsam Atem holend, „ganz nett." „War Gifford schon heute morgen hier?" fragte Howe weiter. „Ja," nickte der Rechtsanwalt, „er ist für kurze Zeit nach Hause gegangen. Marie pflegt mich ausgezeichnet, nud ich möchte ihn doch anch gern seinen Tanten gönnen; er ist ohnehin nur auf kurze Zeit hier, mir kommts so unrecht vor, daß ich ihn so viel bei mir gehabt habe." „Bewahre, bewahre," beruhigte Howe den Kranken, ,,es ist ihm doch eine Freude gewesen, sich nützlich machen zn können; wir sehnen uns alle danach, Luise ist immer noch so unglücklich über Dein Pech; sie käme furchtbar gern, Dich zu pflegen; ebenso Helene, die augenblicklich bei nns ist." „Bitte, nein," wandte Denner höflich wie immer ein, „Fräulein Luise soll sich doch meinetwegen nicht einen Augenblick das Herz schwer machen; wie gesagt, es geht mir ganz nett, bestelle ihr das und im übrigen kommt's wirklich garnicht darauf an. Ich versichrc Dich, es war garnicht übel, hier zu liegen und von jedermann verwöhnt zu werden; ich habe es jetzt erst so recht kennen gelernt, wie gut und freundlich die Menschen sind. Wäre es mir nicht peinlich, andern so viel Mühe zu machen, hätte ich wirklich nicht zu klagen; ich kann Dir garnicht schildern, wie zart und freundlich Gifford immer gewesen ist; obgleich ich mir selbst oft unausstehlich und anspruchsvoll vorkam, blieb er immer geduldig; so denke ich mir die Pflege einer Frau." Prediger Howe, die Hände über seinen Spazier­ stock gefaltet, blickte Denner aufmerksam an, die Unter­ lippe vorgeschoben, die Stirn wie in innerm Protest ge15*

228 runzelt. „Wilhelm," sagte er Plötzlich, „war der Arzt schon hier?" „Ja wohl," versetzte Denner, „er ist so aufmerksam und liebenswürdig und besucht mich immer so früh er kann." „Heute habe ich ihn noch nicht gesprochen," bemerkte Howe langsam, „aber gestern schien er mir recht besorgt um Dich, ja er sprach sich bedenklich aus." Denner fuhr zusammen und richtete einen forschenden Blick auf seinen Freund; „Sagtest Du nicht, es wäre gestern gewesen?" fragte er. endlich leise und zögernd. Howe beugte sich zu ihm herunter, drückte Denners zitternde Hand herzlich und sprach sanft: „Ja, alter Freund, aber die Sorge dauert fort, und ich fürchte „Ich verstehe Dich, Archibald," unterbrach ihn der Kranke mit mühsam bewahrter Fassung, „cs war sehr freundlich von Dir, mir die Wahrheit zu sagen, obgleich es Dir gewiß sauer geworden ist," er strich sich mit der Hand über die Augen und reichte sie dann dem Freunde, der sie tief bewegt drückte. Beide schwiegen. Denner sing noch einmal an: „Wirklich, ich bin Dir sehr dankbar; aber bitte beunruhige Dich nicht um mich; es kommt wirklich nicht darauf an,. . . aber da wir gerade davon sprechen: „Willst Du mir vielleicht sagen, wann?" „Ich denke, . . ich hoffe," antwortete Howe zögernd, „in einigen Tagen." „Wahrscheinlich schon früher?" fragte Denner ruhig, „nicht wahr Archibald?" Der Prediger nickte. „Also wirklich! ich danke Dir!" Mit einer plötzlichen Bewegung richtete sich Howe auf, holte tief Atem, setzte sich zurecht, wie jemand, der etwas

229 Versäumtes nachhole» will: „Es ist die Stunde, die früher oder später zu jedem von uns kommt, und wenn wir gut gelebt haben, brauchen wir sie nicht zu furchten, Du am allerwenigsten, lieber Freund." „Ich habe mir wenigstens immer Mühe gegeben," ant­ wortete der Kranke mit leise zitternder Stimme, „wie ein Gentleman zu handeln." Howe räusperte sich: „Ich wollte eigentlich bemerken,... daß Dir Dein Gottvertrauen die beste Stütze sein muß." Aus Denners Augen sprach stilles Erstaunen. „Es ist sehr freundlich von Dir, das zu sagen," murmelte er höflich. Howes Hände spielten nervös mit dem Stock: Er kam nicht recht vorwärts, ein peinliches Gefühl! „Siehst Du Wilhelm," sprach er nach kurzer Pause weiter, „das Vertrauen auf Gott, der uns durch alle Schwierigkeiten und Enttäuschungen des Lebens geleitet hat, wird auch über das Ende hinweghelfen. Sein Stecken und Stab trösten uns." „Ach ja," bestätigte Denner. Howe fuhr mit größrer Sicherheit fort: „Du bist der Gnade Gottes sicher; Dein Leben ist rein und gut gewesen; denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten die­ nen; darum sieh in dieser Heimsuchung nur Barmherzigkeit nicht Züchtigung." Bei diesen Worten nahm er ein kleines, abgegriffnes Gebetbuch aus der Tasche: „Ich möchte Dir ein Gebet vorlesen," und ohne eine Erwiderung abzuwarten fing er an zu lesen, gefühlvoller und wärmer, als es sonst seine Gewohnheit war: „Haltet fest, Geliebte, daß Gott der All­ mächtige der Herr ist über Leben und Tod".... „Archibald," unterbrach ihn Denner mit schwacher Stimme, „es kommt mir vor, als wäre das unnötig."

230 Verwundert sah ihn Howe an. „Ich meine," sprach Denner weiter, „das Allgemeine hat keinen Zweck mehr für mich; ich stehe so nahe davor." Sein Auge wurde feucht. „Gott offenbart sich Dir, der Ewige ist Deine Zuflucht, eine gegenwärtige Hülfe in der Not," antwortete Prediger Howe. „Gewiß, ich weiß," seufzte der Kranke, „ich möchte aber die Sache so besprechen, wie wir es immer gewohnt gewesen sind. Ich habe ja sehr viel Achtung vor Deinem Amt, . . . aber wäre es nicht leichter für uns darüber zu reden, wenn wir unsre alten Gesichtspunkte gelten ließen; entschuldige Archibald; aber der andre Ton kommt mir unter uns.... nicht ganz natürlich vor." Howe stand auf und trat ans Fenster. Er harte ein Gefühl im Hals, als könnte er nicht ordentlich sprechen, Denner wurde verlegen: „Verzeih Archibald, ich wollte Dich nicht verletzen," flüsterte er bittend. „Ach Wilhelm," rief Howe erschüttert, „habe ich als Seelsorger so wenig erreicht, Dir den Trost der Religion so wertlos gemacht?" „Nein, gewiß nicht," versicherte Denner, „ich sagte schon, ich habe große Ehrfurcht davor, — verzeih, wenn ich mich nicht ganz klar ausdrücke, — ich gebe ihren Wert, ihre Notwendigkeit vollkommen zu; beides entspricht dem Bedürfnis der Gemeinde. Aber wir beide, Archibald, kennen und verstehen uns so gut und ich möchte die Sache wie eine ganz natürliche besprechen, wie es Männern der Welt geziemt. Darf ich eine Frage an Dich richten?" Der Geistliche setzte sich von neuem neben den Kran­ ken; aber er stützte sein Haupt auf die Hand, seine Augen bedeckend. „Frage mich, was Du willst. Aber, mag mein Leben

231 auch nicht vorbildlich gewesen sein, ich kann Dir doch nur als guter Christ antworten."

„Ganz wie Du sagst," „aber unter uns,

wenn

gab Denner höflich

zurück,

wir einmal die Kirche mit ihren

schönen und guten Anschauungen beiseite lassen, .... und nur

so

einfach reden,

wie cs uns seit unsrer Kinderzeit was erwartet uns jenseit

Gewohnheit gewesen ist, ....

des Grabes?" Seine Stimme war zum

Flüsterton herabgesunken,

und seine forschenden Augen suchten in Howes Antlitz zu lesen. „Wer kann das sagen!" antwortete der Prediger. „Was kein Auge gesehn hat, was kein Ohr gehört

hat, was in keines Menschen . ..." Er hielt plötzlich inne; denn Denner schüttelte unge­ duldig das Haupt. „Lch habe mich oft danach gefragt," fuhr Denner fort, „jetzt wo ich ahnte, daß cs also mir mir stände, hat es mich mehr beschäftigt, denn je. Denke Dir, in wenigen Tagen, in wenigen Stunden sogar werde ich alles wissen oder nichts. Das Geheimnis der Menschheit wird sich

mir enthüllen!"

Ein

leiser Triumph

zitterte durch seine

Stimme. Er erhob seine schmale, durchsichtige Hand: „Wenn ich mir vorstellc, daß sic bald leblos und kalt sein wird! Sie hat nie viel Kraft besessen, nicht viel Schlechtes begangen, aber auch wenig Gutes erreicht; nun wird sie bald ruhen, ist das nicht wunderbar? Und wo werde ich sein? In ewiger

Klarheit oder in ewigem Schlummer. Was denkst Du darüber Archibald? Glaubst Du an ein ewiges Leben?"

Howe

konnte sich dem

forschenden Blick

der wundersam

glänzenden, braunen Augen nicht entzieh»; verlegen schlug

er die seinen nieder.

232 „Nun?" bat Denner. „Gott im Himmel, ich weiß es selber nicht," brach Howe fast heftig aus. „Ich dachte es mir schon", nickte Denner mit stiller Befriedigung, „obgleich cs für einen Mann in meiner Lage das einzig Wissenswerte ist." Lange saß der Geistliche am Bette seines kranken Freundes, sorglich und geduldig die fiebernde Hand haltend. Denner lag in sanftem Halbschlummer; sein Antlitz hatte einen milden Ausdruck, als schaue er freundliche Bilder. Einmal schlug er die Augen auf und ließ den Blick lang­ sam, wie mit letztem Gruß durch das einfache Zimmer wandern; er haftete an den alten, steifen Familienportraits, an seiner Geige, die auf einem Stoß geschriebner Noten lag, an dem Bücherschrank, an dem kleinen Lesepult, auf dem die große Familienbibel stand. „Was für ein wun­ dervolles Buch," sagte er wie zu sich selber, „sie kennt des Menschen Herz. Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras; erblühet wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind darüber gehet, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sic nicht mehr. So wird es auch mit mir sein; wunderlich gerade jetzt, da ich so viele Pläne fürs Leben hatte. Aber es wird wohl so besser sein." Nach einer Weile faßte er das kleine Sammet-Etui, das neben ihm lag und betrachtete lange und ernsthaft das rosige Kindergesichtchen, das ihm aus dem verblichnen Rahmen anlächelte. „Ich möchte wissen,. . ." sagte er leise, um gleich darauf mit leisem Seufzer hinzuzufügen: „Bald werde ich es erfahren." Wieder schloß er die Augen, müde und erschöpft von seinen stillen Betrachtungen. Er merkte es nicht, daß nach kurzer Zeit Gifford den Platz des Predigers einnahm;

233 doch dauerte die innre Erwartung und Spannung fort, seine Lippen hauchten leise: „In der Stunde des Todes, am Tage des Gerichtes . . . „Steh uns bei, guter Gott!" ergänzte Gifford. Denner öffnete die Augen und sah ihn freundlich an: „Ja guter Gott, .... das ist genug, mein Freund, guter Gott, daran wollen wir uns halten." Prediger Howe, von seinem Besuch heimkehrend, er­ schien den Seinen merkwürdig ernst und ablehnend; nach­ dem er seiner Tochter kurz mitgeteilt hatte, daß Denners Ende unmittelbar bevorstände, ging er in sein Zimmer, dessen Thür er hinter sich zuschloß, eine Maßregel, die ganz gegen seine sonst so geselligen Gewohnheiten verstieß. „Was hat denn Ihr Herr Vater heute," fragte Richard Forsythe, der eben in den Flur des Predigerhauses trat, „er sah schrecklich betrübt aus und rannte wie besessen, ich konnte ihn garnicht einholen." „Herrn Denner geht es so sehr schlecht," antwortete Luise mit Thränen in Augen. Trotz ihres Kummers schlug ihr das Herz heftig; jetzt war der gefürchtete Augenblick da. Aber Richard schien ihn nicht mehr ausnutzen zu wollen. „Danke, ich will nicht hereinkommen; Mutter läßt Sie bitten, heute Nachmittag ein Stündchen mit ihr zu verplaudern." „Geht es ihr heut einigermaßen?" fragte Luise, deren Augen nach der Thür blickten in der stillen Hoffnung, daß irgend ein Hausgenosse sie vor dem peinlichen tete-ä-tete bewahren werde. Richard folgte der Richtung ihres Blickes: „Ach ja, sie wird bald wieder ganz auf dem Posten sein. Ich kann leider nicht mehr lange in Ashurst bleiben; aber nicht wahr, Sie werden ihr treulich Gesellschaft leisten, Fräulein Howe?"

234 Luise fühlte, wie alle Farbe aus ihrem Antlitz wich. Ein plötzlicher Hoffnungsstrahl durchzuckte ihr armes Herz; gleich darauf aber erwachte wieder das bedrückende Be­ wußtsein, sich gebunden zu haben. O ihr Versprechen! Forsythe beobachtete sie; er war fast ebenso verlegen. „Ich habe . .. ein wichtiges Geschäft vor," stotterte er. In diesem Augenblick sahen sie Helene über den Gras­ platz kommen: „Da ist meine Cousine," rief Luise erleichtert, „wir wollen ihr entgegengehn." „Mit Vergnügen," versetzte Richard und begrüßte He­ lene mit so warmer Herzlichkeit, daß diese einen fragenden Blick auf Luise ruhen ließ und voll teilnehmender Sym­ pathie an Gifford Woodhouse dachte. Als er fort war, wandte sie sich an das junge Mäd­ chen: „Sage mir?" Aber Luise barg mit einem Strom von Thränen ihr Haupt an Helenens Brust, ohne ein Wort der Erklärung zu finden. Wie Luise hörte auch Gifford die Nachricht von Richards bevorstehender Abreise mit einem Gemisch von Freude und Schmerz. Wohl war e-5 ihm ein angenehmer Gedanke, Forsythe, dessen Wesen ihn dauernd reizte, nicht mehr begegnen zu müssen; aber daß Luise augenscheinlich so schwer unter dem nahen Abschied litt, erfüllte ihn mit Bitterkeit. Daß ihm selbst jede Hoffnung aus die teure Jugend­ freundin abgeschnitten war, wußte er seit gestern. Tante Deborah hatte in der besten Absicht das ihrige gethan, um seine Wunde zu verschärfen. Während Prediger Howe bei Denner war, hatte Gifford seinen Tanten einen kurzen Be­ such abgestattet; er traf sie Arm in Arm im Garten. „Da bist Du ja, lieber Gifford", rief Tante Ruth, „wir schauten gerade nach Dir aus, wie gehts Herrn Denner?"

235 Giffords trauriges Gesicht sagte genug; alle drei schwiegen. „Ich glaube kaum, daß er die Nacht überleben wird." „O Gott, o Gott!" rief Ruth, in Thränen ausbrechend. „Es kann doch nicht sein!" „Hast Du nicht gehört, was Gifford sagt?" unterbrach sie streng Deborah, die ihren Schmerz unter einem Anflug von Aerger verbergen wollte: „So paß doch aus!" „Ich thue es ja Deborah, aber es ist so schrecklich, daß ich mir es nicht denken kann." „Ob Du es Dir denken kannst oder nicht, ändert leider nichts an dem traurigen Fall. Hat er gestern meinen Gelee gegessen, Gifford?" „Er war zu schwach dazu, aber Willi hat sich daran erlabt." „Das arme Kind," rief Deborah voller Teilnahme, „ich freue mich, daß es ihm geschmeckt hat. Aber Gifford, es ist also keine Hoffnung mehr?" „Leider nein!" „Besteht auch nicht der geringste Zweifel?" fragte Ruth ängstlich. Der Neffe sah sie überrascht an: „Ich wünschte, wir hätten noch welchen!" „Nun wohlan, Schwester?" fragte Ruth mit seltsamer Feierlichkeit. Deborah seufzte und nickte. ,,Jch meine auch," und beide wandten sich dem Hause zu, als hätten sie dort etwas Wichtiges zu thun; nach ein paar Schritten blieb Deborah stehen und winkte Gifford heran; als sie Ruth außer Hör­ weite sah, fing sie halblaut an: „Weißt Du Gifford, ich muß offen gestehen, ich finde, daß es dem jungen Forsythe doch gewissermaßen an dem nötigen Zartgefühl gebricht,

236 auch über Luise muß ich mich wundern, ich darf nichts weiter sagen, ... aber in einem solchen Moment ..." Gifford sah gespannt aus: „Was willst Du damit sagen, Tante Deborah?" Aber Tante Deborah, von der Wichtigkeit ihrer Mit­ teilung erfüllt, wollte sich etwas nötigen lassen; erst all­ mählich bekam sie Gifford so weit, daß sie ihm geheimnis­ voll zuflüsterte: „Nun gut, vielleicht darf ich es Dir doch sagen. Ruth behauptet zwar, ich könnte kein Geheimnis bei mir behalten; aber es ist doch ein Unterschied, wem man eS erzählt, nicht wahr?" „Wovon sprichst Du eigentlich?" fragte er ungeduldig in dem Vorgefühl, eine unerquickliche Mitteilung zu ver? nehmen. „Also, es ist alles in Ordnung zwischen Luise und dem jungen Forsythe. Ich weiß es von Adele, die es direkt von der Mutter hat. Es soll nicht besprochen werden; ich sage es auch nur Dir und Tante Ruth." Gifford wußte genug: „Verzeih," sagte er hastig, „ich muß jetzt nach Hause," mit diesen Worten eilte er davon, unbekümmert um Tante Deborahs Bitten. Sie hätte ihn gern noch zurückgehalten, um ihm Diskretion zu pre­ digen. Unterdessen war Tante Ruth in ihr Schlafzimmer ge­ gangen, um sich zum Ausgehn zurechtzumachen. Es schien ihr richtig, ihre Toilette auf Halbtrauer zu stimme», eine Anordnung, die Fräulein Deborah durchaus mißbilligte. „Aber Ruth Woodhouse," rief sie entsetzt, als sie die Schwester mit schwarzen Spitzen angethan, eintreten sah, „was fällt Dir nur ein? Wie kannst Du Trauer anlegen .um.jemand, der nych lebt! Und wenn einer von uns beiden

237 es thun könnte, käme es doch höchstens mir zn, da ich ihm im Alter so viel näher stehe." „Willst Du denn nicht mitkommen?" fragte die jüngre Schwester ganz erstaunt, ohne sich auf ein Wortgefecht ein­ zulassen. „Nein," antwortete Deborah, „ich denke, wir schieben es bis morgen auf; aber Du kannst Dich ja bei Marie erkundigen wie es geht." Gifford fand seinen Patienten heimkehrend etwas besser in Stimmung und Aussehn. „Guten Abend, Gifford, ich freue mich, Dich zu sehn. Wie geht es Deinen ver­ ehrten Tanten, hast Du ihnen wohl meinen Dank für alle ihre Teilnahme ausgesprochen?" „Gewiß, sic freuen sich, von Ihnen zu hören, lieber Herr Denner." Er trat ans Bett, und richtete den Kranken vorsichtig auf, damit der Kranke sitzend seine Arznei nehmen könne. „Ach Gifford," seufzte Denner, „wie sanft Dn mich hebst; ich finde in Deinem Gesicht doch eine gewisse Aehnlichkeit mit einer Deiner Tanten, weniger mit Fräulein Deborah. Weißt Du, ich habe noch viel daran gedacht, daß sie das Bildchen meiner kleinen Schwester haben soll, ich halte auch daran fest, um so mehr, als ich ja nun weiß, wie es mit mir steht; nur möchte ich Fräulein Ruth nicht weh thun, Gifford!" „Sie wird es nicht so empfinden," versicherte der junge Mann. Aber Denner war trotzdem nicht zufrieden und wieder­ holte mehrfach: „Fch darf Fräulein Deborahs Schwester nicht übergehn." Plötzlich erhellte sich sein Antlitz: „Lieber Gifford," bat er, „verzeih, wenn ich Dich noch einmal bemühe; aber

238 es fällt mir ein, ba(! ich noch ein Andenken für Fräulein Ruth habe, willst Du mir das kleine Kästchen geben, das in derselben kleinen Schublade liegt, die Du neulich auf­ geschlossen hast?" Gifford holte es herbei, ein altes, ledernes Etui durch ein seidnes Band zusammengehalten. „Ein Kinderbild von mir," sagte Denner, das Kästchen liebevoll streichelnd, „ich ließ es vor Jahren für meine gute Mutter machen: ich war etwa dreißig Jahr alt. Sie hat es so zusammengebunden; ich habe es nie wieder auf­ gemacht, komm, lege es hierher; es ist für Fräulein De­ borahs Schwester bestimmt." In dem Augenblick klingelte es und Marie erschien an der Thür des Krankenzimmers mit geheimnisvoller Miene: „Ditte Herr Woodhouse, hier ist Ihre Tante, sie möchte sich erkundigen." Der Kranke hatte die Worte verstanden und wandte sich nach der Thür: „Fräulein Woodhouse ist da? Welche von Beiden ist es?" „Die junge," antwortete Marie, die sich relativ aus­ drückte. „Fräulein Ruth?" sagte Denner mit aufflackernder Lebhaftigkeit, „ach Gifford, würdest Du etwas dagegen haben, wenn ich sie bitten ließe, einen Augenblick herein­ zukommen, vorausgesetzt, daß sie so liebenswürdig sein will?" „Sie wird es sicherlich sehr gern thun," antwortete Gifford, „ich will sie gleich holen." Ruth geriet in große Aufregung: „Ich soll ihn sehn? Mit tausend Freuden; freilich was wird Deborah bayt sagen? Aber es wäre doch zu viel für ihn, zwei Besuche auf einmal."

239 Denner winkte ihr mit seiner abgezehrten Hand ein Willkommen zu. „Ach Gott, Herr Denner," sagte sie in Thränen auf­ gelöst, obgleich Gifford sie zur Fassung ermahnte, „es thut mir ja zu leid, Sie so krank zu finden." „Bitte, es thut garnichts," sagte Denner mit schwacher Stimme, die einen seltsam veränderten Ton hatte, „ich bin Ihnen so sehr dankbar, daß Sie gekommen sind, mein verehrtes Fräulein." Er hielt inne, um seine Gedanken zu sammeln; seine Schwäche war groß. Ruth weinte leise, und Gifford blickte mit steigernder Sorge auf das kleine, blasse Antlitz des Kranken, dem man die Anstrengung des mühsamen Nachdenkens ansah. „Ich wollte Sie bitten, Fräulein Woodhouse," hub er nach ein paar Minuten an, „hier dieses kleine Andenken von mir anzunehmen," er tastete nach dem kleinen Kästchen, das ihm Gifford leise zuschob, „bitte machen Sic es auf, Fräulein Ruth!" Mit zitternden Fingern löste sic das Band und klappte den Deckel auseinander; ein altes, verblaßtes Lichtbild, Denner in seiner Jugend darstellend, kam zum Vorschein. „Was sagte ich doch gerade, Gifford?" fragte der Kranke. „Sie haben eben meiner Tante das Bild geschenkt, Herr Rechtsanwalt!" „Nichtig, richtig, ja und ich möchte noch hinzufügen, daß ich es Fräulein Deborahs Schwester schenken will; ich weiß zwar, es hat einen sehr geringen Wert; aber ich würde mich freuen, e§ in Ihren Händen zu wissen; . .. und wollen Sie Fräulein Deborah einen herzlichen Gruß be­ stellen, . .. und Gifford, . .. mein Freund Gifford wird ihr das Bild meiner kleinen Schwester überreichen?" „Ja," nickte Ruth unter Thränen, „ich werde es aus­ richten."

