Jenseits des Illustrativen: Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation 9783737004022, 9783847104025, 9783847004028

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Jenseits des Illustrativen: Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation
 9783737004022, 9783847104025, 9783847004028

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Schriften zur politischen Kommunikation

Band 20

Herausgegeben von Angela De Benedictis, Gustavo Corni, Brigitte Mazohl, Daniela Rando und Luise Schorn-Schütte

Niels Grüne / Claus Oberhauser (Hg.)

Jenseits des Illustrativen Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation

Mit zahlreichen Abbildungen

V& R unipress

Reihe des Internationalen Graduiertenkollegs »Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert«

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0402-5 ISBN 978-3-8470-0402-8 (E-Book) Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung und des Forschungsschwerpunkts »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, der Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger, des Landes Tirol (Abteilung Kultur) sowie des Privatinstituts für Ideengeschichte gedruckt. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Sal Dab giving Monsieur a Reciept in full.« London, Printed for R. Sayer & J. Bennett No. 53 Fleet Street, as the Act directs 29 May 1776. BM Satires 4623 Ó The Trustees of the British Museum Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigen Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Niels Grüne / Claus Oberhauser Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation. Vorbemerkungen zum Problemhorizont . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theoretisch-konzeptionelle Zugänge Martin Knauer Bilder und symbolische Kommunikation. Visualisierung als Forschungsproblem einer transdisziplinären Kulturgeschichte des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martina Sauer Visualität und Geschichte. Bilder als historische Akteure im Anschluss an Verkörperungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Orte und Milieus visueller Medialisierung Jennifer Hein Die parthenonische Bauplastik im Spannungsfeld zwischen Politik und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Ehrenpreis Erziehung zum politischen Sehen? Bildliche Repräsentationen des Politischen in frühneuzeitlichen Schulbüchern . . . . . . . . . . . . . . .

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Katrin Sterba Bilder von Missionaren – Missionierung durch Bilder? Ein Beitrag zur (Selbst-)Darstellung des Jesuitenordens und seiner Missionare in der Kirche Sankt Ignatius in Iglau (Mähren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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Inhalt

Philipp Hubmann Transparente Subjekte. Ordnungsästhetik und Jugendtopik im »Bildwerk« der deutschen Fürsorgeerziehung . . . . . . . . . . . . . . . 145

Funktions- und Wirkungsweisen bildlicher Repräsentationen Birgit Emich Gewalt kommunizieren. Die Pariser Bluthochzeit 1572 – oder : Die Auflösung des Martyriums im Massaker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Silke Meyer Politische Kommunikation in alltäglichen Bildwelten. Nationale Stereotype in der populären Druckgraphik des 18. Jahrhunderts . . . . . 203 Ellinor Forster »[…] daß bey weitem nicht alles salzburgischer Boden ist, was […] gelb gemahlt ist.« Aneignung von Land und Rechten durch Visualisierung auf geographischen Karten von Salzburg und Tirol im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Sybille Moser-Ernst / Ursula Marinelli Geschichte des Karikaturprojektes Kris / Gombrich. Antworten und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Vorwort

Im Frühjahr 2013 hat sich die Arbeitsgruppe »Politische Kommunikation« des Innsbrucker Forschungsschwerpunkts »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« in drei Veranstaltungen mit visuellen Medien und Strategien im Feld des Politischen befasst.1 Die Aufsätze des vorliegenden Bands dokumentieren eine Auswahl der Referate und sind durch weitere Beiträge ergänzt worden. Unter dem programmatischen Titel »Jenseits des Illustrativen« entfalten sie ein multi- und interdisziplinäres Panorama analytischer Zugriffe auf das Leitthema. Aus geschichts-, kunst- und literaturwissenschaftlichen sowie europäisch-ethnologischen Blickwinkeln beleuchten die Autorinnen und Autoren exemplarisch, wie die Rolle bildlicher Repräsentationen im politischen Raum theoretisch-methodisch konturiert und empirisch erhärtet werden kann. Wie stets in solchen Fällen gilt es mannigfachen Dank abzustatten. Neben dem erwähnten Forschungsschwerpunkt haben folgende Einrichtungen den Druck finanziell gefördert: das Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck, die Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger, die Abteilung Kultur des Lands Tirol und das Privatinstitut für Ideengeschichte. Bereitwillige Aufnahme fanden wir bei den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe »Schriften zur politischen Kommunikation«. Ruth Vachek und Anke Moseberg von V& R unipress haben das Buch seitens des Verlags mit Geduld und Umsicht betreut. Allen genannten Institutionen und Personen möchten wir für ihre Unterstützung herzlich danken. Niels Grüne, Claus Oberhauser

Innsbruck im Februar 2015

1 An zwei interne Workshops im Januar und März schloss sich am 11./12. April 2013 eine internationale Tagung an. Vgl. hierzu den Bericht von Seraina Renz: H-Soz-u-Kult, 18. 6. 2013; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4861 [2. 2. 2015].

Niels Grüne / Claus Oberhauser

Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation. Vorbemerkungen zum Problemhorizont

1.

Forschungsgeschichtlicher Aufriss

In den 1980er Jahren sah sich Rainer Wohlfeil noch genötigt, für den »Erkenntniswert«, den »Bilder als historische Quelle vermitteln können«,1 überhaupt erst Aufmerksamkeit zu wecken, als er ein Verfahren anregte, um visuellen Zeugnissen »Aussagen über gesellschaftliche Beziehungen und ihren Wandel« zu entlocken.2 Mitstreiterinnen im Bemühen um eine Erneuerung der ›Historischen Bildkunde‹ beklagten denn auch deren Kümmerdasein als »›Stiefkind‹ der Geschichtswissenschaft« und die »verbreitete Bildignoranz« in Fachkreisen.3 Schon 2003 glaubte Bernd Roeck die Frage nach einem »Visual turn« in der Geschichte aber »mit einem – noch etwas zögerlichen – ›ja‹ […] beantworten« zu können und prophezeite, dass »der Blick auf die Bilder bald ein großes Thema

1 Rainer Wohlfeil, Das Bild als Geschichtsquelle, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 91 – 100, hier S. 92. Das Programm war erstmals skizziert worden in ders. / Trudl Wohlfeil, Das Landsknecht-Bild als geschichtliche Quelle. Überlegungen zur Historischen Bildkunde, in: Manfred Messerschmidt u. a. (Hg.), Militärgeschichte. Probleme – Thesen – Wege, Stuttgart 1982, S. 81 – 99. 2 Rainer Wohlfeil, Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: ders. / Brigitte Tolkemitt (Hg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, Berlin 1991, S. 17 – 35, hier S. 18. Auf ältere, methodisch freilich weniger prononcierte Vorläufer (Georg Dehio, Percy Ernst Schramm, Erich Keyser, Hartmut Boockmann) verweisen Jens Jäger / Martin Knauer, Historische Bildforschung oder ›Iconic Turn‹ – das ungeklärte Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu Bildern, in: Elke Huwiler / Nicole Wachter (Hg.), Integration des Widerläufigen. Ein Streifzug durch geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder, Hamburg 2004, S. 211 – 221, hier S. 215 – 218; Jens Jäger / Martin Knauer, Bilder als historische Quellen? Ein Problemaufriss, in: dies. (Hg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, S. 7 – 26. Sie konstatieren (ebd., S. 13): »Das Rad ist hier sozusagen mehrmals erfunden worden.« 3 Brigitte Tolkemitt, Einleitung, in: dies. / Rainer Wohlfeil (Hg.), S. 7 – 14, hier S. 7; Heike Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als historische Quelle. Methodische Überlegungen zur Historischen Bildkunde, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 289 – 313, hier S. 289.

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der ›neuen Kulturhistoriker‹ sein wird«.4 Unlängst schließlich haben Franz X. Eder und Oliver Kühschelm optimistisch bilanziert, dass »aus dem ehemals vernachlässigten Stiefkind ein vollwertiges Mitglied der historiografischen Familie geworden« sei.5 An der Vervielfachung einschlägiger Studien in den letzten Jahren,6 dem Erscheinen monographischer Synthesen,7 dem Bedürfnis nach quellen- und methodenkundlichen Einführungen8 sowie der Schaffung spezialisierter Lehrstühle9 lässt sich in der Tat ablesen, wie weit die akademische Etablierung inzwischen fortgeschritten ist. Dieser Aufschwung verdankte sich exogenen und endogenen Impulsen. Außerhalb der Geschichtswissenschaft bündelten sich in William J. T. Mitchells »pictorial turn«10 (1992) und Gottfried Boehms »iconic turn«11 (1994) programmatische Bestrebungen, dem Bildlichen und Visuellen nicht nur generell einen zentralen Platz als Untersuchungsobjekte einzuräumen, sondern ihre Erforschung vor allem auch aus der methodischen Umklammerung durch textund zeichentheoretische Ansätze zu befreien.12 Es wurde zwar eingewandt, dass 4 Bernd Roeck, Visual Turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 294 – 315, hier S. 313. 5 Franz X. Eder / Oliver Kühschelm, Bilder – Geschichtswissenschaft – Diskurse, in: dies. / Christina Linsboth (Hg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 3 – 44, hier S. 3. 6 Vgl. zu jüngeren Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert Christine Brocks, Ist Clio im Bilde? Neuere historische Forschungen zum Visuellen, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 453 – 486. Zuletzt auch Gerhard Paul, BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013; Eugen Kotte (Hg.), Geschichte in Bildern – Bilder in der Geschichte. Fallbeispiele zur historischen Bildforschung, Frankfurt a. M. u. a. 2014. 7 Vgl. etwa Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen (engl. 2001), Berlin 2003; Bernd Roeck, Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004. 8 Vgl. z. B. Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung, Tübingen 2000; ders., Fotografie und Geschichte, Frankfurt a. M. 2009; Christine Brocks, Bildquellen der Neuzeit, Paderborn 2012. 9 Vgl. den Beitrag von Martin Knauer in diesem Band. 10 William J. T. Mitchell, The pictorial turn (1992), in: ders., Picture theory. Essays on verbal and visual representation, Chicago / London 1994, S. 11 – 34. 11 Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild? (1994), 2. Aufl., München 1995, S. 11 – 38, hier S. 13 u. ö. 12 Dieser anti-semiotische Impetus gegen den linguistic turn wirft auch ein Licht auf die zählebige Bildskepsis der (deutschen) Geschichtswissenschaft, die lange in der logozentrisch-philologischen Tradition des 18./19. Jahrhunderts stand und in der Polysemie des Bildlichen eine Gefährdung ihrer reflexiven Rationalitätsprinzipien wittern mochte. Vgl. Habbo Knoch, Renaissance der Bildanalyse in der Neuen Kulturgeschichte, in: »Sichtbarkeit der Geschichte«: Beiträge zu einer Historiografie der Bilder, hrsg. für H-ArtHist und H-Sozu-Kult von Matthias Bruhn / Karsten Borgmann, Berlin 2005, S. 49 – 61, hier S. 49 – 52; http:// edoc.hu-berlin.de/e_histfor/5/PDF/HistFor_5 – 2005.pdf [9. 1. 2015]; Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7 – 36, hier S. 8; Stefan Haas / Armin Heinen, Visualität

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Mitchell und Boehm divergierende Motive antrieben: Während jener der Allgegenwart und Eigenlogik visueller Artefakte in massenmedialen Konsumgesellschaften Rechnung tragen wollte, sei es Boehm – verdichtet in der Formel der »ikonischen Differenz«13 – gerade darauf angekommen, die »bedrohte Autonomie des künstlerischen Bildes hermeneutisch zu retten.«14 Zuletzt ist auch kritisch auf die historisch-empirischen Operationalisierungsprobleme einer latent auratisierenden Bildauffassung hingewiesen worden.15 Gleichwohl haben beide turns über die Fächergrenzen hinaus dazu beigetragen, nachhaltig für das spezifische Wirkungspotential visueller Medien und die Notwendigkeit distinkter Analysezugänge zu sensibilisieren.16 Mit leichter Verzögerung stieß dieser Appell auch in der Geschichtswissenschaft auf Resonanz. Ihre innere Empfänglichkeit wuchs in dem Maße, wie sie sich für kulturhistorische Konzepte öffnete. Denn es besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen dem wachsenden Interesse an handlungsorientierenden Deutungshorizonten auf der einen Seite und der Idee von Bildern als Artikulations-, Diffusions- und Mobilisierungsmitteln (»Indikatoren« und generativen »Faktoren«) solcher »Imaginationen« auf der anderen.17 Nicht von ungefähr zielen – entgegen einem simplen Widerspiegelungsbegriff18 – die Konturierun-

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und Geschichtswissenschaft oder Über die Anstrengungen, eine Synthese humanwissenschaftlicher Perspektiven und Methoden herzustellen. Ein Interview mit Stefan Haas, in: zeitenblicke 10, Nr. 1 [09. 08. 2011], Abs. 5; http://www.zeitenblicke.de/2011/1/Interview/ index_html [9. 1. 2015]. Vgl. Boehm, Wiederkehr der Bilder, S. 29 – 36. Der Begriff »markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenart des Bildes kennzeichnet, das […] auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen läßt, der zugleich alles Faktische überbietet.« Ebd., S. 30. Vgl. Willibald Sauerländer, Iconic Turn? Eine Bitte um Ikonoklasmus, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 407 – 426, S. 407 (Zitat). Zum Spannungsverhältnis von Ästhetizität und Historizität vgl. auch Klaus Krüger, Geschichtlichkeit und Autonomie. Die Ästhetik des Bildes als Gegenstand historischer Erfahrung, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Göttingen 1997, S. 53 – 86. Vgl. Eder / Kühschelm, S. 20, 27. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, S. 329 – 380 (Iconic Turn), hier S. 331. Dieses gemeinsame Anliegen haben Boehm und Mitchell vor einigen Jahren noch einmal in einem wissenschaftlichen Briefwechsel unterstrichen. Vgl. Gottfried Boehm, Iconic Turn. Ein Brief, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 27 – 36; William J. T. Mitchell, Pictorial Turn. Eine Antwort, in: ebd., S. 37 – 46. Rolf Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 219 – 230, 255 – 257, hier S. 219 f. Gegen den Vorwurf, einer naiven Abbildtheorie anzuhängen, hatten sich allerdings schon die Vertreter/innen der Historischen Bildkunde verwahrt. Vgl. etwa die Reaktion von Wohlfeil, Methodische Reflexionen, S. 18 f., auf entsprechende Bemerkungen in Martin Knauer,

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gen des breiten Aufgabenfelds historischer Bildforschung oder visual history in avancierten Entwürfen primär auf diese Aneignungsdimension: die »Geschichte kollektiver Wahrnehmungen, Sinnbildungsmuster und visueller Darstellungsformen«;19 oder darauf, Bilder »als Medien zu untersuchen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, historische Deutungsweisen transportieren und die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren.«20 Wenn auch die ältere Historische Bildkunde für derartige Aspekte keineswegs blind gewesen war,21 hatte man sich in der Praxis doch bis weit in die 1990er Jahre hinein auf den dokumentarischen Zeugniswert konzentriert.22 Die Verschiebung der Erkenntnisinteressen lenkte den Blick zunehmend auf die Verwendungsweisen von Bildern, ihre alltagskulturellen Einbettungen und damit auf die kommunikative Funktion.23 Durch die kontextualisierende Verortung in historischen Interaktionszusammenhängen vollzog sich gleichsam eine ›Anthropologisierung‹ der Gegenstandsbestimmung,24 die der Bildgeschichtsforschung mit der Einbeziehung ephemerer Gattungen (z. B. Druckgraphik, Bildpublizistik) und der Fokussierung auf Gebrauchspraktiken zum Anschluss an die visual (culture) studies sowie die visuelle (Kultur- und Sozial-) Anthropologie verhalf.25 Bis hin zum Wandel optischer Sinneswahrnehmungen

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›Dokumentsinn‹ – ›historischer Dokumentensinn‹. Überlegungen zu einer historischen Ikonologie, in: Tolkemitt / Wohlfeil (Hg.), S. 37 – 47, bes. S. 45. Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, S. 219. Ähnlich z. B. Burke, S. 33 – 36, 216. Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, S. 25. Wohlfeil, Methodische Reflexionen, S. 19, hob etwa die Berücksichtigung von »Funktion und Wirkung« hervor. Zu einer Verwischung der konzeptionellen Differenzen neigt auch Heike Talkenberger, Historische Erkenntnis durch Bilder. Zur Methode und Praxis der Historischen Bildkunde, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 3. Aufl., Reinbek 2007, S. 88 – 103, hier S. 99. Vgl. kritisch Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, S. 226; Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, S. 18. – Symptomatisch etwa Michael Maurer, Bilder repräsentieren Geschichte. Repräsentieren Bilder Geschichte? Zur Funktion historischer Bildquellen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, in: Klaus Füßmann / Heinrich Theodor Grütter / Jörn Rüsen (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln / Weimar / Wien 1994, S. 61 – 89. – Für ein Festhalten an der hilfswissenschaftlichen Hauptfunktion plädiert hingegen Ralph Andraschek-Holzer, Historische Bildkunde – Geschichte, Methoden, Ausblick, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 6/2 (2006), S. 6 – 20. Vgl. Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, S. 11; Reichardt, Bild- und Mediengeschichte, S. 220. In Anlehnung an Bachmann-Medick, S. 334 f. – Ein kunstwissenschaftliches Pendant könnte man in der neurophysiologisch und kognitionspsychologisch gestützten Erforschung von Interaktionsprozessen zwischen Werk und Betrachter/in sehen, wie sie Martina Sauer in ihrem Beitrag diskutiert. Vgl. Silke Meyer / Guido Sprenger, Der Blick der Kultur- und Sozialanthropologie. Sehen als Körpertechnik zwischen Wahrnehmung und Deutung, in: Silke Meyer / Armin Owzar (Hg.), Disziplinen der Anthropologie, Münster u. a. 2011, S. 203 – 227, bes. S. 213 – 226; Walter

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und Interpretationsschemata konnte sich die Frage nach den Suggestions-, Evidenz- und Autoritätseffekten bildlicher Repräsentationen nun auf die Seite der Akteurinnen und Akteure sowie ihres Umgangs mit visuellen Reizen verlagern.26 In gewissem Grad wird man diese Tendenz sogar für Horst Bredekamps viel zitierte Kategorie des »Bildakts« geltend machen dürfen, da auch hier – unbeschadet allen Insistierens auf dem »Eigensinn« der Bilder – deren Handlungsmacht letztlich aus dem Wechselverhältnis zu den Rezipienten erwächst.27

2.

Einige Leitaspekte

Dem Band liegt zunächst ein ›äußerer‹ Bildbegriff (picture) zugrunde, der – mit dem Medienphilosophen Klaus Sachs-Hombach – auf »Bildphänomene im engeren Sinn« rekurriert, die »im Unterschied zur sprachlichen Darstellung nicht als Beschreibung, sondern als visuelle Veranschaulichung eines (fiktiven oder realen) Sachverhalts aufgefasst [werden]. Als derartige Bilder im engen Sinn gelten Gegenstände, die materiell, in der Regel visuell wahrnehmbar, artifiziell und relativ dauerhaft sind. Durch das Kriterium der Materialität sollen vor allem Phänomene wie Sprachbilder oder Vorbilder ausgeblendet werden. Das Kriterium der Artifizialität, das mit dem Hinzufügen eines Rahmens bereits erfüllt wird, grenzt die Bilder im engen Sinn zudem von den so genannten natürlichen Bildern ab, etwa von Spiegelbildern. Das Kriterium der Persistenz sichert schließlich, dass es sich um einen wiederholt wahrnehmbaren Gegenstand handelt, also nicht etwa um das Phänomen der so genannten Wolkenbilder.«28

Leimgruber / Silke Andris / Christine Bischoff, Visuelle Anthropologie: Bilder machen, analysieren, deuten und präsentieren, in: Sabine Hess / Johannes Moser / Maria Schwertl (Hg.), Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte, Berlin 2013, S. 247 – 281. – Vgl. auch den Beitrag von Silke Meyer in diesem Band. 26 Vgl. exemplarisch Silvia Serena Tschopp, Das Unsichtbare begreifen. Die Rekonstruktion historischer Wahrnehmungsmodi als methodische Herausforderung der Kulturgeschichte, in: Historische Zeitschrift 280 (2005), S. 39 – 81; Gabriele Wimböck, Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: dies. / Frank Büttner (Hg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004, S. 9 – 41. 27 Vgl. Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Mainz 2004, S. 29 – 66; ders., Schlussvortrag: Bild – Akt – Geschichte, in: Clemens Wischermann u. a. (Hg.), GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz. Berichtsband, Konstanz 2007, S. 289 – 309. 28 Klaus Sachs-Hombach, Konzeptionelle Rahmenüberlegungen zur interdisziplinären Bildwissenschaft, in: ders. (Hg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a. M. 2005, S. 11 – 20, hier S. 12 f. Varianten dieser definitorischen Eingrenzung finden sich in vielen einschlägigen Arbeiten.

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›Innere‹ oder mentale Bilder, Metaphern, Denkfiguren usw. (images)29 – besonders solche mit politischer Valenz – markieren mithin nicht das empirische Schwergewicht der Fallstudien. Sie kommen aber fast durchgängig dort zum Tragen, wo es die gesellschaftliche Aussagekraft, Funktion und Wirkung visueller Artefakte auszuleuchten gilt. Zum Zwecke dieser nötigen Kontextualisierung werden die analysierten Bildobjekte vielfach auch in einem interpikturalen und -medialen Motivrepertoire lokalisiert, das ihre soziale Reichweite zu erhellen vermag.30 Seitdem das kulturgeschichtliche Paradigma um 2000 auch in der historischen Politikforschung intensiver aufgegriffen wurde, stellt sich ebenso in diesem Bereich verschärft die Frage nach der Wirkungs- und Erklärungskraft visueller Artefakte.31 Während das herkömmliche sektorale ›Politik‹-Verständnis um ein zumindest partiell ausdifferenziertes Funktionssystem von Institutionen und Personen kreist, denen in einem Herrschaftsverband Leitungs- und Machtbefugnisse zukommen, hebt die Kulturgeschichte des ›Politischen‹ in erster Linie auf jene kommunikativen Modi ab, die den Geltungsraum legitimer Themen, Akteure, Verfahren und Argumente kollektiver Ordnungsdiskurse und -praktiken historisch variabel konstruieren.32 Auf der Basis einer solchen Entessentialisierung und Verflüssigung des Gegenstands lassen sich dann auch exakter Diskurse, Strategien und Prozesse der Politisierung bzw. Depolitisierung identifizieren.33 In epistemischer und analytischer Hinsicht scheint eine gewisse Analogie zwischen der sogenannten »politischen Differenz«34 und dem Übergang von der historischen 29 Vgl. in erkenntnistheoretischer Wendung Heinz Dieter Kittsteiner, »Iconic turn« und »innere Bilder« in der Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 153 – 182. 30 Vgl. mit epochenspezifischem Fokus Birgit Emich, Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31 – 56. 31 Zum forschungspraktischen Umgang mit diesem Problem in deutschen Verbundprojekten der ›Neuen Politikgeschichte‹ vgl. den Beitrag von Martin Knauer. 32 Vgl. Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Eibach / Lottes (Hg.), S. 152 – 164, 176 – 177; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574 – 606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71 – 117; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 9 – 24; Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung. München 2006. Einen luziden Überblick bietet Tobias Weidner, Die Geschichte des Politischen in der Diskussion, Göttingen 2012. 33 Vgl. Willibald Steinmetz / Heinz-Gerhard Haupt, The political as communicative space in history : the Bielefeld approach, in: dies. / Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Writing political history today, Frankfurt a. M. / New York 2013, S. 11 – 33, hier S. 21 – 27. 34 Weidner, S. 32 (nach Ernst Vollrath): »Als ›politische Differenz‹ wird die systematische Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen bezeichnet.«

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Bildkunde zur visual history zu bestehen. Jedenfalls hat Bettina Brandt die Erweiterungserfordernisse der historischen Bildforschung im Rahmen einer ›Kulturgeschichte des Politischen‹ gegenüber der klassischen ›Politischen Ikonographie‹ in dieser Richtung akzentuiert.35 Parallel drängt sich die Sphäre der politischen Kommunikation, der sich die Beiträge dieses Bandes unter verschiedenen Blickwinkeln zuwenden, aus der Perspektive der visual history als eines der lohnendsten Untersuchungsobjekte auf.36 Das Verhältnis zu anderen Ansätzen im Schnittfeld von Bildlichkeit und dem Politischen dürfte sich allerdings kaum spannungsfrei gestalten. So müssen etwa die ästhetischen Eigendynamiken visueller Artefakte37 oder die Relation zum Konzept der politischen Sprachen in der Neuen Ideengeschichte38 nach wie vor als unzureichend geklärt gelten. Die hier vereinten Arbeiten teilen schließlich mit der überwältigenden Mehrzahl bisheriger Studien ein Grunddefizit der historischen Bildwissenschaft auf dem Gebiet der Rezeptionsforschung: Zu individuellen Bilderfahrungen dringt man – jenseits der literarischen Kunstkritik – vor allem aus Mangel an Quellenbelegen nur selten vor. Die Klage über das notorische Desiderat zieht sich wie ein roter Faden durch einführende Darstellungen.39 Als beispielhafte Ausnahmen firmieren bisweilen die älteren Monographien von Michael Baxandall und David Freedberg.40 Aber obwohl Peter Burke diese Untersuchungsrichtung 2001 zur »vielversprechendste[n] für die kommenden Jahre« erklärt hatte,41 ist wenig nachgekommen.42 Da sich die Rezeptionsästhetik im Wesent35 Vgl. Bettina Brandt, ›Politik‹ im Bild? Überlegungen zum Verhältnis von Begriff und Bild, in: Willibald Steinmetz (Hg.), »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt a. M. / New York 2007, S. 41 – 71, hier S. 44 – 50. Vgl. auch dies., Writing political history after the »iconic turn«, in: Steinmetz / Gilcher-Holtey / Haupt (Hg.), S. 351 – 357. Zur politischen Ikonographie etwa Martin Warnke, Politische Ikonographie, in: Andreas Beyer (Hg.), Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin 1992, S. 23 – 28. 36 Vgl. Gerhard Paul, Die aktuelle Historische Bildforschung in Deutschland. Themen – Methoden – Probleme – Perspektiven, in: Jäger / Knauer (Hg.), S. 125 – 147, hier S. 135 f. 37 Wolfgang Braungart, Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen, Göttingen 2012, S. 65 – 69. 38 Vgl. Schorn-Schütte, Historische Politikforschung, S. 14–63; dies., Politische Kommunikation als Forschungsfeld. Einleitende Bemerkungen, in: Angela De Benedictis u. a. (Hg.), Die Sprache des Politischen in actu. Zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Sprache von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 7 – 18. 39 Vgl. etwa Bernd Roeck, Vom Umgang mit Bildern: die kulturgeschichtliche Perspektive, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 6/2 (2006), S. 21 – 34, hier S. 33 f.; Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, S. 28; Eder / Kühschelm, S. 9. 40 Michael Baxandall, Painting and experience in fifteenth-century Italy. A primer in the social history of pictorial style, Oxford 1972; David Freedberg, The power of images. Studies in the history and theory of response, Chicago / London 1989. – Entsprechende Hinweise bei Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation, S. 306 ff.; Burke, S. 206 f. 41 Ebd., S. 207. 42 Davon zeugt trotz aufschlussreicher Detailbefunde auch der verheißungsvoll betitelte Aufsatz von Alfred Messerli, Bilder verstehen, so gut es geht: Frühneuzeitliche Bildrezeption

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lichen der werkimmanenten Betrachterfunktion widmet, ist von hier ebenfalls kaum Abhilfe zu erwarten.43 So lassen sich, wie Gerhard Paul registriert hat, »mit den Mitteln der historiografischen Forschung derzeit durchaus präzise die Wirkungsfelder und die Rezeptionskontexte sowie die Deutungsgeschichten einzelner Bilder oder Bildergruppen rekonstruieren. Untersuchungen zur Wirkung und zur Wahrnehmung historischer Bilder indes stehen erst am Anfang.«44

Einen jener raren »Vorstöße in die quellenarme Dämmerzone, wo sich die Begegnung des Werks mit der Welt abspielt«,45 erlauben etwa die Erinnerungen William Thackerays, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts entsann, wie nachhaltig eine Gillray-Karikatur Napoleon Bonapartes in der Bibliothek des Großvaters über die Jugend hinaus sein negatives Franzosenbild geformt hatte.46 Eine systematische Erfassung von Rezeptionsspuren in Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten könnte daher wohl noch weitaus mehr Licht ins wirkungsgeschichtliche Dunkel bringen.

3.

Tagungsexposé und Analyserahmen

Vor der Folie solcher Erwägungen lag den Referentinnen und Referenten der Veranstaltungen der Innsbrucker Arbeitsgruppe »Politische Kommunikation« im Frühjahr 2013 (vgl. Vorwort) sowie den Autorinnen und Autoren ein Konzeptpapier mit Kernfragen vor, das die analytischen Leitlinien des Bands absteckt: Die Innsbrucker Workshops »Jenseits des Illustrativen. Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation« dienen dazu, zwei historische Dimensionen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert aufeinander zu beziehen, die je für sich – und zum Teil auch in ihrem Zusammenspiel – in den letzten 20 Jahren zunehmend Beachtung gefunden haben. Zum einen hat sich die wachsende Aufmerksamkeit für Bildquellen inzwischen zu dem umfassenden Konzept einer ›visual history‹ verdichtet. Zum anderen fungiert ›politische Kommunikation‹

43

44 45 46

zwischen visueller Vorgabe und individuellem Erwartungshorizont, in: Matthias Bruhn / Kai-Uwe Hemken (Hg.), Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 159 – 177. Vgl. Wolfgang Kemp, Kunstwerk und Betrachter. Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, S. 203 – 221; Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation, S. 305 f.; dies., Historische Erkenntnis durch Bilder, S. 97 f. Paul, Die aktuelle Historische Bildforschung in Deutschland, S. 133 (Hervorhebungen im Original). Roeck, Das historische Auge, S. 266. Vgl. den Beitrag von Silke Meyer, S. 225.

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als ein begrifflicher Referenzpunkt für zahlreiche, vor allem kulturwissenschaftlich inspirierte Ansätze, die sich um eine Erweiterung der herkömmlichen Politikgeschichte bemühen. In Anlehnung an jüngere Definitionsversuche sehen wir ›politische Kommunikation‹ generell dadurch charakterisiert, dass sie kollektive Verbindlichkeit mit Blick auf Ordnungsnormen, Interaktionsregeln und Machtverhältnisse anstrebt. Sie konstituiert somit einen historisch variablen relationalen Handlungsraum, in dem mittels Praktiken, Diskursen, Symbolen und Ritualen überindividuelle Probleme von Sozial- und Herrschaftsbeziehungen thematisiert werden. Die Positions- und Ressourcenkämpfe der Akteure in diesem Feld kreisen maßgeblich darum, Legitimations- und Plausibilisierungsformen für ihre Geltungs- und Hegemonieansprüche zu entwickeln. Naturgemäß rückt aus einer solchen Perspektive ein breites Spektrum visueller Verbindlichkeitskommunikation in den Fokus. Es reicht von einzelnen Kunstwerken über massenmedial distribuierte Artefakte und performative Vollzüge bis zu mentalen und Sprach-Bildern. In jedem Fall dehnt es den klassischen Kanon der politischen Ikonographie erheblich aus. Im Kern richtet sich das Interesse darauf, welchen Beitrag visuelle (Re-)Präsentationen zur Konstituierung des ›Politischen‹ in jenem Sinne eines ordnungsstiftenden und handlungsermächtigenden Kommunikationsmodus leisten, so dass sie nicht nur als Indikatoren, sondern auch als Faktoren gesellschaftlicher Wirklichkeit hervortreten. Diese analytische Grundlinie lässt sich in eine Reihe von Anschlussfragen auffächern, die das Erkenntnisziel – keineswegs erschöpfend – näher umreißen und operationalisieren: – Jede Initiative zu resonanzfähiger Teilhabe an der politischen Kommunikation bedarf einer wert- und/oder zweckrationalen Legitimation. Aus welchen normativen Ressourcen speisten sich bildliche Geltungsbehauptungen in dieser Hinsicht? – Auch die politische Wirkungskraft visueller Manifestationen liegt im Auge des Betrachters. Auf welche Quellen kann man sich stützen, um diese rezeptionsgeschichtliche Seite über werkimmanente Adressatenorientierungen hinaus zu erfassen? – Lassen sich hierbei Zusammenhänge zwischen den Formen des Visuellen und den beabsichtigten Ansprechpartnern systematisieren? – In einigen Phasen der Antike und abermals seit dem späten Mittelalter schälte sich mit dem werdenden ›Staat‹ ein festes Ensemble von Institutionen und Akteuren als privilegierter Ort kollektiv verbindlicher Ordnungsstiftung heraus. Wie wurde eine derartige Monopolisierung des ›Politischen‹ visuell gestaltet und – umgekehrt – angefochten?

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– Welche ephemeren Darstellungsformen von Herrschaft gab es demgegenüber, die nicht auf intendierten Repräsentationen beruhten? – Etablierte Sehgewohnheiten sind Ausdruck eines bestimmten kommunikativen und ästhetischen Stils sowie das Ergebnis von Aushandlungsprozessen. Wer oder was war daran beteiligt bzw. stand außerhalb und wurde aus welchen Gründen ausgeschlossen? – Bilder spiegeln nicht nur wider oder illustrieren, sondern haben einen Eigensinn. Wie lässt sich der ›Bildakt‹ im Vergleich zum ›Sprechakt‹ aus historischer Perspektive erforschen? – Visuelle (Re-)Präsentationsweisen stehen häufig in einem engen Zusammenhang mit sprachlich-textuellen Vermittlungsformen. In welchem Maße prägten solche intermedialen Bezüge die politische Bildprogrammatik?

4.

Die Beiträge des Bands

Der Band gliedert sich in drei Blöcke, von denen der erste theoretisch-konzeptionellen Zugängen gewidmet ist: Martin Knauer weist in seinem Beitrag darauf hin, dass zwar das Bild als Untersuchungsgegenstand in den Kulturwissenschaften angekommen ist, aber das Streben nach interdisziplinärer Kooperation zu begrifflichen Unschärfen geführt hat. Die Offenheit und die damit einhergehende Anschlussfähigkeit des Bildbegriffs lassen sich oftmals nur auf Kosten methodischer Prägnanz erreichen. Knauer untersucht anhand einschlägiger deutscher Verbundforschungsprojekte den Umgang mit Visualität in der neueren ›Kulturgeschichte des Politischen‹, um die Möglichkeiten, aber auch Grenzen historischer Bildforschung auszuloten. Insbesondere mit der ästhetischen Dimension tut man sich demnach auf dieser Ebene bis heute schwer. Er plädiert dafür, dass künftige Forschungen präzise Kriterien zur historischen Einordnung und Kontextualisierung entwerfen müssen, um einen fruchtbaren Austausch zwischen den Fächern zu ermöglichen. Martina Sauer arbeitet in ihrem Aufsatz heraus, auf welche basale Weise mit Bildern kommuniziert werden kann und wie diese unsere Wertsetzungen und Handlungen beeinflussen. Sie folgt Symbol- und Verkörperungstheorien, dem amerikanischen Pragmatismus sowie entwicklungspsychologischen und neurologischen Forschungen. Sauer hebt die körpereigenen Prozesse hervor, aus denen die Sinnbildung und Wahrnehmung von Kunst bzw. Bildern im Allgemeinen erwachsen. Darauf beruht die These von Bildern als Akteuren und historischen Faktoren. Sauer bekräftigt, dass dabei aber immer der Künstler als derjenige, der das Bild seiner Ansicht nach gestaltet hat und somit eine spezifische Rezeption einfordert, einbezogen werden muss. Die Geschichte eines Bildes wird im Zuge ständig neuer Rezeptionen durch einen Betrachter wei-

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tergeschrieben, der kulturell anders sozialisiert ist als der Urheber. Zugleich wird indes auch offenbar, wie schwierig sich ein solches ›kunstphysiologisches‹ Interaktionsschema in ein historisch-empirisches Untersuchungsprogramm übersetzen lässt. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit Orten und Milieus visueller Medialisierung, indem unterschiedliche Verdichtungsräume der Bildaneignung in den Blick genommen werden: Jennifer Hein untersucht das ikonographische Programm des Parthenon in Athen und dessen figürliche Darstellungen in den Giebeln, Metopen und dem Fries im 5. Jahrhundert vor Christus. Sie zeigt, wie diese genutzt wurden, um soziale Verhaltensideale mit politischem Geltungsanspruch zu vermitteln. Dabei differenziert sie zwischen inner- und intergesellschaftlichen Kommunikationsprozessen und somit zwischen mehreren Adressatenkreisen, die grob in eine athenische und eine außerathenische Gesellschaft eingeteilt werden können. Anhand eines Kommunikationsmodells demonstriert sie, wie das Bildprogramm von verschiedenen Zielgruppen auf je spezifische Weise gelesen werden konnte und schon die Konzipierung auf diese Rezeptionen ausgelegt war. Stefan Ehrenpreis liefert einen Überblick über frühneuzeitliche Unterrichtsmaterialien, thematisiert die Rolle visueller Mittel in ihnen und geht auf Probleme der Erforschung von Schulbüchern ein. Ferner analysiert er anhand von mehreren Beispielen, wie bildliche Elemente mit politischen Implikationen in deutschen und lateinischen Schulen der Frühen Neuzeit verwendet wurden. Ein Vergleich mit dem Einsatz visueller Medien in niederländischen Schulbüchern lässt erkennen, dass Bildelemente in der Niederländischen Republik und im Alten Reich durchaus unterschiedlichen Zwecken folgten. Während hier eine an Tugendlehren orientierte Sozial- und Herrschaftsethik eingeübt werden sollte, ist in den Vereinigten Provinzen eine Hinwendung zur bildlichen Darstellung und vor allem Verunglimpfung von Gegnern zu beobachten. Die visuelle Schulbuchkommunikation trug somit im deutschsprachigen Mitteleuropa eher einen depolitisierenden Charakter, indem sie hierarchische Strukturen etwa durch biblische Autorisierung der Debatte zu entziehen suchte, wohingegen es in den nördlichen Niederlanden zu einer polemischen Konfrontation rivalisierender Ordnungsentwürfe kam. Katrin Sterba befasst sich mit dem 1717 entstandenen Deckengemälde der Jesuitenkirche Sankt Ignatius in Iglau (Mähren). An diesem Beispiel erörtert sie, wie die Gesellschaft Jesu visuell für sich reklamierte, zur Weltmission berufen zu sein, und durch diese bildlich artikulierte Prätention neue Missionare gewinnen konnte. Um dies genauer zu beleuchten, skizziert Sterba zuerst den Sendungsauftrag des Jesuitenordens im Allgemeinen und die Situation in der böhmischen Provinz im Besonderen. Danach wird das Deckenfresko der Iglauer Kirche auf seine möglichen Vorlagen und Aussagen untersucht, wobei sich ein breites

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Spektrum interpikturaler und -medialer Bezüge entfaltet. Zum Schluss veranschaulicht sie, wie das anfänglich aggressive ikonographische Programm der Jesuiten durch Übermalungen und ein neues Hochaltarbild Mitte der 1760er Jahre defensivere Züge annahm und damit auch die zusehends prekäre Lage des Ordens in der letzten Phase vor seinem Verbot künstlerisch ›reflektierte‹. Philipp Hubmann beschäftigt sich mit dem Fürsorgewesen des Deutschen Kaiserreichs gegen Ende des 19. und insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum der Untersuchung steht der Atlas »Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild« (1912/14), der vom Deutschen Fürsorgeerziehungstag herausgegeben wurde. Hubmann stellt diese Publikation in ihren historischen Kontext und interpretiert die visuelle Semantik des Werks mit Blick auf seine bildargumentativen Funktionen. Er belegt, dass die Herausgeber mit dem Atlas ordnungsästhetisch auf Fürsorgeskandale reagierten und um die Rückgewinnung von Deutungsmacht in der öffentlichen Diskussion rangen, wobei sich die staatliche Einrichtung – den Forschungen Michel Foucaults folgend – als totale Institution beschreiben lässt. Der dritte Block fokussiert auf Funktions- und Wirkungsweisen bildlicher Repräsentationen: Birgit Emich führt anhand der Bartholomäusnacht von 1572 vor Augen, wie sich politisch virulente Verschiebungen von Ereignisdeutungen im intermedialen Wechselspiel sprachlicher und visueller Lesarten vollzogen. Schon Zeitgenossen interpretierten die Pariser Bluthochzeit einerseits als Martyrium und andererseits als Massaker, womit sich disparate Projektionsangebote herauskristallisierten. Die ältere Deutungsfigur des Martyriums spielte vor allem in den Reformations- und Konfessionalisierungsprozessen der Frühen Neuzeit eine herausragende Rolle, privilegierte aber das Handlungsmodell passiver Leidensduldung. Demgegenüber korrespondierte die Inszenierung als Massaker mit dem Prinzip des aktiven Widerstands, dem sich die Hugenotten seit Mitte des 16. Jahrhunderts allmählich verschrieben. Der bildargumentative Übergang vom ›Martyrium‹ zum ›Massaker‹ markierte mithin die Politisierung der Bekenntnispluralität im Rahmen der französischen Staatsbildung. Silke Meyer nähert sich historischen Bilddiskursen über das Sehen als einer voraussetzungsvollen Körper- und (Sinn-)Orientierungstechnik. Im Anschluss an Forschungen der visuellen Anthropologie geht sie davon aus, dass aus Bildpraktiken geschichtlich und kulturell wandelbare Sehgewohnheiten mit wichtigen Deutungsfunktionen resultieren. Speziell die Sujets und Darstellungsformen weit verbreiteter Medien – im Untersuchungsfall der englischen populären Druckgraphik des 18. Jahrhunderts – etablieren in ihrer Allgegenwart ein visuelles Regelsystem, das in wahrnehmungssteuernde Sichtweisen mündet. Meyer exemplifiziert dies anhand der häufig karikaturistisch gefärbten Massenbilddrucke für Kinder, wobei sie den visuellen Mechanismen nationaler Stereotypisierung

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besondere Aufmerksamkeit schenkt. Neben den Produktions- und Distributionsbedingungen werden vor allem auch die sozialen Gebrauchs- und Rezeptionsmuster behandelt. Die populäre Druckgraphik erweist sich demnach als ein wirkmächtiges Alltagsmedium des ›Politischen‹, das in seiner seriellen Präsenz ordnungsbezogene Sehgewohnheiten begründete und Wahrnehmungsmodalitäten prägte. Ellinor Forster analysiert die Debatten über die Funktion und den Stellenwert von Landkarten in der Auseinandersetzung zwischen Salzburg und Tirol um die Zugehörigkeit geographisch exponierter Pfleggerichte im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Karten werden dabei als ein Medium verstanden, das nicht lediglich aktuelle oder veränderte Verhältnisse widerspiegelte, sondern kommunikativ am Bild eines idealen Territoriums mitwirkte und so die Möglichkeit bietet, den Wandel von Wertvorstellungen am Ort ihrer visuellen Artikulation und Instrumentalisierung durch die Akteure aufzusuchen. Somit ist Forsters Beitrag auch auf die Handlungsmuster ausgerichtet, die der Umgang mit Karten induzierte. Es wird deutlich, dass Landkarten viel mehr waren als illustrierte Darstellungen von Gebieten, da ihr Herstellungsprozess konkurrierende Normen und territoriale Ansprüche offenbart. Sybille Moser-Ernst und Ursula Marinelli schließlich zeichnen die Geschichte des Karikaturprojekts von Ernst Kris und Ernst Gombrich nach. Kris und Gombrich arbeiteten mehrere Jahre zwischen 1934 und 1936/37 in Wien und London an ihrem Projekt und hinterließen publiziertes wie unpubliziertes Material. Sie konnten jedoch aufgrund der historischen Lage ihr Vorhaben nie zu Ende bringen. Kris, der Initiator des Projekts, interessierte sich im Anschluss an Freud stark für die psychologische Interpretation von Karikaturen. Gombrich hingegen sah das Unternehmen als eine Art Grundlagenforschung zum Herstellen von Bildern an sich. Die Frage nach der politischen Valenz richtet sich hier vor allem auf die naheliegende Vermutung, dass die beiden Kunsthistoriker – gerade angesichts der Zeitumstände – ihre Arbeit an einer (vermeintlich) genuin ›politischen‹ Bildgattung auch mit ebensolchen Motiven und Intentionen verbanden. Moser-Ernst und Marinelli neigen allerdings eher zu einer verneinenden Antwort.

Theoretisch-konzeptionelle Zugänge

Martin Knauer

Bilder und symbolische Kommunikation. Visualisierung als Forschungsproblem einer transdisziplinären Kulturgeschichte des Politischen

1.

Einleitung

Der unter dem Einfluss des Visual Turn und einer an medialen Transferprozessen orientierten Wissensgeschichte sich vollziehende Paradigmenwechsel vom künstlerischen Artefakt zum pragmatischen Zeichen, Objekt oder Ding beginnt auch die historischen Kulturwissenschaften zu verändern. Allein in der Geschichtswissenschaft, die im Folgenden im Fokus steht, haben die neuen Routinen des Umgangs mit visuellen Quellen eine Fülle theoretischer Ansätze und Zugänge hervorgebracht: Visual History, Bildwissenschaft oder historische Bildforschung sind bzw. gelten heute als epochenübergreifend anwendbare und interdisziplinär anschlussfähige Fachmethoden.1 Alle Bezeichnungen stehen im Grunde für dieselbe Sache: die Analyse materieller Bilder als genuiner und methodisch entwickelter Bestandteil geschichtswissenschaftlichen Forschens und Lehrens. Andererseits – und dies soll uns hier beschäftigen – hat Christine Brocks unlängst zu Recht festgestellt, dass theoretische Debatten über die spezielle »ikonische Qualität von Bildern« zumeist außerhalb der allgemeinhistorischen Disziplinen geführt werden.2 Seit einigen Jahren hat der neue Bildfokus in Deutschland auch die Lehrstuhlebene erreicht. Symptomatisch dafür ist der an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld ins Leben gerufene »Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte«, dessen Anliegen es ist, die 1 Jens Jäger / Martin Knauer, Historische Bildforschung oder ›Iconic Turn‹ – das ungeklärte Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu Bildern, in: Elke Huwiler / Nicole Wachter (Hg.), Integrationen des Widerläufigen. Ein Streifzug durch geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder, Münster 2004, S. 211 – 221; dies. (Hg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um Historische Bildforschung, München 2009. Alternativ Gerhard Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7 – 36. 2 Christine Brocks, Ist Clio im Bilde? Neuere historische Forschungen zum Visuellen, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 453 – 486.

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Martin Knauer

»bildliche Dimension von Geschichte« zu erforschen.3 Was darunter zu verstehen ist, erläutert das Lehrstuhlprofil der entsprechenden Website. Dort heißt es unter anderem: »Bilder dienen nicht allein dazu, historische Ereignisse und Entwicklungen darzustellen, sondern intervenieren ihrerseits wirkungsvoll in geschichtlichen Prozessen. Die Historische Bildwissenschaft lässt sich daher nicht auf die Aufgaben einer Hilfswissenschaft reduzieren und beschränkt sich nicht auf einzelne realienkundliche oder ikonographische Aspekte von Bildern. Vielmehr stößt sie auch zu der Grundfrage vor, wie Bilder Sinn generieren und eigene Wirkmacht gewinnen.«4

Mit dem aus der Kunstgeschichte übernommenen Konzept von »intervenierenden« Bildern als autonomen Akteuren,5 der Distanzierung von einer »sekundären« – speziell historiographischen – Bildpraxis sowie der daraus resultierenden Ablehnung einer Eingrenzung auf realienkundliche und ikonographische Aspekte versucht die Bielefelder Bildforschung einige jener Forderungen einzulösen, die in letzter Zeit von historischer Seite für den Umgang mit visuellem Material eingefordert werden. In Abkehr von der hilfswissenschaftlichen Tradition einer ›Historischen Bildkunde‹ in ihrer funktionalen Beschränkung als Zulieferbetrieb einer noch immer textdominierten Forschung6 bestimmt nunmehr eine gattungs- und epochenübergreifende intermediale Bildwissenschaft die Agenda. So vielversprechend ein solches bildwissenschaftliches Programm zunächst ist: Rückt damit die Lösung des Problems einer spezifisch geschichtswissenschaftlichen, zugleich aber disziplinär kompatiblen Bildanalyse näher? Zumindest für die im Weiteren untersuchten kulturalistischen Sonderfor3 Zitiert nach: http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/abteilung/arbeitsbereiche/bildwissen schaft [11. 6. 2014]. Aktueller Inhaber der Professur ist der Kunsthistoriker Johannes Grave. 4 Ebd. 5 Horst Bredekamp, Schlussvortrag: BILD – AKT – GESCHICHTE, in: Clemens Wischermann u. a. (Hg.), GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz. Berichtsband, Konstanz 2007, S. 289 – 309. Zuvor schon ders., Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1, Mainz 2004, S. 29 – 66. 6 Bezeichnenderweise berief sich schon der Neubegründer der historischen Bildkunde in den 1980er Jahren, der Hamburger Historiker Rainer Wohlfeil, mit Erwin Panofskys Ikonologie auf einen kunsthistorischen Ansatz. Siehe Rainer Wohlfeil, Das Bild als Geschichtsquelle, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 91 – 100; ders., Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: ders. / Brigitte Tolkemitt (Hg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, Berlin 1991, S. 17 – 35; Heike Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation. Das Bild als historische Quelle, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 289 – 313; Ralph Andraschek-Holzer, Historische Bildkunde – Geschichte, Methoden, Ausblick, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 6 (2006), S. 6 – 20; Holger Th. Gräf, Historische Bildkunde: eine Hilfswissenschaft zwischen Kunstgeschichte und Bildwissenschaft?, in: Archiv für Diplomatik 54 (2008), S. 379 – 391.

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schungsbereiche (SFB), die sich mit Symbolik und Ritualität in der Geschichte befassen, scheinen Zweifel angebracht. Nachfolgend wird versucht, einige der Probleme zu identifizieren.7 Für die sich mit Kommunikation im umfassenden Verständnis beschäftigende ›neue‹ Kulturgeschichte besitzen Bilder im Rahmen politischer Rituale in dreifacher Hinsicht Bedeutung: Erstens als Artefakte und Objekte, zweitens als performative Praxis und drittens in Form von Beschreibungen. »Darstellungen von rituellen Vorgängen« schaffen »in jedem Falle eine eigene, zweite Realität des Rituals – gleichsam eine Inszenierung der Inszenierung«, wie Gerd Althoff und Barbara Stollberg-Rilinger dies anlässlich des Magdeburger Ausstellungsprojektes »Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800 – 1800« genannt haben.8 Das Kernproblem, so meine Ausgangsthese, betrifft die der interdisziplinären Kooperation geschuldete begrifflich-methodische Unschärfe zwischen einem bewusst weit gefassten Bildverständnis und der Instrumentalisierung von Visualität als Bestandteil symbolischer und medialer Praxis. Gerade die auch in diesem Beitrag geforderte Offenheit und Anschlussfähigkeit des Bildbegriffs lässt sich oftmals nur auf Kosten methodischer Prägnanz erreichen. Selbst wenn Bildlichkeit gemeinhin nicht mehr auf ›Wirklichkeit‹ abbildende und illustrative Bedeutungen reduziert wird, stellt sich die Frage, ob man Bildern bei der Analyse politisch-symbolischen Handelns einen ästhetischen wie materiellen Eigensinn zugesteht und inwieweit sie selbst als Strategien politischer Kommunikation aufgefasst werden. Letztlich muss diese Frage hier offen bleiben und wäre auf breiterer Grundlage an anderer Stelle zu diskutieren. Im Folgenden geht es hauptsächlich darum, am Beispiel einschlägiger SFB den aktuellen Umgang mit Bildern und Visualität aufzuzeigen, um in einem zweiten Schritt Möglichkeiten, aber auch Grenzen historischer Bildforschung zu diskutieren.

2.

Bilder und Visualität in der jüngeren historischen Forschung

Um das skizzierte Problem zu handhaben, wurden drei Forschungsverbünde einer »transdisziplinären Kulturgeschichte des Politischen« ausgewählt, von denen zwei erst 2012 abgeschlossen wurden: der Bielefelder SFB 584 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte«, der Münsteraner SFB 496 7 Zum Folgenden auch Christiane Kruse, Positionen der Kunst – als historischer Bildwissenschaft, in: Jan Kusber u. a. (Hg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 81 – 104. 8 Gerd Althoff / Barbara Stollberg-Rilinger, Spektakel der Macht? Einleitung, in: dies. u. a. (Hg.), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800 – 1800. Katalog zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, 21. 09. 2008 – 05. 01. 2009, Darmstadt 2008, S. 15 – 19, hier S. 17.

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Martin Knauer

»Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution« sowie der in Konstanz schon 1997/98 eingerichtete SFB 485 »Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration«. Die Fokussierung auf das Thema Bild hat allerdings der spezifischen Programmatik der SFB Rechnung zu tragen: Alle herangezogenen Gesamtprojekte befassen sich mit Medialität, Performativität und Theatralität. Visualität im Sinne materieller Bildlichkeit steht – außerhalb der stellenweise beteiligten Kunstgeschichte – bei keinem der Einzelprojekte im Zentrum. Insofern ist hier nur im Rahmen der vorgegebenen Strukturen nach der Bedeutung von und dem Umgang mit Bildlichkeit zu fragen.9 Der Auswahl der drei SFB haftet natürlich eine gewisse Willkür an, die allerdings aufgrund der Repräsentativität der Ansätze und ihrer epochalen und thematischen Streuung vertretbar erscheint. Während Münster seinen Schwerpunkt in Mittelalter und Früher Neuzeit hatte, konzentrierte sich das Bielefelder Konzept – ähnlich wie in Konstanz – auf das 19. und 20. Jahrhundert. Diese zeitlichen Profile wirkten sich naheliegenderweise auch auf den Umgang mit einzelnen Bildmedien aus. So interessierte man sich in Konstanz und Bielefeld stärker für Fotografie und Film, in Münster eher für Graphik und Malerei. Wichtigstes Kriterium bei der Beschränkung auf jene drei SFB war die Dominanz der Geschichtswissenschaften innerhalb der Gesamtprojekte. Programmatische Überschneidungen ergeben sich noch mit weiteren Forschungsverbünden, besonders dem Gießener SFB 496 »Erinnerungskulturen« (hier speziell mit den Arbeitsgruppen »Zeit, Medien, Identität«, »Intermedialität« und »Performativität«), dem Gießener Graduiertenkolleg 891 »Transnationale Medienereignisse« sowie dem Heidelberger SFB 619 »Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive«. Aus arbeitsökonomischen Gründen konzentriert sich die Frage nach dem Umgang der medien- und kommunikationsorientierten SFB mit dem Erkenntnismittel Bild auf elektronische Ressourcen. Neben den Publikationen dominiert als Quelle das, worauf der Interessierte im Internet stößt: Einzelprojektskizzen, Tagungsankündigungen sowie Berichte über jene Workshops und Kolloquien, die sich während einzelner Projektphasen dezidiert mit Visualität beschäftigten.10 Schon aus dieser Perspektive wird nicht nur offenbar, dass im Vergleich zum Bildbegriff den Medien bzw. der Medialität eine ungleich größere

9 Nur in Münster war die Kunstgeschichte mit einem eigenen Teilprojekt (B2: ›Virtus‹ in der Kunst und Kunsttheorie der italienischen Renaissance) an allen Projektphasen beteiligt. 10 Wichtigste Quelle sind die im Netz abrufbaren Programme und Tagungsberichte bei H-Sozu-Kult bzw. H-Net, die die entsprechenden Diskussionen dokumentieren. Im Falle Münsters kommen als Konzeptpapiere noch die gedruckten »Finanzierungsanträge« hinzu, auf die der Verfasser als wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 496 (Teilprojekt C5) Zugriff hatte.

Bilder und symbolische Kommunikation

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Bedeutung zugemessen wurde, sondern auch, dass das Visuelle in der Regel als Unterkategorie des Medialen galt. Unter Berücksichtigung jener Einschränkungen werden im Folgenden zwei Zugänge unterschieden, die sich in der Tagungs- und Veröffentlichungspraxis durchaus überschneiden konnten: ein kompilatorischer Umgang mit Bildern sowie ein zweiter, bei dem Visualität als Leitfrage fungiert.

2.1

Der kompilatorische Umgang mit Bildern

Beim kompilatorischen Umgang werden bildliche Darstellungen fallweise und ergänzend zur Analyse herangezogen, bleiben aber zumeist Teil übergeordneter Kategorien. Von jener Praxis zeugen vor allem Symposien, die sich zwar partiell mit Visualität befassen und die Funktion von Bildern im Prozess politischer Kommunikation thematisieren, hierbei aber – ob bewusst oder notgedrungen, wird nicht immer klar – auf externe, also nicht aus dem SFB-Kreis stammende Expertise zurückgreifen. Hierzu drei Beispiele aus Bielefeld.11 Im Winter 2004/05 referierten die Kunsthistoriker Michael Diers (»Ende der Kunst und Anfang des (politischen) Bildes«) und Gottfried Boehm (»Der stumme Logos. Zur Logik der Bilder«). Im Jahr darauf lud der SFB den Politologen Herfried Münkler ein, der seine bekannten Thesen zur »Visibilität der Macht« vorstellte.12 Generell ist zu beobachten, dass sich die Mehrzahl der Projekte in allen Förderphasen kompilatorisch, insgesamt aber eher sporadisch mit konkreter Bildlichkeit befasste. Dabei überwogen – mitbedingt durch die Ausrichtung der SFB an Ritual- und Zeremonialformen – performative und ephemere Bilder, während Zeugnisse der Hochkunst die Ausnahme blieben.13 Letztlich prägen den kulturwissenschaftlichen Kommunikationsbegriff weder Artefakte noch Ephemera, sondern Symbole, Gesten und Zeichen. Visualität im Sinne von ›Sichtbarkeit‹ gerät primär dann in den Fokus, wenn sie Bestandteil symbolischer 11 Die folgenden Angaben nach: http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/ events/index.html [2. 8. 2014]. 12 Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 213 – 230. 13 Hierzu zwei Beispiele aus Münster : Während Dorothee Linnemanns Projekt insofern eine Ausnahme darstellt, als Visualität sogar zur Leitfrage wird (vgl. Dorothee Linnemann, Die Bildlichkeit von Friedenskongressen des frühen 17. und 18. Jahrhunderts im Kontext zeitgenössischer Zeremonialdarstellung und diplomatischer Praxis, in: Ralph Kauz / Giorgio Rota / Jan-Paul Niederkorn (Hg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit, Wien 2009, S. 155 – 186), zieht die Dissertation von Christina Schröer, Republik im Experiment. Symbolische Politik im revolutionären Frankreich (1792 – 1799), Köln / Weimar / Wien 2014, umfangreiche Bestände vor allem an Einzeldrucken und Bildpublizistik heran.

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Praktiken ist bzw. diese abbildet. Dies gilt, wie noch zu zeigen sein wird, gerade für jene Tagungen, auf denen die Bildlichkeit von Ritualen zur Leitfrage wird. Dort, wo über Bilder auf theoretischer Ebene reflektiert wurde, ging es vor allem um die Vermittlung von Deutungsmethoden, also das Ausloten allgemeiner Erkenntnismöglichkeiten, kaum aber um deren eigene Verwendung. Exemplarisch zeigt dies ein Konstanzer Workshop zu »Methoden der Bildanalyse«. Ziel war es, etablierte Verfahren historischer Bildanalyse hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für die Deutung von Symbolen und Ritualen zu überprüfen.14 Tatsächlich befassten sich die meisten Referate mit ›klassischen‹ Themen aus dem Bereich der Fotografie, deren konkreter Nutzen für die Projektarbeit nur bedingt ersichtlich wird.15 Dennoch: Dass (materielle) Bilder von den meisten Teilprojekten eher gemieden wurden, steht in gewissem Widerspruch zur Antragstellung. Im Falle Münsters, auf den ich mich hier exemplarisch beziehe, hatte Visualisierung einen durchaus hohen Stellenwert. Dort hieß es etwa: »Im Zentrum steht die Frage, wie gesellschaftliche Wertesysteme durch symbolische Kommunikation manifestiert, visualisiert, auf Dauer gestellt, aber auch angegriffen und verändert wurden. […] Thematisiert werden Symbolisierungen verbaler, visueller, gegenständlicher und gestischer Art, wie etwa Metaphern, Artefakte, Gebärden, aber auch komplexe symbolische Handlungsfolgen wie Rituale und Zeremonien, Werke der Literatur, Musik und bildenden Kunst.«16

So wurde Bildern und ihren »verschiedenen konstitutiven Elementen und bildnerischen Mitteln eine je eigene Semantik zugeschrieben«, die in der »Summation sinntragender Elemente in der Regel zu einer Potenzierung und Verdichtung der symbolischen Botschaft führt.«17 Im Vordergrund eines kompilatorischen Bildverständnisses, so lautet das verallgemeinernde Resümee, steht nicht das Artefakt oder Objekt, sondern eine Verknüpfung von symbolischer Kommunikation, politischer Inszenierung und

14 Vgl. den Tagungsbericht von Christiane Winkler, »Methoden der Bildanalyse in den Sozialund Geschichtswissenschaften«, Konstanz, 20.–21. 1. 2007, in: H-Soz-u-Kult, 14. 2. 2007; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1488 [2. 8. 2014]. 15 Etwa Jens Jäger, »Fotografiegeschichte(n) – Bemerkungen zum Stand der Forschung«, sowie Philipp Osten, »Sozialhistorische Analyse medizinischer Abbildungen am Beispiel von Patientenfotografien«. Vgl. auch das interne Referat von Wenke Nitz, »Politikinszenierungen in Illustriertenfotografien«, und die externen Beiträge von Godehard Janzing, »Bilder der Gewalt – Bilder als Gewalt«, und Peter Burke, »The Eyewitness Revisited«. Nach: ebd. 16 Zitiert nach: SFB 496 »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution«; Westfälische Wilhelms-Universität Münster ; Finanzierungsantrag 1. 1. 2006 – 31. 12. 2008, S. 13. Hervorhebungen M. K. 17 Ebd., S. 17.

Bilder und symbolische Kommunikation

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Repräsentation, die nicht notwendig auf Materialität beruht, sondern eben auch Projektion und Konstruktion sein kann.18

2.2

Visualität als Leitfrage

Dort, wo Visualität zur Leitfrage erhoben wurde, standen Bilder entweder im Zentrum eines Teilaspekts oder wurden als methodisches Instrumentarium problematisiert. Repräsentativ für die zweite Variante, also die Thematisierung des Bildes als Mittel der Analyse historischer Prozesse, sind sowohl die Münsteraner Abschlusstagung »Alles nur symbolisch?« (Juni 2011)19 als auch das Bielefelder Pendant »Writing Political History Today« (Dezember 2011). Dass sich in Bielefeld erst die letzte Sektion mit den »Visual Dimensions of Political Communication« befasste, ist durchaus kein Zufall. In der geschichtswissenschaftlichen Praxis werden Bilder eben doch – trotz anderslautender Postulate – in den Abspann gerückt und Archivalien grundsätzlich nachgeordnet. Zwar gehört die berechtigte Forderung, »die ästhetischen und performativen Dimensionen von Visualisierungen in ihrer Wirkmächtigkeit für politische Prozesse anzuerkennen und auf diese Weise die jeweiligen Grenzen des Politischen zu erschließen«,20 heute zum historiographischen Mainstream und blieb auch in Bielefeld unwidersprochen. Dennoch stellte sich dort das Problem, »inwieweit Visualisierungen mit dem SFB-Konzept von Kommunikation zu erfassen seien und ob die Politikgeschichte künftig unabdingbar auch Bilder berücksichtigen müsse.«21 Ähnlich wie in Münster stritt man über die Frage, ob Artefakte überhaupt eine konkrete Absicht vermitteln können oder wollen. Von Peter Geimer, dem inzwischen in Berlin lehrenden ersten Inhaber der Bielefelder Professur für Historische Bildforschung, wurden dazu zwei Argumente vorgebracht, die paradigmatisch die letztlich eben doch schwer zu vereinbarenden Positionen zwischen der Kunstwissenschaft und Anhängern eines kulturalisti18 Dies zeigt etwa die 2006 vom Konstanzer SFB »Norm und Symbol« veranstaltete Tagung mit dem Titel »Imagination und Illusion. Verschleierungen und Verblendungen in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften«. Vgl. http://www.sfb485.uni-konstanz.de/veranstaltun gen/tagungen/2006 [2. 8. 2014]. 19 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger / Tim Neu / Christina Brauner (Hg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, Köln / Weimar / Wien 2013. 20 Bettina Brandt, »Writing Political History after the ›Iconic Turn‹«. Zitiert nach: Kristoffer Klammer / Marcel Streng, Tagungsbericht »Writing Political History Today«, Bielefeld, 1.–3. 12. 2011, in: H-Soz-u-Kult, 23. 2. 2012; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsbe richte/id=4079 [2. 8. 2014]. Vgl. auch den Sammelband zur Konferenz: Willibald Steinmetz / Ingrid Gilcher-Holtey / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Writing Political History Today, Frankfurt a. M. / New York 2013; Brandts gleichnamiger Aufsatz dort S. 351 – 357. 21 Klammer / Streng.

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schen Kommunikationsverständnisses aufzeigen. Geimer monierte einerseits, dass die üblichen »Kommunikationsmodelle stets auf die konkrete Vermittlung einer Nachricht oder Botschaft abzielten, die bei Bildern nicht per se gegeben sei.« Andererseits implizierten Visualisierungen aber stets mehr als die Übersendung einer Mitteilung und seien deswegen über den »Kommunikationsbegriff« gar nicht zu fassen.22 Die Diskussion um die Reichweite des Kommunikationskonzeptes verdeutlicht überdies die schon skizzierte Diskrepanz zwischen einem bildwissenschaftlichen Anforderungen wie interdisziplinärem Arbeiten gleichermaßen geschuldeten weiten Bildbegriff und seiner kulturwissenschaftlichen Praktikabilität, die Einschränkungen erfordert. In Bielefeld ließ sich erkennen, dass für die politische Kulturgeschichte Visualität vor allem »Teil politischer Kommunikation« ist. Geimer zog denn auch den Schluss, »dass die Politikgeschichte zukünftig immer seltener umhin kommen werde, das Zusammenspiel von sprachlichen und visuellen Faktoren einzubeziehen, weil sie sonst einen wichtigen Aspekt der Konstruktion sozialer und politischer Realitäten ausblende.«23 Jenes instrumentelle Bildverständnis erscheint charakteristisch für alle SFB. Bilder interessierten primär unter Informations- und Nachrichtenkriterien, insofern ihnen eine konkrete Kommunikationsfunktion zugeschrieben werden kann. Die Debatte um das Verhältnis von Bild und Kommunikation begleitete die Projekte von Anfang an. Auch in Münster berief man sich bei der »gemeinsamen Leitfrage nach der Bildlichkeit symbolischer Kommunikation« – nicht zuletzt auf Anregung der Gutachter – auf den Iconic Turn.24 Hier stand die dritte Förderphase unter dem Aspekt der »Bildlichkeit symbolischer Akte«. Zwei übergreifende Projekte widmeten sich der Thematik. 2007 fand unter jenem Titel ein Kolloquium statt, aus dem ein Sammelband hervorging.25 Große Bedeutung kam auch hier dem Evidenzproblem und Fragen des Bildgebrauchs zu. Wann bestimmt das Ritual Aussehen und Form des Bildes, und inwieweit wirkt dieses auf das Zeremoniell zurück?26 Da die meisten Beiträge von außerhalb kamen, überwogen trotz des Anspruchs auf Systematisierung letztlich Einzelfälle. Auf ein internes Konzept ging dagegen die Ausstellung »Spektakel der Macht. 22 Zitiert nach ebd. 23 Ebd. 24 Zitiert nach: SFB 496 »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution«; Westfälische Wilhelms-Universität; Finanzierungsantrag 1. 1. 2009 – 31. 12. 2011, S. 13. 25 Vgl. Kerstin Grein / Ines Kolka, Tagungsbericht »Die Bildlichkeit symbolischer Akte«, Münster, 10.–12. 10. 2007, in: H-Soz-u-Kult, 6. 1. 2008; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=1827 [2. 8. 2014]. Barbara Stollberg-Rilinger / Thomas Weissbrich (Hg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte, Münster 2010. Vgl. die Rezension von Harriet Rudolph, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 126 – 127. 26 Vgl. Grein / Kolka.