240 „Nicht etwa, daß ich mich anders besonnen hätte," fügte Denner leise hinzu, „aber ich denke cs ist nicht un­ schicklich, wenn ich Fräulein Deborahs Schwester bitte, . . . wenn sie so gut sein will, ... mir ihre Hand zu geben zum letzten Lebewohl?" Ruth hatte ihn nicht recht verstanden; aber Gifford winkte ihr, ihre Hand in die des Kranken zu legen, die sich ihr entgegenstreckte. „Mir ist ganz wohl," murmelte Denner, „tausend Dank Ruth; wenn Sie erlauben, möchte ich jetzt etwas ruhen." Ruths Hand in der fälligen, legte er den Kopf müde zurück und schloß die Augen. — Die ewige Ruhe war ihm geworden. —

Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der Tod des guten Herrn Denner wurde in ganz Ashurst schmerzlich empfunden; denn so anspruchslos auch seine Persönlichkeit, so einfach sein Wirkungskreis gewesen, Liebe und Anerkennung hatte er in reichlichem Maße in allen Kreisen besessen, mehr als seine bescheidne Seele je geahnt haben mochte. . Für Luise Howe war es in jenen ersten schweren Tagen ein großes Glück, daß sie ihre treue Helene zur Seite hatte, die ihre ganze Teilnahme und Freundschaft anfbot, um die schmerzlichen Empfindungen Luisens zu mil­ dern, obgleich sie ganz in Giffords Sinn niemals versuchte, die für das junge Mädchen so bittere Wahrheit zu ver­ schleiern. Luisens gemütlicher Zustand ängstigte die junge

241 Frau; denn das frische, lebensfrohe Mädchen war garnicht wiederzuerkennen, und Helene beschloß, sie auf einige Wochen nach Lockhaven einzuladen, was von allen Teilen gern und dankbar angenommen wurde. In vierzehn Tagen sollte Luise unter Giffords Schutz nachkommen, da ihr augenblicklicher Zustand die Reise nicht ertragen konnte. Sie selbst sah mit fieberhafter Ungeduld dem Tage ihrer Abreise entgegen. Richard Forsythe hielt sich noch immer bei seiner Mutter aus, obgleich er dauernd von Reiseplänen sprach und augenscheinlich nur sehr ungern in Ashurst, „diesem langweiligsten aller Nester auf Gottes Erdboden" verweilte. Zu Howes kam er sehr selten; vielleicht, weil die Zeit nicht danach angethan war, Besuche zu machen und vergnügt zu sein, so lange der arme Denner litt und Frau Forsythe nack ihren eignen Worten „am Rande des Grabes schwebte." So wenigstens äußerte sich die Mutter über den Grund seiner Zurückhaltung, und der Blick, den sie dabei auf Luise richtete, war dem armen Kinde nur zu verständlich. Denn wenn auch Frau Forsythe kein Opfer des Unfalls geworden war, hielt sie doch an dem Versprechen fest, das Luise ihr damals iu der Stunde der Angst gegeben hatte. Eine Ehe zwischen Richard und Luise war ihr Lieblings­ wunsch, umso mehr, als sie darin die letzte Hoffnung sah, ihren Sohn auf geordnetem Lebenswege zu halten. Luisens Seele war so zerknirscht, so vernichtet in ihrem Schnldbewußtsein, daß ihr der Gedanke an ein Opfer ganz selbstverständlich erschien und sie nicht den geringsten Versuch machte, ihre Freiheit wiederzugewinnen. Wie schwer sie litt, zeigten ihr trüber, verschleierter Blick, ihr müdes Lächeln, ihr langsamer Gang. Gifford bemerkte es mit Wehmut; nach alledem, was Tante Debo3 c banne? 9?'art.

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242 rah erzählt hatte, war cs der bevorstehende Abschied von ihrem Verlobten, der Luise so niederdrückte. Sich ihren Kummer anders zu deuten, lediglich als Reue über ihre Unachtsamkeit, kam Gifford nicht in den Sinn. Betrübt saß er am Tage nach Denners Begräbnis in dem kleinen Arbeitszimmer des Verstorbenen. Draußen schlug ein dichter Regen an die Fenster; im Zimmer war es fast dunkel, und Gifford mußte den Schreibtisch ans Fenster rücken, um die nachgelassnen Papiere Denners ordnen zn können. Er war bald damit fertig; denn der Verstorbne hatte seine Korrespondenzen in mustergültiger Ordnung gehalten. Obgleich es für den jungen Rechtsan­ walt nichts mehr zu thun gab, wurde er doch durch ein Gefühl warmer Verehrung für ihn, der hier so oft gesessen, in dem stillen Gemach znrückgehalten; noch einmal vertiefte er sich voll und ganz in Denners freundliche Persönlichkeit; dann kehrten seine Gedanken zu seiner eignen Zukunft zu­ rück: Was konnte sie ihm noch an innerm Glück bieten, da er seine Liebe zu Luise begraben mußte? „Die arme Luise," dachte er, „natürlich geht ihr Denners Tod ans Herz; aber nicht allein das: Sie wartet immerfort auf etwas, das sehe ich ihren Augen an; aber worauf? Doch gewiß auf Forsythe. Ich verstehe das Verhältnis nicht; denn warum geht er nicht öfter zu Howes, warum ist er nicht aufmerksamer, nicht liebevoller gegen sie? Und daß er jetzt gerade reisen will, wo sie so sehr des Trostes und der Liebe bedarf; wenn es nur für eine Woche ist; er dürfte sie nicht allein lassen. Ich wünschte, ich könnte ihm einmal gründ­ lich die Wahrheit sagen; wenn Luise doch einen Bruder hätte! Wahrscheinlich weiß er es nicht besser, und außerdem hat ihn Luise eben lieb. Helenens Theorie ist doch gründ­ lich zu Schanden geworden. Ob sie ihn leiden mag?

243 Wenn ich nicht Tante Deborah Schweigen versprochen hätte, ließ ich mir gern ihre Meinung sagen." In diesem Augenblick hörte man draußen die Garten­ pforte zuschlagen, und gleich darauf meldete Marie Herrn Forsythe. „Bitten Sie ihn herein," antwortete Gifford aufstehend. Richard Forsythe trat ein, rosig und vergnügt wie immer. „Donnerwetter ist das eine Sündflut draußen," sagte er lachend, seinen nassen Regenschirm schüttelnd, „wirk­ lich, man braucht ein Boot, um durch den Garten zu schwimmen; Ihre Tante, die alte war's, bat mich, Ihnen diese Ueberschuhe zu überbringen, sie war in Sorge, daß sich der liebe Reffe erkälten könne." Er lachte wieder, als hätte er einen ausgezeichneten Witz gemacht, hielt aber plötzlich inne, von Giffords ernster Haltung überrascht. „Ich hatte bei Ihren Tanren eine kleine Bestellung von meiner Mutter," fuhr er fort, „Sie wissen, wir reisen morgen, da heißt es natürlich mindestens ein Dutzend Ab­ schiedsbesuche zu machen; denn meine Alte nimmt es sehr genau damit." Gifford hatte dem Ueberbringer das Paket mit einem kurzen Dankeswort abgenommen; aber Forsythe schien keine Eile zu haben. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte er sich in Denners Lehnstuhl, mit neugierigem Blick die Umgebung musternd. „Man weiß wirklich nicht, ob's drinnen oder draußen feuchter ist. Ein gräßlich ungemütliches Haus. Warum er sich wohl nie verheiratet hat! Denke mir, er hat keinen gefunden, der in diesem Loch wohnen wollte; wirklich ein greulicher Aufenthalt! Ist er in diesem Zimmer ge­ storben?" setzte er leise hinzu. „Jawohl," bestätigte Gifford.

244 „Bewundre, daß Sie hier allein bleiben, kriegte ich nicht fertig, zu ungemütlich! Na, ich sehe aber, er wußte auch, wie der Mensch sich aufmuntern kann," und Richard deutete auf ein Rauchscrvice in der Ecke. ,,Ja, Herr Denner rauchte gern," erwiderte Gifford kühl. „Ein guter Gedanke, sich auch eine Cigarre zu leisten," rief Forsythe in seine Drusttasche fassend, „thut wohl bei dem Wetter, vorausgesetzt, daß Sie nichts dagegen haben," fügte er hinzu, im Begriff die Cigarre anzuzünden. „Ich würde bitten, es zu unterlassen," sprach Gifford langsam, „Sie müssen einsehn, daß cs nicht ganz passend sein würde." Verwundert sah ihn Forsythe an: „Himmel, was alles in Ashurst für unpassend gilt; aber ganz wie Sie wollen," er blies das Streichholz ans und warf es fort, „dabei hat doch der alte Herr selber geraucht." Giffords Gesicht wurde vor Aerger rot; doch erwiderte er mit großer Ruhe: „Ich möchte Sie nicht länger zurück­ halten, da sie wo anders rauchen könnten; besten Dank für das Paket." „Wie Sie wollen," gab Forsythe zurück, „ja es ist Zeit für mich; leben Sie recht wohl, Herr Woodhouse, wer weiß wann wir uns mal Wiedersehn: nach Ashurst komme ich so bald nicht." Gifford sah ihn betroffen an: „Einen Augenblick bitte, Sie können doch nicht im Ernst Ashurst auf lange Zeit verlassen wollen?" „Lange Zeit?" fragte der andre lachend: „Na natür­ lich; ich gehe nächsten Monat ins Ausland." Gifford hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt, um ihn so lange zu schütteln, bis er sein albernes Lächeln ver-

245 lernt haben würde. Noch aber bezwang er sich, schlug die Arme übereinander und sah auf seinen Gefährten nieder, der sich wieder gesetzt hatte und seinen Regenschirm zu­ sammenrollte. „Ja," nickte er, „auf lange Zeit nehme ich von dem lieben Ashurst Abschied." „Herr Forsythe," fragte Gifford, in einem vorwurfs­ vollen Ton, der Richard nicht entging: „Darf ich fragen, ob Prediger Howe von Ihren Plänen unterrichtet ist?" Forsythes heitres Gesicht nahm plötzlich einen hämischen Ausdruck an: „Ich weiß in der That nicht, Herr Wood­ house, wie ich zu der Ehre komme, daß sie meinen An­ gelegenheiten eine solche Aufmerksamkeit schenken; aber wenn es Ihnen Spaß macht, kann ich Ihnen ja gestehn, daß es mir vollständig gleichgültig ist, ob Herr Prediger Howe meine Reisepläne kennt oder nicht." Damit stand er auf und sah Gifford herausfordernd an. „Das mag sein," antwortete Gifford noch immer ruhig, obgleich innerlich vor Zorn zitternd, „aber es muß ihn doch aufs Aeußerste überraschen, daß Sie jetzt auf längre Zeit verreisen wollen." „Wem habe ich denn Rechenschaft abznlegen?" brauste Richard auf, „und bitte was haben Sie für ein Recht, meine Abreise von Ashurst zu beanstanden?" „Gar seins," gab Gifford ruhig zurück. . „Nun also!" schrie Forsythe, in heller Entrüstung mit der Faust auf den Tisch schlagend; „was wollen Sie denn eigentlich mit Ihrer Unverschämtheit sagen? Erlauben Sie Sich etwa mein Benehmen Luise Howe gegenüber zu kriti­ sieren? Sie eingebildeter Narr!" „Schweigen Sie," brachte Gifford mit künstlicher Fassung hervor. „Es ist unanständig, den Namen einer Dame in einen Streit zu verflechten. Sie haben Sich

246 vergessen.

Wir wollen die Sache fallen lassen;

ich habe

nichts mehr zu sagen." „Aber ich um so mehr! Wer hat Sie berechtigt, mich danach zu fragen, etwa die Dame selber? Weiß Gott, sie

muß recht in Verlegenheit gewesen sein,

Sie zum Boten

zu wählen." Gifford antwortete nicht; für einen Augenblick war

das dunkle Zimmer ganz still; man hörte nur den Regen,

der gegen das Fenster prasselte. „Vielleicht," fügte Forsythe hinzu, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seine Lippen, „möchten Sie die Dame trösten; bitte, dem steht nichts im Wege." Giffords Hände hielten krampfhaft die Stuhllehne ge­ packt: „Sie wissen, mein Herr, daß es allein der Ort ist, der Sie schützt." Aber sein Gegner war außer sich vor Wut: Er lachte frech: „Ich werde Sie nicht länger belästigen; viel Ver­ gnügen heute Abend bei Luischen; aber, wenn ich auch Ashurst verlasse, ist es mir doch zweifelhaft, ob . . .." Der Satz blieb unvollendet; denn Gifford hatte den Sprechenden mit seiner kräftigen Hand beim Kragen ge­ packt, und wie auch Richard sich wehrte, er vermochte den eisernen Griff nicht abzuschütteln; halb gestoßen, halb ge­ tragen, fühlte er sich der Thür zugeschoben, um sich im nächsten Augenblick zu seiner großen Ueberraschung unten

im Garten im Schmutz zu befinden. Fluchend sprang er „Das sollst Du mir bezahlen, Du infamer Hund Du!" schrie er in leidenschaftlicher Wut Gifford an, der unbeweglich in der Thür stand, als wolle er ihm die Mög­ lichkeit einer Revanche geben. Forsythe schien aber keine aus:

Lust danach zu verspüren; heftig die Gartenthür zu.

er wendete fich um und schlug

247 Gifford ging zurück, um Hut und Ueberzieher zu holen. Er "empfand keine Freude über seinen Triumph; denn er war unzufrieden mit sich: „Wer weiß, ob ich die Sache nicht verschlimmert habe; eigentlich hatte ich kein Recht, ihn zu fragen; aber wie durfte er ihren Namen hineinziehn!" murmelte er vor sich hin. Aergerlich und verstimmt ging er seines Weges, ohne sich um Sturm, Regen und Nässe zu kümmern, ohne zu bemerken, daß er die ihm von Tante Deborah so fürsorg­ lich geschickten Ueberschuhe unbenutzt als Paket zurück­ brachte; in das Haus tretend, hatte er nur den einen Wunsch, der Aufmerksamkeit seiner Tanten zu entgehn. Aber es glückte ihm nicht; denn Tante Deborah, die schon nach ihm ausgeschant hatte, lief ihm auf der Treppe ent­ gegen und rief ganz entsetzt über seinen nassen Anzug: „Was, ohne Regenschirm, mein guter Junge; geh' gleich ins Bett, ich bringe Dir etwas zum Schwitzen; sonst bist Du uns morgen krank." Unfreundlicher, als es sonst seine Art war, lehnte er alles ab, murmelte etwas von „Pimpelei" und ging ohne Weitres in fein Zimmer, das er hinter sich verschloß. Während die beiden guten Tanten unten gemütlich beim Nachmittagsthee saßen, hörten sie ihn oben rastlos ausund niedergehn. „Er ist recht angegriffen von der ganzen traurigen Angelegenheit," sagte Tante Ruth. „Kein Wunder," nickte Tante Deborah, „denke Dir, wie schmerzlich es sein muß, einen Nachlaß zu ordnen. Ich will mir Willi gleich morgen früh herholen." „Das wollte ich ja auch!" ries Ruth, „ich dächte, cs wäre meine Sache!" „Nein, das lasse ich mir unter keinen Umständen

•248 nehmen," beharrte Deborah, „das Bild, welches er mir zum Andenken hinterlassen hat, zeigt deutlich seine Gefühle mir gegenüber. Nein, die Aufsicht über den Kleinen über­ nehme ich als eine heilige Pflicht."

Ihre Hände bewegten

sich nervös; ihre Lippen zuckten; Denners Tod hatte tiefe Wunden geschlagen.

„Mag sein",

gab Ruth

nach einer Weile zu,

„daß Das Bild, das er Dir ist nur ein Kinderbild; sein Portrait hat

Du in gewisser Weise Recht hast. geschenkt

hat,

natürlich eine viel tiefre Bedeutung!" „Aber Ruth Woodhouse!" rief die ältre Schwester ent­ rüstet, „schämst Du Dich denn garnicht? Hat er nicht selbst

gesagt, dasi es keinen Wert besäße?

Und Du weißt doch,

wie sehr er an seiner kleinen Schwester hing!" „Gott, das war seine große Bescheidenheit!" versicherte Ruth eifrig. Eine Verständigung war nicht möglich; beide Schwestern blieben bei ihrer Ueberzeugung, und als Ruth vor dem Schlafengehn noch einen letzten Blick auf das ver­ blaßte Lichtbildchen warf, murmelte sie mit stiller Be­ friedigung: „Deborah weiß nicht, daß er mich Ruth ge­

nannt hat." Am nächsten Morgen in aller Frühe reisten Forsythes ab. Wenn Richard seinem Nebenbuhler auch nicht mehr begegnet war, so hatte er doch Mittel und Wege gefunden, sich auf seine Weise zu rächen. Trotz Regen und Wind war er direkt von dem Dennerschen Hause aus zu Howes gegangen, um dort seinen Ab­ schiedsbesuch zu machen. Helene schrieb an ihren Gatten, Home war in seine Zeitung vertieft, als der Besuch gemeldet wurde-

„Geh und sagte der Vater,

empfange ihn

im Wohnzimmer, Luise!"

der sich von seiner interessanten Lektüre

nicht trennen wollte.

249 „Ach Vater!" bat sie. „Dummes Zeug!" antwortete er, „Du kennst ihn wahrhaftig gut genug, also schnell Kind." „Willst Du nicht mitkommen, Helene?" wandte sich das junge Mädchen an die Cousine! Zerstreut nickte diese; es war viel verlangt, neben dem Brief an Johannes noch kindische Liebesgeschichten im Kopf zu haben. „Ich komme gleich," tröstete sie Luise, die bekümmerten Herzens das Zimmer verließ. „Guten Abend, Fräulein Howe," sagte Richard ihr die Hand reichend. „Ich komme Ihnen Lebewohl zu sagen." Sein Auge ruhte mit einem boshaften Ausdruck auf ihr; sie bemerkte es nicht. Nur ein Gefühl beherrschte sie. Zitternde Erwartung, daß sie ihr Wort einlösen müsse. „Sie reisen morgen?" stotterte Luise als Antwort. „Ja, und ich konnte doch nicht anders, ich mußte Sie noch einmal sprechen." Luise schwieg. O wenn doch nur Helene käme! „Weiß Gott, eine recht andre Scene, ass damals nach dem Tantendiner," dachte Forsythe, den ihre Hilflosigkeit belustigte: „Wenn es mich noch reizte; ich will doch mal sehn, wie weit ich es treiben kann, ohne mich zu binden." „Ich werde immer viel für Ashurst übrig haben," sagte er langsam, „denn ich bin hier sehr glücklich gewesen. Darf ich hoffen, es später noch mehr zu werden, Luise?" Sie gab keine Antwort, sondern preßte ihre Hände leidenschaftlich zusammen. Er beobachtete sie aufmerksam. „Wenn ich wiederkomme, wenn ich wiederkomme; wenn Sie mich dann noch nicht vergessen haben, .... ein Wort Luise: Sie werden mich nicht vergessen?" Luise schüttelte den Kopf; er hatte sie neben sich auf das Sopha niedergezogen, sein Antlitz neigte sich zu ihr

250 hinüber: „Za, ich mußte Sie noch einmal sehn, Luise," flüsterte er, „ich werde Ihrer ewig denken." Ihre Hand, die er bei diesen Worten ergriff, lag kalt und regungslos in der seinen; sie hatte ihr Köpfchen geneigt, als erwarte sie den Opferstreich; nun mußte die schreckliche Frage ja kommen. „Meine Empfindungen kennen Sie," fuhr er be­ deutungsvoll fort: „Sie allein verleihen Ashurst Reiz." Er sah sie erröten und dann wieder erbleichen; das grausame Spiel war ihm höchst amüsant. „Sie sind zwar nicht immer freundlich gegen mich ge­ wesen, Fräulein Luise" fuhr er fort, „aber nicht wahr, wenn ich wiederkomme?" Als hätte sie sich zu einem letzten Entschluß hindurch­ gerungen, schaute ihm Luise plötzlich ernst und groß in die Augen: „Herr Forsythe, ich" . . . Aber er ließ sie nicht ausreden; er mochte fürchten, beim Wort genommen zu werden: „Ich muß eiligst fort," unterbrach er sie aufstehend in einem höflich kalten Ton, „Mutter wird wohl in tausend Nöten sein, Sie wissen, sie ist immer hülfsbedürftig; adieu Fräulein Howe, vielen Dank für alle Freundschaft, adieu!" Er drückte ihre Hand und eilte hinaus: Luise blieb in größester Verwirrung zu­ rück: Was sollte sein Benehmen bedeuten? Wollte er sie seiner Liebe versichern? Würde er wiederkommen? Als Helene, die sich endlich von ihrem Brief losge­ rissen hatte, in das Wohnzimmer trat, um ihre Freundin zu unterstützen, fand sie es leer. Luise versuchte in ihrem stillen Giebelstübchen unter tausend Thränen Frieden und Klarheit zu gewinnen; Richard Forsythe eilte durch Regen und Sturm nach Hause, das Gemüt voller Schadenfreude: „Na, Euren Aussichten habe ich wenigstens ein baldiges Ende gemacht. Die dumme Gans wird auf mich warten,

251 und wenn sechs Jahre drüber vergehn sollten; sie soll's nicht erfahren, daß ich ins Ausland reise; Mutter braucht's ihr nicht zu erzählen; übrigens hatte meine Alte ganz recht: Ein Wort von mir und ich hätte sie haben können."

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Helenens Besuch in Ashurst sollte ursprünglich vier­ zehn Tage dauern; die Sehnsucht nach Hause aber war zu groß; so beschloß sie schon Montag statt Mittwoch zu fahren: „Ich kann wirklich Johannes nicht länger allein lassen," versicherte sie ihrem Onkel und ihrer Cousine, die sie beide noch ein paar Tage zu halten wünschten: „Du kommst mir ja so bald nach, Luise!" Sie hatte nur noch einen Gedanken: Das Wiedersehn, die Wiedervereinigung mit dem Geliebten. Wie warm, wie wohlthuend hatten seine täglichen Briefe ihre Seele berührt; ob auch immer wieder von ihrer Bekehrung, von der Fürbitte für ihr ewiges Heil die Rede gewesen, sie las zwischen den Zeilen nur das eine Wort großer Liebe, innigster Zusammengehörigkeit. In seinem letzten Brief, der wiederum die alte Streit­ frage berührte, hatte er sic gebeten, ihm Punkt für Punkt auf seine Beweisgründe zu antworten. Nach bestem Wissen und Vermögen war sie dem Wunsche nachgekommen, um schließlich hinzuzufügen: „Nun aber genug über diesen Gegenstand. So lange ich lebe, werde ich Deinen schrecklichen Glauben an die Hölle nicht teilen. Also warum immer wieder davon anfangen? Ich weiß ja, daß es Deine Angst um mein ewiges Heil ist,

252



die Dich immer wieder darauf zurückkommen läßt, Liebster; aber wenn wirklich meine Zukunft von diesem Glauben abhängt, so ist sie ein- für allemal entschieden; also laß uns mit einander glücklich und dankbar fein, so lange uns eine so gute Zeit beschieden ist. Ich kann Dir nicht sagen, wie ich mich auf das Nachhausekommen freue!" Sie zählte die Stunden bis zu ihrer Abreise. Als endlich der Montag Morgen anbrach, vermochte sie ihre Freude nicht mehr zu bezwingen: Jeder Blick, jede Bewe­ gung gaben Kunde davon: „Wie glücklich Du aussiehst," seufzte Luise, die mit einem stillen Vorwurf auf den Lippen, beobachtete, wie Helene sich reisefertig machte. „Ich kann ja nicht anders!" rief die junge Frau, „denke doch, heute nachmittag bin ich wieder bei Johannes." „Du wirst mir überall fehlen," fuhr Luise traurig fort, indem sie mit nervösen Fingern die Fransen der Tischdecke zusammenflocht. „Wir sehen uns ja so bald wieder," tröstete Helene, „es soll Dir schon bei uns gefallen! Aber Deine alten, roten Backen mußt Du erst wieder haben, hörst Du?" schloß sie scherzend, Luise zum Abschied küssend. „Es wird noch vor Tisch regnen," bemerkte Onkel Howe, der gleichfalls reisefertig zu den beiden getreten war, „aber das löscht den Staub, umso angenehmer Deine Reise; zu schade, daß ich nach der andern Seite fahren muß und Dich nicht bis Mercer begleiten kann. Aber siehst Du, das kommt von der eilfertigen Jugend, hättest Du hübsch bis Mittwoch gewartet, hätte sich's der alte Onkel nicht nehmen lassen, Deinen Reisemarschall zu spielen. Aber so'n unruhiger Geist: Will nur wünschen, daß Dein Mann sich ebenso nach Dir sehnt; am. Ende kann er Dich garnicht brauchen!"

25.3

Helenens vertrauensseliger Blick ließ ihn herzlich lachen. „Angst hast Du also nicht? Aber es ist mir doch nicht recht, daß Du so ganz allein nach Mercer führst." „Ach mir wird die Zeit nicht lang werden!" rief

Helene vergnügt. „Ich denke mir, auf der Post liegt gewiß noch ein Brief von Johannes für mich, der wird mir schon die Zeit vertreiben." „Er kann doch aber nicht sechs Stunden vorhalten," bemerkte Luise. „Aber ganz gewiß!" rief Helene strahlenden Auges, „solch einen Brief liest man immer wieder von vorn. Das kannst Du nur noch nicht beurteilen, Luischcn!" Luise lächelte müde; sie saß auf den Treppenstufen, die Arme auf die Knie gelegt, zerstreut in den Garten blickend. „Sieh da Gifford," rief Helene, die schon im Wagen stand und ihr Gepäck ordnete, „ich kann ihm gerade noch Lebewohl sagen." „Das war auch mein Wunsch," erwiderte der junge Rechtsanwalt, ihr die Hand reichend, „auf Wiedersehn in vierzehn Tagen, ich werde Luise gut hinbringen." Helene nickte ihm zu und wandte sich zu den andern, denen sich auch Tante Dale und die Dienstboten zugesellt hatten: Von freundlichen Abschiedsworten und guten Wün­ schen geleitet, fuhr sie fort: Blumen in den Händen, ein glückseliges Lächeln frohster Erwartung auf den Lippen. Als sie vor dem Postbüreau hielt, trat Onkel Dale heraus, ihr den erhofften Brief reichend: „Hier noch etwas Unterhaltung für unterwegs," sagte er mit seinem liebens­ würdigen Lächeln. „Du freust Dich wohl, nach Hause zu kommen? Viele herzliche Grüße an Deinen Mann!" Er

254 sah ihr lange nach; ein Ausdruck von Neid lag auf seinem Antlitz. Nachdem Helene fortgefahren war, zerstreute sich die kleine Gruppe, die ihr den Abschied geboten; auch Luise stand auf, um ins Haus zu gehen; aber Gifford machte Einwendungen. „Du kommst wirklich zu wenig ins Freie, bleib' noch etwas draußen; es wird Dir sehr gut thun!" „Ja, sie sieht schlecht aus," gab Frau Dale zu, „es ist eine Albernheit, sich so gehen zu lasten." Frau Dale gehörte zu den Personen, die es lieben, überall einen schuldigen Theil heraus zu finden, und so erstreckte sich ihr Zorn über Luisens Leiden auf diese selbst. „Geh nur mit Gifford in den Garten," sagte sie halb scheltend, halb schmeichelnd, wie zu einem verwöhnten Kinde, und als Luise müde das Haupt schüttelte, fuhr sie fort: ,,Du mußt wirklich mal wieder für Blumen sorgen; alle Vasen stehen leer." „Ja wohl", rief Gifford freundlich, „ich hole die Gartenscheere;" er eilte fort; denn er kannte das Haus ganz genau; auf der Diele traf er, zurückkommend Frau Dale, die ihm ermutigend zunickte: „Das ist recht, muntre sie nur etwas auf. Natürlich leidet sie unter dem Abschied; ich muß auch sagen, zartfühlend kann man es kaum nennen, daß er gerade jetzt verreist; ich bezweifle es stark, daß er in seinem Geschäft so unabkömmlich sein sollte. Uebrigens war ich von ihm auf alles gefaßt; zu meinen Lieblingen hat er nie gehört, und ich habe immer Sorge gehabt, daß Luise ihr Herz an ihn verlieren würde." „Ich halte cs für ein großes Unglück," antwortete Gifford sehr ernst. „Na, so schlimm ist es auch nicht", rief Frau Dale

255 etwas ärgerlich, „eine ausgezeichnete Partie bleibt's immer, und Rücksichten kann man von einem jungen Mann nicht erwarten, der seine Mutter .. . einer . . . unsrer vortreff­ lichen Pflege entziehen konnte, um sie einer gemieteten Wärterin anzuvertrauen. Denke Dir," fuhr Frau Dale heftiger werdend fort: „Er hat behauptet, daß zu viel verrückte, alte Frauenzimmer um feine Mutter wären: Was sagst Du dazu? Aber was wahr ist, muß wahr bleiben: Luise kriegt einen reichen Mann, und das ist viel wert!" Gifford und Luise gingen schweigend im Garten neben einander her. „Wie ich Helene entbehre!" sagte sie end­ lich. „Das kann ich mir denken," antwortete er freundlich; „aber Du wirst sie ja so bald in Lockhavcn Wiedersehn," und aus dem Bestreben heraus, sie zu zerstreuen, sprach er lebhaft von seiner neuen Heimat, von Johannes und He­ lene und ihrer glücklichen Häuslichkeit. Sie hörte ihm wohl zu, aber ohne Interesse, und die Unterhaltung stockte von neuem. Er hätte sie so gern zu einem offnen Wort veranlaßt, um ihr Freundschaft und Teilnahme zu spenden; deshalb sagte er endlich ganz unvermittelt: „Der Abschied von Deinen Freunden ist Dir gewiß sehr schwer geworden?" „Von meinen Freunden?" „Ja, von Richard Forsythe und seiner Mutter!" „O nein", antwortete sie hastig. „Rein?" wiederholte Gifford erstaunt, aber in der freundlichen Absicht, ihr nicht den Eindruck zu geben, als wisse er um ihr Geheimnis, fuhr er ruhig fort: „Natür­ lich erhoffst Du Gutes für Frau Forsythes Gesundheit von dem Luftwechsel?"

256 „Von ganzem Herzen!" rief Luise fast zitternd. Gifford hatte sich zu einem niedrigen Strauch ge­ bückt: „Komm wir wollen von den weißen Rosen pflücken; sie machen sich immer so hübsch in Deiner blauen Vase." Er wandte ihr den Rücken zu; vielleicht fand er da­ durch den Mut, plötzlich zu fragen: „Geht Frau Forsythe mit ihrem Sohn nach Europa?" Er hätte sich selbst nicht Rechenschaft darüber ablegen können, warum er diese Frage stellte. Das Befinden von Frau Forsythe war ihm im Grunde vollkommen gleich­ gültig. Hoffte er Luise zu einem Ausbruch ihrer innersten Empfindungen zu bringen? „Nach Europa?" fragte das Mädchen in völliger Ueberraschung. „Geht er denn nach Europa?" Gifford hörte aus ihrem Ton die äußerste Aufregung und Spannung heraus und riß mit einer Rücksichtslosig­ keit an dem Strauch, die Howe, in tiefster Seele verletzt haben würde. „Ich glaube ja," erwiderte er endlich, „ich denke, Du weißt es längst." „Wer hat es Dir gesagt?" fragte sie zurück. „Er selbst." „Ganz bestimmt?" flüsterte sie mit zitternder Stimme. Er trat zurück, sah sie aber nicht an, als er ant­ wortete: „Von ihm weiß ich es genau, von der Mutter nicht sicher." Zu seiner größesten Bestürzung sah er, wie es plötzlich verräterisch um Luisens Lippen zuckte: Sie ließ die Rosen fallen, lehnte sich an einen Baum und fing bitterlich zn weinen an. Im nächsten Augenblick stand er neben ihr: „Ich bitte Dich, Luise, weine doch nicht so; es war so roh von mir, es Dir so plötzlich zu sagen, bitte weine nicht!"

257 „Nein, nein," schluchzte sie, „das ist es ja nicht, Du weißt ja nicht." Aber ihre Thränen flössen unaufhaltsam. „Luise!" bat er liebevoll. Sie legte, wie erklärend, ihre Hand auf seinen Arm, weinte aber leise weiter. Er war in größter Verle­ genheit. „Ich hätte es nicht so unvermittelt sagen sollen," fing er wieder an, obgleich Luise den Kopf schüttelte „und ich bin überzeugt, sie kommen gewiß noch einmal nach Ashurst, ehe sie ganz fortgehn." Luise hatte ihre Thränen getrocknet. „Meinst Du wirklich?" „Ganz gewiß," bestätigte Gifford, dem eine undeut­ liche Vorstellung durch den Sinn schoß, daß er selber im schlimmsten Falle Richard Forsythe nach Ashurst zurück­ schleppen werde, „verzeih' nur Luise, daß ich Deine ange­ griffne Gesundheit so vergessen und Dir so plötzlich die Nachricht mitteilen konnte, daß Deine Freunde so weit sortgehn. Natürlich werden sie es Dir noch selber er­ zählen, . . . wahrscheinlich ist es Dir bis jetzt aus Rücksicht verschwiegen worden, sicherlich hat Herr Forsythe vor seiner Abreise hier noch wegen des Hauses zu thun." Gifford wußte vollkommen, wie unbegründet diese Vermutung war; aber er wollte sie um jeden Preis trösten. Luise hatte inzwischen ihre Fassung vollkommen wieder­ erlangt, mit einem Ausdruck tiefster Hoffnungslosigkeit sagte sie leise zu ihrem Gefährten: „Verzeih', daß ich so thöricht bin; aber ich weiß selber nicht, wie es kam; ich bin noch immer so angegriffen, . . . und dann ängstige ich mich auch um Frau Forsythes zarte

Gesundheit." „Gewiß Luise, ich verstehe das durchaus." Johannes Ward.

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258 Sie wandte sich dem Hause zu; er folgte ihr, nachdem er die Rosen von dem Boden aufgelesen hatte. „Was mußt Du nur von mir denken?" fragte sie traurig. „Doch nur, daß Du noch recht schonungsbedürftig bist," antwortete er freundlich. Er wollte ihr so gern den Eindruck geben, als ahne er nichts von ihrer Verlobung, nichts von ihrer verzweifelten Liebe zu einem Manne, der sie vernachlässige. Mit dankbarem Blick schaute sie ihn noch einmal an, ehe sie im Hause verschwand: „Ich danke Dir Gifford, Du bist sehr freundlich." So war ihm doch die Freude geworden, sie zu trösten und dankbar zu stimmen: Freilich eine sehr wehmütige Freude!

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Prediger Howe hatte ganz richtig prophezeiht: Gegen Abend schlug das Wetter um: Ein feiner, kalter Regen sprühte gegen die Fenster, und durch die alten Baum­ kronen im Garten sauste der Wind. Um so gemütlicher war es drinnen in der stillen Studierstube, am Hellen Kaminfeuer, das eine so wohlthätige Wärme ausstrahlte. Howe hatte seinen bequemen Lehnstuhl ganz nahe her­ angerückt, ein Pokal mit Glühwein stand auf dem Tischchen daneben, die letzte Nummer der Kirchenzeitung war er­ reichbar, wenn er Lust hatte sich über den neuesten kirch­ lichen Streitfall zu unterrichten. Noch aber mochte er lieber träumerisch ins Feuer schauend, seinen eignen Ge­ danken nachhängen. Theologisches Gezänk war ihm ohne-

259 hin in tiefster Seele zuwider. „Wie gut doch, daß Helene ihn mit all den überflüssigen Fragen, die er nach ihren Briefen so lebhaft gefürchtet, verschont hatte. Sie wird es wohl selbst eingesehn haben, wie wenig bei dergleichen Tifteleien herauskommt. Howe liebte es, sich die Sachen immer so vorteilhaft wie möglich zurechtzulegen: So kam es ihm auch jetzt nicht im Geringsten in den Sinn, daß Helene geschwiegen haben könnte in der richtigen Empfin­ dung, bei ihm kein Verständnis für ihre Seelennöte zu finden. Daß er sich ihr innerlich fremder gefühlt, wie ehedem, mußte er sich gestehn; aber war das nicht ganz erklärlich, da sie das tägliche Leben nicht mehr teilten? Nein, nein, er durfte mit vollkommner Zufriedenheit an das junge Frauchen denken; gewiß würde Luise dort eine hübsche Erholungszeit genießen; das arme Luischen, der arme Denner: Ja, das Leoen bietet doch recht traurige Erfahrungen. Und gedankenvoll faßt er den Becher und trank langsam seinen Glühwein aus, indes der Regen draußen rauschte. Er überlegte, ob wohl seine Schwester Adele mit ihrer Vermutung recht habe, daß Luise unter Forsythes Abreise leide? Ja, es wäre eine recht wünschens­ werte Partie gewesen, aber warum sich darüber grämen, daß sie nicht zu stände gekommen war: Behielt er doch seine Tochter bei sich, und das war am Ende doch das Beste. In diese Gedanken vertieft, bückte er sich nach dein Feuer, um es ordentlich zu schüren und ein neues Scheit aufzuwerfen. Darüber hatte er nicht gehört, daß draußen leise geklingelt wurde. Sally, welche die Hausthür öffnete, konnte die eintretende Persönlichkeit kaum erkennen, so sehr drängten Wind und Regen nach. „Gott!" schrie sie plötz­ lich ganz entsetzt: „Ein Geist, Fräulein Helenens Geist!" 17*

260 Und in der That starrte sie in ein geisterbleiches Ant­ litz mit großen, wie verwirrt blickenden Augen. „Fräulein Luise soll nicht wissen, daß ich zurückge­ kommen bin," sprachen die bleichen Lippen. „Wo ist mein Onkel?" Das Mädchen zeigte stumm auf die Thür des Studier­ zimmers. Helene zögerte einen Augenblick, preßte wie verzweifelt die Hände an die Schläfe und trat schnell ein. Der Onkel blickte auf und fuhr erschreckt zurück: „Helene!" rief er, „um Gottes Willen, was ist ge­ schehn?" „Ich bin zurückgekommen!" brachte sie mühsam und langsam heraus. „Aber Kind bei dem Wetter! Gott wie naß Du bist!" und mit ungeschickten, zitternden Fingern nahm er ihr Mantel und Hut ab: „Du hast mich furchtbar erschreckt," fuhr er fort, „sage doch um alles in der Welt, warum bist Du umgekehrt; hast Du den Zug verpaßt?" Helene schwieg noch immer; regungslos stand sie da, obgleich ihr der Regen über Stirn und Wangen floß. Onkel Howe versuchte ihn ungeschickt abzuwischen; sein Antlitz drückte die peinlichste Spannung aus: „So sprich doch nur Kind, ist Dein Mann krank, was ist denn nur geschehn?" „Ich bin heimgekommen," sprach sie langsam, als koste ihr jedes Wort die größeste Anstrengung, „weil ich einen Brief von Johannes bekommen habe." Wie geistes­ abwesend blickte sie auf Max nieder, der herbeigekommen war, sie zu begrüßen. „Ich bin sehr müde und brauche Ruhe." Sie sah sich um, als suche sie eine Stütze; ihr Gang war schwankend und unsicher. „Mein gutes Kind," rief Prediger Howe sie sesthaltend,

261 „Du bist krank, Du brauchst Pflege, komm', ich rufe die Mädchen, sie sollen Tante Adele holen." Helene hielt ihn zurück: „Nein Onkel, ich bin nicht krank, nur sehr müde; ich glaube, ich habe den ganzen Weg von Mercer hierher zu Fuß gemacht; ich kann mich nicht recht besinnen. Bitte rufe niemand." Es war keine Fieberkranke, die sprach, wenn auch die Worte hastig und verwirrt herauskamen. „Bitte besinne Dich, setz' mir nur auseinander, was es bedeutet," flehte er noch einmal, „oder halt, ich hole Dir erst ein Glas Wein." Kopfschüttelnd sah er zu, wie Helene trank; seine Ver­ legenheit war grenzenlos. „Danke Onkel Archibald," sagte Helene leise, ihm das leereGlas reichend, „ich will jetzt heraufgehn; ich bin so müde." „Aber Kind," touiibte er eia, „meine gute Helene, Du mußt mir doch erst sagen, was es bedeutet." Flehend schaute sie zu ihm auf: „Jetzt nicht, bitte, morgen früh!" „Nein, meine liebe Tochter," antwortete er in freund­ lichem Ton, „Du darfst mich nicht in dieser qualvollen Ungewißheit lassen, komm', sprich!" Er wollte seinen Arm um sie legen; sie aber wehrte ihm, kopfschüttelnd: „Gut, ich will es Dir sagen"; sie rieb sich die Stirn, wie um ihre Gedanken zu sammeln. „Ich kann mich noch immer nicht ganz zurechtfinden; aber geschehn ist weiter nichts: Johannes hat mir geschrieben, ich soll nichr wieder nach Lockhaven zurückkommen: Denke Dir, ihn nie Wiedersehn!" fügte sie mit vor Thränen erstickter Stimme hinzu. „Was sagst Du?" schrie Howe entrüstet, „Ward schreibt, Du solltest nicht zurück zu ihm? Dummes Zeug, dummes Zeug, mein Kind!"

262 „Laß uns heute Abend nicht weiter darüber sprechen," bat Helene; „ich kann nicht mehr!" Howes liebenswürdige, warmherzige Natur konnte dem flehenden Blick der Nichte nicht widerstehn: „Gut, mein Herzenskind, wie Du willst; komm', ich bringe Dich hinauf; wir wollen froh sein, wenn Du ohne Erkältung davon kommst; soll ich Luise nicht wecken? Na, dann will ich Hanna rufen, damit sie Dir ein bischen hilft.« Schwerfällig führte er Helene die Treppe hinauf, be­ ständig brummend und pustend. „Was hast Du, Vater?« rief Luise, an deren Thür er vorüberging, „ist etwas passiert?« „Unsinn!« antwortete Howe verdrießlich, „schlaf Du nur! Helene stoß Dich nicht!« „Helene?" rief Luise, sprang aus dem Bett und lief nach der Thür, die sie aufriß, „um Gottes willen, was ist geschehn?« „Nichts sage ich Dir,« schrie der Vater ärgerlich, „mach daß Du ins Bett kommst.« Aber Helene, die Luisens erschrecktes Gesicht gesehn, trat zu ihr, drängte sie sanft zurück und sagte: „Morgen will ich es Dir alles erzählen; jetzt bin ich zu müde, gute Nacht." Der Prediger hatte unterdessen die alte Hanna geholt: „Wenn Fräulein Helene liegt, möchte ich's wissen; machen Sie es ihr recht behaglich." Und als die alte Haushäl­ terin seinen Auftrag ausgeführt, ging er selber noch einmal hinauf, um Helene ein Glas Wein zu bringen. Aber sie wandte ihren Kopf ab und bat ihn, allein bleiben zu dürfen. Seine freundlichen, tröstlichen Reden, daß gewiß morgen alles wieder in Ordnung sein werde,

263 hörte sie kaum, jedenfalls hatte sie kein Wort, keinen Blick mehr für ihn, der halb ärgerlich, halb bekümmert sein stilles Studierzimmer wiederaufsuchte; der Zauber friedlicher Behaglichkeit, in den er sich vorher so dankbar und bewußt eingesponnen, war jäh zerstoben, das Feuer niedergebrannt. Er hob Helenes Hut auf, der noch vor Regen troff, und legte ihn sanft auf ihren Mantel, den sie über einen Stuhl geworfen hatte. Kopfschüttelnd, verwundert betrachtete er beide Sachen, als könnten sie ihm das Rätsel lösen. Die große Uhr auf der Diele schlug elf; draußen sauste und klagte der Sturm. — Am andern Morgen war Prediger Howe schon in aller Frühe auf den Beinen. Noch ehe Sally gähnend zum Reinmachen erschien, hatte er schon beide Hausthüren auf­ gemacht, um goldenen Sonnenschein und frische Morgen­ luft in das stille, dunkle Haus zu lasten. Dann war er rastlos den Gartenweg auf- und niedergegangen, unauf­ hörlich die Frage erwägend, die ihn schon in seinen Träumen beschäftigt hatte: „Warum war Helene zurückgekommen? Hoffentlich steckt doch nicht eine andre Frau dahinter?" dachte er, „aber nein, das halte ich für unmöglich; denn wenn Ward auch ein fürchterlicher Thor ist, bleibt er doch ein guter Mensch." Nach und nach wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt; Regen und Sturm hatten gestern Abend viel Unheil im Garten angerichtet: Der Rasenplatz war ganz besät mit Akazienblüten; die Kletterrosen lagen niedergestreckt am Boden, und die Ranken des wilden Weins und des Geiß­ blattes hingen geknickt oder schwankend, ihrer Stütze be­ raubt, in der Luft. Ueberall fand derHausherr aufzurichten und anzubinden; die Beschäftigung that ihm wohl, sein Gemüt beruhigte

264 sich; das Leben gewann wieder einen erfreulichen Anstrich in seinen Augen, und bald genug hatte er sich in die angenehme Ueberzeugung hineingedacht, daß Helenens Rück­ kehr wahrscheinlich einen ganz harmlosen Grund habe, wahrscheinlich auf einem Mißverständnis beruhe. So begrüßte er sie mit seinem gewohnten, freundlichen Lächeln: „Hast Du Dich gehörig ausgeruht, mein gutes Kind? Das ist Recht: Nun wollen wir ordentlich frühstücken und dann alles bestens besprechen." Aber trotz seiner Anstrengungen verlief das Mahl traurig und schweigsam. Helene war so sehr mit ihren eignen, schmerzlichen Gedanken beschäftigt, daß sie weder hörte noch sah, was um sie her vorging. Luisens Blicke irrten fragend vom Vater zur Cousine, ohne Antwort zu finden. „Komm Helene," sagte Onkel Archibald endlich, „wir wollen in mein Zimmer gehn;" während sie müde aufstand, wandte er sich an Luise: „Sollte jemand kommen, so sage nur, Helene hätte ihre Neisepläne gestern geändert und wollte noch ein paar Tage hier bleiben." „Nein," unterbrach ihn Helene, „sage ruhig die Wahr­ heit, Luise, ich bin zurückgekommen, um ganz in Ashurst zu bleiben." „Aber Kind," wendete Howe ein, der eben die Thür seines Studierzimmers abschloß, „das ist ganz unklug von Dir. Solche kleinen Mißverständnisse und Zwistigkeiten werden bald aufgeklärt und beigelegt; die Nächstbeteiligten pflegen auch bald darüber hinwegzukommen und das Vor­ gefallene zu vergessen; aber die Welt behält dergleichen; darum muß man ihr ja keinen Einblick gewähren." Helene hatte sich ihm gegenüber auf der andern Seite seines Schreibtisches niedergesetzt. Mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie Bücher und Papiere fort, stützte mit

265 dem Ellbogen ihr Haupt und sah ihrem Onkel ruhig ins Auge. „Du weißt nicht, was der ganzen Sache zu Grunde liegt," sprach sie ernst und traurig, „von einem Mißver­ ständnis ist nicht die Rede. Wie ich Dir gestern Abend schon sagte: Mein Mann hält es für das Richtigste, daß wir uns auf immer trennen, und wenn ich mich auf seinen Standpunkt stelle, muß ich ihm unbedingt Recht geben." „Aber Kind, was für ein Unsinn!" unterbrach der Prediger ihre Rede. „Wie kannst Du Dich plötzlich von Deinem Mann trennen wollen? Wahrscheinlich habt Ihr Euch, wie es allen Eheleuten zu gehn pflegt, gezankt und nun bildet sich Eure erhitzte Phantasie ein, es wäre alles aus. Das ist reiner Blödsinn; glaube mir, Deine Tante und ich, wir haben dergleichen oft genug erlebt und es immer wieder überwunden, freilich sind wir nie so un­ vorsichtig gewesen, es auszuposaunen. Ich hätte Dich auch für vernünftiger gehalten, weiß der Himmel!" Helene antwortete nicht. „Na also," fnhr er fort, „nun beichte nur los; Du weißt, Du kannst mir vertrauen; ich werde Deinem Mann dann die Sache schriftlich auseinandersetzen und alles wird sich zurechtziehn." Müde schüttelte sie das Haupt. „Du verstehst uns nicht, Onkel. Es ist unabänderlich wie der Tod. Wir können uns beide auf dem Punkt nicht ändern, wenn wir unsrer innersten Natur treu bleiben wollen. O wenn Du wüßtest, mit welcher Seelenangst ich einen Ausweg ge­ sucht habe." „Mein gutes Kind," rief Onkel Archibald ganz ge­ rührt über ihren Schmerz, „ich wollte ja nicht streng sein. Aber wirklich, die Sache hat eine schlimme Seite: Nicht die