Bilder und symbolische Kommunikation

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Rituale im Alten Europa 800 – 1800« zurück, die der SFB 496 in Kooperation mit dem Kulturhistorischen Museum in Magdeburg veranstaltete. Ausgestellt und symbolisch gedeutet wurden unter anderem Überreste von Ritualen (Wappen, Stühle, Insignien, Ornate, Gemälde) sowie illuminierte Stiche von vormodernen Prozessionen, Krönungen und Amtseinführungen.27 Auch in Heidelberg entstand ein projektübergreifender Sammelband, der »nach der Bedeutung, der Funktion des Bildlichen in Ritualen und den beschreibenden und kommentierenden Erzählstrategien der Bilder von Ritualen« fragte.28 Geht es im ersten Teil um die Funktion von Bildern in Ritualen, stehen im zweiten Bilder von Ritualen im Vordergrund, also der Aspekt der narrativen Struktur und des symbolischen Gehalts in bildlichen Darstellungen,29 wobei der Heidelberger Ritualbegriff – im Unterschied etwa zu Münster – ›dynamisch‹ aufgefasst wird und somit weniger auf statische Elemente und deren Transfer, sondern gerade auf die Veränderungen setzt.30 Dennoch dominiert in vielen Beiträgen, etwa in jenen, die sich mit Herrschaftsritualen befassen, die traditionelle Vorstellung von ihrer ordnungsstiftenden und legitimationsfördernden Wirkung, bei der Bilder primär hinsichtlich ihrer validierenden und kodifizierenden Funktionen analysiert werden.31

3.

Möglichkeiten und Grenzen historischer Bildforschung

Wo liegen die methodischen und praktischen Probleme beim skizzierten Umgang mit Bildern im Rahmen kulturalistischer Fragestellungen, und welche Perspektiven ergeben sich daraus? Hierzu fünf schlagwortartige Überlegungen: 1. Plädoyer für ein kommunikationsorientiertes Bildverständnis: Kulturgeschichtlich bzw. aus der Perspektive symbolischer Kommunikation geht es letztlich darum, ein Konzept visueller Inszenierung und Ritualität zu entwickeln, 27 Die Katalogbeiträge legen den Fokus abwechselnd auf Text und Bild. Besonders zwei der begleitenden Aufsätze argumentieren visuell: Jutta Götzmann, Weihen – Salben – Krönen. Die vormoderne Kaiserkrönung und ihre Imagination, sowie Britta Kusch-Arnold / Daniel Glowotz, Vormoderne Ritualität in den bildenden Künsten und in der Musik, in: StollbergRilinger u. a. (Hg.), Spektakel der Macht, S. 21 – 25 bzw. 45 – 49. 28 Petra H. Rösch, Einleitung: »Bild und Ritual«: Bildlichkeit und visuelle Kultur in Ritualen, in: Claus Ambos u. a. (Hg.), Bild und Ritual. Visuelle Kulturen in historischer Perspektive, Darmstadt 2010, S. 1 – 5, hier S. 2. 29 Dies., Bilder von Ritualen: Narrativer und symbolischer Gehalt in bildlichen Darstellungen, in: Ambos u. a. (Hg.), S. 145 – 147. 30 Zusammenfassend zum Münsteraner Ritualbegriff jetzt Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M. / New York 2013, bes. S. 9. 31 Siehe etwa Julia Dücker, Ein Bild des spätmittelalterlichen Königreichs Polen, oder Bernd Schneidmüller, Das spätmittelalterliche Imperium als lebendes Bild: Ritualentwürfe der Goldenen Bulle von 1356, in: Ambos u. a. (Hg.), S. 197 – 209 bzw. 210 – 228.

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welches seine Ausgangslage in Objekthaftigkeit und Materialität hat, aber auch den (inter-)medialen Kontext der erzeugten und eingesetzten Bilder einbezieht.32 In der Praxis bietet sich hierfür ein um rezeptionsästhetische Aspekte erweitertes seriell-ikonographisches Deutungsverfahren an, das speziell die Auftragssituation, Produktion, Akzeptanz und Verbreitung der Bilder berücksichtigt.33 Deutlich wird, dass die Analyse ritueller Praktiken eng mit der Erforschung »materieller Kultur« zusammenhängt. Neben der traditionellen Realienkunde34 besteht hier somit eine Affinität zur ethnologischen »Ding-« bzw. »Dinge-Forschung«, die neben der Kunstgeschichte35 inzwischen auch von den historischen Kulturwissenschaften rezipiert wird.36 2. Das Problem mangelnder Kooperation: Gefordert ist eine ›historische Bildwissenschaft‹, die historiographische und kunsthistorische Fragestellungen verknüpft, aber anders als eine ›allgemeine‹ Bildwissenschaft, wie sie Klaus Sachs-Hombach vorschlägt, einen gemeinsamen Gegenstand besitzt.37 Zwar gibt es bei der Erarbeitung des Entstehungskontexts oder der sozialen und kulturellen Einordnung der Motive klare disziplinäre Überlappungen. Dennoch – und dies zeigen auch die drei exemplarisch gemusterten SFB – lässt sich trotz aller Appelle an ein inter- und transdisziplinäres Vorgehen gerade im Verhältnis zwischen Geschichte und Kunstgeschichte eine latente Unfähigkeit zu Kooperationen beobachten, die wissenschaftsgeschichtliche Ursachen zu haben scheint.38 Obwohl gemeinsamen Wurzeln entsprossen, gehen beide Fächer seit Ende des 19. Jahrhunderts getrennte Wege, wobei sie beträchtliche Abgrenzungsenergien erzeugen. Es ist somit auch in dieser Hinsicht kein Zufall, dass sich das Fach Geschichte – wie das Beispiel Bielefeld zeigt – trotz der Bereitschaft, historische Bildwissenschaft zu betreiben, zumindest bislang noch keine 32 Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Birgit Emich, Bildlichkeit und Intermedialität in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31 – 56. 33 Zur seriell-ikonographischen und rezeptionsästhetischen Deutung Talkenberger, S. 297 – 303. 34 Siehe etwa die Arbeiten des 1969 von Harry Kühnel in Krems gegründeten Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, das 2012 der Universität Salzburg eingegliedert wurde. 35 Aktueller Überblick bei Philippe Cordez, Die kunsthistorische Objektwissenschaft und ihre Forschungsperspektiven, in: Kunstchronik 67 (2014), S. 364 – 373. 36 Vgl. Thomas Düllo, Material Culture – zur Neubestimmung eines zentralen Aufgaben- und Lernfelds für die Angewandte Kulturwissenschaft, in: www.uni-magdeburg.de/didaktik/ cms/upload/cont_content_1219679742/ File/Habil_SchlussVortrag_MC.pdf [2. 8. 2014]. 37 Siehe etwa Klaus Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003. 38 Knapper Überblick bei Marc Schalenberg, Bastardschwestern und Banausen. Wissenschaftshistorische Bemerkungen zum Verhältnis von Kunstgeschichte und Geschichte, in: H-Soz-u-Kult, 20. 1. 2004; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=387& type= diskussionen [2. 8. 2014].

Bilder und symbolische Kommunikation

35

eigene Bildkompetenz zutraut. Vielmehr erscheint es symptomatisch, dass die neu eingerichtete »Historische Bildwissenschaft« bisher zwei Kandidaten auf den Lehrstuhl berufen hat, die ausweislich ihrer akademischen Meriten ›reine‹ Kunsthistoriker sind. 3. Medialisierung als Königsweg?: Zentrale Bezugsgröße nahezu aller Forschungsansätze zur symbolischen Kommunikation ist ihre Medienorientierung. Konzeptionell am stärksten scheint dies beim SFB 485 ausgeprägt. Schon die erste Tagung mit dem Titel »Medialität der Geschichte und Historizität der Medien« maß visuellen Medien besondere Bedeutung bei.39 Konsequenterweise setzt sich Rudolf Schlögl für einen Medienbegriff ein, der auch »Artefakte und Apparate« umfasst, da »ohne deren Materialität keine Kommunikation möglich« sei.40 Gleichwohl bleiben Medienpostulate wie dieses oftmals im Diskursiven stecken. Trotz weiterer ähnlicher Workshops41 nahm Medialität, anders als Ritualität oder Symbolik, lediglich in wenigen Publikationen eine systematische oder auch nur dominierende Stellung ein.42 Beim Gießener Graduiertenkolleg »Transnationale Medienereignisse« war das naturgemäß anders.43 Allerdings wird hier das heuristische Problem offensichtlich, dass sich die unter den Vorzeichen einer ›visuellen Kultur‹ erforderliche Ausdehnung des Bildbegriffs operativ über die Existenz einer nicht verbalisierbaren ›ikonischen Differenz‹ des Visuellen hinwegsetzt und damit Bilder in ihrem Wesensgehalt verfehlt. Der vorläufige Befund lautet also: Wenn Visualität im politisch-kulturalistischen Rahmen diskutiert wird, dann zumeist 39 Vgl. Marcus Sandl, Tagungsbericht »Medialität der Geschichte und Historizität der Medien«, Konstanz, 7.–9. 11. 2002, in: H-Soz-u-Kult, 29. 11. 2002; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=124 [2. 8. 2014]. Dazu auch Fabio Crivellari / Marcus Sandl, Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften, in: Historische Zeitschrift 277 (2003), S. 619 – 654; Fabio Crivellari u. a. (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004. 40 Zitiert nach Sandl, Tagungsbericht. 41 Vgl. etwa die Workshops »Medienwandel«, 16. 7. 2004 (http://www.sfb485.uni-konstanz.de/ veranstaltungen/tagungen/2004) und »Revolutionsmedien – Medienrevolutionen«; 25. – 27. 5. 2005 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=3314). Als Veröffentlichung: Sven Grampp u. a. (Hg.), Revolutionsmedien – Medienrevolutionen, Konstanz 2008. 42 Ein dezidiert auf Pressebildern beruhender Zugriff findet sich etwa in Arbeiten zum Warschauer Kniefall. Siehe Valentin Rauer, Geste der Schuld. Die mediale Rezeption von Willy Brandts Kniefall in den neunziger Jahren, in: Bernhard Giesen / Christoph Schneider (Hg.), Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Konstanz 2004, S. 135 – 155; Christoph Schneider: Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, Konstanz 2006. Die Gesamtliste der Konstanzer Veröffentlichungen bis Dezember 2009 unter http:// www.sfb485.uni-konstanz.de/publikationen/?print=1 [2. 8. 2014]. 43 Vgl. die Liste ausgewählter Veröffentlichungen unter : http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/ dfgk/tme/aktuelle-veroffentlichungen [2. 8. 2014]. Als Überblick über die verschiedenen Ansätze vgl. Christine Vogel (Hg.), Bilder des Schreckens. Die mediale Inszenierung von Massakern seit dem 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2006.

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in Bezug auf ihren medialen Gebrauch und unter Gefahr einer komplexitätsreduzierenden Instrumentalisierung. 4. Die ›ikonische Differenz‹: Zu den ungelösten Problemen bildlicher Analyse gehört das von kunsthistorischer Seite immer wieder angeführte Argument einer strukturellen Andersartigkeit der Bilder. Gottfried Boehm hat hierfür den Begriff der »ikonischen Differenz«44 etabliert. Horst Bredekamp spricht etwa vom »Eigensinn« der Bilder,45 Klaus Krüger von der »Eigengesetzlichkeit des Ikonischen«.46 Dahinter steht die Vorstellung, dass bildlicher Materialität immer zugleich etwas Immaterielles anhaftet, welches nicht restlos in Sprache zu übersetzen ist. Jene Diskussion zog sich – wie erwähnt – insbesondere durch die SFB-Abschlusstagungen. In ähnliche Richtung wie die Bielefelder Kontroverse um die Frage, inwieweit Bilder überhaupt kommunikationstauglich seien, gingen Einwände in Münster. So beharrte Joachim Poeschke auf einem Sonderstatus ›kunsthistorischer‹ Bildanalyse. Zwar ›vollziehe‹ sich in Artefakten auch symbolische Kommunikation, allerdings besäßen Kunstwerke eine autonome Sphäre außerhalb der Ritualität.47 In seinem Kommentar warnte Klaus Krüger allerdings vor den Folgen der »Dichotomisierung zwischen einer Epoche des Kultes und einer der Kunst, die im Grunde auf eine unangemessene Separierung zwischen ikonografisch-symbolischen bzw. rituellen oder zeremoniellen Funktionen der Bilder und ihrer kunsthaft-ästhetischen Bedeutung« hinauslaufe.48 5. Bild und Evidenz: Zu den verbreitetsten Kriterien, Bilder als historische Quellen zu analysieren, gehört ihre vermeintliche Beweiskraft. Zwar besteht diese durchaus, wird aber viel zu oft als gegeben vorausgesetzt. Dies gilt in erster Linie für die Fotografie, erinnert sei beispielsweise an die Schreckensbilder des Holocaust,49 letztlich aber grundsätzlich für Bilder in wissenschaftlichen und 44 Jetzt zusammenfassend Gottfried Boehm, Ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170 – 176; https://rheinsprung11.unibas.ch/archiv/ausgabe01/glossar/ikonische-differenz.html [2. 8. 2014]. 45 Bredekamp, Bildakte als Zeugnis, S. 29. 46 Klaus Krüger, Bilder als Medien der symbolischen Kommunikation: Ästhetik und Geschichte. Kommentar zur Sektion »Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation«, in: Stollberg-Rilinger / Neu / Brauner (Hg.), S. 319 – 330, hier S. 320. 47 Joachim Poeschke, Kunstwerke als Medien symbolischer Kommunikation. Virtus im Herrscherporträt der Renaissance, in: ebd., S. 285 – 302, hier S. 285. 48 Krüger, Bilder, S. 323. Vgl. hierzu auch Krügers ältere Ausführungen in ders., Geschichtlichkeit und Autonomie. Die Ästhetik des Bildes als Gegenstand historischer Erfahrung, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Der Blick auf die Bilder. Kunstgeschichte und Geschichte im Gespräch, Göttingen 1997, S. 53 – 86. 49 Zur Debatte um die Darstellbarkeit des Holocaust und die ethischen Voraussetzungen des öffentlichen Gebrauchs jener Fotos vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem. Aus dem Französischen von Peter Geimer, München 2007; Claudia Brink, Ikonen der Vernichtung.

Bilder und symbolische Kommunikation

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technischen Zusammenhängen.50 »Hier wird schlichtweg vorausgesetzt, dass photographische Bilder genau das abbilden, was zum Zeitpunkt der Aufnahme einmal war«, heißt es pauschalisierend, aber zutreffend bei Christine Brocks.51 Dass Evidenz die Hauptrolle bei der »realienkundlichen Verwendung von Bildern«52 zukommt, liegt somit nahe. Die Reduzierung des Bildes auf seine dokumentarischen Anteile ist aber nicht das Problem. Vielmehr besteht der nicht unbegründete Verdacht, dass Historikerinnen und Historiker noch heute Bilder hauptsächlich dafür benutzen, »die Aussagen der Texte zu stützen und zu bekräftigen«, wie Philipp Sarasin 2007 kritisch angemerkt hat.53 Insbesondere die Frage der Evidenz, des Zeugnis- und Dokumentencharakters von Bildern verweist auf ein Desiderat ›historischer‹ Bildforschung. Bis heute fehlen Instrumente und Parameter geschichtswissenschaftlicher Bildkritik, die geeignet sind, die unvermeidliche Subjektivität des Deutungsverfahrens mit ihren Gefahren der Fehl-Assoziation und Über-Interpretation methodisch einzuhegen.54 Gerade hier bestehen große Differenzen zwischen Geschichte und Kunstgeschichte. Während auf historischer Seite ein museologisches Interesse an der ›Echtheit‹, ›Authentizität‹ und den ›ursprünglichen‹ Funktionszusammenhängen der Artefakte und materiellen Zeugnisse überwiegt,55 versteht die aktuelle Kunstwissenschaft unter Bildkritik ganz allgemein die Rückkehr zu einer ›kritischen‹ Formanalyse.56 Auch der vom Baseler NFS-Projekt »Macht und

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Öffentlicher Gebrauch von Photographien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998. Vgl. Martina Heßler, Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Neue Herausforderungen für die Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 266 – 292. Christine Brocks, Bildquellen der Neuzeit, Paderborn u. a. 2012, S. 9. Ebd. Philipp Sarasin, Bilder und Texte. Ein Kommentar, in: WerkstattGeschichte 47 (2007) (Bilder von Körpern), S. 75 – 80, hier S. 75. Siehe hierzu Panofskys berühmte Texte zum ikonologischen Deutungsverfahren: »Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« (1932/64) sowie »Ikonographie und Ikonologie« (1939/55); hier zitiert nach Ekkehard Kaemmerling (Hg.), Bildende Kunst als Zeichensystem. Theorien – Entwicklung – Probleme, Bd. 1: Ikonographie und Ikonologie, 4. Aufl., Köln 1987, S. 185 – 206 bzw. 207 – 225, wo dem Forscher unter anderem die Fähigkeit zur »synthetischen Intuition« (S. 223) abverlangt wird. Beispielhaft hierfür sind Hartmut Boockmanns zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte im Museum. Vgl. dazu Martin Knauer, Drei Einzelgänge(r): Bildbegriff und Bildpraxis der deutschen Historiker Percy Ernst Schramm, Hartmut Boockmann und Rainer Wohlfeil (1945 – 1990), in: ders. / Jäger (Hg.), S. 97 – 124, hier S. 104 – 109; neuerdings Ulfert Tschirner, Fragwürdige Darstellungen. Bildkritik als historiographische Praxis?, in: Hubert Lochner / Adriana Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin / München 2013, S. 280 – 293. Im Editorial der ersten Ausgabe der von Horst Bredekamp und Gabriele Werner am Berliner Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik herausgegebenen Zeitschrift Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1 (2003), S. 7 – 8, hier S. 7, heißt es

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Bedeutung der Bilder« in den Vordergrund gestellte Begriff der »Bildkritik« leistet hier insofern keine Hilfestellung, als er sich vor allem vom EmpirieAnspruch der Bildforschung als Bildwissenschaft abzugrenzen und das Prozesshafte der Bildanalyse zu betonen versucht.57

4.

Schlussbemerkung

Im Ergebnis offenbart die Debatte um den Einsatz von Bildern zur Deutung von politischer Symbolik und Ritualität ein elementares Bedürfnis nach belastbaren Kriterien historischer Einordnung und Kontextualisierung. Unter Berücksichtigung der sich wandelnden Materialien und visuellen Techniken über die Jahrhunderte hinweg scheint dies zwar eine kaum leistbare Aufgabe zu sein. Dennoch: Ohne ein solches Instrumentarium der Fehlervermeidung analog der an Texten entwickelten historisch-kritischen Methode bleiben einer historischen Analyse viele Bedeutungsebenen und Erkenntnispotentiale verschlossen. Gerade für die zunehmende Fokussierung auf Visualität im Rahmen der Erforschung symbolischer Kommunikation bedarf es mehr denn je interdisziplinärer Anstrengungen – allerdings stärker als bisher mit dem Ziel tatsächlicher Kooperation und nicht lediglich der eigenen Positionierung.

lapidar : »Unser Begriff von Bildkritik setzt bei der Analyse der Form an, also dem, was die Spezifik von Bildern ausmacht.« 57 Vgl. Dominique Laleg, »Bildkritik« – Zur Konvergenz von Anschauung und Reflexion. Ein Interview mit Gottfried Boehm, in: ALL-OVER. Magazin für Kunst und Ästhetik 1 (2011), S. 10 – 14; http://allover-magazin.com/?p=360 [2. 8. 2014]. Informationen zum Nationalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik« unter http://www.eikones.ch [2. 8. 2014]. Vgl. auch den Beitrag von Martina Sauer in diesem Band.

Martina Sauer

Visualität und Geschichte. Bilder als historische Akteure im Anschluss an Verkörperungstheorien

1.

Einleitung

Können Bilder ebenso wie sprachliche Äußerungen handlungsrelevant sein? Lassen sie sich als wichtige Faktoren unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen und von daher als historische Akteure verstehen? Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Bilder tatsächlich diese Funktion übernehmen können, ist die Tatsache, dass wir Bilder nicht nur selbst produzieren und verbreiten, sondern auch je nach Kontext und Absicht verändern und damit neue Akzente setzen. Mit Bildern, so lässt sich daraus schließen, können wir tatsächlich kommunizieren und darüber hinaus Einfluss auf Wertsetzungen und damit auf Entscheidungen und Handlungen nehmen. In den Forschungen zur visual history, wie sie seit Anfang der neunziger Jahre mit dem pictorial turn durch William J. T. Mitchell initiiert wurden, spiegelt sich die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen wider.1 Doch vor dem Hintergrund der Fragestellung Mitchells »what do pictures want?« spielt die Frage, ob und wie wir konkret über die Bilder selbst kommunizieren können, keine Rolle.2 Ursprünglich war es parallel zu Mitchell der Bildwissenschaftler Gottfried Boehm, der sich dieser Frage hätte annehmen können, indem er mit dem iconic turn auf die Eigenlogik der Bilder verwies. Konkrete lebensweltliche Bezüge arbeitete er jedoch nicht heraus.3 Hoffnungen darauf, die Relevanz von Bildern als historischen Akteuren aufzuzeigen, vermittelte 2006 der Vortrag des Kunsthistorikers Horst Brede1 Vgl. Gerhard Paul, BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013. 2 William J. T. Mitchell, What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005. 3 Stattdessen setzte Boehm mit der Betonung einer »Geschichte des Sehens« eigene Akzente. Demnach vermittle das Bild in jedem Jahrhundert anders etwas vom »Ur-Bild, der Grenze oder Spur«. Vgl. hierzu grundlegend Gottfried Boehm, Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: ders. / Hans-Georg Gadamer (Hg.), Seminar : Die Hermeneutik und die Wissenschaften, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1985, S. 444 – 471, hier S. 454; ders., Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: ders. / Birgit Mersmann / Christian Spies (Hg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 15 – 38, hier S. 21 ff.

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kamp auf dem 46. Deutschen Historikertag in Konstanz.4 Doch eine operationalisierbare Lösung, wie sich Bilder so analysieren lassen, dass deren Handlungskraft hervortritt, zeichnete sich mit Bredekamps mit Spannung erwarteter »Theorie des Bildakts« (2010) nicht ab, wie der Historiker Jens Jäger in seiner Rezension verdeutlichte.5 Bilder als Mittel der Kommunikation zu verstehen, hat jedoch – diesem ersten Befund entgegen – innerhalb der Kunstgeschichte eine lange Tradition. Sie geht auf deren Anfänge im 19. Jahrhundert zurück, als neben der Analyse des historisch gesicherten Gehalts die Aufarbeitung der stilistischen Eigenarten bzw. der Logik der Bilder im Vordergrund stand. Die formale Ästhetik machte deutlich, dass eine Trennung von Form und Inhalt nicht möglich ist. Der Münchner Kunsthistoriker Hermann Bauer brachte diesen Zusammenhang in einer Anthologie zu den Methoden des Fachs 1985 auf den Punkt: »Sollte die Minimal-Definition von der Form als der Gestalt der Mitteilung richtig sein, ergibt sich, daß eine reine Formanalyse unmöglich ist, weil es unmöglich ist, die Mitteilung selbst nicht zu berühren. Nur von einer Mitteilung zu sprechen, geht ebensowenig an, denn die Mitteilung existiert nur in einer bestimmten Form.«6

Diesem Befund entspricht die Aufarbeitung der Geschichte und Grundlagen der formanalytischen und formgeschichtlichen Methoden durch den Philosophen Lambert Wiesing.7 Demnach war es erstmals Heinrich Wölfflin, der 1915 auf eine Analogie zwischen den Gestaltungsweisen (Form / Stil) und den Anschauungsweisen (Inhalt / Mitteilung) von Bildern hinwies.8 Implizit wird damit unterstellt, dass es einen Weg der Übertragung von Anschauungsweisen (des Gestalters) in Gestaltungsweisen gibt, dessen Sinngehalt von einem Betrachter verstanden und damit auch handlungsrelevant werden kann. Wie ist das möglich? 4 Horst Bredekamp, Schlussvortrag: Bild – Akt – Geschichte, in: Clemens Wischermann u. a. (Hg.), GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz. Berichtsband, Konstanz 2007, S. 289 – 309. 5 Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adornovorlesungen, Frankfurt a. M. 2010. Vgl. hierzu die Rezension von Jens Jäger in: H-Soz-u-Kult, 14. 7. 2011; http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-037 [5. 9. 2014]. Entgegen diesem ersten Befund erweist sich jedoch Bredekamps Initiative zur Gründung des breit aufgestellten, interdisziplinären Labors »Bild – Wissen – Gestaltung« an der Humboldt-Universität Berlin seit Mitte 2012 als sehr vielversprechend. Aus unterschiedlichen Perspektiven werden darin Gestaltungsprozesse in den Wissenschaften untersucht: https://www.interdisciplinary-laboratory. hu-berlin.de/de. 6 Hermann Bauer, Form, Struktur, Stil: Die formanalytischen und formgeschichtlichen Methoden, in: Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, 3., durchges. u. erw. Aufl., Berlin 1988, S. 151 – 168, hier S. 158. 7 Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik (1997), Frankfurt a. M. 2008. 8 Ebd., S. 16 ff.

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Es sind die kulturwissenschaftlichen Symbol- und Verkörperungstheorien in der Nachfolge Ernst Cassirers und des amerikanischen Pragmatismus von Susanne K. Langer und John M. Krois sowie ergänzend entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Forschungen, die Antworthorizonte erkennbar werden lassen und zu einem neuen Ansatz inspirieren, den es im Folgenden vorzustellen gilt. So soll die Auswertung ihrer Forschungen zur Frage des Zusammenhangs von Form und Inhalt deutlich machen, dass er nicht nur von sprachlichen Prozessen geleistet wird,9 sondern zunächst auf körpereigenen Prozessen beruht.10 Diese Annahme eröffnet ganz neue Perspektiven, denn gerade das sprachlich-sachlich feststellende Erfassen der Bildmotive vermag kaum Bewertungsprozesse anzustoßen, die als Grundlage für Entscheidungen und Handlungen angesehen werden können. Das gilt auch dann, wenn die Motive selbst weiterführende Bedeutungen für uns haben. Dafür ist vielmehr die Relevanz für Zukünftiges, die der Übertragungsvorgang des Verstehens vermitteln muss, grundlegend.11 Das angenommene Bewertungsverfahren bzw. der Meinungsbildungsprozess, zu dem Bilder anregen, entzündet sich entsprechend nicht an den Darstellungsinhalten (Was), sondern an den Darstellungsweisen (Wie) und damit an der jeweiligen formalen Struktur der Bilder. So sind es die Strukturen selbst bzw. die je individuell gesetzten Striche, Farben, Flächen und die mit ihnen hergestellte Komposition, die bewertet werden. Bewerten meint hier, dass die bildnerischen Elemente nicht als neutrale Faktoren aufgenommen, sondern ihre jeweilige Erscheinungsweise für den Betrachter affektiv-emotional relevant wird. In Abgrenzung zu der noch von Cassirer, Langer und Krois vertretenen traditionellen Auffassung, dass diese Erfahrung das spezifische ästhetische Erlebnis mit Bildern bzw. Kunst ausmache (ästhetische Theorie), gilt es im Folgenden die kommunikative Funktion von Bildern aufzuzeigen. Demnach vermittelt sich über die lebendige Wirkung, die Bewertung (die Ansicht / Meinung) des Gestalters / Künstlers ein Motiv, auf das der Betrachter antworten kann (bildsemiotischer Ansatz). 9 Eine Annahme, die zuletzt Lambert Wiesing mit seinem jüngsten Buch vertritt: ders., Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013, bes. S. 211 f. 10 Diese Annahme baut auf ersten Untersuchungen von mir zum Thema auf. Vgl. zuletzt: Martina Sauer, Ästhetik und Pragmatismus. Zur funktionalen Relevanz einer nicht-diskursiven Formauffassung bei Cassirer, Langer und Krois, in: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 20 (2014); http://www.gib.uni-tuebingen.de/image?function= fnArticle& showArticle=303 [5. 9. 2014]. 11 In bemerkenswerter Klarheit wird dieser Zusammenhang von dem Lehrer Susanne K. Langers, dem Philosophen des Pragmatismus Alfred North Whitehead in dessen Vorlesung 1927 zum Thema »Symbolic Expression: Its Function for the Individual and for Society« ausgearbeitet. Sie wurde von Rolf Lachmann übersetzt und unter dem Titel »Kulturelle Symbolisierung« herausgegeben. Vgl. ders. (Hg.), Alfred North Whitehead. Kulturelle Symbolisierung, Frankfurt a. M. 2007, S. 101 – 108.

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Abb. 1: Paul C¦zanne, »Montagne Ste. Victoire«, 1904/06, 60 x 72 cm, Öl auf Leinwand, Kunstmuseum Basel. Aus: Martina Sauer, C¦zanne, van Gogh, Monet. Genese der Abstraktion, Bühl 2000, Anhang (Abb. 1).

Zur Verdeutlichung des Unterschieds soll hier als Beispiel ein Spätwerk Paul C¦zannes, eine Fassung der »Montagne Ste. Victoire« von 1906 herangezogen werden (Abb. 1). Schnell wird deutlich: Die Details des Motivs sind wegen der vereinzelten Strichführung (taches) kaum differenzierbar, und dennoch entsteht der Eindruck von stiller Größe. Wie ist das möglich? Es handelt sich ja gerade nicht um einen Berg am See mit einem Boot. Das heißt, am Motiv kann sich diese Wertung kaum festmachen. Verständlich und nachvollziehbar wird sie jedoch, wenn auf das Erregungspotential der gleichförmig über das Bild verteilten taches geachtet wird. Stimmungsmäßig vermittelt sich über sie unendliche Ruhe. Bezogen auf den Berg, der durch den angedeuteten Umriss deutlicher hervortritt und mit seiner Stellung über der Horizontlinie einen Wechsel von der Aufsicht in die Ebene davor zu einer Untersicht veranlasst, gewinnt die Erfahrung an Bedeutung: Über das eigenen Erleben vermag dem Motiv eine gewisse Würde und Erhabenheit zugeschrieben werden.12 Hieran schließt die entscheidende Frage 12 Vgl. hierzu Martina Sauer, C¦zanne, van Gogh, Monet. Genese der Abstraktion, Bühl 2000.

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an: Zeigt der Künstler nur eine lebendige Ansicht (ästhetische Theorie) oder vermittelt er seine Ansicht (Meinung) über ein Motiv (Bildsemiotik)? Hierin spiegelt sich zugleich die Doppeldeutigkeit des Begriffs »Ansicht«, die theoretisch weitreichende Konsequenzen hat. In dem einen Fall zeigt sich das Wesen oder die Dichte eines Motivs (oder Themas), im anderen wird dessen Auslegung durch den Künstler deutlich. Während das ästhetische Urteil mehr oder weniger unabhängig vom Künstler erfolgt und indirekt einen Rückschluss auf dessen Können erlaubt, wird über den Einbezug des Künstlers eine Analyse der wertebildenden Prozesse (Meinungsbildung) angeregt – konkret darüber, welche Ansicht der Künstler mit dem Bild verbreitet. Für die nachfolgende Betrachtung der Verkörperungstheorien von Cassirer, Langer und Krois ist jedoch zunächst nicht die Differenz der Auslegung dessen, was wahrgenommen wird, von Bedeutung, sondern zunächst nur die Frage nach dem Wie. Denn darin liegen die Gemeinsamkeiten sowohl mit der formalen Ästhetik als auch mit der Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaft. Grundlegend dafür ist, dass die Gestaltung (von etwas) auf abstrakt-formalen Prinzipien aufbaut, affektiv-emotional ausgelegt und daher für die Auslegung bedeutsam wird. Entsprechend dieser Annahme besteht zwischen der Gestaltung und der Wahrnehmung eine Analogie. So kann die Auswertung der kulturanthropologischen Ansätze entscheidend dazu beitragen, die hier vertretene, bildsemiotisch orientiere These zu untermauern, die Bilder selbst als historische Akteure zu verstehen.

2.

Ausgangspunkt: Zur Handlungsrelevanz von Bildern auf der Basis körpereigener Prozesse

Die leiblichen, affektiv-emotionalen Prozesse bei der Frage nach Bildern als historischen Akteuren in den Fokus zu rücken, erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Doch genau besehen ist diese Annahme sehr alt. Sie geht auf eine annähernd 2.500 Jahre alte Tradition zurück. Denn bereits Platon ging davon aus, dass die Künste unmittelbar auf den Rezipienten einwirken, indem sie dessen Empfindungen beeinflussen. Als rhetorische Mittel erschienen sie ihm daher äußerst suspekt. Sehr viel später war es Immanuel Kant, der ebenfalls ausdrücklich davor warnte, die Künste als »Maschinen der Überredung« einzusetzen. Möglich sei dies, wie Kant betonte, weil sie die Affekte des Menschen ansprechen und derart die reflexiven Möglichkeiten des Verstandes behindern können. Entsprechend bestanden beide Philosophen darauf, die Künste nicht Digital auf: ART-Dok. Publikationsplattform Kunstgeschichte, 7. 4. 2014; http://archiv.ub. uni-heidelberg.de/artdok/2573 [5. 9. 2014].

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zur Befriedigung von Bedürfnissen und Zwecken des Menschen zu missbrauchen, sondern nur diejenigen Künste gelten zu lassen, die als ein »Symbol des Sittlich-Guten« (Kant) oder als »wahre rhetorische Rede« (Platon) beurteilt werden können.13 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte in der Forschung ein verstärktes Interesse ein, diesen Zusammenhang näher zu ergründen.

2.1

Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaft

Erste Überlegungen, weniger zur Wirkmacht von Bildern als dazu, wie überhaupt die Wahrnehmung des Menschen im Gegensatz zum Tier zu verstehen sei, wurden im Hamburger Umkreis von Ernst Cassirer in den 1920/30er Jahren entwickelt. Dazu zählte neben Aby M. Warburg, dessen Ansatz (»Pathosformeln«) hier nicht eigens aufgegriffen werden soll, auch der Entwicklungspsychologe Heinz Werner, der wie Cassirer in die USA emigrierte. In seinem lange als Standardwerk geltenden Buch »Einführung in die Entwicklungspsychologie« (1926) betonte er, dass der Mensch ursprünglich zur Welt kein distanziertes Verhältnis habe, sondern sie vielmehr als einen »vitalen Aktionszusammenhang« auffasse. Ursprünglich befinde sich der Mensch in einem Zustand einer »vitalen und affektmotorischen Totalsituation«, in der Dinge pragmatisch und funktional als »Aktions- und Signaldinge«, als Objektbestände eines Geschehensablaufs verstanden werden. Die Wahrnehmung einer Gestalt werde über Bewegungswahrnehmung aktiviert. Sie lasse sich bereits bei Tieren so beobachten.14 Zusammenfassend schrieb Werner : »Diese physiognomische oder ausdrucksmäßige Betrachtung der Dinge ist bedingt durch die wesentliche Mitbeteiligung des affektiven dynamischen Gesamtverhaltens an der Gegenstandsgestaltung.«15 Die Welt werde daher weniger sachlich als ausdrucksmäßig, gesichthaft und lebendig erfasst. Das mache die ursprüngliche Schau von Welt aus, wie sie etwa auch Künstler haben.16 Eine entscheidende Vertiefung erfuhr dieser Ansatz in Bezug auf die Bildbzw. Kunstwahrnehmung durch den amerikanischen Entwicklungspsychologen Daniel N. Stern.17 Seine Experimente mit Säuglingen eröffneten ihm, dass bereits 13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Stuttgart 1991, § 53, S. 266 – 273, hier S. 268. Vgl. ergänzend zu Platon die Ausarbeitung dazu von Ernesto Grassi, Macht des Bildes. Ohnmacht der rationalen Sprache. Zur Rettung des Rhetorischen, Köln 1970, S. 147 – 168, hier S. 166. 14 Heinz Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie (1926), 4., durchges. u. erw. Aufl., München 1959, S. 38 – 44. 15 Ebd., S. 46. 16 Vgl. ebd., S. 45, 47. 17 Daniel N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings (1986), Stuttgart 1992.

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nur wenige Tage alte Neugeborene auf das Aussehen von Gegenständen rückschließen können, deren Form sie zuvor nur ertastet hatten. So werde etwa ein Noppenschnuller aus einer Reihe anderer wiedererkannt, der zuvor im Mund bei verbundenen Augen intensiv bearbeitet wurde. Säuglinge nähmen ursprünglich abstrakte Repräsentationen wahr. Dabei handele es sich nicht »um Bilder, Töne, haptische Eindrücke und benennbare Objekte, sondern vielmehr um Formen, Intensitätsgrade und Zeitmuster – die eher ›globalen‹ Merkmale des Erlebens.«18 In Erweiterung seines Ansatzes verwies Stern, wie zuvor bereits Werner, auf die spezifische Qualität dieses Erlebens, die dazu neige, Wahrnehmungsqualitäten in Gefühlsqualitäten zu übersetzen. Stern kennzeichnete sie entsprechend als »Vitalitätsaffekte«. Sie ließen sich am ehesten mit dynamischen, kinetischen Begriffen wie »aufwallend«, »verblassend«, »explosionsartig«, »abklingend«, »berstend«, »sich anziehend« usw. charakterisieren.19 Das Vermögen, zwischen ihnen zu differenzieren, sei angeboren. Es zeichne sich durch eine »kraftvolle Zielstrebigkeit« aus, um zur Sicherung sozialer Interaktionen bzw. der Kommunikation zu dienen.20 Bereits von Stern selbst wurde es in einen unmittelbaren Zusammenhang zur Bild- bzw. Kunstwahrnehmung gebracht. So sah Stern im Stil, das heißt in der Weise wie der Maler die Formen handhabt, ein Pendant zum spontanen Verhalten im Bereich der Vitalitätsaffekte: »Die Übersetzung von der Wahrnehmung ins Gefühl erfordert also im Falle des künstlerischen Stils die Umwandlung ›wahrheitsgetreuer‹ Wahrnehmungen (Farbharmonien, Linienführungen usw.) in virtuelle Formen des Gefühls, zum Beispiel des Gefühls der Stille.«21 Der Unterschied im Erfassen der Vitalitätsaffekte im sozialen Verhalten und in der Kunst liege, so Stern in Anlehnung an die Cassirer-Forscherin Susanne K. Langer, in der Kontemplation und damit Bewusstheit, die die Kunsterfahrung eröffne, die im »normalen« Leben durch »Verstrickungen in kontingente Umstände« meist unmöglich sei.22 Die von Stern herausgestellten Zusammenhänge treffen sich in bemerkenswerter Weise mit den Spiegelneuronenforschungen seit 1996. Sie machen deutlich, dass, wenn eine Aktion eines Anderen beobachtet wird, im Hirn dieselben Regionen aktiviert werden, als ob sie von ihm selbst ausgeführt würde. Diese Spiegelung des Verhaltens wird für das Verstehen des Anderen und für das soziale Verhalten des Menschen als zentral angesehen. Im Anschluss an die Untersuchungsergebnisse von Stern stellte sich weiterführend die Frage, ob bei der nachahmenden Beobachtung zwischen dem, was mit einer Handlung beabsichtigt wird (»goal and intention«), und dem, wie sie ausgeführt wird (»vi18 19 20 21 22

Ebd., S. 74 – 103, Zitat S. 80. Ebd., S. 83. Ebd., S. 49. Ebd., S. 225 – 230, Zitat S. 227 f. Vgl. etwa oben die Beschreibungen zu C¦zanne. Ebd., S. 228.

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tality form«), unterschieden wird. Die direkte Zusammenarbeit Sterns mit einer Forschergruppe um einen der ursprünglichen Entdecker der Spiegelneuronen, Giacomo Rizzolatti, bestätigte diese Annahme.23 Ein weiteres Forschungsmitglied dieser Gruppe, Vittorio Gallese, stellte bereits 2007 gemeinsam mit dem amerikanischen Kunsthistoriker David Freedberg konkrete Bezüge zur Kunst her. Sie zeigten auf, dass wir auch dann nachahmend tätig seien, wenn wir vor starren Bildern stehen, auch abstrakten. Dafür lassen sich, wie es bereits die Entwicklungspsychologen betont hatten, neben figurativen insbesondere formale Qualitäten der Werke verantwortlich machen: »With abstract paintings such as those by Jackson Pollock, viewers often experience a sense of bodily involvement with the movements that are implied by the physical traces – in brushmarks or paint drippings – of the creative actions of the producer of the work. This also applies to the cut canvases of Lucio Fontana, where sight of the slashed painting invites a sense of empathetic movement that seems to coincide with the gesture felt to have produced the tear.«24

Weiterführend beschrieb Gallese 2012 in einem Aufsatz mit Cinzia di Dio, dass diese Einfühlung in Bilder (»empathic feeling«) sich als ein unmittelbar ablaufender Prozess (»automatic emotional response«) beschreiben lasse. Die Weise, wie ein Künstler etwa den Himmel in einem Landschaftsbild gestaltet, werde nicht nur nachvollzogen, sondern zugleich als lebendig bewegt bewertet. Damit werde das Kunstwerk zum Mediator zwischen Künstler und Betrachter : »Observers are likely able to appreciate the violent nature of the artwork because those brush strokes feature the movements they resonate with by means of the mirror mechanism.«25 Für die Frage, inwiefern Bilder als historische Akteure verstanden werden können, erweisen sich im Anschluss an Werner die letzten beiden Ansätze als weitreichend. Stern benutzte für den Zusammenhang, den er zwischen der Wahrnehmung von Welt und Kunst feststellte, den Begriff des »Pendants«. Gallese verweist mit seinen Forschungen zur Perzeption von Anderen und der Kunst auf den Begriff der »Nachahmung«. Beide heben dabei zudem auf »Gefühlsqualitäten« (Stern) bzw. »Empathie« (Gallese) ab, die bei der Wahrnehmung aktiviert werden. Die Wahrnehmung wird – was sich als bemerkenswert herausstellt – nicht von den Inhalten oder angenommenen Bedeutungen angeregt, sondern von abstrakten Elementen: dem Heben der Arme beim Greifen 23 Vgl. Guiseppe di Cesare u. a., The neural correlates of »vitality form« recognition: an fMRI study, in: Social Cognitive and Affective Neuroscience 9 (2014), S. 951 – 960. 24 David Freedberg / Vittorio Gallese, Motion, emotion and empathy in esthetic experience, in: Trends in Cognitive Sciences 11 (2007), S. 197 – 203, Zitat S. 197. 25 Vittorio Gallese / Cinzia Di Dio, Neuroesthetics: The Body in Esthetic Experience, in: Vilayanur S. Ramachandran (Hg.), Encyclopedia of Human Behavior, Bd. 2: E–O, 2. Aufl., London u. a. 2012, S. 687 – 693, S. 691.

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etwa nach einer Banane, dem Nachvollziehen von Pinselstrichen auf einer Leinwand (Gallese) bzw. den verschiedenen Intensitätsgraden, Formen und Zeitmustern, die zur Unterscheidung von Schnullern, Lauten der Mutter etc. wahrgenommen werden (Stern). Verstehen und Kommunizieren erfolgt hier ohne sprachliche Artikulation. Beides beruht auf den von (virtuellen) Bewegungsgestalten ausgelösten Empfindungen und dem Abgleich mit eigenen Bedürfnissen, seien es solche nach Nahrung oder nach Orientierung. Für das Verständnis von Bildern als historischen Akteuren ist wesentlich, dass beide Ansätze – wie in der formalen Ästhetik – davon ausgehen, dass nicht nur zwischen den Wahrnehmungs- und Handlungs- bzw. Kommunikationsweisen, sondern auch zwischen den Gestaltungs- und Anschauungsweisen eine Analogie bestehe. Sie funktionieren nach den gleichen Regeln, die auf abstrakten, affektivemotionalen und daher handlungsrelevanten Prinzipien beruhen. Insbesondere Kunst vermöge auf diese Vorgänge aufmerksam zu machen, während andere Bildwerke, so lässt sich anschließen, wie etwa solche der Werbung und Propaganda weniger diesen Zweck verfolgen, sondern dementgegen auf eine reine, möglichst unkritische Nachfolge bzw. den Kauf von etwas abzielen.

2.2

Symbol- und Verkörperungstheorien

Dass auch Ernst Cassirer von körpereigenen Prozessen ausging, die für den Menschen in seiner Hinwendung zur Welt und darüber hinaus für deren Auslegung als symbolisch bedeutsam zentral sind, entwickelte er in den drei Bänden zur »Philosophie der symbolischen Formen« zwischen 1923 und 1929. Demnach nehme der Mensch die Welt, wie Cassirer es zusammenfassend und letztlich in Übereinstimmung mit Heinz Werner im dritten Band festhielt, nicht sachlich auf, sondern affektiv-emotional gefärbt.26 Die Wahrnehmungsweise von Welt beruhe auf einer »starken triebhaften Unterschicht«.27 Entsprechend bezeichnete Cassirer diese Form der Weltzuwendung als »Ausdrucks-Wahrnehmung«. Ein »Absehen« sei von dieser ursprünglichen Zugangsweise zur Welt nicht möglich: »[K]eine noch soweit getriebene Abstraktion vermag diese Schicht als solche zu beseitigen und auszulöschen«.28 Auf die konkrete Frage danach, was und wie wir wahrnehmen, verwies Cassirer auf Bewegungsgestalten und Raumformen, die als lebendig aufgegriffen werden:

26 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3: Die Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Darmstadt 1964, S. 86. 27 Ebd., S. 78. 28 Ebd., S. 86.

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»In Wahrheit bedeutet, innerhalb dieses Horizontes, die Ausdrucks-Wahrnehmung gegenüber der Ding-Wahrnehmung nicht nur das psychologisch-Frühere […]. Sie hat ihre spezifische Form, ihre eigene ›Wesenheit‹, die sich nicht durch Kategorien, die für die Bestimmung ganz anderer Seins- und Sinnregionen gelten, beschreiben, geschweige durch sie ersetzen läßt. […] im Spiegel der Sprache […] läßt sich zumeist noch unmittelbar erkennen, wie alle Wahrnehmung eines ›Objektiven‹ ursprünglich von der Erfassung und Unterscheidung gewisser ›physiognomischer‹ Charaktere ausgeht, und wie sie mit diesen gleichsam gesättigt bleibt. Die sprachliche Bezeichnung einer bestimmten Bewegung etwa birgt fast durchweg dieses Moment in sich: statt die Form der Bewegung als solche, als Form eines objektiven raum-zeitlichen Geschehens, zu beschreiben, wird vielmehr der Zustand genannt und sprachlich fixiert, von dem die betreffende Bewegung der Ausdruck ist. ›Raschheit‹, ›Langsamkeit‹ und zur Not noch ›Eckigkeit‹, so heißt es bei Klages […], mögen rein mathematisch verstanden werden; dagegen ›Wucht‹, ›Hast‹, ›Gehemmtheit‹, ›Umständlichkeit‹, ›Übertriebenheit‹ sind ebenso sehr Namen für Lebenszustände wie für Bewegungsweisen und beschreiben in Wahrheit diese durch Angabe ihrer Charaktere. Wer Bewegungsgestalten und Raumformen kennzeichnen will, findet sich unversehens in eine Kennzeichnung von Seeleneigenschaften verstrickt, weil Formen und Bewegungen als Seelenerscheinungen erlebt worden sind, ehe sie aus dem Gesichtspunkt der Gegenständlichkeit vom Verstande beurteilt werden, und weil die sprachliche Verlautbarung der Sachbegriffe nur durch Vermittlung von Eindruckserlebnissen stattfindet.«29

Entsprechend charakterisierte Cassirer diese ursprüngliche Form des Wahrnehmens als eine, die durch ein Erleben und Erleiden gekennzeichnet sei. Dasjenige, was erfasst werde, erhalte dadurch einen Ausdruck: »Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen«.30 Diese Beschreibungen weisen auf zwei Seiten der ursprünglichen Wahrnehmungsweise hin: zum einen auf das unmittelbare Reagieren auf äußere Reize (Bewegungsgestalten und Raumformen) und zum anderen auf deren affektiv-emotionale Aufnahme (Ausdruck). Dasjenige, was wahrgenommen wird, sind abstrakte Formen, und die Weise, wie wahrgenommen wird, ist nicht-diskursiv. Dennoch – und hierin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Formverständnisses – vermittele sich über sie bereits ein erster Sinn. Er liege darin, dass die je spezifisch als dynamisch wahrgenommenen abstrakten Elemente über das Affekt- und Willensleben bzw. über die Bild- und Tatkraft affektiv-emotional ausgelegt werden. Nach Cassirer liegen die Voraussetzungen für jedes Handeln demnach in der affektiv-emotionalen Auslegung, die einen ersten symbolischen Sinn erzeugt, an dem sich der Einzelne ausrichtet: »So beruht das geschichtliche Bewußtsein auf einem Ineinander und einer Wechselwirkung von Tatkraft und Bildkraft: auf der Klarheit und Sicherheit, mit der das Ich imstande ist, ein zukünftiges Sein im Bilde vor sich hinzustellen und alles 29 Ebd., S. 94. Kursive Wörter im Original gesperrt. 30 Ebd., S. 88. Kursives Wort im Original gesperrt.

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einzelne Tun auf dieses Bild zu richten.«31 Die ersten Bilder (»Symbole«), die uns dieses »Tun« des Menschen vermittelt, seien die einer lebendigen Ausdruckwelt (»mythisches Bewusstsein«).32 So galt auch für Cassirer, wie es ebenso Werner und später Stern herausstellten: »Das ›Verstehen von Ausdruck‹ ist wesentlich früher als das ›Wissen von Dingen‹.«33 Weiterführend gelte, dass – auch wenn die Logik der später gewonnenen Ding- und Kausalbegriffe uns veranlasse, alle Brücken zur reinen Ausdruckwelt abzubrechen – die ursprüngliche affektivemotionale Wahrnehmungsweise dennoch nicht verloren gehe.34 Die zentrale Funktion, die sie für das Handeln übernimmt, mag hierfür eine Erklärung bieten, die Cassirer selbst nicht weiter ausgearbeitet hat. Erst 1944 mit der im amerikanischen Exil veröffentlichten Schrift »An Essay on Man« griff Cassirer die Thematik nochmals auf und betonte, was für die hier verfolgte Fragestellung wichtig ist, dass diese ursprüngliche, lebendige, von uns nicht länger anerkannte Weltauffassung in der Kunst anschaubar werde.35 Ebenso wie es später Langer und Krois bekräftigten, gehe mit der Übertragung in die Kunst jedoch die Handlungsrelevanz verloren. Es sei allein das ästhetische Erlebnis der »lebendigen Formen«, wie sie die Bilder vermitteln, das als solches bedeutsam werde. So führte Cassirer hierzu aus, dass für den Künstler die Macht der Leidenschaft, die in der ursprünglichen affektiven Weltauffassung liege, »zu einer bildenden, formgebenden Kraft« werde, wobei etwa der tragische Dichter »nicht Sklave, sondern Herr seiner Gefühle« sei. Mit dem Werk erfahre der ursprüngliche emotionale Gehalt einen Gestaltwandel, der auch für den Rezipienten bedeutsam wird. In der Welt der »reinen Sinnesformen« werde den Leidenschaften ihre dingliche Bürde genommen. Sie würden von der Kunst in Handlungen, in Motion statt Emotion, in einen dynamischen Prozess inneren Lebens, der den Betrachter / Zuhörer bewegt, verwandelt.36 Exemplarisch verdeutlichte Cassirer diesen Perspektivenwechsel, indem er die Erfahrungen mit einer natürlich schönen Landschaft »mit den Augen eines Künstlers« beschrieb: »[I]ch fange an ein Bild von ihr [der Landschaft, M.S.] zu formen. Damit habe ich ein neues Terrain betreten, das Feld nicht der lebendigen Dinge, sondern der lebendigen Formen. Nicht mehr in der unmittelbaren Wirklichkeit der Dinge stehend, bewege ich mich nun im Rhythmus der räumlichen Formen, in der Harmonie und im Kontrast der 31 Vgl. grundlegend zur Bild- und Tatkraft ebd., S. 189 – 221, Zitat S. 212. Kursive Wörter im Original gesperrt. 32 Ebd., S. 71 – 74. 33 Ebd., S. 73 f. Vgl. hierzu Werner, S. 154 – 173 (§ 35); ergänzend zu Stern, S. 48 f.; Ausarbeitung dazu S. 231 – 258. 34 Cassirer, Phänomenologie der Erkenntnis, S. 99 f. 35 Ders., An Essay on Man (1944); dt.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, 2., verb. Aufl., Hamburg 2007. 36 Ebd., S. 212 – 234, Zitat S. 229.

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Farben, im Gleichgewicht von Licht und Schatten. Der Eintritt in die Dynamik der Form begründet das ästhetische Erlebnis.«37

Weiterführend sprach Cassirer von einer »Intensivierung von Wirklichkeit«, die über die Gestaltung und Wahrnehmung von Kunst erfolge.38 Doch genau darin, ebenso wie später bei Langer und Krois, lassen sich Widersprüche zu seinem ursprünglich entwickelten Ansatz aufzeigen. Denn ist nicht schon die Intensivierung von etwas eine Steigerung, die einer Ansicht gleich eine spezifische Sichtweise / Meinung von etwas vermittelt? Wird dem zugestimmt, dann ist es die Sichtweise / Auslegung des Künstlers, die mit der Gestaltung in das Bild gelegt und vom Betrachter verstanden werden kann. Für die Wahrnehmung eines Landschaftsbildes mag die Steigerung / Deutung des Künstlers noch als ästhetischer Genuss im Sinn einer Intensivierung der Wirklichkeitserfahrung aufgenommen werden, wählt der Künstler jedoch andere Themen wie etwa politisch oder werbetechnisch relevante, ändert sich die Situation. Auch in diesen Fällen lässt sich von einer Intensivierung sprechen, die die gewählten Themen in einem bestimmten Licht erscheinen lässt, die über die Steigerung der Empfindungen dann jedoch handlungsrelevant werden können, indem sie das Begehren zum Erwerb oder zur Nachahmung von Ideen wecken. In der Nachfolge von Cassirer hat vor allem die amerikanische Philosophin Susanne K. Langer bereits in ihrem 1942 erschienenen Buch »Philosophy in a New Key« betont und in späteren Schriften vertieft: »Alle unsere Anzeichen und Symbole sind jedoch sinnlicher und emotionaler Erfahrung entnommen und tragen den Stempel ihres Ursprungs.«39 Im Anschluss an Cassirer sei dieser Zusammenhang für die Kunst und deren Rezeption wesentlich. Statt jedoch die »Intensivierung und Erhellung« der Wirklichkeit40 in den Vordergrund zu stellen, betonte Langer die Bedeutsamkeit der Gefühlsebene selbst und damit deren nicht-diskursiven Charakter. So vermerkte sie, dass »der Gefühlsinhalt des Werkes [Hervorhebung M.S.] […] vorrational, wesentlicher und lebendiger, von der Art des Lebensrhythmus [ist], den wir mit allen wachsenden, hungernden, sich regenden und furchtempfindenden Geschöpfen teilen: er betrifft letzte Wirklichkeiten, die zentralen Fakten unseres kurzen, bewussten Daseins.«41 Ihn zu verstehen, setze eine Vertrautheit mit der »impliziten« (und nicht diskursiven oder präsentativen) Bedeutung der Werke voraus, die eigener, »nichtdiskursiver« Formen des Begreifens bedürfe.42 37 Ebd., S. 233 f. 38 Ebd., S. 221. 39 Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key (1942); dt.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, 4. Aufl., Berlin 1965, S. 241 – 260, Zitat S. 254. 40 Cassirer, Versuch über den Menschen, S. 228. 41 Langer, S. 278. 42 Ebd., S. 256 – 260.

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Den nicht-diskursiven Formen des Begreifens entsprechen – wie es indirekt bereits Cassirer herausarbeitete und auch von Werner und weiterführend von Stern und Gallese betont wurde – formal-abstrakte Gestaltungsweisen. Letztere gründen nach Langer in der Musik in der »tonalen dynamischen Form« und in der Malerei, Bildhauerei und Dichtung im »Spiel der Linien, Massen, Farben und Stoffe« – wobei der Gehalt des künstlerischen Ausdrucks selbst, wie ihn Langer in dieser frühen Schrift noch als Vermutung nahe legte und in »Feeling and Form« 1953 zum Thema machte, in allen Künsten der gleiche wie in der Musik sei.43 Der Gehalt sei »das mit Worten nicht sagbare, und doch nicht unausdrückliche Prinzip der lebendigen Erfahrung, die innere Bewegungsform des empfindenden, seines Lebens bewussten Daseins.«44 Entsprechend definierte Langer die Kunst als »the creation of forms symbolic of human feeling«.45 Die konkrete symbolbildende Kraft liege darin, dass über die Spannungen und Entspannungen der bildnerischen Mittel (»tensions and resolutions«46) ein virtuelles Bild organischen Lebens entstehe.47 Sie beruhe auf der engen Beziehung zwischen organischen [leiblichen, M.S.] bzw. mentalen Prozessen (»vital forms«) und künstlerischen Formen (»artistic forms«). Zwischen ihnen müsse, wie es auch Wiesing in Auseinandersetzung mit der formalen Ästhetik aufzeigt, eine Analogie bestehen. Darauf baut die (Bild-)Akt-Theorie Langers auf.48 So wie bereits Cassirer ansetzte, betonte Langer, dass die Elemente der Kunst erst im Zusammenspiel symbolisch (gefühlsmäßig) bedeutsam werden. Im logischen bzw. dialektischen Muster (»tension and resolution«) der möglichen Beziehungen (»potential acts«) forme sich der Sinn der Erscheinung als »lebendige Form« bzw. »illusion of bodily existence«.49 Die Vergleichbarkeit von biologischen und künstlerischen Akten liege in dem vitalen Vorgang der Über- und Unterordnung von einzelnen Akten.50 Funktional betrachtet besteht darin die

43 Dies., Feeling and Form. A Theory of Art Developed from Philosophy in a New Key (1953), 4. Aufl., London 1967, S. 103, 369, 372. 44 Dies., Philosophie auf neuem Wege, S. 252. 45 Dies., Feeling and Form, S. 40. 46 Vgl. hierzu grundlegend Langers Ausarbeitung in dem 1967 und 1972 vorgelegten Doppelband: dies., Mind: An Essay on Human Feeling, Bd. 1 (1967), 4. Aufl., Baltimore / London 1985, Bd. 2, Baltimore / London 1972. Vgl. hier Bd. 1, S. 206 f. 47 Dies., Feeling and Form, S. 207; vgl. ergänzend S. 47 – 59, 372. 48 Dies., Mind, Bd. 1, S. 199 – 253, bes.. S. 200 f., 211. 49 Ebd., S. 206 f. 50 Ebd., S. 261 – 268. Diese Annahme wurde von Langer dahingehend ausgeweitet, dass sie bereits auf der Ebene der molekularen Interaktionen, die von physikalischen und chemischen Prozessen gesteuert werden, eine Vergleichbarkeit bis hoch zu organischen und psychischen und weiterführend künstlerischen Prozessen annimmt. Eine These, mit der sie unmittelbar an ihren Lehrer und Freund Alfred North Whitehead anschloss, dem sie entsprechend den Doppelband widmete. Vgl. zu Whitehead, Lachmann, S. 122 ff. Den Nachweis

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Möglichkeit der Übertragung von einer auf die andere Ebene. So könne das imaginative und gedankliche Vermögen beim Menschen die Aufgabe übernehmen, dem alltäglichen Strom von Spannungen und Entspannungen zu begegnen und ihn zu bannen.51 Der illusionäre Charakter der Kunst erlaube es dem Betrachter darüber hinaus, ihr frei von praktischen Zwecken zu begegnen. Er ermögliche eine Distanz, die im Ritual und in der Unterhaltung verloren gehe, indem Letztere durch größtmögliche Nähe und einem Glauben-Machen eine Delusion (Eins-Sein) erzeugen.52 Doch schließt die erkennbare Zweckorientierung im Ritual und in der Unterhaltung tatsächlich aus, dass sie sich auf von Gefühlen geprägte Erfahrungen des Menschen in der Welt beziehen, wie Langer vermutet? Diese später geäußerte Annahme,53 die ihr letztlich erlaubte, an der klassischen ästhetischen Theorie festzuhalten, widerspricht jedoch ihrem eigenen Ansatz. Demzufolge könne der stete Strom der »tensions and resolutions« in bildnerische Mittel umgesetzt werden, so dass wir über die Gestaltungen – seien es solche der Kunst und des Designs oder der Werbung und der Propaganda – ein lebendiges, virtuelles Bild einzelner Aspekte davon gewinnen können. Berechtigt scheint die These Langers dagegen mit Bezug auf die Praktiken der Delusion, die uns unter Umgehung unseres bewussten Denkens ihre Ansichten vermitteln können, ohne auf merklichen Widerstand zu stoßen. Die Zweifel an Langers grundsätzlicher Unterscheidung zwischen Kunst und Ritual / Unterhaltung werden zudem durch ihre eigenen Schlussfolgerungen bestärkt, die sie in ihrem zweibändigen Spätwerk »Mind. An Essay on Human Feeling« (1967/72) vorstellte. Denn wenn über die Form (»external forms«) eine Objektivierung der Gefühle stattfindet und zugleich mit Bezug zum Inhalt eine Subjektivierung der Natur (»internal forms«) einhergeht,54 so liegt es im Ermessen des Künstlers / Gestalters, was von ihm wie subjektiviert wird. Sein Vermögen besteht dann nicht nur darin, »forms symbolic of human feeling« zu erschaffen, sondern über die »quality of expression«55 und die Wahl der Themen eigene Zwecke zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund mit Langer von einem »presentational symbolism« zu sprechen, jedoch nicht nur im Sinn der Präsentation von Gefühlen, sondern darüber hinaus von Ansichten, gilt es hier in Erweiterung vorzuschlagen. Das (Bild-)Aktverständnis, wie es Langer in ihren Schriften entwickelte, deckt sich in vielerlei Hinsicht mit dem des Cassirer-Experten John M. Krois. So ging

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führte Langer, indem sie sich ergänzend auf Forschungsergebnisse aus der Psychologie und Entwicklungspsychologie, Physiologie, Neurologie, Biologie und Zoologie stützte. Langer, Feeling and Form, S. 371 – 375. Ebd., S. 319 f. Dies., Mind, Bd. 1, S. 127 f. Ebd., S. 86 f.; vgl. ergänzend die Schlussbetrachtung in dies., Mind, Bd. 2, S. 342. Dies., Mind, Bd. 1, S. 127.

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auch er davon aus, dass es dem Menschen möglich ist, über die Künste an den Fluss des Lebens anzuschließen, der von Gefühlsbewegungen geprägt sei. Doch mit Langers Forschungen hatte sich Krois nur am Rande beschäftigt,56 stattdessen knüpfte er ebenfalls unmittelbar an Cassirer an. Bereits in der Schrift zu Cassirers Geschichtsauffassung 1987 und vertiefend in einer Reihe von Aufsätzen seit 199857 untersuchte Krois die Voraussetzungen für diese Annahme. Wie bereits Langer betonte, sei es die Kunst, die eine Objektivierung dieser Gefühlswelt erlaube: »In art, a medium permits giving expressive meaning an objective form.«58 Die expressive Bedeutung liege schon immer vor und sei grundsätzlich nicht-diskursiver Natur.59 Sie betreffe die Wahrnehmung in ihrer ganzen körperlichen Gebundenheit: »Expressive meaning is not a product of culture; it characterizes the first stages of perception and bodily awareness […]. This is the prototype of all symbolic relations.«60 Das ausdrucksmäßige Verstehen, wie es Cassirer einführte, kann daher, so lässt sich an die Ausarbeitung von Krois an früherer Stelle anschließen, als Funktion aller höheren symbolischen Formen (mit symbolischer Prägnanz) verstanden werden: Sie sei »the logical structure of experience«61 – eine Schlussfolgerung, die auch Langer gezogen und der Ausarbeitung ihrer (Bild-)Akt-Theorie zu Grunde gelegt hatte.62 Krois wertete den Ansatz Cassirers so aus, dass er nicht von einer formalen Relation von Bedeutungszusammenhängen ausging, einer auf Vergleich beruhenden Ordnung nach Klassen und logischen Schlüssen, sondern von einer »erzeugenden Relation«, die die Grundlage aller Ordnungszusammenhänge bilde.63 In der Kunst zeige sie sich in einer Weise, dass die expressive Ausdeutung (»die erzeugende Relation«) für uns erkennbar und diskutierbar werde.64 Die Grundlagen dieser Annahme zu klären, stellte sich Krois als Aufgabe, wie die nachfolgenden Aufsätze und Aktivitäten zeigen.65 Dabei blieb für Krois die 56 Vgl. John M. Krois, Experiencing Emotion in Depictions. Being Moved without Motion? (2010), in: ders., Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hrsg. von Horst Bredekamp / Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 232 – 251, hier S. 247 f. 57 Sie wurden 2011 von Horst Bredekamp und Marion Lauschke herausgegeben; vgl. vorige Anm. 58 John M. Krois, Cassirer : Symbolic Forms and History, New Haven / London 1987, S. 132. 59 Ebd., S. 59. 60 Ebd., S. 57; vgl. ferner S. 85 f. 61 Ebd., S. 47. 62 Langer, Mind, Bd. 1, S. 272 – 299, 324. 63 Krois, Cassirer, S. 44 – 62, Zitat S. 45. 64 Ebd., S. 133. 65 So gründete Krois gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp 2008 das Forschungskolleg »Bildakt und Verkörperung« an der Humboldt-Universität in Berlin. Vor diesem Hintergrund kann Krois auch als ein Mitideengeber des seit 2012 laufenden Exzellenzclusters »Bild Wissen Gestaltung« angesehen werden, das von Bredekamp und dem

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Frage, wie in der Begegnung mit Kunst Gefühle angesprochen werden, lange unbeantwortet.66 Erst spät, konkret in Auseinandersetzung mit dem Enaktivismus seit 2010,67 eröffnete sich ihm, dass sich Empfindungen nicht nur an die Willensbildung knüpfen lassen und damit an die von ihr in einem Abwägungsprozess verfolgten Wünsche und Zwecke (»Evaluationsprozess«68), sondern an den Wahrnehmungsprozess selbst. So gewann die von Krois in mehreren Aufsätzen angenäherte Verkörperungstheorie vor allem in seinem letzten Lebensjahr an Kontur. Eine zusammenhängende Ausarbeitung war ihm nicht mehr möglich. Im Nachfolgenden werden die Grundzüge der These mit Bezug auf verschiedene Aufsätze aufgezeigt. Den Ausgangspunkt bildete für Krois die Annahme, dass sowohl das Bild als auch der Körper (bzw. die Wahrnehmung des Menschen, aber auch von Tieren und Robotern) auf vergleichbaren Prinzipien bzw. Schemata aufbauen. Zwischen den Bildschemata und Körperschemata besteht eine Analogie: »Bei allen werden die Körperschemata aus den gleichen Bildschemata aufgebaut. Diese Bildschemata sind dynamische, nicht optische Formen«. Diese bewusst zu erleben und zu fühlen (als »Qualitäten«69 über die »Ausdruckswahrnehmung«70), zeichne den Menschen im Gegensatz zum Tier aus. Diese Annahme deckt sich, wie sich bereits zeigte, mit der von Langer, Werner, Stern und Gallese. So waren es auch für Krois unbewusste, senso-motorische bzw. körperliche (Propriozeption) und damit nicht-diskursive Prozesse (des Körperschemas), die sowohl als Grundlage für eine bewusste, lebendige Selbsterfahrung (des Körperbildes) als auch für aktive Formbildungs- und Wahrnehmungsprozesse von Bildern und Zeichnungen (des Bildkörpers) angesehen werden können.71 Sie ermöglichen eine räumliche Orientierung und

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Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner eingerichtet wurde: Vgl. http://www.kunst geschichte.hu-berlin.de/2012/07/exzellenzcluster-bild-wissen-gestaltung; https://www.inter disciplinary-laboratory.hu-berlin.de/de. John M. Krois, Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen (2006), in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 132 – 160, hier S. 160. Ders., Experiencing Emotion in Depictions, S. 237 f. Vgl. ders., Cassirer, S. 155, 167, 102 – 105. Ders., Tastbilder. Zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (2010), in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 208 – 231, hier S. 231. Vgl. zum tieferen Verständnis der »Qualitäten« zudem seine Auseinandersetzung mit Charles S. Peirce: ders., Image Science and Embodiment or : Peirce as Image Scientist (2009), in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 194 – 209, bes. S. 202 – 209. Ders., Bildkörper und Körperschema (2011), in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 252 – 271, hier S. 270. Krois stellt hier keinen unmittelbaren Bezug zu Cassirers Bestimmungen her, die er jedoch an anderer Stelle erörtert hat; vgl. ders., Für Bilder braucht man keine Augen, S. 142; ders., Synesthesia and the Theory of Signs (2007), in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 162 – 174, hier S. 171. Ders., Tastbilder, S. 221 – 231, Zitat S. 231; ergänzend, ders., Bildkörper und Körperschema, S. 252 – 271.

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können daher als grundlegend für emergente und damit nicht auf Repräsentation beruhende, intelligente Handlungen betrachtet werden.72 Demnach sind es in Anlehnung an die Verkörperungstheorie von Charles S. Peirce (»philosophy of embodiment«73) die von ihm als »Qualitäten« (mit Peirce »icons«) bestimmten nicht-diskursiven, nicht optischen Formen, deren Veränderungen erfahren und ausgedeutet werden können. Doch Peirce sah dieses Ausdeuten nur als einen Prozess des Denkens, eine letztlich unbewusste Verhaltensweise (Handlung) an, die die Verhaltensänderung erklärt,74 während Krois im Anschluss an Cassirer hierfür die Ausdrucks-Wahrnehmung in Anschlag brachte, über die ein Ausdeuten der dynamischen, nicht-optischen Formen als gefühlte Qualitäten erfolge75 und die derart als unerlässlicher Anfang des Erkenntnisprozesses angesehen werden könne76 – ein Ansatz, der in vergleichbarer Weise sowohl von Cassirer und Langer als auch von Werner, Stern und Gallese verfolgt wurde. Dennoch hielt Krois an verschiedenen Stellen – letztlich im Gegensatz zu seinen eigenen Aussagen – fest, dass, auch wenn im Bild dynamische, affektiv wirksame Aspekte liegen, diese unabhängig von den Intentionen des Künstlers und entsprechend auch der Interpretation des Betrachters seien. Daher sei das Bild keine Mitteilung und habe demzufolge auch keine Handlungsrelevanz: »The ursupatory character of pictorial objects – the fact that they possess affective meanings independently of the artists’ intentions and the viewer’s deliberate interpretations – results from the fact that like the viewer, they too embody dynamic affective image schemas.«77 Obwohl Cassirer, Langer und Krois an der klassischen ästhetischen Theorie festhielten, unterstützen die von ihnen entwickelten und hier herausgearbeiteten Verkörperungstheorien in Übereinstimmung mit den Ergebnissen aus dem Bereich der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaft die hier vertretene These, Bilder als historische Akteure aufzufassen. Auch sie gründeten ihre Forschungen auf der Annahme, dass körpereigene Prozesse nicht nur für 72 Ders., Tastbilder, S. 231 bzw. S. 227 – 231. 73 Ders., Image Science and Embodiment, S. 198. 74 Vgl. hierzu Charles S. Peirces Vorlesungen von 1903 zum »Syllabus of Certain Topics of Logic«; dt.: Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. u. übers. von Helmut Pape, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, hier S. 54 – 58, 64 ff. Vgl. ergänzend den sehr aufschlussreichen Appendix II (S. 163 – 171) zur Definition des Pragmatismus als »wofür das Denken geschieht« (S. 164), womit inhärent das Denken selbst als Zweck aufgezeigt wird (S. 171). 75 Krois, Image Science and Embodiment, S. 204 – 209. 76 Ders., Was sind und was wollen die Bilder? (2011), in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 290 – 306, hier S. 303 f. 77 Ders., Experiencing Emotion in Depictions, S. 251; vgl. ferner ders., Bildkörper und Körperbilder, S. 269; ders., Enactivism and Embodiment in Picture Acts. The Chirality of Images, in: ders., Bildkörper und Körperschema, S. 272 – 289, hier S. 278; ders., Was sind und was wollen die Bilder, S. 306.

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die Sinnbildung dessen, was in der Welt wahrgenommen wird, sondern auch für die Wahrnehmung von Kunst bzw. – wie es hier zu präzisieren gilt – von Bildern im Allgemeinen, wesentlich sind. Demnach ist es auch für die kulturanthropologisch ausgerichtete Forschung ausschlaggebend, dass die Wahrnehmung im Allgemeinen und die von Kunst bzw. Bildern im Besonderen nicht neutral bzw. sachlich, sondern affektiv-emotional ist. Cassirer bezeichnete diese Form von Wahrnehmung als »Ausdrucks-Wahrnehmung«, Langer verstand sie als sinnlich-emotional und Krois unterstellte ihr im Anschluss an Cassirer ein »expressive meaning«. Diese Art der Wahrnehmung orientiert sich, ebenso wie es Werner, Stern und Gallese betonten, nicht an konkreten benennbaren Objekten und einer möglichen Bedeutung, die sie für uns haben können, sondern an abstrakten Formen. Übereinstimmend gingen auch sie davon aus, dass die gestalterischen Grundlagen in einer Analogie zu den Wahrnehmungsweisen stehen müssen. Letztere sind entsprechend der affektiv-emotionalen Verarbeitung des Bildnerischen leiblich gebundene Abläufe. Cassirer ordnete sie einer »stark triebhaften Unterschicht« zu, Langer dem Organischen und Krois dem Körper. Im Alltag erweist sich diese Analogie zwischen den Ebenen als grundlegend für die Handlungsrelevanz des Einzelnen; mit Bezug auf Bilder erfuhr diese von allen drei Forschern eine Differenzierung. Auch dort sei diese wirksam, ermögliche jedoch gerade mit Blick auf die Funktion von Kunst eine Durchlässigkeit zwischen den Ebenen, so dass vom Werk aus – nach Cassirer – die Weise, wie Welt wahrgenommen werde, erkennbar wird (»Intensivierung der Wirklichkeit«). Langer hob über die bewusste Erfahrung mit dem Werk auf das Gewahrwerden der Gefühlsebene im Menschen ab, während Krois die Unabhängigkeit und Eigentümlichkeit der Kunst betonte. Die Wirkung, die Kunst und Bilder hiernach haben, ist daher eine rein ästhetische. Wird dementgegen davon ausgegangen, dass sowohl Werke der Kunst als auch Bilder im Allgemeinen stets Setzungen durch eine Person sind, dann können alle Bildformen für den Betrachter handlungsrelevant werden. Denn vor dem Hintergrund dieses Ansatzes verändert sich die Deutung dessen, was jeweils wahrgenommen wird. In dem Fall erhellt das Werk nicht nur die Vorstellungen vom Werk selbst (Krois), von der Wirklichkeit (Cassirer) oder der eigenen Gefühlsebene (Langer), sondern lässt sich als eine spezifische Deutung derjenigen Themen, die der Gestalter wählt, verstehen. Das Werk repräsentiert sein Bild der (Lebens-)Welt. Es ist seine (An-)Sicht von ihr. Als berechtigt erweist sich dieser Ansatz, wenn bedacht wird, dass Form und Inhalt nicht getrennt werden können. Über die affektiv-emotional geprägte Wahrnehmung der Form werden zugleich die jeweiligen Gestalten und Inhalte mit ausgelegt bzw. bewertet: eine Bewertung, die dann doch nicht diejenige des Betrachters ist, sondern bereits vorgegeben wurde. Mit dem Wahrnehmen des Bildes versteht damit der Betrachter das, was ihm ein Anderer »sagen« will. Daran anschließend

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bietet sich ihm die Möglichkeit, sich dazu zu stellen bzw. darauf zu reagieren, je nachdem affirmierend oder kritisch. Vor dem Hintergrund der Frage, wie sich dieser Ansatz für die Analyse von Bildern als historischen Akteuren operationalisieren lässt, werden die Perspektiven des Ansatzes erkennbar. Sie liegen darin, dass sich die über die Form angeregten affektiv-emotionalen Anteile nur als Impulse beschreiben lassen, die in einem Abstimmungsprozess mit dem Inhalt und in Bezug auf die je eigenen gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen zu einem konkreten Tun veranlassen können. Über die Darstellungsweise werden daher nur wertebildende Prozesse angeregt, die erst über den Abgleich mit kulturell geprägten Vorwissen und Ansichten als handlungsrelevant angesehen werden können.

3.

Fazit: Das Bild als historischer Faktor

Wie lassen sich Bilder als historische Akteure greifen? Die Untersuchung sollte zeigen, dass die Unterscheidung zwischen ästhetischen bzw. aisthetischen Bilderfahrungen, die als leiblich gebunden verstanden werden können, und rezeptionsgeschichtlichen Auslegungen von Bildern, in denen der kulturelle Kontext und das Vorwissen zur Anwendung kommen, sich nicht ausschließen müssen. Im Gegenteil, mit der Auswertung der hier vorgestellten kulturanthropologischen und der ergänzenden entwicklungspsychologischen und neurowissenschaftlichen Forschungen seit Beginn des letzten Jahrhunderts eröffnet sich, dass beide Teile für das Verständnis von Bildern als historischen Akteuren wesentlich sind. Als Grundlage dafür ist anzuerkennen, dass aus einer rein sachlich-neutralen Auflistung der Bildinhalte und der Analyse ihrer Bedeutungen keine Relevanz für Zukünftiges abgeleitet werden kann. Genau besehen schließen Verkörperungstheorien die Möglichkeit, neutral zu urteilen, sogar aus. Sowohl die Erfahrung des Bildes als ästhetischen Objekts als auch diejenige, die es als eine Ansicht im Sinn einer Meinung über etwas zu verstehen sucht, hängen davon ab, die als stimulierend angenommene Wirkung der Impulse, wie sie der Bildgestalter über die angenommene, bestehende Analogie zwischen den Gestaltungs- und Anschauungsweisen dem Betrachter zu vermitteln vermag, als entscheidenden Faktor für wertebildende Prozesse anzunehmen. Für den Ansatz, Bilder selbst als historische Akteure zu bestimmen, schließt es sich jedoch aus, sie nur als eine Gestaltung von etwas (Ansicht / Thema) zu diskutieren (ästhetische Theorie / historische Quellenforschung). Der Einbezug des Künstlers / Gestalters als mit dem Bild Sprechenden erweist sich vor diesem Hintergrund als unerlässlich. Denn nur wenn das Bild als seine Ansicht / Meinung über etwas ernst genommen wird und entsprechend eine Antwort des

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Betrachters einzufordern vermag, erweist sich die Bilderfahrung, vergleichbar sprachlichen Äußerungen, als historisch relevant.

Abb. 2: Anselm Kiefer, »Die Treppe«, 1982/83, 330 x 185 cm, Öl, Emulsion, Stroh auf Fotografie auf Leinwand, Kunstmuseum Bonn. Aus: Martina Sauer, Faszination – Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, in: ART-Dok, 05. 03. 2012 (vgl. Anm. 78), S. 150 (Abb. 12).

Abschließend soll nochmals ein konkretes Beispiel diesen Zusammenhang anschaulich machen: ein Werk aus dem Zyklus der Deutschlandbilder des Malers und Bildhauers Anselm Kiefer aus den 1980er Jahren. Mit »Die Treppe« (Abb. 2) inszenierte der Künstler mit grob aufgetragenen Malmitteln und in einem deutlich überlebensgroßen Format eine Szene, in der eine Kolossal-Architektur mit Treppe in einem von Blitzen durchzuckten Nachthimmel aufscheint. Im Nahbereich dominieren die groben Malmittel, die kein Motiv erkennbar werden lassen. Erst in einem Abstand von etwa sechs Metern stellt es sich ein. Die steil aufsteigenden, senkrechten und diagonalen Linienzüge der Kolonnade lenken den Blick in schneller rhythmischer Folge statt in die Bildtiefe in den Bildvordergrund. Dort angekommen, lassen die wenigen farbigen Flecken im matten nachtschwarzen Himmel die Pilasterordnung riesig und das Podium mit Treppe

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davor klein und in flackernder Lebendigkeit aufstrahlen. Materialität, Größe und die Ordnung der Farben und Formen – das heißt die Komposition des Motivs – bestimmen den Bildeindruck bzw. das ästhetische Erlebnis. Die Impulse bzw. das Erregungspotential, das mit den bildnerischen Mitteln stimuliert wird, befördert die Auslegung, das Motiv als eine imposante, ereignishaft aufgeladene, archaisch anmutende, ehemalige Herrschaftsarchitektur zu deuten. Die Information, dass die Arbeit Kiefers auf der Übermalung einer vielfach vergrößerten Fotografie des für die Nationalsozialisten für Inszenierungen der Macht erbauten Zeppelinfeldes in Nürnberg beruht, versetzt der Bilderfahrung jedoch einen Stich. Denn bereits der von Walter Heges 1935 gewählte Fotoausschnitt legte den Schwerpunkt auf die Inszenierung der Macht, mit der Übernahme steigert Kiefer den Effekt ins Monumentale und setzt ihn dem Zerfall aus. Erst mit dieser Information, so zeigen es die vielfältigen Reaktionen auf das Frühwerk des Künstlers vor allem in Deutschland (im Gegensatz zum Ausland), gerät der unbedarfte, auf ästhetischen Genuss ausgerichtete Betrachter in einen Konflikt. Das mit dem Motiv in einen Zusammenhang gebrachte Erregungspotential (ästhetisches Erleben) kollidiert mit dem Wissen um den Kontext. Es forderte – und fordert noch – zu einer Antwort heraus, die bemerkenswerter Weise zunächst erneut eine affektiv-emotional geprägte ist: Faszination und Schrecken bzw. Irritation, worauf bereits Bazon Brock aufmerksam machte, bestimmten die Rezeption des Frühwerks entsprechend von Beginn an.78 In der Antwort, die Kiefer selbst gesucht hat, spiegelt sich diese Ambivalenz wider : Wie lässt sich der Wahnsinn verstehen?79 An diesem Beispiel zeigt sich: Es ist die Erfahrung mit dem Bild (über das Ausdrucks- bzw. ästhetische Erlebnis), die den Betrachter mit der eigenen oder – je nach kultureller Sozialisation – fremden Geschichte konfrontiert und so eine Antwort einfordert (Bildsemiotik). Die Bilder selbst, so sollte das Beispiel abschließend verdeutlichen, können als wesentlicher Faktor der gesellschaftlichen Wirklichkeit angesehen werden. Indem sie als Meinungen, Haltungen bzw. Äußerungen über etwas verstanden werden, haben sie Anteil an der Wissensproduktion. Sie als rein ästhetische Objekte (ästhetische Theorie) oder als Dokumentationen oder Illustrationen von Geschichte zu verstehen, verbietet sich daher. Ebenso wie Sprache dienen Bilder als ein Mittel der Kommunikation von Ansichten / Meinungen eines Künstlers / Gestalters oder dessen Auftraggebers. Sie sind von deren individuellen, kulturellen und historischen Hintergründen und den Zielen, die sie verfolgen, geprägt. Mit der Bewertung bzw. Wertsetzung, die ein Motiv oder eine 78 Martina Sauer, Faszination – Schrecken. Zur Handlungsrelevanz ästhetischer Erfahrung anhand Anselm Kiefers Deutschlandbilder, in: ART-Dok. Publikationsplattform Kunstgeschichte, 05. 03. 2012; http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2012/1851, S. 106 – 119 [5. 9. 2014]. 79 Ebd., S. 124.

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Idee mit der Umsetzung in ein Bild erfährt und so auch verstanden werden kann, wird der Betrachter mehr oder weniger bewusst herausgefordert, dazu selbst eine Haltung einzunehmen, sei sie affirmativ oder kritisch. Das Geschichtsbild (die Ansicht des Gestalters / Künstlers), wie es sich uns über ein Bild zeigt, steht deshalb nicht fest, sondern wird ständig fortgeschrieben, da es von der Auswertung und den Reaktionen seiner Interpreten abhängt. Geschichte, wie sie ein (Meinungs-)Bild vermittelt, lässt sich derart als ein Handeln bzw. Tun beschreiben. Sie ist durch ein Setzen (des Gestalters / Künstlers), ein Erleben (des Betrachters) und Weiterleben (in der Reaktion des Betrachters) gekennzeichnet. Mit der Antwort, die ein Bild einfordern kann, erweist sich das Bild selbst als ein Akteur in der Geschichte bzw. im Leben. Es lebt im Betrachter und seinen Reaktionen und Handlungen weiter. Dabei können die möglichen Antworten auch systemimmanent erfolgen, indem das Bild reproduziert und eventuell variiert wird. Kiefer selbst hat durch die Verwendung von Heges’ Fotovorlage diesen Weg beschritten. Mit der Formulierung von Ansichten über ein Bild werden jedoch nicht nur Wertesysteme (Meinungsbilder) konstituiert, die als solche angenommen oder verworfen werden können, sondern sie werden über die jeweiligen Antworten bzw. Praktiken zugleich tradiert und je nachdem verändert. So kann ein Bild als ein historisch variabler Handlungsraum angesehen werden, der sich in ständigem Wandel befindet. Bilder und das Verständnis, das sie uns jeweils von der Lebenswelt vermitteln, lassen sich vor diesem Forschungshintergrund als ein System der Verständigung und des Austauschs von Werten begreifen. Die Kommentierung eines Zusammenhangs durch ein Bild, die Weitergabe von Informationen oder deren Veränderung sorgen dafür, dass Bilder als konkrete Faktoren unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ständig unter uns zirkulieren. Die Möglichkeiten der neuen Techniken forcieren diesen Impuls noch. Doch erst über den Einbezug der Leiblichkeit bzw. des affektivemotional realen Faktors, den Bildwerke transportieren und den wir verstehen, lässt sich ein solches weitgefasstes und tiefgreifendes Konzept vom Bild als Mittel der Kommunikation und zugleich als historischem Akteur vorstellen. Bilder als solche Akteure ernst zu nehmen, fordert die historische Bildkunde und -forschung heraus, ihre Methoden und Ergebnisse zu überdenken. Die Neubewertung der klassischen Formanalyse spielt dabei eine entscheidende Rolle. Statt Wesensschau (ästhetische Theorie) oder Mentalitätsgeschichte (Stilgeschichte) – was ihr gerne unterstellt wird – erlaubt sie vor dem Hintergrund der ausgewerteten bildanthropologischen Forschungen, das Potential von Bildern zur kulturellen Wertebildung und damit ihre elementare Handlungsrelevanz herauszuarbeiten.

Orte und Milieus visueller Medialisierung

Jennifer Hein

Die parthenonische Bauplastik im Spannungsfeld zwischen Politik und Kommunikation

1.

Einleitung

Auch heute noch spielt visuelle Kommunikation in der Manifestation von Werten und Normen eine zentrale Rolle. In vorgeschichtlichen und antiken Gesellschaften lässt sich, trotz der Verwendung von Schrift zum Beispiel in Inschriften, eine Fokussierung auf bildliche Repräsentationsweisen beobachten. Die Verinnerlichung von Ordnungsvorstellungen bildete die Grundlage gesellschaftlicher Interaktion und wurde durch Kommunikationsprozesse erreicht. Die etwa von Talcott Parsons herausgearbeitete Wechselwirkung zwischen Akteuren und Gesellschaft kann durch die Einbindung immer wiederkehrender Aushandlungsprozesse in Hinsicht auf zu kommunizierende Werte, Regelungen und Verhaltensweisen weiter ausdifferenziert werden.1 Das soziale Zusammenleben und seine Struktur sind nicht statisch, sondern müssen als dynamischer Vorgang verstanden werden. Machtasymmetrien zwischen verschiedenen Gruppierungen werden in Wettkämpfen und Diskursen um die Deutungshoheit über Norm und Abweichung immer wieder verschoben. In diesem Kontext können visuelle Kommunikationsmedien von widerstreitenden Lagern aktiv genutzt werden, um die eigenen Vorstellungen in Bezug auf Werte, Regulierungen und Verhaltensweisen als anerkannte Lebensform durchzusetzen. Die Attraktivität der Form und die kontextabhängige Überzeugungskraft des Inhalts nehmen in Kommunikationsprozessen eine nicht unerhebliche Rolle ein. Infolgedessen ist auch die Kontrolle der entsprechenden visuellen Medien entscheidend. So zeigen vor allem Beispiele aus der näheren Vergangenheit bzw. Gegenwart, wie bestimmte Arten formvisueller Kommunikation bewusst blockiert und/oder zu Propagandazwecken genau kalkuliert eingesetzt wurden.2 1 Talcott Parsons, The structure of social action, New York 1937. 2 Zu Rundfunk und Fernsehen als Medien der Propaganda im Dritten Reich vgl. Erhard Schütz, Das »Dritte Reich« als Mediendiktatur : Medienkultur und Modernisierung in Deutschland 1933 bis 1945, in: Monatshefte 87/2 (1995), S. 129 – 150; Heinz Pohle, Der Rundfunk als Instrument der Politik. Zur Geschichte des deutschen Rundfunks von 1923/38, Hamburg

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Ähnliche Prozesse der Manipulation von Bildern durch herrschaftsambitionierte Kreise sind bereits für die Antike dokumentiert. Über die Kontrolle der Medien an sich und der Bildthemen im Speziellen sollten die Ordnungsentwürfe solcher Gruppen zur dominierenden Einstellung der gesamten Gesellschaft werden, um so den jeweiligen Machtanspruch zu festigen.3 In diesem Beitrag wird untersucht, wie das Bildprogramm des Parthenons und dessen figürliche Darstellungen in den Giebeln, Metopen und dem Fries genutzt wurden, um bestimmte Aussagen zu vermitteln. Dabei soll zwischen inner- und intergesellschaftlichen Kommunikationsprozessen und somit zwischen mehreren Adressatenkreisen differenziert werden, die grob in eine athenische und außerathenische Gesellschaft eingeteilt werden können. Inwieweit ist davon auszugehen, dass das Bildprogramm von verschiedenen Zielgruppen auf je spezifische Weise gelesen werden konnte und schon die Konzipierung auf diese Rezeptionen ausgelegt war? Bereits Burkhard Fehr hat festgestellt, dass der Parthenonfries nicht nur den alle vier Jahre stattfindenden Festzug der Athener – die sogenannten Panathenäen – zeige, sondern darüber hinaus die stufenweise Erziehung und Sozialisierung der jungen Männer im Hinblick auf rechtes Verhalten und Einhaltung der Normen aus athenischer Perspektive verhandele.4 Bildwelten waren im antiken Griechenland fester Bestandteil der Lebenswelt und dienten für den Betrachter nicht allein einem ästhetischen Zweck. Vielmehr sollten sie auch den Werten und Normen der dominierenden Gesellschaftsgruppe zur Konsolidierung verhelfen.5 Zentrale Schauplätze waren dabei die politischen Kommunikationsforen (agorai), die Nekropolen vor den Stadtmauern und die Akropolen. Hier wurden Tempel – neben ihrer eigentlichen Funktion als prunkhafte Schutzund Inszenierungsbauten der statuarischen Epiphanie der Gottheit – als bildmediales Vehikel genutzt. Welche mythischen Themen in welchem Zuschnitt über welche ikonographischen Formen und semantischen Gehalte in den Gie1955. Zu Internetzensur in China vgl. Kim-Björn Becker (Hg.), Internetzensur in China: Aufbau und Grenzen des chinesischen Kontrollsystems, Wiesbaden 2011. Zur Überwachung des Internets von staatlicher Seite vgl. Joachim Betz / Hans-Dieter Kübler (Hg.), Internet Governance. Wer regiert das Internet?, Wiesbaden 2013. 3 Tonio Hölscher, Römische Bildsprache als semantisches System, Heidelberg 1987; Paul Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 1987; ders., Roman Art, Los Angeles 2010; Erich Kistler, Satyreske Zecher auf Vasen, kontrakulturelle Lesarten und TyrannenDiskurs im vor- und frühdemokratischen Athen, in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 9 (2006), S. 105 – 154; Georg Weber, Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreiches des 1. Jhs. n. Chr., Stuttgart 2003. 4 Burkhard Fehr, Becoming good democrats and wives: civic education and female socialization on the Parthenon fries, Zürich 2011, S. 142. 5 Alfred Gell, Art and agency : an anthropological theory, Oxford 1998; James Whitley, Agency in Greek art, in: Taylor J. Smith (Hg.), A companion to Greek art, Malden, Mass. 2012, S. 579 – 595.

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beln, Metopen und auf den Friesen angebracht wurden, war Ergebnis einer genauen Kalkulierung der Erbauer.6 Schon Brunilde Sismondo Ridgway hat diese bildkommunikative Funktion griechischer Statuen bis zum Ende des 4. Jahrhunderts vor Christus herausgearbeitet: »At first Greek sculpture in the round was purely ›utilitarian‹, either in a religious or civic sense, and the location of a monument was chosen in relation to its importance to the citizens in large. To the end of the fourth century B.C. sculpture became increasingly spectacular, and with the loosing of religious conventions and civic concern it tended to acquire a more decorative function.«7

Ridgway gefolgt sind auch Lambert Schneider und Christoph Höcker, indem sie »Architektur und Skulptur […] [als] Träger von Botschaften« verstanden, die das neue Selbstverständnis des demokratischen Athens als Hegemonialmacht vermitteln sollten. Damit stand »Religion im Dienst der Politik«.8 Um die Bauplastik des Parthenons als bildmediales Mittel zu einem ›kulturimperialen‹ Zweck zu untersuchen und diesen Prozess herauszuarbeiten, muss der Bau zunächst unter Berücksichtigung der darin involvierten Akteure – das heißt Auftraggeber, Handwerker und Betrachter – auf Interessen und Erwartungshaltungen analysiert werden, die bei der Konzeption und Herstellung der parthenonischen Bauplastik eine wesentliche Rolle spielten. Die heuristische Figur des ›Mediators‹, der die Nachricht im Objekt konkret kodiert, wird in diesem Fall als analytische Schnittstelle im Herstellungs- und Kommunikationsprozess eingefügt.9 Deshalb gilt es in einem ersten Schritt genauer auf das hier verwendete Kommunikationsmodell einzugehen. Darauf folgt ein kurzer historischer Abriss zur Entstehung des neuen politischen Selbstverständnisses der athenischen Bürgerschaft und Demokratie, der auf die entscheidenden Ereignisse in dieser identitären Neuformierung der athenischen polis fokussiert. Erst vor diesem sozio-politischen Hintergrund werden das ›Politische‹ und die Form seiner medialen Umsetzung in der Bauplastik an den einzelnen skulpturalen Ausstattungen des Parthenons unter Zuhilfenahme des zuvor genannten Kommunikationsmodells ablesbar. 6 Christian Ellinghaus, Die Parthenonskulpturen. Der Bauschmuck eines öffentlichen Monuments der demokratischen Gesellschaft Athens zur Zeit des Perikles – Techniken in der bildenden Kunst zur Tradierung von Aussagen, Hamburg 2011. 7 Brunilde Sismondo Ridgway, The setting of Greek sculpture, in: Hesperia 40/3 (1971) S. 336 – 356, hier S. 337. 8 Lambert Schneider / Christoph Höcker, Die Akropolis von Athen. Eine Kunst- und Kulturgeschichte, Darmstadt 2001, S. 112. 9 Der Ursprung des Sender-Empfänger-Modells liegt bei Ferdinand de Saussure. Zur Kodierung und Dekodierung vgl. Erich Kistler, The encoding and decoding of Satyr-symposiasts on vases in archaic and classical Athens, in: Vinnie Nørskov u. a. (Hg.), The world of Greek vases, Rom 2009, S. 193 – 204. Zum Bildhauer als Mediator vgl. Guy P. R. M¦traux, Sculptors and physicians in fifth-century Greece: a preliminary study, Montreal u. a. 1995, S. 15.

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2.

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Kommunikation über visuelle Medien

Kommunikation ist ein komplexes Themenfeld, das vor allem die Sprachwissenschaften schon länger beschäftigt und daher zur Entwicklung verschiedener Modelle geführt hat.10 Doch unabhängig von Text und Bild muss zunächst die Beziehung einer Gesellschaft zur gebräuchlichen Kommunikation herausgearbeitet werden. Dabei kann zwischen zwei Hauptströmungen unterschieden werden. Auf der einen Seite wird davon ausgegangen, dass Kommunikationsprozesse einen determinierenden Charakter besitzen, der gesellschaftliche Vorgänge in ihren Abläufen formt, weshalb sich die Gesellschaft erst aus dieser kommunikativen Tätigkeit heraus konstituiert. Daraus folgt, dass Erkenntnisse über eine Gesellschaft in erster Linie über Kommunikationstätigkeiten erlangt werden können.11 Auf der anderen Seite wird angenommen, dass Kommunikation eine von vielen gemeinschaftlichen Tätigkeiten einer bereits konstituierten Gesellschaft darstellt.12 So kann die bewusste Nutzung von Kommunikation neben einer Reihe von weiteren kulturellen Aktivitäten und Techniken unter Verwendung determinierter gesellschaftlicher ›Codes‹ allerdings auch entsprechend dem komplexen politischen Feld Athens im 5. Jahrhundert zu dialektischen Entstehungs- und Entwicklungsgesellschaften führen.13 Im Fall Athens kann auf keinen Fall von einer statischen Gesellschaft ausgegangen werden, in der Kommunikation lediglich zum Austausch von Informationen und Waren genutzt wurde. Ganz im Gegenteil war gerade auch die Gesellschaft im 5. Jahrhundert äußerst dynamisch und konfliktiv. Widerstreitende Gruppen rangen um die Entscheidungsgewalt, um ihre (alternativen) Lebensund Ordnungsentwürfe durchzusetzen.14 Dabei fand Kommunikation auf zweierlei Weise Verwendung: zum einen, um bereits bestehende Strukturen zu festigen und die Hegemonie einer Gruppe innerhalb der Gesellschaft zu bestätigen. Zum anderen konnten Medien durch Inszenierung abweichenden Verhaltens dazu genutzt werden, bestehende Normen und Vorstellungen in Frage zu stellen und Alternativen zu etablieren. Doch bevor dieser Aspekt der bewussten Inszenierung von Lebensvorstellungen am Bildprogramm des Parthenons beleuchtet werden kann, wird der 10 Zu Überblicksarbeiten über Kommunikationstheorien vgl. Siegried Maser, Grundlagen der allgemeinen Kommunikationstheorie, Stuttgart 1971; Ulrich Steinmüller, Kommunikationstheorie. Eine Einführung für Literatur- und Sprachwissenschaftler, Stuttgart 1977. 11 Vgl. Niklas Luhman, The world society as a social system, in: International Journal of General Systems 8/3 (1982), S. 131 – 138. 12 Steinmüller, S. 12 f. 13 Vgl. Kistler, Encoding. 14 Vgl. Jennifer Hein / Eva-Maria Hochhauser, Einleitung, in: dies. / Erich Kistler (Hg.), Ohne Theorie keine Revolution?, Würzburg 2015 [im Druck].

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Fokus auf das heterogene Entwicklungsfeld des radikaldemokratischen Selbstverständnisses in der Mitte des 5. Jahrhunderts gelenkt.

3.

Politische Funktionalisierung der Athener Akropolis in der Entwicklung zur attischen polis und das Perikleische Bauprogramm

Seit den Kleisthenischen Reformen 508/0715 und dann vor allem ab 480 nach dem Sieg über die Perser bei Salamis kam es zu einer zunehmenden Monumentalisierung Athens, im Zuge derer auch die Akropolis ausgebaut wurde.16 Bauten in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichen Funktionen sind uns aus der Zeit der frühen Klassik in Fragmenten und Fundamenten überliefert, genauso wie eine Vielzahl von Weihungen.17 Spätere literarische Quellen erweitern unser Bild, welches die archäologischen Befunde anzeigen. Pausanias beschrieb etwa den Zustand der Akropolis im 2. Jahrhundert nach Christus sowie die bis dahin überlieferten Kenntnisse über die Zeit davor. Damit liefert er eine Reihe unschätzbarer Informationen über die politischen, geschichtlichen und wirtschaftlichen Hintergründe, die zum Erscheinungsbild der Akropolis im 5. Jahrhundert führten. Von ihm geschilderte Ereignisse aus mythischer Zeit müssen allerdings kritisch betrachtet werden. Die Akropolis diente zunächst als Siedlungsraum und Fluchtburg.18 Letzteres zeigt sich deutlich anhand der monumentalen Festungsmauern, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtet wurden und zum Teil noch heute bis zu einer Höhe von 3,30 Metern anstehen.19 Unter Peisistratos (Tyrann von Athen zwischen etwa 561 und 528/27) wurden die Kulte Athens zunehmend auf die Akropolis reduziert, und der jährliche Panathenäenzug, an dem die gesamte Athener Gemeinschaft teilnahm, wurde eingerichtet oder erneuert.20 Unter sei-

15 Alle Jahresangaben beziehen sich im Folgenden, wenn nicht anders vermerkt, auf die Zeit vor Christus. 16 Gottfried Gruben, Die Tempel der Griechen, München 1986, S. 34. Ausführliche Beschreibungen der Akropolis vgl. Frank Brommer, Die Akropolis von Athen, Darmstadt 1985; Lambert Schneider / Christoph Höcker, Die Akropolis von Athen. Eine Kunst- und Kulturgeschichte, Köln 2001; Robin F. Rhodes, Architecture and Meaning on the Athenian Acropolis, Cambridge 1995, S. 28 ff. 17 Brommer, S. 26 ff. Zu den Weihungen vgl. Cathrin M. Keesling, The votive statues of the Athenian Acropolis, Cambridge 2003; Marion Meyer / Nina Brüggemann, Weihgaben für die Götter, Wien 2007. 18 Brommer, S. 16; Rhodes. 19 Brommer, S. 16. 20 John McK. Camp, Die Agora von Athen. Neue Perspektiven für eine archäologische Stätte,

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ner Herrschaft wurde die Athener Akropolis endgültig zum religiösen Zentrum Attikas. Das zentrale Ereignis in Hinsicht auf die Konstituierung des neuen demokratischen Selbstverständnisses Athens bildeten die Perserkriege. Mit Hilfe des von Themistokles beantragten umfangreichen Flottenbauprogramms nahm Athen eine zentrale Rolle in der Vertreibung der Perser aus dem griechischen Raum ein.21 Der sogenannte Persersturm 480/79 kann als weiterer Schritt in Richtung des die Politik bestimmenden Selbstbewusstseins verstanden werden. Dabei gelang es persischen Einheiten, bis nach Athen vorzudringen und die Akropolis nach der Evakuierung der Stadt zu besetzen und deren Bauwerke und Weihgaben zu zerstören.22 Mit dem Zusammenschluss zahlreicher poleis zum Hellenenbund verpflichteten sich diese, gemeinsam gegen die Perser zu kämpfen und in dieser Zeit alle innergriechischen Konflikte ruhen zu lassen. Die kriegsentscheidende Abwehr in den Schlachten von Salamis und Platäa (480 und 479) gehörte zu jenen Schlüsselereignissen, die in der Retrospektive schließlich den athenischen Hegemonialanspruch legitimierten.23 Erst 447/46 wurde mit dem Bau des Parthenons, eines ›Tempels‹ für die Stadtgöttin Athena Parthenos, begonnen; 433/32 wurde er abgeschlossen.24 Aufgrund der aus den Perserkriegen resultierenden Vormachtstellung Athens im griechischen Raum wurde der Delisch-Attische Seebund gegründet. Dessen Kasse wurde 454/53 von Delos nach Athen geschafft und bildete damit die finanzielle Grundlage für das Perikleische Bauprogramm.25 Bezeichnenderweise hatte der Parthenon als zentrales Monument in der Neugestaltung der Akropolis trotz der Einhaltung der Tempelform eher eine profane Funktion, die sich vor allem im Fehlen eines für die Kulthandlungen essentiellen Altars zeigte. Auch heute wird der Bau eher als Schatzhaus und weniger als Tempel bezeichnet.26 Zudem kann der Parthenon als Medium mit dem Zweck der Darstellung der athenischen Überlegenheit innerhalb der griechischen Welt verstanden werden. Beflügelt von der offensichtlichen Schaffenskraft der demokratisch organisierten Polisgemeinschaft wurde auch innenpolitisch das Konzept der bürgerlichen Entscheidungsgewalt

21 22 23 24 25 26

Mainz 2009, S. 29; Karl-Wilhelm Welwei, Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 240. Das Themistokleische Flottenbauprogramm sollte retrospektiv nicht als bewusste Manipulation der politischen Struktur Athens im Sinne der Etablierung der Demokratie verstanden werden. Vgl. Welwei, S. 47 ff. Brommer, S. 43; Welwei, S. 61 f. Welwei, S. 67; 74 f. Schneider / Höcker, S. 117; Gottfried Gruben, Griechische Tempel und Heiligtümer, Darmstadt 2002, S. 157; Brommer, S. 45. Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hg.), Griechische Archaik. Interne Entwicklungen – Externe Impulse, Berlin 2004. Schneider / Höcker, S. 117.

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vor allem in der sogenannten Marathon-Generation integraler Bestandteil des athenischen Selbstverständnisses.27 Es wird immer wieder angenommen, dass die Ausformung dieses Selbstverständnisses in den Reformen des Ephialtes im Jahr 462/61 kulminierte, welche die Machtverhältnisse in Athen hinsichtlich der Willensbildung zugunsten der athenischen Vollbürger verlagerten.28 Schließlich hatten die erwachsenen freien Männer von nun an ein höheres Maß an Kontrolle und die politische Entscheidungsmacht inne. Die einzige Veränderung durch die Reformen des Ephialtes lag darin, dass die Aufsicht über die Beamten – die Feststellung der athenischen Abstammung und die Teilnahme an den Kulten – nun durch das Volksgericht, den Rat der 500 (boul¦) und die Volksversammlung organisiert wurde. Diese Ereignisse leiteten die Phase der ›radikalen‹ oder direkten Demokratie ein, während derer insbesondere Wert darauf gelegt wurde, nicht nur nach außen die Machtposition Athens zu verdeutlichen, sondern auch die Bürger entsprechend der sogenannten middling-ideology zu sozialisieren.29 In Abgrenzung zur aristokratischen Lebensweise, die auf athletischem und wirtschaftlichem Wettkampf basierte und sich im Luxusleben äußerte, forderte die Ideologie der metrios einen gemäßigten Lebensstil, der in keine Extreme umschlagen sollte. In diesem Sinne werden die Bildthemen des Parthenons auf ihre Wirkung in inner- und intergesellschaftlichen Kommunikationsprozessen hin untersucht.

4.

Der Parthenon als Medium visueller Kommunikation

Im zeitgenössischem Kontext der innenpolitischen Stabilisierung der athenischen Demokratie durch ihre Radikalisierung sowie des außenpolitischen Aufschwungs Athens zur Hegemonialmacht ist der figürliche Bauschmuck entstanden, der einerseits den Bauten auf der Akropolis ihren Prunk verleiht, andererseits aber zugleich als bilddiskursives Mittel eingesetzt wurde, um die dominierenden Ideale der damaligen polis Athen zu transportieren.

27 Welwei, S. 108; Beat Schweizer, … da den Tyrannen sie erschlugen, gleiches Recht für die Athener schufen. Archäologie eines Attentats, in: Martin Fitzenreiter (Hg.), Das Ereignis, London 2009, S. 239 – 264. 28 Zu den Reformen des Ephialtes vgl. Welwei, S. 91 ff. 29 Fehr, Good democrats, S. 14; Ian Morris, Archaeology as cultural history : words and things in Iron Age Greece, Oxford 2000; Erich Kistler, ›Kampf der Mentalitäten‹: Ian Morris’ ›Elitist‹ versus ›Middling-Ideology‹?, in: Rollinger / Ulf (Hg), S. 145 – 176.

70 4.1

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Der Fries

Bei der Darstellung auf dem insgesamt 160 Meter langen Fries, der um die Cella – also den Kernbau – herumlief, wird weitgehend angenommen, dass es sich um den Panathenäenzug handelt. Der sogenannte Reiterzug, der den Hauptteil des Frieses ausmacht, erstreckte sich von der Südwestecke in beide Richtungen – nach Norden und nach Osten – um den Bau herum.30 Darüber hinaus waren unter anderem Opfertiere, eponyme (namensgebende) Heroen, eine Götterversammlung und die zentrale peplos-Szene abgebildet (Abb. 1).

Abb. 1: Ostfries des Parthenons, Akropolis, Athen, Platten O IV – V.

Das Problem der Sichtbarkeit des Frieses soll hier nur kurz angesprochen werden. Wie bereits John Boardman feststellte, war der Blick auf die am oberen Rand der Cella angebrachten Friesplatten zum einen durch das darüberliegende und weit auskragende Dach und zum anderen durch die Säulen, die den Tempel an allen vier Seiten säumten, eingeschränkt. Die einzige Möglichkeit, den Fries überhaupt zu sehen, bot sich aus etwa 20 Metern Entfernung.31 Das flache Relief und der geringe, wenn überhaupt vorhandene Lichteinfall erschwerten außerdem das Erkennen der Darstellungen. Inwieweit die Bemalung und die Anbringung von Metallobjekten bei der Betrachtung hilfreich waren, ist nicht genauer zu bestimmen. Die Anbringung hinter den Säulen hat zu der Interpretation einer bewussten Nutzung der Säulenstellung in Form von Rahmen und damit einer intentionalen Segmentierung des eigentlich kontinuierlichen Frieses

30 Heiner Knell, Mythos und Polis. Bildprogramme griechischer Bauskulptur, Darmstadt 1990, S. 124. 31 John Boardman, Griechische Plastik. Die klassische Zeit, Mainz 1987.

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veranlasst.32 Trotz der eingeschränkten Sichtbarkeit kann meines Erachtens jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die Themen und Motive zufällig gewählt wurden, da der finanzielle sowie logistische Aufwand dafür zu groß war. Im Folgenden werden zwei ausgewählte Szenen näher untersucht.33 Die zentral angebrachte peplos-Szene sowie einige Beispiele des Reiterzuges werden auf ihren jeweiligen Bedeutungsgehalt sowie ihre Rezeption durch unterschiedliche Akteursgruppen untersucht. Die peplos-Szene war über dem Eingang des Tempels im Osten angebracht und bildete das zentrale Element der Komposition. Allgemein wird sie als die am Ende des Panathenäenzuges stattfindende Übergabe des peplos (Wollgewand für Frauen) an das nicht dargestellte Kultbild der Athena im Alten Athena-Tempel, bzw. später im Erechtheion, interpretiert.34 In der Mitte der Szene befinden sich zwei männliche Figuren, die ein größeres, gefaltetes Stück Stoff zwischen sich halten. Dieser Stoff soll den peplos für Athena darstellen. Die Handlung der jungen Frauen links der peplos-Szene wird in der Forschung als das Tragen von gepolsterten Stühlen oder Höckern gedeutet.35 Die peplos-Szene wird durch eine Götterversammlung sowie von den in Unterhaltungen vertieften Heroen gerahmt. In der traditionellen Interpretation werden die beiden männlichen Figuren als Priester und Knaben verstanden, die für die Übergabe des peplos zuständig waren.36 Burkhard Fehr dagegen hält diese in Kongruenz zu seiner gesamten Argumentation für einen Vater, der seinem volljährigen Sohn den Bürgermantel überreicht.37 Irritierend an dieser Interpretation ist die geringe Größe der jüngeren Figur, die eher auf einen Knaben als auf einen gerade ausgewachsenen jungen Mann hinweist. Auch die weiteren weiblichen Figuren auf dem Ostfries (Platten II und III) weisen aufgrund ihrer Ausstattung mit omphalos-Schalen, die für Trankopfer verwendet wurden, und Kannen auf einen rituellen Kontext hin. Die Verbindung zum Kult aufrechterhaltend, haben Walter Burkart und Erika Simon die Szene als Darstellung der Familie des Kekrops ausgelegt: eines mythischen Königs Athens, dessen Sohn Erichthonoios als mythischer Begründer der Panathenäen galt.38 Heiner Knell hat betont, dass der Fries über die kultischen und historischen Bezüge hinaus das neue Selbstverständnis Athens versinnbildlichte, indem die Mitglieder durch ihre Zugehörigkeit Freiheit erlangten und gleichzeitig als Gemeinschaft dem Einzelnen Freiheit 32 Ian Jenkins, The Parthenon Frieze, London 1994. 33 Gesamtbetrachtungen vgl. Jenkins; Fehr, Good democrats. 34 Schneider / Höcker, S. 147. Das Kultbild der Athena Parthenos im Inneren des Parthenons wird allerdings bekleidet dargestellt. 35 Jenkins, Frieze, S. 35; Schneider / Höcker, S. 151. 36 Jenkins, Frieze. 37 Fehr, Good democrats. 38 Jenkins, S. 26 f.

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garantierten.39 Begründet durch die fast unspezifische Repräsentationsweise, in der die charakterisierenden Attribute der Figuren fehlen, und die potentiellen inhaltlichen Bezüge auf verschiedene, in ihren Darstellungsmöglichkeiten aber vergleichbare soziale und rituelle Kontexte ergibt sich eine Ambivalenz der Deutungsebenen. Da es sich bei dem Fries nicht um eine realistische Darstellung eines bestimmten Ereignisses handelt, ist es durchaus denkbar, dass diese Uneindeutigkeit gewollt war.40 Selbst Fehrs Interpretation als Übergabe des Bürgermantels ist im Rahmen eines Initiationsritus mit kultischem Charakter versehen. Lambert Schneider und Christoph Höcker haben zudem den Blick auf einen anderen wichtigen Aspekt des Ostfrieses gelenkt: auf die Gleichstellung der sterblichen Athener mit den unsterblichen Göttern und Heroen. Auf der einen Seite sollen die Götter die athenischen Maximen und Normen bzw. kulturellen Werte verkörpern. Auf der anderen Seite stehen die Heroen, die in ihrer Funktion als mythische Begründer der attischen Demen für Prototypen des athenischen Bürgertums gehalten werden.41 Die parallele Darstellung der Menschen, die durch ihre Verhaltensweisen die Gegenwart und athenische Norm repräsentieren, und der Götter auf einer Bildebene sowie die Profanisierung eines ursprünglich sakralen Bautyps könnten vor allem bei den konservativen Kräften, in Gestalt der alten Oligarchen, auf Widerstand gestoßen sein.42 Die Betonung der Bevölkerung Athens auf dem Fries kann als radikal-demokratisches Thema verstanden werden;43 dieser Bezug auf die gegenwärtigen Athener wird allerdings auch durch die Vielfalt der männlichen Figuren im Reiterzug deutlich (Abb. 2). Dies hat Fehr dazu veranlasst, die unterschiedlichen Darstellungsweisen junger Bürger in Kontakt mit Pferden auf die Elemente des idealen bürgerlichen Verhaltens hin zu untersuchen. Mit der athenischen Demokratie des 5. Jahrhunderts vor Christus werden gewisse Begriffe verbunden, die das Ideal des bürgerlichen Verhaltens widerspiegeln sollen. Zu den zentralen Aktivitäten gehörten jene des anapauesthai (von !mapa¼y : sich erholen) und eklogizesthai (von 1jkoc¸folai : debattieren/Gedanken austauschen). Der einzelne Bürger musste sich durch folgende Qualitäten auszeichnen: das Einhalten des Mittel39 40 41 42 43

Knell, S. 125. Vgl. Schneider / Höcker, S. 148. Ebd., S. 148 ff. Ebd. Wertmann lenkte den Blick zudem auf den religiös-philosophischen Aspekt, indem er eine Verbindung zu Protagoras’ radikaler Ansicht herstellte, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Vgl. Pascal Wertmann, Götterbild und Götternähe im Spiegel der Entwicklung klassischer griechischer Skulptur, in: Die Griechische Klassik: Idee oder Wirklichkeit? Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin. 1. März – 2. Juni 2002 und in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 5. Juli – 6. Oktober 2002, Mainz 2002, S. 85.

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Abb. 2: Reiterzug am Nordfries, Platten N XXXVII – XL.

maßes (l´tqior, b), das Einhalten der Gesetze (mºlor, b) sowie Selbstkontrolle und Disziplin im Sinne der sophrosyne (Syvqos¼mg, B). Grundstein des idealen Verhaltens und des demokratischen Charakters waren eunomia (eqmol¸a, B) und isonomia (Qsomol¸a, B).44 Inwieweit diese Begriffe zu dieser Zeit bereits im Diskurs verankert waren, muss hinterfragt werden. Laut Fehr wird allerdings nicht nur das erwünschte Gebaren dargestellt, sondern auch solches, das davon abweicht. Hierbei werden zwei unterschiedliche Fehlverhalten aufgezeigt: erstens mangelnde sophrosyne und Beschäftigung mit dem Pferd. Das Kontrollieren des Pferdes bedurfte lauf Fehr physischer sowie psychischer Stabilität in Form von Kraft, Mut und Geschicklichkeit.45 Zweitens soll das übervorsichtige Anbringen des Zaumzeuges auf eine Verweichlichung und damit auf einen verweiblichten Charakter des Dargestellten hinweisen (N 135). Diese Aussage wird deutlich durch die voranreitenden Männer auf N 133 kontrastiert.46 Fehr hat bereits anhand der Tyrannentöter versucht, dieses Konzept durchzuspielen, indem er auf die Parallelität im Haltungsmotiv, besonders die ausladende Schrittstellung, hinwies und diese als Ausdruck der Zusammenarbeit und Disziplinierung der Soldaten verstand, wie sie mit der Einführung der

44 Fehr, Good democrats, S. 146 f. 45 Ebd., S. 22; Siehe Friesplatte W 4 – 6. 46 Ebd., S. 32 ff.

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Phalanxtaktik (Aufstellung der Soldaten in parallelen Reihen) im 7. Jahrhundert an Bedeutung gewann.47 Anhand des Parthenonfrieses wurde gezeigt, dass verschiedene Lesarten derselben Darstellung heute Probleme bereiten. Die Schwierigkeit, Bildthemen zu interpretieren, wurde bereits mehrfach thematisiert.48 Die oben beschriebenen Werte sollten aber nicht als allgemeingültig verstanden werden. In Bezug auf intergesellschaftliche Kommunikation muss überdacht werden, inwieweit sich Sehgewohnheiten und Vorverständnisse zwischen den verschiedenen Gesellschaften trotz der attischen Hegemonialbestrebungen unterscheiden konnten. Dabei geht es nicht darum, ob bestimmte Mythen bekannt waren, sondern welche Menschenbilder man mit ihnen verband. Verhaltensweisen und Körperformen können, je nach Gesellschaft und kulturellem Einfluss, unterschiedlich konnotiert sein. Die Forschung geht grundsätzlich und verständlicherweise von einem homogeneren Bild der ›griechischen‹ Sehgewohnheiten und der Kodierung von Werten und Normen aus. Die Verbindung von Körperform, Verhalten sowie Bewegung mit innerer Konstitution und Charakter ist einige Male erörtert worden.49 Die bewusste Verwendung solcher ›Schemata‹ in Literatur wie auch bildlichen Quellen wurde danach als Mittel der Charakterisierung von Individuen sowie als Medium der Vermittlung von befürworteten oder abzulehnenden Werten, Normen und Verhaltensweisen eingesetzt – in den Worten von Burkhard Fehr : »[…] according to a popular ancient Greek view, a person’s schema (his/her characteristic manner of standing and moving) indicated his/her ethos (disposition), which determined whatever he/she was doing and which was usually described by means of such patterns of action; the latter could, therefore, be alluded to in visual art by using, as carriers of meaning, schemata referring to them, a message which could be made more precise, enforced or complemented through further indicative pictorial elements (e. g. activities and attributes of the persons depicted, physical characteristics, hair styles, drapery or garments) […]«.50

In Bezug auf die Analyse der intergesellschaftlichen Kommunikation müssen spezifischere Überlegungen hinsichtlich der Lesbarkeit von ›Codes‹ und der Themenkreise angestellt werden. Da man eine homogene griechische ›Kultur‹ 47 Burkhard Fehr, Die Tyrannentöter oder : kann man der Demokratie ein Denkmal setzen?, Frankfurt a. M. 1984, S. 35 ff.; ders., Bewegungsweisen und Verhaltensideale. Physiognomische Deutungsmöglichkeiten der Bewegungsdarstellung an griechischen Statuen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Bad Bramstedt 1979. 48 Gerhart Rodenwaldt, Die Akropolis, Berlin 1930, S. 5 f. 49 Hans Bernsdorff, Zur Rolle des Aussehens im homerischen Menschenbild, Göttingen 1992; Susanne Gödde, SCH§MATA. Körperbilder in der griechischen Tragödie, in: Ralf von den Hoff / Stefan Schmidt (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 4. und 5. Jh. v. Chr., Stuttgart 2001, S. 241 – 259. 50 Fehr, Good democrats, S. 145.

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auch im 5. Jahrhundert nicht ohne weiteres voraussetzen kann, möchte ich den Blick auf die Lesbarkeit von bildlichen Darstellungen lenken.51 Ein Beispiel für die unterschiedliche Bewertung gleicher Motive ist der Diskurs über dickliche Körperformen, die hier als ›Code‹ verstanden werden. Besondere Unterschiede zeigen sich zwischen Athen und Ionien, er darf aber allgemein als ein Diskurs zwischen Hedonisten und metrioi bezeichnet werden, der auch innerhalb einer Gesellschaft stattfinden konnte.52 In der Archaik äußerte sich dies noch deutlich in der Rundplastik, genauer anhand des zu dieser Zeit verbindlichen kourosSchemas (kouros: Jüngling). Die starr aufrecht stehende Darstellung eines jungen Mannes in strikt symmetrischem Schema unterschied sich nicht im grundsätzlichen Motiv. Differenzen gab es vor allem in Bezug auf Körpergestaltung und Gewandung. Während die attischen kouroi durchweg nackt und mit athletischer Körperform dargestellt wurden, waren die ostgriechischen Pendants bekleidet und wiesen verstärkt Rundungen auf.53 Im Osten Griechenlands sowie auf Ägina und in Megara Hyblaia galt Körperfülle als Zeichen von Wohlstand, des Genusses und eines ›gelungenen‹ Lebens, und dieses Motiv wurde dadurch zum soziokulturelles Erkennungsmerkmal politischer Schwergewichtler. Die Argumentation der metrioi hingegen, der Vertreter eines gemäßigten Lebensstils, widersprach dieser Ansicht diametral.54 Ein Diskurs, der schon bei Xenophanes (circa 570 bis 475) angedeutet worden war, beschrieb die Lydier als mit überflüssigem Prunk in purpurnen Gewändern und mit geschmückten Locken zum Markt gehend. Männer benutzten zudem Parfüme und Salben und drückten damit deutlich die Präferenz für ein genussreiches Leben (habrosyne) aus.55 Herodot erkannte in diesen Eigenschaften eine Verweichlichung, die in anderen Teilen Griechenlands zu vermeiden sei, wenn denn eine gewisse Kampfeskraft gewahrt werden solle.56 Diese starke Dichotomie zwischen Attika und dem Osten wurde erst nach dem Absetzen der Tyrannis im Jahr 510 aufgrund eines neuen demokratisch anmutenden harmonischen Selbstverständnisses im Zusammenhang mit dem ›Ideal der Mitte‹ der athenischen Polis 51 Die Verbreitung von mythischen Themen wurde bereits thematisiert; vgl. Ellinghaus, S. 141 f. 52 Kistler, Satyreske Zecher, S. 108 ff. 53 Zu kouroi vgl. Wolfram Martini, Die archaische Plastik der Griechen, Darmstadt 1995; Meyer / Brüggemann; Boardman; Gisela Richter, Kouroi, archaic Greek youths: a study of the development of the Kouros type in Greek sculpture, London 1960; Ernst Buschor, Altsamische Standbilder, Berlin; Erich Kistler, õ la lydienne … mehr als nur eine Mode, in: LindaMarie Günther (Hg.), Tryphe und Kultritual im archaischen Kleinasien – ex oriente luxuria?, Wiesbaden 2011, S. 59 – 73. 54 Darstellungen der ›Dicken‹ finden sich allerdings auch auf attischen Vasen. Vgl. Kistler, Satyreske Zecher. Zu Megara Hyblaia vgl. Herodot 7,156,2. 55 Xenophanes DK B3; Kistler, õ la lydienne, S. 65; Rainer Bernhardt, Luxuskritik und Aufwandsbeschränkung in der griechischen Welt, Wiesbaden 2003, S. 121 ff. 56 Herodot. 1,155; Schneider / Höcker, S. 105.

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möglich.57 In dem gleichen Prozess wurde das persönliche Streben nach einem genussreichen Leben als tyrannisches Charakteristikum konstruiert.58 Eine weitere Radikalisierung erfuhr dieses Feindbild in der attischen Literatur nach den Perserkriegen.59 Obwohl sich die Körperbilder zum Ende der Archaik anglichen, schien sich der Diskurs zwischen Luxussucht und ›goldener Mitte‹ zu verstärken. Ab 510 war die ›Kultur und Ideologie des rechten Maßes‹ endgültig in Athen durchgesetzt und manifestierte sich schließlich im demokratischen System.60 Dennoch handelte es sich bei ihren Vertretern um eine Fraktion innerhalb der athenischen Oberschicht, der deviante Mitglieder der gleichen sozialen Gemeinschaft gegenüberstanden.61 Diese nicht als starr zu verstehende Aufteilung, die bereits seit dem frühen 6. Jahrhundert zu beobachten ist, hatte für die politische Landschaft gravierende Folgen:62 Gerade aufgrund der Erfahrungen aus den Perserkriegen wurde die Anklage wegen medismos (Perserfreundlichkeit) im 5. Jahrhundert ein schwerwiegender Vorwurf und konnte zur Ostrakisierung, das heißt zur Ausweisung aus Athen für zehn Jahre, führen.63 Wie an diesem Beispiel eines einzelnen Motivs deutlich werden soll, ist die Frage nach Lesbarkeit keine selbstverständlich zu beantwortende und sollte in Bezug auf Untersuchungen der Kommunikation durch visuelle Medien stets mitbedacht werden. Aus athenischen Quellen wird deutlich, dass sich Athen als ›Erzieherin ganz Hellas‹ verstand und sich im Delisch-Attischen Seebund als Vorbild sah.64 Wegen mangelnder Quellen zu Reaktionen auf die athenischen Bauten scheint es unmöglich, die Lesart der auswärtigen Besucher im Detail zu rekonstruieren. Hinsichtlich der beschriebenen Beziehungen kann allerdings schwerlich davon ausgegangen werden, dass Nicht-Athenern die Intention der Athener unbekannt war. Der Kontakt zwischen den einzelnen poleis wird vor allem durch die erzwungene Kooperation während der Perserkriege und bereits zuvor durch Handelsbeziehungen ausgereicht haben, um angemessene Interpretationen anstellen zu können. Es wurde gezeigt, dass zeitgenössischen Akteuren unterschiedliche Lesarten zur Verfügung standen, die von ihren Beziehungen zur athenischen polis und ihren kulturbedingten Vorverständnissen abhingen. Mit Hilfe des ›Sender-Medium-Mitteilung-Empfänger-Modells‹ wird nun versucht, mögliche Intentionen 57 Vgl. ebd., S. 138. 58 Zur Konstruktion eines demokratisch anmutenden Selbstverständnisses über die verklärte Absetzung der Tyrannei vgl. Schweizer, S. 261. 59 Schneider / Höcker, S. 105. 60 Bernhardt; Kistler, Satyreske Zecher, S. 109. 61 Vgl. ebd., S. 110. 62 Ebd., S. 108 f. 63 Schneider / Höcker, S. 104. 64 Thukydides 2,34 – 46.

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sowie Lesarten herauszuarbeiten, um sich dieser Problematik anzunähern. Es wird auf die verschiedenen sozialen Rollentypen der einzelnen Akteure eingegangen, wobei eine klare und personenbezogene Abgrenzung in Oligarchen, Aristokraten und Demokraten nicht möglich ist. So bedienten einzelne Personen verschiedene Rollen, die sie gezielt einsetzten. Genauso wenig wie Kleisthenes im Zusammenhang mit seinen Reformen als Demokrat bezeichnet werden kann, gestattet sich eine derart eindeutige Zuordnung für Perikles. Das soziale Rollenbild des metrios entstand bereits in archaischer Zeit und wurde in inneraristokratischen Auseinandersetzungen zur Abgrenzung gegenüber anderen aristokratischen Gruppierungen herausgebildet. Im Fall des Kleisthenes sowie des Perikles ist ihr Verhalten eher als taktische Handlung im inner-aristokratischen Wettkampf zu deuten, in dem die Unterstützung durch die übrige Bürgerschaft als Mittel gegen die Konkurrenten eingesetzt wurde. Sender : Da bis 450 die Entscheidungsmacht in Athen vor allem bei der Volksversammlung lag, hatte diese nun auch über die Themen und Motive des parthenonischen Bildprogramms zu entscheiden.65 Namengebend für das Bauvorhaben ist der athenische, aus ›gutem Hause‹ stammende Politiker Perikles (circa 490 bis 429). Er mag selbst Urheber des Bauvorhabens gewesen sein, dennoch konnte er sich weder über die Volksversammlung noch die religiösen Kontrollgremien hinwegsetzen. Auf der einen Seite bestand die Gefahr der Ausweisung durch den Ostrakismos (Scherbengericht), sobald tyrannische Ambitionen vermutet wurden; auf der anderen Seite waren die Baukosten für den Parthenon bei Weitem zu hoch, um diese selbst zu tragen. Stattdessen wurde der Bau aus den Einnahmen des Delisch-Attischen Seebundes finanziert.66 Perikles hatte das Prinzip des metrios in seinem Habitus perfektioniert und konnte so als typischer, demokratischer Athener wahrgenommen werden. Die Aufstellung seines Porträts nicht direkt bei seinem Vater Xanthippos und die fehlenden individuellen Gesichtszüge verdeutlichen die Einreihung des Perikles in das damalige demokratische Menschenbild.67 Aber auch sein Auftreten in der Öffentlichkeit, wie es Plutarch überliefert, wurde als stets mit wohlgeordnetem Gewand bekleidet und mit ernster, angemessener Würde, aber ohne persönliche Affekte beschrieben. Damit entsprach er nicht nur dem zeitgenössischen Ideal, sondern verkörperte es geradezu.68 Zum Zeitpunkt des Baubeschlusses sowie in dem Zeitraum der eigentlichen Errichtung scheinen Perikles und seine Gefolg65 Schneider / Höcker, S. 117 f. 66 Die Kosten für die Errichtung beliefen sich laut den erhaltenen Bauabrechnungen auf 15 Jahre verteilt auf circa 600 Talente (15 Tonnen Silber). Pro Jahr nahm der Delisch-Attische Seebund ca. 11 Tonnen Silber (460 Talente) ein. Vgl. ebd., S. 138. 67 Harvey A. Shapiro, Re-fashioning Anakreon in classical Athens, Paderborn 2012. 68 Tonio Hölscher, Die Aufstellung des Perikles-Bildnisses und ihre Bedeutung, in: Klaus Fittschen (Hg.), Griechische Porträts, Darmstadt 1988, S. 377 – 391.

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schaft, die metrioi, bestimmend in der Volksversammlung gewirkt zu haben, so dass sich ihre Vorstellungen in dem Bildprogramm manifestieren konnten. Wenn die demokratische Ordnung Athens unter Perikles als ›Herrschaft des ersten Mannes‹ verstanden wird, dann muss sein Einfluss auf das Bildprogramm konsequenterweise hoch eingeschätzt werden.69 Mediator: Der Mediator ist in Bezug auf den Figurenschmuck am Parthenon Phidias, der Oberaufseher der Bildplastik.70 Er gilt heute als der bekannteste Bildhauer der griechischen Antike. Zweierlei Aspekte beschränkten allerdings seinen Handlungsspielraum. Zum einen dominierten noch immer die frühklassischen Darstellungskonventionen, die in der Hochklassik viel stärker auf Selbstbeherrschung verdichtet wurden. Radikale Umbrüche wären aufgrund dieser Konventionen nicht möglich gewesen. Zum anderen war Phidias in seiner künstlerischen Auslegung von der Volksversammlung als Entscheidungsinstanz eingeschränkt, wobei man davon ausgehen kann, dass die konkrete Ausgestaltung der Details in seiner Hand lag bzw. in den Händen der einzelnen Bildhauer. Wegen einer Aussage Plutarchs wurde die Beziehung zwischen Phidias und Perikles stets als freundschaftlich charakterisiert: »Phidias selbst schuf das goldene Standbild der Athene; er wird auch in der Inschrift am Sockel als Schöpfer des Werkes genannt. Aber es lag auch sonst fast alles auf seinen Schultern, und er führte, wie schon erwähnt, dank seiner Freundschaft zu Perikles die Aufsicht über alle Künstler.«71

Dieses Zitat erweckt den Eindruck, dass Phidias nur aufgrund seiner Beziehung zu Perikles die Oberaufsicht bekommen habe. Demnach wäre anzunehmen, dass der Einfluss des Perikles auf das Bildprogramm nicht unerheblich war. Zweifel an dieser Deutung wurden allerdings zum einen wegen des zeitlichen Abstandes von ca. 500 Jahren zwischen Erbauung des Parthenons und Niederschrift der Quelle geäußert. Zum anderen geht Ellinghaus davon aus, dass eine solch enge Beziehung zwischen den beiden Akteuren hinsichtlich ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Position wenig wahrscheinlich war.72 Vermutlich ist der gegenseitige Einfluss eher als zweitrangig zu bewerten, da sie sich an den dominierenden Darstellungskonventionen orientieren mussten. Innergesellschaftlicher Adressat: Der Adressat bzw. Empfänger der kodierten Nachricht unterscheidet sich je nach Kommunikationsweg. Handelt es sich um innergesellschaftliche Kommunikation, so scheint ein Paradoxon zu entstehen. Schließlich sieht das demokratische Modell die aktive Partizipation der ge69 Vgl. Hartmut Wolff, Die Opposition gegen die radikale Demokratie in Athen bis zum Jahre 411 v. Chr., in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 36 (1979), S. 279 – 302, hier S. 293. 70 Schneider / Höcker, S. 188; Ellinghaus, S. 329. 71 Plutarch, Perikles 13 (Übersetzung K. Ziegler). 72 Ellinghaus, S. 330.

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samten Polisgemeinschaft an politischen und organisatorischen Entscheidungsprozessen innerhalb des institutionellen Rahmens der Volksversammlung und boul¦ vor.73 Als der Bau des Parthenons beschlossen wurde, scheinen Sender und Empfänger identisch gewesen zu sein. Dies kann durch die Beobachtung einer durchaus heterogenen Gesellschaft aufgelöst werden. Mehrere Gruppen, wie die bereits genannten metrioi und weitere aristokratische Gemeinschaften, konkurrierten um Machtpositionen.74 Infolgedessen muss zwischen verschiedenen innergesellschaftlichen Adressatengruppen differenziert werden, die sich grob in die Vertreter der metrioi und die Verfechter des aristokratischen Lebensstils einteilen lassen. Die Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppen können unter anderem in der Volksversammlung verortet werden, was zur dynamischen Verschiebung der Machtverhältnisse führte. Für den diskutierten Zeitraum kann Perikles als herausragender Politiker angesehen werden, der die Geschicke Athens für einige Zeit lenkte. Intergesellschaftlicher Adressat: Der intergesellschaftliche Kommunikationsweg richtete sich an diejenigen, die außerhalb der Gesellschaft standen – inklusive Metöken, Sklaven, Frauen und Kinder. Dazu gehörten allerdings auch Athener, die nicht in Athen lebten (Kleruchen). Die Lesbarkeit für diese Gruppe kann aufgrund der vermittelten Geschichten, Ereignisse und (mythischen) Personen als nicht besonders problematisch angesehen werden. Betrachtet man erneut den Bauort des Parthenons, zeigt sich, dass die Akropolis im Vergleich zu panhellenischen Heiligtümern wie Delphi oder Olympia einen Ursprung als Stadtheiligtum hatte. Dies änderte sich allerdings in der Zeit des Perikles, in der Athen und seine Akropolis zum Zentrum des athenischen Seereichs aufstiegen. Daraus ergibt sich eine ambivalente Kommunikationsrichtung, die sich nach innen, aber auch nach außen richtete. Die Aussagen des Parthenons zielten jedoch vor allem auf die Bündnismitglieder, die durch ihre Abgaben an den Delisch-Attischen Seebund seinen Bau erst ermöglichten. Die Verlagerung der Bundeskasse sowie die Bildthemen verweisen auf die hegemoniale Stellung Athens innerhalb des von ihm etablierten Seereichs. Medium: Auf die Charakteristika des Mediums, der Akropolis, und speziell des Bildprogramms, ist bereits eingegangen worden, und dies soll hier nur kurz zusammengefasst werden. Die Akropolis war sowohl Zentrum der lokalen Kulttätigkeiten als auch des athenischen Seereichs, woraus eine ambivalente

73 Zur Charakterisierung der athenischen Demokratie vgl. R.K. Sinclair, Democracy and participation in Athens, Cambridge 1988, S. 17 ff. 74 Zum Machtstreben als Grundlage politischen Handels vgl. Holger Sonnabend, Thukydides, Hildesheim 2004, S. 51.