266 Trennung von Deinem Mann, die wird nicht lange dauern; aber denke Dir das Geschwätz, das darüber entstehen wird. Es muß doch auffallen: Morgens bist Du abgereist, abends wiedergekommen, und wenn Du nun eine Entzweiung mit Ward zugiebst, wird ja die Sache noch schlimmer. Aber nun sage doch mir, was hat denn die Veranlaffnng ge­ geben?" „Ich will Dir die ganze Geschichte erzählen," versetzte Helene, „dann wirst Du selbst einsehn, daß ich keine Hoff­ nung mehr haben darf." „Nun?" fragte er. „Mein Mann ist schon lange bekümmert darüber," fing Helene an, „daß ich nicht an die ewige Verdammnis glaube. Er ist überzeugt, daß mein Seelenheil einzig und allein davon abhängt." Howe schüttelte ungläubig den Kopf. „Vor ein paar Wochen kam einer seiner Acltesten und behauptete, daß ich ketzerische Lehren in der Gemeinde verbreitete mir und andern Seelen zum ewigen Verderben, — ich hatte nämlich Frau Davis damit getröstet, daß ihr armer Mann gewiß nicht in der Hölle sei, — und er machte Johannes Vorwürfe, daß er mich und die Gemeinde vernachlässige, weil Jo­ hannes mir zu Liebe etwas milder gepredigt hatte; der Vorwurf hat meinen armen Mann furchtbar verletzt; er hat unbeschreiblich gelitten," ihre Stimme zitterte vor innerer Bewegung, „denn er empfindet es als eine schwere Schuld, daß er mich nicht zu seinem Glauben bringen kann." „Himmel!" schrie Howe, „sollte man glauben, daß wir im neunzehnten Jahrhundert leben?" . „Während ich bei Ench war," fuhr Helene fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, „hat der Gemeindekirchen-

267 rat beschlossen, mich öffentlich vorzuladen, mit mir zu ver­ fahren, wie sie's nennen. Johannes will mich dem nicht aussetzen; aber wenn er nur den Grund hätte, könnten wir ja Lockhaven verlassen und einen andern Wohnort wählen. Er wird von edleren Motiven geleitet: Meine Seele soll gerettet werden, um jeden Preis: Kein Mittel darf unversucht bleiben; alle anderen haben versagt: Beweis­ gründe, Ueberredung, Gebet, Liebe, Zärtlichkeit, nun wählt er als letztes: Leiden!" Mit Mühe vermochte der Prediger einen neuen Ausbrnch von Aerger und Ungeduld zurückzuhalten, um Helene­ ausreden zu hören: „Er liebt mich so unendlich, daß er mir dieses furcht­ bare Leiden auferlegt, nur um mich vor dem ewigen Verderben zu bewahren, und handelt er nicht richtig? Muß er nicht Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sein Ziel zu erreichen? Er glaubt unerschütterlich, daß die Lehre von der Verwerfung die Grundlage des Christenthums ist, und daß sie leugnen mir ewige Finsternis bedeutet. Da­ rum soll ich ihm fern bleiben, bis ich die Wahrheit ge­ funden habe." Als sie geendet hatte, brach ihr Onkel in einen Strom von Zornesworten aus: „Hatte man schon je so etwas ge­ hört! Ein Prediger, der seine Frau fortschickt, bloß, weil sie nicht ganz seine religiösen Ansichten teilt! Ist das nicht ein Zeichen von Verrücktheit!" Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und nieder, bei jedem Wort heftig mit den Händen fuchtelnd. Helenens traurige Augen folgten ihm: Vergeblich ver­ suchte sie ein Wort der Erklärung zu Gunsten ihres Gatten, ein Wort der Rechtfertigung, daß er nur von den lauter-

268 sten Motiven geleitet werde, einzuschalten, ihr Onkel wollte nichts hören: „Der Mann ist fürs Irrenhaus reif, das ist meine Ueberzeugung!" Helenens Lippen zuckten: „Sprich doch nicht so von ihm, Onkel Archibald," bat sie. „Erlaube, daß ich Dir seinen Brief vorlese, dann wirst Du ihn vielleicht ver­ stehen." „Bah!" schrie Howe noch immer in heftiger Erregung, „ich werde für solche Thorheiten niemals Verständnis haben, na, na laß nur sein, ich wollte nicht so böse werden; aber so was muß jeden vernünftigen Menschen reizen. Weiß der Himmel, eine so völlig verfahrne Geschichte! Aber wenn der Mann nun mal so starrköpfig ist, so andre Du doch Deine Ansichten, oder kehre zu Deinen alten zu­ rück, meine ich, ich weiß ja Diel, was Du Dir eigentlich für eine Theorie zusammengebaut hast." Helene, die eben Johannes' Brief auseinanderfaltete, lächelte flüchtig: „Ich soll meine Ansichten ändern, damit ich mich wieder mit ihm vereinigen kann? Glaubst Du, daß ich das fertig bekäme, daß es meinen Mann befrie­ digen würde? Lieber Onkel Archibald, glaubst Du an die ewige Verdammnis? Du betest zwar sonntäglich in der Liturgie, daß uns der Allmächtige davor bewahren möge, aber glaubst Du wörtlich daran?" „Das gehört nicht hierher, Helene," sagte Onkel Howe, die Stirn mnzelnd, „natürlich glaube ich, daß die Folgen der Sünde ewig sind." „Siehst Du, Du hast also auch Deine eigne Aus­ legung für den Begriff, und daran nimmt eben mein Mann Anstoß; er faßt es buchstäblich auf." „Nun denn also Helene," erwiderte der Onkel, sich

269 wieder in seinen Lehnstuhl setzend, „bleibt nichts übrig, als daß Du nachgiebst, — ohnehin die Sache der Frauen, — und Dir seine Auslegung aneignest." „Ich kann doch meinen Glauben nicht modeln wie ein Kleid," rief Helene, „höre nur, was Johannes schreibt, dann wirst Du einsehn, daß ich an der Wahrheit festhalten muß, gleichviel, wohin sie mich führt." Sie blickte auf die enggeschriebnen Zeilen nieder, die sie Wort für Wort auswendig wußte. Immer wieder hatte sie den Brief auf ihrer Fahrt nach Mercer gelesen; zuerst war es ihr selbstverständlich erschienen, einfach ihr gutes Recht in Anspruch zu nehmen, zu dem Geliebten zu eilen und dieses Gewebe blinder Un­ vernunft, übertriebner Gewissenhaftigkeit zu zerreißen. Aber als sie allein in dem kleinen Wartezimmer der Station saß, fiel ihr Satz für Satz zentnerschwer auf die Seele, und langsam dämmerte ihr die furchtbare Einsicht, daß sie nicht nach Lockhaven fahren dürfe. Brütend saß sie stundenlang in ihrer Ecke, mit einem letzten Entschlüsse ringend. Die Leute, die aus- und ein­ gingen, starrten die einsame Gestalt neugierig an; sie merkte es nicht und erwachte erst aus ihren Grübeleien, als eine mitleidige Seele ihr Rat und Hülfe anbot. Ab­ wehrend schüttelte sie den Kopf, stand auf und ging, wie von einem schweren Traum befangen in der Richtung nach Ashurst zu. Es fiel ihr nicht ein, daß sie einen Wagen nehmen könne; sie bemerkte nicht, daß es stürmte und regnete; vorwärts, nur vorwärts schritt sie gesenkten Hauptes, hei­ matlos, unglücklich, im Geiste Johannes Abschiedsworten lauschend. Wie ihr das alles einfiel, als sie jetzt den zerknitterten

270 Brief betrachtete: Ihre Herzenswunde fing von neuem an zu bluten. Sollte sie es wirklich vorlesen, das innerste Bekenntnis ihres Gatten? War es nicht eine Entweihung des Heiligtums, verständnislose Augen hineinschauen zu lassen? Nein, sie war es sich selbst, sie war es ihrem Mann schuldig. „Ich werde nicht alles lesen," sagte sie, „aber wenn Du es es auch nur teilweise hörst, wirst Du verstehn, daß keine Hoffnung auf Wiedervereinigung ist. Er erzählt mir erst, daß der Gemeindekirchenrat mich vorladen will, und daß der Aelteste Dean ihn wieder besucht und ihm die bittersten Vorwürfe über sein laues Verhalten gemacht habe. Hier fährt er fort: „Er beschuldigte mich Frieden und Versöhnung ge­ predigt zu haben, statt den Warnungsruf erschallen zu lassen, daß der unbekehrten Seele ewige Verdammnis droht. Er sagte, daß Davis, weil ich ihm nicht genug Angst vor der Hölle gemacht habe, in seinen Sünden gestorben sei. Ach Helene, er hat recht; ich habe gesündigt, habe Dich und meine treue Gemeinde vernachlässigt. — Als meine Aeltesten darauf bestanden, Dich öffentlich vorzuladen, um Dich zu überzeugen und durch die göttliche Gnade zu bekehren oder Dich zum Schweigen zu verur­ teilen, habe ich ihnen widersprochen. Deine Seele gehört mir; ich habe ein größeres Recht daran, als sie. Ich kann auch nicht glauben, daß ich damit eine Sünde beging, obgleich ich allerdings ein Heilsmittel unversucht ließ; aber ich konnte es nicht zugeben, daß sie über Dir zu Gericht sitzen sollten. Ich habe zwar nur noch wenig Vertrauen zu mir, der ich irdisches Glück höher gestellt habe als den Frieden Deiner unsterblichen Seele, aber trotzdem glaube ich dieses Mal im Recht zu sein. Gott gebe, daß es mir

271 gelinge, Dich durch ein andres Mittel zu retten: Daß ich mir selber damit das härteste Kreuz auferlege, weißt Du; aber ich traue auf Gott, der mir den Entschluß eingegeben hat, daß Er mir zum Erfolg helfen wird. ... Ach Helene, wenn ich Dich weniger liebte! Ich habe in den letzten Tagen, als der Gedanke langsam in meiner Seele reifte, oft gedacht, ich könnte diesen Kelch des Leidens nicht leeren: aber meine Liebe für Dich ist grenzenlos, und so opfre ich ihr mein ganzes Glück. Ich muß, ich werde Dich retten: Ich habe nicht vermocht Deine Seele meinem Glauben zu gewinnen; Beweisgründe, Ueberredungskunst konnten Dir das ewige Licht nicht erschließen; Freude und Frieden haben Dich nicht auf den richtigen Pfad geführt. Mein geliebtes Weib, eins bleibt mir noch übrig: Dir die Bürde des Leidens aufzulegen; ein gepeinigtes Gemüt wender sich zu Gott, sucht Trost in den ewigen Wahrheiten, so wird Deine Seele gerettet werden. Und was könnte Dich schwerer bedrücken, Dich nagender bekümmern, als das Bewußtsein, daß ich tief unglücklich bin? Und werde ich es nicht sein, wenn ich mein Liebstes von mir reiße? Aber es muß geschehn; zn lange habe ich in meiner Schwäche verharrt, jetzt will ich mich ermannen, tapfer und stark bleiben: Darum sei es ausgesprochen vor Gottes An­ gesicht, wie ein heiliger Eidschwur: Du sollst mich nicht Wiedersehn, ehe Du die Wahrheit gefunden hast. Mir ist es die gerechte Strafe für meine Sünde, Dir wird es eine bittre, aber, so Gott will, heilsame Arzenei sein, die Dich bewahren soll vor dem ewigen Tode. Gott hat mir die Kraft gegeben: Ich werde Dich retten; Er selber hat mir den Weg gewiesen. Bald, bald, wird Er die Binde von Deinen Augen nehmen, Dich erleuchten. O Helene, mein

272 geliebtes Weib, hilf mir stark sein, hilf mir diese schweren Tage oder Wochen des Wartens zu ertragen Ein große Gnade ist mir gewährt, ob ich gleich un­ wert bin jeglicher Gunst: Das bestimmte Bewußtsein, daß ich auf Dein volles Verständnis rechnen darf. Du begreifst, daß, so groß auch die Versuchung war, mit Dir in die Einsamkeit zu fliehen und im stillen für das Heil Deiner Seele zu arbeiten, ich doch ausharren muß hier auf dem mir von Gott verordneten Posten, umso mehr als ich meine Gemeinde um Deinetwillen vernachlässigt habe. Du be­ greifst auch, meine Helene, daß ich, der ich weiß, daß die Seligkeit allein vom rechten Gllauben abhängt, Dich zwingen muß, die Wahrheit zu suchen. Siehst Du, der Gedanke giebt mir Stärke, Dir so Schweres aufzubürden. Laß Dir die Trennung zum Heile gereichen: Bete um das Licht des göttlichen Geistes! Und wenn es Dir geworden, o Geliebte, der Gedanke daran ist überwältigende Seligkeit! Ich schreibe Dir nicht wieder, trage Deine Bürde in der Einsamkeit und Stille und lausche der Stimme Gottes." Helene las nicht weiter; aber ihre Augen veschlangen die letzten Zeilen des Briefes, in denen er noch einmal die ganze Fülle seiner Liebe ausgeschüttet hatte; ein glück­ liches Lächeln huschte über ihr Gesicht; sie empfand jedes Wort wie Balsam. Seufzend riß sie sich los, um der schweren Aufgabe des Tages ins Angesicht zu sehen.

Siebenundzwanzigstes Kapitel. Howes Entrüstung über die Sache war durch den Brief keineswegs gemildert. Ein Zug stiller Verachtung

273 über ein so „verworrnes Streben" zuckte um seine Lippen, als er zu reden begann: „Du siehst also, daß er auch auf eine Wiedervereinigung rechnet, daß also Deine Idee einer definitiven Trennung vollkommner Unsinn ist, wie ich Dir schon im Anfang sagte. Meiner Ansicht nach ist also das Vernünftigste, was Dir zu thun bleibt, sofort nach LockHaven zu fahren und ihm zu sagen, daß Du Deine An­ sichten nicht ändern kannst, (obgleich eine kleine Concession ja sehr viel besser wäre, liebes Kind), und ihm zu be­ deuten, daß ein solches Experiment, wie er es vor hat, der reinste, der reinste" ... Prediger Howes Antlitz wurde purpurrot; er konnte einen genügend kräftigen Ausdruck nicht finden. „Lieber Onkel," antwortete traurig Helene, ohne den Vorschlag einer Concession zu beachten, „glaubst Du denn nicht, oaß iü) Johannes immer wieder auseinanbcrgefitzt habe, der Glaube an die Hölle widerstrebe meiner ganzen Seele? Und was meine Heimkehr betrifft, — Du kennst Johannes nicht, — wohl hält auch er an der Möglichkeit fest; aber doch nur, weil er überzeugt ist, Gott habe ihm diesen Plan eingegeben, um mich zu dem rechten Glauben zu führen. Das wird nie geschehn, und in Johannes Augen wird es eine Sünde sein, mich heimkommen zu lassen, ehe die Grundbedingung erfüllt ist. Ich muß ihm ewig fern bleiben: O Gott, daß es doch gleich von allen richtig verstanden würde, daß ich keine Hoffnung mehr haben kann!" Howe stand wieder auf und ging ungeduldig, augen­ scheinlich einen Schwall heftiger Worte hinunterwürgend, umher. Endlich trat er wieder zu ihr und fing an in ruhiger Weise ihr zuzureden. In dem Grade, als er sich auf die 2channcZ Ward. 18

274 einzelnen Punkte einließ, wurde er von neuem heftig, er beschwor, er bedrohte seine Nichte, nach Lockhaven zurückzu­ kehren. Sie hatte nur eine müde, abwehrende Bewegung und gab als Antwort zurück: „Lieber Onkel, soll ich erklären, warum ich wieder da bin, oder willst Du es Dir vorbehalten?" „Was fällt Dir ein, Helene?" rief der Prediger, „cs soll überhaupt nicht herumkommen." „Und doch sehe ich keinen andern Weg, um von vomherein Klatschereien zu vermeiden, als einfach die Wahr­ heit zu sagen," antwortete Helene ruhig. Howe sank in seinen Stuhl zurück, sprachlos vor Aerger. „Ich kann mir denken, daß es Dir peinlich sein muß, darüber zu sprechen," nahm Helene von neuem das Wort, „darum überlaste es mir, lieber Onkel." „Unter keinen Umständen erlaube ich, daß davon ge­ sprochen wird!" rief er mit Nachdruck. „Meinetwegen laß die Leute sich darüber den Kopf zerbrechen, warum Du für eine oder zwei Wochen wieder hier bist, länger wird's ohnehin nicht dauern; aber mit Deinen alber­ nen Auseinandersetzungen bleib' ja zu Hause, hörst Du Helene?" Sie sah ihn mit ihren großen, ruhigen Augen fest an: „Und Tante Adele?" Er fuhr zusammen: „Freilich, ja ... die dürfen wir nicht übergehn, . . . vielleicht hilft uns ihr gesunder Menschenverstand aus der ganzen Geschichte" ... „Ich möchte auch, daß es Luise erfährt," fuhr He­ lene fort. „Ja, es wird wohl nichts übrig bleiben," nickte der Onkel, „obgleich" ...

275 „Mir liegt sehr viel daran, daß sie von meinem Mann Gutes denkt," bemerkte die junge Frau. Howe blickte sie mit einem Ausdruck an, der seine völlige Verzweiflung bekundete. Jetzt gab er es auf die Thörin zu bekehren. — Aber obgleich er nun wohl oder übel mit dem Um­ stand rechnen mußte, die Nichte bei sich zu wissen, ver­ schob er doch den Besuch bei seiner Schwester von Stunde zu Stunde, immer in der stillen Hoffnung, es möchte sich etwas ereignen, die Sachlage trostreicher zu gestalten. Aber der Tag verging ganz still; als einziges Ereignis brachte er einen Bries von Johannes, in dem dieser dem Onkel seinen Standpunkt auseinandersetzte und erhärtete. So machte sich denn Prediger Howe am andern Vormit­ tag auf, seine Schwester von der unangenehmen Angelegenheit in Kenntnis zu setzen. Er fand sie in ihrem kühlen Eß­ zimmer, beschäftigt aus weißem Papier runde Deckel für ihre Einmachegläfer zurechtzuschneiden. „Ist es wahr, daß Helene zurückgekommen ist?" rief sie dem Eintretenden entgegen. Er nickte ärgerlich mit dem Kopf. Hatte also doch die dumme Gans, die Sally geschwatzt, obgleich ihr tiefstes Schweigen auferlegt war. „Ja, sie ist wieder da," antwortete er in einem so bekümmerten Ton, daß Frau Dale ganz erstaunt von ihrer Arbeit aufsah. „Was giebt's eigentlich Archibald?" So mußte er schon die ganze Geschichte erzählen; ein tiefes Schweigen entstand, als er geendet hatte. Endlich sagte Frau Dale, indem sie aufstand und nervös ihre schwarzseidne Schürze ausschüttelte: „Komm ins Wohn­ zimmer, Archibald!" Er folgte ihr in unangenehmer Spannung: Obgleich 18*

276 er sich das Zeugnis ausstellen mußte, die ganze alberne Geschichte durchaus kräftig und streng behandelt zu haben, wußte er doch, daß seine energische Schwester ihm die bit­ tersten Vorwürfe machen würde.

Frau Dale setzte sich; er schritt unruhig auf und ab:

„Ist es nicht sehr betrübend?" fing er an. „Betrübend!" rief Frau Dale aufgeregt; „empörend willst Du sagen! Was wird das für ein Geklatsch werden, wenn Draytons und Deborah Woodhouse es erfahren. Du mußt der Sache sogleich ein Ende machen!" „Das ist leicht gesagt," bemerkte Howe.

„Und leicht gethan, wenn in Deiner Familie noch ein Funken Verstand lebt, schicke Deine Nichte sofort" ....

„Sie ist Deine Nichte ebenso gut," schaltete Howe ein, aber seine Schwester hörte nicht, „zu ihrem Mann zurück.

Das hätte schon gestern früh geschehen müssen. Jetzt weiß doch gewiß schon ganz Ashurst um die Sache." „Du vergißt nur, daß er sie nicht zurückkommen lassen

will; Du kannst seine Ansichten nicht dadurch ändern, daß Du Helene zurückschickst."

„Aber was geht es sie denn an, was er für Ansichten hat?" fragte Frau Dale. „Er ist es ja, der Anstoß an den ihrigen nimmt," ver­ setzte Prediger Howe niedergeschlagen. Je mehr er mit seiner Schwester über die ganze Sache sprach, um so hoffnungsloser erschien sie ihm.

„Nun gut; dann muß sich eben Helene zu andern Ansichten bequemen," versetzte Frau Dale mit großer Be­ stimmtheit. „Es ist auch ganz überflüssig, daß sie einen eignen Standpunkt einnehmen will. Sagt nicht schon Paulus, daß eine Frau sich nach ihrem Mann zu richten hat? Es muß einer nur Helenen kräftig ins Gewissen reden!"