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Kommunikation resultierte.75 Sie richtete sich gegen bestimmte innergesellschaftliche Gruppierungen und zugleich an die Bündnispartner und Kleruchen.

4.2

Die Motive der Metopen und Giebelfelder

Ich möchte nun auf die einzelnen Bildthemen, die sich am Parthenon finden, sowie ihre Darstellungen an Tempeln in Griechenland eingehen, um mögliche Lesarten herauszuarbeiten. Auf den Südmetopen wird der Kampf der Lapithen gegen die Kentauren in Zweikampfgruppen gezeigt. Leider ist der Erhaltungszustand der Metopen schlecht, was eine detaillierte Beschreibung erschwert.76 Die Kontrastierung von Idealgesichtern und die Individualisierung der Kentauren unterstreicht in Olympia wie auch Athen das ideale Verhalten der Griechen bzw. Athener.77 Parallelen finden sich unter anderem am Zeus-Tempel in Olympia (um 470) im Westgiebel78 und auch in Arkadien am Apollon-Tempel in Bassai.79 Dort bildet der Kampf der Lapithen gegen die unkontrollierbaren Kentauren einen Abschnitt auf dem an der Innenseite der Cella angebrachten Fries. Die dem Kampfgeschehen folgende Überlegenheit durch Selbstkontrolle wird durch diese bildthematische Gegenüberstellung betont. Allerdings zeigen die Metopen einen eher verlustreichen Kampf, der wiederum das Fortbestehen der polis durch Heldenhaftigkeit und Belastbarkeit verdeutlicht.80 Es kann festgehalten werden, dass das Thema der Kentauromachie vor und nach dem Bau des Parthenons in weiten Teilen Griechenlands verbreitet war. Die nicht spezifizierten Menschen, aber auch die Kentauren konnten vom Betrachter mit konkreten Personengruppen assoziiert werden, die dadurch die Rollen der Über- und der Unterlegenen, der ›Zivilisierten‹ und der ›Unzivilisierten‹ erhielten. Auch die Themen der Metopen im Westen des Baus sind infolge von Schäden und Verlusten schwierig zu benennen. Sollte es sich um eine Amazonomachie handeln, findet diese ebenfalls in Bassai am gleichen Fries Parallelen,81 genauso 75 76 77 78

Vgl. Knell, S. 123. Ellinghaus, S. 46 f. Knell, S. 87. Hans Volkmar Herrmann, Die Olympia-Skulpturen, Darmstadt 1987; Bernard Ashmole, Olympia: the sculpture of the temple of Zeus, London 1967; Knell, 79 ff. 79 Vorbilder lassen sich in der frühen Vasenmalerei sowie weiteren Monumenten finden. Vgl. Ellinghaus, S. 64 ff. 80 Ebd., S. 80. 81 Ebd., S. 10, 16 ff.; Florens Felten, Der Fries des Apollontempels von Bassai und die nacharchaische arkadische Plastil, in: Olga Palagia / William Coulsen (Hg.), Sculpture from Arcadia and Laconia, Oxford 1993; Ian Jenkins / Dyfri Williams, The arrangement of the sculptured frieze from the temple of Apollo Epihocarios at Bassae, in: Palagia / Coulsen (Hg.), S. 57– 77;

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wie an dem später zu datierenden Mausoleum von Halikarnassos.82 Der in Kleinasien gelegene Ort bildete eine Grenzstelle zwischen der griechischen und der von Griechenland aus gesehen östlichen Welt. Die Verwendung des Amazonenthemas ist hier von besonderem Interesse, kann in diesem Rahmen allerdings nicht näher erörtert werden. Es wird aber deutlich, dass die Amazonen einen inhaltlichen Bezug zum Osten haben und damit als Gegenwelt zum griechischen Kernland verstanden werden können. Wie im Fall der Kentauromachie spiegelte die Amazonomachie den Überlegenheitsgedanken der Griechen gegenüber den östlichen Ländern wider. Nach innen gerichtet konnten diese Bildthemen als Bestätigung des bereits etablierten athenischen Selbstverständnisses aufgefasst werden. Nach außen gerichtet mag es sich eher um eine Verdeutlichung der eigenen Überlegenheit im Hinblick auf Bündnispartner und äußere Gefahren gehandelt haben, die Athens Hegemonialstellung legitimierte. Zwar ist auch hier ein eher verlustreicher Kampf dargestellt; die Griechen gehen aus ihm jedoch erneut siegreich hervor.83 Mit den Perserkriegen war in diesen Themen ein historisches Ereignis verankert, dass beiden Adressaten auch noch in der Mitte des 5. Jahrhunderts deutlich in Erinnerung gewesen sein musste.84 Die Gigantomachie der Ostmetopen findet eine monumentale Darstellung auf dem Pergamon-Altar (erste Hälfte des 2. Jahrhunderts vor Christus), der heute im gleichnamigen Museum in Berlin steht.85 Das Thema war allerdings bereits in archaischer Zeit beliebt. Dies legt der marmorne Gigantengiebel am alten Athena-Tempel nahe (letztes Viertel des 6. Jahrhunderts vor Christus).86 Dem Mythos der Gigantomachie nach setzten sich die olympischen Götter im Kampf gegen ihre Vorfahren, die Giganten, durch. Der Bezug zu Athen war durch Athenas herausragende Rolle in dem Triumph sowie durch das Eingreifen ihres

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Lorenz E. Baumer, Kult im Kleinen – ländliche Heiligtümer spätarchaischer bis hellenistischer Zeit. Attika-Arkadien-Argolis-Kynouria, Rahden 2004; Pausanias VIII 41,8. Wolfram Höpfner, Halikarnassos und das Mausolleion, Darmstadt 2013; Kristian Jeppesen, The Mausolleion at Halikarnassos: reports of the Danish archaeological expedition to Bodrum, Bd. 5: The superstructure: a comparative analysis of the architectural, sculptural, and literary evidence, Aarhus 2005; Caterina Maderna, Die Skulpturen des Maussolleions von Halikarnass, in: Peter C. Bol (Hg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst, Bd. 2: Klassische Plastik, Frankfurt a. M. 2004, S. 303 – 316. Ellinghaus, S. 27. Knell, S. 124. Ellinghaus, S. 27, 33 ff.; Huberta Heres / Volker Kästner, Der Pergamonaltar, hrsg. von den Staatlichen Museen zu Berlin, Antikensammlung, Mainz 2004; Heinz Kähler, Der große Fries von Pergamon. Untersuchungen zur Kunstgeschichte und Geschichte Pergamons, Berlin 1948; Mechthild Amberger-Lahrmann, Anatomie und Physiognomie in der hellenistischen Plastik. Dargestellt am Pergamonaltar, Stuttgart 1996. Brommer, S. 29, 32; Knell, S. 40 f., 106.

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Schützlings Herakles gegeben. So wird dieser Sieg ebenfalls als Grund der Einrichtung der Panathenäen genannt.87 Der Erhaltungszustand der Nordmetopen ist ebenfalls eher schlecht, doch konnten aufgrund von Figurenumrissen Thema, Handlung und Abfolge rekonstruiert werden. Nachdem der Besucher zunächst die Westmetopen betrachten konnte, verlief die Wegführung direkt an den Nordmetopen vorbei, die demnach sehr früh sichtbar wurden.88 Der Kampf um Troja kann anhand der Metopen 24 und 25 rekonstruiert werden, da vergleichbare Darstellungen auf Vasenbildern sowie aus der »Ilias« und »Ilioupersis« bekannt sind.89 Dazu gehört die von Ajax zu einem Kultbild fliehende Kassandra sowie die Gruppe des Menelaos und der Helena.90 Interessanterweise war Athen nur marginal an den Geschehnissen des Trojanischen Krieges beteiligt.91 Eine bewusste Nutzung der Trojaner passt allerdings in die übrigen Bildthemen, vor allem die Überlegenheit Athens gegen Angreifer aus dem Osten. Der Bezug zu Athen wird durch Metope 31 hergestellt, auf der wohl Athena und Zeus abgebildet sind.92 Die Darstellung des Ostgiebels kennen wir nur aus Beschreibungen des Pausanias sowie aus den wenigen erhaltenen Fragmenten.93 Sicher ist allerdings, dass der Giebel die Geburt der Athena abbildete, bei der Hephaistos mit einer Axt den Kopf des Zeus spaltete, woraufhin Athena in voller Rüstung heraussprang, nachdem Zeus ihre Mutter Metis auf Grund eines unheilvollen Orakels verschlungen hatte.94 Parallelen finden sich in der archaischen Vasenmalerei, dies wurde aber in der Klassik immer unbeliebter und daher untypisch.95 Die Darstellung der Geburt der Athena macht allerdings auf dem Prestigeobjekt der athenischen Demokratie nur Sinn, wenn es auf den mythischen Beginn der polis wie auch der Panathäen verweist.96 Der Kampf um Athen zwischen Poseidon und Athena im Westgiebel ist ohne Parallelen in anderen Gattungen der vorparthenonischen Zeit und taucht sehr spät in schriftlichen Quellen auf.97 Es scheint sich dabei also um eine athenische Neuschöpfung zu handeln, die zum Zweck der Legimitierung der demokrati-

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Ebd., S. 108. Ebd., S. 103. Ellinghaus, S. 81. Knell, S. 103 f. Vgl. Beazly Nr. 201724 Rotfigurige Vase um 500 – 450. Für weitere Vorlagen vgl. Ellinghaus, S. 91 ff. Knell, S. 106. Ebd. Ellinghaus, S. 140. Pausanias I 24,5. Knell, S. 119. Ebd., S. 119, 122. Vgl. ebd., S. 123. Ellinghaus, S. 134; Knell, S. 115.

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schen Ordnung in Athen konstruiert wurde.98 Eine Lesbarkeit durch Auswärtige ist vor allem kurz nach der Vollendung des Parthenons anzuzweifeln. Zwar wird durch die Komposition und das Bildschema deutlich geworden sein, dass es sich um eine Kampfszene handelte. Allerdings scheint es unwahrscheinlich, dass der konkrete Mythos direkt damit verbunden werden konnte. Die Darstellung des Streits zwischen Poseidon und Athena, der Besuchern vermutlich auch erklärt worden war, kann als Verdeutlichung der herausragenden Stellung des athenischen Landes verstanden werden, das schließlich unter dem Schutz beider Götter stand, sowie der Macht Athens auf dem Meer und Land.99 In der Frage nach der Lesbarkeit der einzelnen Motive fallen vor allem die vielen Beispiele auf Vasenbildern auf. Da sich eine weite Verbreitung attischer Vasen nachweisen lässt, kann davon ausgegangen werden, dass nicht-attische Besucher durchaus in der Lage waren, die Motive mit bestimmten (mythischen) Ereignissen zu verbinden. Eine Ausnahme stellt der Kampf zwischen Poseidon und Athena dar, der als Neukomposition für den Parthenon verstanden werden muss. Es ist vorauszusetzen, dass die imaginierten Feindbilder (Kentauren, Amazonen, Giganten) stets mit gesellschaftsspezifischen Konnotationen belegt waren. Die Verwendung als Gegenbilder, die das Selbstbild der Bürger konstituieren und stabilisieren sollten, liegt in jedem Fall nahe und kann auch als Funktion am Athener Parthenon angenommen werden. Gerade die Unkontrollierbarkeit der Kentauren und die Verweichlichung bzw. Verweiblichung der ionischen und lydischen Kulturen stehen in starkem Kontrast zu den athenischen Idealen. Wenn man Fehr folgen möchte, nutzten die Bauherren diese Gegenbilder auf zweierlei Weise, um das eigene Selbstbild zu festigen: zum einen durch die altbekannten Mythen auf den Metopen und zum anderen in der Darstellung der eigenen Gesellschaft auf dem Fries. Gerade hier könnte man die gesellschaftspolitische Komponente der nach innen gerichteten Kommunikation wiedererkennen, die die Erziehung der Athener Jugend, aber auch der Oligarchen im Auge hatte. Die Kommunikation nach außen ist aber von nicht geringerer Bedeutung, da die hegemoniale Stellung Athens nicht nur legitimiert, sondern auch manifestiert werden sollte. Die Überlegenheit Athens auch in aussichtslosen Situationen kann vielleicht als warnendes Beispiel an die Bündnispartner und die auswärtigen Konkurrenten um die Vorherrschaft verstanden werden.

98 Ebd., S. 115. 99 Ebd., S. 119.

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Synthese und Ausblick

In diesem Beitrag wurde mit einem modifizierten Sender-Empfänger-Modell herausgearbeitet, wie ein und dieselben Bildthemen genutzt wurden, um bestimmte Aussagen für unterschiedliche Adressatengruppen zu kommunizieren. Außerdem wurden durch die Unterscheidung zwischen inner- und intergesellschaftlicher Kommunikation sowie einer weiteren Ausdifferenzierung innerhalb dieser beiden Adressatengruppen die Inhalte dieser Aussagen festgemacht. Eine scharfe Trennung zwischen inner- und intergesellschaftlicher Kommunikation war kaum möglich. Ungleich schwieriger wurde dieses Unterfangen durch die starke Heterogenität, in der einzelne Akteure diverse soziale Rollentypen nutzen konnten, und die dynamischen Verschiebungen von Machtverhältnissen. In allen Fällen, ob nach innen auf Konkurrenten oder Unterstützer oder nach außen auf Bündnispartner, Kleruchen oder außenpolitische Konkurrenten bezogen: Der Parthenon gilt als Manifestation des neuen athenischen Selbstverständnisses. Gleichzeitig verweist das Bildprogramm auf innergesellschaftliche oder eher inneraristokratische Auseinandersetzungen. Die Gruppe der metrioi, die ihre Vorstellung von Mäßigung nach 510 als normative Lebensweise etablierte, wurde durch Perikles öffentlich inszeniert. Dem stand das Lager der Oligarchen und Hedonisten gegenüber, deren alternativer Entwurf das attische Ideal in Frage stellte. Die demokratische Partizipation der Vollbürger war in diesem Sinne ein Mittel im inneraristokratischen Konflikt, bei dem es um die Einnahme der eigentlichen Entscheidungsmacht innerhalb Athens ging. Eine Prägung der Bevölkerung im Sinne der metrioi war daher notwendig, um deren eigene Machtposition zu stabilisieren, und das Bildprogramm des Parthenons war dafür das perfekte Medium. Hauptziel war es, die Vormachtstellung Athens nach außen und der metrioi nach innen zu kommunizieren. Die Bildthemen der Kentauromachie und der Amazonomachie, die eine deutliche Referenz zum Osten aufweisen, die personellen Bezüge durch die Stadtgöttin sowie Herakles und Theseus waren optimale Mittel, um Athens Überlegenheit zu verdeutlichen. Vergleichbare Bestrebungen zur Etablierung oligarchischer Vorstellungen zeigen spätere Bauten, wie das Erechtheion und der Athena-Nike-Tempel. Im Rahmen des Peloponnesischen Kriegs lassen sich Machtverschiebungen in Athen beobachten, die sich schließlich auch auf die Bauvorhaben der polis auswirkten. Stilistische und konzeptionelle Unterschiede innerhalb des Bildprogramms am Parthenon konnten hier aufgrund der Beschränkung nicht berücksichtigt werden und waren im Sinne der Fragestellung nicht notwendig. Zudem wäre eine Analyse der einzelnen Figuren hinsichtlich des Bezugs zu Athen interessant. In diesem Aufsatz galt das Augenmerk lediglich den von außen sichtbaren Figuren, da sie der breiten Öffentlichkeit zugänglich waren. Eine genauere Un-

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tersuchung der Bildthemen auf der Statue der Athena Parthenos könnte auf Grundlage des hier verwendeten Kommunikationsmodells ebenfalls durchgeführt werden. Eine stilistisch fokussierte Analyse kann im Hinblick auf die notwendige ästhetische Attraktivität zur Vermittlung von Aussagen Hinweise auf mögliche stilistische Veränderungen in der griechischen Kunst bieten und sollte daher in einem nächsten Schritt unternommen werden. Es sollte deutlich werden, dass bekannte Mythenbilder, aber auch Neukompositionen bewusst als visuelle Kommunikationsmedien genutzt wurden, um bestimmte Aussagen an zwei unterschiedliche Adressatengruppen zu richten. Die Ästhetik der Umsetzung wurde dazu genutzt, um diese Aussagen erfolgreich zu vermitteln. Damit wird offenbar, dass die Bildthemen des Parthenons nicht nur hinsichtlich ihres ästhetischen Wertes betrachtet werden sollten, sondern auch als Kommunikationsmittel in inner- sowie intergesellschaftlichen Aushandlungsprozessen.

Stefan Ehrenpreis

Erziehung zum politischen Sehen? Bildliche Repräsentationen des Politischen in frühneuzeitlichen Schulbüchern

1.

Einleitung

Mitte der 1720er Jahre brach in der mittelfränkischen Kleinstadt Windsbach ein zwanzigjähriger erbitterter Streit zwischen der örtlichen Lateinschule und der muttersprachlichen Deutschen Schule des Ortes aus. Der Ursprung des Konflikts lag im Ausbau des realienkundlichen Unterrichts an der Deutschen Schule durch den engagierten Lehrer Christoph Johannes Supf, der zu einer erhöhten Attraktivität dieser Schule gegenüber dem am traditionell humanistischen Konzept orientierten Unterricht des Lateinschulrektors führte. Supf erweiterte das Spektrum des Unterrichts an der Deutschen Schule durch Naturkunde, Geographie sowie Geschichte und bot auch am Abend zusätzlich Unterricht im Französischen an. Mit diesem Angebot konnte er die Zahl seiner Schüler und damit sein Einkommen durch Schulgeld erheblich und zu Lasten der Lateinschule erhöhen. In seiner Autobiographie von 1746 berichtete Supf auch über Werbemaßnahmen, mit denen er ältere Schüler und deren Eltern zum Übertritt von der Lateinschule überzeugen wollte: Im Klassenraum hängte er bunte Karten der Region auf und erklärte ihren Wert den Knaben mit den Worten: »Wenn Du einmal Postmeister werden willst, so musst Du von diesen Charten Wissenschaft haben!«1 Der Einsatz von Karten zur Erreichung neuer berufspraktischer Ziele im Unterricht ist ein typisches Beispiel für Innovationen in der Unterrichtsdidaktik im Laufe der Frühen Neuzeit. Die im Nürnberger Verlag Homann 1714 erschienene Standardkarte der Postrouten gehörte zu denjenigen Karten, die im Unterricht gebraucht wurden.2 1 Christoph Beck, Der Windsbacher Kaplan und Rektor Johann Friedrich Supf (1689 – 1764). Ein Schulmann und Volkswirtschaftler des Merkantilismus, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 19 (1950), S. 17 – 62, hier S. 26. 2 Vgl. die Abbildung bei Markus Heinz, Zeitungsleser, Reisende und Potentaten: die Benutzung der Karten, in: Michael Diefenbacher (Bearb.), »auserlesene und allerneueste Landkarten«. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702 – 1848. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg

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Dass die neuen didaktischen Hilfsmittel visueller Natur waren, macht sie zum möglichen Gegenstand zahlreicher Untersuchungsstrategien der neueren historischen Bildforschung.3 Die Frage nach der Bedeutung visueller Lehrmittel für die politische Kommunikation ist nur eine von diesen. Obwohl die Inhalte frühneuzeitlicher Schulbücher kaum direkten Bezug auf die politische Welt ihrer Gegenwart nahmen, transportierten sie Informationen und Wissen über politische Strukturen und Konflikte, oft vermittelt über Symbole und Orte. Bilder sind »kollektiv gebildete visuelle Stereotype, die gesellschaftliche Wahrnehmung und Sinnbildung konkretisieren, die soziales Wissen, Dispositionen, Affekte und Erinnerungen fixieren und im kulturellen Gedächtnis speichern, und zwar nicht nur bündiger und sinnfälliger, sondern oft auch einprägsamer und wirkungsvoller, als Schrifttexte es vermögen.«4

Einige dieser von Rolf Reichardt beschriebenen Eigenschaften und Funktionen von Bildern waren auch den frühneuzeitlichen Zeitgenossen geläufig, insbesondere die in der Mnemonik seit dem Spätmittelalter vielfältig angewandten Methoden der Gedächtnisübung. Gerade in Bildungsprozessen galten Bilder als hervorragend geeignete Lehrmittel, um Sinngehalte und Sinnzusammenhänge eindrucksvoll darzustellen. In der zeitgenössischen Erziehungsdiskussion war ›eindrucksvoll‹ durchaus wörtlich zu verstehen – Sinneseindrücke stellte man sich als bleibenden Abdruck im Gehirn vor.5 Denken in Gleichnissen und Analogien schulte das Sinnverständnis, das durch Anschauung angeregt wurde.6 Durch visuelle Elemente vermittelten Sinn kannten Schüler keineswegs nur aus Büchern. Solche Elemente waren vielmehr im Alltag durch Gemälde und andere Kunstformen im öffentlichen Raum präsent, beispielsweise Plastiken an und in Kirchen sowie an anderen Bauwerken, gelegentlich auch an Schulgebäuden.7

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und der museen der stadt nürnberg mit Unterstützung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz im Stadtmuseum Fembohaus vom 19. September bis 24. November 2002, Nürnberg 2002, S. 112 – 119, hier S. 113. Vgl. generell Brigitte Tolkemitt / Rainer Wohlfeil (Hg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, Berlin 1991. Rolf Reichardt, Bild und Mediengeschichte, in: Joachim Eibach / Günther Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 219 – 230, 255 – 257, hier S. 219. John Locke sprach in seiner Erziehungslehre vom Kind als einem weißen Papier, das beschrieben werden kann; vgl. ders., Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1970. Vgl. zu diesem Erziehungsdenken Ingrid Leis-Schundler, Ding, Sprache, Anschauung und Bild im »Orbis pictus« des Johann Amos Comenius, in: Christian Rittelmeyer / Erhard Wiersing (Hg.), Bild und Bildung. Ikonologische Interpretationen vormoderner Dokumente von Erziehung und Bildung, Wiesbaden 1991, S. 215 – 236. Vgl. dazu Walter Achilles, Erotik für Lateinschüler? Anmerkungen zu Bildmotiven auf Brüstungsplatten und illustrierten Ausgaben der Metamorphosen Ovids, in: Hildesheimer Jahrbuch 72/73 (2000/01), S. 51 – 94. Die Plastiken der Lateinschule in Alfeld (1610/12) zeigen

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Bildliche Motive aus dem Bereich von Herrschaft und Politik erreichten durch ihre öffentliche Präsenz auch illiterate Schichten, die wenig Zugang zu gedrucktem Material hatten (Abb. 1).

Abb.1: Darstellung »Gastmahl des Herodes« in der ländlichen Pfarrkirche von Lieberhausen (Oberbergischer Kreis), 1. Hälfte 16. Jhdt. Aus: Klaus Goebel (Hg.), Oberbergische Geschichte, Bd. 1, Wiehl 2001, S. 275.

2.

Methodische Vorüberlegungen

Abbildungen in Schulbüchern gehören zu den Forschungsgegenständen, die der kulturhistorischen Massenbildforschung zuzuordnen sind. Im Gegensatz zu innovativen, politisch-kulturellen Wandlungsprozessen offenstehenden Bildmedien wie Flugblättern, Karikaturen und Graphiken waren frühneuzeitliche Schulbücher nicht auf unmittelbare zeitgenössische Aktionen ausgerichtet, sondern eher Faktoren langfristig wirkender Wahrnehmungsweisen und Orddie erotische Liebe und warnen gleichzeitig vor dem Vergessen der Endlichkeit menschlichen Glücks.

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nungsstrategien. Daher benutzten sie auch kaum experimentierende Formensprachen, die ältere und neue Bildsprachen verschmolzen; vielmehr präsentierten sie sich im Gewand gewohnter Sichtweisen.8 In den meisten Fällen entstammten Abbildungen in frühneuzeitlichen Schulbüchern anderen Entstehungs- und Gebrauchskontexten und wurden nicht eigens für das Schulbuch entworfen. Sie nutzten Teile von Bild-Corpora, die zeitgenössisch bekannt waren und als billige Vorlagen kopiert werden konnten, oft durch Verzicht auf künstlerische Ausdrucksfähigkeit. Der Untersuchung stellen sich zunächst zwei methodische Schwierigkeiten bezüglich der Abgrenzung des Gegenstandes: Schulbücher gehören als Textgruppe zwar zu den frühneuzeitlichen Buchmedien, sind aber durch ihren speziellen Einsatzort ›Unterricht‹ geprägt. Von anderen Buchmedien sind sie nicht durch eine besondere Textform zu trennen und können daher nur durch ihren Gebrauch definiert werden: Frühneuzeitliche Schulbücher sind also Texte, die nachweislich im Schulunterricht benutzt wurden, unabhängig von der Frage, ob sie auch in anderen Kontexten Verwendung fanden.9 Sicherlich wurden alle hier aufgeführten Schulbücher auch außerhalb von Unterrichtssituationen für autodidaktische Lernprozesse genutzt, über die wir jedoch kaum Quellen haben, abgesehen von gelegentlichen autobiographischen Angaben.10 Gleichwohl lassen sich Textgattungen identifizieren, die vorwiegend für den Lehr- und Unterrichtsgebrauch produziert und auch dort eingesetzt wurden, obwohl die breite frühneuzeitliche Nachfrage nach Lektüre auch eine private Aneignung annehmen lässt. Die Produktion im Raum des Alten Reiches war im 16. Jahrhundert noch stark durch die Landesherren und die Kirchenleitungen geprägt, die vor allem dem Sektor der Katechismen und anderen religiösen Lehrmitteln hohe Aufmerksamkeit widmeten.11 Seit dem späten 16. Jahrhundert wurde die Lehrbuchproduktion jedoch zunehmend ein marktorientiertes Geschäft von Autoren und Drucker-Verlegern. Städte, die auch allgemein als wichtige Standorte des Druckgewerbes galten, waren die Zentren der Lehrbuchdrucke; hervorzuheben sind Hamburg, Leipzig, Köln, Mainz, Würzburg, Augsburg, Nürnberg, Straßburg, Salzburg und Wien. Für Zürich wurde errechnet, dass ca. 13 Prozent 8 Vgl. zu den gegensätzlichen Formensprachen Leis-Schundler, S. 225. 9 Anthony Grafton, Textbooks and the disciplines, in: Emidio Ciampi u. a. (Hg.), Scholarly knowledge. Textbooks in early modern Europe, Genf 2008, S. 11 – 36, hier S. 26 f. 10 Vgl. zu diesem Aspekt, dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann, Willem Frijhoff (Hg.), Autodidaxies XVIe – XIXe siÀcles, Paris 1996. 11 Vgl. Stefan Ehrenpreis, Katechismen und Katechese. Frühneuzeitliche Schulbücher als politisch-sozialer Konfliktstoff im konfessionellen Zeitalter, in: Stephanie Hellekamps / JeanLuc Le Cam / Anne Conrad (Hg.), Schulbücher und Lektüren in der vormodernen Unterrichtspraxis, Wiesbaden 2012, S. 49 – 64.

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der dortigen Buchproduktion des 16. Jahrhunderts Lehr- und Unterrichtszwecke erfüllte.12 Diese Größenordnung können wir vermutlich auch für andere der großen Standorte des Buchgewerbes annehmen. Die protestantischen Gebiete besaßen allerdings einen Vorsprung, sowohl was die Quantität der Produktion als auch die Qualität der Druckerzeugnisse anging. Im 18. Jahrhundert entstand schließlich mit der Waisenhausdruckerei der Franckeschen Anstalten in Halle ein auf pietistisch ausgerichtete Lehrmaterialien spezialisiertes neues Produktionszentrum, das weit in die protestantische Welt ausstrahlte.13 Die katholischen Zentren des Druckgewerbes konnten erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachziehen und mit den Schulreformen der katholischen Aufklärung den Schulbuchmarkt erheblich ausweiten. In der Aufklärungszeit wuchs jedoch auch die Skepsis gegenüber der didaktischen Funktion von Illustrationen, die nun weniger als Hilfsmittel denn als Ablenkung im kindlichen Lernprozess angesehen wurden.14 Die zweite methodische Vorüberlegung gilt der Repräsentation von Herrschaft und Gesellschaftsordnung im frühneuzeitlichen Unterricht: »Das ist gewiß, wer ein gelehrter Politicus heissen will, der muß bey guter Zeit auff sein Mundwerck bedacht seyn. Darumb darf bey der Jugend mit solchem nothwendigen Stücke nicht biß nach dem zwantzigsten Jahre gefeyert werden.«15 Der lutherische Erziehungstheoretiker Christian Weise, der dies 1681 formulierte, versuchte an seinem Zittauer Gymnasium, die alten Formen der Schulrhetorik durch eine höfisch-politische Rhetorik zu ersetzen und zog dazu historische Reden (auch in deutscher Übersetzung) heran.16 Seine Publikationen wendeten sich ausdrücklich an Lehrer und Hofmeister, die Schüler aus dem Kreis der mit den öffentlichen Angelegenheiten befassten Schichten hatten, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum Adel oder zum Bürgertum. Sein mehrfach überarbeitetes Lehrbuch der politischen Rede wurde dementsprechend auf Ritterakademien wie städtischen Lateinschulen benutzt.17 Die politische Schullektüre stellte jedoch eine Seltenheit dar. Mit der Welt der Politik, erst recht der zeitgenös12 Urs B. Leu, Textbooks and their uses – an insight into the teaching of geography in 16thcentury Zurich, in: Ciampi u. a. (Hg.), S. 229 – 248, hier S. 230. 13 Vgl. zur Produktion der Waisenhausdruckerei das Erschließungsprojekt www.francke-halle.de/einrichtungen. 14 Christina Karafiat-Seitz / Ernst Seibert, Am Anfang steht der Buchstabe. ABC-Bücher für Kinder von der Aufklärung bis in die Gegenwart, in: Biblos 61 (2012), S. 6 – 8. 15 Zitat bei Susanne Barth, Art. Christian Weise (1642 – 1708), Politischer Redner, Leipzig 1681, in: Theodor Brüggemann (Hg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 1: Von 1570 bis 1750, Stuttgart 1991, Sp. 480 – 504, hier Sp. 482. Sie bezieht sich auf Christian Weise, Politischer Redner, das ist kurtze und eigentliche nachricht, wie ein sorgfältiger Hofemeister seine Untergebenen zu der Wolredenheit anführen sol, Leipzig 1681. 16 Ebd., Sp. 480. 17 Ebd., Sp. 500.

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sischen, kamen auch höhere Schüler im Raum das Alten Reiches kaum in Kontakt, mit Ausnahme der konfessionell bedingten Religionspolitik. Systematische Erläuterungen etwa der Reichsverfassung oder auch des territorialen Verwaltungsaufbaus waren nicht Unterrichtslektüre, sondern juristischen Studienbüchern vorbehalten. Zwar lasen die Schüler der Lateinschulen Abschnitte aus politischen Werken der Antike, darunter auch politische Reden und Ausschnitte der aristotelischen »Politik«. Inwieweit über den sprachlichen Gehalt der Texte hinaus auch der historisch-politische Kontext im Unterricht angesprochen wurde, hing vom einzelnen Lehrer ab. Jüngere Forschungen über das frühe 18. Jahrhundert legen die Vermutung nahe, dass in den gymnasialen Oberklassen eher philosophische Themen im Vordergrund standen.18 Geschichte als eigenständiges Unterrichtsfach, das notwendigerweise politische Vorstellungen mit umfasste, gehörte zu den pädagogischen Innovationen des 17. Jahrhunderts, war allerdings unterschiedlich verbreitet. Da die einflussreichen Unterrichtsprogramme der Jesuitenschulen Geschichtsunterricht ablehnten, blieb das katholische Unterrichtswesen distanziert. Im protestantischen Bereich folgte man den gelehrten Traditionen Melanchthons und der Magdeburger Centurien aus dem 16. Jahrhundert: Es herrschten synoptischhistorische Darstellungen in Tabellenwerken vor, die weitgehend ohne Erklärungen historischer Abläufe auskamen und der Erläuterung der Profan- als Heilsgeschichte dienten.19 Neben die Lehrbücher für Geschichte und Rhetorik traten seit dem 17. Jahrhundert zahlreiche Tugendlehrbücher, die zwar größtenteils auf die sittlich-moralische Charakterbildung zielten, aber mittels Standeslehren und Anleitungen zur Fürstenerziehung auch politische Klugheits- und Verhaltensregeln boten.20 Der Unterschied zwischen Adels- und Hofliteratur wurde beispielsweise bei Johann Kasimir Kolbe von Wartenberg 1696 aufgehoben. Die Maßregeln des fürstlichen Alltags wurden dabei auf den Adelsnachwuchs adaptiert, wobei das oberste Ziel, die absolute Loyalität gegenüber dem Fürsten und dem Land, als unhinterfragbar galt.21 Die weit verbreiteten »Tugendbäume« oder »Tugendleitern« gaben nur Anweisungen zum guten Handeln im privaten und öffentlichen Raum und warnten vor Hochmut, Gier oder Machtmissbrauch, 18 Vgl. die Fallstudie Stephanie Hellekamps / Hans Ulrich Musolff, Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung. Zum Unterricht an westfälischen Gymnasien 1600 – 1750, Münster 2009. 19 Zur Rolle der Tabellenwerke Benjamin Steiner, Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008. 20 Otto Brunken, Einleitung, in: Brüggemann (Hg.), Sp. 47 – 50. 21 Claudia Nöllin, Art. Johann Kasimir Kolbe von Wartenberg (1584 – 1661): Väterliche Instruction an seine Kinder. Cölln a. d. Spree 1696, in: Brüggemann (Hg.), Sp. 712 – 729. Wartenberg war Minister am brandenburgischen Hof und Anhänger des pfälzischen Reformiertentums.

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ohne auf konkrete Situationen des politischen Alltagsgeschäfts einzugehen.22 Hier war also ebenso die persönliche Haltung des Lehrers ausschlaggebend, ob der Tugendkanon auf die Politik angewendet wurde oder nicht. Insgesamt war der unterrichtsbezogene Spielraum für zeitgenössische politische Lehren oder die Strukturen politischer Praxis eher gering. Am ehesten gab es Möglichkeiten zur Anknüpfung an zeitgenössische politische Strukturen qua geographischem Wissen über Staaten. Hierbei stand aber der Raumaspekt staatlicher Einheiten im Vordergrund. Unsere Frage fokussiert sich daher – mit Ausnahme des Geographieunterrichts – auf die Untersuchung allgemeiner Bilder und Vorstellungen von Herrschaft als einem notwendigen Bestandteil des menschlichen Gemeinschaftslebens und der sozialen Ordnung. Diesen methodischen Vorüberlegungen folgend, gewährt dieser Aufsatz zunächst einen Einblick in frühneuzeitliche Unterrichtsmaterialien und den Einsatz visueller Mittel. Danach werden Beispiele der Verwendung visueller Elemente im Hinblick auf die Politik in mitteleuropäischen Schulbüchern besprochen, wobei auch der Produktionsprozess dieser Textsorte einbezogen und ein Vergleich mit der Rolle von Schulbuchillustrationen in der niederländischen Republik gezogen wird. Eine Zusammenfassung ordnet die Ergebnisse ein. Auf eine kritische Besprechung des Forschungsstandes kann verzichtet werden, da die Historische Pädagogik bisher visuelle Elemente in Unterrichtsmaterialien nur in Bezug auf die Darstellung des Erziehungsvorgangs selbst oder didaktische Wirkungen untersucht hat, kaum jedoch auf Unterrichtsinhalte.23

3.

Schulbücher und der Einsatz von Abbildungen

Frühneuzeitliche Schulbücher wurden in unterschiedlichem Ausmaß bebildert. Zwar begann man schon im 16. Jahrhundert, die Schullektüren auch mit Abbildungen auszustatten. Dies war jedoch kostspielig und beschränkte sich im Zeitalter der Holzschnitte noch auf wenige Ausgaben der Bibel für städtische Lateinschulen. Für die Nutzung visueller Elemente fiel der größte Teil der auflagenstärksten Typen von Schulbüchern aus: Die Schulkatechismen und die Sprachgrammatiken verzichteten überwiegend auf Abbildungen, da ihr Einsatz den Preis der Bücher erheblich verteuert und den beabsichtigten Massenabsatz 22 Helmut Engelbrecht, Reflexionen über die Dichte der überlieferten bildlichen Darstellungen von Erziehung und Unterricht am Beispiel Österreich, in: Hanno Schmitt u. a. (Hg.), Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbrunn 1997, S. 379 – 396, hier S. 383 f. 23 Vgl. die Bände Rittelmeyer / Wiersing (Hg.); Sabine Kirk, Unterrichtstheorie in Bilddokumenten des 15. bis 17. Jahrhunderts. Eine Studie zum Bildtypus der »Accipies« und seinen Modifikationen im Bildbestand der Universitätsbibliothek Helmstedt und des Augusteischen Buchbestands der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Hildesheim 1988.

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gefährdet hätte. Erst im 17. Jahrhundert, verbunden mit dem Siegeszug des Kupferstichs, kamen mehr Ausgaben mit Abbildungen auf den Lehrbuchmarkt. Seit dem späten 16. Jahrhundert wurde auch das städtische und dörfliche niedere Elementarschulwesen von diesem Trend erfasst: Die herkömmlichen ABCLehrbücher wurden mit Abbildungen ausgestattet, die den Silbenlaut durch ein Tier erläuterten, das ähnliche Laute ausstieß. Diese sogenannten »Namenbüchlein« hielten auch im ländlichen Schulwesen Einzug. Auch die Schulbücher der neuen Realienkunde nutzten visuelle Mittel, um Kindern Dinge außerhalb ihrer eigenen Erfahrungswelt nahezubringen.24 Die Debatte um den didaktischen Wert des Einsatzes von Abbildungen setzte sich verstärkt fort, nachdem der konfessionsübergreifend einflussreiche pädagogische Gelehrte Jan Amos Comenius das berühmteste illustrierte Lehrbuch der Frühen Neuzeit herausgegeben hatte, die lateinische Ausgabe des »Orbis pictus sensualium« von 1653. Dieses Buch wurde in wenigen Jahrzehnten in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt und diente im Unterricht sowohl in höheren als auch muttersprachlichen Schulen zum Lesenlernen bzw. dem Sprachenerwerb.25 Der Erfolg dieses Lehrbuchs, das Abbildungen von Dingen der Natur und der menschlichen Kultur mit sprachlichen Bezeichnungen kombinierte, traf auf den wachsenden Bedarf an neuen Unterrichtsgegenständen: Realienkunde, Geographie, Geschichte und Naturkunde. Diese Tendenz zur Aufwertung der Vermittlung praktischer Unterrichtsinhalte – in den niederen muttersprachlichen wie kleinstädtischen höheren Schulen – erklärt das starke Anwachsen der illustrierten Schulbücher, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die aufgeklärte Betonung des Textes eine didaktische Rückkehr zur schriftlichen Form des Lehrbuchs einleitete.26 Der Einbezug visueller Elemente in die religiöse Literatur macht den Siegeszug des illustrierten Schulbuchs noch deutlicher : Im 17. Jahrhundert entwickelte sich die Textform des Bibelauszugs, der für den Unterricht geschaffen worden war, zur illustrierten Kinderbibel weiter.27 Damit wurde die Darstellung religiöser Bilderwelten, die in den Kirchengebäuden des Mittelalters begonnen 24 Brunken, Sp. 10 – 14. 25 Vgl. zusammenfassend Stefan Ehrenpreis, Schulsysteme, Bildungsnetzwerke und religiöse Erziehungslehren. Vergleich und Transfer als Methodik zur Interpretation frühneuzeitlicher Pädagogik, in: Thies Schulze (Hg.), Grenzüberschreitende Religion. Vergleichs- und Kulturtransferstudien zur neuzeitlichen Geschichte, Göttingen 2013, S. 93 – 115. 26 Vgl. zum Kontext dieses Prozesses Barbara Stafford, Artful science. Enlightenment, entertainment and the eclipse of visual education, Cambridge 1994. 27 Reinhard Mühlen, Die Illustrationen historischer Kinderbibeln von Martin Luther bis Julian Schnorr von Carolsfeld, in: Gottfried Adam / Rainer Lachmann / Regine Schindler (Hg.), Illustrationen in Kinderbibeln. Von Luther bis zum Internet, Jena 2005, S. 13 – 42, hier S. 21 – 30; vgl. auch Hermann Oestel, Das Bild in Bibeldrucken vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Braunschweiger Jahrbuch 75 (1994), S. 9 – 37.

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hatte, auch in die Schule hinein fortgesetzt. Visualität und Performanz erhielten als Mittel religiöser Unterweisung besondere Bedeutung, wie sich an der Entwicklung zweier Beispiele zeigen lässt: der Emblematik und des Schultheaters. Seit dem späten 16. Jahrhundert hielt die Emblematik, eine im Spätmittelalter erfundene Illustrationsform, in Schulen Einzug. Einige Jahrzehnte nach der Publikation des berühmten Emblembuchs von Alciatus kam dieses visuelle Mittel auch didaktisch zum Einsatz. Ab 1581 hielten beispielsweise im reichsstädtisch-nürnbergischen Gymnasium zu Altdorf Schüler beim jährlichen Stiftungsfest Reden, in denen sie emblematische Medaillen deuteten.28 In den Jesuitenschulen kamen bereits früher Embleme zum Einsatz: Die Schüler sollten Embleme über Bibelworte oder christliche Sinnsprüche entwerfen, die in Wettbewerben prämiert wurden. Die Kombination von allegorischem Symbol (pictura), lateinischem Motto und Lehrgedicht (subscriptio) sollte die rhetorischen Fähigkeiten schulen, die für Appelle an die sittliche Lebenshaltung optimal eingesetzt werden sollten. Zur Anleitung entstanden im 17. Jahrhundert zahlreiche Emblembücher sowohl katholisch-jesuitischer als auch protestantischer Prägung.29 Für England ist ebenso die Bedeutung der Emblematik für den Unterricht in Rhetorik und Fremdsprachen im 16. und 17. Jahrhundert betont worden.30 Die wohl ausführlichsten didaktischen Einsatzmöglichkeiten der Emblematik in der Unterrichtspraxis erprobten die Jesuiten. Sie verbanden die spirituell sensiblen Meditationstechniken des Hl. Ignatius mit den seelsorgerlich-pastoralen Aspekten, die in der Ausbildung gelernt werden sollten. Embleme repräsentierten Normen und Argumente der eigenen Lehre und setzten sie in Beziehung zu Symbolen und Gegenständen der Natur und der Alltagswelt.31 Folgende Funktionen hinsichtlich der Ausbildung sind zu nennen: Embleme waren Teil des mnemotechnischen Trainings, sie brachten Elemente der Realienkunde in den Unterricht ein, sie schulten die rhetorischen Fertigkeiten und trugen zu künstlerisch ausgefeilten Dialogtechniken bei.32 Die jesuitische Publikation von Emblembüchern lag europaweit bis zur Auflösung des Ordens bei mindestens 1.700 Auflagen von ca. 500 Titeln. Von 28 Frederick John Stopp, The emblems of the Altdorf Academy. Medals and medal orations 1577 – 1626, London 1974. 29 John Landwehr, German emblem books 1531 – 1888. A bibliography, Utrecht 1972. Vgl. zu den Zielen der pädagogischen Emblematik auch Dietmar Peil, Zur »angewandten Emblematik« in protestantischen Erbauungsbüchern. Dilherr – Arndt – Francisci – Scriver, Heidelberg 1978. 30 Ayers Bagley, Some paedagogical uses of the emblem in sixteenth- and seventeenth-century England, in: Emblematica 7 (1993), S. 321 – 344. 31 Karel Porteman, The use of the visual in classical Jesuit teaching and education, in: Marc Depaepe / Bregt Henkens (Hg.), The challenge of the visual in the history of education, Gent 2000, S. 179 – 196, hier S. 179. 32 Auch für den folgenden Absatz ebd., S. 181 ff.

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einer Praxis der Pariser Universität ausgehend, wurden die Ergebnisse von Wettbewerben zur Emblemkunst in den Kollegien öffentlich ausgestellt und Teil der örtlichen Präsentation der Schülerarbeiten, oft auch der Texte auf der Bühne. In einem überlieferten Beispiel aus dem Brüsseler Kolleg wurden außenpolitische Ressentiments deutlich: Ein Messer mit habsburgischem Wappen zerschneidet einen französischen Käse. Solche politische Implikationen stellen allerdings eine Ausnahme dar, ging es doch um das didaktische Ziel, einen allgemeingültigen religiösen Kanon durch ein selbst gewähltes Lebensmotto zu individualisieren. Auch in einem zweiten Bereich, der visuelle und performative Elemente verbindet, waren die Jesuiten Vollender älterer Traditionen und die Protestanten rasche Nachzügler : im Einsatz des Schultheaters. Im 16. Jahrhunderts nahm es in den Lateinschulen zunächst einen großen Aufschwung und wurde besonders bei den Jesuiten zu einem didaktischen Mittel ersten Ranges ausgebaut.33 In öffentlichen Aufführungen, die durch den Besuch der Eltern und der lokalen Elite zu städtischen kulturellen ›Events‹ wurden, übten die Schüler Latein und künstlerischen Ausdruck. Die von Ordensmitgliedern – oft den Lehrern – verfassten Jesuitendramen behandelten Heiligenlegenden, durchaus aber auch politische Lehrstücke, soweit sie auf den religiösen Zeitkontext beziehbar waren, z. B. Stücke über das beispielhafte Leben japanischer Fürsten, die zum katholischen Glauben konvertierten und nach dem kaiserlichen Verbot des Christentums als Märtyrer starben.34 Die Reformierten und später auch die Pietisten lehnten hingegen das Schultheater als ›weltliche Lustbarkeit‹ entschieden ab. Die Lutheraner entwickelten im 17. Jahrhundert das lateinische Schuldrama zu einem muttersprachlich geprägten Lehrtheater fort.35 Auch hier gab es Inhalte mit aktuellen Bezügen. So wurden etwa im lutherischen Breslau, genauso wie in Köln und Wien, Schuldramen über Kaiser Leopold I. und seine militärischen Erfolge gegen die Türken und Frankreich aufgeführt.36 Emblematik und Schuldrama waren bereits im 16. Jahrhundert eingeführt worden. Die eigentlich innovative Phase im didaktischen Einsatz visueller Mittel begann jedoch erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als beide Elemente und die größere Verbreitung von gedruckten Lehr- und Lernbüchern den Einsatz 33 Vgl. dazu das umfangreiche Handbuch von Elida Maria Szarota, Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Perioden-Edition, 8 Bde., München 1979 – 1983. 34 Vgl. jetzt Frank Pohle, Glaube und Beredsamkeit. Katholisches Schultheater in Jülich-Berg, Ravenstein und Aachen (1601 – 1817), Münster 2010. Zur jesuitischen Märtyrermotivik vgl. auch den Beitrag von Katrin Sterba in diesem Band. 35 Konrad Gajek, Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert. Einladungsschriften zu den Schulactus und Szenare zu den Aufführungen förmlicher Comödien an den protestantischen Gymnasien, Tübingen 1994. 36 Jutta Schumann, Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I., Berlin 2003, S. 306 – 318.

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visueller Lehrmittel qualitativ veränderten. Mit der zunehmenden Visualisierung von Lerninhalten stellt sich die Frage, inwieweit die zeitgenössische Politik hierin inbegriffen war.

4.

Darstellung von Herrschaft

Wie oben angedeutet, lassen sich einzelne Unterrichtsinhalte der Emblematik oder des Schuldramas der Welt der Politik zuordnen. Auch im Umfeld der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts entstanden einige wenige Werke, die politische Inhalte hatten. Dies entspricht der späthumanistisch-gelehrten nationalen Orientierung und dem reichspolitischen Kontext dieser protestantischen Sozietäten.37 Inwieweit diese Werke der Sprachgesellschaften in den Schulunterricht einflossen, ist nach derzeitiger Forschungslage noch unklar. Eine Ausnahme dürfte hingegen das Werk des barocken Mathematikers und Projektemachers Erhard Weigel darstellen. Er entwarf von den geometrischen Grundlinien von Festungswerken ausgehend mathematisch abgeleitete Gottesbeweise und ein Tugendsystem, das Vorstellungen guter Herrschaft beinhaltete.38 Er machte sich dabei zunutze, dass Schüler Festungswerke im GeometrieUnterricht zeichnen mussten.39 Die Motive und Sujets der Politik im Kontext von Lehr- und Lernsituationen sollen im Folgenden an zwei Beispielen untersucht werden, die als Massenprodukte und vielfach eingesetzte Unterrichtsmaterialien gelten können: an Kinderbibeln und Kartenwerken. Seit dem späten 17. Jahrhundert wurde in der protestantischen Welt die in der Reformationszeit entstandene rigide Verpflichtung auf den originären Bibeltext als religiöse Unterrichtslektüre aufgeweicht. Es entstanden nun auch sogenannte katechetische Kinderbibeln, deren Texte zwar an die Bibel angelehnt, aber auf die kindliche Vorstellungs- und Begriffswelt angepasst wurden. Der bisherige Einsatz von Bibelauszügen in Kombination mit Luthers »Kleinem Katechismus« sollte durch Darstellungen biblischer Historien ersetzt werden, d. h. durch Texte, die der Bibel entnommen und didaktisch aufbereitet sowie Fabeln und anderen moralischen Volkserzählungen entgegen als wahre Geschichten mit Bedeutung aufgeladen wurden.40 37 Vgl. etwa Peter Isselburg / Georg Rem, Emblemata politica. In aula magna curiae Noribergensis depicta, Nürnberg 1640 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1982). 38 Dirk Hamann, Art. Erhard Weigel (1625 – 1699). Wienerischer Tugend=Spiegel, 2 Bde., Nürnberg 1687, in: Brüggemann (Hg.), Sp. 729 – 748. 39 Vgl. Wilhelm Hestermeyer, Paedagogica mathematica. Idee einer universellen Mathematik als Grundlage der Menschenbildung in der Didaktik Erhard Weigels, Paderborn 1969. 40 Christine Reents, Art. Johann Hübner (1668 – 1731), Zweymahl zwey und funffzig Auserle-

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Das wohl bedeutendste und am weitesten verbreitete Beispiel einer Kinderbibel ist die 1714 erstmals erschienene Schrift des Merseburger Schulrektors Johann Hübner (1668 – 1731) mit dem Titel »Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien. Aus dem Alten und Neuen Testament«. Diese Kinderbibel wurde häufig im Unterricht von protestantischen Latein- und Deutschen Schulen verwendet und auch in zahlreichen Ausgaben und Auflagen nachgedruckt.41 Der Erfolg lässt sich auf erziehungspraktische und kommerzielle Faktoren zurückführen: Das Buch war im Quartformat trotz der Illustrationen billiger als jede Bibelausgabe, war für viele protestantische Richtungen der lutherischen Orthodoxie und des Pietismus akzeptabel und im Unterricht flexibel einsetzbar. Es erschienen fast jährlich Neudrucke, 1714 – 1768 13 Neubearbeitungen sowie Übersetzungen in alle wichtigen europäischen Sprachen und 1731 die maßgebliche Ausgabe letzter Hand.42 Der Verfasser besuchte das Zittauer Gymnasium von Christian Weise, studierte danach in Leipzig Theologie und wurde später dort promoviert. Ab 1694 bekleidete er das Amt des Rektors des Merseburger Gymnasiums und wechselte von dort 1711 auf das Rektorat des hochangesehenen Gymnasiums Johanneum in Hamburg.43 In seiner Merseburger Zeit beschäftigte sich Hübner intensiv mit der didaktischen Konzeption der Katechese und suchte nach einem Mittel, biblisches Wissen als religiösmoralisches Fundament durch Einzelgeschichten kindgerecht weiterzugeben. Dieses Ziel wollte er durch die Darstellung biblischer Gestalten als moralische Exempel erreichen. Er benutzte dabei die Verbürgerlichung biblischer Personen und ihres Familienlebens, um Anknüpfungen an die Lebenswelt seiner Schulkinder zu gewährleisten und ein verinnerlichtes Herzchristentum zu propagieren: Für das christliche Leben sollte die aristotelische Tugend der Mäßigung mit einer christlichen Hausfrömmigkeit verbunden werden.44 Die weit verbreitete Ausgabe letzter Hand von 1731 war durch die erstmalige Beigabe von 104 Kupferstichen, die jede einzelne biblische Erzählung auch visuell begreifbar machen sollten, beliebt. Ein direkter Vorläufer dieser illustrierten Form, den Hübner persönlich gekannt und benutzt haben könnte, wurde bisher nicht gefunden.45 Allerdings gab es ähnliche Werke schon im späten 17. Jahrhundert, die mit anderem Bildmaterial arbeiteten.46 Es ist auch

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sene Biblische Historien. Aus dem Alten und Neuen Testament, Leipzig 1731, in: Brüggemann (Hg.), Sp. 231 – 259, hier S. 235, 241. Ebd. Sp. 237 f. (eine Karte des Verbreitungsgebiets). Ebd., S. 255 f., 258. Ebd., Sp. 232 f. Ebd., Sp. 235, 239, 250. Ebd., Sp. 231. Die älteren Ausgaben 1714 – 1731 waren nur mit einem Titelkupfer versehen. Rainer Lachmann, Bebilderungen und Bebilderungstraditionen zu Johan Hübners Biblischen Historien, in: ders. / Christine Reents (Hg.), Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien Aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend

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fraglich, ob Hübner selbst den Illustrationen große didaktische Aufgaben zuwies, beharrte er doch auf dem Dreiklang von deutlichen Fragen für das Gedächtnis, nützlichen Lehren für den Verstand und gottseligen Gedanken für Gemüt und Herz der Kinder.47 Die Abbildungen in Hübners Band von 1731 resultierten daher vermutlich eher aus einem Vorschlag des Verlegers, der den Kupferstecher Peter Conrad Monath in Nürnberg mit einer Bebilderung beauftragte. Für Hübner selbst waren die Abbildungen wohl verzichtbar, den Käufern wurde jedoch sogar eine Handkolorierung angeboten.48 Die Abbildungen sind vergröbernde Nachstiche aus der sogenannten »Merian-Bibel«, die 1625 – 1627 erschienen war und eine der bekanntesten, aber auch teuersten protestantischen Bibelausgaben darstellt.49 Die Kupferstiche zeigen in vielen Szenen Orte und Ausstattungen so, wie sich Merians barocke Zeitgenossen den antiken Orient und das Heilige Land zur Zeit Jesu vorstellten. Gärten, Paläste und Kleidung wurden hingegen eher in barocker Manier visualisiert, mit exaltierten Körperhaltungen, extremem Faltenwurf und anachronistischen Formen von Interieur und Prachtentfaltung.50 Politik kommt explizit nur in wenigen Abbildungen zum Ausdruck, da die meisten Szenen das Erleben religiös aufgeladener Situationen zum Inhalt haben, beispielsweise die Sintflut, die biblischen Propheten und – aus dem Neuen Testament – Jesus und seine Jünger. Gelegentlicher Gegenstand sind jedoch auch die Angehörigen der antiken politischen Eliten, insbesondere die alttestamentarischen Könige. Diese offenbaren ein Grundmotiv Hübners, nämlich die Beschäftigung mit Herrschaftsträgern und ihrer Vorbild- bzw. Negativbildfunktion. Ein Vergleich der Darstellungen der Könige Salomon und David kann dies verdeutlichen (Abb. 2 und 3). In Bezug auf Salomon wird die bekannte Erzählung über die zwei Frauen illustriert, die sich um ein Kind streiten (1. Buch der Könige, 3). Salomon, der Sohn Davids, der im Text Gott um ein verständiges Herz bittet, sitzt in der Abbildung unter freiem Himmel auf einem von zwei Löwen umrahmten erhöht stehenden Thron, trägt ein schmuckloses langes Gewand und die Krone. Rechts vom Thron sieht man ältere Männer in Gesten der Unschlüssigkeit, davor die beiden streitenden Frauen in einfachen Gewändern (im Text: »Huren«, wohl weil von ihren Männern nichts gesagt wird). Ein Soldat in Rüstung hält gerade das

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zum Besten abgefasset, mit einer Einleitung und einem theologie- und illustrationsgeschichtlichen Anhang, Hildesheim / Zürich / New York 1986, Anhang S. 23 – 81, hier S. 23 f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 25 f. Ein handkoloriertes Exemplar befindet sich im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Ebd., S. 29. Lachmann bezieht sich auf Matthäus Merian, Icones Biblicae, Frankfurt a. M. 1625/27. Reents, Sp. 254.

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Abb. 2: Der König Salomon. Aus: Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien Aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset, Leipzig 1731 (zwischen S. 146 und 147).

Kleinkind an den Beinen mit dem Kopf nach unten und droht, mit seinem Schwert das Kind zu zerteilen. Eine der Frauen macht eine abwehrende Geste und schaut in den Himmel, während Salomon mit einer würdevollen Bewegung seiner linken Hand dem Soldaten Einhalt gebietet. Die Kinder können also erkennen, dass der König mit einer Hand Gewalt anordnen oder abwehren kann. Die zweite Erzählung ist einige Seiten vorher dargestellt. König David ist Hauptperson der Erzählung der Bathseba (2 Sam. 11 f.), mit der David einen Ehebruch beging, nachdem er sie im Garten nackt hatte baden sehen. Die biblische Geschichte wird in der Illustration in einer Dreiteilung des Bildes dargestellt: Rechts oben ist in kleinem Format Bathseba nackt in einem barocken

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Abb. 3: Von der Bathseba. Aus: Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien Aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset, Leipzig 1731 (zwischen S. 132 und 133).

Garten zu sehen sowie David – sie beobachtend – auf einer hohen Zinne. Unten überreicht David seinem Feldhauptmann einen brieflichen Befehl, Bathsebas Ehemann an der gefährlichsten Stelle der Schlacht einzusetzen. In der dritten Szene links oben erzählt der von Gott gesandte Prophet Nathan dem König ein Gleichnis, in dem dieser sein eigenes Fehlverhalten erkennt und vor dem Propheten niederkniet. König David ist stets mit der Krone gekennzeichnet und hält in der unteren Szene auch ein Zepter in der rechten Hand. Sein Gewand ist lang und prächtig, während der Feldhauptmann und ein Soldat Rüstung tragen. Prophet Nathan ist mit einem mönchischen Gewand und einem Umhang geschmückt. Der Text wird mit Fragen und Sinnsprüchen ergänzt, wobei letztere

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auf die Forderungen nach weiblicher Sittlichkeit, echter Reue gegenüber Sünden und nach männlicher Zurückhaltung hinauslaufen.51 Die Kinder lernten aus diesen beiden Darstellungen obrigkeitlich-herrschaftliche Attribute kennen: Herrschaftssymbole (Krone und kostbare Gewänder), herrschaftliche Rechte (Befehle) und herrschaftliche Repräsentation (Paläste und Gärten). Die Attribute, die die Kleidung und die Haltung der Könige hervorheben, unterscheiden die monarchischen Herrschaftsträger klar von anderen dargestellten biblischen Personen. Der Vergleich beider Erzählungen und ihrer Darstellungen lässt aber auch zwei unterschiedliche Verhaltensweisen der politischen Elite deutlich werden: Könige können weise und gerecht, aber auch tyrannisch und von ihren Leidenschaften getrieben sein. Diese herrschaftskritische Dimension führt die bisherige Forschung auf die Familiengeschichte des Autors Hübner zurück, der die Auswahl der biblischen Erzählungen vornahm. Er stammte aus einer böhmischen Exulantenfamilie und äußerte mehrfach Skepsis gegen Kriegshelden und militärische Tapferkeit. Christine Reents erkennt bei ihm Züge einer Exodus-, Propheten- und Täufertradition, die ihn gegenüber obrigkeitlicher Tyrannis sensibel gemacht habe. Macht sei für Hübner durch die Zehn Gebote begrenzt gewesen, die auch für Könige gelten würden. Gott könne schließlich auch Potentaten irremachen.52 Bei dieser Analyse wird jedoch möglicherweise eine Erzähl- und Bildtradition vernachlässigt, die seit dem Humanismus Topoi lieferte, die dieser genannten Perspektive entsprachen; zu denken ist hier etwa an Erasmus. Hübner könnte sich also an einer allgemein-christlichen Theologie orientiert haben, ohne dass wir in der Interpretation die persönlichen Verhältnisse des Autors überbewerten müssen. Die aus der Analyse von Kinderbibeln gewonnene Erkenntnis, dass sich Wissen über Politik im Wesentlichen auf die Darstellung von Herrschaft, insbesondere auf ihre monarchische Ausprägung, bezog, ist durch die Beachtung eines anderen visuellen Mediums zu ergänzen. Die politische Dimension der eigenen Gegenwart wurde frühneuzeitlichen Schülern vor allem im Geographieunterricht deutlich. Im 16. Jahrhundert herrschte noch der Gebrauch von Weltkarten und der neu entwickelten Erdgloben vor, die das neue Weltbild vermittelten.53 Neben topographisch-erdkundlichen Exemplaren wurden dann seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den höheren Schulen, im 18. Jahrhundert dann auch in niederen Schulen Kartenwerke verwendet, die die zeitgenössische europäische Staaten- und die deutsche Territorienwelt darstellten.

51 Lachmann / Reents (Hg.), S. 133 – 138. 52 Reents, Sp. 251. 53 Leu, S. 238 – 247.

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Auf Karten der europäischen Staaten waren seit dem späten 16. Jahrhundert zunächst die niederländischen Verlage, insbesondere das berühmte Unternehmen Blaeu in Amsterdam, spezialisiert. Deren Monopolstellung ging im späten 17. Jahrhundert verloren, da sich nun auch im Reich Kartenverlage gründeten. Auf die Kartenproduktion für Lehrzwecke war der Nürnberger Verlag Homann spezialisiert. Seine Produkte waren durch die Hervorhebung der Territorien in großflächiger farbiger Ausmalung gekennzeichnet (Abb. 4).

Abb. 4: Karte des fränkischen Reichskreises. Aus: Johann Baptist Homann, Atlas scholasticus, Ausgabe Nürnberg 1720 (Wiedergabe der handkolorierten Karte hier in Schwarz-Weiß).

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Zahlreiche historisch-politische Karten widmeten sich dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, es wurden aber auch immer wieder aktuelle Karten zu Feldzügen, Schlachten und Belagerungen produziert.54 Zwischen 1702 und 1800 stieg die Zahl der im Verlag Homann angebotenen Karten auf knapp 600.55 Seit 1710 gehörte dazu auch ein »Kleiner Atlas scholasticus« mit Fragen des oben erwähnten Merseburger Schulrektors Johann Hübner. Spätere Auflagen erhöhten die Zahl der darin enthaltenen Karten auf bis zu 50. Andere Unterrichtsmaterialien stellten das topographische Wissen der Schüler mehr in den Vordergrund, wie der 1719 erschienene »Atlas methodicus«, und verzichteten auf die Grenzziehungen: Das Atlaswerk wies nur die Anfangsbuchstaben von Regional- und Ortsnamen aus, die die Schüler selbst zu komplettieren hatten.56 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierten sich in Wien Verlage, die eine große Konkurrenz für das führende Nürnberger Unternehmen darstellten. In mehreren Kartenverlagen wurden auch Schulatlanten hergestellt, die im Aufschwung der Realienkunde im Unterricht der Aufklärungszeit großen Absatz fanden. Der von Franz Johann Joseph von Reilly produzierte »Schulatlas« (1791) enthielt 42 Karten aller Erdteile und war im katholischen Reich weit verbreitet.57 Im gleichen Jahr gründete Friedrich Justin Bertuch das »LandesIndustrie Comptoir«, aus dem 1804 das Geographische Institut Weimar hervorging, das die führende Stelle des Homann’schen Verlags übernahm. In der Aufklärung gab es also – im Gegensatz zur Bekämpfung des Visuellen im Schulbuch – vermehrt die Möglichkeit, mittels Karten das Wissen um Herrschaftsgebiete, Staatsgrenzen und Staatengrößen an eine hohe Schülerzahl zu vermitteln. Die Kartenwerke waren wichtige Informationslieferanten für die räumliche Dimension von Herrschaft und für vergleichendes Wissen über Machtverhältnisse zwischen Königen, Fürsten und anderen Landesherren.58

54 Markus Heinz, Karten und Atlanten: der Schwerpunkt der Produktion, in: Diefenbacher (Bearb.), S. 122 – 137, hier S. 128. 55 Markus Heinz, Vielfalt und Aktualität: das Homännische Verlagsprogramm, in: Diefenbacher (Bearb.), S. 74 – 78, hier S. 76. 56 Heinz, Zeitungsleser, S. 118. 57 Vgl. auch für das Folgende Michael Ritter, Der Verlag von Matthäus Seutter in Augsburg und andere Konkurrenten im Deutschen Reich im 18. Jahrhundert, in: Diefenbacher (Bearb.), S. 186 – 195, hier S. 191 f., 194. 58 Zur Bedeutung der Kartographie für die grenzpolitische Kommunikation um 1800 vgl. den Beitrag von Ellinor Forster in diesem Band.

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5.