277 „Nun viel Erfolg!" bemerkte der Geistliche mit leiser Ironie. „Ich werde es schon fertig kriegen," versicherte Fran Dale. „Ich glaube kaum Adele," erwiderte Howe, „Du kennst Helene, sie wird nie anders reden, als denken." Beide Geschwister schwiegen. „Es muß aber Wandel geschaffen werden, denke doch die Schmach für unsre Familie Archibald!" nahm Frau Date von neuem das Wort. „Glaubst Du, daß ich das nicht ebenso lebhaft em­ pfinde, wie Du?" fragte der Bruder zurück. „Helene muß gehn," fuhr Frau Dale fort, „ob sie an die Hölle glaubt oder nicht; Du mußt es ihrem Mann beibringen!" Howe schüttelte seufzend den Kops. „Es wird garnichts nutzen, daß ich nach Lockhaven fahre; er ist so eigensinnig und hartnäckig, daß alles an ihm abprallt: das ging schon aus seinem Brief an Helene herror. Er leidet selber unter der Trennung, weiß auch, wie furchtbar schwer es für sie ist, fernzubleiben und trotz­ dem hält er daran fest. Wie kann ich da auf Verständnis und Entgegenkommen rechnen? Er wartet eben bis sie sich bekchrt hat und wenn darüber ihr ganzes Leben hin­ gehr sollte." „Es ist auch zu thöricht von Helene, nicht an die Hole zu glauben!" rief Frau Dale. „Es steht doch im Katechismus, also muß sie es glauben. Ich werde ihr gründlich meine Meinung sagen. Du mußt so bald wie möglich nach Lockhaven fahren und diesen Ward versichern, daß wir sie hcrumbekommen würden. Ucbrigens scheint er mir eine sehr untergeordnete Persönlichkeit zu sein; aber

278 habe ich nicht immer prophezeiht, daß wir nur Unannehm­ lichkeiten von der Heirat haben würden?" fügte sie triumphierend hinzu. Howe hatte nichts mehr zu sagen; Schwester Adele konnte ihm dieses Mal auch nicht helfen; deshalb stand er auf, um sich zu verabschieden. „Auf morgen Adele," sagte er, ihr die Hand reichend, „wenn Du Helene besuchen willst, wird es mir lieb sein. — Wenn ich auf meinen gestrigen Brief an Ward Antwort habe, werde ich einen Entschluß fassen, ob ich nach Lockhaven gehn soll oder nicht." In dem Augenblick trat Dale ins Zimmer: „Es war mir doch, als wenn ich Deine Stimme hörte," sagte er zu seinem Schwager, „möchtest Du nicht noch einen Augenblick in mein Zimmer kommen, eine Pfeife zu rauchen?" Mit einem Blick der Entschuldi­ gung streifte er seine Frau, „ich hätte gerne mit Dir über Denners Bücher gesprochen." Ehe Howe noch antworten konnte, war Frau Dale schon in vollem Flusse ihrem Mann die soeben gehörte „Skandalgeschichte" zu erzählen. „Denke Dir, welche Schmach ein getrenntes Ehepaar in unsrer Familie!" schloß sie ihre Erzählung in höchster Aufregung. „Nicht wahr, eine recht üble Angelegenheit, Heinrich? fragte Howe. „Leider Gottes muß ich das auch zugeben," nickte der der alte Mann, „aber welche Fülle der Liebe in den beiden!" „Liebe?" riefen die Geschwister. „Ja," antwortete Dale langsam, „man hat fast die Empfindung, als dürfe man garnicht darüber reden: Das Land, da Du stehest, ist heiliges Land!" „Heinrich, nichts ist schlimmer, als wenn ein Greis

279 kindisch wird!" tadelte ihn seine Frau, während Howe, er­ leichtert hier einer mildern Auffassung zu begegnen, freund­ lich sagte: „Das werde ich Helenen bestellen, das arme Kind wird sich darüber freuen!" „Du wirst das unter keinen Umständen thun," wider­ sprach Frau Dale, „sollen wir sie womöglich noch in ihren überschwenglichen Ideen bestärken? Nein, sie soll fühlen, daß ihrer beider Betragen eine Schmach für die ganze Familie ist. Liebe! Weiß Gott eine wunderliche Art der Liebe, das muß ich gestehn, mir jedenfalls völlig unver­ ständlich!" „Das glaube ich wohl," antwortete milde ihr Mann, „aber ich wünschte, es wäre anders." Als Helene von Prediger Howes beabsichtigter Reise nach Lockhaven hörte, versuchte sie ihm den Plan anszuredcu. Sie häUc ihrem Gatten so gern eine heftige Scene mit ihrem Onkel erspart, zumal sie im Voraus wußte, daß Howe nichts erreichen würde. Als sie ihn aber mit aller Entschiedenheit für den Gedanken eintreten hörte, schwieg sie: Sie verstand es, daß ihre Famile keinen Schritt unversucht lassen wollte, ihr dieHeimkehr zu ihrem Gatten zu ermöglichen. Inzwischen warteten alle in bebender Spannung auf Wards letzte Antwort. Helene hatte ihm auch geschrieben, ihm ihre eigne Hoffnungslosigkeit, ihren tiefen Schmerz offenbart, dabei aber ihr volles Verständnis für sein Benehmen bekundet. „Ich ahne es, Geliebter, von mir selber schließend, wie elend, wie einsam Du sein mußt. Aber ich sehe keinen Hoffnungsstrahl, es sei denn, daß Du Dich frei machst von den Fesseln Deines Glaubens. So lange das aber nicht der Fall ist, verstehe ich es, daß Du so handeln mußt." —

280 Diese Tage bangen Wartens wurden ihr unendlich schwer: Sie fühlte sich von ihrem Onkel verurteilt, von ihrer Cousine, auf deren volle Sympathie sie gebaut hatte, mißverstanden. Es war ihr sauer genug geworden, dem jungen Mädchen die ganze Geschichte zu erzählen, aber es lag ihr soviel daran, Johannes' Thun im rechten Lichte erscheinen zu lassen; allein schon während sie sprach, em­ pfand sie deutlich, daß Luise nur Worte der Verurteilung für ihn haben werde, fund gerüstet, ihn bei dem ersten Wort der Anklage zu verteidigen, hörte sie Luisens Aus­ bruch der Teilnahme in fast gereizter Stimmung mit an: „Du Aermste!" rief das junge, lebhafte Mädchen, unter strömenden Thränen Helene umarmend, „wie entsetzlich schwer für Dich! Warum gehst Du nicht zurück; ich könnte es hier nicht aushalten, ich müßte nach Lockhaven." „Nicht, wenn Du Johannes lieb hättest!" sagte die junge Frau sanft. „Aber Helene," flüsterte Luise, in das ruhige Antlitz ihrer Freundin blickend, „empfindest Du denn sein Be­ nehmen nicht als eine furchtbare Grausamkeit, die Du ihm nie verzeihen kannst?" „Ich habe nichts zu verzeihen, Luise, ich wünsche, Du verständest es. Begreifst Du denn nicht, daß Johannes garnicht anders handeln kann. Im Gegenteil, wie könnte ich ihn so heiß lieben, wenn er weniger wahrhaftig wäre, weniger an seinen heiligsten Ueberzeugungen hinge?" Luise saß auf dem Teppich, die Hände um die Kniee gelegt: „Nein!" rief sie heftig, „seine Ueberzeugungen kann ich nicht beurteilen; das aber kann ich beurteilen, daß er Dich grenzenlos peinigt ganz ohne Zweck; ich werde es ihm nie vergeben, daß er Dich so unglücklich macht!" „Aber Luise," antwortete Helene noch immer von der

281 stillen Hoffnung befangen, Luise zu überzeugen, „sein ganzes Thun beruht ja nur auf seiner großen Liebe zu mir; Liebe ist einzig und allein seine Triebfeder!" Luisens Wangen erglühten vor Unwillen: „In meinen Augen ist es nur grausam, furchtbar grausam!" Helene sah sie einen Augenblick ruhig an und sprach dann geduldig weiter: „Du mußt auf das Motiv einer Handlungsweise sehn, ehe Du sie verurteilst. Und siehst Du denn nicht, daß alles, was er thut, nur aus Liebe zu mir entspringt: Wenn er mich weniger liebte, würde er nicht so handeln!" „Nun bei Gott!" rief heftig Luise, indem sie auf­ sprang, „dann wünschte ich, daß er Dich weniger liebte. Es nutzt nichts, daß Du ihn verteidigen willst; er ist ein grausamer Fanatiker!" Sie sah nicht, welche Leidenschaft plötzlich in den Augen der jungen Frau aufblitzte, sondern fuhr unbe­ kümmert in steigender Entrüstung fort: „Er rühmt sich ja förmlich, daß er die Kraft besitzt, Dich so elend zu machen, — Du hast es mir selbst vor­ gelesen, — nein er ist ein schlechter Mensch, ich bin froh, daß Du von ihm fort bist!" Sie hätte wohl noch mehr gesagt; aber Helene war auf sie zugestürzt, hatte sie heftig am Arm gepackt und ihre zitternden Finger auf Luisens Lippen gepreßt: „Schweig!" sprach sie mit verhaltner Leidenschaft, „wage niemals wieder solche Worte zu sagen, wenn Du mich nicht für immer aus diesem Hause treiben willst. Wenn Du nicht im Stande bist, meines Gatten edle Gesinnung zu würdigen, so schweige wenigstens." Luise machte sich los und starrte sie an: „Ich wollte Dich ja nicht kränken," stotterte sie, „ich meinte nur, daß er" ...

282 „Sprich nicht von ihm!" befahl Helene, die noch immer vor Aerger und Zorn am ganzen Leibe zitterte: „Ich will nicht hören, was Du von ihm denkst! Ach Luise, ich hoffte, Du wenigstens," ... sie wandte sich ab und verbarg ihr Antlitz in den Händen, ein Bild hoffnungs­ loser Verzweiflung. Nach einigen Augenblicken hatte sie ihre Fassung wieder erlangt; ruhiger fuhr sie fort: „Ich verstehe ja, daß es Deine Liebe für mich ist, die Dich ihm gegenüber so ungerecht macht, ... aber ich kann es nicht mit anhören, wenn Du so über ihn sprichst.. .. Also bitte nie wieder; laß mich stille Teilnahme genießen!" Luise verließ schweigend das Zimmer; das Herz voll heißer Liebe für die Cousine, voll glühenden Hasses gegen den Mann, der zwischen ihnen stand. Draußen traf sie Gifford, und ohne an des Vaters Verbot zu denken, rief sie ihm noch zitternd vor innerer Erregung entgegen: „Weißt Dn schon Gifford, daß der Mann, der Johannes Ward, Helene nicht mehr haben will? Daß sie wieder für immer bei uns bleiben soll?" Gifford stand sprachlos vor Erstannen. „So ist es wirklich," rief Luise mit überfließenden Augen, „er ist ein grausamer, schlechter Mensch Giff, und Helene hält mich dafür, nur weil ich es ausgesprochen habe." Luisens Leidenschaftlichkeit rief Giffords ganze Be­ sonnenheit und überlegne Ruhe wach: „Was meinst Du eigentlich? ich begreife nicht? ..." „Wie solltest Du auch!" rief Luise, „kein Mensch würde so etwas für möglich halten." Und in abgerissnen Sätzen erzählte sie die Begebenheiten der beiden letzten Tage. „O wie ich diesen Mann hasse!" schloß sie, ihre Hände

283 in Heller Entrüstung ballend. „Findest Du es nicht ent­ setzlich, Gifford?" „Der arme Mensch," erwiderte der junge Rechtsan­ walt tief bewegt, „er thut mir namenlos leid. Für ihn ist es noch viel schwerer, als für Helene!" „Wie so?" rief Luise, „übrigens wünschte ich von ganzem Herzen, es wäre wie Du sagst." „Wie ich ihn kenne, wird er nicht nachgeben," fuhr Gifford langsam fort: „Was er für richtig erkannt hat, daran wird er mit allen Fasern seines Herzens festhalten und sollte er darüber zu Grunde gehn." „Mir sollte cs recht fein! Die arme Helene; er bildet sich sogar ein, sie zu lieben, eine wunderliche Art Liebe, das muß ich sagen?" „O Luise," versicherte Gifford lebhaft, „es ist die höchste Liebe, die man sich vor stellen kann, der wahre Maßstab für Wards edlen Charakter." „Ich begreife nicht Gifford," wandte Luise ein, „daß Du nicht zugeben willst, daß Ward ein Mann mit ganz beschränkten Ansichten ist. Wer glaubt denn jetzt noch an die Hölle in dem Sinne, wie er es thut? Kein Mensch!" „Das will ich nicht sagen," meinte Gifford ernsthaft, „eine Masse Leute haben denselben Glauben, aber nicht den Mut im Leben dafür einzutreten." „Für mich bleibt er ein schlechter Mensch!" rief Luise, ohne auf seine Auseinandersetzung zu achten. Gifford schüttelte den Kopf: „Nein Luise, es ist wirklich unrecht, das zu sagen. Vergiß nicht, daß seine Glaubensanschauung, so unreif und unverdaulich sie uns erscheinen mag, nur die Hülle für einen guten Kern bildet, für die Wahrheit, daß die Folgen der Sünden ewige sind, daß niemand seinem Charakter entfliehen kann."

284 „Das ist mir nicht neu," versetzte sie unwillig, „aber das ist doch keine theologische Ansicht, dabei kann der liebe Gott aus dem Spiel bleiben." „Wehe uns, wenn wir Ihn nicht dabei haben!" ver­ setzte der junge Mann ernst. „Gott ist in allen Lebens­ äußerungen Luise, wenn wir ihn uns auch nicht so klein­ lich und menschlich vorzustellen brauchen, wie es Johannes thut; ich meine immer, daß in jedem Menschen ein Gottes­ gedanke lebt, der in dem Grade zum Ausdruck kommt, wie wir uns beeifern, Seinen Geboten nachzufolgen." Zu einer andern Zeit wäre Luise wohl geneigt ge­ wesen, auf seine Betrachtungen einzugehn; heute aber machte ihre Erregung sie taub für jede mildre Ansfaffung. „Ich bleibe dabei, er hat grausam gehandelt und es ist unrecht von Helene, sich dieser Einsicht zu verschließen und mir ein wahres Wort übelzunehmen." Gifford zögerte. „Wie durfte sie Dich über ihren Mann Böses reden lassen? Sie liebt ihn doch so sehr." Das junge Mädchen warf den Kops zurück: „Meinst Du, daß ich zu viel gesagt habe Gifford? Es kommt mir vor, als wärst Du nur halb auf Helenens Seite, wirklich ich hätte Dich nicht für so hart gehalten." „Ich meine, daß Du nicht ganz liebevoll gegen He­ lene gewesen bist," antwortete er langsam. „Mit einem Wort, Du giebst mir Unrecht?" „Ja Luise," gab er zögernd zu. Mit Schmerz be­ merkte er, daß sie sich verletzt abwandte: „Ich weiß schon," sagte sie leise schluchzend, „Dir werde ich es nie recht machen; Du hast immer etwas an mir auszusetzen. Keiner kann trauriger sein über seine vielen Fehler, als ich es bin, aber daß Du sogar behaupten kannst, ich hätte Helene nicht lieb. .. ."

285 „Aber Luise," fiel er hastig ein, „das habe ich ja garnicht gesagt. Du hast mich gefragt, und ich konnte Dir doch nicht mit einer Unwahrheit begegnen." „Natürlich nicht," sagte sie leichthin, „ich wußte gar nicht, daß Du mich mit so viel freundschaftlicher Rücksicht zu behandeln Pflegst; übrigens kannst Du mein Verhältnis zu Helene doch nicht vollkommen beurteilen: Wir stehen so, daß wir uns alles sagen können; sie hat mich gewiß auch richtig verstanden, Du freilich beurteilst mich immer falsch." „Ja," antwortete Gissord, verletzt über ihre Worte, „ich scheine es niemals bei Dir zu treffen; aber Du solltest doch wissen Luise, daß Du trotzdem in meinen Augen das beste Mädchen auf Gottes Erdboden bist." „Dann hast Du ja eine sehr geringe Meinung von meinem Geschlecht!" lief Luise aus, indem sie das Zimmer verließ. Die Thränen waren ihr näher, als sie gestehen mochte, und sie war froh, sich unbemerkt auf ihr Stübchen schleichen zu können. Aber inmitten ihres Schmerzes stahl sich ein Lächeln über ihr Antlitz: „Ich bin in seinen Augen das beste Mädchen auf Gottes Erdboden," flüsterten ihre Lippen, um gleich darauf hinzuzufügen: „Wie schlecht von mir: Onkel Denner ist tot, Helene so unglücklich und Richard Forsythe noch immer frei: Wie kann ich mich über irgend etwas freuen?"

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die Nachricht, daß Helene Ward nach Giffords Mit­ teilung noch ein paar Tage länger bei ihren Verwandten

286 bleiben werde, wurde von seinen beiden Tanten ohne großes Interesse ausgenommen. „Merkwürdig, daß sie sich so lange von ihrem Mann trennen kann," bemerkte Fräulein Ruth. »Ich sage ja immer, Leute in dem Alter Pflegen wankelmütig zu sein," meinte achselzuckend die ältere Schwester. Damit war die Sache für sie abgethan: Ihnen lagen augenblicklich viel persönlichre Dinge am Herzen: Beide Schwestern fühlten sich von einem Gefühl wehmütigen Glückes erhoben; jede aber nahm diese Empfindung als ihr eigenstes Recht für sich in Anspruch und war erstaunt, ja sogar gereizt, der Schwester auf demselben Wege zu be­ gegnen. Das zarte Geständnis, welches Ruth in der Er­ innerung an Denners letzten Blick und Händedruck in einer vertrauensseligen Stimmung oblegen wollte, wurde zurück­ gedrängt durch Aeußerungen Deborahs über das Miniatur­ bildchen der kleinen Schwester, das als Gabe so „viel­ sagend" gewesen. Und Deborahs ursprünglich so freundlich gedachte Aufforderung, die Schwester möge sie doch zu Denners Grabe begleiten, bekam einen kühlen Anstrich, als sie bemerkte, daß Ruth bereits zu demselben Gange gerüstet war, ja sogar einen Kranz gewunden hatte. Schweigend betraten die beiden kleinen Gestalten neben einander, den Blick in schmerzlicher Erinnerung zu Boden gesenkt, den stillen Friedhof, der, hoch gelegen, einen schönen Blick in das fruchtbare Thal gewährte. Nachdem sie eine paar Minuten am Grabe ihrer längst Heimgegangenen Eltern geweilt hatten, wandten sie sich nach der andern Seite: „Es ist dicht neben Howes Erbbegräbnis," flüsterte Ruth, „oben unter dem Lärchenbaum." Denners Grab sah öde und traurig aus; die Kränze und Blumen, welche freund­ liche Hände am Begräbnistage, darüber ausgestreut hatten.

287 ruhten verwelkt und farblos auf dem frischen Hügel, über den der Epheu noch nicht seinen grünen Schleier gesenkt hatte. Es machte Ruth Freude unter Thränen das Grab mit ihren Blumen zu schmücken, während Deborah feierlich und ernst eine Rose auf dem eingesunknen Hügel nieder­ legte, unter dem Denners kleine Schwester nun schon vier­ zig Jahre lang schlummerte. Als sie sich zum Gehen wandten, legte Deborah plötzlich ihre Hand auf Ruths Arm: „Sieh nur, wer ist das da an Marie Jeffreys Grab?" Eine Gestalt lag halb hingestreckt neben dem Grabe, Kopf und Arm an das kleine Marmorkreuz, das zu Häupten stand, geschmiegt. „Ich glaube, es ist Helene," versetzte Ruth besorgt: „Wie kann sie so unvorsichtig sein!" Sie traten naher; es war wirklich Helene Ward, die in krampfhaftem Weinen hier verharrte. „Aber mein Kind," fragte Tante Deborah ganz ent­ setzt: „Was ist geschehn?" Die junge Frau fuhr heftig zusammen, blickte auf, wischte die Thränen ab und sagte mit mühsam unterdrück­ tem Schluchzen: „Ich, ich wußte nicht, daß jemand hier war." „Wir wollten gerade gehn," erwiderte Ruth in liebe­ vollem Ton, „aber wir sind betrübt, Dich hier so traurig zu sehen?" Ruth schloß mit einer Frage; denn es war selbst für die pietätvollen Gemüter Ashursts unwahrscheinlich, daß Helene um eine Mutter traure, die sie nie gekannt hatte. „Danke," sagte Helene, die noch immer mit ihren Thränen kämpfte, „Sie sind sehr freundlich Fräulein Ruth, ich habe Kummer .... und ging hierher."

288 Nach einigen freundlichen Worten über die junge Mutter, die bei Helenens Geburt zur ewigen Ruhe gegan­ gen war, trippelten die beiden Damen fort, lebhaft beun­ ruhigt über Helenens Zustand. Die junge Frau vermochte sich noch nicht von der Stätte des Friedens zu trennen: Es war ihr, als ge­ währten ihr die Verstorbnen, zu denen sie sich in ihrem bittren Schmerz geflüchtet, mehr Sympathie und Verständnis als die Lebenden. Luise hatte seit jenem Gespräch kaum wieder zu ihr zu reden gewagt, und ihres Onkels Schweig­ samkeit lag wie ein Alp auf dem ganzen Hause. Vor einer. Stunde war er aus Lockhaven zurückgekommen: Verstimmter, verschlossner denn je, hatte er ihr hungerndes Herz mit wenigen, knappen Mitteilungen abgespeist. O wie gerne hätte sie jedes einzelne Wort des Gespräches sich wieder­ holen lassen: Aber keine Bitte, keine Frage kam über ihre Lippen; sie kannte ihren Onkel genügend; sein ganzes Wesen war ein Ausdruck tiefster Entrüstung. Er war früh mit dem ersten Zug gefahren, hatte aber im Pfarrhause nur Alfaretta getroffen, deren Gesicht sich bei seinem Namen auf­ hellte: „Sie sind ihr Onkel," rief sie erfreut, „wann kommt sie zurück? Es fehlt ihr doch nichts?" setzte sie beunruhigt hinzu, als Prediger Howe keine ihrer Fragen beantwortete. „Nein, nein mein Kind," erwiderte er ungeduldig, „kann ich den Herrn Pastor sprechen?" „Er ist ausgegangen," antwortete das Mädchen kühl, sie war es nicht gewohnt, sich „mein Kind" nennen zu lassen. „Wenn Sie warten wollen, bitte sehr!" und sie öffnete die Thür des Studierzimmers; aber ihre Liebe für Helene überwand ihre Empfindlichkeit: „Kömmt sie nicht bald wieder?" fragte sie noch einmal, als Prediger Howe an ihr vorüberschritt.

289 Er antwortete nicht, sondern murmelte ärgerlich: „Un­ ausstehliche Person!" Dos Zimmer schien ihm unbehaglich und freudlos, aus dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagner Band von Edwards Predigten; daneben stand in einer Vase eine einzelne verwelkte Rose. O welche pathetische Geschichte glühendster Liebe, tiefsten Leides hätte sie zu er­ zählen gewußt. Zweifelhaft freilich, ob Howes Herz davon berührt worden wäre. Seine ärgerliche, gereizte Stimmung wuchs von Augen­ blick zu Augenblick, und die polemischen Worte Edwards die ihm so sinnverwirrend dünkten, trugen das Ihrige bei, ihn mit gründlicher Verachtung gegen Ward zu erfüllen. Er schob das Buch mit einer so heftigen Bewegung bei Seite, daß es polternd auf die Erde fiel. Darüber hatte er nicht gehört, daß die Thür hinter ihm geöffnet worden war. Da stand ih.n der Mann gegenüber, mit dem er sich in den letzten so viel beschäftigt hatte. Howe erschrak über seine völlig veränderte Erscheinung: Dieses Antlitz wußte von schweren, innern Kämpfen zu erzählen; die Augen leuchteten in einem fast unheimlichen Feuer; die Wangen waren bleich und eingefallen; um die Lippen spielte ein Zug schmerzlichster Resignation; dennoch zeigte seine ganze Haltung etwas Siegesfrohes, Zuversichtliches. Er hatte überwunden, Gott würde weiter helfen. In jener Juninacht, da er voll tiefster Verzweiflung auf den Knien für Helenens Seele gebetet hatte, war ihm der Versucher mit lockenden Bildern nahe getreten: Warum in Lockhaven bleiben, konnte er nicht an einem andern Ort neue Zelte bauen, sich neue Ausgaben suchen, sich seines Glückes, seiner Liebe freuen? War es nicht heilige Pflicht, seines Weibes Seele zu überwachen? Stand sie ihm nicht näher, als seine Gemeinde? Aber wie sich auch die Ver3c

nncv JZ.ud.

19

290 suchung an sein Herz krallte, er widerstand. Die dämmernde Morgenröte fand ihn noch auf den Knien, das Antlitz in den Händen vergraben vor Gottes Angesicht hingestreckt; aber Ruhe und Frieden waren über ihn gekommen. Gott hatte sein Gebet erhört, ihm den Weg gezeigt, um Helene zu retten. Wohl war er sich des furchtbaren Martyriums bewußt, das er der Geliebten, das er sich selber auferlegte; aber er hatte willig den Nacken gebeugt, das Kreuz zu tragen: Gott, ich danke Dir, daß Du mir so viel Kraft und Liebe geschenkt hast, ihre unsterbliche Seele zu retten! — Aus der Ueberzeugung heraus, ein Werkzeug in Gottes Händen zu sein, hatte Johannes dann jene flehenden Briefe an seine Frau gerichtet, die sie einen nach dem andern in dem gleichen, ruhig ablehnenden Ton beantwortete. So mußte er denn zu dem letzten Mittel greifen, ihr den Ent­ schluß der Trennung mitteilen. Mehr als eine Thräne fiel auf das weiße Papier; aber seine Hand blieb stetig: Gottes Wille mußte geschehn. Seitdem wartete Ward Tag für Tag in stiller Geduld, daß Gott sich Helene offenbaren werde, und als er Prediger Howe vor sich sah, schoß ihm einen Augenblick die Hoffnung durch den Sinn, daß er der Ueberbringer einer frohen Kunde sein könne. Freilich belehrte ihn ein Blick in Howes sorgenvolles Antlitz, daß seine Hoffnung eine ver­ frühte gewesen. „Guten Tag, verehrter Onkel, ich freue mich, Sie zu sehn," sagte er etwas hastig, dem Gaste seine abgezehrte Hand bietend: Aber Howe ergriff sie nicht, sondern sagte steif und förmlich: „Ich kann Ihnen die Hand nicht eher reichen, als bis ich Ihnen mitgeteilt habe, in welchem Sinne ich komme."