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Niederländische Schulbücher zum Vergleich

Die Zurückhaltung, die der Unterricht in höheren und niederen Schulen des Alten Reiches der zeitgenössischen Politik gegenüber zeigte, wird besonders deutlich, wenn man eine europäische Perspektive einnimmt und den Vergleich mit in anderen herrschaftlichen Kontexten produzierten Schulbüchern zieht. Hierbei wird das Beispiel der niederländischen Republik und ihres Schulwesens herangezogen. Vorauszuschicken ist, dass die europäische Schulbuchproduktion deutliche Gemeinsamkeiten aufweist: Überall spielten die humanistischsprachlichen und die religiös-konfessionellen Bezüge eine Hauptrolle. Autoren waren insbesondere philologisch und theologisch gebildete Schulpraktiker. Staatliche und vor allem kirchliche Vorschriften steckten den Rahmen des Unterrichtseinsatzes von Schulbüchern und deren Zulassung ab. Schulbücher waren in den Niederlanden kein Thema öffentlicher Politik. Es gab auch hier seit dem 16. Jahrhundert aus der Religionspolitik resultierende Vorschriften zum Gebrauch des Heidelberger Katechismus, den die Nationalsynode verpflichtend vorschrieb und dessen Druck von der reformierten Öffentlichkeitskirche kontrolliert wurde. Der Versuch, mit der »Hollandse Schoolordre« von 1625 die Lehrpläne der höheren Schulen zu vereinheitlichen und auf die Universität Leiden auszurichten, scheiterte am regionalen Widerstand. Anders als in den deutschen Territorien des Alten Reichs machten danach weder Obrigkeiten noch Kirchenleitungen in den Niederlanden Anstrengungen, den Schulbuchmarkt durch eigene Publikationen anzuregen. Vielmehr setzte man auf die Eigeninitiative von Schulmeistern, ihr Einkommen durch das Verfassen geeigneter Lehrerhandreichungen und Lehrmaterialien aufzubessern und überließ die Verbreitung dieser Texte dem freien Buchmarkt.59 Im höheren Lehrbetrieb waren wie überall in Europa griechische und lateinische Klassiker, Katechismen und gekürzte Bibelausgaben sowie Französisch- und Englischgrammatiken verbreitet, daneben aber auch Lehrbücher der Kalligraphie, der Redekunst, der Astronomie und der Nautik sowie Reisebeschreibungen. Wie auch in den deutschen protestantischen Territorien des Reichs verbreiterte sich an den städtischen nederduitse-Schulen im 17. Jahrhundert allmählich das Lehrangebot. Neben Lesen, Schreiben, Religionsunterricht und Rechnen traten realienkundliche Fächer wie Geschichte und Erdkunde. In den Schulbüchern hielten Abbildungen zur besseren Anschaulichkeit der Unterrichtsgegenstände Einzug, z. B. von Tieren, Pflanzen und Tätigkeiten im Alltag und Beruf.60 Die 59 Marieke van Doorninck / Erika Kuijpers, De geschoolde stad. Onderwijs in Amsterdam in de Gouden Eeuw, Amsterdam 1992, S. 34. 60 Nelleke Bakker / Jan Noordam / Marjoke Rietveld-van Wingerden, Vijf eeuwen opvoeden in Nederland. Idee & Praktijk 1500 – 2000, Assen 2006, S. 429 f. Eine Liste von gebräuchlichen

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Holzschnitte wurden durch Kupferstiche ersetzt, man konnte aber auch die billigere Fassung eines Lehrbuchs ohne die Abbildungen kaufen.61 Obwohl sich auch in den Niederlanden der Markt für muttersprachliche Schulbücher seit dem 17. Jahrhundert erheblich vergrößerte, setzten sich doch einige wenige populäre Werke besonders durch und waren weit verbreitet. Das durch den Leeuwardener Schulmeister Carel de Gelliers entworfene Schulbuch »Trap der jeugd«, 1640 erstmals erschienen, hatte wie die ABC-Bücher ein kleines Format, war jedoch mit 48 Seiten dreimal so umfangreich. Bis in das 19. Jahrhundert war es das beliebteste Schulbuch der Niederlande.62 Wie auf einer Treppe (trap) konnten die Schüler methodisch von einem Leistungsniveau im Lesen zu einem nächsten im Text fortschreiten. Fabeln, christliche Erzählungen, moralische Geschichten und Sprüche sollten den Kindern christliches Verhalten veranschaulichen. Der allgemeinbildende Teil des Textes beinhaltete verschiedene Arten von Briefen, Rechenaufgaben und eine geographisch-topographische Beschreibung von Friesland. In späteren Ausgaben für andere Provinzen wurde dieser Abschnitt regional angepasst und ergänzt.63 Auch andere Formen von »materieboekjes« wurden gebraucht, die ähnlich wie der »Trap de jeugd« die Schriftbilder mit religiösen und sittlichen Glaubens- und Verhaltensregeln sowie naturkundlichen Lehrinhalten mischten.64 Für unsere Frage nach der politischen Kommunikation ist die Behandlung der Geschichte im niederländischen Unterricht besonders beachtenswert. In anderen europäischen Ländern wurde Geschichte im späten 16. Jahrhundert Unterrichtsgegenstand der Lateinschulen, allerdings bezogen auf klassische Texte zur antiken Geschichte. Das niederländische Unterrichtswesen und die Schulbuchproduktion waren jedoch in weit höherem Ausmaß durch Geschichtsvermittlung geprägt. In den Niederlanden hieß Geschichtsunterricht vor allem: Geschichte der eigenen nationalen Staatsbildung im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien. Das von Johann van Heemskerk 1647 publizierte Lehrwerk »Batavische Arcadia« rief ausdrücklich dazu auf, den Kindern eher den achtzigjährigen Freiheitskrieg als Lehrbeispiel für das Leben vorzustellen als die damals populär werdenden Fabeltexte der Volksbüchertradition.65 Für die höheren niederländischen Schulen war im 16. Jahrhundert noch die

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niederländischen Typen von Schulbüchern findet sich bei Pieter J. Buijnsters, Nederlandse kinderboeken uit de achttiende eeuw, in: Harry Bekkering u. a. (Hg.), De hele Bibelebontse Berg. De geschiedenis van het kinderboek in Nederland & Vlaanderen van de middeleeuwen tot heden, Amsterdam 1990, S. 169 – 228, hier S. 173. Ebd., S. 174. John Exalto, Alphabet, Bibel, Katechismus. Das ABC der vormodernen Grundschule in den Niederlanden, in: Hellekamps / Le Cam / Conrad (Hg.), S. 65 – 77, hier S. 70. Bakker, S. 436. Doorninck / Kuijpers, S. 33. Buijnsters, S. 178.

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ältere »Kroniek van Holland« im Gebrauch, die dem Genre der spätmittelalterlichen Regentenchronik zuzuordnen ist.66 Für den propagandistischen Zweck einer auf den Unabhängigkeitskampf als Telos zulaufenden Geschichtsdeutung war dieses Buch allerdings ungeeignet und musste ersetzt werden. In dem 1614 erstmals erschienenen, anonymen »Spiegel der jeugd, ofte korte chronycke der Nedelandsche geschiedenis seer nut voor d’jongen jeught om in scholen gebruikt te worden« wurde die Geschichte in bewusst republikanischer Sicht dargestellt. Von dieser Schrift wurden zwischen 1620 und 1670 zwanzig Neuauflagen hergestellt, die ab 1620 den Untertitel »Spansche tyranny« trugen, der analog zu den außenpolitischen Konflikten nach 1650 durch »Engelse« bzw. »Fransche tyranny« ersetzt wurde. In der etablierten Textform eines Dialogs zwischen Vater und Sohn wurde die Geschichte des niederländischen Unabhängigkeitskampfes geschildert und als Hilfsmittel Illustrationen verwendet, was gegenüber den in Mitteleuropa häufig verwendeten Tabellenwerken als eine frühe Innovation auf dem Sektor der muttersprachlichen Schulbücher gewertet werden kann.67 Die Illustrationen zum Aufstand gegen Spanien entstammten überwiegend dem Bildmaterial, das die Gebrüder Hogenberg in der merianschen Druckwerkstatt in Frankfurt produziert hatten und das in Emmanuel van Meterens weit verbreitete Geschichte des Niederländischen Krieges eingeflossen war.68 Dazu gehörten Abbildungen, die die Schüler besonders durch Darstellungen von Kinderschicksalen zu beeinflussen versuchten, wie beispielsweise die Schilderung der Greuel bei der Eroberung Antwerpens durch spanische Truppen 1585. Zwei Abbildungen zeigen, wie Soldaten kleine Kinder an den Füßen packen und deren Köpfe an Wänden zerschmettern – eine Analogie zum bethlehemitischen Kindermord, den die Leser vielleicht aus Bibelausgaben kannten.69 Ein ähnliches Motiv findet sich in der Neufassung der Schrift »Franssche tyranny« von 1674: Französische Soldaten werfen ein Neugeborenes lebendig ins Kaminfeuer.70 Eine Kurzfassung der vaterländischen Geschichte beinhaltete auch das aus dem 18. Jahrhundert stammende Kinderbuch »Vermaak der jonkheyd«, das aus 78 ganzseitigen Holzschnitten bestand, die von den Besitzern selbst handkolo-

66 Doorninck / Kuijpers, S. 37. 67 Bakker, S. 437. 68 Abraham Hogenberg / Franz Hogenberg, Geschichtsblätter, Nördlingen 1983 (moderne Neuausgabe mit Neuordnung verschiedener Originalausgaben). 69 Nieuwe spieghel der jeugd, Amsterdam 1771, S. 91 f. (in anderen Ausgaben sind die Abbildungen ebenfalls vorhanden, allerdings zum Teil auf anderen Seiten). – Für den Hinweis auf den bethlehemitischen Kindermord danke ich Markus Neuwirth vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck. 70 Buijnsters, S. 183, bezieht sich auf »Nieuwe spieghel der jeugd of Fransche tryanny, Amsterdam 1674.«

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riert werden konnten.71 Zum Bildprogramm gehörten Darstellungen der oranischen Prinzen, die den »Staatsporträts« der Statthalter nachempfunden waren, mit ihrem Motto, also beispielsweise Prinz Friso in europäischer Herrschermanier auf einem aufsteigenden Pferd.72 Das Buch wurde noch im frühen 19. Jahrhundert nachgedruckt.73 Gegenüber dieser statthalterfreundlichen Publikation betonte das an der Patrioten-Bewegung orientierte »Vaderlandsch A-B boek voor de Nederlandsche jeugd« das Bild des Bürgers als politisch Verantwortlichen und Verteidiger der städtischen Freiheiten. Entsprechende Abbildungen städtischer Szenen mit Bürgerhaufen und Bürgermiliz prägten dieses Schulbuch.74 Für die niederländischen Geschichtserzählungen war die Verbindung zwischen nationaler und biblischer Historie typisch. Die Republik sollte nach calvinistisch-republikanischer Lesart als ›neues (protestantisches) Israel‹ in Parallele zum Bund des Alten Testaments zwischen Gott und seinem Volk aufgefasst werden. Hierzu wurde auch religiöse Literatur verwendet, auch wenn sie eher auf die Vermittlung von Frömmigkeit ausgerichtet war. Zur religiösen Erziehungsliteratur gehörten beispielsweise Berichte über protestantische Märtyrer, die der Inquisition zum Opfer fielen, so z. B. »Uyterste wille van Soetgen van den Houte«, erschienen 1699 in Amsterdam, in dem Leben und Testament einer 1560 im Gefängnis zu Gent gestorbenen Täuferin geschildert werden.75 Die von Adriaan Cornelius van Haemstede 1559 publizierte Sammlung »Historie der martelaren« wurde in zahlreichen Neuauflagen gedruckt und im Unterricht calvinistischer Lehrer gerne benutzt. In beiden Büchern finden sich als Frontispiz und in wenigen Illustrationen Darstellungen der einsam im Kerker sitzenden Gefangenen und ihrer Hinrichtungen, die der bekannte Amsterdamer Radierer Jan Luyken (1649 – 1712) herstellte.76

71 Vollständiger Titel: »Vermaak der jonkheyd/bestaande in verscheyde afbeeldinge van veelderlei figuuren, als menschen/beesten/vogelen/visschen etc. Zeer bekwaam voor de jeugd, om te leeren teekenen, schilderen, en alzo tot uwe playzier te gebruiken«, o.O., o.D. Ein Exemplar befindet sich im Niederländischen Freilichtmuseum in Arnheim. 72 Vgl. dazu die Abbildungen bei Buijnsters, S. 180. 73 Ebd., S. 182. 74 Ebd., S. 200 ff. 75 Annemarie van Toorn / Marijke Spies, Christen jeugd, leerd konst en deugd. De zeventiende eeuw, in: Harry Bekkering u.a (Hg.), S. 105 – 167, hier S. 149. 76 Exalto, S. 74. Zur Märtyrerikonographie der französischen Hugenotten und ihrem Wandel im Umfeld der Bartholomäusnacht von 1572 vgl. den Beitrag von Birgit Emich in diesem Band.

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Zusammenfassung

Zum Untersuchungsfeld ›frühneuzeitliche politische Kommunikation‹ zählt auch der Einsatz von visuellen Formen, die in bewusster Weise als Repräsentation von Herrschaft und zur Legitimation politischen Handelns benutzt wurden. Zu den Medien, die der Vermittlung solcher grundlegender Sichtweisen von Welt und Gesellschaft dienten, gehörten die frühneuzeitlichen Schulbücher. Seit dem späten 16. Jahrhundert, mit dem drucktechnischen Einsatz des billigeren Kupferstichs, wurden sie in größerem Umfang bebildert. In Hinsicht auf Unterrichtsmaterialien, die stark mit visuellen Mitteln arbeiteten, sind Kartenwerke (für Geographie), Geschichts- und Heraldikbücher, bebilderte ABCBücher, Katechismen und Bibelauszüge sowie bebilderte Kinderbibeln zu erwähnen. Während Karten- und Geschichtswerke mit der Ausnahme der Niederlande nur in den höheren Schulen benutzt wurden, waren Materialien für den Religionsunterricht überall weit verbreitet. Unterrichtsbezogene visuelle Darstellungen sollten das Erkennen und Erinnern politischer Symbolik unterstützen und hatten mnemotechnische Funktion (Emblematik). Bilder von Herrschaft wurden im Reich vor allem in Kontexten religiöser Erziehung präsentiert: Vorrangig waren es biblische Bezüge. Insbesondere Darstellungen biblischer Könige und ihrer Geschichte wurden zur Vermittlung von Normen und Tugenden bzw. ihrer Gefährdung gebraucht (Salomon, David, auch Herodes). Die visuelle Repräsentation in Schulbüchern diente daher vorwiegend der Vermittlung etablierter, nicht nur von sozialen Eliten geteilter Tugendlehren von guter Herrschaft und Gerechtigkeit. Diese Absicht wurde von einer Vielzahl von Schulbuchautoren geteilt, die diese Medien nicht in politischer Auftragsarbeit, sondern aus ökonomischen Gründen produzierten. Am Beispiel König Davids erscheint jedoch auch eine herrschaftskritische Perspektive. Im Kontrast zum Reich, wo gegenwartsbezogene Darstellungen von Politik nur in geringem Umfang, vor allem in Karten des Geographieunterrichts, Einzug in die Schulen hielten, lässt sich an der starken Berücksichtigung nationaler Geschichtserzählungen und -deutungen in der Niederländischen Republik ein Gegenmodell erkennen, das als Schulung zum politischen Sehen verstanden werden kann, allerdings in offen polemischer Absicht. Alle hier geschilderten Schulbücher waren keine durch Träger von Macht und Herrschaft entworfenen oder geprägten Texte, sondern von Unterrichtsspezialisten aus ökonomischen Gründen geschriebene Medien der Vermittlung von Wissen, Sicht- und Wahrnehmungsweisen. Es wäre verfehlt, sie als Auftragsarbeiten zu deuten. Vielmehr geben sie einen durch breite gesellschaftliche Eliten geteilten Werte- und Wissenskanon wieder, der sich in Wort und Bild finden lässt. Die visuellen Stilmittel sollten das Einprägen einzelner Elemente des Ka-

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nons erleichtern und gesellschaftliche Praktiken erfahrbar machen. Politisch waren Werte- und Wissenskanon insofern, als bei grundsätzlichem Vorrang religiöser und individuell-ethischer Momente auch allgemeine Herrschafts- und Gesellschaftsmodelle vermittelt wurden, besonders ihr symbolischer Gehalt und ihre Herrschaftsform (Monarchie bzw. Republik). Im Reich wurde dies nur sehr vorsichtig und in Distanz zum Feld der Politik zum Gegenstand gemacht, während in den niederländischen Schulen eine quasi modernere Auffassung von nationalgeschichtlicher politischer Indoktrination umgesetzt wurde.

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Bilder von Missionaren – Missionierung durch Bilder? Ein Beitrag zur (Selbst-)Darstellung des Jesuitenordens und seiner Missionare in der Kirche Sankt Ignatius in Iglau (Mähren)1

1.

Einleitung

Franz Xaver, der Apostel Indiens und Japans, repräsentiert so gut wie kein anderer Ordensheiliger die Missionstätigkeit der Gesellschaft Jesu. In der bildenden Kunst wird er meist bei der Taufe oder vor einer Menschenmenge mit einem Kruzifix in der Hand, das Evangelium verkündigend, dargestellt.2 Als Weggefährte von Ignatius von Loyola wird seine Figur gemeinsam mit der des Ordensgründers an der Fassade oder im Innenraum einer Kirche aufgestellt. Dabei nimmt der hl. Franz Xaver die Epistelseite ein, während dem hl. Ignatius die Evangelienseite vorbehalten ist.3 Ist die Kirche jedoch einem der beiden Heiligen geweiht, verschiebt sich diese Darstellung zugunsten des Patrons auf das Mittelschiff, wie es beispielsweise in der römischen Jesuitenkirche S. Ignazio der Fall ist. Dieses Vorgehen wurde in den verschiedensten Regionen praktiziert, so auch in der Jesuitenkirche Sankt Ignatius der mährischen Stadt Iglau. Dort sind neben dem Ordensgründer auch Jesuitenmissionare und -märtyrer im Langhaus dargestellt. Das Deckengemälde veranschaulicht den Sendungsauftrag des Ordens zur Weltmission, wie er bereits in den Gründungstexten des Jesuitenordens formuliert ist.4 Bereits seit der Gründung der böhmischen Ordensprovinz am 23. September 1623 trafen Briefe von Jesuiten mit der »Bitte um Entsendung in die Heidenmissionen« an die Generaloberen in Rom ein, doch wurden die böhmischen und 1 Für freundliche Hinweise bei der Entstehung dieses Beitrags danke ich Frau Prof. Dr. Sybille Appuhn-Radtke. 2 Vgl. Theodor Kurrus, Franz Xaver, in: Lexikon der christlichen Ikonographie (im Folgenden: LCI), 8 Bde., Rom / Freiburg / Basel 1968 – 76, hier LCI 6 (1974), Sp. 324 – 327. 3 Vgl. Julius Oswald, Ignatius von Loyola und Franz Xaver. Gründer und Heilige der Gesellschaft Jesu, in: ders. / Rita Haub (Hg.), Franz Xaver – Patron der Missionen. Festschrift zum 450. Todestag, Regensburg 2002, S. 39 – 59, hier S. 39. 4 Ignatius von Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. Deutsche Werkausgabe (im Folgenden: DW), Bd. 2, Würzburg 1998, S. 429 f.

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mährischen Jesuiten vorerst in der Heimat bei den Volksmissionen und im Lehrbetrieb benötigt.5 Selbst nachdem der Personalaufbau in Böhmen abgeschlossen war, konnten die Ordensmitglieder nicht zur Mission in Übersee ausgesandt werden, da sowohl Portugal als auch Spanien die Zulassung einschränkten. Erst 1664 kam es zur Aufhebung der Restriktionen.6 Dies hatte zur Folge, dass sich in »weniger als einem Jahrhundert […] rund 160 Angehörige der Provinz« in Missionsgebiete begaben.7 Als einer der ersten Missionare der böhmischen Ordensprovinz traf 1680 der Iglauer Jesuit Augustin Strobach (1646 – 1684) in Mexiko ein. Von dort segelte er auf die Marianischen Inseln,8 wo er 1684 von Einheimischen erschlagen wurde.9 Seine Gebeine wurden 1702 in die Iglauer Jesuitenkirche überführt.10 Dort soll er auch – neben weiteren Jesui5 Rudolf Grulich, Der Beitrag der böhmischen Länder zur Weltmission des 17. und 18. Jahrhunderts, Königstein Ts. 1981, S. 37, vgl. S. 18; vgl. Hermann Hoffmann, Schlesische, mährische und böhmische Jesuiten in der Heidenmission, Breslau 1939, S. 2. Für die deutsche Ordensprovinz erfolgte von Rom am 3. Januar 1562 der Bescheid, dass sie »überhaupt keine ihrer Mitglieder in die äußern Missionen senden solle, da sie in Deutschland selbst notwendiger seien« (Anton Huonder, Deutsche Jesuitenmissionäre des 17. und 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Missionsgeschichte und zur deutschen Biographie, Freiburg i. B. 1899, S. 10 f.). 6 Im 16. und 17. Jahrhundert hatte Rom die Missionierungsbemühungen in Übersee den spanischen und portugiesischen Königen übertragen. So kam es, dass die spanische und portugiesische Regierung die Auswahl der Missionare überwachten und bevorzugt »nur Landeskinder zur Mission« zuließen (Hoffmann, S. 4). Erst am 29. November 1664 konnte der Ordensgeneral Giovanni Paulo Oliva (1600 – 1681) in einem Rundschreiben verkünden, dass »der vierte Teil aller ausgesandter Missionare aus Nicht-Spaniern zusammengesetzt sein dürfe«. (Christoph Nebgen, Missionarsberufungen nach Übersee in drei Deutschen Provinzen der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert, Regensburg 2007, S. 52); vgl. hierzu auch Huonder, Deutsche Jesuitenmissionäre, S. 15 ff. 7 Grulich, S. 38; vgl. Hoffmann, S. 4 f. 8 Es handelt sich bei den Marianen um eine Inselgruppe im Pazifik, auf der die Jesuiten seit 1668 missionierten. Ihren Namen erhielt die Inselgruppe zu Ehren der Königin Maria Anna von Österreich. Vgl. Ludwig Koch, Marianen, in: ders., Jesuiten-Lexikon. Die Gesellschaft Jesu einst und jetzt, Paderborn 1934, Sp. 1165 – 1166. 9 Vgl. Grulich, S. 42 f., 92 f., 102, 160 f.; Hoffmann, S. 52 f.; Augustin de Backer / Aloys de Backer, Strobach, Augustin, in: BibliothÀque de la compagnie de J¦sus, hrsg. von Carlos Sommervogel, Bd. 7, Brüssel / Paris 1896, Sp. 1644 – 1645; Emmanuel de Boye, Vita et obitus venerabilis patris Augustini Strobach À Societate Jesu, ex provincia Bohemiae pro insulis Marianis electi missionarii, et — rebellibus Sanctae Fidei in iisdem insulis barbarÀ trucidati anno 1684 mense Augusto, Olmütz 1691. 10 Vgl. Petra Nev†mov‚ / Dusˇan Folty´n, Jihlava. By´val‚ kolej jesuitu˚ s kostelem sv. Ign‚ce, semin‚rˇem sv. Michala a gymnasiem, docˇasneˇ konvent dominik‚nu˚ [Iglau. Ehemaliges Jesuitenkonvent mit der Kirche hl. Ignatius, dem Seminar hl. Michael und dem Gymnasium, vorübergehendes Dominikanerkonvent], in: Dusˇan Folty´n u. a., Encyklopedie moravsky´ch a slezsky´ch kl‚sˇteru˚ [Enzyklopädie mährischer und schlesischer Klöster], Prag 2005, S. 352 – 356, hier S. 353; Milan M. Buben, Encyklopedie ˇr‚du˚, kongregac† a rˇeholn†ch spolecˇnost† katolick¦ c†rkve v cˇesky´ch zem†ch [Enzyklopädie der Orden, Kongregationen und Ordensgemeinschaften der katholischen Kirchen in den böhmischen Ländern], Bd. 4.3, Prag 2012, S. 324.

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tenmissionaren und Ignatius von Loyola – auf dem 1717 entstandenen Deckenfresko der Kirche verewigt worden sein.11 Das Deckengemälde in Iglau nimmt Andrea Pozzos Darstellung der Weltmission in S. Ignazio – ein Motiv, das auch durch die Graphik weite Verbreitung fand – wieder auf. Zugleich sind bei der Ausgestaltung des Themas deutliche Unterschiede zwischen den Deckenfresken in der böhmischen Ordensprovinz und in Rom bzw. den graphischen Vorlagen festzustellen. Diese Divergenz soll im Folgenden herausgearbeitet und erläutert werden. Dabei soll im Kontext der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen politischer Kommunikation und visuellen Medien analysiert werden, inwiefern durch die Bezugnahme auf bildliche Vorlagen eine kollektive Identität hergestellt und die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft Jesu zum Handeln aufgefordert wurden. So soll am Beispiel der Iglauer Jesuitenkirche erörtert werden, wie die Gesellschaft Jesu in dem Deckengemälde den Geltungsanspruch für sich reklamierte, zur Weltmission berufen zu sein, und durch diese Darstellungen neue Missionare gewinnen konnte. Da die Deckenfresken im Zuge der Neugestaltung des Hochaltars jedoch 50 Jahre später übermalt wurden, muss auch gefragt werden, ob mit der Übermalung nur die »technische Ungeschicktheit«12 in der Ausführung korrigiert oder ob dadurch nicht vielmehr die Aussage der Deckenfresken an zeitgenössische Gegebenheiten und ein verändertes Selbstverständnis angepasst werden sollte. Um diese Punkte genauer zu beleuchten, wird sich dieser Beitrag den Iglauer Fresken in drei Abschnitten nähern: Im ersten soll der Sendungsauftrag des Jesuitenordens im Allgemeinen und die Situation in der böhmischen Provinz im Besonderen aufgezeigt werden. Im zweiten wird das Deckenfresko der Iglauer Jesuitenkirche auf seine möglichen Vorlagen und Aussagen untersucht. Abschließend werden die Gründe für die Übermalung aufgezeigt und dargelegt, welche Folgerungen sich daraus für das Selbstverständnis und den Sendungsauftrag des Jesuitenordens in Iglau ablesen lassen. Da die Fresken bisher jedoch 11 Vgl. Jirˇ† Uhl†rˇ, Karel Frantisˇek Tepper. Z‚padomoravsky´ barokn† mal†rˇ [Karl Franz Töpper. Westmährischer Barockmaler], in: Z‚padn† Morava [Westliches Mähren] 4 (2000), S. 17 – 44, hier S. 21. Jan Petr Cerroni hält fest, dass die Kirche 1717 von Töpper »in fresco« ausgeführt worden sei. Ders., Skitze Einer Geschichte der bildenden Künste in Mähren. Erste Abtheilung. 1807 [Handschrift], Mährisches Landesarchiv in Brünn [Moravsky´ zemsky´ archiv, im Folgenden: MZA], G 12, Cerr I–32, 209r. Es ist allerdings aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes der Deckengemälde und der unzureichenden Forschungslage nicht möglich festzustellen, wo die Malereien al fresco oder al secco aufgetragen wurden. Wenn im Folgenden der Begriff »Fresko« verwendet wird, muss beachtet werden, dass die Malerei nicht nur Fresko-, sondern wahrscheinlich auch Secco-Anteile enthält. 12 Michaela Sˇeferisov‚ Loudov‚, Wandmalerei um 1700 in der Stadt Jihlava (Iglau). Bürger als Mäzene, Bürger als Publikum, in: Acta historiae artis slovenica 16/1 – 2 (2011), S. 181¢193, hier S. 187.

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noch nicht eingehend untersucht wurden, kann dieser Beitrag nur als Versuch einer vorläufigen Interpretation betrachtet werden.13

2.

Der Sendungsauftrag des Jesuitenordens – »in urbe et in orbe et in urbe Iglavae«

Es gibt wohl kein Werk, das die Weltmission der Gesellschaft Jesu eindrucksvoller veranschaulicht als das bereits erwähnte Deckenfresko der Jesuitenkirche S. Ignazio in Rom. Der Maler Andrea Pozzo stellte im Langhaus – eingebettet in eine gigantische Scheinarchitektur – die Weltmission des Jesuitenordens dar. Im Zentrum schwebt der Ordensgründer Ignatius von Loyola, der einen aus der Seite Christi auf ihn fallenden Lichtstrahl an die vier Erdteile weiterleitet. Zwar hat Ignatius – im Gegensatz zu seinen Mitbrüdern – nie in Übersee missioniert, aber der »spirituelle Ursprung der Jesuitenmissionen, verstanden als missionarische Unternehmungen vor allem in außereuropäischen Kulturen, liegt in der bei Ignatius biographisch wirksamen Idee der apostolischen Pilgerschaft« begründet.14 Denn der Ordensgründer und seine ersten Mitbrüder setzten sich früh die Missionsarbeit im Heiligen Land zum Ziel. Als dies wegen der Türkenkriege scheiterte, begaben sie sich nach Rom, um sich ganz in den Dienst des Papstes zu stellen.15 So kam es, dass Ignatius seinen »Hauptsitz« in urbe nahm, doch beschränkte er seine Tätigkeit nicht auf die Stadt Rom, sondern lenkte von hier die »weltweiten Unternehmungen« in orbe. Damit fügte er den Arbeitsfeldern Seelsorge und Pädagogik das der globalen Missionstätigkeit des Ordens hinzu und sandte schon zu »seinen Lebzeiten Missionare auf alle damals bekannten Kontinente […], nach Asien […], Amerika […] und Afrika« – aber auch nach Europa, das spätestens seit Luthers Lehren in Glaubensfragen immer gespaltener (und daher aus Sicht der Katholiken missionsbedürftig) war.16 Festgeschrieben wurde dieses apostolische Prinzip der Sendung in den Satzungen des Ordens, wo es als Berufung betrachtet wird, »über die Welt hin unterwegs zu sein […] und so in der Folge unterwegs zu sein durch Städte und 13 Jüngste Interpretationen: Michaela Trl†kov‚, N‚steˇnn‚ malba v d†le Karla Frantisˇka Anton†na Teppera [Wandmalerei im Werk Karl Franz Anton Töppers] (Magisterarbeit), Brünn 2011, bes. S. 12 – 23; Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 186 – 192. 14 Michael Sievernich, Von der Akkomodation zur Inkulturation. Missionarische Leitideen der Gesellschaft Jesu, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 86/4 (2002), S. 260 – 276, hier S. 261. 15 Vgl. Oswald, S. 45 ff. 16 Michael Sievernich, Ignatius von Loyola und die Städte der Welt, in: Geist und Leben 73 (2000), S. 164 – 178, hier S. 171.

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andere einzelne Orte zu größerer Ehre Gottes unseres Herrn und zu größerem geistlichen Vorteil der Seelen«.17 In der Charta des Jesuitenordens, der »Formula Instituti«, die auch in der Bulle »Regimini militantis ecclesiae« von Papst Paul III. am 27. September 1540 übernommen und zehn Jahre später, am 21. Juli 1550, von Papst Julius III. in der Bulle »Exposcit debitum« in veränderter Form bestätigt wurde,18 wird das Ziel der Gesellschaft Jesu als »Fortschritt der Seelen in Leben und christlicher Lehre« und als »Verbreitung des Glaubens« formuliert.19 In der »Formula Instituti« geloben die Mitglieder des Jesuitenordens auch ihren Gehorsam gegenüber dem Papst, ganz gleich, ob er sie »zu den Türken […] oder zum neuen Erdkreis oder zu Lutheranern oder zu welchen anderen Ungläubigen oder Gläubigen auch immer« senden wird.20 Gerade diese Ungläubigen sollten die Jesuiten auch in Böhmen bekämpfen, wo die Protestanten die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Deshalb wandte sich König Ferdinand I. (1503 – 1564) in einem Brief vom 20. Oktober 1554 an Ignatius von Loyola. Darin bat er ihn, auch in Prag ein Kolleg einzurichten und zu diesem Zweck zwölf Brüder zu entsenden. Diese sollten die in Prag grassierenden Häresien bekämpfen und die orthodoxe katholische Religion lehren und verbreiten.21 Einen Monat darauf, am 22. November 1554, antwortete Ignatius dem König und versprach, die angeforderten Brüder in die böhmische Hauptstadt zu entsenden.22 Keine zwei Jahre später, am 21. April 1556, trafen dort die ersten zwölf Jesuiten ein und bezogen das ehemalige Dominikanerkloster

17 Ignatius von Loyola, DW 2, S. 430 (Hervorhebung im Original); vgl. ebd. Satzungen Nr. 304, S. 674; Nr. 605, S. 575; vgl. Sievernich, Akkomodation, S. 261. 18 Ignatius von Loyola, DW 2, S. 303. Ein Überblick über die unterschiedlichen Versionen der Satzungen finden sich auf S. 303 – 320. 19 Ignatius von Loyola, DW 2, S. 304; vgl. auch S. 308; vgl. Sievernich, Akkomodation, S. 261. 20 Ignatius von Loyola, DW 2, S. 309 (Hervorhebung im Original); Sievernich, Akkomodation, S. 261 f. Sievernich erläutert darüber hinaus: »Der globalen Ausweitung des missionarischen Handlungsfeldes entspricht die Unterstellung unter die universale Autorität des jeweiligen Papstes, dem sich Jesuiten durch ein besonderes ›viertes Gelübde‹ (über die drei für Ordensleute üblichen hinaus) für ›Sendungen‹ zur Verfügung stellen. Das Gelübde des besonderen Papstgehorsams der Jesuiten bezieht sich auf die ›Sendungen (circa missiones)‹ durch den Stellvertreter Christi und hat zum Ziel, die Mitglieder der Gesellschaft Jesu in verschiedene […] Gebiete der Welt zu zerstreuen, wo der Verherrlichung Gottes und dem Wohl der Menschen am besten gedient ist […]« (S. 262). 21 Vgl. Sanctus Ignatius de Loyola, Societatis Jesu fundatoris, epistolae et instructiones 1554 (Monumenta Ignatiana), Bd. 8, Madrid 1909 (Nachdruck Rom 1966), S. 80; Alois Kröss, Geschichte der Böhmischen Provinz der Gesellschaft Jesu, Bd. 1: Geschichte der ersten Kollegien in Böhmen, Mähren und Glatz. Von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung durch die böhmischen Stände 1556 – 1619, Wien 1910, S. 3, 18 f.; Michael Sievernich, Die urbane Option des Ignatius von Loyola am Beispiel der Metropole Prag, in: Petronilla Cemus (Hg.), Bohemia Jesuitica 1556 – 2006, Bd. 1, Prag 2010, S. 173 – 192, hier S. 181. 22 Vgl. Sanctus Ignatius de Loyola, S. 78 f.

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St. Clemens im Zentrum Prags.23 Weitere Ordensniederlassungen folgten auch in Mähren. So kamen die ersten Jesuiten 1566 nach Olmütz und 1572 nach Brünn, von wo aus sie sich weiter verbreiteten. In Iglau, einer mährischen Stadt an der Grenze zu Böhmen, die im Mittelalter besonders durch den Bergbau und in der Frühen Neuzeit durch das Tuchgewerbe zu Wohlstand gelangt war, trafen die ersten zwei Jesuiten mit Hilfe des Kardinals Franz von Dietrichstein am 10. September 1618 ein. Doch trotz der Unterstützung des Kardinals stießen die Jesuiten in der Stadt, die damals eine deutsche Sprachinsel war, auf heftigen Widerstand: Zum einen war die Mehrheit der Einwohner Iglaus protestantisch und ließ »ihre Kinder in Wittenberg studieren […], um echtprotestantische Prediger aus ihrer Mitte« zu haben.24 Zum anderen wurden die beiden Ordensmitglieder – wie alle Jesuiten in Mähren – bereits ein Jahr nach ihrer Ankunft von den böhmischen Ständen aus der Stadt vertrieben.25 Allerdings wurde Iglau 1620 – nach der siegreichen Schlacht am Weißen Berg – von den kaiserlichen Truppen besetzt »und die Einwohner, welche nicht zum katholischen Glauben zurück kehrten, mußten das Land meiden«.26 In diesem Zuge kamen auch die Jesuiten wieder nach Mähren. In Iglau konnten sie sich jedoch erst im Jahr 1625 niederlassen, nachdem die finanziellen und räumlichen Fragen für die Errichtung eines Kollegs geklärt waren. 1624 legte Feldmarschall Michael Adolf Graf von Althann auf Goldburg und Murstetten (1574 – 1636) mit einer großzügigen Stiftung die Grundlage dafür. Im Jahr darauf, am 23. August 1625, wies Kaiser Ferdinand II. der Gesellschaft Jesu einen Bauplatz für die Kirche, das Kolleg, die Schule und das Seminar zu, so dass am 28. August desselben Jahres die Jesuiten feierlich in die Stadt Iglau eingeführt werden konnten, wie Johannes Miller berichtet: »Patres Societatis JESU, extraordinario[rum] omni[m] ordinum apparatu Iglaviam introduxit«.27 Ende September 1625 nahmen die Jesuiten unter provisorischen

23 Sievernich, Die urbane Option, S. 182 f. Zur Geschichte des Jesuitenordens und seiner Verbreitung in Böhmen und Mähren vgl. Buben, S. 173 – 197; Kröss, Geschichte der Böhmischen Provinz, Bd. 1, S. 1 – 30; Petr Havl†cˇek, Einleitung in das Kapitel: Geschichte der Jesuiten in Böhmen, in: Cemus (Hg.), S. 169 – 172; Albert Kubisˇta, Die Berufung des Jesuitenordens nach Böhmen und die Anfänge der Tätigkeit des Ordens, in: Rolf Decot (Hg.), Konfessionskonflikt, Kirchenstruktur, Kulturwandel. Die Jesuiten im Reich nach 1556, Mainz 2007, S. 87 – 97. 24 Gregor Wolny, Die Markgrafschaft Mähren, geographisch, statistisch und historisch geschildert. Iglauer Kreis und mährische Enklaven, Bd. 6, Brünn 1842, S. 30. Zur konfessionellen Situation in Iglau: Christian d’Elvert, Geschichte und Beschreibung der (königlichen Kreis-) und Bergstadt Iglau in Mähren, Brünn 1850, S. 156 – 183. 25 Vgl. Buben, S. 321; Kröss, Geschichte der Böhmischen Provinz, Bd. 1, S. 953 – 971. 26 Wolny, S. 31. 27 Johannes Miller, Historia provinciae Bohemiae Societatis Iesu ab anno 1555 usque ad annum 1723. Prolegomena, liber I., II., III., Prag, 486 (Handschrift). Die Handschrift wird in der

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Bedingungen ihren Unterricht am Gymnasium auf; zwei Monate später hatten sie bereits 200 Schüler. Mit dem Bau des Komplexes konnten die Ordensbrüder jedoch aufgrund der Wirren des Dreißigjährigen Krieges und der Belagerung der Schweden erst von der Mitte des 17. Jahrhunderts an beginnen.28

3.

Der Bau und die Ausstattung der Jesuitenkirche Sankt Ignatius in Iglau

Der Grundstein für die neue Kirche wurde am 31. Juli 1681 und damit am Fest des hl. Ignatius von Loyola gelegt.29 Die Bauleitung übernahm Johann Jakob (Giacomo) Brascha, der wahrscheinlich auch für den Entwurf der Kirche verantwortlich war.30 Die Bauarbeiten zogen sich unter anderem wegen Geldmangels lange hin. Zwar konnte am 31. Juli 1689 die erste Messe gefeiert werden, geweiht wurde die Kirche indes erst 1740, da lange der Verputz, das Gewölbe und die Inneneinrichtung fehlten. Parallel zu den Bauarbeiten der Ordenskirche wurde 1699 mit dem Bau des sich an die Kirche anschließenden Kollegs begonnen.31 Die Arbeiten wurden 1713 abgeschlossen.32 Die Fassade des Kollegs, das sich nördlich an die Kirche anschließt, nimmt die weiße Kirchenfassade mit den Pilastern und roten Kapitellen wieder auf, so dass der Komplex eine Einheit bildet. Die Schauseite der Wandpfeilerkirche wird durch eine Doppelturmfassade mit vorspringendem Mittelrisalit und abschließendem Frontispiz gegliedert. Das Langhaus im Kircheninneren wird von einem

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ˇ esk¦ republiky] in Prag aufbewahrt, Tschechischen Nationalbibliothek [N‚rodn† knihovna C XXIII.C.104/1 (XXIII.C.104a). Zur Gründung und Einrichtung des Jesuitenkollegs in Iglau: Buben, S. 321 ff.; Nev†mov‚ / Folty´n, S. 352 ff.; Koch, Iglau, in: ders., Jesuiten-Lexikon, Sp. 837. Vgl. Vera Schauber / Hanns Michael Schindler, Heilige und Namenspatrone im Jahresverlauf, Augsburg 1998, S. 393 ff. Der Vertrag zwischen Brascha und dem Rektor des Jesuitenkollegs, Christopherus Helffer, wird im MZA aufbewahrt: Jesuit¦ v Jihlaveˇ 1556 – 1773 [Jesuiten in Iglau], E 27, FA 11. Ungeklärt ist noch, ob am Bau der Kirche auch Agostino Brasch, der Bruder von Johann Jakob Brascha, beteiligt war ; vgl. hierzu Vojen Drl†k, Stavebn† cˇinnost Jacoba Braschy na Moraveˇ a ve Slezsku ve trˇet† cˇtvrtineˇ 17. stolet† [Die Bautätigkeit Jacob Braschas in Mähren und Schlesien im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts], in: Vlastiveˇdny´ veˇstn†k moravsky´ [Heimatkundliche mährische Mitteilung] 14 (1972), S. 59 – 66. Vgl. Miller, 483 – 497. Vgl. zum Bau des Kollegs, des Gymnasiums und der Kirche: Buben, S. 323; Alois Kröss, Geschichte der Böhmischen Provinz der Gesellschaft Jesu, Bd. 3: Die Zeit von 1657 bis zur Aufhebung der Gesellschaft Jesu im Jahre 1773, Olmütz 2012, S. 52 f., 737 f.; Bohumil Samek, Jezuitsk‚ kolej, semin‚rˇ, gymn‚zium a kostel sv. Ign‚ce [Jesuitenkolleg, Gymnasium und die Kirche Sankt Ignatius], in: ders., Umeˇleck¦ pam‚tky Moravy a Slezska [Künstlerische Denkmäler Mährens und Schlesiens] 2 (J¢N), Prag 1999, S. 96 – 99; Zdeneˇk Jarosˇ, Jihlavsk¦ nemovit¦ pam‚tky [Iglaus unbewegliche Denkmäler], Jihlava 2002, S. 44 – 48.

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Tonnengewölbe überdacht und durch Stichkappen beleuchtet. Das Mittelschiff ist durch zwei Triumphbögen in ein Eingangsjoch, drei durch Gurtbögen unterteilte Gewölbefelder und den eingezogenen Chor gegliedert (Abb. 1).33

Abb. 1: Carl Franz Anton Töpper, Gewölbefläche, Langhaus, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1717.

Anstelle von Seitenschiffen öffnen sich Kapellennischen, die von Emporen überspannt werden. Der zwei Joche lange Altarraum wird an den Seiten von der Sakristei und einer Kapelle flankiert und schließt mit einem geraden Chor ab. 33 Bezüglich der Fotografie- und Publikationsgenehmigung der Jesuitenkirche in Iglau danke ich der Königlichen Prämonstratenserkanonie Strahov. Abb. 1 – 4, 9 – 11, 12 rechts: Katrin Sterba.

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Die Deckenfresken wurden von dem Maler Carl Franz Anton Töpper (1681 – 1738) aus Groß-Meseritsch 1717 ausgeführt, wie die Jahreszahl am Triumphbogen zur Orgelempore belegt.34 Neben der Jahreszahl erscheinen auch die Wappen der Mäzene, des Iglauer Bürgers Franz Campion und seiner Frau Barbara.35 Ergänzt werden die Wappen durch ein Spruchband mit der Aufschrift: »IOANNES CAMPION DOMINVS FRANCISCVS PRÆNOBILIS AREN. [A] ET ANNA BARBARA EIUS CONIUX PINGI FECERE 1717«. Wie jedoch bereits Michaela Sˇeferisov‚ Loudov‚ festgestellt hat, ist nicht davon auszugehen, dass die Mäzene zugleich auch die Inventoren des Programms waren.36 Wahrscheinlicher ist, dass der damalige Rektor des Jesuitenkollegs, Franz Felsmann (1672 – 1736), der das Kolleg von 1716 bis 1719 leitete, das Programm festlegte.37 Im Deckenfresko fallen mehrere Themen zusammen: der Sendungsauftrag des Jesuitenordens, die Verehrung des Ignatius von Loyola und die Verehrung des Namens Jesu.38 Auf dem Triumphbogen zum Altarraum wurde eine Kartusche mit den Buchstaben O. A. M. D. G. (»Omnia ad maiorem Dei gloriam«)39 aufgemalt. An der Decke des Presbyteriums erscheint auf gelb-grauem Wolkengrund und von einem Strahlenkranz umgeben die Taube des Heiligen Geistes. Um sie herum schweben zwei Engel und Puttenköpfe (Abb. 2). Das Mittelschiff wird durch zwei Gurtbögen in drei Felder unterteilt, die durch den blauen Untergrund miteinander verbunden sind. Im östlichsten Feld

34 Zum Künstler Carl Franz Anton Töpper siehe: Jan Petr Cerroni, Skitze Einer Geschichte der bildenden Künste in Mähren. Zweyte Abtheilung. 1807 (Handschrift), MZA, G 12, Cerr I–34, 288r.–290r.; Edmund Wilhelm Braun, Töpper (Tepper) Carl Franz A., in: Hans Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 33, Leipzig 1999, S. 241. 35 Franz Campion aus Arena förderte die Jesuiten sehr und wurde, nachdem er 1734 gestorben war, in der Gruft der Jesuitenkirche begraben. Nach dem Tod seiner Gattin Barbara Campion, geborene Steyerer von Stürzenhübl, erbten die Jesuiten sein gesamtes Vermögen. Vgl. Jan Petr Cerroni, Denkmäler des patrizischen Adels in der kön. Stadt Iglau. 1787 (Handschrift), MZA, G 12, Cerr I–24, 22r.; Jan Petr Cerroni, Wapen und Grabschriften Iglauer adeliger Familien (Handschrift), MZA, G 12, Cerr II–398, 13 und 145; Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 186 f. 36 Vgl. Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 186. 37 Vgl. Anna Fechtnerov‚, Rektores Collegiorum Societatis Iesu in Bohemia, Moravia ac Silesia usque ad annum MDCCLXXIII iacentum, Pars II. – Moravia, Silesia, Pragae MXMIII, S. 381. Michaela Sˇeferisov‚ Loudov‚ / Pavel Such‚nek, Mal†rˇstv† a socharˇstv† [Maler und Bildhauer], in: Renata Piskov‚ u. a., Jihlava. Historie, kultura, lid¦. Deˇjiny moravsky´ch meˇst [Iglau. Geschichte, Kultur, Menschen. Geschichten mährischer Städte], Prag 2009, S. 400 – 415, hier S. 413. 38 Vgl. Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 187; Jarosˇ, S. 45. 39 Vgl. Koch, Alles zur größeren Ehre Gottes, in: ders., Jesuiten-Lexikon, Sp. 40 – 41.

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Abb. 2: Carl Franz Anton Töpper, Gewölbefläche, Chor, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1717.

ist der (spiegelverkehrte) Name Jesu, IHS, mit dem Kreuz und den drei Nägeln auf rotem Flammengrund zu sehen (Abb. 3).40 Von dem Monogramm gehen goldene Strahlen aus, die von Engeln in den Stichkappen aufgefangen und weitergeleitet werden. So lenkt der nördliche mit Hilfe eines Spiegels, der mit dem Marienmonogramm verziert ist, die Strahlen auf die aufgeschlagenen Seiten eines Buches, bei dem es sich um die »Exercitia« des Ignatius von Loyola handelt, wie die Buchstaben auf den geöffneten Seiten verraten. Der südliche hingegen lässt die Strahlen durch das Dreieck der Heiligsten Dreifaltigkeit auf ein geschlossenes Buch fallen, auf dessen Buchrücken eine Lampe entzündet wird. Ein aus dem Buch hinausragendes Schriftband weist es als das Evangelium aus (Abb. 4).41 40 Zum IHS-Monogramm siehe Sibylle Appuhn-Radtke, Innovation durch Tradition. Zur Aktualisierung mittelalterlicher Bildmotive in der Ikonographie der Jesuiten, in: Herbert Karner / Werner Telesko (Hg.), Die Jesuiten in Wien. Zur Kunst- und Kulturgeschichte der österreichischen Ordensprovinz der »Gesellschaft Jesu« im 17. und 18. Jahrhundert, Wien 2003, S. 243 – 259; Christine Schneider, Kirche und Kolleg der Jesuiten in Dillingen an der Donau. Studien zu den spätbarocken Bildprogrammen. »UT IN NOMINE IESU OMNE GENU FLECTATUR«, Regensburg 2014, bes. S. 181 – 185. 41 Vgl. Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 190.

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Abb. 3: Carl Franz Anton Töpper, Details des IHS-Monogramms, des hl. Ignatius und der entflammten Weltkugel in der Gewölbefläche, Langhaus, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1717.

Der rote Flammenstrahl des Monogramms durchdringt im zweiten Feld den knienden Ignatius, von dessen Herz wieder Strahlen ausgehen, die von einem Putto mit einem Stück Kohle aufgefangen werden. Der als Priester in die Kasel gehüllte Heilige, dessen Kopf ein Strahlennimbus umgibt, blickt zum Namen Jesu auf und deutet mit der linken Hand auf sein entflammtes Herz.42 Putti 42 Vgl. Friederike Werner, Ignatius von Loyola, in: LCI 6 (1974), Sp. 568 – 573; C‚ndido de Dalmases / Jos¦ Mart†nez de la Escalera, Generales de la CJ. Ignacio de Loyola, in: Diccionario histûrico de la compadža de Jesffls, Bd. 2, Rom / Madrid 2001, S. 1595 – 1601; Koch, Ignatius von Loyola, in: ders., Jesuiten-Lexikon, Sp. 837 – 853.

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Abb. 4: Carl Franz Anton Töpper, Details der Exercitia (links) und des Evangeliums (rechts) in der nordöstlichen Gewölbefläche, Langhaus, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1717.

dienen ihm als Ministranten: Der eine hält sein Birett, der andere präsentiert ihm das Evangeliar (Abb. 3). Was Ignatius liest, verkündet ein flatterndes Spruchband: »Ignem veni mittere in terram, et quid volo nisi ut accendatur« (»Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen und wie wünschte ich, dass es schon entfacht wäre!«, Lk 12,49). Damit nimmt das Fresko das Thema der Weltmission, wie es Pozzo im Langhausfresko von S. Ignazio dargestellt hat, wieder auf. Auch dort erscheint der Vers aus dem Lukasevangelium an den Schmalseiten. Doch im Gegensatz zu Pozzos Fresko erreicht das Feuer hier nicht die vier Erdteilallegorien,43 sondern setzt die ganze Erdkugel im dritten Joch in Brand. Um die von roten Flammen umgebene Erdkugel fliegen – wie auch im mittleren Joch – Putti und Engel mit Fackeln, Kerzen und Lampen in den Händen, um das Feuer des Glaubens zu verbreiten (Abb. 11). Diese Aufgabe haben auch die Putti auf den Gurtbögen. Ergänzt wird die Szene am Langhausfresko von Jesuitenmissionaren, deren Wirken in den westlichen vier 43 Sabine Poeschel (Studien zur Ikonographie der Erdteile in der Kunst des 16.–18. Jahrhunderts, Augsburg 1985) weist darauf hin, dass »die Kontinente in den Zyklen der bildenden Kunst in Form von Allegorien [erscheinen], d. h. als Personifikationen mit den sie ausweisenden Attributen, z. T. auch mit Assistenzfiguren, die demnach als Vertreter der Bewohner der jeweiligen Kontinente figurieren. Sie sind also Sinnbilder und keine realistischen Abbilder der Erdbewohner und ihrer Lebensumstände in den verschiedenen Bereichen« (S. 1).

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Stichkappen dargestellt wird. Über der Orgelempore schweben – thematisch passend – Engel und Putti mit Musikinstrumenten und Notenblättern. Im Gegensatz zu Pozzo hat Töpper die Szene nicht in eine gigantische Scheinarchitektur, sondern in einen unbestimmten blauen Himmel mit grauen Wolken versetzt, nur in der unteren Zone der ersten beiden Joche sind Pflanzen erkennbar. Allerdings wird dadurch keine räumliche Tiefe erzeugt, auch deshalb nicht, weil die Tiefenwirkung mit der Orientierung auf das Monogramm nicht auf die Vertikale, sondern auf die Horizontale ausgerichtet ist. Ganz anders dagegen Pozzos Darstellung, in der Ignatius durch einen Lichtstrahl des in einer fernen Lichtsphäre über ihm schwebenden Christus getroffen wird. Christus in Begleitung von Gottvater und der Taube des Heiligen Geistes im Hintergrund hält das Kreuz im Arm und lässt den Lichtstrahl von seiner Seite auf den Ordensgründer und auf das IHS-Monogramm im Hohlspiegel fallen. Von Ignatius wird der Strahl auf die Allegorien der vier Erdteile verteilt, von denen Missionare und Heilige dem Ordensgründer entgegenschweben. So steigt der hl. Franz Xaver dem hl. Ignatius in Begleitung von Konvertiten – Indianer mit Federschmuck und Köcher – von der Allegorie Asiens entgegen. Pozzo hat die Wahl des Lukasevangeliums – die ihm sicherlich vorgegeben war – in einem Brief an Fürst Anton Florian von Liechtenstein selbst erläutert: »Passenderweise ist dieses Wort von der heiligen Kirche auf den hl. Ignatius bezogen worden, […] denn er war immer höchst eifrig bemüht, die katholische Religion und das Licht des Evangeliums in die ganze Welt zu verbreiten, wobei er sich der Tätigkeit seiner Gefährten und seiner Söhne bediente, die er dabei oftmals mit jenen berühmten Worten anfeuerte: Geht, entzündet und entflammt alles. Aber weil es jedem Feuer und jedem himmlischen Licht zukommt, dass es vom Vater des Lichts hervorgeht, daher habe ich in der Mitte der Decke ein Bild Jesu gemalt; dieser sendet einen Lichtstrahl zum Herzen des Ignatius, der danach, von ihm weitergeleitet, zu den weiter entfernten Bereichen der vier Erdteile gelangt […]. […] Welches Ziel aber der Allerhöchste hatte, als er dem lgnatius eine so große Fülle von Licht zuteil werden ließ, zeigt sich ausdrücklich für jeden, der nachdenkt, darin, dass von der Brust des Erlösers ein weiterer Strahl ausgeht, der zu einem Wappenschild gelangt, in dem man den Namen Jesu eingeprägt sieht, die Krone des Lichts. Das bedeutet, dass der Erlöser, der die Glorie seines Namens im Sinn hat, darauf abzielt, den hl. Ignatius auszuzeichnen, während jeder Gedanke, jede Gefühlsregung und jede Tat des Ignatius nichts anderes erstrebte als die größere Ehre Gottes.«44

Aus Pozzos Beschreibung werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den beiden Deckenfresken deutlich: Töpper nimmt zwar wie Pozzo das im Lukasevangelium erwähnte Motiv des Feuers wieder auf, doch sind es bei ihm 44 Übersetzung von Christian Hecht und zitiert nach ders., Der »concetto« von Andrea Pozzos Langhausfresko in S. Ignazio, in: Herbert Karner (Hg.), Andrea Pozzo (1642 – 1709). Der Maler-Architekt und die Räume der Jesuiten, Wien 2012, S. 37 – 43, hier S. 38.

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keine Strahlen, sondern richtige Flammen, die vom IHS-Monogramm – nicht von Christus – ausgehend den Ordensgründer durchdringen und den Erdball – nicht die Erdteilallegorien – umschließen. Dadurch wird die Verbindung des Namens »Ignatius« mit dem lateinischen Wort »ignis« für Feuer bei Töpper noch deutlicher. Denn das Feuer ist »eines der wichtigsten Motive der Ignatiushagiographie und -ikonographie« und hat sowohl in die Literatur als auch in die bildende Kunst Eingang gefunden.45 Besonders deutlich wird dies in der 1655 erschienenen Emblemsammlung Carlo Bovios mit der Lebensbeschreibung des Ordensgründers. Eine Pictura darin zeigt einen in einer Landschaft stehenden Brennspiegel, durch den Sonnenstrahlen fallen, die im Spiegel gebündelt werden und Geäst entzünden (Abb. 5).46 Das Motto lautet »COGIT UT CREMET«. Die Subscriptio erläutert, dass Ignatius die Aufgabe zukommt, wie ein Spiegel, der die Strahlen bündelt, die Ordensmitglieder zu versammeln, um sie dann über den gesamten Erdkreis zu verteilen, damit sie dort, wie Christine Schneider erläutert, »das Feuer des Glaubens entzünden und verbreiten«, sich also um das Seelenheil der Menschen kümmern können. Ignatius kommt so eine »zweifache Funktion« zu, führt Schneider weiter aus: Er ist »Inhaber und Verteiler des von einer göttlichen Instanz ausgesandten Lichtstrahls«.47 Die Tradition des Feuers im Zusammenhang mit der Ignatiusikonographie reicht zurück in die Zeit der Kanonisation des Ordensgründers (12. März 1622), wie eine kleine Graphik von Raphael Sadeler dem Jüngeren (1584 – 1632) belegt, die zwischen 1622 und 1632 entstand (Abb. 5).48 Darauf sehen wir Jesus Christus auf einer Wolke und von einem Strahlenkranz umgeben, wie er mit Hilfe der Taube des Heiligen Geistes den in Flammen stehenden hl. Ignatius, der in seiner Rechten das Monogramm IHS und in seiner Linken ein Buch hält, der Erde entgegenwirft. Von dem Heiligen gehen Feuerzungen aus, die die Erde und ihre Bewohner treffen. Zu Füßen des Auferstandenen stehen auf einem Spruchband die Verse des Lukasevangeliums. Die Darstellung macht deutlich, dass es sich bei dem besagten Feuer nicht um Lichtstrahlen handelt, sondern um »Feuer« im 45 Auch im liturgischen Text der Messe des Ignatiusfestes am 31. Juli spielt das Feuer eine entscheidende Rolle; Hecht, S. 39; vgl. Schneider, S. 237. 46 Carlo Bovio, Ignatius insignium epigrammatum et elogiorum centuriis expressus, Rom 1655, S. 142. Abb. 5 links: Universitätsbibliothek Freiburg i. B. / M 3495,r. 47 Schneider, S. 237. Schneider führt in diesem Zusammenhang noch eine Gleichsetzung des hl. Ignatius mit einer brennenden Kerze an: Johannes Bolland, Imago primi saeculi Societatis Jesu, Antwerpen 1640, S. 317. 48 Vgl. Markus Hundemer, Argumentative Bilder und bildliche Argumentation. Jesuitische Rhetorik und barocke Deckenmalerei, in: Karner / Telesko (Hg.), S. 261 – 273, hier S. 270. Für die freundliche Abdruckerlaubnis danke ich Herrn Dr. Markus Hundemer und Herrn Dr. Werner Telesko. Abb. 5 rechts: Hundemer, S. 270.

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Abb. 5: Guillaume Chasteau, Emblem, in: Carlo Bovio, Ignatius insignium epigrammatum et elogiorum centuriis expressus, Rom 1655, Kupferstich (17 x 11,5 cm); rechts: Raphael Sadeler d. J., Der Auferstandene wirft den brennenden hl. Ignatius auf die Erde, Radierung (9,5 x 5,3 cm), wohl zw. 1622 und 1632 entstanden.

übertragenen Sinne als dem »sowohl in Hitze Zerstörenden, wie auch des lebensspendend Wärmenden, also des Streites und der Vernichtung wie auch des rettenden Heils«, wie Markus Hundemer ausführt.49 Liest man im Lukasevangelium weiter, so wird der zerstörerische Aspekt noch deutlicher, denn im Anschluss heißt es: »Meint ihr, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern Spaltung« (Lk 12,51).50 Ähnlich wie bei Sadeler fallen auf einem Kupferstich Jeremias Kilians Feuerzungen von dem auf einer Wolkenbank sitzenden Ignatius auf die Personifikationen der vier Erdteile herab, um in ihnen den christlichen Glauben zu entzünden (Abb. 6).51 49 Hundemer, S. 272. 50 Vgl. ebd. Hundemer weist auf den Kontext des Zitats hin: Jesus erinnert an die Verantwortung des Menschen, denn wem viel gegeben werde, von dem werde man auch viel fordern; und wem viel anvertraut werde, von dem werde man umso mehr verlangen (vgl. Lk 12,48). 51 Mathias Tanner, Societas Jesu Apostolorum imitatrix, sive gesta præclara et virtutes eorum, qui À societate Jesu In procuranda salute animarum, per Apostolicas Missiones, Conciones,

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Abb. 6: Jeremias Kilian (Stecher), Ignatius von Loyola und die Weltmission der Jesuiten, Kupferstich (15,6 x 11 cm). Aus: Mathias Tanner, Societas Jesu Apostolorum imitatrix […], Prag 1694, S. 1; rechts: Bartholomäus Kilian (Stecher), Johann Christoph Storer (Zeichner), Frontispiz (11 x 7,5 cm). Aus: Ferdinand Visler, Conclusiones physicae per aliquot principia philosophica, Dillingen 1695.

Die Personifikationen im Vordergrund blicken zum Heiligen empor, der von einem Strahlenkranz umgeben ist und das IHS-Monogramm in seiner Linken hält. Im Hintergrund am Strand sind zwei Personen mit Hut und Pilgerstab zu sehen. Die Schiffe auf dem Meer verweisen wie die Personen auf die Missionsgebiete in Übersee. Der Stich ist Mathias Tanners Beschreibung über die apostolischen Taten und Tugenden von Jesuitenmissionaren von 1694 vorangestellt. Kilian konnte bei seiner Ausführung bereits auf eine lange Tradition von Darstellungen der jesuitischen Weltmission zurückgreifen. Meist wurden die zerstörerischen Feuerzungen dabei durch Strahlen ersetzt. Zu nennen wäre hier nur der Mitte des 17. Jahrhunderts entstandene Kupferstich von Cornelius Bloemaert auf dem Titelblatt von Daniello Bartolis Werk »Della Vita e dell’Istituto di S. Ignatio Fondatore della Compagnia di Giesu«: Auch hier sitzt Ignatius auf einer Wolke und hält in seiner Linken ein aufgeschlagenes Buch – die »Regulæ Societatis IESV« mit dem Leitspruch »Ad maiorem DEI gloriam« – und in der Sacramentorum Ministeria, Evangelij inter Fideles & Infideles propagationem, ceter‚que munia Apostolica, per totum Orbem terrarum speciali zelo desud–runt, pars prima, Prag 1694. Die deutsche Ausgabe erschien 1701. Abb. 6 links: Universitäts- und Landesbibliothek Tirol.

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Rechten das Christus-Monogramm. Von diesem fallen Strahlen auf die Erdkugel, um die die vier Personifikationen der Erdteile angeordnet sind, die zum Ordensgründer aufblicken.52 Trotz des gleichen Grundmotivs zeigen sich aber feine Unterschiede: Auf den Stichen von Kilian und Bloemaert entflammt das Christusmonogramm bzw. Ignatius die Erde, bei Sadeler und Pozzo hingegen wird Ignatius vom hl. Geist bzw. von Christus entflammt. Pozzos Vorbild ist ein von Johann Christoph Storer entworfenes und von Bartholomäus Kilian gestochenes Thesenblatt, das erstmals 1664 publiziert wurde (Abb. 7).53 Wie auf Pozzos Fresko treffen die Lichtstrahlen aus der Seitenwunde Christi, der hier in Begleitung von Maria und Heiligen auf einer Wolkenbank in der linken oberen Bildhälfte steht, die Brust des Ordensgründers, auf der das Christus-Monogramm erscheint. Von dem Namen Jesu werden sieben Strahlen auf einzelne Missionare unter ihm weitergelenkt. In der Darstellung finden sich sowohl der Vers aus dem Lukasevangelium in der Kartusche am Kreuz und auf dem Spruchband vor Ignatius wieder als auch – in dem aufgeschlagenen Buch hinter ihm – dessen Wahlspruch »Omnia ad Maiorem Dei Gloriam«. Jesuitenmissionare und -heilige haben sich zusammen mit Vertretern verschiedener Erdteile um eine herzförmige und brennende Weltkarte versammelt, die auf dem Altar aufgestellt ist. Die Inschrift in den Flammen verdeutlicht nochmals, dass das »Herz des Ignatius […] in Liebe die ganze Welt, insbesondere die Niederlassungen der Jesuiten, die in die Weltkarte eingetragen sind«, umfasst.54 Auch der Dedikationstext von 1672 unterstreicht die dargestellte Heidenmission der Jesuiten.55 Aus dem Jahr 1665 stammt – ebenfalls von Storer und Kilian – das Frontispiz der Thesenschrift »Conclusiones physicae per aliquot principia philosophica« von Ferdinand Visler (Abb. 6).56 Auch darauf wird das Wirken des hl. Ignatius dargestellt, allerdings wird hier das Christusmonogramm durch eine himmlische Sonne, in der das IHS-Zeichen aufscheint, entzündet. Ignatius, der auf einem von den vier Tugendpersonifikationen gezogenen Triumphwagen sitzt, 52 Vgl. Daniello Bartoli, Della vita e dell’Istituto di S. Ignatio Fondatore della Compagnia di Giesu, 5. Buch, Rom 1650; Werner, Sp. 569 f. 53 Bartholomäus Kilian (Stecher), Johann Christoph Storer (Zeichner), Die Weltmission der Gesellschaft Jesu, Dillingen 1664, Thesenblatt. Abb. 7: Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Graph 02 Kilian, Bartholomäus 16. 54 Sibylle Appuhn-Radtke, Das Thesenblatt im Hochbarock. Studien zu einer graphischen Gattung am Beispiel der Werke Bartholomäus Kilians, Weißenhorn 1988, S. 258. 55 Vgl. ebd., S. 256. Das Thesenblatt wurde in drei leicht abgeänderten Versionen gestochen: das erste Mal in Dillingen (1664), danach in Freiburg (1672) und in Prag (1705); siehe ebd., S. 256 – 260. 56 Ferdinand Visler, Conclusiones physicae per aliquot principia philosophica, Dillingen 1695. Abb. 6 rechts: Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, Smlg. Roschmann, vol. 7, S. 69.

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Abb. 7: Bartholomäus Kilian (Stecher), Johann Christoph Storer (Zeichner), Die Weltmission der Gesellschaft Jesu, Dillingen 1664, Thesenblatt (91,9 x 64,4 cm).

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hält in seiner Linken ein aufgeschlagenes Buch mit dem Leitspruch der Jesuiten, während seine Rechte eine Gloriole emporhält, die die Strahlen der Himmelssonne auf das Herz der Caritas lenkt, um von dort die Erde zu entzünden. Vergeblich versuchen Häresie und Laster die Liebesflammen zu löschen.57 Auch in Iglau sind es die Flammen des IHS-Monogramms, die durch den Heiligen hindurchdringen, um die Welt zu entflammen. Im Chor ist zwar noch die von Strahlen umkränzte Taube des hl. Geistes zu sehen, allerdings ist es der Flammenstrahl des Monogramms, der durch Ignatius zum Erdball dringt. Mögen sich die vorgestellten Darstellungen im Detail voneinander unterscheiden, in ihrer Aussage stimmen sie überein: Alle hier beschriebenen Varianten des Themas – sei es in der Graphik, sei es in den beiden Deckenfresken – zeigen kein »konkretes Ereignis«, sondern sie sind eine Allegorie des Missionsauftrags.58 Insofern sind sie Ausdruck des Selbstverständnisses des Ordens, seines »kämpferische[n] Selbstbewußtsein[s]«, und sollten »seine damals privilegierte Stellung als heilsgeschichtlich notwendig, ja unausweichlich erweisen«.59 Allerdings wird in der Deckenausmalung der Jesuitenkirche in Iglau noch ein weiteres Motiv aufgenommen: die Verehrung des Namens Jesu – ein Motiv, das bereits in der römischen Ordenskirche Il Ges¾ und in der Breslauer Jesuitenkirche ins Monumentale übertragen wurde.60 Allerdings unterscheiden sich die beiden genannten Ausmalungen deutlich von der Töppers. Bei ihm sind es keine Heiligen oder Allegorien, die den Namen Jesu anbeten, sondern allein der kniende Ignatius richtet seinen Blick auf das Monogramm. Gerade diese Darstellung des hl. Ignatius mit dem von einem Strahlenkranz umgebenen Kopf und dem auf das IHS-Monogramm gerichteten Blick geht zurück auf einen Typus, der sich erst im Zuge der Kanonisation durch Gemälde des Heiligen von Peter Paul Rubens im 17. Jahrhundert etablierte. Ihren »Siegeszug« trat diese Heiligenikonographie »mit der Serie von graphischen Wiedergaben« des Stechers Schelte — Bolswert nach Rubens’ Vorbild an, die 1622 in Antwerpen im Zusammenhang mit der Heiligsprechung geschaffen wurde (Abb. 8).61

57 Visler. Zu Storers Graphik vgl. Sibylle Appuhn-Radtke, Visuelle Medien im Dienst der Gesellschaft Jesu. Johann Christoph Storer (1620¢1671) als Maler der Katholischen Reform, Regensburg 2000, S. 338 f. 58 Hecht, S. 42. 59 Hundemer, S. 273. 60 Die Jesuitenkirche in Rom malte Giovanni Battista Gaulli, genannt Baciccia (1639 – 1709), von 1676 bis 1679, die Breslauer Kirche Johann Michael Rottmayr (1654 – 1730) von 1703/04 bis 1706 aus. Vgl. Jens Michael Baumgarten, Konfession, Bild und Macht. Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungskonzept in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560 – 1740), Hamburg / München 2004, bes. S. 183 f. 61 Ursula König-Nordhoff, Ignatius von Loyola. Studien zur Entwicklung einer neuen Heiligen-

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Abb. 8: Schelte — Bolswert (Stecher), Peter Paul Rubens (Maler), Kopien nach dem Prototyp des Rubens, links: Ignatius, Kupferstich (37 x 25,5 cm), rechts: Ignatius und Franz Xaver, Kupferstich (31,4 x 23,9 cm), wohl im Zusammenhang mit der Heiligsprechung 1622 entstanden.

Ignatius in der Kasel hält in seiner Linken ein aufgeschlagenes Buch, während er seinen Blick auf eine Lichterscheinung über ihm richtet. Hier wird ebenfalls kein konkretes Ereignis aus dem Leben des Heiligen veranschaulicht. Die Darstellung kann sich auf verschiedene Visionen und Messerlebnisse aus seiner Vita beziehen.62 In den vom Himmel fallenden Lichtstrahlen scheint ein von Flammen umgebenes IHS-Monogramm auf, während hinter Ignatius das abgelegte Birett an der Wand hängt. Graphik wie Gemälde besaßen jeweils ein Gegenstück mit der Darstellung des hl. Franz Xaver, die die »typisch erkennbare Physiognomie der beiden Heiligen« erst begründeten und »durch die unzähligen Wiederholungen d[ie] hiermit geschaffenen Typen« verbreiteten.63 Bolswert schuf auch eine Graphik, in der beide Ordensheilige von den Flammen des IHSMonogramms getroffen werden, zu dem sie aufblicken (Abb. 8).64 Töpper nimmt in Iglau dieses Motiv auf. Betrachtet man Töppers Monogramm jedoch genauer, fällt auf, dass die Buchstaben IHS spiegelverkehrt anIkonographie im Rahmen einer Kanonisationskampagne um 1600, Berlin 1982, S. 84, vgl. S. 224 f. Abb. 8 links: BibliothÀque nationale de France Paris, Cc29 (B) Fol. 62 Vgl. König-Nordhoff, S. 80 f. 63 Ebd., S. 81. 64 Abb. 8 rechts: BibliothÀque nationale de France Paris, Cc34 (B) Fol.

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gebracht wurden, das heißt der Buchstabe S ist verdreht, die drei Nägel sind oben und das Kreuz ist unten. Dies könnte durch ein fehlerhaftes Übertragen des Kartons auf die Decke passiert sein, da es sich bei den Iglauer Deckenfresken um Töppers erste Ausführungen in Freskotechnik handelt.65 Trotz der fehlerhaften Umsetzung ist das Signet der Gesellschaft Jesu sofort wiederzuerkennen. Die Buchstabenfolge IHS, die als Abkürzung für den Namen Jesu steht und deren Verwendung seit dem frühen Mittelalter bekannt ist, wurde von Ignatius erfolgreich für den Jesuitenorden adaptiert und verbreitet. Die Gemeinschaft, die sich unter die Führung von Jesus Christus gestellt hatte, konnte dem Monogramm somit die Lesart »Iesum Habemus Socium« oder »Iesu Humilis Societas« hinzufügen. Die Bedeutung des Namen Jesu schloss für die Ordensmitglieder immer die Verehrung Christi und eine mystische Erfahrung ein.66 Bei der bildlichen Darstellung der Verehrung des Namens Jesu handelt es sich – wie bei der Missionierung der Welt durch den Jesuitenorden – um die Illustration eines Abstraktums, das eine Verbindung zu den Versen des Philipperbriefes herstellt: »In nomine Jesu omne genu flecatur, coelestium, terrestrium et infernorum« – »damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu« (Phil 2,10). Diese Verehrung wird meist von Erdteilpersonifikationen übernommen.67 Auch in Iglau verehren die vier Kontinente den Namen Jesu – allerdings auf dem 1766 entstandenen Hauptaltarbild. Auf der Decke hingegen sind keine Erdteilallegorien dargestellt, dort ist nur die Erdkugel zu sehen. Zugleich sind – ähnlich wie bei Pozzo – in den Stichkappen Jesuitenmissionare abgebildet, die auf verschiedenen Kontinenten gewirkt haben. Problemlos zu identifizieren ist in der nördlichen Stichkappe des mittleren Jochs der hl. Franz Xaver (Abb. 9). Er folgt der von Rubens geprägten Ikonographie eines bärtigen Mannes in Soutane, Chorhemd und Stola. Er predigt vor einer Gruppe, die mit ihrer schwarzen Haut und dem Federschmuck eher wie Amerikaner oder Afrikaner und nicht wie Inder oder Asiaten aussehen.68 In seiner Linken hält er ein Kruzifix 65 Wenn man das IHS-Monogramm spiegelt, erscheint es richtig. Es ist demnach davon auszugehen, dass dem Maler beim Übertragen des Kartons auf die Decke ein Fehler passiert ist. Für diesen Hinweis danke ich Michaela Sˇeferisov‚ Loudov‚. Da die Deckenfresken des Mittelschiffs jedoch 1766 wieder übermalt wurden, könnte es sein, dass man diesen »Fehler« korrigieren wollte. Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 187. 66 Vgl. Moritz Woelk, Christusmonogramm, Christogramm, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, 3. Aufl., Freiburg i. Br. u. a. 1994, Sp. 1178 – 1179; Appuhn-Radtke, Innovation durch Tradition; Schneider, S. 181 – 185, 249 – 254. 67 Vgl. Poeschel, S. 241 – 263. 68 Die Ikonographie der Erdteile ist nicht immer eindeutig, besonders die Darstellungen Amerikas und Afrikas sind mit Attributen wie »Röcke[n] und Kronen aus Federn als Zeichen« »der Wildheit und des Heidentums« versehen, die auch auf Asien übertragen wurden. Besonders im Zusammenhang mit den Predigten des heiligen Franz Xaver wurden die

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Abb. 9: Carl Franz Anton Töpper, Stichkappen der Gewölbefläche mit dem hl. Franz Xaver (links oben), den drei japanischen Märtyrern (rechts oben), unten: zwei unbekannten Jesuitenmissionaren: links vielleicht Augustin Strobach oder Jos¦ de Anchieta, rechts möglicherweise Edmund Campion, Langhaus, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1717.

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empor, auf das er mit der Rechten verweist, und von dem ein Lichtstrahl auf die Zuhörer fällt. Auch in der gegenüberliegenden Stichkappe werden Missionare aus Asien dargestellt. Es handelt sich um die drei japanischen Märtyrer Johannes de Goto, Jacobus Kisai und Paul Miki, die 1597 mit weiteren 23 Missionaren auf Nagasaki gekreuzigt wurden (Abb. 9).69 Bei dieser Art der Kreuzigung trat der Tod erst ein, wenn – wie Mathias Tanner beschreibt – der Henker mit einer Lanze »von der Rechten zur lincken Seiten die Rippen« durchstach und sie in kurzer Zeit alle »entleibeten«; dies zeigt auch die Graphik, die Tanners Beschreibung des Martyriums beigefügt ist (Abb. 12).70 Während diese Missionare eindeutig bestimmt werden können, ist die Identität der Missionare im westlichen Joch noch ungeklärt, da ihnen eindeutige Attribute fehlen.71 So wird vermutet, dass es sich bei dem Jesuiten in der südlichen Stichkappe um den Iglauer Missionar Augustin Strobach handeln könnte (Abb. 9).72 Dargestellt ist ein in eine Soutane gekleideter Jesuit, der mit geschlossenen Augen predigt, während seine Rechte zum Himmel zeigt, wo Vögel fliegen. Ihm zu Füßen lauschen Menschen mit Federschmuck, Turban oder Hüten auf dem Kopf. Die über ihm kreisenden Vögel lassen auch die Vermutung zu, es könne sich bei dem Dargestellten nicht um Augustin Strobach, sondern um den in Brasilien wirkenden Missionar Jos¦ de Anchieta handeln, dem auch der Ehrentitel »Brasiliae Apostol[us]« verliehen wurde.73 In seiner Lebensbeschreibung spielen wilde Tiere eine wichtige Rolle, unter anderem kommt Vögeln eine besondere Bedeutung zu, die ihm ungewöhnliches Zutrauen entgegenbringen. So weiß Cornelius Hazart in seiner Kirchengeschichte folgende Episode über Jos¦ de Anchieta zu berichten, die auch auf die Iglauer Darstellung passen könnte: »Wann er dem Gebett oblage, sahen die Heyden mit Verwunderung, wie daß die Vögel in der Lufft ihme zuflogen, und zuweilen auf seine Schultern, bald auf die Hände, ja auf das Bet-

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bekehrten Asiaten oft »in indianischen Trachten« dargestellt, um sie als »Exoten« und Ungläubige zu kennzeichnen. Poeschel, S. 188 f. Zu den drei japanischen Märtyrern siehe in Kochs Jesuiten-Lexikon: Japanische Märtyrer, Sp. 911 – 912, Paul Miki, Sp. 1393, Johannes Goto, Sp. 934, Jacob Kisai, Sp. 899; Schneider, S. 111 ff. Mathias Tanner, Die Gesellschaft Jesu Biß zur Vergiessung ihres Blutes wider den Götzendienst/ Unglauben/ und Laster/ Für Gott/ den wahren Glauben/ und Tugendten in allen vier Theilen der Welt streitend: Das ist: Lebens-Wandel/ und Todtes-Begebenheit der jenigen, die auß der Gesellschafft JESU umb verthädigung Gottes/ des wahren Glaubens/ und der Tugenden/ gewaltthätiger Weiß hingerichtet worden, Prag 1683, S. 342; Graphik der drei Märtyrer: S. 334. Abb. 12 links: Jesuitenbibliothek Innsbruck. Vgl. Trl†kov‚, S. 18 f. Vgl. Uhl†rˇ, S. 21. Heinrich Scherer, Geographia Hierarchica Sire Status Ecclesiastici Romano-Catholici Per Orbem Universum Distributi Succinta Descriptio Historico-Geographica, Bd. 2, München 1702, Fol. III. Vgl. Murillo Moutinho / Luis Palac†n, Anchieta, Jos¦ de, in: Diccionario histûrico de la compadža de Jesffls, Bd. 1, S. 156 – 158.

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Buch setzten, und mit ihme GOtt lobsangen.«74 Aufgrund dieser Beschreibung wird Jos¦ de Anchieta oft mit einem Vogel auf der Schulter dargestellt. Die über dem Iglauer Missionar kreisenden Vögel und die Abwesenheit weiterer eindeutiger Attribute lassen jedoch nicht die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei dem Dargestellten um eben jenen in Brasilien tätigen Jesuiten handelt. Ebenso unklar ist auch, um welchen Missionar es sich in der gegenüberliegenden Stichkappe handelt. Dort ist ebenfalls ein Jesuit in Soutane dargestellt, der seinen Blick nach oben richtet (Abb. 9). Er wird unter anderem von einer Frau in einem gelben Kleid und einem Mann mit einer Allongeperücke begleitet, die den Kontinent Europa repräsentieren. Aufgrund des Kruzifixes, das er an seine Brust drückt, wurde vermutet, es könne sich um Aloysius Gonzaga handeln.75 Allerdings ist dies insofern unwahrscheinlich, als der Dargestellte einen Vollbart trägt und als ein Mann mittleren Alters gezeichnet wird, wohingegen der früh verstorbene hl. Aloysius oft als Knabe oder Jüngling mit Rochett und Kruzifix dargestellt wird.76 Aufgrund der Namensähnlichkeit mit dem Mäzen wurde auch angenommen, es könne sich bei dem Dargestellten um den englischen Jesuitenmissionar Edmund Campion aus Brünn handeln,77 der zur Missionierung nach England zurückgeschickt wurde. Dort predigte er im Geheimen das Evangelium, bevor er 1581 als Hochverräter hingerichtet wurde.78 Und obwohl »bedeutende Männer des Jesuitenordens aus Übersee« wie der Märtyrermissionar Augustin Strobach in die damals entstandenen Heiligenlegenden Eingang gefunden haben,79 bleiben beide Zuordnungen vage und die Identität der Dargestellten vorerst ungeklärt. Es lässt sich nur festhalten, dass es sich um Jesuitenmissionare handeln muss, die in Europa und in Übersee gewirkt haben. Den damaligen Jesuiten hingegen müssen die Dargestellten bekannt gewesen sein. Im Zusammenhang mit dem Deckenfresko, das die Weltmission des Jesuitenordens veranschaulicht, kommt den Missionaren in den Stichkappen eine Vorbildfunktion zu. Sie zeigen – ohne den Anspruch auf geographische und 74 Cornelius Hazart, Kirchengeschichte, Bd. 2, Wien 1725, S. 403. Die Darstellung von Vögeln – neben weiteren wilden Tieren – hat auch in die Ikonographie des Missionars Eingang gefunden. Die Körperhaltung des Iglauer Missionars ähnelt zudem der erst 1751 von Thomas Christoph Scheffler geschaffenen Darstellung von Jos¦ de Anchieta in der Dillinger Jesuitenkirche, wo der Missionar aufgrund verschiedener Attribute und Lebensbeschreibungen eindeutig identifiziert werden konnte. Vgl. hierzu Schneider, S. 136 ff. 75 Vgl. Uhl†rˇ, S. 21. 76 Vgl. Vincent Mayr / Liselotte Schütz, Aloysius (Luigi) Gonzaga, in: LCI 5 (1973), Sp. 100 – 101; Koch, Aloisius (Luigi) Gonzaga, in: ders., Jesuiten-Lexikon, Sp. 43 – 45. 77 Vgl. Alesˇ Vrtal, Mal†rˇsk‚ vy´zdoba kostela svat¦ho Ign‚ce v Jihlaveˇ a jej† funkce v jezuitsk¦m prostrˇed† [Malerische Ausstattung der Kirche Sankt Ignatius in Iglau und ihre Funktion in jesuitischer Umgebung] (Magisterarbeit), Brünn 2011, S. 40, 66. 78 Vgl. Koch, Campion, Edmund, in: ders., Jesuiten-Lexikon, Sp. 290 – 292; Tanner, Die Gesellschaft Jesu, S. 10 ff. 79 Grulich, S. 179.

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ethnographische Genauigkeit – die Einsatzgebiete der Jesuiten in Europa, Asien, Afrika und Amerika und wecken in dem Betrachter den Wunsch, das Evangelium zu verkünden, auch unter der Gefahr, dabei als Märtyrer zu sterben. Das Verlangen, bei der Missionierung das Leben hinzugeben, lässt sich sowohl aus schriftlichen Bittgesuchen von Jesuiten aus der böhmischen Ordensprovinz an den Ordensgeneral als auch aus Berichten von Missionaren in Übersee ablesen. So schrieb 1692 ein Laienbruder aus Olmütz in seinem Bittgesuch: »Meine ietzige begierde ist mein leben in elendt umb Christi willen under den barbaren zu enden, Vndt dar geben, auch marter undt peyn mit der Hülff Gottes frölich außzustehen; Weßentwegen Ich Ihro Wohl Ehrwürden zum demühtigsten zu füßen falle umb mir dieße bitt, so sie zur größerer Ehr Gottes seyn würde, gnädig zu gestatten«.80

Und Augustin Strobach berichtet in einem Brief an den Provinzial Emmanuel de Boye: »[D]amit ich […] in die Fußstapffen des seeligen Manns / unsers Patris Didaci Ludovici von San-Vittores, welcher diese Marianische Insuln der erste mit seinem Schweiß und Blut / da er um des Glaubens willen ist getödtet worden / glorwürdig begossen hat / ohne Verdruß tretten möge: welches desto gewisser zu erhalten / ersuche ich […] die erforderte Hülff und seinen Göttlichen Beystand / der auf disen mehr als auf keinen andern Missionen höchst-nöthig ist / durch ihre Andachten auszuwürcken / womit so wohl die Priester als Brüder mir ein solche Gnad erweisen werden / daß ich dieselbe nicht allein mit meinem wenigen Gebett / sondern auch / wann es GOtt also gefällt / mit meinem Leben und Blut / welches ich für seine Ehr und deren Seelen Heyl aufzuopfferen mich erbiete / von Hertzen gern bezahlen will.«81

Diese Briefe zeigen, dass der Wunsch zur weltweiten Missionierung einen Teil des jesuitischen Selbstverständnisses ausmachte. Somit sollten die Bilder von Jesuitenmärtyrern nicht erst den Wunsch zur Missionierung – wie sie in den Satzungen des Ordens formuliert wurden – wecken, sondern sie waren bildlicher Ausdruck des Selbstverständnisses des Ordens, den die Ordensbrüder bereits verinnerlicht hatten.

80 Zitiert nach Hoffmann, S. 63. Hoffmann liefert eine Auswahl an Bittgesuchen (S. 58 – 71); vgl. auch Grulich, S. 38 ff. 81 Joseph Stöcklein, Allerhand so Lehr- als Geist-reiche Brief, Schrifften und Reis-Beschreibungen, welche von denen Missionariis der Gesellschafft Jesu aus beyden Indien, und andern über Meer gelegenen Ländern, seit Anno 1642 bis 1726 in Europa angelangt seynd, Augsburg / Graz 1726, S. 6 f.; vgl. Grulich, S. 161.

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Die Übermalung der Deckenfresken und der neue Altar

Zeitgleich zu den Fresken hätte auch ein neuer Hochaltar in Auftrag gegeben werden sollen; dies belegt ein Auszug des Testaments von Franz Campion aus dem Jahr 1735.82 Zur Ausgestaltung des Altars kam es nach dem Historiker Jan Petr Cerroni jedoch erst später : »1766 ist der herrliche Hochaltar des h. Ignaz neu hergestellt worden, wozu Johann Schubert abermal 1000 fl. beytrug. Adam Lauterer ein Tischler von Profeßion hat denselben gezeichnet Joseph Kramolin auf die Jesuiten Mauer mit Figuren nach Gebsart Franz Anton Noldinger die architectur und Ignaz Raab die zwey Altärblater des h. Ignaz – samt Aufsatzblät gemahlt – Lauterer Kramolin und Raab, waren Jesuiten Leybrüder Noldinger aber Burger und Mahler in Prag«.83

Das illusionistische Altarretabel wurde auf die flache Chorwand gemalt und besteht aus einem Postament mit vier Konsolen, die wiederum vier Figuren als Sockel dienen (Abb. 10). Hinter ihnen scheinen Säulen und Pilaster ein Gebälk zu tragen, das von einem Rundbogen durchbrochen wird, darunter ist das Hauptaltarblatt angebracht. Auf das Gebälk sind vier goldgelbweiße Engel gemalt, von denen zwei das Aufsatzbild festzuhalten scheinen. Auf dem Bogen darüber sitzen Gottvater und Christus mit dem Kreuz und über ihnen schwebt in einem Strahlenkranz die Taube des Heiligen Geistes. Die Scheinarchitektur des Altars ist in marmoriertem Grau und Weinrot gehalten, nur die Basen, Kapitelle und Stuckelemente sind goldgelb hervorgehoben. Vor den vier Säulen erscheinen in Grisaille mit goldgelben Erhöhungen jesuitische Ordensheilige. Neben dem Altarblatt stehen links der Jesuitenmissionar Franz Xaver, zu erkennen an der Soutane mit Schultermäntelchen, dem Kruzifix und dem Pilgerstab,84 und rechts der Ordensgeneral Franz Borgia in Soutane und Birett und mit einem gekrönten Totenkopf in seiner Rechten. Franz Borgia hatte sich darum bemüht, jede Provinz mit einem Noviziat auszustatten. Zugleich kümmerte er sich um die Noviziatsordnung und die geistliche Führung der Novizen.85 Ein besonderes Verhältnis verband ihn mit Stanislaus Kostka, der bei ihm nach seiner Flucht aus Wien in Rom Aufnahme fand. Kostka rechts neben dem Ordensgeneral trägt ein Rochett und hält ein Kind und eine Lilie im Arm. Die Lilie steht für seine Reinheit, und das Kind geht 82 83 84 85

Vgl. MZA, E 27, BE 27/1735; Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 187. Cerroni, Skitze. Erste Abtheilung, MZA, G 12, Cerr I–32, 209v. Vgl. Kurrus, Franz Xaver, LCI 6 (1974), Sp. 324 ff. Vgl. Theodor Kurrus, Franz Borgia (de Borja), LCI 6 (1974), Sp. 315 – 317; C‚ndido de Dalmases, Generales de la CJ. Borja, Francisco de, in: Diccionario histûrico de la compadža de Jesffls, Bd. 2, S. 1605 – 1611; Koch, Franz de Borja (Borgia) y Aragon, in: ders., JesuitenLexikon, Sp. 584 – 589.

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Abb. 10: Carl Franz Anton Töpper, Blick nach Nordosten auf den Chor, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1717.

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auf eine Vision zurück, in der Maria ihm den Jesusknaben in die Arme gelegt und ihn dazu aufgefordert haben soll, dem Jesuitenorden beizutreten. Stanislaus verstarb sehr jung und ist heute als Patron Polens bekannt. Oft wird er gemeinsam mit dem hl. Aloysius Gonzaga verehrt. Auch dieser Jesuitenheilige starb früh und zeichnete sich durch seine Sittlichkeit aus. Der Heilige trägt ein Rochett und ist links außen am Altar dargestellt. Andächtig blickt er auf das Kruzifix mit der Lilie in seinen Händen, und eine umgedrehte Krone zu seinen Füßen verweist auf die Entsagung von weltlichen Gütern. Der hl. Aloysius wird heute besonders als Pestheiliger verehrt.86 Beide Heilige verbindet ihre Frömmigkeit, ihr Verzicht auf weltliche Güter und der Eintritt in den Jesuitenorden gegen den Willen der Eltern – alles Gründe, warum sie schon sehr früh in den Jesuitenkollegien als Patrone der studierenden Jugend verehrt wurden.87 Zudem wurden beide am 31. Dezember 1726 gemeinsam heiliggesprochen. Damit gehören sie neben Ignatius von Loyola, Franz Xaver, Franz Borgia und Johannes Franz R¦gis zu den wenigen Jesuiten, die vor der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1773 kanonisiert wurden.88 Bis auf Letzteren sind alle am Altar dargestellt: Franz Xaver und Franz Borgia neben sowie Ignatius auf dem Altarbild. Auf dem Hauptaltarbild von Ignac Victorin Raab fungiert Ignatius als Vermittler für die um ihn versammelten Personifikationen der Erdteile, indem er mit seiner rechten Hand auf das IHS-Monogramm in der linken oberen Bildhälfte verweist, während er in der linken ein aufgeschlagenes Buch mit den Buchstaben »AMDG«, das Kürzel für seinen Wahlspruch »Ad majorem Dei gloriam«, hält (Abb. 11). Sein Blick richtet sich auf die vor ihm kniende weibliche Personifikation Europas, die ihre Insignien der Macht – Krone, Reichsapfel und Zepter – abgelegt hat und mit zusammengefalteten Händen das Monogramm verehrt. Hinter ihr, mit einer Schale Weihrauch in der Hand, steht Asien und blickt – ebenso wie Amerika links hinter Ignatius, erkennbar an dem Papagei – auf den Namen Jesu. Ganz links im Vordergrund steht mit geschlossenen Augen die Personifikation Afrikas – dargestellt als Mohr mit einem Krokodil zu Füßen –, die mit ausgebreiteten Armen eine Verbeugung andeutet. Im Gegensatz zum Deckenfresko, wo die Erde noch vom christlichen Glauben entflammt werden muss, scheint die Missionierung auf dem Altarblatt abge86 Zu Stanislaus Kostka vgl. Christel Squarr, Stanislaus Kostka, LCI 8 (1976), Sp. 389 – 390; Koch, Stanislaus Kostka, in: ders., Jesuiten-Lexikon, Sp. 1687 – 1688; zu Aloysius Gonzaga siehe Anm. 76. 87 Vgl. Christina Jetter, Die Jesuitenheiligen Stanislaus Kostka und Aloysius von Gonzaga. Patrone der studierenden Jugend – Leitbilder der katholischen Elite, Würzburg 2009, S. 26 ff.; Schneider, S. 173. 88 Vgl. Jetter, S. 31.

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Abb. 11: Ignac Victorin Raab, Die Verehrung des Namens Jesu durch die Personifikationen der vier Erdteile unter Anleitung des hl. Ignatius, Hochaltarbild, Sankt-Ignatius-Kirche, Iglau, 1766.

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schlossen und einer Verehrung des Namens Jesu durch die Erdteile gewichen zu sein. Wie in den oben angeführten Graphiken und in Pozzos Fresko übernimmt der hl. Ignatius die Rolle des Vermittlers. Im Fall der Erdteilallegorien kann hier von einem Huldigungs-Typus gesprochen werden, im Gegensatz zum MissionsTypus. Dies entspricht einer Differenzierung, die Sabine Poeschel herausgearbeitet hat: »Im Unterschied zum Missions-Typus jedoch steht nicht der Gedanke der Heilsverkündigung an die Erdteile durch Christus und seine Stellvertreter im Vordergrund, sondern die Verehrung der Träger des Christentums durch die Personifikationen der Kontinente.«89 Die Verehrung des Namens Jesu war »ein beliebtes Thema des Jesuitenordens« und hat weite Verbreitung gefunden.90 Während der Missions-Typus erst nach dem Konzil von Trient auftauchte, konnte der Huldigungs-Typus auf eine lange Tradition in der christlichen Kunst zurückgreifen. Mit der Darstellung der Erdteilallegorien kam es jedoch zu einer Erweiterung der »herkömmlichen Themen« und dadurch zu einer Akzentuierung der »Weltgeltung der christlichen Religion, d. h. die vollzogene Mission, die Christus gefordert hatte und die allen Erdbewohnern zukommende Erlösung«.91 Nach einer erfolgreichen Missionierung müssen die Martyrien der Jesuitenmissionare – wie in den Stichkappen abgebildet – nicht mehr herausgestellt werden. Dies unterstreicht auch die Darstellung der vier heiliggesprochenen Jesuiten am Altar. Im Zentrum stehen nun nicht mehr die Missionierung der Welt, sondern Jesuitenheilige, die der studierenden Jugend und den Novizen ein Vorbild sein sollen. Bei der Neugestaltung des Altars handelt es sich nicht nur um eine Ergänzung, sondern um eine Verschiebung der Aussagen. Denn die Deckengemälde wurden im Zuge der Neugestaltung teilweise übermalt und erst im Zuge von Restaurierungsarbeiten im 20. Jahrhundert wieder freigelegt.92 Der Historiker Jan Petr Cerroni beschreibt die Übermalungsarbeiten in seiner Handschrift folgendermaßen: »Als im Jahr 1766 auf der Mauer dieser Kirche der Hochaltar – nach der Erfindung des Jesuiten Laibruders Adam Lauterer gemahlt wurde, worauf oben die h. Dreyfaltigkeit gemahlt war, muste diese am Gewölbe gemalte Dreyenigkeit [sic!] vertilgt und mit einem Gewölbe übermahlt und eben so auch musten die Seiten wände der Kirche auf drockenen Grunde mit Kalkfarben überstrichen werden.«93

89 Poeschel, S. 252. 90 Ebd., S. 253. 91 Ebd., S. 256. Das Thema der Huldigung findet sich bereits in der »Verehrung von Heiligen, d[er] Herrschaft Christi und d[er] Fürbitte Mariens«. Ebd. 92 Johann Achatzi, Iglaus Bauten, Altertümer und Kunstschätze, in: ders., Iglauer Heimatbuch, Heidelberg 1962, S. 199 – 217, hier S. 208, spricht von »zum Teil übermalt«. Vgl. Sˇeferisov‚ Loudov‚, S. 187. 93 Cerroni, Skitze. Zweyte Abtheilung, MZA, G 12, Cerr I–34, 288v. – 289r.

Bilder von Missionaren – Missionierung durch Bilder?

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Die Übermalung der Deckenfresken könnte auch erklären, warum sich eine weitere Darstellung der drei japanischen Märtyrer in einem ovalen Bildfeld an der südlichen Langhausseite im Chor befindet (Abb. 12).94

Abb. 12: Melchior Küsell (Stecher), Die drei japanischen Märtyrer, Kupferstich (10,5 x 13,1 cm), in: Mathias Tanner, Die Gesellschaft Jesu Biß zur Vergiessung ihres Blutes wider den Götzendienst/ Unglauben/ und Laster […], Prag 1683, S. 334; rechts: östliche Wand, Chor, SanktIgnatius-Kirche, Iglau, wahrscheinlich im Zusammenhang der neuen Altargestaltung 1766 entstanden.

Allerdings wird hier keine authentische Kreuzigung mit dem erlittenen Martyrium dargestellt, sondern die drei Märtyrer stehen mit ihren Kreuzen im Arm und einem seligem Gesichtsausdruck nebeneinander.95 Es sollten also nicht 94 Laut Cerroni wurden drei »hohe[…] ovalen bilder« ebenfalls von Ignaz Raab gemalt. Allerdings erwähnt Cerroni nur drei und nicht vier Bilder ; es geht dabei nicht hervor, ob es sich um die Fresken oder gar andere Bilder handelt; Cerroni, Skitze. Erste Abtheilung, MZA, G 12, Cerr I–32, 209v. 95 Auch Christoph Thomas Scheffler stellt die drei japanischen Märtyrer unterschiedlich dar : 1753/54 malte er die authentische Kreuzigung mit Henker in der ehemaligen Jesuitenkirche, der Heiligkreuz-Kirche in Landsberg am Lech, wo auch das Noviziat war. Die Darstellung des Martyriums konnte den Novizen ihr eigenes mögliches Martyrium vor Augen führen. In den Fresken in der Kirche des Jesuitenkollegs in Dillingen an der Donau hingegen stellte Scheffler 1751 die japanischen Märtyrer mit dem Kreuz im Arm dar. Fröhlich scheinen sie ihrem Martyrium entgegenzugehen. Hier sollte der Betrachter nicht von Leid überwältigt werden, sondern ihm sollte die erfolgreich abgeschlossene Missionierung der Welt vor Augen geführt werden. Vgl. Schneider, S. 112 f.

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die grausamen Martyrien der Heiligen dargestellt, sondern ihre dadurch erlangte ewige Seligkeit veranschaulicht werden. Somit behielten die Heiligen zwar ihre Vorbildfunktion bei, doch die Bildaussage hatte nun einen anderen Akzent. Zum Zeitpunkt der Altarausstattung scheint die Ermutigung zur Missionierung nicht mehr das Hauptanliegen des Jesuitenordens gewesen zu sein. Zwar dauerte die innere Missionierung in Mähren noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts an,96 doch verzeichnete die böhmische Ordensprovinz für die Missionen in Übersee zu jener Zeit einen personellen Rückgang.97 Es galt nun nicht mehr, missionierende Vorbilder vor Augen zu führen, denen die Ordensbrüder nacheifern konnten. Die Missionierung der Welt wird am Altar als eine bereits erfolgreich vollzogene präsentiert. Vorbilder waren nun die Patrone der studierenden Jugend und der Novizen, die sich durch Sittlichkeit und Frömmigkeit auszeichneten. Allerdings dienten die Jesuitenheiligen am Altar nur noch kurze Zeit als Vorbilder, da der Jesuitenorden sieben Jahre nach der Ausmalung, im Jahr 1773, aufgehoben wurde.

5.

Resümee

Hatte König Ferdinand I. den Jesuitenorden 1556 mit dem politischen Ziel nach Böhmen geholt, damit dieser »seine Bildungstätigkeit« entfalte und die Monokonfessionalisierung der Länder die »kirchliche Landeseinigung« unterstütze, so wird in der Ausstattung der Jesuitenkirche in Iglau deutlich, dass sich »die Jesuiten eher auf die Durchsetzung einer kompromisslosen Auffassung des römischen Katholizismus« und dessen weltweite Verbreitung konzentrierten.98 Die Untersuchung der Deckengemälde hat gezeigt, dass mit Rückbezügen auf die Mutterkirchen in Rom und weitverbreitete Graphiken die Ordensidentität der einzelnen Mitglieder in der böhmischen Provinz gestärkt wurde. Zudem konnten die Jesuiten, indem sie bereits erlangte Erfolge – auch einheimischer Jesuitenmissionare – visualisierten, neue Mitglieder für die innere wie äußere Mission gewinnen. Im Sinne einer politischen Kommunikation kommen in den Fresken also das Selbstverständnis und der universelle Geltungsanspruch der Gesellschaft Jesu in Hinsicht auf die Rekatholisierung Europas und die Missionierung in Übersee zum Ausdruck; zugleich können sie als Aufruf an alle Ordensmitglieder des Kollegs gelesen werden, sich an dieser Weltmission zu beteiligen. Dass die weltweite Missionierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 96 Vgl. Kröss, Geschichte der Böhmischen Provinz, Bd. 3, S. 994 – 1162. 97 Vgl. Grulich, S. 38. 98 Kubisˇta, S. 88.

Bilder von Missionaren – Missionierung durch Bilder?

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mehr oder weniger abgeschlossen war, zeigen die Übermalungen des Gewölbes mit einer Verschiebung des Schwerpunktes von den Missionaren zu den Vorbildern der studierenden Jugend. Hiermit passte sich der Jesuitenorden an veränderte historische Gegebenheiten an. Zugleich kommt auch ein anderes Selbstverständnis zum Ausdruck: Der Orden wollte mit der Neugestaltung besonders seine Leistungen im Bildungsbereich herausstreichen und den Studenten des Kollegs angemessene Vorbilder für ein sittsames und frommes Leben vor Augen führen.

Philipp Hubmann

Transparente Subjekte. Ordnungsästhetik und Jugendtopik im »Bildwerk« der deutschen Fürsorgeerziehung

1.

Ein Atlas der »unerlösten« Bilder

Das Bild der Spielszene »Auf dem Fußballplatz« (Abb. 1) gewährte dem Betrachter um 1912 einen ungewohnten Einblick in das Innenleben einer Institution, die zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geraten war. Das Wissen um die schweren Misshandlungen, die Minderjährige während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in deutschen Fürsorgeerziehungsanstalten erlitten, drang um 1908 durch eine Reihe von skandalträchtigen Prozessen in das öffentliche Bewusstsein vor und prägte bis weit in die 1970er Jahre das Bild der deutschen Anstaltserziehung. Heute mögen Betrachter der schimärenhaften Zöglings-Aufnahmen aus dem Atlas »Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild« (1912/1914) mit Siegfried Kracauer von einer »gespenstische[n] Realität« sprechen, die von den Fotografien ausgeht.1 Die Aufnahmen entpuppen sich nicht zuletzt durch die Isolierung aus dem historischen Kontext als »unerlöst«, zeugen sie doch von Biographien, die verloschen sind und deren individuelle Prägung in der beklemmenden Unschärfe der Bilder, ihrer »sprachlosen Transparenz«, nur andeutungsweise aufscheint, ohne sich gänzlich auszusprechen.2 Es wirkt geradezu, als ob sich Institution und Kulturtechnik in dem Atlas der unerlösten Bilder in einer komplizierten Bespiegelungskonstellation befinden, in der sich der autoritäre Sozialapparat und die Komposition der schemenhaften Fotografie gegenseitig den Nachweis erbringen, die Objekte ihres Interesses, die Masse von Kindern und Jugendlichen, als nichts anderes denn als eine disziplinierte Formation hervorbringen zu können, aus der jegliche individuelle 1 Siegfried Kracauer, Die Fotografie, in: Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 230 – 247, hier S. 240. 2 Michael Sandel zitiert nach Nico Stehr / Cornelia Wallner, Transparenz. Einleitung, in: Stephan A. Jansen / Eckhard Schröter / Nico Stehr (Hg.), Transparenz. Multidisziplinäre Durchsichten durch Phänomene und Theorien des Undurchsichtigen, Wiesbaden 2010, S. 9 – 19, hier S. 10.

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Abb. 1 »Auf dem Fußballplatz«: Altwalder Zöglinge beim Fußballspiel. Aus: Deutsche FürsorgeErziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 219.

Lebenskräfte abgezogen sind. Die Aufnahmen befinden sich in einem »Feld der Sichtbarkeit«, das eine selbstständige, lustvolle und selbstbezogene Subjektposition des jugendlichen Zöglings unterdrückt. Der Prozess der Bildgenese und -rezeption kann sich aus den Machtstrukturen des Kaiserreichs nicht einfach ausklinken. Obwohl sich beim Betrachter Intuitionen eines möglichen Empfindens der Heimkinder einstellen mögen, die sich von dem Machtwillen der Bildproduzenten zu emanzipieren scheinen, sind die Bilder doch zunächst einmal »ein gesellschaftlich bedingtes Formatierungsinstrument, ein Medium der Bündelung historisch kontingenter ebenso wie struktureller Wahrnehmungselemente« und damit zuallererst Bestandteil und Ausdruck der Fürsorgelogik.3 Vor allem durch ihre Entkopplung aus dem zeitgenössischen Kontext treten sie ein in ein »komplexer organisiertes visuelles Feld«, das den ideologischen Horizont des deutschen Anstaltswesens zwar in den Bildträgern einspeichert, ihn allerdings auch produktiv auf Distanz hält und an neue Kontexte anschlussfähig macht.4 In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, eine historische Einordnung der Aufnahmen des »Bildwerks« des Deutschen Fürsorgeerziehungstags zu

3 Johanna Schaffer, Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008, S. 113. 4 Kaja Silverman, Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 41 – 64, hier S. 42; zitiert nach Schaffer, S. 113.

Transparente Subjekte

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leisten.5 Dabei folgt der Aufsatz der Annahme, dass weder der Zeitpunkt der Veröffentlichung des mit zahlreichen großformatigen Bauplänen und Karten sowie einer luxuriösen Anzahl an Abbildungen ausgestatteten Prachtbands noch die Semantik seiner visuellen Informationsträger zufällig waren. Vielmehr vergegenständlichte sich in dem zweibändigen Konvolut ein Manöver der kommunikativen Deeskalation, das die durch Missbrauchsskandale entstandenen politischen Turbulenzen abfangen sollte. Zudem insinuierten die Bände auf einer institutionsinternen Ebene betrachtet einen Akt der Selbstverständigung, der es den über das Land verstreuten Erziehungshäusern erlaubte, die Geschichte und Philosophie anderer Anstalten kennenzulernen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Selbst Involvierten dürfte jedoch nicht entgangen sein, dass die Fotografien deutlich ambivalenter ausfielen, als es die »Sonnenstrahlen«-Rhetorik suggerierte, die Paul Seiffert, der Vorsitzende des FürsorgeErziehungs-Tags, im Vorwort anschlug: »Wie Sonnenstrahlen leuchtet es aber aus allen Beiträgen hervor, wenn nicht bloß das Bete und Arbeite in den Anstalten gepflegt wird, sondern auch der Gemütspflege eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Fast stets ist mit Bewußtsein schon bei der Auswahl der Lage der Anstalt darauf gesehen, daß sie an einem möglichst schönen Orte liegt, mitten in herrlicher Natur. Den armen, zertretenen und gedrückten Kinderseelen soll gleich schon in einer neuen Umgebung das Herz frei und weit werden. Spiele und Selbstbetätigung, Kunst und Selbstverwaltung werden planmäßig getrieben.«6

Nach einem einführenden Abschnitt gilt es die frühe Kritik an dem sozialpolitischen Prestigeprojekt der Wilhelminischen Ära und die Schlagrichtung der Fürsorgeskandale um 1910 aufzuzeigen. Anschließend wird in zwei Abschnitten die Bildsemantik des Nachschlagewerks einer Analyse unterzogen. Hier wird zum einen die ikonographische Tradition sichtbar, in der vor allem die Inszenierung der Räume von Fürsorgeanstalten mit ihrer spezifischen Ordnungsästhetik stand; zum anderen tritt die Visualisierung des Heimalltags in ihrer politischen Dimension hervor, da das angekratzte Image der Institution mit bildlichen Mitteln rehabilitiert werden sollte. Dabei wird die These vertreten, dass gerade das Repräsentationspotential der Fotografie den Anstalten ein vergleichsweise flexibles Instrument der Selbstdarstellung bot, das in den Ausmaßen seiner Sichtbarmachung gegenüber den Medien der Skulptur und des Gemäldes kaum zu bändigen war.

5 Paul Seiffert, Vorwort, in: ders. (Hg.), Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Halle 1912, S. V – VII, hier S. V. 6 Ebd., S. VI.

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2.

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Die Expansion der Fürsorgeanstalten

Mit dem im Jahr 1900 begleitend zum Bürgerlichen Gesetzbuch erlassenen Fürsorgeerziehungsgesetz etablierte sich im deutschen Strafrecht ein Präventivansatz. Die Beschlusslage kam aus einem seltenen Kompromiss zwischen ordo-politisch gesinnten Konservativen und liberalen Kräften des Reiches zustande. »Die Fürsorgeerziehung stieß deshalb auf so großes Interesse, weil sich bei ihr Reformdenken, bürgerliches Sicherheitsbedürfnis und der obrigkeitliche Disziplinarwunsch trafen.«7 Gerade die ungelernten jugendlichen Arbeiter waren dem Bürgertum nach der Gründerkrise von 1873 ein Dorn im Auge, stellten sie doch einerseits die potentielle Gefolgschaft von Marxisten und Sozialisten dar und prägten andererseits zum Verdruss der Bourgeoisie rauchend, trinkend und lärmend das alltägliche Straßenbild.8 Ein rigideres polizeiliches Vorgehen sollte dem Einhalt gebieten. Das erste Aufblühen einer großstädtischen Jugendkultur wie auch die seit 1873 steigende Beschäftigungslosigkeit vieler junger Lohnarbeiter führten zu einem kritischen kulturellen Amalgam, das in Bourgeoisie und Elite zunehmend alarmistische Signale auslöste.9 Ab der Mitte der 1880er Jahren wurde offen über die Eingriffsrechte des Staates in die Familienerziehung diskutiert. Das Zwangserziehungsgesetz von 1878 verordnete schließlich für den Fall einer gerichtlichen Verurteilung von Minderjährigen eine Staatsvormundschaft für die Altersklassen von sechs bis zwölf Jahren, welche die bis dahin geltende absolute Strafunmündigkeit bis zum zwölften Lebensjahr aushebelte. Zwischen 1878 und 1890 wurden in Preußen 17.000 Kinder unter 21 Jahren in die staatlichen Anstalten eingewiesen. Die Reichskriminalitätsstatistik, die 1890 erstmals eine Sparte zur Jugenddelinquenz führte, bestärkte die Reformer darin, eine Nachjustierung des bestehenden Reglements vorzunehmen, die das Fahndungsraster auf jene Minder-

7 Andreas Roth, Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten 1850 – 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, Berlin 1997, S. 418. 8 Gerade Jugendliche aus der Unterschicht litten beim Zugang zu besser bezahlten Jobs an der anspruchsvollen Definition von Berufsqualifikationen durch Industrie- und Handwerkskammern, die sie zwangsläufig auf schlecht bezahlte Stellen festlegte. Vgl. Joachim Fenner, Durch Arbeit zur Arbeit erzogen. Berufsausbildung in der preußischen Zwangs- und Fürsorgeerziehung 1878 – 1932, Kassel 1991. 9 Bernd Dollinger, Jugendkriminalität als Kulturkonflikt, Wiesbaden 2010, S. 22, weist auf die doppeldeutige Verwendungsweise des Begriffs »Jugend« vor 1911 hin: »Historisch wurde der Kollektivsingular ›Jugendlicher‹ am Ende des 19. Jahrhunderts als allgemeine Referenz etabliert. Gemünzt war er vorrangig auf Jugendliche aus unteren Schichten«. Vgl. Hans Malmede, Jugendkriminalität und Zwangserziehung im deutschen Kaiserreich. Ein Beitrag zur Historischen Jugendforschung, Hohengehren 2002, S. 114.

Transparente Subjekte

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jährigen ausweitete, die lediglich im Verdacht der »Verwahrlosung« standen.10 Verwahrlosung blieb dabei eine nebulose Kategorie im Schnittfeld von Kirche, Psychiatrie, Strafjustiz und Pädagogik, die vor allem eine flexible politische, juristische und ärztliche Handhabe garantierte, ohne dass der ›Zustand‹ anhand von klaren Kriterien messbar war.11 Das Symptom der Verwahrlosung stieg dadurch um die Jahrhundertwende zu einem Verdikt auf, das kaum mehr Fragen offen- und zuließ. Die funktionale Verschränkung von Staat, Kirche und Medizin wiederum bildete die Voraussetzung für eine Machtkonstellation, in der Kinder und Jugendliche zu Opfern von Gewalt wurden, da die Verwahrlosten aufgrund des unterstellten sittlichen Defizits als »minderwertig« eingestuft und durch keine effektiven politischen, juristischen und behördlichen Schutzmechanismen vor Übergriffen bewahrt wurden. Das Erziehungsregime war darauf getrimmt, durch »Unterordnung, Drill und christliche Rituale« jegliche Form von »Eigensinn« und »Widerständigkeit« zu brechen, zur Not unter Zuhilfenahme von »körperlichen Züchtigungen, Isolationsmaßnahmen, Ankettungen gegen Fluchtversuche, Nahrungsentzug, kalte Duschen und Zwangsarbeit.«12 Die Einweisungszahlen und die Anstaltsgründungen schnellten durch das grobkörnige Suchraster und den Wunsch nach Disziplinierung der Unterschicht seit dem Erlass des Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehungsgesetzes in die Höhe, wie die Statistiken der Inneren Mission belegen:13 Zählte der protestantische Verband vor 1830 lediglich 23 Heime, nahm deren Anzahl bis 1850 um mehr als das Doppelte, nämlich 59, zu. Der massivste Institutionenaufbau stellte sich im Zeitkorridor zwischen 1850 und 1890 ein, in dem zusätzlich 215 Heime eröffnet wurden. Diese Quote blieb bis 1910 auf einem nahezu unverändert hohen Level,

10 Der institutionellen Verzahnung von Klinik, Wissenschaft und Gericht trug eine proliferierende Publizistik in Fachzeitschriften Rechnung, die sich mit der Kategorisierung, Bewertung und Sanktionierung jugendlicher Devianz beschäftigte. Vgl. Peter Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890 – 1933, Opladen 1990, S. 115. 11 Vgl. Stephan Mikinovic, Zum Diskurs über abweichendes Verhalten von Jugendlichen und das Auftreten des Schuldvorwurfs an die Familie zur Jahrhundertwende, in: Albert G. Hess / Priscilla F. Clement (Hg.), History of juvenile delinquency : a collection of essays on crime committed by young offenders, in history and in selected countries, Bd. 1, Aalen 1990, S. 385 – 445. 12 Anna Bergmann, Genealogien von Gewaltstrukturen in Kinderheimen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25/1 u. 2 (2014), S. 82 – 116, hier S. 84. 13 Dabei gilt es zu beachten, dass die Fürsorgeerziehung lediglich ein kleines Segment sozialpolitischer Initiativen im Kaiserreich ausmachte, dem ein sich ebenso rasant verdichtendes justizielles und wissenschaftliches Netzwerk entsprach. Vgl. Marcus Gräser, Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995, S. 31 f.

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waren es doch nochmals 98 Häuser, die in den beiden Folgejahrzehnten gegründet wurden.14 Die gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen die Fürsorgeerziehung nach 1900 agierte, lassen sich daher als ›gemischt‹ bis ›durchwachsen‹ charakterisieren: Auf der einen Seite sprachen die Aufbruchsstimmung in der Wissenschaft und die Investitionsbereitschaft staatlicher und privater Träger sowie die liberale Haltung einer Großzahl der publizistischen Stellungnahmen für eine kind- und jugendgerechte Erziehung und Ausbildung; auf der anderen Seite waren es systemimmanente Altlasten und eine infrastrukturelle Überforderung, die einer flächendeckenden Umsetzung der Ansprüche im Weg standen.

3.

Frühe Kritik und erste Skandale um 1910

Obgleich der Erlass des Fürsorgeerziehungsgesetzes zur Jahrhundertwende in den Kreisen der Reformer noch als »die größte soziale Tat in der Geschichte der Staaten und Völker« gefeiert wurde, waren pädagogische und infrastrukturelle Probleme vorprogrammiert, die sich nach den ersten öffentlichen Berichten über Missstände gegen Ende des Jahrzehnts mehrten.15 1908 druckte die Zeitschrift »Die Lehrerin in Schule und Haus« den Vortrag eines nicht weiter bekannten Redners namens E. Tietze ab, den dieser unter dem Titel »Licht- und Schattenseiten der Fürsorgeerziehung« vor einem Berliner Volksschullehrerinnenverein gehalten hatte. Tietze schilderte darin den harten Aufprall, den die Reformer nach der Anfangseuphorie zu verkraften hatten, und machte dafür Fehler in der Umsetzung des Fürsorgeerziehungsgesetzes verantwortlich, die von der Beeinflussung der »Bezirkswaisenräte« durch Eltern und Verwandte der Betroffenen bis hin zur »geringen Beteiligung der Bevölkerung bei der Ausführung des Gesetzes« und der Verschleppung des Strafverfahrens gegen auffällige Jugendliche reichten. Als einer der wenigen Autoren ging Tietze allerdings auch auf die hohe Zahl der Ausbrüche aus den Anstalten ein und führte diese auf die Härte der Erziehung zurück.16 Angetrieben durch das Prozessgeschehen um 1910 kristallisierten sich in der Krisendiagnostik zwei weitere Problemdimensionen heraus: (I) die unterschiedslose Mischung von geistig und körperlich Behinderten sowie pathologischen Fällen mit Gesunden, aber ›verwahrlosten‹ Minderjährigen und (II) die schlechte Reputation der Zöglinge. 14 Vgl. Statistik der Anstalten und Vereine der Inneren Mission Deutschlands für die gefährdete und verwahrloste Jugend, Hamburg 1911. 15 E. Tietze, Licht- und Schattenseiten der Fürsorgeerziehung, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 25 (1908/09), S. 598 – 604, hier S. 603. 16 Ebd.

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(I) Unter dem Dach der Fürsorgeerziehung fand sich, so der Pädagoge Hans Keller in einem Aufsatz über »Schwierigkeiten der Fürsorgeerziehung«, eine beträchtliche Anzahl von Heimen, in denen geistig und körperlich Behinderte, psychiatrisch Auffällige wie Lernschwache, Erziehungsresistente, gefährliche Mehrfachtäter und Gelegenheitsdiebe, Arme und Waisen selten getrennt, in der Regel aber gemeinsam untergebracht waren. Von der pauschalen Aussonderung der Gefährdeten und Gefährlichen versprachen sich die Reformer vor allem Synergieeffekte und Ressourceneinsparung. Für Keller war dieser integrative Ansatz hingegen ein Grund für die Anlaufschwierigkeiten der Fürsorgeerziehung. Schließlich barg er die Gefahr, statt dem Verbrechen beizukommen, in den Anstalten eine »Schule des Verbrechens« zu errichten, indem »kriminell Verwahrloste« mit ihrem negativen Charisma einen »unheilvolle[n] Einfluß« auf »jüngere Kameraden« ausübten. Daher sei eine strikte Unterscheidung und Trennung der Anfälligen und der auch zahlenmäßig deutlich überlegenen »geistig Minderwertigen« anzustreben.17 (II) Ein weiterer Faktor, der in den publizistischen Bestandsaufnahmen zu Buche schlug, war die schlechte Publicity der Fürsorgeerziehung, worunter zunächst einmal noch das schlechte Standing der Zöglinge in der Öffentlichkeit verstanden wurde, nicht das der Fürsorgeanstalten. Tatsächlich war es vor allem der investigative Journalismus, der maßgeblich zur Aufdeckung der Missstände in deutschen Heimen beitrug. Drei Skandale, die von zentraler Bedeutung waren, betrafen Anstalten in der Blohmeschen Wildnis (Schleswig- Holstein), Mieltschin (Ostpreußen) und Darmstadt (Hessen). Sie nahmen ihren Ausgang in Prozessen, die – nach dem fulminanten Waisenhausstreit des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in dem noch Philanthropen gegen die Verhältnisse in den karitativen Einrichtungen publizistisch zu Felde gezogen waren18 – den Eintritt in eine zweite Phase der Kontroverse um die Kinder- und Jugendfürsorge markierten. Diesmal waren es ehemalige Heimkinder bzw. deren Angehörige, die gegen die Heimleiter unter öffentlicher Anteilnahme vorgingen und mit ihren Klagen sogar durchkamen. Vor dem Landgericht Itzehoe wurde am 7. Juli 1909 Anklage wegen Nötigung und Körperverletzung gegen den Leiter des Asyls am Neuendeich in der Blohmeschen Wildnis, Friedrich Kolander, erhoben. Wie bei dem ein Jahr später in Berlin aufgerollten Prozess gegen Pastor Breithaupt aus dem ostpreußischen Mieltschin wurden im Laufe der Verhandlungen eklatante Züchtigungsexzesse publik, die fortan das Bild der Fürsorgeerziehung prägten. Gelangten Einzel17 Vgl. Hans Keller, Schwierigkeiten der Fürsorgeerziehung, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 11 (1911), S. 484 – 493, hier S. 488. 18 Vgl. Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, München 1995, S. 259 ff.

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heiten aus dem schleswig-holsteinischen Prozess nur spärlich in die überregionale Presse,19 wurde Breithaupt in Politik und Medien schnell zum Sinnbild der schwarzen Pädagogik, das in Tageszeitungen, Satireblättern wie dem »Simplicissimus« (Abb. 2) und Kriminalanthologien facettenreich beschworen wurde.

Abb. 2: Breithaupt wird aufgrund einer beim Prügeln zugezogenen Muskelverletzung freigesprochen und Zöglinge in die geschlossene Anstalt eingewiesen. Aus: Simplicissimus, Jg. 14 (1909), Heft 20, S. 335.

19 Vgl. Reichsbote 16. Januar 1909, Nr. 13, Beilage 1: Bericht über den 1. Misshandlungs-Prozess in Itzehoe; Hamburger Nachrichten, 19. Januar 1909.

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Die geographische Nähe von Mieltschin zur Hauptstadt Berlin mag ihren Teil zur Privilegierung des Falls Breithaupt beigetragen haben. Rein juristisch unterschied die beiden Prozesse in puncto Schwere der Tat, Uneinsichtigkeit der Angeklagten und Milde des Urteils wenig. Die Rede war von Auspeitschungen mit Eisenketten, Weidenruten und Stöcken, tagelangem Essensentzug, Fesselungen im Keller, Aussperrungen im Winter und sadistischen Erniedrigungen, bei denen die Zöglinge sich mit Fäkalien im Gesicht zu beschmieren bzw. »Kaffee aus ihrem Nachtgeschirr zu trinken« hatten – Strafen, die in Folge von alltäglichen Petitessen (Verschwinden eines Löffels, Milchgeschirr nicht gründlich gereinigt etc.) verhängt wurden.20 Ohne dass sich die Justiz um die Aufklärung dieser Vorwürfe bemühte, wurde in den Verhandlungen gegen Kolander sogar von fünf Todesfällen im Zeitraum zwischen 1906 und 1908 berichtet, bei denen sich hartnäckig Gerüchte hielten, »daß Mißhandlungen und schlechte Ernährung die Mitschuld an dem Tod der Mädchen trügen.«21 Der Hauptangeklagte Kolander wurde am Ende lediglich zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Reue zeigte er wie Breithaupt, der eine achtmonatige Arreststrafe zu verbüßen hatte, keine. So hieß es in den Protokollen lapidar : »Kolander leugnet jede Schuld.«22 In den Interaktionen zwischen Anklage, Staatsanwaltschaft und Verteidigung im Prozess Kolander entspann sich statt der klaren Ablehnung der Taten des Hauptangeklagten ein bizarres Feilschen um legitime Züchtigungsinstrumente (»Reitpeitsche«, »Klopfpeitsche«, »Spazierstock«, »Gummiknüppel«) und Richtwerte für eine angemessene Anzahl von Schlägen (»50 habe er nicht für zuviel gehalten. Daß er einmal ›200 Schläge‹ angeordnet habe, erklärt er für möglich […]. 100 Schläge für Entwendung eines Hühnereis seien allerdings gegeben worden«23). Die Quote körperlicher Strafen sei, so hieß es weiter, mit derjenigen der Vorzeigeanstalt Berlin Lichtenberg vergleichbar.24 Die sozialdemokratische Zeitschrift »Vorwärts« hatte die Verhältnisse in Mieltschin aufgedeckt, im Fall Kolander hatte die Mutter eines misshandelten Mädchens Anzeige erstattet. Es waren tagelange Verhandlungen, in denen unter anderem auch die mangelhafte berufliche Qualifizierung der Angeklagten thematisiert wurde. Kolander, ein gelernter Förster, war maßgeblich auf Betreiben seines Vaters Gustav 20 Prozessakten Strafsache gegen Kolander und Genossen wegen Körperverletzung und Nötigung, 23. Juni 1909, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 320 Steinburg, Nr. 4480. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Hugo Friedländer, Die Vorkommnisse in der Fürsorgeanstalt Mieltschin. Die Züchtigungen des »Pastors« Breithaupt, in: ders. (Hg.), Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Bd. 4: Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Jüngstvergangenheit, Berlin 1911, S. 159 – 228, hier S. 170. 24 Vgl. ebd., S. 176.

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Adolf, des Vorsitzenden des Stiftungsvorstands des Heims und Leiters der Korrektionsanstalt »Ehrenwart«, im Alter von 27 Jahren auf den reputierlichen Posten gehievt worden. Sein Vorgänger Otto Ludwig Fröndt war ein ehemaliger Bahnhofsportier ebenfalls ohne pädagogische Vorbildung. Auch Breithaupt konnte keine entsprechenden Kenntnisse in der Fürsorgeerziehung vorweisen. Neben der mangelhaften Qualifikation der Anstaltsleiter kamen in den Verhandlungen der blinde Gehorsam des Anstaltspersonals und die ausbleibende Anzeigebereitschaft seitens der Bewohner anliegender Dörfer zur Sprache, die teilweise Zeuge von Auspeitschungen waren. Die Prügelstrafe – auch im Erwachsenenalter – genoss um die Jahrhundertwende breite gesellschaftliche Akzeptanz, obwohl sich ein kritischer Diskurs formierte.25 Auf einer politischen Ebene betrachtet, markierten die Prozesse den symbolträchtigen juristischen Sieg von misshandelten Zöglingen über die Anstaltsleitungen und einen Bruch mit dem Dogma der unumstrittenen Verfügungsgewalt staatlicher und privater Autoritäten in öffentlichen Erziehungseinrichtungen. Gleichwohl stellte die Justiz in den Urteilsverkündungen keineswegs jegliches Recht auf Gewaltanwendung in Abrede, schließlich sei die »Erziehungsgewalt« qua Gesetz von dem »Familienvorstand« auf den »Anstaltsleiter« übergegangen, der zu ermessen habe, inwiefern der »allgemeine Zweck der Erziehung« entsprechend dem »Interesse, den Fähigkeiten und Anlagen sowie den sonstigen Verhältnissen des Kindes« und der »Sorge für seine körperliche, geistige und sittliche Ausbildung« anzuwenden sei.26 Trotzdem rückte die Fürsorgeerziehung durch die Prozesse, durch investigative Reportagen der linken Presse und die wiederholten Ausführungen sozialdemokratischer Parlamentarier auf das Radar der öffentlichen Debatten und konnte – auch weil die Tagespresse von den Delikten entlaufener oder ehemaliger Fürsorgezöglinge berichtete – diesen Makel kaum mehr ablegen. Die Informationen über die in einigen Anstalten herrschenden Verhältnisse trieben die Fürsorgeerziehung in der Öffentlichkeit in die Enge. Die defensive Position bot den jugendpolitischen Vereinen und Behörden außer Tagen der offenen Tür, an denen Werkstücke ausgestellt und Aktivitäten mit Förderern unternommen wurden, kaum Spielraum, den eigenen Auftrag adäquat zu kommunizieren. Es mag also angesichts der frühen Legitimationskrise kein Zufall sein, dass sich der Fürsorgeerziehungstag 1912 und 1914 dazu entschied, einen mit zahlreichen Fotografien, Postkarten und Plänen bestückten Pracht25 Zur Prügel- bzw. Körperstrafe vgl. Ingrid Müller-Münch, Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen, 3. Aufl., Stuttgart 2012. Zur Prügelstrafe in der Reformpädagogik vgl. Peter Dudek, »Liebevolle Züchtigung«. Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik, Bad Heilbrunn 2012. 26 Abschrift des Urteilsspruchs, Aktenzeichen 3. D. 203/1909, gezeichnet: Olshausen, Foerster, Boele, Eichelbaum, Grimm, Kiehl, Scholber, S. 6.

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band zu publizieren, in dem sich mit 200 beteiligten Anstalten ein Querschnitt der Fürsorgeinstitutionen präsentierte. Gleichwohl handelte es sich bei dem »Bildwerk«, wie im Folgenden gezeigt werden soll, um keine mehr oder minder eklektische Materialsammlung, sondern um ein strategisch eingesetztes Propagandamittel, das zur Deeskalation der brenzligen Lage dienen sollte, in die sich die Institution manövriert hatte.

4.

Der Zögling als Komparse der defensiven Krisenkommunikation

Im folgenden Abschnitt wird daher ein ikonographischer Aufriss der Fürsorgeerziehung vorgelegt, der in einem ersten Schritt die mediale Schwelle von Skulptur und Malerei hin zur Fotografie mit einer historischen Zäsur der Selbstwahrnehmung der Institute parallelisiert, dann die Beiträge der in die Skandale 1909/10 verwickelten Heime des Asyls auf dem Neuendeich und des Ohlystifts auf ihre Bildsemantik hin analysiert, ehe im 5. Abschnitt anhand ausgewählter Beispiele das visuelle Paradigma der Fürsorgeerziehung im Spannungsfeld zwischen Ordnungsästhetik und Jugendtopik verortet wird. Die privilegierten Medien der Repräsentation der frühen Armen- und Waisenhäuser waren, obgleich es sich um keinen zentralen Erinnerungsort handelte, neben Kupferstichen und Zeichnungen vor allem Skulptur und Malerei (Abb. 3). Die Personengruppen wurden dementsprechend in überschaubaren Szenen arrangiert, in denen zwischen Erzieher, meistens repräsentiert durch die Gründerfigur, und Mündel eine klare Hierarchie bestand. Die Abbildungen im Verzeichnis des Deutschen Fürsorgetags führten diese klare Grammatik der Rettungshäuser vor, in denen das im Sujet angelegte Machtgefälle durch die Aura des Kunstwerks reproduziert wurde. Zwischen Artefakt und Betrachter etablierte es eine Zone des interessierten Wohlgefallens, keine des eingreifenden und kritischen Engagements. Eingang in die historische Überlieferung fanden nur jene Gestalten, die sich durch besondere Leistungen hervortaten. Ihr Name und ihr Erfolg konstituierten das kulturelle Gedächtnis, während die in den Statuen und Gemälden dargestellten Zöglinge namenlose Funktionsträger blieben. Oft genügte es, sie über ihre verschlissene Kleidung und ihre körperliche Unterlegenheit bildlich zu evozieren, um dem Rezipienten klar zu machen, um was und wen es ging. Da die einseitige Abhängigkeit durch sie am adäquatesten vorführbar war, waren es in erster Linie Kinder, die neben den Gründervätern platziert wurden, keine Jugendlichen, die sowohl die Größenverhältnisse als auch die ideologische Ordnung der Szenen ins Ungleichgewicht gebracht hätten.

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Abb. 3: Skulptur von Bischof Ketteler, Gründer der St. Josefs Knabenanstalt in Klein-Zimmern (li.); »Der Gründer der Anstalt, Abt und späterer Bischof von Speyer Haneberg« / St. Nikolausanstalt in Andechs (re.). Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 2 (1914), S. 55 bzw. Bd. 1 (1912), S. 535.

Die Einführung der Fotografie, sollte vermutet werden, durchkreuzte die Logik dieser arkanen Herrschaftsikonographie. Nicht nur erlaubte sie es, die Fixierung auf Autoritäten durch eine beinahe aktuale und quantitativ gesteigerte Bildproduktion aufzuheben. Die Dynamik ihrer Dokumentation vermochte auch im situativen Akt der Bildgenese unbewusste Beziehungsverhältnisse jenseits diskursiv verfestigter Rollengefüge sichtbar zu machen und sich damit aus dem Prokrustesbett literaler Codierungen zu lösen. Insofern kam der Einsatz der Fotografie, auf einer abstrakten semiotischen Ebene betrachtet, der Ideologie der Fürsorgeerziehung grundsätzlich entgegen, stand sie doch in ihren liberalsten Programmen für Enthierarchisierung der Leiter-Zögling-Dyade und setzte statt der Autorität auf die Effektivität des wissenschaftlichen und pädagogischen Knowhows. Die Publikation des Fürsorgeerziehungs-Tages machte von dieser ikonographischen Möglichkeit unmittelbar Gebrauch, die drei in Skandale verwickelten Heime – Mieltschin, Glücksstadt und Darmstadt – unterließen dies allerdings bezeichnenderweise. Zumindest der Verzicht auf eine

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Darstellung Mieltschins erklärt sich durch die Schließung des Heims im Anschluss an den Skandal um Breithaupt. Doch auch die Beiträge des Asyls am Neuendeich und des Ohlystifts zeichneten sich im Vergleich zu der textuellen und visuellen Selbstauskunft anderer Anstalten vor allem durch ihre Defensivität aus – und dies obwohl das Heim in der Blohmeschen Wildnis sogar als einzige Anstalt die Möglichkeit erhielt, sich in beiden Bänden zu präsentieren. Die Frage, ob die fehlende Bereitschaft zur Nutzung eines neuen Mediums unter Umständen einen Hinweis auf einen in den Skandalen zu Tage tretenden Mangel an Professionalität darstellte, muss offen bleiben. Das schleswig-holsteinische Erziehungshaus setzte sich mit den Vorfällen rund um Friedrich Kolander und seinen Vorgänger implizit auseinander. Eine namentliche Nennung der verurteilten Anstaltsleiter unterblieb konsequent, während die Lebensleistung ihrer Vorvorgänger ausführlich gewürdigt wurde. Nur eine schmale Passage ließ die Unruhe im Zusammenhang mit dem Politikum Blohmesche Wildnis erahnen. In dem Band wiederum fanden der unter Kolander erfolgte Ausbau des Hauptgebäudes wie auch die Aufstockung der Zöglingszahlen im Anschluss an den Erlass des Fürsorgeerziehungsgesetzes Erwähnung – immerhin der Ansatz einer Ursachensuche. Ansonsten beließ es der Autor Jakobsen bei vagen Anspielungen auf die Notwendigkeit, fortan die infrastrukturelle Erneuerung mit einer gezielten Schulung und Auswahl des Personals zu flankieren.27 Um den Wandel des Asyls auf dem Neuendeich zu demonstrieren, waren in den Text zwei Gebäudeabbildungen integriert, die in einer schlichten Gegenüberstellung der Hausfronten den Ausbau sichtbar machten. Von den Veränderungen im Inneren der Anstalt gab es keine Aufnahmen, wie auch – außer den Porträts der im Text gerühmten Pioniergestalten Peter Gleiß und Auguste Decker – keine Bilder von Zöglingen und Angestellten präsentiert wurden, die Aufschluss über die Aktivitäten und das Zusammenleben im Heim gaben. Damit spiegelte sich auf visueller Ebene die im Text ausgegebene Marschroute wider : Die Betonung der Rückkehr zum vor 1900 geltenden Seelsorge-Ansatz ging mit einer Renaissance der tradierten Rettungssemantik einher, die die Zöglinge gänzlich aus dem Repräsentationsraum der Anstalt ausklammerte und stattdessen postkartenhafte Gebäudeansichten und Porträts von honorigen Ordensträgern in den Vordergrund rückte. Statt eine Innenansicht zu präsentieren, wurden sprichwörtlich Fassaden errichtet, an denen der suchende Blick des Lesers abprallte. Nicht Liberalismus und eine Ästhetik der Jugend prägten

27 Pastor Jakobsen, Asyl am Neuendeich bei Glücksstadt in Holstein, in: Seiffert (Hg.), Bd. 1, S. 464 – 468.

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die Bildsprache des strauchelnden Instituts am Neuendeich, sondern das Charisma religiöser Führerfiguren. Der von der neuen Heimleiterin Franck verfasste einseitige Text im zweiten Band hatte den gleichen Impetus. Der despektierliche Ton, den Kolanders Nachfolgerin dabei gegenüber den »gefallenen« Mädchen anschlug, war signifikant für einen Verwahrlosungsdiskurs, der trotz des Jargons der Kind- und Jugendgemäßheit die Ressentiments gegenüber den Heranwachsenden aus der Unterschicht verfestigte. Franck betrachtete ihre weiblichen Zöglinge als Wesen, »die bisher ihre Sehnsucht nach Freude in häßlichen Vergnügungen oder gar im Schmutz der Straße stillten«.28 Die Umstände, die zur Prostitution führten, blieben im Dunkeln und die Sexarbeit wurde dementsprechend, statt nach familiären, sozialen oder finanziellen Gründen zu suchen, mit einem perversen Trieb der Minderjährigen erklärt. Die Vorsteherin Franck definierte Seelsorge entsprechend der religiösen Agenda nicht über Kommunikation, individuelle Betreuung und Vertrauen, sondern vielmehr über gemeinsame Gebete, Arbeit und Gesangsunterricht. Das Bildrepertoire des ›spielenden‹ Zöglings, auf den die restlichen Beiträge vielfältig zurückgriffen, zitierte Franck lediglich in einer Passage, in der es um die »Belohnung« der Zöglinge ging und die wohl vor allem den Eindruck einer allzu monotonen und autoritären Erziehung in »unserem sonnigen Heim am Elbestand, das von einem herrlichen Garten umgeben ist«, zerstreuen sollte. »Deichspaziergänge« und »deklamatorische Aufführungen« trugen zum Zeitvertreib der Kinder und Jugendlichen bei. »Das Baden in der Elbe, die Freiübungen und Turnspiele in frischer Luft lassen die Herzen höher schlagen.«29 Der Beitrag des Darmstädter Stadtpfarrers Diehl über das Ohlystift versuchte noch viel konsequenter als die Beschreibung des Asyls am Neuendeich, die problematische Gegenwart bzw. jüngste Vergangenheit durch eine Fokussierung auf die Geschichte der Anstalt zu umgehen. De facto endete die Chronik des Geistlichen im Jahr 1901. Mögliche Missstände wurden durch die Einnahme einer Verwaltungsperspektive ausgeblendet. So wurde die Gründung des Heims als Verdienst des Darmstädter Bürgermeisters Albrecht Ohly dargestellt, die Budgetierung abgeklärt, die unterschiedlichen Ausbaustufen des Gebäudekonglomerats um das zum Heim umgebaute »Gräfenhäuser Schlößchen« dargelegt wie auch die Zöglingszahlen statistisch erfasst (1888/89: 49, 1910/11: 113). 1896 wurde das Stift in ein »Unternehmen« umgewandelt, »das unter dem Schutze der städtischen Verwaltung zu Darmstadt steht«,30 weshalb Diehl auch eine Bilanzierung der Anstalt vornahm, die sich trotz der Privatisierung über Spenden und 28 P. Franck, Das Leben im Asyl Neuendeich, in: Seiffert (Hg.), Bd. 2, S. 294. 29 Ebd. 30 D. Diehl, Das Ohlystift in Gräfenhausem, in: Seiffert (Hg.), Bd. 1, S. 32 – 43, hier S. 40.