291

„Doch jedenfalls um Helenens willen?" „Ja wohl, um Helenens willen, d. h. um Sie zur Rechenschaft zu ziehn, daß Sie meine arme Nichte so herz­ los, so grausam behandelt haben." Er vergaß ganz, daß er einen theologischen Disput hatte ausfechten wollen. „Bitte, was haben Sie für Gründe gehabt, so zu han­ deln?" „Ich will Helenens Seele retten," versicherte Johannes sanft aber bestimmt. Howe zuckte die Achseln. „Helenens Seele?" rief er. „Ist es denn denkbar, daß ein vernünftiger Mann solche thörichten Beweggründe angeben kann? Wie glauben Sie eigentlich, daß die Welt ein solches Betragen beurteilt?" „Geht uns denn die Welt etwas an?" fragte Johannes zurück. „Ganz gewiß," rief Howe eifrig, „so lange wir in und mit der Welte leben, müssen wir uns notwendig ihren Sitten und Anschauungen fügen. Wenn ein Mann seine Frau aus dem Hause weist, so muß er sich klar machen, daß er durch eine solche Maßregel seiner Frau einen Makel anhestet, der nicht nur sie selbst, der auch ihre Familie

trifft." Johannes sah ihn leuchtenden Blickes an: „Ich werde Helenens Seele retten, und ihre Familie wird es mir einst danken." „Glauben Sie nur, daß ihre Familie ganz einver­ standen mit ihrem religiösen Standpunkte ist," versetzte Prediger Howe verächtlich. „Kennen Sie ihn genau?" fragte Ward. „Selbstverständlich; aber er spielt hier gar keine Rolle; die Hauptsache ist die Frage, wie wir die unglückliche Ge­ schichte möglichst schnell und spurlos aus der Welt schaffen. 19*

292 Wenn Helene morgen zurückkehrte, bliebe es ganz mbesprochen." „Aber wir haben garnichts aus der Welt zu schaffen," antwortete der junge Pastor einfach, „es ist doch ftine Schande, wenn Helene sich unter die Hand des Höch'ten beugt, der sie zu Sich ziehn will." „Um Himmels willen!" schrie Howe ärgerlich aus, hielt aber sofort inne: Seine verwünschte Heftigkeit hitte ihm fast einen Streich gespielt und doch war, wenn irgmdwo, hier gewiß vollkommnc Ruhe notwendig. So fuhr er freundlicher fort: „Ich sollte doch meinen, Herr Bruder, daß Sie Helenens Bekehrung nur fördern könnten, wenn Sie ihr persönlich nahe wären: Gerade die tägliche Uekerwachung sollten Sie nicht aus den Händen geben. Sie denken vielleicht, daß wenn Sie bei mir ist, ..." hier zuckte stiller Spott um seine Lippen, „ich bezweifle aber doch, daß meine Unterweisung ganz der Ihren gleichen kann." „Darauf rechne ich garnicht," versetzte Johannes. „Durch ihre Umgebung soll Helene nicht beeinflußt wer­ den, das Bewußtsein, welches Leiden sie mir anfcrlegt, wird sie zur Quelle der Wahrheit führen." Ohne auf den Vorwurf in Wards Worten zu achten, entgegnete Howe in erregtem Ton: „Ich will Ihnen sagen, was für Folgen entstehen werden, Helene wird in völligen Unglauben versinken; je mehr sie sich selbst überlassen bleibt, um so mehr wird sie denken, um so weniger glauben. Also thun Sie mir den einzigen Gefallen und seien Sie vernünftig, lieber Ward. Sie handeln wirklich in Ihrem eigensten Interesse, wenn Sie Helene zurückkommen lassen, es wird nur halb so lange dauern und sie bessert sich, während sie fern von Ihnen wahrscheinlich ewig unbekehrt bleiben wird."

293 „Es ziemt einem Geistlichen nicht, die Nolle des Ver­ suchers zu spielen," bat Johannes, „soll ich deshalb um Weisung des Weges gebetet haben, um nachher doch meinen eignen zu gehn? Gott wird mir auch fernerhin Mut und Kraft gewähren, ihr den Kelch des Leidens zu reichen, auf daß sie sich ewiges Leben daraus trinke." Howe biß sich auf die Lippen, um seine Haltung zu bewahren: „Es ist nicht nötig, daß Sie mich an meine Pflichten als christlicher Prediger erinnern; ich meine, es läge für Sie näher, sich Ihrer Pflichten als christlicher Ehemann bewußt zu werden. Sie rühmen Sich geradezu, Ihre Frau zu peinigen, ist das nicht grausam, unmensch­ lich? Und welche Schmach bereiten Sie ihrer Familie!" Johannes schwieg, und Howe von dem aufrichtigen Wunsch beseelt, eine Verständigung herbeizuführen, lenkte noch einmal ein: „Entschuldigen Sie meine Erregung," bat er, „ich wollte nicht von uns, sondern nur von Helene sprechen; das arme Kind!" Es war wohl die schmerzliche Erinnerung an ihre traurigen Augen, die ihn hinzufügen licy: „Aber bitte wollen Sie sich nicht setzen, Sie sehn schrecklich elend aus." Er hatte Recht; Johannes Antlitz war totenblaß. Zo fingen die beiden Männer noch einmal an, mit einander zu rechten, zu reden. Howe sorgsam jede abfällige, beleidigende Aeußerung vermeidend, — so sehr hatte er sich noch niemals in seinem Leben zusammengenommen, — holte alles herbei, was ihm seine reiche Erfahrung, sein gesunder Menschenverstand eingeben wollten; er belehrte, beschwor, berichtigte den jungen Geistlichen, der seinerseits mit der grössten Sanftmut seinen eignen Standpunkt als Seel­ sorger und Gatte auseinandersetzte. Nur als Howe vorschlu;, Helene könne ja alle äußeren Formalitäten erfüllen

294 und über ihre innersten Anschauungen schweigen, wurde er heftig: Wieder die alte Versuchung. „Das wolle Gott nicht, daß wir sie zur Heuchlerin stempeln; nun und nimmermehr würde ich das zugeben!" „Nun, dann bleibt noch eins," rief Prediger Howe, im Eifer näher rückend und vertraulich Johannes Arm berührend: „Ich begreife, daß Sie ihren Einfluß für die Gemeinde scheuen, nun gut, dann lassen Sie Helene doch austreten, sich einer andern religiösen Gemeinschaft an­ schließen." Ward lächelte halb, ohne zu antworten. Es war in­ zwischen dämmerig geworden; Alfaretta brachte eine Lampe und sagte, indem sie ihren Blick neugierig auf dem Gaste ruhen ließ: „Das Abendbrod ist fertig, Herr Pastor!" „Gut," nickte Johannes, „ich darf Sie doch auf eine Tasse Thee einladen?" wandte er sich an Howe. „Erst müssen wir im Reinen sein, lieber Bruder, also Helene kann zurückkommen?" „Ich kann es leider nicht zugeben," beharrte Jo­ hannes ruhig. „Also wirklich," fragte Howe langsam, als wollte er dem Andern noch Zeit zur Ueberlegung geben, „soll ich meiner armen Nichte mitteilen, daß Ihr widersinniger Entschluß unabänderlich ist. Wir dürfen keine Hoffnung haben, daß Helenens Liebe und Tugend, daß ihre eigne Pflicht, daß das Bewußtsein, die Familie aufs Tiefste zu verletzen, Sie beinflussen kann?" Er erhob sich schwerfällig; Johannes folgte seinem Beispiel. Das Gespräch hatte ihn in tiefster Seele er­ schüttert und angegriffen. Sein Mut war ungebrochen; aber seine Kraft versagte, und ein heißer Wunsch nach Verständnis, nach Sympathie bewegte ihn: „Meine Liebe

295 für sie ist so groß, daß ich von meinem Entschluß nicht zurücktreten kann; möchten Sie mich doch recht ver­ stehn: Aber ich bedarf göttlichen Beistandes, um fest zu bleiben." „Nun, dann beim Himmel, wenn das Ihr letztes Wort ist, so hören Sie auch das meinige. So lange ich lebe, soll meine Nichte diese Schwelle nicht wieder über­ schreiten, nie wieder zurückkehren zu einem Mann, der nichts weiter kennt, als seinen eignen, engen Glaubens­ standpunkt, der alle Andersdenkenden dem ewigen Ver­ derben überliefern will; wenn Sie fest sind, so wird es Helene auch sein: Guten Abend!" Er wendete sich nach der Thür, ein Bild der Ent­ rüstung. Johannes hielt ihn mit freundlichem Wort zu­ rück: „Gehn Sie noch nicht, ich habe noch so viel auf dem Herzen; machen Sie mir die Freude, hier über Nacht zu bleiben!" „Nun und nimmermehr!" rief Howe mit einer Stimme, die vor Aerger zitterte, „das Haus, das sich meiner Nichte verschließt, soll mich nicht aufnehmen." „Gut," sagte Johannes langsam und milde, „dann hören Sie noch ein letztes Wort: Ich darf es nicht schwei­ gend mit anhören, daß ein Verordneter Gottes die höchste, heiligste Pflicht aus weltlichen Rücksichten vernachlässigt: Wenn Sie Helenens irdisches Glück höher stellen, wie ihr himmlisches, so begehen Sie eine schwere Sünde und im Namen Gottes ermahne ich Sie Ihre eigne Seele vor dem Richterstuhl Gottes zu prüfen." Howe blickte den Sprechenden an: Der Zorn erstickte seine Stimme: „Herr Pastor!" brachte er mühsam heraus, „wie können Sie?" Und zum ersten Mal, seitdem Archibald Howe Geistlicher geworden war, trat ein Fluch über seine

296 Lippen; er schlug wütend mit dem Stock auf den Tisch und stürzte aus dem Zimmer. Draußen im Vorgarten stand Alfaretta wartend mit einem ländlichen Blumenstrauß, den sie in aller Eile für die geliebte Herrin gebunden hatte. „Bitte für Frau Pastor!" sagte sie, Howe in den Weg tretend und ihm die Blumen bietend, „wann kommt sie nach Hause?" „Aus dem Wege Mädchen!" schrie er außer sich und warf die Gartenthür hinter sich zu.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Als Prediger Howe vor dem Pfarrhause ausstieg, trat ihm Helene entgegen: Kein Wort kam über ihre Lippen, als sie in zitternder Erwartung vor ihm stand: „Komm in mein Zimmer, ich muß Dir eine Mitteilung machen," ries er und ging voran. Als sich die Thür hinter beiden geschlossen, wandte er sich zu ihr: „Höre mein Kind, was ich Dir zu sagen habe!" Er erhob seinen Zeigefinger, als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen: „Also ich bin bei dem Mann gewesen; er ist so eigensinnig, wie nur der Teufel einen Menschen machen kann, und be­ harrt auf seinem Entschluß, daß Du nicht zurückkehren sollst. Natürlich steht mir das Recht nicht zu, mich zwischen Mann und Frau zu stellen; Du hast ganz nach eignem Gutdünken zu entscheiden: Das aber will ich Dir nicht vorenthalten, daß Du meine volle Billigung hast, wenn Du nicht wieder zu ihm gehst. Und noch eins: Sein Name darf in meiner Gegenwart nicht wieder ge­ nannt werden."

297 Helene war bleich und bleicher geworden: „Du ver­ stehst leider nicht!" sagte sie heiser; er aber unterbrach sie: „Du thust mir unendlich leid, mein gutes Kind, Gott, was wäre das für ein Schmerz für Deine Mutter gewesen! Unsre gute Marie, die so viel Familiensinn hatte. Nun aber nimm Dich auch zusammen, sei tapfer. Wir müssen eben gestehn, daß Deine Ehe mit diesem Fanatiker ein Irrtum gewesen ist." Helene schüttelte den Kopf: Das Herz war ihr zu voll; sie konnte nicht sprechen. Jetzt erst fühlte sie, wie viel Hoffnungen sie auf ihres Onkels Vermittlung ge­ setzt hatte. „Er bildet sich ein, Du würdest Dich in acht oder vierzehn Tagen zu seinen Anschauungen bekehrt haben," fuhr der Prediger fort; „ich würde ihn für verrückt halten, wenn nicht so viel Methode dabei wäre. So, nun wollen wir den Gegenstand fallen lassen; er regt mich nur auf. Du weißt, daß Dir Herz und Haus Deines alten Onkels nach wie vor offen stehen: Aber in unserm Urteil über den Mann werden wir immer auseinandergehn." Er sah die junge Frau liebevoll und zärtlich an: „Es ist furchtbar schwer für Dich, arme Helene! Du mußt versuchen ihm zu verzeihen; ich bekomme es nicht fertig!" „Ihm vergeben?" flüsterte sie mit bleichen Lippen, ihre schönen Augen groß und fragend ans den Onkel richtend. Er zog sie zärtlich zu sich: „Komm Du armes, armes Kind!" Aber diese liebevolle Anwandlung weckte in He­ lenens Herz kein Echo. Sie machte sich los: „Du hast kein Verständnis für Johannes, also bitte auch mir keine Teilnahme!" Ihre Ablehnung rief seine mühsam überwundne Em-

298 pfindlichkeit zurück: „Vergiß nicht, daß mir sein Name unangenehm ist; er hat mich tief beleidigt. Ein- für alle­ mal genug von der Angelegenheit!" Frau Dale und Luise gegenüber beschränkte sich Pre­ diger Howe aus die Mitteilung, daß er den jungen Geist­ lichen völlig unbeugsam gesunden habe und keine weitre Erörtrung wünsche. „Aber um alles in der Welt, Archibald, wie sollen wir ihre Anwesenheit in Lockhaven den Menschen gegenüber motivieren?" fragte Frau Dale sorgenvoll. „Sage, was Du willst, nur nicht die Wahrheit!" brummte er ungeduldig. „Aber lieber Bruder?" tadelte Schwester Adele. „Gott Du weißt ja, wie's gemeint ist," versetzte er, „Du wirst schon irgend eine Entschuldigung finden; es braucht nicht gerade eine Unwahrheit zu sein; aber warum unsre schmutzige Wäsche vor andern Leuten waschen?" „Glaubst Du wirklich, daß sie nie wieder zu ihm zu­ rückgehn wird?" fragte Frau Dale, ihn nachdenklich über ihre Brille hinweg betrachtend. „Ich hoffe nein," erwiderte er gereizt, „aber zum Kuckuck Adele, laß die Geschichte ruhen." „Wo sie nur ihren Eigensinn herhaben mag?" seufzte Frau Dale. „Wahrscheinlich von ihrem Vater; denn in unsrer Familie liegt, weiß Gott, nichts davon. Aber ich sand immer, daß Carl Jeffrey einen gewissen Mangel innrer Bildung besaß, so beseligt Marie auch mit ihm war. Und weißt Du noch, als damals seine Schwester uns be­ suchte, hatte ich deutlich die Empfindung, daß ihre Familie nicht zu den feinsten gehörte. Sie saß immer so steif und unglücklich im Wagen, wagte kaum sich zurückzulehnen: Danach kann man die Leute immer beurteilen; sie sind's

299 eben nicht gewohnt, zu fahren. Von der Seite wird He­ lene wohl ihren schlechten Geschmack geerbt haben." „Schon gut, laß uns nicht mehr darüber reden," sagte ihr Bruder unruhig auf- und abgehend. Frau Dale nahm ihre Brille ab und putzte sie sorg­ fältig mit dem Zipfel ihrer schwarzseidnen Schürze: „Es wäre nie geschehen, wenn sie Kinder gehabt hätten," er­ klärte sie mit großer Bestimmtheit. „Ich sollte meinen," sie hielt inne, ihr Vorschlag, daß Helene sofort ein Kind adoptieren solle, wäre am Ende doch nicht angebracht. Während Frau Dale sonst mit großer Unparteilichkeit Jo­ hannes und Helene zu tadeln pflegte, schien ihr heute doch die Hauptschuld an der Nichte zu liegen. Es war zu peinlich die ganze Situation erklären zu sollen, ohne zu lügen. „Ich werde mit Gifford die ganze Sache besprechen; er ist ein durchaus ber.du.ftujcr Mensch, und es kommt so sehr darauf an, daß Deborah Woodhouse die ganze Geschichte richtig auffaßt; sie neigt zu sehr zu Uebertrei­ bungen." Frau Dales wohlwollende Meinung, daß Gifford „ein durchaus vernünftiger Mensch" sei, geriet übrigens noch am selbigen Nachmittag sehr ins Schwanken, als der junge Rechtsanwalt erklärte, er sehe nicht ein, warum die ganze Sache anders dargestellt werden solle, als sie sich verhalte. Beide, Johannes und Helene hätten ein volles Anrecht auf Sympathie und Verständnis. Trotzdem zögerte er mit der Mitteilung an seine Tanten von Tag zu Tag, immer in der stillen Hoffnung, daß Johannes einlenken werde. Endlich am letzten Tage, ehe er nach Lockhaven zurück­ fahren wollte, mußte er sich dazu entschließen. Er sand die beiden Damen einträchtig bei einander in Ruths Atelier.

300 Tante Deborah saß auf der Schwelle im Schatten des Weinganges, einen großen blauen Napf aus dem Schoß, eifrig beschäftigt Stachelbeeren zurechtzumachen. Die jüngre Schwester stand neben der Staffelei, auf welcher eine Copie des Denner'schen Schwesterbildchens entstehn sollte. Es wollte der Malerin nicht recht glücken; mißmutig blickte sie auf ihr Werk, das Gesichtchen hatte unter ihren Händen auch den letzten Rest von Schönheit eingebüßt. „Ich komme garnicht vorwärts," seufzte sie, „ich hätte die größeste Lust Dir bei Deinem Einmachen zu helfen, Deborah; die Augen wollen nicht werden!" „Liebe Ruth," erwiderte Deborah würdevoll, „mache ich je den Vorschlag, mich an Deinen Sachen beteiligen zu wollen?" „Das ist auch ganz etwas andres," versicherte die jüngre Schwester eifrig; „Du kannst auch nicht malen!" „Ebenso wenig kannst Du Marmelade oder Gelee kochen," versetzte Deborah, indem sie die Stachelbeeren aus dem Grunde ihres Napfes durch ihre kleinen Finger gleiten ließ. In diesem Augenblick sah sie Gifford langsam den Weg heraufkommcn, den Strohhut nach hinten gesetzt, die Hände in den Taschen. „Ach Gott." erinnerte sich Tante Deborah halblaut, „ich muß ja noch seine sieben Sachen zusammenpacken, höre Gifford, Du hast da noch Platz in Deinem Koffer?" „Mehr als zuviel, Tante Deborah," antwortete er, „Du weißt, als ich herreiste, mußte ich alle die leeren Stellen mit Stroh ausfüllen!" Deborah lachte: „Wirklich Du brauchst eine Tante, die nach dem Rechten bei Dir sieht, Giff!" „Oder ein hübsches, junges Frauchen" schaltete Ruth schelmisch ein.

301 „Unsinn!" ewiderte ihre Schwester streng, „setz' ihn doch solche dumme Dinge nicht in den Kopf; ich muß sagen, meine gute Ruth, Deine Bemerkungen sind nicht immer ganz taktvoll!" Fräulein Ruth achtete nicht weiter auf den Verweis; sie war schon wieder bei ihrer Arbeit, der jetzt die richtige Beleuchtung fehlte. „Ach Gifford," klagte sie, „Du bist so groß und dick, daß Du mir vollkommen das Licht nimmst, wenn Du so in der Thür stehst. Bitte setz' Dich doch!" Gehorsam setzte sich der Neffe auf einen niedrigen Schemel, gerade in der richtigen Entfernung von der Malerin, die ganz entzückt ausrief: „Das ist ja ganz vor­ trefflich; jetzt werde ich Deine Augen als Modell be­ nutzen!" Es störte sie nicht, daß Giffords graue Augen einen tief bekümmerten Ausdruck hatten, während die blauen der kleinen Schwester in heitrer Lebensfreude strahlten. „Tante Deborah," fing der junge Rechtsanwalt ziemlich unvermittelt an, „Helene Ward geht zunächst nicht nach Lockhaven zurück." Fräulein Deborah hielt überrascht bei ihrer Arbeit inne, „Sie geht nicht zurück? Kommt denn Pastor Ward her?" Gifford schüttelte den Kopf und erzählte so kurz wie möglich die traurige Geschichte, die seine würdigen Tanten mit Hellem Entsetzen erfüllte: „Ist es möglich," rief Deborah aus, ihre seinen Hände emporhebend, „daß man dergleichen in unsern Kreisen er­ leben kann? Entsetzlich, ungebildet! Und jetzt will sie wieder bei Howes leben? Meine liebe Ruth, Du darfst in Zukunft nicht ohne mich ins Pfarrhaus gehen; es würde durchaus unschicklich sein. Eine Frau, die von ihrem Mann getrennt ist; schrecklich, schrecklich!" —

302 „Wie darf sie ihn nur verlassen?" seufzte Ruth. „Soll nicht die Liebe alles dulden, alles tragen?" „Ich dächte, Du wärst nie in einer Lage gewesen, darüber Erfahrungen zu sammeln," antwortete scharf die ältre Schwester. „Aber siehst Du Gifford, das kommt da­ von, wenn die Leute zu jung heiraten; erst im reifen Alter sollte man dem Gedanken der Ehe näher treten. Der­ gleichen passiert nicht, wenn die Leute alt genug;" . . . „Aber nicht zu alt," schaltete Ruth ein, indem sie leise

errötete. Ihre Bemerkung, die ihr so viel Mut gekostet hatte, blieb unbeachtet; denn Tante Deborah hatte tausend Fragen über Helenens äußre pecuniäre Lage zu stellen: „Ob wohl der Mann für sie sorgen wird?" Darüber waren jedenfalls die beiden kleinen Damen einig, daß Helene, obgleich sie ja sehr unpassend gehandelt hatte, doch sehr beklagenswert sei. „Gleich morgen werde ich ihr Gelee schicken mit recht viel Madeira," sagte Fräulein Deborah, „sie bedarf der Kräftigung. „Jetzt kann ich mir auch denken," fiel Fräulein Ruth ein, die'im Eifer des Gesprächs ihre Pinsel niedergelegt hatte, „warum Helene damals am Grabe ihrer Mutter so unglücklich war. Gott die Aermste, wie muß sie leiden! Ich glaube wirklich, daß für ein liebendes Herz der Tod leichter ist, als solche Trennung." „Nun, meine gute Ruth," bemerkte Schwester Deborah, ihren Kopf würdevoll emporhaltend, „Du würdest so etwas nicht sagen, wenn Du ahntest, was es heißt, einen Freund durch den Tod zu verlieren. Uebrigens bin ich doch recht gespannt zu sehn, wie sich Adele bei der Sache benimmt: Mir wäre es doch unendlich peinlich, wenn dergleichen in meiner Familie passiert wäre!"

303 Daß Fräulein Deborah die nächste Gelegenheit be­ nutzte über ihre gute Freundin Adele ein reichliches Maß teilnehmender Entrüstung auszuschütten, braucht nicht er­ wähnt zu werden. Gifford benutzte die späte Nachmittagsstunde, um sich im Pfarrhause zu verabschieden. Es war ein schöner, stiller Augusttag, der in seiner wundervollen Klarheit bereits an den nahenden Herbst gemahnte. Fräulein Helene war nicht zu Hause, wie Hanna sagte, wahrscheinlich wieder auf dem Kirchhof. Gifford kehrte um; er wollte versuchen, sie dort zu finden. „Warum sie nur immer allein geht?" dachte er, „ob sie noch immer mit Luise nicht ganz im alten Fahrwasser ist?" Als er die Gartenpforte hinter sich geschlossen, sah er das junge Mädchen den Weg vom Dorf heraufkommen; sie sah so merkwürdig verändert, so strahlend glücklich aus, daß ihm das Herz vor schmerzlicher Eifersucht pochte; wahrscheinlich hatte der Brief in ihrer Hand eine große Bedeutung. „Du siehst ja so vergnügt aus, Luise," sagte er „ist Dir etwas so unerwartet Gutes über den Weg gelaufen!" „Ach Gifford, ja!" rief sie strahlenden Blickes. „Das freut mich!" sagte er, erfüllt von dem brennen­ den Verlangen, ihr Vertrauen zu besitzen. „Wahrscheinlich hat sich Forsythe besonnen und ihr einen netten Brief geschrieben, der Hallunke der!" dachte er, während sie noch immer schwieg. Enttäuscht reichte er ihr die Hand, um weiterzugehn; sie schlug ein, kühl und ernüchtert: „Merkwürdig, wie er immer Helenens Gesellschaft sucht," dachte sie ihren Weg sortsetzend, während er einen ungeduldigen Seufzer gen Himmel schickte, daß doch Forsythe ihrer wert sein möge.