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die Zuteilung von Pflegegeldern finanzierte. Der Alltagswirklichkeit der Zöglinge näherte sich der historiographische Bericht nur andeutungsweise an, wenn er beispielsweise die strenge Rhythmisierung der Tagsabläufe aufzählte. Die straffe Durchorganisation des Alltags war in einem »Hausordnungsplan« festgelegt, der eine exakte Choreographie der Handlungssequenzen vorsah, die den Zöglingen kaum Platz für Abweichungen ließen. »Sobald die Weckschelle ertönt, was im Sommerhalbjahr präzis 12 6, im Winterhalbjahr um 7 Uhr geschieht, und was nur in den Monaten Dezember und Januar um eine halbe Stunde verschoben werden darf, erheben sich die im Saale bei den Zöglingen schlafenden und die Aufsicht führenden Aufseher, bzw. Aufseherinnen vom Bette, kleiden sich an und tragen Sorge dafür, daß jeder Zögling in kürzester Zeit sich bekleidet. Von jedem Bette schlägt der Zögling beim Verlassen desselben die Decke sorgfältig zurück, damit der Aufseher sich von der Reinhaltung des Bettwerks überzeugen kann. Nun treten in jedem Schlafsaal einige kräftige Zöglinge, die vom Vorsteher zu diesem Geschäfte bestimmt worden sind, zum Bettmachen an und beginnen ihre Arbeit, während der Aufseher bzw. die Aufseherin zur Reinigung von Gesicht, Hals und Händen abteilungsweise an die Waschtische antreten läßt. Als letzte Gruppe am Waschtisch erscheinen die Bettmacher, nachdem sie ihr Geschäft beendet haben, oder, wenn mittlerweile die Hausglocke zum Kaffee nach dem Speisesaale ruft, schon nach dem Ertönen dieses Zeichens. Kein Zögling verläßt den Vorplatz des Schlafsaales, bevor er vollständig rein gewaschen ist, sorgfältig das Haar gekämmt und seine Waschschüssel entleert hat.«31

Fotografien von Zöglingen sind in dem Beitrag Fehlanzeige. Der sachverwalterische Gestus setzte sich auch in der Bildsprache fort, insofern neben zwei fotografischen Gebäudeansichten zwei raumgreifende Lagepläne des Anstaltsgeländes abgedruckt wurden, die mit den imposanten Ausmaßen des über vier Hektar großen Areals punkten wollten, zu dessen Liegenschaften unter anderen sieben Ställe, ein Backhaus, ein Weiher, ein Schießhaus, ein Schießgarten wie auch Gärten und Baumpflanzungen gehörten.

5.

Das fotografische Paradigma der Fürsorgeerziehung

Die Restriktivität des Bildprogramms tritt nur umso stärker hervor, wenn die Beiträge des Asyls auf dem Neuendeich und des Ohlystifts mit der Motivik der anderen Anstalten verglichen werden, die sich weit aus dem ikonischen Muster der feudal-absolutistischen Makroperspektive herauswagten, um das Alltagsleben in den Anstalten zu dokumentieren. In ihrer offensiven Präsentation einer vermeintlichen Innenseite der An31 Ebd., S. 37 f.

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stalten verstießen viele der Aufnahmen gegen das Dogma der herrschaftlichen Fassaden und Erzieher-Schüler-Hierarchie. Das neue diskursive und bildliche Paradigma orientierte sich nicht mehr an den Werten Glaube und Autorität, sondern am Ideal der Tüchtigkeit, der Hygiene und des Spiels, das den bürgerlich-liberalen, wenn nicht gar experimentellen Geist der Fürsorgeerziehung unterstrich. Die ikonographischen Pole des Bands »Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild« gaben dementsprechend die ostentative Zurschaustellung von Reinlichkeit und einer befreiten Jugendlichkeit ab. Geradezu in Katalogqualität setzten die Anstalten ihr Mobiliar in Szene, durch das die Reinlichkeit, metaphorisch aber generell die Ordentlichkeit und Organisationsleistung der Institute illustriert wurden.32 Aufnahmen von menschenleeren, penibel dekorierten, in ihren Ausdrucksformen gleichwohl schlicht und klar gestalteten Schlafsälen (Abb. 4) und Waschräumen bestachen durch ihre sprichwörtliche Aufgeräumtheit und die Anmut der wohltemperierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die selbst bei der Ausstellung von frappierenden Überbelegungen noch bezwingend wirkten.33 Zur Geltung kamen hierbei in erster Linie die opulenten Räumlichkeiten der nicht selten in alten Herrschaftssitzen untergebrachten Heime und die berückende Qualität des Mobiliardesigns, das bisweilen in seinem werbenden Gestus und seiner Warenästhetik eher an Möbelhauskataloge, denn an Stätten staatlicher Disziplinierung erinnerte. Wie eine Zeichnung von Markus Discher aus den »Prospecten Des Waysen=Hauses In Nürnberg« (ca. 1725) zeigt (Abb. 5), gehörte dieses Werben mit Ordentlichkeit und Hygiene bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum ikonographischen Formenrepertoire der Armenanstalten. Wandmalereien stellten zudem den gestalterischen Reichtum des Zimmers, mehr allerdings die subtile Lenkung der Bewohner der »Knaben Kamer« durch ein Bildprogramm des Heroismus zur Schau.34 Wie Abbildung 6 exemplarisch vorführt, bildeten im Atlas der Fürsorgeerziehung religiöse und sittlich-politische oder gar nationalistische Leitsprüche an den Wänden ebenfalls integrale Bestandteile der Raumkonzeption in Sporthallen, Schlaf- und Speisesälen. Die Inhalte schienen sich vor allem an der Raumfunktion zu orientieren: So waren in Schlaf- und Speisesälen eher religiöse Botschaften zu finden (»Ich will dich nicht verlassen noch versäumen«, 1. Timotheus 6.6). In Turnhallen und 32 Zum bürgerlichen Hygiene-Diskurs vgl. Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760 – 1860, Göttingen 1997; Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765 – 1914, Frankfurt a. M. 2001. 33 Vgl. Seiffert (Hg.), Bd. 1, S. 281. 34 Vgl. Ulrike Brunotte / Rainer Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008; Mechthild Fend, Männlichkeit im Blick visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, Köln 2004.

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Abb. 4: »Schlafraum für kleinere Mädchen« im Johannisstift / Königsberg Pr., Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 238.

Abb. 5: Schlafsaal in den »Prospecten Des Waysen=Hauses In Nürnberg«, Zeichnung von Markus Discher, 22,8 x 31 cm, um 1725. Stadtbibliothek Nürnberg, Nor. K. 304, Bl. 10

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Abb. 6: »Anstalt Solingen, Innenansicht der Fest- und Turnhalle«. Aus: Deutsche FürsorgeErziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 333.

Aulen hingegen wurden in der Tradition des Vormärz Volkslieder aus der Turnerbewegung zitiert, die deutlich militärische Züge aufwiesen, wie jene beiden in einer Solinger Anstalt kombinierten Strophen aus Hans Maßmanns »Ich hab’ mich ergeben« (links im Bild, 1. Strophe) und der Turnerhymne »Turner auf zum Streite« (rechts im Bild, 2. Strophe): »Laßt Kraft uns erwerben, in Herz und in Hand, zu leben und zu sterben Für’s heilige Vaterland Wie im Turnespiele so ist’s in der Welt, der gelangt zum Ziele, der sich tapfer hält«35

Sie vergegenwärtigten auf den Bildträgern indirekt den Inhalt der Indoktrinierung, der den Minderjährigen in tagtäglichen Exerzitien beigebracht wurde, aus dem visuellen Angebot der Bände ansonsten aber fast zur Gänze verschwand. Den Zöglingen wurde in vielen Beiträgen wesentlich mehr Platz zugestanden 35 Seiffert (Hg.), Bd. 1, S. 333.

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als in den reaktionären Beiträgen des Asyls am Neuendeich und des Ohlystifts. Dabei muss auch hier eine grundsätzliche typologische Unterscheidung getroffen werden. Die eine Sorte von Aufnahmen verlängerte den an der katalogartigen Raumpräsentation sichtbar gewordenen Ordnungssinn in die Ikonographie der Zöglinge hinein, die als Kollektiv wahrgenommen und entsprechend berufsbedingten Kriterien in Gruppen eingeteilt wurden, indem sie zum Beispiel die Anstaltskleidung (Abb. 7) oder die Arbeitsgruppen vorführten.36

Abb. 7: »Anstaltskleidung« in den Moritzburger Erziehungsanstalten / Dresden. Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 689.

Die Formation reduzierte den Zögling auf eine Rolle, die ihm antrainiert wurde, um ihn zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen. Person und Raum wurden als Infrastruktur betrachtet, die einem nationalökonomischen Kalkül unterstellt war. Zusätzlich lassen sich der Bildrubrik ›Zöglingsformation‹ auch Aufnahmen zuordnen, in denen Technik nicht berufsqualifizierend, sondern therapeutisch eingesetzt wurde und in denen die Fürsorgeanstalten den hohen technischen Stand ihrer medizinischen Ausstattung demonstrierten (Abb. 8). Susanne Regener hat auf die »visuelle Gewalt« hingewiesen, die von dem wissenschaftlichen Blick der Medizin und Psychiatrie ausging. Die Patientenbilder seien, so Regener, auch daher etwas Besonderes gewesen, weil sie nicht nur den Anforderungen der scientific community Rechnung getragen hätten, sondern vor dem Hintergrund öffentlicher Bildkonventionen und moralischer und 36 Vgl. ebd. die Aufnahmen auf S. 52, 90, 132, 162, 224, 232, 284, 473, 562, 628.

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Abb. 8: »Verbands- und Gipszimmer« des Fürstbischöflichen Krüppelheims zum hl. Geist / Beuthen. Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 446.

normativer Vorstellungen entstanden seien.37 Die offene Ausstellung der nackten Körper von Minderjährigen ließ im zeitgenössischen Rezipienten vermutlich wenig Skrupel aufkommen. Das Schamgefühl der Minderjährigen übergingen die Aufnahmen geflissentlich – und die Fürsorger konnten durch diesen Schritt zumindest auf die Sympathien der rousseauistischen Reformbewegung hoffen, die den nackten Körper zum Symbol der Natürlichkeit verklärte und als Überwindung einer als schädlich empfundenen urbanen Moderne glorifizierte, von der sich auch die Fürsorgeerziehung durch den Rückzug aufs Land abwandte.38 Die Ausstellung des therapeutischen Equipments und seiner Anwendung kann als Akt der »visuellen Gewalt« gedeutet werden, da sie den Zögling der (Repräsentations-) Macht der Heimleiter, Erzieher, Beamten und Ärzte unterstellte und »die Bildwerdung des Patienten als inferiore[n] Mensch« performierte.39 Nicht zuletzt durch die Kriminalanthropologie Cesare Lombrosos avancierte die Fotografie zu einem privilegierten Medium der wissenschaftlichen Episteme, um über die Identifizierung von körperlichen Merkmalen und 37 Susanne Regener, Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2010, S. 22 f. Vgl. hierzu auch Michaela Ralser, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie. Kulturen der Krankheit um 1900, München 2010. 38 Vgl. Klaus Wedemeyer-Kolwe, »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004. 39 Regener, S. 24.

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anthropometrische Messungen frühzeitig die »geborenen Verbrecher« von gesunden Menschen zu unterscheiden.40 Im Kontrast zu den unumwunden disziplinarischen Aufnahmen standen Fotografien, die das Spielen der Zöglinge zeigten.41 In der Rubrik der Spielszenen finden sich Aufnahmen von Zöglingen in Stuben oder auf Spiel- und Fußballplätzen (Abb. 9), die den Vorwurf der einseitig auf Arbeit und Glauben fixierten Erziehung konterten.

Abb. 9: »Spielplatz« der Erziehungsanstalt »Der Eichenhof« in Ostpreußen. Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 222.

Dieses Motiv wurde schon in der Frühen Neuzeit eingesetzt, um dem Freiraum bildliche Evidenz zu verleihen, der den Mündeln von Seiten der Armenhäuser eingeräumt wurde. Die Bildlegende auf einem Kupferstich von Samuel Donnet ließ in diesem Sinne erkennen, dass das Hauptaugenmerk dabei der genauen funktionalen Benennung von Räumlichkeiten galt (»A die Kirche«, »B die Speise Stube«, »C die Schule«, »D die Mädgen Stube« usw.) und nur nachrangig die dargestellten Personengruppen (»T die Waysenkinder auff dem Hoffe«) erfasste (Abb. 10). Im Bildatlas zu Beginn der 1910er Jahre wiederum waren einige Fotografien dezidiert darauf ausgerichtet, die Opposition von Zwang und Vergnügen auf40 Vgl. David G. Horn, The criminal body : Lombroso and the anatomy of deviance, New York 2003; Gert Theile (Hg.), Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, München 2005. 41 Vgl. Seiffert (Hg.) Bd. 1, die Aufnahmen auf S. 4, 117, 182, 243, 269, 274, 285, 299, 337, 363, 390, 398, 400, 433, 496, 560.

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Abb. 10: Ansicht des Spendenhauses in Danzig, Kupferstich nach Johann Jacob Fyrabent, angefertigt von Samuel Donnet, um 1705, 24,5 x 36 cm. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: SP 4671, Kapsel 1080a.

zuheben und entsprechend der Reformpädagogik zu »Spaß am Lernen« umzudeuten:42 beispielsweise durch die Zurschaustellung einer Unterrichtsstunde unter freiem Himmel (Abb. 11) oder einer Marschübung (Bildtitel: »Hinaus in die Ferne«, Abb. 12), bei der ein Junge gemäß dem Ideal der Selbstregulierung das Zepter schwang, während der Rest der Truppe wie auch die Klasse im Freiluftunterricht merkwürdig reserviert wirkten.43 Die Bildsprache der Aufnahmen legte demnach eine Offenheit und Liberalität nahe, die viele der Heime de facto nicht einzulösen im Stande bzw. willens waren. 42 Zur Reformpädagogik vgl. Reinhard Dithmar (Hg.), Schule zwischen Kaiserreich und Faschismus. Zur Entwicklung des Schulwesens in der Weimarer Republik, Darmstadt 1981; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001. 43 Das Ideal der Selbstregulierung wurde spätestens nach der Gründung von W. R. Georges »Junior Republic« am 10. Juli 1895 in Freeville (USA) in den Kreisen der Reformbewegung lebhaft diskutiert. Die sog. »Kinderrepubliken«, die später entstanden, basierten auf dem Prinzip einer radikalen Selbstverwaltung, die bei der Einrichtung von Schulen, Betrieben, Parlamenten und Gefängnissen streng dem Vorbild des Staates folgten und auf die Selbsterziehung zum mündigen Bürger setzten. Johannes Martin Kamp hat diesen Resozialisierungsansatz bis zu Valentin Friedlands 1531 gegründeter res publica scholastica zurückverfolgt und von dort aus einen weiten Bogen über radikal-demokratische Erziehungsrepubliken nach der Französischen Revolution bis hin zu den Kindergemeinden in den USA, Österreich und Großbritannien des 20. Jahrhunderts gespannt. Vgl. Johannes-Martin Kamp, Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen, Wiesbaden 1995.

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Abb. 11 »Schule im Park«: Freiluftunterricht in der Beobachtungsabteilung für Jugendliche der Städtischen Irrenanstalt Frankfurt a. M. Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 143.

Abb. 12 »Hinaus in die Ferne«: Marschübung im katholischen Rettungshaus »zum guten Hirten« / Steinseifersdorf an der hohen Eule. Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 432.

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Vielmehr gingen Disziplinierungsdenken und liberale Erziehungsvorstellungen bisweilen eine bizarre Symbiose ein, wenn beispielsweise Pastor Knaut in einem Aufsatz die »Selbstverwaltung« der Zöglinge und den Wunsch der Unterwerfung konzeptuell zum Verschmelzen brachte, indem er ein Begehren der Jugendlichen nach Unterordnung postulierte, wodurch liberale und konservative Erziehungsideale zusammenfielen. »Die freiwillige Unterordnung, die Anerkennung der Autorität eines Erwachsenen, zu dem sie Vertrauen gefaßt haben, ist ein gemeinsamer Zug der Jugendlichen.«44 Der Vorsitzende des Deutschen Fürsorgeerziehungstages, Paul Seiffert, wiederum musste keine intellektuellen Verrenkungen anstellen, um den autoritären Anstaltsalltag und einen zeitgemäßen Erziehungsstil zusammenzudenken. Für ihn stand die Notwendigkeit des machtvollen pädagogischen Eingriffs in das Denken und Fühlen der Schutzbefohlenen außer Zweifel. »Wir müssen stramme Erziehung halten, bis sie [die Zöglinge] sich beugen lernen.«45 Pubertäts- und adoleszenzbedingte Verhaltensauffälligkeiten der Jugendlichen sollten von den Erziehern konsequent unterbunden werden. Dadurch war Konflikten zwischen Erziehern und Zöglingen Vorschub geleistet. Denn bei dem Großteil der Mündel handelte es sich um männliche bzw. weibliche Jugendliche, die erst im Alter von 16 oder 17 Jahren in die Heime eingewiesen worden waren und deren Integration in die Gemeinschaft und die Arbeitsabläufe der Anstalten dementsprechend schwer fielen.46 Da die Fürsorge über das 18. Lebensjahr ausgedehnt werden konnte, »befanden sich in preußischen Erziehungsanstalten zu einem erheblichen Teil junge Erwachsene, die bereits das Alter der vollen Strafmündigkeit erreicht hatten.«47 Die Jugendtopik, die im »Bildwerk« des Fürsorgeerziehungstags entwickelt wurde, behalf sich mit einer Reihe von Stereotypen des selbstständigen, lebensfrohen und zupackenden Heranwachsenden, um das diskursive Defizit, nämlich die generelle Ablehnung jugendspezifischer Verhaltensweisen, die es paradoxerweise gerade in der Fürsorgeerziehung zu bekämpfen galt, zu kaschieren. Der Atlas agierte dabei teilweise äußerst subtil, indem er nicht nur ein liberales Bildrepertoire durch Darstellungen von Unterricht im Freien und Spielszenen aufrief, sondern die Agentialität der Zöglinge sogar durch die Delegation der Fotoarbeit simulierte. (Abb. 13, Unterzeile: »Aufgenommen von einem 14-jähr. Zögling der Anstalt«). Die Bildunterzeile verbalisierte auch hier, was die visuellen Informationsträger evozierten: Freiheit, Gehorsam und Verzicht auf Einsperrung und 44 Zitiert nach Dietrich Oberwittler, Erziehen statt Strafen? Jugendkriminalpolitik in Deutschland und England 1850 – 1920, Frankfurt a. M. 2000, S. 166. 45 Zitiert nach ebd., S. 167. 46 1911 betraf dies nach Oberwittler 40 Prozent der männlichen und 56 Prozent der weiblichen Jugendlichen in den Erziehungsheimen, vgl. ebd. 47 Ebd., S. 172 f.

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Abb. 13 »Aufgenommen von einem 14.–jähr. Zögling der Anstalt«: Der Zögling als Fotograf im Erziehungshaus Vahrenwald in Hannover. Aus: Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild, Bd. 1 (1912), S. 123.

Sanktion. Dem Zögling wurde eine Handlungsmacht zugestanden, die ihm der rigide Verhaltenskodex im Alltag kaum einräumte. Doch die Bilder schufen eine Parallelwelt, die in ihrer ästhetischen Evidenz kaum einzuholen war. Denn gerade dem Medium der Fotografie wurde im frühen 20. Jahrhundert ein hoher Realitätsgehalt zugesprochen, indem es Ärzten und Kriminologen ein entscheidendes Diagnose- und Beweisverfahren zur Verfügung stellte, um zwischen Kranken und Gesunden, Kriminellen und Unbescholtenen zu unterscheiden. Die epistemologische und ideologische Unschuld des jungen Mediums Fotografie machte sich auch der Deutsche Fürsorgeerziehungstag in seinem suggestiven Materialband zunutze. Er stieß dabei in der Ikonographie des Armenwesens in neue Dimensionen vor, insofern er nicht nur Hygiene und Ordnung in Szene setzte, wie dies schon Markus Discher in seinen »Prospecten Des Waysen=Hauses In Nürnberg« vorgeführt hatte, sondern auch Imaginationen

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von Jugendlichkeit mobilisierte, die Samuel Donnets spielende »Waysenkinder auff dem Hoffe« an habituellem Facettenreichtum und ästhetischer Plastizität bei weitem übertrafen. Gerade der Vergleich mit Donnets Kupferstich macht die ikonographische Besonderheit der Zöglings-Aufnahmen im Fürsorge-Kompendium deutlich: Die Makroperspektive und Draufsicht wurde zu Gunsten einer Perspektive ›auf Augenhöhe‹ aufgegeben, zwischen Bildproduzent und -objekt wurde ein enthierarchisiertes Rollenspiel fingiert; die Fotografien widmeten sich nun nicht mehr nur den Anstaltsleitern, sondern in ihrer überwiegenden Mehrzahl den Zöglingen und den Räumen sowie Situationen, in denen sie sich befanden. Unabhängig von den Erziehern durften die Heranwachsenden auf den Aufnahmen in ihrer Arbeitsumgebung als kollektivierte Rollenträger hervortreten. Eine Abbildung als Individuum mit markanten Zügen und in charakteristischen Posen hingegen wurde ihnen verwehrt. Der shift of representation fiel ganz zu ihren Gunsten aus, obwohl die Position, die sie gegenüber den Bildproduzenten und dem Akt der Visualisierung einnahmen, eine weitgehend teilnahmslose, ungeübte, widerwillige blieb. Trotzdem schaffte es der Atlas durch sein an bürgerlichen Werten orientiertes Bildprogramm die Grenze zwischen Unterschicht und Oberschicht, Eliteinternat und Fürsorgeanstalt nahezu einzuebnen und die aufkeimende Kritik mit der Manifestation eines umfassenden medizinisch-pädagogischen Bemühens einzuhegen. Die Bilder konnten in ihrer Ambivalenz kaum ideologisch kontrolliert werden, und es war nicht zu übersehen, dass es sich die Fürsorgeerziehung in dem Propagandaband gestattete, öffentlich zu reüssieren – nicht nur, um dem Kriseln der Akzeptanz Einhalt zu gebieten, sondern auch, um visuell ein Anspruchsdenken zu formulieren, das die Euphorie des Anfangs und die erbrachten Leistungen der Fürsorgeerziehung trotz journalistischer und politischer Anfechtungen einfing und bewahrte.

6.

Schlussbetrachtung: Lackierte Not?

Es ist wohl keine zu steile These, davon auszugehen, dass die Ikonographie der Fürsorgeerziehung erst Ende der Weimarer Republik von der Seite der Autoritäten auf die Seite der Minderjährigen pendelte und es damit zu einem Perspektivenwechsel in Hinsicht auf die politische Kommunikation kam. Eine der wichtigsten Figuren in dieser zweiten Welle des öffentlichen Aufruhrs um die Anstalten im 20. Jahrhundert, der vor allem durch Heimrevolten verursacht wurde,48 war der Maler und Schriftsteller Peter Martin Lampel.49 Lampel sam48 Vgl. Sarah Banach, Der Ricklinger Fürsorgeprozess 1930. Evangelische Heimerziehung auf dem Prüfstand, Opladen / Framington Hills 2007.

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melte während einer Hospitanz im Berliner Struveshof autobiographisches Material von Zöglingen, das er kombiniert mit Abbildungen eigener Gemälde und Zeichnungen (Abb. 14) 1928 unter dem Titel »Jungen in Not« herausgab.50

Abb. 14: Porträts von Zöglingen aus dem Struveshof, Peter Martin Lampel. Aus: Peter Martin Lampel, Jungen in Not, Berlin 1928, Einband bzw. S. 113.

Vor allem durch das im folgenden Jahr von dem Autor geschriebene Theaterstück »Revolte im Erziehungshaus«, das auf der Piscator-Bühne eine fulminante Premiere feierte, kam Lampel über Nacht zu Prominenz. Wenige Jahre später wurde das Theaterstück von dem Regisseur Georgi Asagaroff verfilmt. Die Fürsorgeerziehung setzte sich durch den durchschlagenden Erfolg der Theaterund Filmproduktionen im Themenspektrum der späten Weimarer Republik fest. So romantisierend Lampels Porträts waren, so deutlich markierten sie als Bestandteil des Materialbands den Auftakt einer politischen Debatte über staatliche und private Heime, in der auch die Zöglinge zu Wort kamen; und mehr noch: in der nun sie, zumindest in Lampels Kunst, als Akteure des Systems und nicht mehr nur als Anhängsel honoriger Erzieher auf Statuen und Gemälden

49 Günter Rinke, Sozialer Radikalismus und bündische Utopie. Der Fall Peter Martin Lampel, Frankfurt a. M. 2000. 50 Peter Martin Lampel, Jungen in Not, Berlin 1928.

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figurierten oder als biopolitische Masse oder reformpädagogische Aktanten in Kollektivsemantiken verschwanden. Die beiden Konvolute »Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild« (1912/14) und »Jungen in Not« (1928) können demnach als komplementäre propagandistische Projekte betrachtet werden, in denen mit einer Ästhetik der Objektivierung bzw. Subjektivierung ein bestimmter Blick auf die umstrittene Institution politisch durchgesetzt werden sollte. Lampel handelte sich aufgrund dieser Subjektivierung des Materials nicht zuletzt von Kurt Tucholsky eine Rüge ein, hatte es Lampel doch konsequent unterlassen, die Aussagen der Zöglinge auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen.51 »Die Berichte, die zum Teil erschütternd und fast immer sehr aufschlußreich sind, diese Berichte ohne Kommentar und Prüfung zu geben, genügt nicht.«52 Auch an den Gemälden ließ der Kritiker kein gutes Haar. Laut Tucholsky zeugten sie von der »Verliebtheit« des Zeichners und gaben hinsichtlich des Fürsorgediskurses nichts anderes ab als »[l]ackierte Not«.53 Zweifellos hatten die Bilder durch die modischen Posen der Zöglinge einen ikonischen Anstrich, sie erlaubten den Zöglingen aber nichtsdestotrotz sich selbst als jugendliche Individuen zu präsentieren und die Codes ihrer Peer-Group gegen die Konventionen der Erwachsenen zu behaupten. Der Doppelband »Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild«, mit dem sich dieser Aufsatz beschäftigt, ließ für derlei Individualismen keinen Platz – selbst wenn sich das Programm des »Bildwerks« durch den Einsatz der Fotografie dezidiert von der ikonographischen Tradition der Armen- und Waisenhäuser absetzte und ein vergrößertes Tableau an (gestellten) Alltagsszenen erschloss, das dem Betrachter einen detaillierteren Einblick in das Innenleben der Anstalten gewährte. In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass die Veröffentlichung des Konvoluts als Reaktion auf die Krise der Fürsorgeerziehung zu werten ist, die zunächst im Fachdiskurs angesiedelt war und ab 1908 in ihrer Vehemenz durch mehrere Skandale verstärkt wurde. Der Deutsche Fürsorgeerziehungstag entschloss sich, gegenüber den beteiligten Institutionen und der Öffentlichkeit in einem kalkulierten Akt der bildlichen Aufklärung gewissermaßen reinen Tisch zu machen. Hierbei galt: »Die Grenzen dessen, was transparent gemacht werden soll, sind keine vorab definierten, sondern ein Produkt sozialer Ausverhandlungsprozesse.«54 Insofern bewegte sich die Bild51 Erst vor wenigen Jahren wurden alle von Lampel in Auftrag gegebenen autobiographischen Aufzeichnungen der Zöglinge ediert. Vgl. Werkstatt Alltagsgeschichte (Hg.), Du Mörder meiner Jugend. Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik, Münster 2011. 52 Kurt Tucholsky, Peter Martin Lampel, »Jungen in Not«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3: 1929 – 1932, hrsg. von Fritz J. Raddatz u. a., Reinbek bei Hamburg 1961, S 114. 53 Ebd. 54 Stehr / Wallner, S. 11.

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produktion in den ideologischen Grenzen der Reformbewegung, die sich sowohl von der modernen Großstadt abwandte und die Natur romantisierte, als auch eine starke Affinität zu diagnostischen Verfahren der Psychopathologie und eine Vorliebe für experimentelle Lernsituationen hatte – ohne diese ansatzweise flächendeckend umsetzen zu können. Daher kann der Band ohne Übertreibung als bürgerliche Projektion gewertet werden, die das präventive Erziehungsprogramm für »verwahrloste« Unterschichtenkinder zum pädagogischen Traumgebilde verklärte. Mit Tucholsky ließe sich auch Seifferts »Bildwerk« demnach der Vorwurf machen, es liefere »lackierte Not«, wobei die Fotografien von den Anstalten und den arrangierten Körpern der Minderjährigen eben kaum verhehlen konnten, dass die Zöglinge, die sich in den Instituten einem militärischem Besserungsregiment zu beugen hatten, aufgrund ihrer schieren Anzahl, der herrschenden Ideologie und der klein getakteten Rhythmisierung des Alltags für die Augen der Fürsorger nahezu unsichtbar waren. Stattdessen brachte das »Bildwerk« die chamäleonhafte Gestalt der Fürsorgeheime zum Vorschein, die Michel Foucault am Beispiel der Jugendstrafanstalt von Mettray beschrieb. Mettray habe, so Foucault, »etwas vom Kloster, vom Gefängnis, vom Kolleg, vom Regiment« und bereite gerade durch diese funktionale Mischung dem Radarsystem der bürgerlichen Öffentlichkeit massive Probleme. Damit korrespondierte der spezifische ideologische Mix der deutschen Fürsorgeanstalten, da er durchaus nicht zur Aufklärung der Frage beitrug, was die Fürsorgeerziehungsanstalt letztlich war.55 Die Antwort, an die Bilder zurückadressiert, müsste mit Foucault formuliert lauten: »Alles« – Schule, Jugendherberge, Familie, Krankenhaus, Ausbildungsbetrieb, Sportverein. Doch dieses »Alles« und die Totalisierung, die der voluminöse Fürsorgeband erprobte, hatten natürlich ein Außen und eine Grenze, von der aus, wie Lampels Initiative später zeigte, effektiv Kritik geäußert werden konnte. Nichtsdestotrotz kann nach der kalkulierten Herstellung von Transparenz und dem Nachweis der pädagogischen und infrastrukturellen Innovativität eine weitere politische Kommunikationsstrategie des Verzeichnisses »Deutsche Fürsorge-Erziehungs-Anstalten in Wort und Bild« darin gesehen werden, die Frage nach der Legitimität des »Prinzip[s] der außergerichtlichen Inhaftierung« durch die Aufbietung einer vertrackten, totalisierenden ästhetischen Text- und Bild-Struktur vergessen zu machen.56 Damit wurde ein Komplexitätsaufbau betrieben, der die Fürsorgeerziehung als unilaterales Feindbild auflöste und so gegen die Pauschalangriffe ihrer Gegner immunisierte.

55 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994, S. 379. 56 Ebd.

Funktions- und Wirkungsweisen bildlicher Repräsentationen

Birgit Emich

Gewalt kommunizieren. Die Pariser Bluthochzeit 1572 – oder: Die Auflösung des Martyriums im Massaker

1.

Einleitung

Ereignisse treten vor Augen – sie ›eräugnen‹ sich, sie werden sichtbar, wahrnehmbar1 – aber in welcher Gestalt sie sichtbar werden, ergibt sich keineswegs aus dem Ereignis selbst. Ereignisse unterliegen der Deutung: Sie werden eingeordnet, in ein Weltbild integriert, mit Sinn versehen. Dabei konkurrieren oftmals unterschiedliche Interpretationsangebote, die stets auch mit Geltungsansprüchen einhergehen. Solche Ansprüche auf die Deutungshoheit werden keineswegs nur im Medium von Sprache und Text erhoben; die Deutung zunächst überraschender, schwer verständlicher Ereignisse vollzieht sich immer auch im Medium des Visuellen. Diese Einsichten sind natürlich nicht neu; sie haben in den letzten Jahrzehnten eine kaum noch überschaubare Flut an Forschungsarbeiten zu den Wahrnehmungen und Deutungen besonderer Ereignisse, zu ihren medialen Repräsentationen und den damit verbundenen Geltungsansprüchen, zur Konstruktion solcher Ereignisse in einem Prozess intermedialer Wechselwirkung hervorgebracht.2 Dies gilt auch und vielleicht vor allem für Akte extremer Gewalt, die in der Frühen Neuzeit kaum ohne konfessionelle Dimension zu denken sind. Das Martyrium Einzelner, die für ihren Glauben zu sterben bereit waren, das Massaker an einer Vielzahl wehrloser Menschen – solche Gewaltexzesse forderten nicht nur die 1 So die etymologische Ableitung nach dem Duden. Komplexer zum Ereignis-Begriff: Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis, Struktur (1973), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 144 – 157. 2 Als eine Art Zwischenbilanz darf ich auf zwei eigene Arbeiten verweisen, in denen ich den damaligen Stand der Überlegungen zusammenzufassen und im Blick auf die Frage der Quellenkritik voranzubringen versucht habe: Birgit Emich, Bildlichkeit und Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31 – 56; dies., Bilder einer Hochzeit. Die Zerstörung Magdeburgs 1631 zwischen Konstruktion, (Inter-)Medialität und Performanz, in: dies. / Gabriela Signori (Hg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2009, S. 197 – 235.

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Birgit Emich

Zeitgenossen und ihre Deutungskraft heraus, sie haben auch die historische Forschung der letzten Jahre zunehmend beschäftigt.3 In diesem Feld verortet sich auch die vorliegende Studie. In ihrem Mittelpunkt steht einer der bekanntesten Gewaltausbrüche der Frühen Neuzeit: die auch als Pariser Bluthochzeit berühmt gewordene Bartholomäusnacht von 1572. Die Bartholomäusnacht gilt mitunter als »das klassische Massakerereignis der Frühen Neuzeit«.4 Andere Stimmen betonen hingegen den religiösen Charakter dieses Tötens und Sterbens, mithin den Charakter der Bartholomäusnacht als Martyrium.5 Ob dieses Ereignis als Martyrium oder eher als Massaker einzuschätzen ist, mag man auf den ersten Blick für eine nebensächliche Frage halten. Doch was wie ein Streit um das richtige Etikett für die historische Konservendose wirkt, hat schon die Zeitgenossen beschäftigt. Denn schließlich – und das möchten die folgenden Überlegungen zeigen – ist die Entscheidung zwischen den Begriffen ›Martyrium‹ und ›Massaker‹ eine Entscheidung zwischen zwei Deutungsmustern, die dem Geschehen und den Akteuren in jeweils eigener Weise Sinn und Bedeutung zuschreiben und das Ereignis in durchaus unterschiedlichen Kontexten verorten. In der Bartholomäusnacht stoßen diese beiden Deutungsmuster aufeinander : Die medialen Repräsentationen der Pariser Bluthochzeit geben 3 Das Martyrium ist in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten zunehmend zum Gegenstand der historischen Forschung geworden. Grundlegend für die Frühe Neuzeit: Brad S. Gregory, Salvation at stake: Christian martyrdom in early modern Europe, Cambridge, Mass. 1999; Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004. Ebenfalls in mehreren Tagungen, Sektionen und Sammelbänden unterschiedlicher Ausrichtung gewürdigt wurde das Massaker. Für die deutschsprachige Frühneuzeitforschung zu nennen ist hier die von Hans Medick und Peter Burschel veranstaltete Sektion zum Thema »Massaker in der Frühen Neuzeit« auf der 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im September 2003 in Berlin. Die Beiträge zu dieser Tagung wurden veröffentlicht in: Claudia Ulbrich / Claudia Jarzebowski / Michaela Hohkamp (Hg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit, Berlin 2005. Darauf aufbauend: Peter Burschel, Art. »Massaker«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart / Weimar 2008, Sp. 110 – 112. Vgl. auch ders., Das Heilige und die Gewalt. Zur frühneuzeitlichen Deutung von Massakern, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 341 – 368. Exemplarisch für die internationale Forschung: Mark Levene / Penny Roberts (Hg.), The massacre in history, New York / Oxford 1999; David El Kenz (Hg.), Le massacre, objet d’histoire, Paris 2005. Konzentriert auf den Aspekt der medialen Inszenierung: Christine Vogel (Hg.), Bilder des Schreckens. Die mediale Inszenierung von Massakern seit dem 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006. Als aktuelleres Beispiel, das sich ebenfalls ausdrücklich mit visuellen Verarbeitungen beschäftigt: Ramon Voges, Macht, Massaker und Repräsentation. Darstellungen asymmetrischer Gewalt in der Bildpublizistik Franz Hogenbergs, in: Jörg Baberowski / Gabriele Metzler (Hg.), Gewalträume. Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2012, S. 29 – 69. 4 Hans Medick, Massaker in der Frühen Neuzeit, in: Ulbrich / Jarzebowski / Hohkamp (Hg.), S. 15 – 19, hier S. 18. 5 Vgl. etwa Martin Schieder, Die göttliche Ordnung der Geschichte. Massaker und Martyrium im Gemälde »La Saint-Barth¦lemy« von FranÅois Dubois, in: Uwe Fleckner (Hg.), Bilder machen Geschichte. Historische Ereignisse im Gedächtnis der Kunst, Berlin 2014, S. 127 – 140, 479 – 481.

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einen Vorgang zu erkennen, den ich annäherungsweise als Auflösung des Martyriums im Massaker bezeichnen und im Folgenden näher untersuchen möchte. Den Anlass zur Bartholomäusnacht hatte allerdings eine Hochzeit gegeben.6 Nachdem Frankreich seit 1562 mehrere Religionskriege mit nur kurzen Pausen erlebt hatte, standen die Zeichen auf Ausgleich: 1570 war der Frieden von St. Germain geschlossen worden, der den Hugenotten, den französischen Calvinisten, zwar keine volle Toleranz, aber doch größere Freiheiten brachte. Zur Besiegelung dieser neuen Nähe sollte Margarete, die Schwester des französischen Königs Karls IX., den Führer des hugenottischen Hochadels, Heinrich von Navarra, heiraten. Allerdings war diese Annäherung nicht unumstritten: Vor allem auf katholischer Seite gab es, mit der Familie der Guise an der Spitze, eine kampferprobte und -bereite Opposition gegen jeden Kompromiss mit den ›Ketzern‹. Und als auch noch der militärische Kopf der Hugenotten, Admiral Coligny, zunehmend Einfluss auf den jungen König Karl IX. zu gewinnen drohte, war auch die Königinmutter, Katharina von Medici, alarmiert. Wie angespannt die Situation war, zeigte sich kurz nach der Hochzeit, die am 18. August 1572 im Louvre gefeiert wurde. Wer genau was wann auf wessen Rat hin angeordnet hat, liegt bis heute im Dunkeln. Fest steht jedoch das Folgende: Am 22. August wurde, wohl von den Guise, ein Anschlag auf Coligny verübt, der allerdings überlebte. Nun stand die Rache der Hugenotten zu befürchten: der Pariser Hugenotten, die hier als schlecht geduldete Minderheit lebten, und der meist hochgestellten Hugenotten, die anlässlich der Hochzeit aus dem ganzen Land nach Paris gekommen waren. Um Vergeltungsakten zuvorzukommen, beschloss die Krone – der König mutmaßlich auf Druck seiner Mutter – Coligny und mit ihm etwa 50 der führenden Hugenotten ermorden zu lassen. Dieser Auftragsmord geschah am frühen Morgen des 24. August – dem Tag des Heiligen Bartholomäus. Damit war die Situation aber keineswegs entschärft. Im Gegenteil: Die Nachricht vom Tod der hugenottischen Elite erschien den Katholiken als Fingerzeig Gottes: Der König hatte es so gewollt, Gott wollte es so, und sie selbst standen bereit, ihren Beitrag zu diesem Strafgericht zu leisten. So entluden sich die Spannungen zunächst in Paris, dann auch in anderen Städten Frankreichs in einem Gewaltexzess, wie ihn die an Gräueln nicht armen Religionskriege bisher noch nicht erlebt hatten. Allein in Paris tötete der Lynchmob mehrere Tausend Menschen, in zwölf anderen Städten kamen Tausende weitere Opfer hinzu. Die

6 Allgemein zum historischen Hintergrund: Julien Coudy (Hg.), Die Hugenottenkriege in Augenzeugenberichten. Mit einem historischen Abriß von Ernst Mengin, Düsseldorf 1965; Mack P. Holt, The French wars of religion, 1562 – 1629, Cambridge 1995; Robert J. Knecht, The French wars of religion, 1559 – 1598, 3. Aufl., Harlow / New York 2010.

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Gesamtzahl ist schwer zu ermitteln, Schätzungen schwanken zwischen 5.000 und 30.000 Todesopfern. Doch nicht nur die Zahl der Toten war enorm: Auch das öffentliche Echo auf dieses Ereignis überschritt das übliche Maß. Flugblätter und Flugschriften, Gemälde, Stiche und Medaillen setzten ins Bild nicht, was geschehen war, sondern, was die Menschen darüber dachten. Diese Quellen geben Auskunft über die Deutungen der Zeitgenossen, und genau deswegen dürften sie eine Antwort auf die Fragen liefern, ob die Bartholomäusnacht als Martyrium oder eher als Massaker verstanden wurde, welche unterschiedlichen Sichtweisen des Geschehens mit diesen Deutungsmustern einhergingen und wovon die Entscheidung, extreme Gewalthandlungen als Martyrium oder als Massaker zu präsentieren, abhing. Behandelt werden diese Fragen in drei Schritten: Der erste Teil bietet einen kurzen Überblick über die Rolle des Martyriums bei Calvin und den französischen Hugenotten bis zum Jahr 1572. Der zweite, deutlich längste Teil konzentriert sich auf die Bartholomäusnacht und deren Deutungen vor allem in visuellen Medien. Dabei wird sich zeigen, dass das bis 1572 als Deutungsmuster voll entwickelte Martyrium mit der Bartholomäusnacht in eine Krise geraten war. An welchen Faktoren dies lag, was dies für das Verhältnis von Martyrium und Massaker heißt und wie sich die Konkurrenz dieser Deutungen in Frankreich nach 1572 entwickelte, wird im abschließenden dritten Teil kurz zu bilanzieren sein.

2.

Die Vorgeschichte: Die Rolle des Martyriums bei Calvin und den französischen Hugenotten bis zum Jahr 1572

Dass die Bartholomäusnacht als Martyrium der Opfer gedeutet worden sein könnte, legt ein Blick auf die Vorgeschichte, d. h. auf die Rolle des Martyriums bei Calvin und den französischen Calvinisten vor 1572 nahe.7 Generell maßen die Theologen des 16. Jahrhunderts dieser radikalen Form des Glaubenszeugnisses nicht zuletzt vor dem Hintergrund der konfessionellen Konkurrenz große Bedeutung bei. Je größer die unmittelbare Gefahr war, umso realer und damit wichtiger wurde die Figur des Martyriums. Das gilt für die katholischen Missionare, die sich vor gemalten Märtyrerzyklen wie jenen in Santo Stefano Rotondo in Rom auf ihre Aufgabe und ihr mögliches Ende vorzubereiten hatten.8 Es 7 Absolut grundlegend hierzu: David El Kenz, Les b˜chers du roi. La culture protestante des martyrs (1523 – 1572), Seyssel 1997. 8 Zu den Märtyrerzyklen in Santo Stefano Rotondo und ihrem Kontext vgl. Herwarth Röttgen, Zeitgeschichtliche Bildprogramme der katholischen Restauration unter Gregor XIII. 1572 –

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gilt ebenso für die radikalen Vertreter der Reformation, die, wie etwa die Täufer, ständiger Verfolgung ausgesetzt waren.9 Und es gilt auch für Johannes Calvin.10 Calvin hat sich von allen gemäßigten Reformatoren wohl am meisten mit dem Martyrium beschäftigt: aus theologischen Gründen, weil seine Hochschätzung des tugendhaften Lebens in der absoluten Tugend des Märtyrers ein Vorbild fand; aber auch aus praktischen Gründen. Anders als die Lutheraner im Heiligen Römischen Reich waren Calvins Anhänger nicht nur in den stürmischen Anfangsjahren vom Tode bedroht. Zwischen 1523 und 1560 wurden in Frankreich etwa 500 Menschen als Häretiker hingerichtet, und mit einigen von ihnen hatte Calvin selbst Kontakt. In seinen Briefen an die gefangenen Glaubensbrüder und -schwestern stellte er ihnen das Ideal der Blutzeugen vor Augen: In dieser Korrespondenz begegnet denn auch 1553 erstmals der Begriff des Märtyrers in der Sprache der Reformierten, und hier, unter dem Druck der zunehmenden Verfolgung, wurde die Idee des Märtyrertums immer präsenter. Dies lag auch nahe. Für Calvin, der jedes gewaltsame Aufbegehren gegen die Verfolgung ablehnte,11 bot das Martyrium eine Antwort auf die Frage, warum dies auszuhalten und eben kein Widerstand zu leisten sei: Da die Verfolgung, wie alles, Gottes Wille sei, käme sie einer Auszeichnung der Opfer gleich. Die Märtyrer stellten damit die spirituelle Elite der neuen Kirche dar. Gleichzeitig eröffnete das Martyrium für Calvin einen Weg, die im Untergrund entstehenden calvinistischen Gemeinden in Frankreich auf seine politische Linie zu verpflichten. Calvin konnte zwar von Genf aus Schriften, Briefe und Pastoren in seine französische Heimat schicken. Aber er brauchte auch ein Modell, mit dem er die dortigen Gemeinden bei der Stange hielt. Die Gemeinden wurden immer größer und immer unzufriedener, der Gedanke an gewaltsame Gegenwehr tauchte immer öfter auf. Den endgültigen Bruch mit der französischen Krone musste Calvin aber im Blick auf Genf und die strategisch sensible Lage der Stadt auf jeden Fall verhindern. Und auch hier bot das Martyrium einen Ausweg: Es mahnte zur Geduld, und es verlieh den Opfern einen Sinn. Greifen konnte dieses Modell aber nur, weil die Verehrung des Martyriums und der Märtyrer im Calvinismus Fuß gefasst hatte. Dies zeigt der Erfolg einer literarischen Gattung, die just in dieser Zeit ihren Siegeszug antrat: die calvi1585, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Dritte Folge 26 (1975), S. 89 – 122, hier S. 108 – 113, mit Abbildungen einzelner Fresken auf S. 111. 9 Zu den Täufern und ihren Martyrologien vgl. Burschel, Sterben und Unsterblichkeit, der zwar im Ansatz alle Konfessionen erfassen will, aber – nicht zuletzt angesichts der Quellenlage – einen klaren Schwerpunkt im täuferischen Lager hat. 10 Grundlegend für das Folgende: David El Kenz, Calvin et la politique du martyre, in: Moreana 173 (2008), S. 21 – 32. 11 Dieser These widersprach Max Engammare, Calvin monarchomaque? Du soupÅon — l’argument, in: Archiv für Reformationsgeschichte 89 (1998), S. 207 – 225, jedoch ohne damit auf größere Resonanz zu stoßen.

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nistischen Martyrologien.12 Seit Anfang der 1550er Jahre wurden auch auf calvinistischer Seite Märtyrerhistorien gedruckt und verbreitet. In Latein, Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch berichteten diese Werke über das Schicksal von Calvinisten, die als Häretiker von den Obrigkeiten verfolgt worden waren und durch ihren gewaltsamen Tod ein Zeugnis für den Glauben abgelegt hatten. Diesen Werken kam eine ganze Reihe von Funktionen zu: Für den Einzelnen fungierten die Märtyrer als Trost und Vorbild, in der neuen konfessionellen Großgruppe schärften die chronologischen Verzeichnisse das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte. Aber nicht nur das Gefühl der Zusammengehörigkeit ließ sich damit stärken. Indem sie die Liste der eigenen Opfer zunächst bis Jan Hus, dann aber bis in die Urkirche zurückverlängerten, nahmen die Martyrologen dem Calvinismus den Makel der Neuheit: Die reformierte Kirche war die wahre alte, nun wiederhergestellte Kirche, die Märtyrer bezeugten diese Kontinuität.13 Allerdings sollte man bei aller funktionalen Passförmigkeit nicht übersehen, dass der Begriff des Märtyrers im calvinistischen Umfeld zunächst auf Vorbehalte stieß: Calvin selbst hat ihn erst im Kontext seiner Briefe an die Gefangenen aufgegriffen. Und auch Jean Crespin, der Autor der ersten und einflussreichsten protestantischen Märtyrergeschichte im französischen Sprachraum, bekam dies zu spüren.14 Crespin (um 1520 – 1572), wie Calvin aus Frankreich nach Genf geflohen, war einer der wichtigsten Verleger und Drucker in diesem für den Calvinismus in ganz Europa zentralen Druckort. Gleichzeitig verfasste er die berühmte »Histoire des Martyrs«, der er im Übrigen als Anhang auch Calvins Briefe an die Gefangenen in Frankreich beigab.15 Als Crespin dieses Werk 1555 12 Zu den Martyrologien im Calvinismus vgl. den kurzen Überblick bei Christine Vogel, Zwischen Gewalterfahrung und Heilserwartung. Das hugenottische Geschichtsbild in der Krise, in: Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, hrsg. für das Deutsche Historische Museum von Sabine Beneke / Hans Ottomeyer, Berlin 2005, S. 155 – 162, v. a. S. 156 ff. Vgl. auch als Pionierstudie auf diesem Feld: Frank Lestringant, LumiÀre des martyrs. Essai sur le martyre au siÀcle des R¦formes, Paris 1991, sowie die stark erweiterte Neuausgabe Paris 2004. 13 Vogel, S. 156, bringt es auf den Punkt: »Die Martyrologien waren so in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die paradigmatischen Medien des kollektiven Gedächtnisses der Protestanten.« Sie stehen dabei in der Tradition der katholischen Heiligenlegenden und -kalender, brechen aber auch mit dieser Tradition, »unter anderem, indem sie dem konkreten historischen Kontext ihrer Märtyrer mehr Raum geben« – wie dies Crespins »Histoire des Martyrs« (s. u.) sehr schön illustriert. Vgl. ebd. 14 Zu Crespin vgl. Jean-FranÅois Gilmont, Jean Crespin, un ¦diteur r¦form¦ de XVIe siÀcle, Genf 1981. 15 Erstmals erschien das umfangreiche Werk zwischen 1554 und 1564 in Genf; bis 1570 verfasste Crespin selbst die aktuellen Nachträge, danach übernahm sein Nachfolger Simon Goulart diese Aufgabe. Die letzte zeitgenössische Auflage erschien 1619: Jean Crespin (fortgeführt durch Simon Goulart), Histoire des Martyrs persecutez et mis a mort por la verit¦ de l’Evangile, depuis le temps des apostres jusques a present, GenÀve: P. Auvert 1619.

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dem Stadtrat zur Genehmigung vorlegte, erhielt er die Druckerlaubnis allerdings nur unter einer Auflage: Das Wort martyr müsse aus dem Titel verschwinden, das klinge doch papistisch.16 Bedenken dieser Art verschwanden schnell: Crespins »Histoire des Martyrs« wurde zu einem regelrechten Bestseller und erlebte bis 1619 zahlreiche Auflagen. Das Martyrium stand also als Deutungsmuster bereit, um der Gewalt in Frankreich einen Sinn zu verleihen.

Abb. 1: Jacques Tortorel / Jean Perrissin, »Die Exekution des Parlamentsrats Anne du Bourg«, Genf 1569/70, Kupferstich. Aus: Quarante tableaux ou Histoires diverses qui sont m¦morables touchant les guerres, massacres, & troubles, advenues en France ces dernieres annees, Genf 1570.

Und genau dafür wurde es auch in anderen Medien genutzt. Abbildung 1 zeigt einen Stich aus der berühmten Sammlung von Jacques Tortorel und Jean Perrissin; ihr Werk präsentiert, wie im Titel angekündigt, quarante Tableaux, 40 Tafeln zu den Religionskriegen; erstmals gedruckt wurde es in Genf 1569/70.17 Neuausgabe durch Daniel Beno„t mit Anmerkungen von Matthieu LeliÀvre, 3 Bde., Toulouse 1885 – 1888. 16 Vgl. El Kenz, Calvin et la politique du martyre, S. 25. 17 Jacques Tortorel / Jean Perrissin, Quarante tableaux ou Histoires diverses qui sont m¦morables touchant les guerres, massacres, & troubles, advenues en France ces dernieres annees. Le tout recueilly selon le tesmoignage de ceux qui y ont est¦ en personne, & qui les ont veus, lesquels sont pourtraits — la v¦rit¦, GenÀve: Jean de Laon 1569/70. Zu dieser berühmten Quelle vgl. Pierre Bonnaure, Des images — relire et — r¦habiliter. L’œuvre grav¦ de Tortorel et P¦rissin, in: Bulletin de la Soci¦t¦ d’histoire du protestantisme franÅais 138 (1992), S. 475 –

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Der Stich setzt die Hinrichtung des Parlamentsrats Anne du Bourg im Dezember 1559 ins Bild:18 Demütig betend schon während der Anfahrt im Karren, dann aufgehängt über dem Scheiterhaufen, die Hände in fester Glaubensgewissheit gefaltet, in der Haltung eines Märtyrers. Offensichtlich hatte die ikonographische Tradition der Märtyrerdarstellung auch im Frankreich der Religionskriege ihren Platz gefunden. Und die Bartholomäusnacht mit ihren zigtausend Toten? Galt sie den Zeitgenossen als kollektives Martyrium der Hugenotten? War Coligny, den ökumenische Heiligenlexika für den 23. August als Blutzeugen notieren,19 schon damals ein Märtyrer? Die Tradition hätte es zugelassen. Die Quellen geben aber eine andere Antwort.20

514; Philip Benedict, Graphic history : the wars, massacres and troubles of Tortorel and Perrissin, Genf 2007; sowie den Ausstellungskatalog D’encre et de sang. Les guerres de Religion grav¦es par Tortorel et Perrissin, 1570. Mus¦e national de la Renaissance, Ch–teau d’Êcouen, 5 avril – 3 juillet 2006, Mus¦e Jean Calvin, Noyon, 7 juillet – 2 octobre 2006. Zum Einstieg vgl. auch den Katalogbeitrag von GJ (Godehard Janzing) in: Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, S. 200. 18 Zu Anne Du Bourg und diesem Stich vgl. auch David El Kenz, Die mediale Inszenierung der Hugenotten-Massaker zur Zeit der Religionskriege: Theologie oder Politik?, in: Vogel (Hg.), S. 51 – 73, hier S. 56 f., sowie den Katalogbeitrag von GJ (Godehard Janzing) in: Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, S. 201 – 202, mit einer Wiedergabe des Stichs auf S. 201 (Nr. 2/4). Zur Inszenierung einer solchen Hinrichtung vgl. David Nicholls, The theatre of martyrdom in the French Reformation, in: Past & Present 121 (1988), S. 49 – 73. 19 Vgl. etwa: Ökumenisches Heiligenlexikon, unter : https://www.heiligenlexikon.de/Biogra phienG/Gaspard_de_Coligny.html [30. 12. 2014]. 20 Da die Bartholomäusnacht selbst intensiv erforscht worden ist, kann ich mich auf eine ganze Reihe von Arbeiten stützen, allen voran auf die überaus einschlägigen Studien zur Gewalt in den Religionskriegen von David El Kenz (vgl. Anm. 3, 7, 10, 18, 36). Das Bild, zu dem ich die einzelnen Befunde zusammensetze, ist allerdings ein anderes als in der bisherigen Literatur zum Thema. Klassische Arbeiten zur Bartholomäusnacht: Ilja Mieck, Die Bartholomäusnacht als Forschungsproblem. Kritische Bestandsaufnahme und neue Aspekte, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 73 – 110; Nicola M. Sutherland, The massacre of St Bartholomew and the European conflict 1559 – 1572, London 1973; Alfred Soman (Hg.), The massacre of St. Bartholomew: reappraisals and documents, Den Haag 1974; Denis Crouzet, Les guerriers de Dieu. La violence au temps des troubles de religion, vers 1525 – vers 1610, 2 Bde., Seyssel 1990; eine Zusammenfassung seiner Thesen in deutscher Sprache: ders., Die Gewalt zur Zeit der Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhunderts, in: Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 78 – 105; Jean-Louis Bourgeon, L’assassinat de Coligny, Genf 1992; Denis Crouzet, La nuit de la Saint-Barthel¦my. Un rÞve perdu de la Renaissance, Paris 1994 (vgl. hierzu Anm. 46); Ilja Mieck, Neue Forschungen zur Bartholomäusnacht, in: Francia 23 (1996), S. 203 – 214; Arlette Jouanna, La Saint-Barth¦l¦my. Les MystÀres d’un crime d’Etat, 24 aout 1572, Paris 2007; Barbara B. Diefendorf, The Saint Bartholomew’s Day massacre: a brief history with documents, Boston / New York 2009. Konzentriert auf die zeitgenössische Rezeption und Deutung: Robert M. Kingdon, Myths about the St. Bartholomew’s Day massacres 1572 – 1576, Cambridge, Mass. 1988.

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Bilder des Schreckens: Die Krise des Martyriums in der Bartholomäusnacht

Um mit den Bildquellen zu beginnen: Abbildung 2 zeigt das wohl bekannteste Gemälde zum Thema, heute in Lausanne: »Die Bartholomäusnacht« von FranÅois Dubois.21 Dubois war angesichts des Mordens von Paris nach Genf geflohen und hatte dort wohl nicht viel später sein Bild des Geschehens festgehalten. Visuelle Darstellungen der Bartholomäusnacht gab es viele. Aber das Werk in Lausanne ist das einzige heute noch erhaltene zeitgenössische Gemälde, und auch das macht seinen Wert aus. Dubois zeigt keine realistische Ansicht von Paris, aber er erzählt eine Geschichte mit Tätern und Opfern. Als Hauptverantwortliche präsentiert er Katharina von Medici: Links oben tritt sie aus dem stilisierten Louvre, mit einem tiefschwarzen Gewand, doch klar inszeniert in der Form einer Schutzmantelmadonna. Statt kleine Kinder unter ihren Mantel zu nehmen, steht sie vor einem Berg von Leichen. Klarer hätte die Schuldzuweisung nicht ausfallen können. Auf der anderen Seite erleidet Coligny sein Schicksal: Im Zentrum der szenischen Abfolge steht nicht der Mord an sich, sondern der Umgang mit Colignys Leichnam: Er wird nackt aus dem Fenster geworfen, enthauptet von Henri de Guise, entmannt von einem dahergelaufenen Strolch, durch die Straßen geschleift und am Galgen aufgehängt. Colignys Leichnam durchläuft damit alle Phasen der Demütigung, ja der Dehumanisierung, die in den französischen Religionskriegen laut Natalie Zemon Davis zum Standardrepertoire der Gewaltrituale zählten.22 Auch die anderen Szenen in diesem Tableau des Schreckens bieten die damals gängigen Topoi zur Kennzeichnung kollektiver Gewaltexzesse: Kinderleichen spielen auf den bethlehemitischen Kindermord an, der als Bildmotiv für unrechtmäßige Gewalt in dieser Zeit sehr präsent war. Wir sehen Gewalt gegen Geistliche, vielleicht auch die Andeutung sexueller Gewalt. Aber sehen wir 21 Zu diesem Bild vgl. die knappen, aber hilfreichen Angaben bei El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 70 f., sowie den Katalogbeitrag von GJ (Godehard Janzing) in: Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, S. 205 – 207. Dort (S. 206) findet sich auch eine gute Abbildung des Gemäldes mit den Originalmaßen 94 x 154 cm. Ausführlicher zum Bild, aber nur am Rande zu den titelgebenden Begriffen Massaker und Martyrium und v. a. ohne ausdrückliche Gegenüberstellung dieser beiden Deutungsmuster : Schieder. Zu Dubois vgl. den Ausstellungskatalog: Le monde selon FranÅois Dubois, peintre de la Saint-Barth¦lemy. Mus¦e Cantonal des Beaux-Arts, Lausanne, 19 septembre 2003 – 4 janvier 2004, Lausanne 2003. 22 Vgl. den ›Klassiker‹ von Natalie Zemon Davis, Die Riten der Gewalt, in: dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a. M. 1987, S. 171 – 209, 297 – 308. Das englische Original ist erstmals erschienen als: The rites of violence: religious riot in sixteenth-century France, in: Past & Present 59 (1973), S. 51 – 91.

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Abb. 2: FranÅois Dubois, »Die Bartholomäusnacht«, Genf ca. 1572, Mus¦e cantonal des BeauxArts Lausanne.

Hinweise auf das Martyrium? Es scheint, als würden immerhin zwei der zahlreichen Menschen beten23 – oder flehen sie nicht eher um ihr Leben? So abwegig ist diese zweite Deutung nicht: Immerhin kam es im Umfeld der Bartholomäusnacht massenhaft zu Konversionen, erzwungen, wie im Louvre, in dem Heinrich von Navarra das Gemetzel überlebte, dafür aber zum Katholizismus konvertieren musste, aber auch aus der Angst heraus, dass ein Gott, der so etwas zuließ, dann doch nicht auf der Seite der Calvinisten stand.24 Auch die Darstellung der Täter spricht dafür, dass hier kein Martyrium ins Bild gesetzt wird: Wie ganz normale Söldner werden sie beim Plündern gezeigt – für Dubois war die Bartholomäusnacht offenbar keine Frage des Glaubens. Dies unterstreichen weitere Hinweise, etwa das Triumvirat der Täter um Henri de Guise unmittelbar unter dem Fenstersturz des Admirals.25 Dubois spielte mit dieser Dreiergruppe deutlich auf ein Bildmotiv an, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts auf allein 17 Gemälden zu finden und offenbar stark in Mode war : »Das Massaker unter dem Triumvirat«, das sich zwar auf die römische Antike bezog, aber mühelos auf Frankreich übertragen werden konnte. So wie in der Antike die Nachfolger Caesars als Triumvirat für Massenmord und Tyrannei standen, diente den Hu23 So deutet etwa Schieder, S. 140, diese Szene. 24 So in den ersten Tagen selbst Calvins Nachfolger Theodor Beza; vgl. Robert M. Kingdon, Reactions to the St. Bartholomew massacres in Geneva and Rome, in: Soman (Hg.), S. 25 – 49, hier S. 31 f. 25 Zum Folgenden vgl. El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 64 – 71.

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genotten der Begriff »Triumvirat« als Schmähname für ein hochadliges Bündnis um die Guise.26 Und nicht zuletzt dank dieser Analogie zur antiken Tyrannis wird deutlich, was Dubois meinte: Er zeigt uns kein Martyrium, er zeigt uns ein Massaker, er zeigt uns Szenen eines Bürgerkriegs. Jean Crespin hätte dieser Deutung vermutlich zugestimmt. Denn, und das ist wohl das stärkste Argument, selbst der Autor der »Histoire des Martyrs« sah keine Veranlassung, die Opfer solcher Massaker als Märtyrer zu begreifen. Verfolgte Gläubige, fidÀles pers¦cut¦s, die für ihren Glauben starben und damit eine gewisse Vorbildfunktion ausüben könnten, ja, das seien sie. Aber Märtyrer? Nein. Denn schließlich erfüllten sie keines der beiden entscheidenden Kriterien für die Auserwähltheit der Märtyrer : Da es kein geregeltes Verfahren gegeben habe, hätten sie ihre Beharrlichkeit nicht öffentlich unter Beweis stellen können. Und während echte Märtyrer reden, singen, beten und vom Scheiterhaufen herab predigen, seien die Opfer dieser Gemetzel ohne jedes hörbare Bekenntnis gestorben.27 Wenn aber selbst der Chronist des calvinistischen Martyriums in den Opfern der seit 1562 tobenden Religionskriege und ihren Massakern keine Märtyrer sah, dann bleibt nur ein Schluss: Das Martyrium war als Deutungsschema der Gewalt in den Religionskriegen in die Krise geraten, der Märtyrerkult passte nicht mehr in die Zeit.28 Stattdessen begann nun das Massaker seine große Karriere: als Begriff, der sich von massacre, der Schlachtbank des Metzgers, ableitet und just im Frankreich der Religionskriege seine heutige Bedeutung – extreme kollektive Gewalt gegen Wehrlose29 – annahm;30 aber auch als ikonographisches Motiv : Blättert man in den 40 Tafeln von Tortorel und Perrissin, begegnen durchaus Märtyrer wie Anne du Bourg und große Schlachten. Das beherrschende Bildmotiv sind aber Massakerdarstellungen, in diesen 40 Tafeln und generell im Bildgedächtnis der Calvinisten.31 26 Dieses 1561 geschlossene Bündnis zur Verteidigung des Glaubens gegen die Toleranzpolitik Katharinas bestand aus dem Konnetabel Anne de Montmorency, dem Marschall Jacques d’Albon und dem Herzog FranÅois de Guise; vgl. ebd., S. 68. 27 Vgl. hierzu El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 60 ff. 28 Oder, wie es Vogel, S. 158, ausdrückt: »So war die Zeit der Religionskriege nicht mehr die der Glaubenshelden.« 29 So die Definition bei Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M, 1996, S. 176. 30 Zur Begriffsgeschichte vgl. den Überblick bei Medick, v. a. S. 16 f. Für Frankreich verweist auch Medick, S. 16, Anm. 2, auf die Belege bei Mark Greengrass, Hidden transcripts: secret histories and personal testimonies of religious violence in the French war of religion, in: Levene / Roberts (Hg.), S. 69 – 88, hier S. 69 f., 85. 31 Zur Korrelation von Begriffsgeschichte und medialer Darstellung vgl. El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 52, der auf S. 53 ausdrücklich auf den Band »Premier volume contenant quarante tableaux ou histoires diverses qui sont m¦morables, touchant les guerres, massacres et troubles advenus en France ces derniÀres ann¦es« verweist und dessen Inhalte v. a. auf S. 54 f. näher vorstellt.