304 Gifford begegnete Helene, die müde und traurig vom Kirchhof heimkehrte. „Ich wollte Dir gerne lebewohl sagen," sprach er freundlich, ihre Hand fest und warm drückend; „ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, daß ich ihm nahe sein will, so viel ich irgend vermag; täglich werde ich ihn besuchen, Helene!" Sie blickte ihn dankbar aber wortlos an. „Laß mich noch eins sagen," bat Gifford zögernd, „hänge Du nicht zu sehr der Einsamkeit nach, liebe Helene, laß Dich doch von Luise begleiten!" „Es würde sie wohl kaum reizen," antwortete die junge Frau kurz. „Du irrst Dich wirklich," fuhr er fort, „Luise ist auch einsam und hat, wie Du weißt, schwere Erfahrungen machen müssen, und wenn Du sie nun auch ausschließen willst" .... „Ich handle wirklich nicht egoistisch," gab Helene zu­ rück, die nicht empfand, wie sehr Gifford ihre eigne Sache vertrat, „ich will sie auch nicht ausschließen; aber so lange sie nur mit mir sympathisiert und Johannes verurteilt, so lange kann ich mich nicht gegen sie aussprechen." „Dieses Gefühl ist nicht ganz berechtigt," erwiderte der junge Rechtsanwalt, und Helene mußte ihm später recht geben. Als sie an der Pforte des Pfarrgartens angelangt waren, nahm Helene noch einmal Giffords Hand: „O Gifford!" sagte sie mit unendlicher Trauer im Blick, „Du wirst ihn Wiedersehen!" Luise beobachtete die kleine Scene von ihrer Laube aus. Mit einer Empfindung leisen Neides gestand sie sich, daß Gifford sich ihr garnicht mehr nähere. Ob Tante Deborah mit ihrer Vermutung doch Recht gehabt hatte?

305 Obgleich sie zu klarblickend und vernünftig war, um lange dabei zu verweilen, hatte ihr die Erinnerung an jene Worte doch die ganze Stimmung verdorben und ihr letztes Lebe­ wohl für Gifford war nichts weniger als warmherzig. „Er denkt ja doch nur an Helene," dachte sie, „er hat gewiß längst vergessen, was er mir damals sagte, und mein Versprechen erst! Nun jetzt bin ich fertig mit allen Versprechen!" ein bittres Lächeln umspielte ihren hübschen Mund. Aber die unangenehme Erinnerung schwand bald vor dem befreienden Glücksgefühl, das heute ihre Seele durchströmte und sich in jeder Bewegung, jeder Miene kundgab. Auch Helene bemerkte die gehobne Stimmung der Cousine und fragte noch unter dem Eindruck von Giffords Worten in ihrer alten, liebevollen Weise: „Was macht Dich heute so froh, Luise?" Nur allzu bereit, sich mitzuteilen, rief das junge Mäd­ chen in überströmender Empfindung: „Ach Helene, ich bin zu glücklich; eben ist ein Brief

angekommen!" „Von Johannes?" fragte Helene bebend vor Span­ nung; einen einzigen glücklichen Augenblick hindurch hatte sie zu hoffen gewagt, daß er schwankend geworden. „Ach nein, es betrifft nur mich," versetzte Luise dehmütig. „Erzähle es mir," bat Helene freundlich, „Du weißt, mich interessiert alles lebhaft, was Dir nahe geht." Luise zupfte nervös an ihrer Schürze: „Ich habe ge­ hört .... Frau Forsythe hat mir geschrieben?" „Geht es ihr wieder gut?" fragte Helene. Sie mußte sich gestehn, daß sie die ganze traurige Angelegenheit mit Frau Forsythe fast vergessen hatte; es war schon so lange her und so unwichtig im Vergleich zu ihren eignen, schweren Erlebnissen. Jchanueö

306 Das nicht," versetzte Luise, „im Gegenteil, sie klagt sehr über schlechtes Befinden; aber denke Dir, Helene, Richard Forsythe hat sich verlobt." Verwundert schüttelte die junge Frau den Kopf: „Ich begreife Dich wirklich nicht?" „Schadet nichts," rief Luise strahlenden Blicks, „es ist Thatsache, und ich bin glückselig darüber."

Dreißigstes Kapitel.

Es dauerte geraume Zeit, ehe sich das moralische Be­ wußtsein Ashursts von dem Entsetzen erholt hatte, eine geschiedne Frau in seinem Bereich zu wissen. Etwas so Fürchterliches war ihm nicht zugemutet worden, seitdem der Tanzlehrer Gertrud Drayton vor vierzig Jahren entführt hatte. Und das Schlimmste nach aller Ansicht war, daß Helene unter den alten Verhältnissen in Ashurst bleiben wollte. Die Erregung darüber beherrschte so sehr alle tugendsamen Gemüter, daß Tante Deborah eine ganze Weile hin­ durch vergaß, Gifford eine Mitteilung über Richard Forsythes Verlobung zu machen. „Ich verstehe es vollkommen, daß er sich unter den obwaltenden Umständen von Luise Howe zurückgezogen hat; Howes haben in ihrem Ruf doch sehr cingebüßt," schrieb sie ihm eines Tages. Die Nachricht erregte Gifford lebhaft; Glück und Schmerz kämpften in seiner Seele: „Die Aermste," dachte er, „dieser schändliche Mensch, sie so zu behandeln!" Am liebsten wäre er gleich nach Ashurst geeilt; er holte sich einen Fahrplan und fing an, die Züge zu stu­ dieren; nach und nach aber wurde er ruhiger; am Ende war es doch besser und schonender für das geliebte Mädchen,

307 ihr Zeit zu gönnen, den ersten Schmerz zu überwinden, und überdies hatte er nicht Helene versprochen, Johannes täglich zur Seite zu stehen? „Nein, ich darf ihren Kummer nicht noch verschärfen; sie ist ohnehin so unglücklich." Hätte Helene etwas von seiner Opferfreudigkeit für sie ahnen können, wäre es wohl wie lindernder Balsam auf ihre wunde Seele gefallen: Sie fühlte sich unendlich ver­ einsamt und unverstanden in ihrem Kummer. Von Tag zu Tage wurde sie trüber und schweigsamer: Mißtrauisch, verbittert gegen ihre Umgebung, gefiel sie sich in den un­ gerechtesten Empfindungen den Ihren gegenüber. Brütend konnte sie stundenlang müßig sitzen, teilnahmlos gegen alles, was um sie her vorging: Nur zu den täglichen, ein­ samen Spaziergängen auf den Kirchhof vermochte sie sich aufzuraffen. H>cr am Grabe der früh verstorbenen Mutter war es, wo Onkel Dale sie an einem klaren Septembertage auf­ suchte. Er näherte sich ihr, die, den Kopf auf die Hand gestützt, zerstreut in dieblaue Ferne blickte: „Ich hörte zu Hause, liebe Helene," sagte er sie freundlich begrüßend, „daß ich Dich hier finden würde und komme Dich abzuholen." Ueberrascht sah ihn Helene an. „Bist Du nur des­ halb hergekommen?" Dale schob seinen breitkrämpigen Filzhut zurück, der sein freundliches Antlitz wie ein schwarzer Heiligenschein um­ rahmte: „Gewiß, mein Herzenskind, es ängstigt mich, daß Du soviel allein bist, obgleich ich ja Deinen Wunsch nach Einsamkeit vollkommen verstehen kann." Helene schwieg. „Bitte halte mich nicht für zudringlich," fügte er hinzu, „aber es ist mir Herzensbedürfnis, Dir auszu­ sprechen, wie hoch ich Deinen Mann schätze." Helene fuhr zusammen; in heftiger Bewegung schlug 20*

308 sie die Hände vor die Augen, um ihre heißen Thränen zu verbergen. Onkel Dale streichelte sie sanft. „Eine Liebe, wie er sie besitzt, ist göttlichen Ursprungs und weckt Ehr­ furcht in unsern Herzen." Helenens Antwort verklang unhörbar. „Ich brauche nicht zu sagen," fuhr der alte Mann

fort, „wie sehr ich Euch beide beklage, die Ihr so schwer leiden müßt, um Eurer Liebe willen. Aber ich verstehe die Fülle dieser Liebe und segne mein Geschick, sie mit ansehn zu dürfen. Wir fühlen uns den Geheimnissen Gottes näher, wenn wir in einer menschlichen Seele so viel

Göttliches erkennen.

Vielleicht habe ich nicht das Recht,

an dem zu rühren, was Dein Heiligstes ist, und doch mein Kind solltest Du fühle.n, daß ein Freund Dich ganz ver­

steht. So geliebt zu werden, wie cs Dein Geschick ge­ worden, muß die Seele über alles Leid erheben." Sie vermochte nicht zu antworten; sie umschlang ihn dank­ bar unter einem Strom von Thränen, und Liebe und Wärme,

die siesast erstorben gewähnt, durchfluteten von neuem ihre Seele. „Nun wirst Du gewiß auch tapfer und stark sein, wie Dein guter Mann," flüsterte Dale, indem er zärtlich über

schönes Haar strich, „glaube mir, alle würden ihn ihn gerechter beurteilen, wenn Du eine glücklichere und zufriedenere Stimmung haben wolltest. Verstehst Du, was ich meine?" „Ja wohl," nickte Helene, „ich will mir Mühe geben, ihr

besser verstehn,

um meines Gatten würdig zu sein." Und sie hielt Wort, so schwer es ihr wurde.

Mehr

und mehr beteiligte sie sich wieder an den Aufgaben des Tages, an den kleinen Interessen ihrer Umgebung, und in dem Grade, wie Hand und Herz freundlich beschäftigt waren, hellte sich der trübe Himmel über dem Pfarrhause wieder aus.

309 Prediger Howe wußte selbst nicht, wie es gekommen war; aber eines Freitags Abend fand er sich gemütlich am Whisttische mit den beiden Fräulein Woodhouse und Dale. „Ich denke, in meinem Alter kann mir ein kleiner Whist kaum schaden, wenn also die Herrschaften ihn mir beibrin­ gen wollen?" Ausführliche Unterweisung wurde übrigens nicht für nötig befunden, nachdem er gleich den ersten Rubber gewonnen und alle Mitspieler aufs schärfste kritisiert hatte. Auch Luise gegenüber glückte es der jungen Frau allmälig, das alte, trauliche Verhältnis wieder herzustellen; der Entfremdung wurde mit keinem Worte gedacht. Kein Glied in der Familie ahnte es, wie sehr He­ lene sich täglich zusammennehmen mußte, nm ihren Weg tapfer und ruhig zu gehen. Sie-selbst wurde sich ihrer innern Anstrengung erst bewußt, wenn sie in Onkel Dales Gegenwart die Wcchl'chal schweigenden Verständnisses ge­ nießen durfte. Sein stilles, dunkles Arbeitszimmer war ihr liebster Zufluchtsort; ganze Vormittage brachte sie dort zu, um ihm seine Bücher ordnen, seine Notizen zusammen­ stellen zu helfen, eine Arbeit, die er schon seit zwanzig Jahren hatte vollenden wollen. Frau Dale war selten zugegen. „Wenn es Helene Spaß macht, in dem alten, muffigen Zimmer zu sein," sagte sie an einem kalten Januarvormittag, „so kann man ihr das Vergnügen ja gönnen; in meinen Augen wäre es viel besser und gesünder für sie, oben in meinem Wohn­ zimmer zu sitzen, sei es auch nur, um Patience zn spielen. Aber sie hatte ja immer ihren Kopf für sich." Mit einem Ausdruck gutmütigen Spottes in den Augen verließ sie ihren Mann und Helene, um in den obern Zimmern eig­ nen Angelegenheiten nachzugehn. Helene stand neben ihrem Onkel am Fenster und half

310 ihm, die Blumentöpfe zurechtzustellen; da er sie zum größten Teil aus Ablegern gezogen, hatte jedes Pflänzchen seine eigne Geschichte: „Sieh nur, Helene," sagte Dale vergnügt, „meinen kleinen Orangenbaum, wie nett er gekommen ist." Er setzte seine Brille auf, bückte sich, um die Pflanze zu untersuchen; der Topf war außen schimmlig, die Erde darin hart und schwarz; denn der gute Onkel Dale gab in der Fülle seines Herzens seinen Pfleglingen meist zu viel Wasser. „Er sieht in der Nähe doch nicht so gesund aus, wie es mir schien," bemerkte er bedenklich; „aber wenn Du Dich etwas darum bekümmern willst, wird er sich noch erholen." „So lange ich hier bin, Onkel Heinrich, thue ich cs gern," versetzte Helene: „Was willst Du damit sagen, Herzenskind?" fragte er, sie aufmerksam ansehend, „solltest Du dcch noch den Plan haben, als Schwester einzutreten?" „Ja," antwortete sie, „er beschäftigt mich sehr. Ich fühle mich so unnütz in der Welt." Sie stand im hellen Wintersonnenschein vor ihm, zum ersten Mal sah er, daß silberne Fäden ihr schönes, gold­ braunes Haar 'durchzogen. „Siehst Du, Onkel Heinrich," fuhr sie bittend fort, „es wird mir so schwer, still zu halten; ich sehne mich nach einem Beruf." „Liebe Helene," antwortete er freundlich, seine Arbeit unterbrechend und ihr liebevoll ins Auge schauend, „hast Du nicht hier den Beruf, uns allen durch Deine Gegen­ wart Wohlzuthun, uns durch das Vorbild eines ernsten Strebens aus der schläfrigen Gleichgültigkeit unsres Da­ seins aufzurütteln. Als sie noch immer kein Wort der Antwort fand, fuhr

311 er fort: „Du darfst Dein Leben nicht unnütz nennen: Wer so mit voller Seele für die Wahrheit eintritt wie Du, wirkt allein durch die Macht der Persönlichkeit. Wie Licht und Wärme sich unendlich fortpslanzen und allen­ thalben empfunden werden, so sind die Wirkungen der Wahrheit ewige. Und mir erscheint es wunderbar schön, daß Ihr beide, Du und Dein Mann, obgleich von ganz verschiednen Gesichtspunkten ausgehend, diese Kraft der Wahrheit darstellt?" „Ja, Du verstehst uns," rief sie dankbar, „aber" ... Sie hielt plötzlich inne; denn sie sah durch das Fenster, Luise eiligen Schrittes die Straße heraufkommen und in­ nerhalb des Gitters die Richtung nach Onkel Dales Zimmer nehmen. Das Antlitz des Mädchens verkündete eine Unglücks­ botschaft. Helei.e trat ihr auf de" Schwelle entgegen: „Was bringst Du Luise?" „Ach Helene," rief sie und erfaßte beide Hände der jungen Frau, „Gifford hat telegraphiert, Dein Mann ist sehr krank." „Gieb mir die Depesche!" Ein Blick in das Blatt, das Luise nur widerstrebend reichte, genügte Helene. „Bitte, Onkel Dale," wandte sie sich an den alten Mann, der ihr gefolgt war und nun in stummer Sympa­ thie neben ihr stand, unbekümmert, daß der kalte Ostwind ihn umwehte, „ich kann den Zug noch erreichen, wenn ich gleich nach Mcrcer fahre, willst Dn anspannen lassen?" Ihre Stimme klang so fest; ihre Haltung war so ruhig, daß Linse sie erstaunt anblickte: „Sie ahnt nicht, wie schwer die Krankheit ist," dachte sie. Onkel Dale wußte es besser: Wie klein und ver-

312 schwindend erscheint alles im Angesicht des Todes: ,,ßeit, Hoffnung, Furcht, selbst Kummer!" sagte er, als er abends allein bei seinen Büchern saß. Seine Frau gab sich solchen Betrachtungen nicht hin: Ihr lagen die praktischen Dinge mehr am Herzen; als sie von dem Telegramm gehört, hatte sie sofort alles Notwen­ dige an Gepäck, Geld und Sachen besorgt, um nachher, als der Wagen fortgerollt war, unter heißen Thränen Hele­ nens Geschick zu beklagen. „Das arme Kind, das arme Kind!" Weggewischt, verschwunden war die lebhafte Mißempfindung, die sie der Nichte die letzten drei Monate hin­ durch nachgctragen hatte. Während der langen Fahrt nach Mercer saß Helene bleich und thränenlos im Wagen, die Augen mit verzeh­ render Sehnsucht in die Ferne gerichtet. Daß Luise neben ihr kauerte, bemerkte sie kaum, begegnete auch der drin­ genden Bitte des Mädchens, sie bis Lockhaven begleiten zu dürfen, nur mit abwehrender Handbewegung: Endlich waren sie an der Station: O nur vorwärts, vorwärts! Die furchtbare Spannung ihres Herzens fühlte sie wie einen körperlichen Schmerz, der erst nachließ, als in Lock­ haven ihr Gifford entgegentrat: „Noch ist es Zeit, Helene," sagte er liebevoll, „ich hätte Dich so gern schon früher be­ nachrichtigt; er aber wollte es nicht, und ohne seine Er­ laubnis konnte ich doch nicht handeln?" „Natürlich nicht," antwortete sie. Unterwegs berichtete Gifford, daß Johannes sich schon monatelang leidend ge­ fühlt habe, daß aber erst in den letzten Tagen eine akut« Lungenentzündung eingetreten sei, der er nach ärztlichem Ermessen erliegen werde. Wie wunderlich erschien Helene die alte, bekannte Um­ gebung: War sie wirtlich fortgewesen? Wie ein Traum

313 tauchte die Erinnerung an die Zeit in Ashurst auf. Alfaretta konnte nicht sprechen, als sie ihnen die Thür auf­ machte; sie neigte sich verstohlen über Helenens Hand, um sie zu küssen. Im Studierzimmer brannte eine Lampe; Helene trat zum Tisch, um Hut und Mantel abzulegen. „Soll ich ihm sagen, daß Du hier bist?" fragte Gifford, der sie zurückhalten wollte. „Er weiß, daß ich da bin," antwortete sie leise und schritt an Gifford und Alfaretta vorüber dem Krankenzimmer zu. . Ohne einen Augenblick zu zögern, trat sie über die Schwelle in den dämmrigen Raum, der nur durch den Schein des Feuers erhellt war: Aus der Fülle der Liebe erwuchsen ihr Mut und Kraft, still und freundlich an das Lager zu treten; die abgezehrte Gestalt des Sterbenden breitete ihr wortlos die Arme entgegen: Noch einmal ruhten die beiden He^z -rn Herzen. Tiefes Schweigen fiel auf das Haus: Kein Ton, kein Lebenszeichen drang an das lauschende Ohr des Freundes; nur einmal erklang ein sanftes Murmeln, wie wenn eine Mutter ihr Kind einlullt. Während Gifford den langen Wintertag hindurch von größester Sorge und Spannung erfüllt gewesen war, ob Helene anch noch zur Zeit kommen werde, hatte der Ster­ bende in heitrer Sicherheit dem Augenblick ihrer Ankunft entgegengesehen. Er wußte, wie nahe sein Ende war; aber dieses Bewußtsein beängstigte ihn nicht; Glauben und Frieden strahlten aus seinem Auge; Dankgebete bewegten seine Lippen. Der Herr hatte es gut gemacht: Sein Tod war das Mittel, nm Helenens Seele zu retten. Er würde sie Wiedersehn, heute hinieden und einst droben. Keinen Augenblick zweifelte er, daß sie kommen werde, ihm ihre Bekehrung mitzuteilen.

314 Die Nacht brach herein; Gifford saß noch immer war­ tend; Stunde auf Stunde verann; es blieb alles still. Endlich als das winterliche Tageslicht dämmernd her­ einblickte, ging die Thür des Krankenzimmers auf: Helene trat heraus; sanft legte sie ihre Hand auf Giffords Schulter: „Ruhe Dich jetzt aus, es ist alles vorbei."

Einunddreißigstes Kapitel. Als die ersten, schweren Tage vorüber waren, sollte Helene mit den Ihrigen nach Ashurst zurückkehren. „Du kannst hier nicht bleiben," bat Luise, die auf die erste Nachricht mit Onkel Dale gekommen war, „die Leute hier sind nichts für Dich!" Aber Helene schüttelte den Kopf. „Johannes hat sie lieb gehabt; noch kann ich mich nicht trennen." Luise wagte ihre Cousine nicht daran zu erinnern, wie grausam sich Wards Amtsbrüder in dem Vollgefühl ihrer eignen, bevorzugten Stellung einer armen Sünderin gegen­ über benommen hatten. Wenn Luise sich die einzelnen Aeußerungen znrückrief, schauderte sie: Nein, ihres Blei­ bens unter diesen engherzigen Seelen konnte nicht sein; immer von neuem bat und beschwor sie die Freundin, Lockhaven zu verlassen. Onkel Dale mit seinem feinen Verständnis für seelische Bedürfnisse ließ Helene gewähren. Als er ihr Lebewohl bot, ihre Hand in seiner zitternden Rechten haltend, das freundliche, alte Gesicht von Thränen überströmt, sagte er milde: „Jetzt ist er ganz Dein eigen; der Tod hat Dir gegeben, was Dir das Leben versagte. Niemand kann ihn Dir jetzt rauben."

315 Ein Blick wehmütiger Freude aus ihren Augen dankte ihm; Worte fand sie nicht. So blieb Helene allein zurück in dem kleinen, stillen Hause; Alfaretta leistete ihr treulich Gesellschaft, und Gifford kam täglich, nach ihr zu sehen. Sie trug ihr schweres Geschick nach außen ruhig und gefaßt und bewies eine wunderbare Fähigkeit, die äußern Dinge schnell und praktisch zu erledigen. Erst als alles geordnet war, und das graue Einerlei der Tage sich lang­ sam dahinschleppte, empfand sie es ganz, wie leer, wie arm ihr Leben geworden. „Und doch bin ich froh," sagte sie zu Gifford, „daß ich es bin, die zurückgeblieben ist und nicht Johannes." „Und jetzt, da er in voller Klarheit ist," wagte Gifford zu antworten, „hat er alle Sorge für Dich überwunden." „Ach,' seufzte Helene, „ich kann D''r 'n diesen Ge­ danken nicht folgen; er leidet nicht mehr, — ewiger Schlaf kennt keine Leiden, — das ist mir genug. Es würde mich namenlos unglücklich machen, mir vorzustellen, daß er auf meinen Schmerz hcrabsehen müßte, ohne ihn lindern zu können. Nein, für mich ist alles aus, jede Hoffnung erloschen." Um so lebhafter war ihr Wunsch, sich seine geliebte Persönlichkeit bis zum letzten Augenblick zu vergegenwärti­ gen. Wieder und wieder befragte sie Gifford und Alfaretta nach jeder einzelnen Aeußerung, nach jedem einzelnen Er­ lebnis des teuren Verstorbnen; ja sie bat sogar beide, ihre Erinnerungen au ihn aufznschreiben, damit ihr dieses heilige Vermächtnis für alle Zeiten bleibe. Ganz im Andenken an ihn lebend, wurde es ihr namenlos schwer, sich von der Stätte loszureißen, die ihr größtes Glück, ihren tiefsten Schmerz mit angesehen hatte,

316 und doch fühlte sie es mit der Zeit als Pflicht, dem Drängen der Ihrigen nachzugeben, nach Ashurst zurückzu­ kehren. — Hier inmitten der alten Verhältnisse besuchte Gisiord die junge Frau im Hochsommer. Auch er war nicht in Lockhaven geblieben; als Freund der Pastorsfrau, deren Geschick von allen Gläubigen als ein „wohlverdientes" em­ pfunden wurde, gleich ihr ein „Abtrünniger" hatte er nichts mehr in Lockhaven zu erwarten. Aus diesem Grunde war er mit seinem Büreau nach Mercer, dem seit Denners Tode verwaisten Städtchen übergesiedelt, das ihm zugleich den Vorteil bot, die Sonntage bei seinen Tanten verleben zu könnend Daß seine geheimste Triebfeder die Hoffnung war, Luise wieder näher zu kommen, gestand er sich nicht: „Von ihr darf ich nichts mehr erwarten; sie war zu ver­ liebt in den Gecken!" Trotz alledem brachte er doch regelmäßig die Sonn­ tagabende im Pfarrhausc zu; freilich sah er Luise immer nur kurze Zeit, da sie ihren Vater znr Kirche zu begleiten pflegte. Helene hielt sich der Kirche fern. „Ich kann mich nicht entschließen, hinzugehn," sagte sie zu Gifford, „ich gebe ja zu, daß der Gottesdienst schön und erhebend ist; aber er ist mir nur ein Schauspiel; mein Innerstes bleibt unberührt. Vielleicht wenn ich je eine gläubige Seele ge­ wesen wäre, würde ich daran hängen, wie an einem heili­ gen Vermächtnis; aber Du weißt ja, eine wirkliche, innre Flamme hat mir nie gebrannt. Und jetzt, da ich meinen Glauben ganz erloschen fühle, vermag ich erst recht nicht hinzugehen." „Ich glaube doch, Helene, daß Du mit der Zeit wieder den Zusammenhang mit der Kirche gewinnen wirst," sagte Gifford gedankenvoll, „ich verstehe aber, daß es eine

317 Weile dauert, ehe die Seele das Gleichmaß der Em­ pfindungen wieder erlangt, wenn sie so viel erlebt hat, wie Deine." Sie saßen beide auf der Veranda hinter dem Hause; der Mond goß sein sanftes Licht über den stillen Garten, aus dem tausend Wohlgerüche emporstiegen. „Und dann," fuhr Gifsord fort, „darfst Du auch nicht sagen, daß Dein Glaube erloschen sei; das Dogma mag Dir bedeutungslos erscheinen; aber Glaube ist die Neigung des Herzens, jegliche Wahrheit anzuerkennen, die von Gott kommt." „Mag sein," gab Helene zu, „ich fühle mich dem Pilger gleich, der im Dunkeln wandelt das Antlitz nach Osten gekehrt; vielleicht werde ich die aufgehende Sonne nie schauen; aber ich werde nicht verzweifeln; denn ich weiß, sie muß kommen." Beide schwiegen. Gifford fühlte sich überrascht durch die Wärme, mit der die junge Frau gesprochen hatte. Plötzlich blickte sie ihn an: „Gifford!" „Was denn, Helene?" fragte er über ihren eigentüm­ lichen Ton erstaunt. „Ach Gifford," fuhr sie zögernd fort, „könnte ich Dich doch so glücklich sehn, wie Du es verdienst." Er verstand sofort, was ihre Worte andeuten wollten; bereit ihr Vertrauen zu erwidern, gab er freundlich zurück: „Wahrscheinlich verdiene ich nicht, glücklicher zu sein." „O doch, o gewiß! Siehst Du Gifford, das einzige, was auf Erden vorhalten und reine Glückseligkeit gewähren kann, ist wahre Liebe." „Ich weiß wohl, Helene," versetzte er traurig, „aber dieses Glück ist mir versagt oder richtiger ausgedrückt, nur halb gegönnt; es ist nicht genug: Liebe zu geben." Er



318

stand auf und fing an, unruhig auf- und abzugehn. „Ich wollte eigentlich nicht davon sprechen; denn ich habe jede Hoffnung begraben, meine Liebe nur als Keim im Herzen behalten, aus dem alles Gute und Edle sprossen soll. Aber nun erinnerst Du mich an alle meine Hoffnungen und Wünsche; ja ich hatte mir ein unendliches Glück an Luisens Seite geträumt. Aber Du weißt ja, daß sie nichts für mich empfindet. Sie konnte nur einmal lieben und wunderlich genug, Helene, ich habe volle Sympathie dafür: Sie würde sich selbst untren werden, wenn sie nicht an ihrem ersten Ideal festhielte." Helene lächelte in der Dunkelheit, „Gifford!" fing sie noch einmal an. Er ließ sie nicht weiterreden, ungeduldig den Kopf schüttelnd, sagte er: „Nein, es wird nie etwas daraus werden; also thu' mir den einzigen Gefallen, Helene, versuche meine Hoffnungen nicht wieder zu beleben. Ich war selbst thöricht genug, noch einmal an einen Wechsel zu glauben, damals gleich nachdem ihre Verlobung auseinander ge­ gangen war." „Aber Gifford," rief Helene lebhaft, „sie waren ja überhaupt nie verlobt." Gifford stand sprachlos. „Wie ist es nur möglich?" brachte er endlich heraus. „Laß jetzt die Sache ruhen," bat sie hastig, „ich habe kein Recht, mehr darüber zu sagen; ich konnte es nur nicht mit ansehn, daß Dein Glück an einem Irrtum scheitern sollte. Das Leben ist so kurz und so schmerzensreich." Gifford antwortete nicht, sondern fuhr fort, rastlos auf- und abzugehen. Helene empfand sein Schweigen, je länger es währte, nm so peinlicher; endlich blieb er stehn und sagte sanft: „Ich danke Dir, Helene, ich kann mir

319 zwar die ganze Sache nicht zurechtlegen; es nutzt aber auch nichts. Wenn sie mich liebte, hätte sie es mir ja sagen können." Helene konnte sich diese Worte nicht erklären, hatte Luise ihn zum zweiten Mal ausgeschlagen? Da aber Gifford von andern Dingen zu reden anfing, mochte sie nicht noch einmal auf den Anfang des Gespräches zurückkommen. „Schließlich müssen sie ja selber handeln, man kann nicht mehr thun, als die Sachlage klären." Sie hörte nur mit halbem Ohr, was Gifford ihr über sein berufliches Leben in Mercer erzählte. „Mein Wir­ kungskreis dort ist natürlich unendlich bescheiden," sagte er im Laufe des Gespräches, „aber man kann ja auch im kleinsten Kreise etwas Tüchtiges leisten, und für die Cha­ rakterentwicklung sind die kleinen Mühen und Sorgen des täglichen Lebens die heilsamsten. Es ist doch das Richtigste, auf dem gegebnen Posten auszuharren." Helene seufzte. Wo war ihr gegebner Posten? Wieder einmal litt sie unter der Empfindung, müßig am Markte zu stehen, ihre Gaben nicht in den Dienst der Menschheit stellen zu können; alle die verschiedenen Pläne, die sie inbezug auf eine zukünftige Thätigkeit während der letzten Wochen entworfen hatte, zogen ihr durch den Sinn und schweigend, in Gedanken versunken, blieb sie neben Gifford sitzen, bis die Kirchgänger heimkehrten. Während der ganzen folgenden Woche befand sich Gifford Woodhouse in einem Zustand lebhafter Unruhe. Er konnte Helenens ermutigende Worte nicht vergessen, so entsagungsreich er sich auch bisher gefühlt hatte. Seine geschäftliche Thätigkeit wollte ihn garnicht fesseln, und mit Erstaunen sah Willi Denner, der sich bei ihm zum Schreiber ausbildete, wie der Herr Rechtsanwalt stundenlang am

320 Fenster stand, ohne die Akten eines neuen Prozesses, die ihn doch sonst so sehr zu reizen pflegten, auch nur eines Blickes zu würdigen. Giffords Unruhe wuchs, je näher der Sonnabend herankam. „Ob ich wohl versuchen soll, ihr von meiner Liebe zu erzählen, — ich habe ihr zwar da­ mals zugesagt, ich wollte sie nicht wieder beunruhigen, — aber ich kann ja sofort aufhören, wenn es ihr peinlich sein sollte." Mit diesem Entschluß ritt er Sonnabend Abends nach Ashurst. Für seine beiden Tanten waren diese wöchent­ lichen Besuche eine Quelle unendlicher Freude; sie konnten Sonntags den lieben Neffe» umso sichrer nach Herzenslust bewundern und verwöhnen, als er Montags in aller Frühe wieder fortritt und ihnen die Mißempfindung ersparte, ihre bescheidnen Hülfsquellen erschöpft zu haben. Vormittags be­ gleitete er sie pflichtschuldigst zur Kirche, und es war jedes­ mal ein bewußter Triumph für die beiden Damen, am Arm Giffords in die Michaelskirche zu treten. „Es ist schade, daß wir ihn immer an der Thür loslassen müssen," bemerkte Tante Deborah, „aber es könnte uns für Prahlerei ausgelegt werden, wenn er uns bis zu unserm Platz führte." An jenem Sonntag trug Tante Ruth zu seiner Ehre einen neuen Hut, dessen Zusammenstellung, — lila Atlas­ bänder und weiße Astern, — sie für besonders glücklich hielt. Als die drei am Garten des Pfarrhauses vorüberkamen, sah sich Gifford nach Luise um; Tante Deborah bemerkte es und sagte, ihrem Neffen zunickend: „Hast Du wohl gesehn, wie elend unsre gute, kleine Luise aussieht?" „Nein," erwiderte Gifford erschreckt. „Mir kommt es auch so vor," fiel Tante Ruth ein, „als hätte sie die Enttäuschung über Forsythe nicht über­ wunden."

321 „Aber soviel ich weiß, war sie garnicht mit ihm ver­ lobt," warf Gifford hin.

„Nein, nicht wirklich verlobt,"

zu,

gab Tante Deborah

„aber sie rechnete doch stark darauf.

Er hat wirklich

nicht ehrenhaft gehandelt, — trotzdem liebt sie ihn noch." „Woher weißt Du denn das?" fragte der Neffe. „Lieber Junge," nahm Tante Ruth das Wort, „es ist

genau, wie Deborah sagt, sie weiß die ganze Geschichte von

Adele, und der kann es doch nur Luise selbst erzählt haben." „Es sollte mich eigentlich nicht sonderlich aufregen," dachte Gifford, als er sich auf seinem Platze niedcrließ, „denn

ich habe es ja so erwartet."

Trotzdem mußte er sich gestehn,

daß seine frohe, hoffnungsvolle Stimmung geschwunden sei und die alte Niedergeschlagenheit seine Seele bedrücke. Nach dem Gottesdienst fand vor der Kirchenthür jedes­

mal ein kleiner, freundschaftlicher Klatsch start, dem Gifford, obgleich er ihn haßte, sich als Begleiter der Tanten nicht

ganz entziehen konnte. Er hörte, wie Frau Dale mit lauter, scharfer Stimme sagte: „Ich finde es sehr unrecht von Helene, sich dem Gottesdienste fernzuhalten; wenn sie das

Bedürfnis selber auch nicht hat, müßte sie es thun,

um zu beweisen, daß sie nicht an den Ideen ihres Mannes

hängt."

Selbst der Tod hatte Frau Dale, Johannes gegen­

über nicht versöhnlich gestimmt.

„Liebe Frau," bemerkte Dale milde, „gerade im An­ denken an ihren verstorbenen Gatten

kommt

sie nicht."

„Dummes Zeug!" rief Frau Dale und wandte sich ab. Auch Fräulein Deborah rügte Helenens Abwesenheit.

„Ich bedaure sehr, daß Helene nicht hier ist," sagte sie zu

Luise, „aber Gifford wird sie heute Abend besuchen; er ist doch zu gern mit ihr zusammen; nun sie sind beide jung,

und ich habe allerlei Gedanken." Jvhanneö LSarv.

21

322 Aus diese Weise hatte die gute Tante Deborah in aller Unschuld es fertig bekommen, in die Herzen von Gifford und Luise Mißtrauen und Eifersucht zu säen. Gifford verbrachte den langen Sonntagnachmittag in uner­ quicklichen, dauernd wechselnden Empfindungen. Während seines Besuches im Pfarrhause sah er Luise nur von wei­ tem; die Gelegenheit fich auszusprechen, bot sich nicht; sie zu suchen, verschmähte er. „Ich bin ein Thor," sagte er sich auf dem Heimwege, „daß ich mich immer wieder hoff­ nungsvoll stimmen lasse; dabei sehe ich doch klar, wie es mit ihr steht." Er kündigte seinen Tanten einen frühen Aufbruch für morgen an: „Ich werde über alle Berge sein, wenn Ihr noch in den Federn liegt, aber thut mir den einzigen Ge­ fallen; laßt Euch nicht stören. Sara wird mich schon mit Kaffee versorgen. Ob ich über acht Tage kommen kann, ist sehr zweifelhaft; ich habe sehr viel zu thun." Beide Tanten protestierten zwar; heimlich freuten sie sich aber doch des vielbeschäftigten Neffen, der gewiß eine vorzügliche Karriere machen werde. Ein feiner Herbstnebel lag noch über den Hügeln, als Gifford am nächsten Morgen sein Pferd aus dem Stalle führte; Gras und Kräuter glitzerten in reichlichem Thau. Sara stand auf der Schwelle und rief dem Fort­ reitenden vorwurfsvoll nach: „Ihrer Tante wird's nicht recht sein, Herr Rechtsanwalt, daß Sie nichts Ordentliches gegessen haben, noch dazu, wo sie mich hat Carbonnade machen lassen." Gifford aber war zu sehr von seinen eignen Interessen erfüllt, um viel Rücksicht aus Empfindlichkeit zu nehmen; mit einem freundlichen Gruß ritt er in den frischen Herbst­ morgen hinein, der überall das Leben des Tages weckte.

323 In den Büschen, zur Seite des Weges, wurde Flügelschlag und leises Gezirp hörbar; die weißen Blätter der Hänge­ birken zitterten, vom leichten Morgenwind gewiegt; ganz in der Ferne schlug die Kirchthurmuhr. Sonst war alles still, der Weg vollkommen einsam; Gifford konnte sich un­ gestört seinen Gedanken hingcben. Plötzlich wurde er durch das Bellen eines Hundes aufgeschreckt: „War das nicht Max?" dachte er, sich aufmerksam umschanend. „Wie Luise

den alten Knaben liebt!" Und wirklich brach der Teckel durch das Gesträuch; sein Fell war naß vom Morgenthau; im nächsten Augen­ blick wurden die Zweige hinter ihm auscinandergebogen, und in ihrem grünen Rahmen erschien seine junge Herrin. „Sieh da, Gifford!" rief sie überrascht. „Du bist's Luise?" beide schauten sich tief in die Augen. „Darf ich Dich ein Stückchen begleiten?" bat er, ab­ springend, das Pferd beim Zügel nehmend. „Bist Du schon auf der Heimreise begriffen, so in aller Frühe?" fragte sie. „Nun ich meine, Du bist mir darin znvorgekommen, Du mußt ja mit der Sonne um die Wette aufgestanden sein?" antwortete er lächelnd. „Ich wollte Väterchen Champignons zum Frühstück pflücken; je früher gepflückt, um so besser schmecken sie; ich weiß einen herrlichen Platz oben bei der kleinen Ruine." „Ach ja, ich besinne mich!" versetzte er. In seiner Seele wogte ein Stnrm der Empfindungen: „Soll ich, es noch einmal versuchen?" dachte er. „Es schadet doch nichts, wenn sie weiß, daß sie die Einzige in der weiten Welt ist, die ich liebe. Aber wenn es sie nun innerlich beunruhigt; o was bin ich doch für ein Thor! Ist es Dir

324 nicht ängstlich, so früh allein spazieren zu gehn?" frcgte er. „Paßt Du auch immer hübsch auf, Max?" „O Max ist ein treuer Freund," versetzte Luise, „er läßt mich nicht im Stich." Bei den letzten Worten wurde sie rot; es fiel ihr ein, daß Gifford den Worten eine An­ spielung unterlegen könnte. Aber Giffords Gemüt war viel zu sehr von einem einzigen Gedanken erfüllt, um auf Abwege zu geraten. Für ihn gab es nur die große Frage: „Liebt sie mich, oder liebt sie mich nicht?" „Da oben, wo noch der alte Rauchfang steht, habe ich oft Champignons gefunden," sagte Luise, als sic der Ruine, die eigentlich nur die letzte Spur einer solchen war, näher kamen. „Es wachsen sogar welche auf dem Heerde." Die Mauern waren längst verfallen; nur der einsame Schornstein ragte empor, um ihn her konnte man noch die alte, geschwärzte Heerdplattc erkennen. Der Weg, der ehe­ mals zur Schwelle geführt hatte, war ganz überwuchert von Gras, Fliedergebüsch und wildem Rosengestränch. Es ging nur langsam vorwärts, Max hielt sich dicht neben seiner Herrin; Giffords Pferd strauchelte ein Paarmal; endlich war man an der Stelle angelangt, wo die Cham­ pignons in Fülle wuchsen. Luise bückte sich, sie zu pflücken; aus dem nahen Gebüsch kam der Ton einer Amsel. „Luise," sagte Gifford plötzlich ganz unvermittelt, — er befand sich noch immer in tausend Zweifeln, ob er nicht thöricht handle, — „Luise, ich hätte .... ich möchte Dir gern etwas sagen, wenn Du zuhören willst." „Was denn?" fragte sie freundlich; ihr Körbchen war gefüllt, sie waren schon auf dem Heimweg. Gifford blieb stehn, band sein Pferd an einem Baum fest, um es grasen zu lassen, und schaute das junge Mädchen, dem der Wind

325 die goldnen Löckchen in die Stirn gejagt und die Wangen rot geküßt hatte, verlegen an. Es war viel schwerer da­

von anzufangen, als er je geglaubt hatte. „Gott, wenn sie nur nicht denkt, daß ich sie wieder mit einem Antrag öden will," dachte er, um laut hinzu­ zufügen: „Siehst Du, Luise, ich möchte Dir etwas mit­ teilen; vielleicht interessiert es Dich garnicht so sehr; es betrifft auch vielmehr mich selbst und mein Glück; unsre Freundschaft soll auch nicht darunter leiden" .... Alle Andeutungen von Tante Deborah schossen Luise durch den Sinn: So waren sie also berechtigt gewesen. Sie preßte ihre Hände auf das Körbchen, nm ihr Zittern zu verbergen. „Ich werde an allem teilnchmen, was Dich glücklich macht, Gifford," sagte sie etwas kleinlaut. „Helene wollte so gern, daß Da cs erfährst," sprach Gifford beunruhigt über ihre Blässe, verlegen weiter: „Du wirst mich hoffentlich nicht für wortbrüchig halten?" „Ich weiß garnicht, daß Du mir etwas versprochen hättest," flüsterte Luise mit niedergeschlagenen Augen, müh­ sam ihre Thränen bezwingend. „Nun, daß ich nicht noch zum zweiten Mak fragen wollte," stotterte er. „Hast Du es ganz vergessen?" „Was denn?" rief Luise in höchster Erregung. „Aber nicht wahr, es macht Dich doch nicht unglück­ lich," sprach er eilig und leise weiter, „wenn Du hörst, daß Du immer und allezeit meines Lebens Stern sein wirst, selbst wenn" . . . „Halt," rief Luise, ihn mit leuchtenden Augen, an deren Wimpern noch schwere Tropfen hingen, betrachtend: „Zch war es ja, weißt Du denn nicht mehr, die ein Ver­ sprechen gegeben hatte?"

326 „Luise," sprach er innig und ergriff ihre Hand in zitterndem Entzücken. „Ich weiß, was Du sagen wolltest," flüsterte sie sich abwendend, bis zu den Schläfen herauf errötend, „ich" ... er wartete einen Augenblick, daß sie fortfahren möge. Als sie aber in völliger Verlegenheit schwieg, nahm er sie an sein Herz. „Bin ich es denn wirklich?" jsragte Luise glückselig, zu ihm aufschauend. „Wer denn sonst?" lachte Gifford in heller Freude. Luise schüttelte den Kopf: die Erinnerung war zu be­ schämend; sie sollte für immer begraben sein. Natürlich gab es eine Fülle von Auseinandersetzungen. Keiner be­ griff, daß der Andre ihn so vollkommen habe mißverstehen können. Als Luise in ihrer Beichte bis zu ihrem Ver­ sprechen an Frau Forsythe Krankenbett gekommen war, fiel Gifford ganz unwillig ein: „Jetzt begreife ich alles; aber Luise, wie konntest Du so etwas versprechen?" „Findest Du, daß ich damit Unrecht that?" fragte sie, „Du darfst doch die Verhältnisse nicht vergessen, die mich zwangen." „Ich finde, Du durftest es trotzdem nicht thun," sagte er ernsthaft. „Und weißt Du wohl, daß Du mich gewissermaßen dazu gebracht hast?" rief sie. „Ich?" fragte er ganz erstaunt. „Gewiß, Du sandest doch, daß mich ein großer Teil Schuld träfe; sie zu sühnen, wollte ich mich opfern; Du weißt ja, daß ich es Dir schwer recht machen kann," schloß sie mit schelmischem Lächeln. „Ach Luise," antwortete Gifford treuherzig, „wenn ich Dich tadle, so geschieht das wirklich nur, weil ich Dich so sehr liebe; ich möchte Dich so gern vollkommen sehn!"

327 „Wirklich?" lachte sie. „Ach, Gifford, ich bin zu glücklich! Nun wollen wir aber auch nach Hause gehen; denn ich bin furchtbar hungrig; freilich auf die Champig­ nons muß Vater heute verzichten." Hand in Hand schritten sie neben einander, wie zwei Kinder. Gifford hatte ganz vergessen, daß ihn in Mercer ein so eiliges Geschäft erwarte. Als sie wieder auf der Landstraße waren, sahen sie noch einmal nach der Ruine zurück: „Dort stand einst ein Haus, in dem Glück und Liebe heimisch waren, so wird's auch in unserm künftigen Heim heißen, Luise," sagte er strahlend vor innerer Freude. „Ach Gifford," flüsterte sie dchmütig, „ich verdiene es garnicht." Davon wollte er natürlich nichts hören. Als sie end­ lich vor dem Pfarrhause standen, — mit soviel Muße war der Weg wohl noch niemals zurückgelcgt worden, — sagte Gifford: „Komm gleich zu Helene, wir haben sie schon zu lange von unserm Glück ausgeschlossen." Die junge Witwe begegnete ihnen auf der Schwelle; Gifford faßte ihre Hand: „Freue Dich mit uns, Helene!" Es bedurfte keiner Worte weiter: Ein Blick in das glühende Antlitz, das Luise an der Brust der Freundin barg, sagte Helene alles. Aus Luisens Glück erwuchsen Helenen neue Pflichten; sie hatte ferner nicht nötig, nach einem Wirkungskreis umznschauen; er gab sich ihr im Pfarrhause ganz natürlich: Der Segen der Arbeit, das beglückende Gefühl der Unentbehr­ lichkeit halfen ihr, getrost ihren einsamen Lebenspfad gehen. Die Nachricht von Gifford und Luisens Verlobung erregte die Gemüter der guten Freunde und Verwandte des Pärchens lebhaft. Prediger Howe zwar sehr überrascht, war vollkommen bereit, die Sache gutzuheißen: „So ist es immer," sagte er mit seinem herzlichen, ausgiebigen Lachen,

328 „wenn man die Töchter glücklich erzogen hat und sich ihrer freuen will, werden sie einem weggeschnappt. Daß Du sie mir aber nicht weiter entführst, als bis Mercer, hörst Du Giss?" Frau Dale war einfach begeistert. „Gerade das, was ich immer gewünscht und erstrebt habe," erklärte sie den Ihrigen, „und wenn nun Luise vernünftig genug sein wird, sich durch ihn leiten zu lassen, werden die beiden ein sehr glückliches Paar werden!" So bist Du also dafür, daß der Mann die Frau leitet?" fragte Dale. „Ganz gewiß, wenn er Verstand genug hat," gab sie mit bedeutungsvollem Kopfnicken zu. Auch Tante Deborah und Tante Ruth waren hocher­ freut. „Sie sind zwar beide noch sehr jung," bemerkte Deborah; „aber ich werde mich schon des Hauswesens etwas annehmen, bis Luischen es gelernt hat. Glücklicher­ weise werden sie doch ganz aus der Schußweite unsrer guten Adele leben. Es thut nie gut, wenn sich die Ver­ wandten der jungen Frau, sei es auch mit den besten Absichten, in einen jungen Haushalt mischen." „Es ist rührend, wie die beiden sich lieben," sagte Ruth gedankenvoll. „Ich muß gestehn, meine liebe Ruth, daß Du kaum befähigt bist, das beurteilen zu können; übrigens kommt es mir auch so vor, als wären sie sich so herzlich zugethan, wie man es von so jungen Leuten erwarten kann." Aber Ruth wußte es besser. Als sie am Abend vor dem Zubettegehen Denners verblaßtes Portrait betrachtete, sagte sie leise seufzend vor sich hin: „Wohl dem, der jung ist!»