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Es gab Calvinisten, die diese Entwicklung bedauerten, etwa Simon Goulart, der nach dem Tod Crespins dessen Werk fortsetzte. Im Blick auf die Differenzierung seines Vorgängers Crespin klagte der nun führende Martyrologe: »Wenn wir diejenigen Märtyrer nennen, die einzeln durch die sogenannte Justiz hingerichtet wurden, was ist dann mit jenen tausenden hervorragenden Leuten, die auf einen Schlag gemartert wurden, als anstelle eines Henkers derer unendlich viele waren?«32 Doch letztendlich unterstreichen solche Aussagen nur nochmals den Befund: Die protestantische Martyrologie taugte nicht als Deutungsmuster für diese kollektiven Gewaltexzesse, das Martyrium war in die Krise geraten. Bleibt nach den Gründen für diese Krise zu fragen. Warum das Massaker das Martyrium abgelöst hatte, scheint schnell geklärt. Das Morden vollzog sich nun einmal so: Im massenhaften Tod geht der Einzelne unter, das Massaker lässt keinen Platz für heroisches Sterben. Dieses Argument ist so pragmatisch wie überzeugend. Es bleibt aber die Frage offen, warum man sich dann nicht auf einzelne Figuren konzentrierte und deren Standhaftigkeit im Angesicht des Todes entsprechend heraushob. Wer der Held war, im Guten wie im Bösen, hat sich schon bei Dubois gezeigt: Coligny stand im Mittelpunkt, bei Freund wie Feind. Und auch beim Erzfeind: Dies zeigen die drei Fresken auf die Bartholomäusnacht, die Giorgio Vasari im Auftrag von Papst Gregor XIII. in der Sala Regia, dem wichtigsten Audienzraum im Vatikanpalast, kaum zwei Monate nach dem Ereignis anzubringen begann (Abb. 3).33

32 Crespin, Histoire des Martyrs, Bd. III, Buch X, S. 639 f., zitiert nach El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 60. Diesen Text und somit auch das ebenfalls im französischen Original wiedergegebene Zitat hat Christine Vogel ins Deutsche übersetzt. Zu den Bemühungen Goularts, sich von der nach der Bartholomäusnacht gerade im Blick auf die vielen Apostaten seiner Meinung nach nicht mehr zeitgemäßen Position Crespins abzusetzen, vgl. neben dem Beitrag von El Kenz auch Amy Graves, Martyrs manqu¦s: Simon Goulart, continuateur du martyrologe de Jean Crespin, in: Revue des Sciences Humaines 269 (2003), S. 53 – 86, v. a. S. 69 – 73, das Zitat auch ebd., S. 70. 33 Das dritte Fresko ist weiter unten in diesem Aufsatz wiedergegeben. – Zu den Fresken und ihrem Kontext vgl. die jeweils mit guten Abbildungen ausgestatteten Beiträge von Röttgen; Alexandra Herz, Vasari’s »Massacre« series in the Sala Regia – the political, juristic, and religious background, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986), S. 41 – 51; Carolin Behrmann, Triumph and law: Giorgio Vasari’s Massacre of St. Bartholomew’s Eve and the iconology of the »state of exception«, in: Jessica Goethals / Valerie McGuire / Gaoheng Zhang (Hg.), Power and image in early modern Europe, Newcastle 2008, S. 3 – 13, 137 – 141. Eine knappe Analyse bietet auch Burschel, Das Heilige und die Gewalt, S. 348 ff.

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Abb. 3: Giorgio Vasari, Fresken zur Bartholomäusnacht, Sala Regia, Vatikan 1572. 3a: Die Verwundung Colignys, 22. August 1572. 3b: Das Massaker an Coligny und seinen hugenottischen Anhängern, 24. August 1572.

In ihrem künstlerischen Gesamtkonzept ist die Sala Regia klar auf den Seesieg gegen die Türken bei Lepanto 1571 bezogen; Vasaris Fresken zu den Pariser Geschehnissen verherrlichen hingegen den Sieg über den anderen Hauptfeind der Kirche, die Protestanten. Verkörpert werden die Hugenotten von Coligny, und das gleich in zwei Fresken. Das erste Fresko (Abb. 3a) zeigt den Admiral nach dem gescheiterten ersten Attentat: so elegant, wie es sein Amt und sein Adel verlangt, in einer Haltung, die an die Kreuzabnahme Christi erinnert. Vermutlich soll diese überraschend positive Darstellung den folgenden Sturz nur noch drastischer machen. Das zweite Fresko (Abb. 3b) zeigt über dem voll

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entbrannten Massaker eine bekannte Szene: Der nackte Leichnam des Admirals wird aus dem Fenster geworfen. Bei allen Gegensätzen in der Wertung – in der Bildsprache waren sich die Parteien sehr nah. Dies gilt, und das ist entscheidend, auch für die calvinistischen Darstellungen, die sich auf Coligny konzentrieren. Es gab sie durchaus, und zwar in großer Zahl.34 Aber in keiner von ihnen wurde Coligny ausschließlich als Opfer gezeigt. Im Gegenteil: Wie in dem Stich aus dem Jahr nach seinem Tod, den Abbildung 4 zeigt, trat der Admiral als aristokratischer Feldherr in Erscheinung.35 Seine Ermordung findet in den kleinen Feldern im unteren Bildbereich statt: kaum sichtbar, ohne Folgen für Rang, Status und aristokratisches Ethos des Helden. So sehen keine Opfer aus, und Märtyrer schon gar nicht. Gerade darin aber führt der Stich auf der Suche nach den eigentlichen Ursachen für die Krise des Martyriums weiter. Die Calvinisten der Zeit brauchten Feldherren, keine Glaubenshelden. Indem sie mit dem Beginn der Religionskriege 1562 zum bewaffneten Kampf übergegangen waren, hatten sie sich vom Ideal des erduldenden Märtyrers deutlich entfernt. An diesem Ideal weiterhin festzuhalten, war theologisch schwierig. Es wäre aber auch praktisch wenig hilfreich gewesen. Mit dem Krieg traten andere Werte an die Stelle des passiven Erduldens: aristokratische Werte, Werte, wie sie Coligny als Feldherr im Harnisch verkörperte.36 Und noch etwas war nun gefragter denn je: Die Hugenotten brauchten nicht nur Kämpfer gegen die Krone, sie brauchten auch eine Rechtfertigung für diesen Widerstand.37 Calvin hatte den bewaffneten Kampf noch abgelehnt. Sein Nachfolger als Leiter der Genfer Kirche Theodor Beza hingegen zeigte hier weniger Skrupel. Genauer gesagt: Seit der Bartholomäusnacht hatte er keinerlei Bedenken mehr, untergeordneten Herrschaftsträgern wie Ständeversammlungen, aber auch städtischen Magistraten das Recht auf Widerstand gegen eine tyrannische Obrigkeit einzuräumen. Dargelegt hat er dies in seiner Schrift »Du Droit des magistrates sur leurs sujets«, also »Über die Rechtsgewalt der Ma34 Vgl. allein die Auswahl im Katalogteil des Bandes: Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, S. 207 f. 35 Zu diesem Stich vgl. den Katalogbeitrag von GJ (Godehard Janzing) in: ebd., S. 207 – 208, mit einer Wiedergabe des Stichs auf S. 208 (Nr. 2/13). 36 So auch David El Kenz, Les usages subversifs du martyre dans la France des troubles de religion. De la parole au geste, in: Revue des Sciences Humaines 269 (2003), S. 33 – 52, der auf S. 40 sowohl die Krise des Martyriums seit dem Ausbruch des Krieges als auch den Rückgriff auf das adlig-heroische Deutungsschema in der Darstellung der hugenottischen Helden anspricht. Zum calvinistischen Diskurs insgesamt vgl. ebd., S. 35 – 43. 37 Zum Folgenden vgl. Kingdon, Reactions, v. a. S. 27 – 39. Allgemein zur Entwicklung des Widerstandsrechts in der Geschichte der politischen Theorie vgl. noch immer zuverlässig Wolfgang Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: ders. u. a., Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, durchges. Ausg., Frankfurt a. M. 1987, S. 241 – 376, v. a. S. 268 – 281, 285 ff.

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Abb. 4: Jost Ammann, »Gaspard de Coligny und die Bartholomäusnacht«, 1573, Kupferstich, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

gistrate [oder : Obrigkeiten] über ihre Untertanen«, erstmals erschienen 1573. Dieses Werk sollte mit seinem Kerngedanken, dem Widerstandsrecht der inferiores magistratus, der Körperschaften auf mittlerer Ebene, für die Geschichte der Widerstandstheorie wegweisend werden. Mit Wurzeln und Vorläufern nicht zuletzt bei den Lutheranern in Magdeburg, aber doch freigesetzt durch den

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Schock der Bartholomäusnacht,38 entfaltete Beza eine Theorie des Widerstands gegen eine tyrannische Herrschaft, die ihre Fortsetzung und Zuspitzung in der Denktradition der Monarchomachen fand. Dass Beza dabei die Situation der Hugenotten vor Augen hatte, ist stark anzunehmen. Denn zum einen war er in dieser Zeit darum bemüht, mit den 1572 nach Genf geflohenen französischen Adligen den Widerstand zu organisieren. Und zum anderen war sein Entwurf den legitimatorischen Bedürfnissen der Hugenotten nach der Bartholomäusnacht auf den Leib geschrieben:39 Bezas Recht auf Widerstand richtete sich gegen den König, der ja das Morden in Auftrag gegeben hatte. Es umfasste aber ausdrücklich nicht die Massen. Deren Gewalthandeln war keineswegs so blind, wie man meinen könnte. Es orientierte sich, wieder nach Natalie Zemon Davis, durchaus an Vorstellungen von politischen Rechten und Aufgaben.40 In der Bartholomäusnacht etwa kann man eine Selbsteinsetzung der Bevölkerung als Stellvertreter einer zu zögerlichen Obrigkeit sehen. Aber gerade dies sollte ihr in Zukunft strikt verwehrt sein, und genau dieses theoretische Bedürfnis einer politischen Kraft zwischen Monarchie und breiter Masse erfüllte Beza mit seinen inferiores magistratus. An diesem Punkt beginnt sich abzuzeichnen, was im Kern hinter der Auflösung des Martyriums im Massaker steht. Was also kann das Massaker leisten, was das Martyrium nicht leistet? Das Massaker betont nicht nur den Aspekt des massenhaften Kämpfens und Sterbens; es zeichnet auch einen anderen Grundkonflikt als das Martyrium: Hier steht nicht der einzelne Blutzeuge einem religiösen Tyrannen gegenüber, der ihn von der Wahrheit abhält. Hier steht eine Gruppe der Bevölkerung mit ihren adligen Spitzen einem Monarchen gegenüber, der seine an sich legitime Herrschaft durch illegitime Akte wie die Anordnung politischer Morde in eine Tyrannei überführt hat. Auch Calvin kannte Tyrannen: als Gegenüber der Märtyrer, die im Ringen um den Glauben durch den Tod für die Wahrheit schließlich zu überwinden waren.41 Beza hingegen hatte Tyrannen wie das Triumvirat oder die Königin als Todesengel vor Augen. Gegen solche Tyrannen half kein Martyrium, hier half nur ein neues, der Si38 39 40 41

So wenigstens Kingdon, Reactions, S. 31 f. Vgl. ebd., u. a. S. 39. So lautet eine der grundlegenden Thesen bei Davis. Die terminologische Gegenüberstellung von Märtyrer und Tyrann, der die Christenheit ruiniert, findet sich bei Calvin etwa in »Aux fidÀles de France« vom November 1559: »Nous voyons que le bons martyrs ont eu ceste coutume entre eux, d’estre d’autant plus vigilans — s’inciter par sainctes admonitions, selon qu’ils voyoient que les tyrans faisoyent tous leurs efforts pour ruyner la chrestient¦« ; zit. nach El Kenz, Calvin et la politique du martyre, S. 24. Eine englische Übersetzung bietet Mark Greengrass, »La Grande Cassure«: violence and the French Reformation, in: Robert von Friedeburg / Luise Schorn-Schütte (Hg.), Politik und Religion: Eigenlogik oder Verzahnung? Europa im 16. Jahrhundert, München 2007, S. 71 – 94, hier S. 84, Anm. 48.

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tuation angemessenes Widerstandsrecht. Dies, so bleibt festzuhalten, ist der eigentliche Grund für die Krise des Martyriums: Weil die Grundfrage der Calvinisten die nach der Legitimierung ihres bewaffneten Widerstands war, mussten sie ihre Bewertungsmaßstäbe umstellen. Gewalt als Martyrium zu deuten, passte weder zu den politischen Bedürfnissen der Zeit noch zum gewandelten Selbstverständnis der Gruppe. Die Hugenotten der Bartholomäusnacht waren nicht mehr eine verfolgte religiöse Minderheit, die ihr Leid duldend ertrug und dafür ihres Platzes in der Heilsgeschichte gewiss sein konnte. Sie waren eine politische Gruppierung innerhalb Frankreichs, die ihren Platz im Staat einforderte. Weil ihr Kampf eher ein politischer als ein religiöser war, musste sich auch die Wahrnehmung der Kampfhandlungen entsprechend verschieben. Es ging nicht mehr um Glaubenszeugnisse, es ging um den bewaffneten Widerstand gegen eine tyrannische Macht. Das Recht auf Widerstand zu begründen, war das Gebot der Stunde, und genau diesen Weg eröffnete das Massaker.42 Es passt ins Bild, dass der Begriff des Massakers in seiner heutigen Bedeutung erstmals im calvinistischen Umfeld auftaucht: in einer 1556 erschienenen Flugschrift über die zehn Jahre zurückliegenden Verfolgungen von Waldensern in der Provence. Bis die katholische Seite den für sie weniger nützlichen Begriff übernahm, sollte es über eine Generation dauern.43 Aber auch die anderen Parteien begriffen die Gewalt der Religionskriege zunehmend politisch und immer weniger religiös. Für die katholische Seite formulierte das kein Geringerer als der König selbst. Am 26. August 1572 trat Karl IX. in einer Sitzung vor dem Pariser Parlament auf, d. h. vor dem höchsten Gericht, vor dem der König im Allgemeinen nur erschien, um Gesetze registrieren zu lassen.44 Genau diese 42 Auch El Kenz, Die mediale Inszenierung, erkennt in den ikonographischen Darstellungen eine »allmähliche Politisierung der protestantischen Partei« (S. 69) und verweist ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen der »Politisierung des Massakers« (S. 70) und der skizzierten Ausarbeitung des Widerstandsrechts. Diese Kernthese (die natürlich Vorläufer hat, so etwa das Urteil von Donald R. Kelley, Martyrs, myths, and the massacre: the background of St. Bartholomew, in: Soman (Hg.), S. 181 – 202, hier S. 201, zu den Folgen der Bartholomäusnacht habe die Politisierung des Märtyrergedankens gehört) erscheint mir ebenso überzeugend wie anregend. Zuspitzen ließe sie sich m. E. durch den hier vorgeschlagenen Versuch, diese Politisierung eben auch als Übergang vom Martyrium zum Massaker zu beschreiben und die beiden Begriffe mit den Prozessen der Konfessionsbildung bzw. Staatsbildung in Verbindung zu bringen. 43 Vgl. Medick, S. 16; El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 62. 44 In der Literatur begegnet des Öfteren die Bezeichnung dieses Auftritts als lit de justice, so etwa bei Röttgen, S. 99, oder Behrmann, S. 11. Laut der wohl besten Kennerin dieser Materie, Sarah Hanley, handelt es sich aber genau genommen eher um eine s¦ance royale als um ein lit de justice im vollen Sinne; vgl. Sarah Hanley, The »Lit de justice« of the kings of France: constitutional ideology in legend, ritual, and discourse, Princeton 1983, S. 209. Dass es sich ›nur‹ um zwei verschiedene Formen der Parlamentssitzung im Beisein des Königs handelt und selbst die Zeitgenossen bei der Unterscheidung dieser beiden Formen mitunter unsicher

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Abb. 3: Giorgio Vasari, Fresken zur Bartholomäusnacht, Sala Regia, Vatikan 1572. 3c: König Karl IX. übernimmt vor dem Parlament die Verantwortung, 26. August 1572.

Szene hat Vasari auf dem dritten seiner Fresken in der Sala Regia des Vatikans festgehalten (Abb. 3c), und da er sich dabei mit der Hilfe zeitgenössischer Berichte um Exaktheit im Detail bemühte,45 dürfen wir das Fresko als Illustration dieser Szene begreifen. Vor der politischen Öffentlichkeit des Pariser Parlaments verkündete der König, er selbst habe den Befehl zur Ermordung Colignys gegeben – nicht etwa aus Hass auf die Hugenotten, sondern ausschließlich zur waren (vgl. ebd.), könnte erklären, warum sich die Bezeichnung der fraglichen Versammlung im Jahr 1572 als lit de justice eingebürgert hat. 45 Vgl. Behrmann, S. 12.

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Verteidigung seines Volkes vor einer drohenden Verschwörung. Coligny habe geplant, gegen die königliche Familie vorzugehen, und allein deswegen, so der König, zum Besten des Volkes und zur Vermeidung eines Bürgerkriegs, habe er die Ermordung des Admirals angeordnet. Die Tat war gerecht, denn auch wenn Gewalt an sich schlecht war, so hatte sie doch Ordnung und Frieden wieder hergestellt.46 Coligny hingegen wurde zum Verräter erklärt: Die Schuld trug damit allein er. Gegen diese Position regte sich Widerspruch, und zwar massiv. In einer großen Zahl von Pamphleten nicht nur in Frankreich wurde der König angegriffen: weniger wegen der Gewalt an sich, vielmehr wegen der machiavellistischen Tendenz dieses kaltblütigen Aktes.47 Ob der Vorwurf, in machiavellistischer Manier die Staatsräson über alles zu erheben und Gewalt zum legitimen Mittel der Politik zu erklären, Karl IX. zu Recht traf, sei dahingestellt. Auf jeden Fall trug die Debatte dazu bei, die machiavellistische, rein politische Lesart des Geschehens in Frankreich weiter zu verbreiten. Weitere Verbreitung fand im Rahmen dieser Debatte im Übrigen auch der Begriff des Massakers: Den ersten Beleg für die Benutzung von massacre in der englischen Sprache liefert der Dichter Christopher Marlowe in seinem Bartholomäusnachtsdrama »The Massacre at Paris« von 1593, in dem er die Königinmutter und die Guisen als machiavellistische Strippenzieher der schlimmsten Art darstellt.48 Wie weit die Politisierung in der Wahrnehmung des Gewaltgeschehens reichte, sei an einer letzten Beobachtung illustriert. So sehr sich Vasari in seinem dritten Fresko (Abb. 3c) um eine authentische Darstellung des königlichen Auftritts vor dem Parlament bemüht haben mag – ein Detail hat er weggelassen. Anderen Abbildungen zufolge trug der König bei solchen zeremoniellen Akten nicht nur das Schwert in der Rechten. So zeigt eine Medaille aus dem Umfeld Karls IX., die dessen Sieg über die ihm zu Füßen liegenden erschlagenen Hugenotten feiert, neben dem Schwert in der Rechten des Königs in seiner linken

46 Folgt man Denis Crouzet, musste sich der König zu dieser Politik der Gewalt regelrecht zwingen: Weil er die necessitas, die Notwendigkeit dieses Schrittes sah, habe er seinen eigenen Traum vom Frieden aufgeben und den Mord anordnen müssen. »Ein verlorener Traum« ist denn auch der Untertitel von Crouzets monumentalem Buch zur Bartholomäusnacht: ders., La nuit de la Saint-Barthel¦my. Un rÞve perdu de la Renaissance, Paris 1994. Seine Thesen zur schrittweisen Entdeckung der necessitas und einer regelrechten Spirale des necessitas-Denkens fasst Crouzet zusammen in: ders., Langages de l’Absoluit¦ royale (1560 – 1576), in: Lothar Schilling (Hg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept? Eine deutsch-französische Bilanz, München 2008, S. 107 – 139. Vgl. auch ders., Königliche und religiöse Gewalt im Massaker der Bartholomäusnacht oder der »Wille« Karls IX., in: Ulbrich / Jarzebowski / Hohkamp (Hg.), S. 33 – 58. 47 Vgl. Behrmann, S. 6. 48 So Medick, S. 16, Anm. 4.

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Abb. 5: Alexandre Olivie, »Virtus in rebelles«, Medaille auf den 24. August 1572, B.N. Cabinet des M¦dailles.

Hand auch die main de justice, die Hand der Gerechtigkeit (Abb. 5).49 Dieses Szepter mit einer Hand am Ende war ein Symbol der Herrschaft über das Recht, aber auch ein Symbol für die rechtmäßige Herrschaft des französischen Königs. Karl IX. trägt sie auf der Medaille in einer Langversion; bei Vasari fehlt dieses Herrschaftszeichen, und das ist kein Zufall. Denn anstelle der Hand der Gerechtigkeit, die auf die Gewalt des Königs hinweist, sehen wir hier einen Fingerzeig des Kardinals, der zur Linken des Herrschers saß.50 Der Mann der Kirche und des Papstes, so die Botschaft, gibt die Richtung vor ; der König von Frankreich, reduziert auf das Schwert, vollstreckt die Befehle. So verweist die Darstellung der Bartholomäusnacht selbst im Vatikan gewiss auch auf einen religiösen Sieg über die Protestanten, aber ebenso auf die politische Hierarchie. Was Gregor XIII. und sein Maler hier beanspruchen, ist nicht weniger als die

49 Auf diese Medaille, die zum Gedenken an den Triumph des Königs über die Hugenotten am 24. August 1572 geprägt wurde und damit ein Beispiel für die Inszenierungsstrategien der Gegenseite darstellt, weist auch Behrmann, S. 12, hin. Der König wird hier unter dem Baldachin in einer zeremoniellen Szene und daher mit seinen Herrschaftsinsignien gezeigt. Als weitere Wiedergabe der main de justice in der Hand des Königs ist zu nennen: El Greco, Der Heilige Ludwig, König von Frankreich, mit einem Pagen, 1585 – 1590, Louvre. 50 Dem ausführlichen Bericht des päpstlichen Nuntius in Frankreich, Antonio Maria Salviati über diesen Auftritt zufolge (ediert in: Pierre Hurtubise / Robert Toupin, Correspondance du nonce en France Antonio Maria Salviati 1572 – 1578, Bd. 1: 1572 – 1574, Rom 1975), auf den sich etwa Behrmann, S. 12, stützt, handelt es sich um den Kardinal de Bourbon, d. h. um Charles de Bourbon, einen Prinzen von Geblüt im Kardinalsrang, der zu den Anhängern der Guise zählte, später zum Kopf der Katholischen Liga wurde und sogar kurzzeitig als Gegenkandidat Heinrichs IV. um die Krone antreten sollte. Als Vertreter der radikalen katholischen Partei am Hof wird man den Kardinal von Bourbon als Gefolgsmann oder doch mindestens als einen politischen Parteigänger des Papstes betrachten können.

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plenitudo potestatis, die päpstliche Oberherrschaft über die Monarchen. In der Realität konnte sich das Papsttum kaum noch gegen die erstarkenden Monarchien durchsetzen. Die kirchliche Rechtshoheit wurde in allen Ländern systematisch unterlaufen, und als Exekutor päpstlicher Befehle sah sich kein Monarch dieser Zeit. Aber auch wenn die Hochzeit von 1572 gegen den ausdrücklichen Willen Roms geschlossen worden war, und auch wenn der König von Frankreich den päpstlichen Nuntius phasenweise einfach nicht mehr einreisen ließ51 – in der Sala Regia ist er bis heute als Befehlsempfänger Seiner Heiligkeit im Kampf gegen die Häretiker zu sehen. Dass das Motiv der plenitudo potestatis ganz wunderbar in einen Raum passte, der dem Papst als Bühne für den Empfang der Botschafter und Fürsten der Welt diente, ist offenkundig. Festzuhalten bleibt indes, dass auch in der päpstlichen Darstellung der Bartholomäusnacht die Gewalt eher politisch als religiös gedeutet wird. Über das Massaker wird auch hier ein politischer Konflikt thematisiert, auch hier geht es um das Austarieren der Machtverhältnisse, nur eben zwischen Papsttum und Monarchie. Man könnte auch sagen, dass in den Darstellungen der Bartholomäusnacht die Möglichkeiten und Grenzen der Monarchie ausgelotet werden: nach unten, wenn es um das Widerstandsrecht der Untertanen geht, nach oben, wenn der Papst seine alten Ansprüche erhebt. So gesehen, erscheint das Massaker als eine Art Plattform, auf der politische Kräfteverhältnisse verhandelt und Ansprüche erhoben werden: universale Ansprüche wie die des Papstes, absolute Herrschaftsansprüche wie die des Monarchen, Ansprüche auf einen politischen Raum in dieser keineswegs absoluten Monarchie wie die der Hugenotten. Massaker scheinen mehr mit Staatsbildungsprozessen zu tun zu haben, als man glauben könnte.52 Und das Martyrium? Bedeutet seine Verdrängung aus den Deutungsarsenalen der Gewalt eine Säkularisierung? Manche sehen das so.53 Allerdings spricht einiges dafür, dass wir es gar nicht mit einem Verschwinden des Martyriums zu tun haben, sondern viel eher mit unterschiedlichen Konjunkturen, mit einem Nebeneinander verschiedener Ansätze, die nach Bedarf jederzeit reaktiviert werden konnten. Wie sonst wäre es zu erklären, dass trotz der hier für das späte 16. Jahrhundert geschilderten Krise des Martyriums vor allem das 17. Jahr51 Vgl. Kingdon, Reactions. S. 41, 44. Für eine Analyse der politischen Beziehungen zwischen Rom und Frankreich in diesen Jahren kann ohnehin noch immer auf diesen Text von Kingdon, v. a. S. 39 – 49, verwiesen werden. 52 Dies betonen auch Medick, S. 19, und im Anschluss daran Burschel, Art. »Massaker«, Sp. 111. Beide versuchen jedoch nicht, das Massaker mit dem Martyrium in Verbindung zu setzen und auf diese Weise neben den Staatsbildungsprozessen auch die Prozesse der Konfessionsbildung zu integrieren. 53 Vgl. etwa die Position von Jean-Marie ApostolidÀs, wie sie El Kenz, Die mediale Inszenierung, S. 53, referiert.

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hundert als Blütezeit des Märtyrerkultes gilt? In der Literatur erfreute sich das Märtyrerdrama bei Katholiken wie Protestanten großer Beliebtheit, in der bildenden Kunst gehörte das Martyrium zu den zentralen Themen der Zeit.54 Verschwunden ist es offenbar nicht. Aber an seine Seite ist das Massaker getreten. Dieses Nebeneinander der beiden Denkfiguren wird selten deutlicher als bei Gregor XIII.: Der gleiche Papst, der die Bartholomäusnacht als Massaker malen ließ, um in diesem Bild seine politischen Machtansprüche gegenüber den Monarchien zu verhandeln, förderte auch den Märtyrerkult. Im Dienste der Mission wurden in seinem Pontifikat Santo Stefano Rotondo und andere Kirchen der Missionsorden mit den berühmten Märtyrerzyklen versehen. Und im Dienste der katholischen Erneuerung ließ der Papst ganz im Geist des Trienter Konzils ab 1583 das »Martyrologium Romanum« als offizielle römische Märtyrerliste zusammenzustellen.55 Wo also verläuft die Trennlinie? Das Massaker formuliert Machtansprüche gegen Monarchien, das Martyrium befördert Mission und innere Erneuerung. Man könnte auch sagen: Das Massaker steht im Zusammenhang mit der Staatsbildung, das Martyrium im Zusammenhang mit der Konfessionsbildung.56 Und genau das zeigt auch das französische Beispiel. Solange es um interne Prozesse der konfessionellen Gruppe geht, erscheint religiöse Gewalt in Form des Martyriums: Märtyrer und Martyrologien stiften Identität, sie sind für die sich formierenden Konfessionen des 16. Jahrhunderts in den Worten von Christine Vogel »die paradigmatischen Medien des kollektiven Gedächtnisses«.57 Sobald sich aber das Selbstverständnis der Gruppe ändert und sie sich als politische Kraft zu verstehen beginnt, sobald sie anfängt, nicht nur spirituelle Freiräume, sondern einen Platz im Staat zu fordern, erscheint Gewalt gegen die Gruppe als Massaker. Ob religiöse Gewalt als Martyrium oder Massaker interpretiert wird, ist daher ein Indiz für die Selbstwahr54 Vgl. etwa für die Literaturgeschichte Herta T. Feyock, Das Märtyrerdrama im Barock. Philemon martyr von Jacob Bidermann, Le v¦ritable Saint Genest von Jean Rotrou, Th¦odore, Vierge et Martyre von Pierre Corneille, Catharina von Georgien von Andreas Gryphius. Ein Vergleich, Phil. Diss. 1966, Univ. Boulder, Col., zugänglich als: Ann Arbor, Mich., Univ. Microfilms 1983; Hartmut Heinze, Das deutsche Märtyrerdrama der Moderne. Eine gattungsgeschichtliche Grundlegung, Frankfurt a. M. / Bern / New York 1985. Exemplarisch für die Kunstgeschichte: Jutta Held, Caravaggio. Politik und Martyrium, Berlin 1996. 55 Diese nicht nur zeitliche Koinzidenz betont auch Röttgen, S. 113. 56 Dass Konfessionsbildung und Staatsbildung hier auseinander gezogen werden, stellt keine grundsätzliche Kritik am Konzept der Konfessionalisierung dar, das ja gerade durch die Zusammenschau dieser beiden Dimensionen besticht. Ebenso wenig soll damit die Vorstellung zum Ausdruck gebracht werden, beide Prozesse seien ohne den jeweils anderen vollständig zu erfassen. Um die unterschiedlichen Akzentsetzungen bei den Deutungsformen Martyrium und Massaker deutlich zu machen, erscheint mir diese Operation hier schlicht heuristisch geboten. 57 Vogel, S. 156; vgl. auch Anm. 13.

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nehmung der Gruppe. Gleichzeitig signalisiert die Entscheidung zwischen diesen beiden Deutungsmustern, wie die Gruppe von außen gesehen werden will – in der Deutung von Gewaltereignissen in Wort und Bild werden nicht nur Selbstverortungen vorgenommen, sondern auch Geltungsansprüche kommuniziert.

4.

Bilanz und Ausblick

Was bleibt festzuhalten? Vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Glaubenskämpfe präsentiert sich das Massaker als politisierte Form des Martyriums: Während das Martyrium in den Kontext der konfessionellen Selbstverständigung sich ausformender Gruppen und damit in den Zusammenhang der Konfessionsbildung gehört, verweist das Massaker auf den politischen Kampf solcher Gruppen um ihren Platz im Prozess der Staatsbildung. Welches Deutungsmuster bei der sinnhaften Erfassung von Gewaltexzessen den Vorzug erhält, unterliegt mithin dem Einfluss auch nicht-theologischer Faktoren: So wie das Martyrium als Wahrheitsausweis und Identitätsmarker nicht nur den Einzelnen auf die richtige Seite stellt, sondern auch konfessionelle Gruppen als die wahren Gläubigen konstituieren kann, solange sie nicht selbst zu den Waffen greifen, so ist das Bild des Massakers ideal geeignet, um den unrechtmäßigen Tyrannen seiner politischen Illegitimität zu überführen und den Opfern der Gewalt das Recht auf Widerstand zuzubilligen. Für das französische Beispiel markiert die Bartholomäusnacht von 1572 den Punkt, an dem das Martyrium in das Massaker überging; wie solche Übergänge in anderen Kontexten beschaffen sind, könnte der Überprüfung wert sein. Eines ist dabei jedoch nicht zu übersehen: In Frankreich, aber sicher nicht nur dort, konnte das Mit- und Nebeneinander der beiden Deutungsmuster nicht ohne Folgen bleiben. Dies betrifft vor allem das Martyrium, das als sinnhafte Lesart gewaltsamen Sterbens ja keineswegs verschwand. Verändert zeigt sich indes seine Verwendbarkeit als Deutungsmuster im religiös-politischen Konflikt: Es scheint, als habe das Martyrium nach 1572 seine Eignung als Wahrheitsbeweis verloren.58 Crespins Nachfolger Goulart begann, nun auch die lapsi, d. h. jene, 58 Umgekehrt lassen sich auch schon vor 1572 Ansätze eines Widerstandsrechts im Martyrium und dessen Einsatz in politischen Konflikten feststellen. So wird allein schon in den Kontextualisierungen der Fälle bei Crespin wie Tortorel / Perrissin klar, dass die Täter auf der Seite der Krone zu suchen sind. Erinnert sei auch an die Hinweise von Engammare, dass Calvin mit dem biblischen Gebot, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, dem unfrommen Fürsten bereits die politische Legitimität abspreche; darin einen »Calvin monarchomaque« (vgl. Anm. 11) zu sehen, überdehnt dieses Argument m. E. aber doch. Andere wurden da schon konkreter. So hieß es in einer dem 1559 als Märtyrer hingerichteten Anne

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die die Glaubensprüfung nicht bestanden und im Moment der Todesgefahr ihrer Konfession abgeschworen hatten, in seine Betrachtung des Martyriums einzubeziehen.59 Und auch katholische Autoren wie Richard Verstegan, der in seinem »Theatre des Cruaut¦s des h¦r¦tiques de nostre temps« von 1588 die Gräueltaten der Hugenotten ins Bild setzte, zielten nicht mehr auf compassio und Gebet, sondern auf den politischen Skandal.60 Angesichts dieser immer weiterreichenden Politisierung des Martyriums verwundert es kaum noch, in welcher Gestalt der Märtyrer zurückkehren sollte: als Königsmörder, der für seine Heldentat zur Rettung des Glaubens sein Leben zu opfern bereit war. Mustergültig verkörpert wird diese extrem politisierte, gewaltbereite Form des Martyriums durch Jacques Cl¦ment. Der fanatische Katholik bezahlte die Ermordung des zum Ausgleich bereiten Königs Heinrichs III. im Jahr 1589 mit seinem eigenen Leben. Dafür aber wurde ihm im katholischen Paris eine Verehrung zuteil, die sich kaum noch vom Kult der einstigen Märtyrer unterschied: Mit Cl¦ment wurde das politische Attentat zum religiösen Martyrium.61 Letztendlich erwies sich die zunehmend politische Wahrnehmung der Auseinandersetzung jedoch als Voraussetzung für die Lösung des Religionskonflikts:62 Im politischen Kompromiss des Toleranzedikts von Nantes wurden die französischen Religionskriege 1598 (wenn auch nur für eine gewisse Zeit) überwunden. Ausgerechnet Heinrich von Navarra, der die Bartholomäusnacht

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du Bourg gewidmeten Schrift von 1560, zitiert nach El Kenz, Calvin et la politique du martyre, S. 32: »Der König unser Fürst ist mit all den Seinen Untertan des souveränen Königs, und so wie er das Verbrechen der Majestätsbeleidigung verfolgt, so ist auch er des Todes schuldig, wenn er gegen den Willen seines und unseren Königs handelt.« Hier haben wir es nicht mit der Auflösung des Martyriums im Massaker zu tun: Hier kündigt sich die Wiederkehr des Märtyrers in Gestalt des Attentäters an. Zentral hierzu Graves. Zu Richard Verstegan oder Verstegen, seinem erstmals 1587 in lateinischer Sprache als »Theatrum Crudelitatum haereticorum nostri temporis« veröffentlichten und umgehend ins Französische übersetzten Werk und der hier vorgestellten Deutung vgl. die Katalogbeiträge von GJ (Godehard Janzing) in: Zuwanderungsland Deutschland. Die Hugenotten, S. 208 – 210. Zu Cl¦ment und dessen kultischer Verehrung im Paris der Katholischen Liga bis hin zu Gerüchten über seine bevorstehende Heiligsprechung vgl. El Kenz, Les usages subversifs, S. 45 – 49. Kenz präsentiert hier einen Vergleich zwischen dem katholischen und dem hugenottischen Märtyrerdiskurs und ihren jeweiligen Wandlungen, der die Frage nahelegt, ob in der extrem gewaltbereiten Interpretation des Martyriums die katholischen Riten der Gewalt mitschwingen; vgl. v. a. S. 43. Zu Heinrich III. vgl. etwa die sehr passend betitelte, aktuelle Biographie von Robert J. Knecht, Hero or tyrant? Henry III, King of France, 1574 – 89, Farnham u. a. 2014. So, neben vielen, auch El Kenz, Die mediale Inszenierung, der die Überführung eines religiösen in einen politischen Diskurs (S. 71) als Versuch zur Überwindung der konfessionellen Streitigkeiten versteht, »damit diese in eine politische Auseinandersetzung überführt werden können, in welche die gesamte Leserschaft des Königreichs Frankreich einbezogen ist« (S. 73).

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nur um den Preis seiner Konversion überlebt hatte, der auch in Zukunft seine Konfessionszugehörigkeit den politischen Bedürfnissen und Möglichkeiten unterordnen und damit der Unbedingtheit der Märtyrer eine Absage erteilen sollte – ausgerechnet diesem Heinrich von Navarra gelang es, als König Heinrich IV. das zerrüttete Frankreich zu befrieden: Mit dem Verzicht auf das Martyrium hatte er auch das Massaker überwinden und die Gewalt beenden können. Am Ende war die wechselvolle Geschichte von Martyrium und Massaker damit aber noch lange nicht: 1610 sollte auch Heinrich IV. einem Attentäter zum Opfer fallen, der im Namen des Glaubens und im Auftrag Gottes zu handeln meinte.63 Auch in den nächsten Jahrzehnten mangelte es den Menschen in Europa nicht an Gewalttaten, die es kommunikativ zu erfassen, mit Sinn zu versehen und ins Bild zu setzen galt. Der große Krieg mit seinen Massakern und Martyrien sollte erst noch kommen; die Deutungsmuster standen bereit.

63 Zu Ravaillac und der Ermordung Heinrichs IV. vgl. z. B. die klassische Studie von Roland Mousnier, Ein Königsmord in Frankreich. Die Ermordung Heinrichs IV. durch Ravaillac, Berlin 1970 (franz. 1964).

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Politische Kommunikation in alltäglichen Bildwelten. Nationale Stereotype in der populären Druckgraphik des 18. Jahrhunderts

1.

Einleitung

Sehen ist eine Körpertechnik, die neurophysiologisch wie kulturell erlernt werden muss.1 Aus der Perzeptionsphysiologie ist bekannt, dass Neugeborene in den ersten zwei Wochen ihres Lebens ihr Sehvermögen darauf trainieren müssen, das von Gegenständen durch Strahlen auf die Netzhaut projizierte Bild umzudrehen und zu vergrößern. Im Alter von drei Monaten können Babys zwischen freundlichen und unfreundlichen Gesichtern unterscheiden.2 Die Gesichtserkennung ist entsprechend tief verankert in der visuellen Wahrnehmungspsychologie: Das Experiment des sogenannten Thatcher-Effekts zeigt, dass wir Gesichtszüge unmittelbar erkennen und lesen können, wenn sie ›richtig‹ herum stehen, also der alltäglichen visuellen Erfahrung entsprechen. Auf den Kopf gestellt ist der Gesichtsausdruck schwieriger zu entschlüsseln.3 Sehen ist also eine Orientierungstechnik, die im Sozialisationsprozess erworben wird. Der Körper, genauer gesagt die Augen und die visuelle Reize verarbeitenden Module des Gehirns bilden eine Schnittstelle zwischen dem Bild und seiner Bedeutung und damit zwischen Umwelt und Kultur. Hier ist die Bedeutung des Gesehenen als Erfahrung gespeichert, die uns sagt, wie wir Linien, Punkte und Flächen zu interpretieren haben. An diesem subjektiven Teil des Wahrnehmungsprozesses, am »Anteil des Betrachters, den wir selbst aus dem im Gedächtnis gespeicherten Bildvorrat ständig zu jeder Darstellung bei1 Siehe dazu ausführlicher Silke Meyer / Guido Sprenger, Der Blick der Kultur- und Sozialanthropologie. Sehen als Körpertechnik zwischen Wahrnehmung und Deutung, in: Silke Meyer / Armin Owzar (Hg.), Disziplinen der Anthropologie, Münster 2011, S. 203 – 227. 2 Vgl. Viola Brenna u. a., Positive, but not negative, facial expressions facilitate 3-month-olds’ recognition of an individual face, in: International Journal of Behavioral Development 37/2 (2013), S. 137 – 142. 3 Vicki Bruce / Andrew W. Young, In the eye of the beholder : the science of face perception, Oxford 2000, S. 158 f. Zum Thatcher-Effekt vgl. Peter Thompson, Margaret Thatcher : a new illusion, in: Perception 9/4 (1980), S. 483 – 484.

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steuern«,4 sind kulturelle Konventionen und Codes maßgeblich beteiligt. Wahrnehmung wird gesteuert von Denk- und Empfindungsvoraussetzungen wie von technischen Rahmenbedingungen, welche einem historischen Kontext verpflichtet sind. Sehen ist daher immer Interpretation und niemals ohne Voraussetzung, nicht nur in den Augen der Kunstgeschichte, sondern auch aus der Perspektive des Neurophysiologen und Hirnforschers Wolf Singer : »Unsere Wahrnehmungen sind keine isomorphen Abbildungen einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit. Sie sind vielmehr das Ergebnis hochkomplexer Konstruktionen und Interpretationsprozesse, die sich stark auf gespeichertes Vorwissen stützen.«5 Und dieses Vorwissen konstituiert sich aus individuellen Seherfahrungen ebenso wie aus gesellschaftlichen Sehgewohnheiten. Menschen sehen allerorts und zu allen Zeiten, aber jede Gesellschaft und jede Zeit entwickelt ihr eigenes Verhältnis zum Sehen und Deuten. Sehen wird damit zur kultur- und epochenspezifischen Körpertechnik.6 Die Zentralperspektive beispielsweise war eine Erfindung der Renaissancekunst, welche dem Raum Plastizität verleiht und ihn zum/zur Betrachter/in hin öffnet. Der/die Betrachter/in ist eingeladen, zum Bildwerk in Beziehung zu treten, sich den Raum konstruktiv zu erschließen und dabei irritierende Bildelemente auszublenden. Damit spiegelte sich das Renaissance-Ideal des individuellen und aktiv gestaltenden Menschen in der neuen Struktur des Sehens.7 Die neue Sichtweise musste erlernt werden, aber einmal zur Gewohnheit geworden, ist es schwierig, die Zentralperspektive wieder aufzugeben. Frühchristliche Kunst bezieht in unseren Augen ihre Andersartigkeit und Exotik aus dem Fehlen der Zentralperspektive8 – anders gesagt: Sie wirkt fremd in ihrer Flächigkeit und fehlenden Bildtiefe. Das skopische Regime der Moderne hingegen favorisiert den cartesianischen Perspektivismus, in dem der Raum einheitlich rechtlinig angeordnet ist und damit natürlich wirkt. Der/die Betrachter/in lässt seinen Blick nicht schweifen, sondern sieht statisch wie durch ein Guckloch auf die Abbildung, die Perspektive wird dadurch verewigt und entkörperlicht: »eternalized, reduced to ›one point of view‹, and disembodied«.9 Aus diesem hege4 Ernst H. Gombrich, Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1984, S. 142. 5 Wolf Singer, Das Bild in uns – Vom Bild zur Wahrnehmung, in: Christa Maar / Herbert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 56 – 76, hier S. 65. 6 Vgl. Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers (1935), in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Wiesbaden 2010, S. 197 – 217. 7 Thomas Kleinspehn, Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 40 – 52. 8 Christoph Wulf, Das Auge, in: ders. (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim / Basel 1997, S. 446 – 458, hier 447 f. 9 Martin Jay, Scopic regimes of modernity, in: Hal Forster (Hg.), Vision and visuality, Huntsville 1988, S. 3 – 23, hier S. 6 f. Die Formulierung »skopisches Regime« prägte der französische

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monialen Blickwinkel leitet Martin Jay die Vorstellung einer abstrakten Nüchternheit und Nicht-Erotik der visuellen Ordnung in der Renaissance ab. Svetlana Alpers setzt in einem vergleichenden Ansatz der narrativen Kunst der italienischen Renaissance, in der menschliche Figuren die Texte von Dichtern aufführen, die Sichtweise der altniederländischen Kunst im 16. und 17. Jahrhundert entgegen. Während italienische Kunst Geschichten erzählt, werden in dem nordeuropäischen Gegenpart Materialität und Oberfläche zum Ziel des künstlerischen Ausdrucks. Kennzeichen der nordeuropäischen Kunst des Beschreibens sind folglich Detailfreudigkeit, ein reflektierendes und somit kein definierendes Licht, weniger deutlich verortete, fast schwebende Betrachter/innen und Bildteile ohne Rahmungen.10 Unterschiedliche ästhetische Entwicklungen münden also in kulturspezifische Sehweisen. Andere Einschnitte in historische Sehgewohnheiten sind die logozentrische Überformung des Gesichtssinns im Übergang von der Oralität zur Literalität, später verstärkt durch die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks. Und mit der Verbreitung von Brille, Fernrohr und Mikroskop etablierte sich ein kontrollierender, sezierender Blick, den Michel Foucault mit einem neuzeitlichen Medizin- und Wissenschaftsverständnis verbindet.11 Die Diagnose, welche der/die Arzt/Ärztin durch Betrachtung des/ der Patienten/Patientin stellte, gewann die Oberhand über dessen/deren Schmerzerfahrung. Der diagnostisch-sezierende Blick wurde damit auch zur Macht- und Kontrolltechnik. Lorraine Daston und Peter Galison schreiben diese epistemologische Geschichte des Sehens wissenschaftshistorisch fort und führen aus, wie auch hochmoderne Sehpraktiken, z. B. nanomanipulierte Atlasbilder, mit der Genese von Objektivität, Wahrheit und der Bedeutung des wissenschaftlichen Selbst verbunden werden.12 Mit dem 19. Jahrhundert erlangte der panoramatische Blick große Beliebtheit, der wiederum an eine technische Neuerung und ihre Verbreitung gekoppelt war, nämlich an das Reisen mit der Eisenbahn. Bei der Sicht aus dem Abteilfenster in die unmittelbare Umgebung machten die frühen Reisenden die Erfahrung, dass die schnell wechselnden optischen Eindrücke ihre Sinnesorgane

Filmtheoretiker Christian Metz in seinem Buch: The imaginary signifier : psychoanalysis and the cinema, Bloomington 1982. 10 Svetlana Alpers, The art of describing: Dutch art in the seventeenth century, Chicago 1983. 11 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976. 12 Lorraine Daston / Peter Galison, Objectivity, New York 2007, S. 363 – 415. Weitere Beispiele zu Sehtheorien in der Technik- und Wissenschaftsgeschichte finden sich in dem in der Reihe »Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik« erschienenen Band 2.2 von Angela Fischel (Hg.), Instrumente des Sehens, Berlin 2004. Die Reihe wird von Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner am Berliner Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Bereich »Das Technische Bild« herausgegeben.

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ermüdeten und Schwindel auslösten.13 Die Außenwelt schien sich vor den Augen der Bahnfahrer/innen aufzulösen: »Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote und weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe.«14 So beschrieb Victor Hugo die Sicht aus dem Fenster auf einer Bahnreise im Jahr 1837. Die hohe Anzahl der visuellen Reize, die der Gesichtssinn verarbeiten musste, rief ein entscheidendes Moment der Moderne hervor, nämlich die Wahrnehmung in der und damit von Bewegung.15 Eine Anleitung zum Reisen von 1838 empfahl daher : »Wer ein gutes Auge hat […], gewöhne sich gleich daran, alles, was sich ihm während der Fahrt darbietet, aus einiger Entfernung zu beobachten, und es wird ihm selbst während der Stage der allergrößten Schnelligkeit, bei einiger Beobachtungsgabe, nicht das Geringste verloren gehen.«16 So lehrte der Blick aus dem Abteilfenster eine neue Art zu sehen: Den Fokus nicht mehr auf den Vordergrund, sondern auf den Mittel- und Hintergrund gerichtet und die schnelle Abfolge der Eindrücke als Tableau interpretiert, wurde es dem/der Passagier/in gerade durch das für ihn/sie schwindelerregende Tempo der Bahn möglich, das Panorama als eine Übersicht zu erfassen. Diese Panoramasicht wurde zur positiv besetzten, ersehnten Reiseerfahrung, wie bei dem Pariser Journalisten Jules Clar¦tie nachzulesen ist: »In wenigen Stunden führt sie [die Eisenbahn] Ihnen ganz Frankreich vor, vor Ihren Augen entrollt sie das gesamte Panorama, eine schnelle Aufeinanderfolge lieblicher Bilder und immer neuer Überraschungen. Sie zeigt Ihnen lediglich das Wesentliche einer Landschaft […] Verlangen Sie keine Details von ihr, sondern das Ganze, in dem das Leben ist.«17

Der Blick aus dem Fenster wollte also gelernt werden, aber einmal etabliert, erfreute sich das Panorama großer Beliebtheit. 13 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Wien 1977, S. 109. Zur Verbreitung des panoramatischen Blicks gehört, das soll hier nicht unterschlagen werden, auch der Alpinismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der die Rundumsicht mit dem Lohn für sportliche Leistung und heroisches Bezwingen von Natur konnotierte. Vgl. zum Beispiel Bernhard Tschofen, Berg Kultur Moderne. Volkskundliches aus den Alpen, Wien 1999; Dagmar Günther, Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus (1870 – 1930), Frankfurt a. M. / New York 1998. 14 Brief vom 22. August 1837, zitiert nach Schivelbusch, S. 54. 15 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hrsg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 227 – 242, hier S. 228. 16 Georg Muhl, Die westeuropäischen Eisenbahnen in ihrer Gegenwart und Zukunft, Karlsruhe 1838, S. 18; zitiert nach Schivelbusch, S. 54. 17 Jules Clar¦tie, Voyages d’un Parisien, Paris 1865, S. 4; zitiert nach Schivelbusch, S. 59 f.

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Wenn Sehen also eine kulturelle Technik ist, dann lassen sich ähnliche Rezeptionsprozesse auch auf andere Perspektiven und ihre Deutungspraxis anwenden. Bilddiskurse bilden Sehgewohnheiten aus, »das heißt kulturell eingeübte, historisch spezifische Weisen des Sehens«.18 Vor allem die Inhalte und Darstellungsweisen weit verbreiteter visueller Medien, wie der populären Druckgraphik, etablieren in ihrer Omnipräsenz eine Art ikonographische Grammatik, die in eine kulturell geprägte Sehgewohnheit mündet. Ich möchte diese These am Beispiel nationaler Stereotype in der englischen populären Druckgraphik diskutieren und vor allem deren Funktionen für ihre kindlichen Betrachter/innen hervorheben. Hierfür werde ich zunächst die Produktionsund Rezeptionsgeschichte der Druckgraphik für Kinder kurz beleuchten und anschließend anhand von Repräsentationen nationaler Stereotype die Mechanismen und Funktionen eines othering-Diskurses analysieren. Ziel meines Beitrags ist es, neuere Tendenzen der politischen Kommunikationsforschung und alltagskulturelle Überlegungen zusammenzubringen. Visuell repräsentierte politische Kommunikation – in ihrem weiten Verständnis als Verhandlungsraum »überindividuelle[r] Probleme von Sozial- und Herrschaftsbeziehungen«19 – dringt über die Grenzen der klassischen politischen Ikonographie hinaus in alltägliche Lebenswelten vor und findet Ausdruck in unterschiedlichen Genres.20 Die dort reproduzierten Bildprogramme streben danach, kollektive Verbindlichkeit für das Handeln und Deuten der Akteur/innen zu schaffen, normative Ordnungen zu tradieren und identitätsstiftend zu wirken. Die populäre Druckgraphik bildet damit die Konstitution und das Wirken des ›Politischen‹ im Alltag ab, indem sie in ihrer seriellen Verbreitung Sehgewohnheiten begründet und damit Wahrnehmungsmodalitäten prägt.

18 Philipp Sarasin, Bilder und Texte. Ein Kommentar, in: Werkstatt Geschichte 47 (2008), S. 75 – 80. 19 Vgl. Einleitung der Herausgeber, S. 17. 20 Der Gedanke, dass politische Kommunikation in Druckform einen festen Bestandteil der historischen Alltagswelt darstellte und eben nicht nur in Brotpreis- und anderen Nahrungsmittelrebellionen Ausdruck fand, ist vergleichsweise neu. Vgl. Markku Peltonen, Political argument, in: Joad Raymond (Hg.), The Oxford history of popular print culture: cheap print in Britain and Ireland to 1660, Oxford 2011, S. 252 – 262, hier S. 253.

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Kindliche Bildwelten: Produktions- und Rezeptionsbedingungen der populären Druckgraphik im 18. Jahrhundert

Die Bezeichnung populäre Druckgraphik umfasst unterschiedliche Artefakte wie children’s lotteries, Einblattdrucke und Flugblätter (broadside ballads), bebilderte Schreibbögen (writing sheets) und Illustrationen in Leseheften (chapbooks) sowie in Geschichts- und Geographiebüchern für Kinder. In der Forschung sind vor allem die ästhetisch wenig anspruchsvollen children’s lotteries noch wenig beachtet, obwohl ihnen in der Druckproduktion des 18. Jahrhunderts durchaus der Status eines Massenmediums zukam. Die Blätter haben ungefähr die Größe einer DIN A 4-Seite, sind vielfach dekorativ gerahmt und weiter unterteilt in kleine serielle Szenen mit voneinander unabhängigen Abbildungen (Abb. 1). Die Szenen sind beschriftet mit Namen oder Bezeichnungen, im Zusammenspiel von Text und Bild dienten sie auch zum Lesenlernen. Kinder schnitten die kleinen Bilder aus, sammelten und tauschten sie oder klebten sie in ein Sammelalbum (scrapbook) ein.21 Weiterhin versteckten sie die ausgeschnittenen Bilder in einem Buch und steckten eine Nadel oder einen Stift zwischen die Seiten. Wer ein Bild fand, durfte es behalten.22 In heutigen Museumssammlungen firmieren die lotteries vielfach unter dem Namen Gebrauchsgraphik oder ephemera, was für ihre Erforschung nichts Gutes verheißt.23 Denn Gebrauchsgraphiken haben besonders in den Händen von Kindern keine lange Lebenserwartung, und bis auf wenige Ausnahmen wurde ihr Sammelwert erst im späten 19. Jahrhundert erkannt.24 Entsprechend unterrepräsentiert im Verhältnis zu den ursprünglichen Auflagen sind die Blätter demnach in musealen Sammlungen. Geschätzt wird, dass nur die Spitze des Eisbergs erhalten geblieben ist. Über die Höhe der zeitgenössischen Auflagen sind leider nur wenige konkrete Zahlen bekannt; vermutet werden Auflagen mit 21 Scrapbooks sind nur wenige erhalten, eine Ausnahme bildet das Album des jugendlichen Frederick Lock. Vgl. Andrea Immel, Frederick Lock’s scrapbook: patterns in the pictures and writing in the margins, in: The Lion and the Unicorn 29/1 (2005), S. 65 – 85. 22 Vgl. Sheila O’Connell, The popular print in England, London 1999, S. 33. Aus diesem Glücksspiel stammt vermutlich auch die Bezeichnung lotteries. 23 Im Rahmen meiner Dissertation habe ich eine Reihe von englischen Sammlungen auf solche Kinderdrucke hin durchsucht und vergleichsweise wenige Funde hervorgebracht. Die hier abgedruckten Bilder stammen aus einer anonymen privaten Sammlung, die im Jahr 1970 vom Verlag Dover Publications reproduziert wurde: Bowles & Carver, Catchpenny prints: 163 popular engravings from the 18th century, originally published by Bowles & Carver, New York 1970. Datieren lässt sich die Serie anhand einiger Motive und Publikationsangaben auf die 1780er und 1790er Jahre. 24 Vgl. O’Connell, S. 192 – 202.

Politische Kommunikation in alltäglichen Bildwelten

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Abb. 1: Lottery-Bogen. Aus: Bowles & Carver, Catchpenny prints: 163 popular engravings from the 18th century, originally published by Bowles & Carver, New York 1971, S. 19, Nr. 31.

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bis zu 1.000 Abzügen.25 Aus der Entwicklung des Druckmarktes im 18. Jahrhundert und aus den Katalogen der Druckhäuser lassen sich ebenfalls ein massenhafter Absatz und damit eine große Verbreitung der kleinen Bilder ableiten. Die Druckerdynastien Bowles & Carver und Overton beispielsweise, die den Käufermarkt auf die Mittelschichten ausweiteten, führten lotteries mit Hunderten von Motiven in ihren Katalogen. Overtons Katalog aus dem Jahr 1717 warb mit »[a]bout 500 more several sorts of small plates for children to play with, both coloured and plain«.26 Während des gesamten 18. Jahrhunderts bot das Verlagshaus Bowles & Carver unter der Adresse »69 St. Paul’s Churchyard, London« hunderte unterschiedliche Motive für Kinderdrucke in ihren Katalogen an:27 »Lotteries. 400 different sorts, far superior in goodness to any extant, being a new and large collection of small pictures and hieroglyphics, intended to divert and instruct children in their most tender years, containing the several dignities, stations and conditions among men and women, the various kinds of beasts, birds and fishes; trees, fruits and plants; the seasons of the year, sports, diversions, humours, trades, caricatures; the ways of life, etc.«28

Auch die Konkurrentin um das untere Marktsegment, die Firma William und Cluer Dicey, hatte lotteries zu Hunderten im Sortiment: »Three Hundred different Sorts of Lotteries, Pictures for Children, as Men, Women, Kings, Queens, Birds, Beasts, Horses, Flowers, Butterflies, & c. each on Half a Sheet of good Paper«.29 Der Preis der lotteries lag bei einem Sixpence oder weniger. Zum Vergleich: Für einen Sixpence konnte man um die Jahrhundertmitte ein Pfund Zucker oder einen Laib Brot erwerben, zum selben Preis waren die Themse von 25 Diese Auflagenzahl gilt für die im späten 18. Jahrhundert verbreitete Technik der tief geätzten Radierung, die robuster als Holzschnitte und Kupferstiche war und schnellere Abzüge erlaubte; vgl. O’Connell, S. 57. 26 A catalogue of maps and prints from off copper-plates which are printed and sold by Henry Overton at the White House, without Newgate, London 1717, S. 22. Zu den einzelnen Druckhäusern und ihren Kunden vgl. Silke Meyer, Die Ikonographie der Nation. Nationalstereotype in der englischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts, Münster 2003, S. 36 – 74. 27 Thomas Bowles I führte die Geschäfte am St. Paul’s Churchyard von 1691 bis 1721, sein Sohn Thomas Bowles II stieg 1715 in den Familienbetrieb ein. Carington Bowles I, sein Neffe, übernahm den Betrieb 1763 und vermachte ihn dann seinem Sohn Henry Carington Bowles II. Eine Filiale hatte ihren Standort an der Mercer’s Hall in Cheapside und später am Black Horse in Cornhill; vgl. O’Connell, S. 51 f. 28 Carington Bowles, Carington Bowles’ new and enlarged catalogue of useful and accurate maps, charts and plans, London 1786, S. 198. 29 A catalogue of maps, prints, copy-books, drawing-books, histories, old ballads, patterns, garlands, printed and sold by William and Cluer Dicey, at their warehouse, opposite the south door of Bow Church in Bow-Churchyard. London 1754 [1764], ohne Seiten. Zur Bedeutung des Hauses Dicey in der englischen Printproduktion des 18. Jahrhunderts vgl. David Stoker, Another look at the Dicey-Marshall publications: 1736 – 1806, in: The Library 7/15 (2014), S. 111 – 157.

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Westminster nach London Bridge zu überqueren oder die Löwen im Tower zu besichtigen.30 Zwei Sixpence, also ein Schilling, erlaubten 1783 den Kauf des Kinderbuches »The History of All Nations« (zuerst 1768) oder genug Gin für einen Vollrausch.31 Für einen Schilling konnte man aber auch Zweitabdrucke von Karikaturen renommierter Künstler wie William Hogarth, Henry Bunbury, George Woodward, Thomas Rowlandson sowie Isaac und George Cruikshank erwerben. Ihr satirisches Œuvre umfasste Alltagsszenen wie politische Kommentare, und in beiden Kontexten waren Darstellungen fremder Nationen weit verbreitet. Der Verleger Thomas Tegg und sein Kollege S. W. Fores etablierten das Geschäftsmodell, Folianten voller Karikaturen für den Abend zu verleihen. Für den Preis von einem Schilling konnten Betrachter/innen die Bände mit nach Hause nehmen, wo sie für Unterhaltung der Familie sorgten32 – genauer gesagt, für die Unterhaltung männlicher Familienmitglieder. So erinnert sich nämlich der Schriftsteller William Thackeray, dass sein Großvater die Bildinhalte für seine Enkelinnen als unpassend erachtete: »[T]here would be in the old gentleman’s library in the country two or three old mottled portfolios, or great swollen scrap-books of blue paper full of prints by Gillray, Bunbury, Rowlandson, Woodward and the rest. But if our sisters wanted to look at the portfolios, the good old grandfather used to hesitate.«33

Neben der humoristischen Bildwelt von Kunst und Literatur, Flora und Fauna, Handel und Berufen, Heiligen und Rennpferden behandelten die Bilderserien der lotteries auch Themen der Politik und Geschichtsschreibung. Neben Herrscherporträts und Darstellungen von Admirälen und Offizieren wurden Ereignisse wie Landgewinne in Übersee oder die Geschehnisse der Französischen Revolution und des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges aufgegriffen. Seestücke und Schlachtszenen mit nationalen Helden- und Feindbildern, wie die Schlacht bei Culloden 1746 mit William Duke of Cumberland oder die erfolglose 30 Vgl. Almanach Parker’s ephemeris for the year of our Lord 1777, the eighty-eighth impression, London, ohne Seiten. 31 A complete catalogue of modern books published from the beginning of this century to the present time, London 1766, ohne Seiten; Catalogue of books consisting of near ten thousand volumes including sound libraries lately purchased with pamphlets, prints, music etc. By R. Christopher, bookseller and printer in Stockton, 1783. Ginpreise und Lebenshaltungskosten finden sich bei Liza Picard, Dr Johnson’s London: life in London 1740 – 1770, London 2000, S. 294 – 298. Die Preisskala des Londoner Druckmarktes und das Sozialmilieu seiner Käuferschaft beschreiben O’Connell, S. 167 – 180; Diana Donald, The age of caricature: satirical prints in the reign of George III, New Haven / London 1996, S. 3 – 9, 19 ff., 27 – 31. 32 Ebd., S. 4. 33 William M. Thackeray, Article III Pictures of life and character by John Leech, in: Quarterly Review 191 (1854), S. 75 – 86, hier S. 78 f.

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Verteidigung von Menorca durch General Blakeley 1756, waren ebenfalls fester Bestandteil der kindlichen Bildwelten. Die patriotische Botschaft der Drucke fand damit weite Verbreitung bis hin zu Schulräumen, Schaufenstern und Läden. Thomas Bewick (1753 – 1828), selbst Drucker, schildert den Wandschmuck im Speisesaal seiner Schule: »[P]rints, which were sold at a very low price, were commonly illustrative of some memorable exploits – or perhaps the portraits of eminent men who had distinguished themselves in the service of their country, or in their patriotic exertions to serve mankind […] representations of remarkable victories at sea, and battle on land, often accompanied with portraits of those who commanded, and others who had born a conspicuous part in these contests with the enemy – the house in Ovingham, where our dinner poke was taken care of, when at school, was hung around with views or representations of the battles of Zorndorf and several others – with portraits of Tom Brown the valiant Grenadier – Admiral Haddock – Admiral Benbow and other portraits of admirals – Some of the portraits, I recollect, were now and then to be met with, which were very well done in this way of wood. In Mr Gregson’s kitchen one of this character hung against the wall many years – it was a remarkable good likeness of Captain Coram.«34

Das Zitat belegt auch die Langlebigkeit der Motive und damit ihre Memorialfunktion über den Nachrichtenwert hinaus: Bewick wurde 1753 geboren, die Schlacht bei Culloden fand 1746 statt und in den 1760er Jahren, also zur Schulzeit Bewicks, immer noch Eingang in die Druckgraphiken. Tom Brown wurde 1743 zum Helden in der Schlacht bei Dettingen, Admiral Haddock verstarb 1746, der Kapitän, Geschäftsmann und Philantrop Thomas Coram 1751, Admiral Benbow bereits 1702. Alle Ereignisse und Persönlichkeiten erwiesen sich durch das gesamte 18. Jahrhundert als beliebte Motive der populären Bildprogramme. Mit dem Blick auf die soziale und politische Praxis der Bilder geht ihre Analyse weit über deren Repräsentationscharakter hinaus. In ihrem seriellen Charakter bildeten die kleinformatigen Drucke visuelle Ordnungen mit hohem Verbindlichkeitsgrad ab, sie wurden zu einem epistemischen Ort mit dem kindlichen Betrachter als »kulturelle[r] Übergangsfigur«.35 Ziele der Bildbotschaften waren Unterhaltung, Wissensvermittlung und religiös-moralische Erziehung. Alle drei Anliegen stellten sich im England des 18. Jahrhunderts als anschlussfähig an einen nationalen Diskurs dar und lieferten mit ihren visuellen Argumenten »Legitimations- und Plausibilisierungsformen für […] Geltungs34 Thomas Bewick, A memoir of Thomas Bewick written by himself, hrsg. von Ian Bewick, Oxford 1975, S. 192 f. 35 Silvy Chakkalakal, Die Welt in Bildern. Erfahrung und Evidenz in Friedrich J. Bertuchs »Bilderbuch für Kinder« (1790 – 1830), Göttingen 2014, S. 405.

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und Hegemonieansprüche«36 in der politischen Kommunikation einer Epoche und ihrer Wortführer ab. Dabei wurde die Figuration des Anderen als Demarkation zum Selbstbild besonders sichtbar. Die visuelle Konstruktion und Markierung einer Differenz – man könnte auch sagen: Prozesse des othering37 – fanden ihren Ausdruck in Bildern von nationalen Stereotypen, welche den politischen Diskurs der Nation in eine visuelle Quelle und zugleich auf eine alltagskulturelle Ebene überführten. Damit trug die klare Rhetorik der einfachen populären Druckgraphik, die im England des 18. Jahrhunderts zu einer Massenware mit milieuübergreifender Verbreitung wurde,38 ordnungs- und identitätsstiftend zur politischen Kommunikation des nation building bei.39

3.

Nationale Stereotype in der populären Druckgraphik

Ziel des visuellen Diskursraumes im England des 18. Jahrhunderts war die programmatische Konstruktion des Eigenen durch ein negatives Bild anderer Nationen.40 Die nationale Rhetorik schien dabei den Auftrag der lotteries – »to 36 Vgl. Einleitung der Herausgeber, S. 17. 37 Neben nationalen Stereotypen waren auch ethnische, soziale, religiöse oder gendertypische Differenzierungen verbreitet. Othering als Konstruktion des Fremden ist in den Ethnowissenschaften ein zentrales Forschungsanliegen, das unabhängig voneinander, jedoch ungefähr zeitgleich von Edward Said und Johannes Fabian entwickelt wurde. Vgl. dazu Edward Said, Orientalism, New York 1978; Johannes Fabian, Time and the other : how anthropology makes its object, New York 1983. 38 Vgl. O’Connell, S. 42 – 65. Zu Markt, Produktion, Distribution und Rezeption der populären Druckgraphik vgl. ausführlich Timothy Clayton, The English print 1688 – 1802, New Haven / London 1997; Donald. 39 Eine kultur- und alltagshistorische Perspektive auf Diskurse nationaler Identität im England des 18. Jahrhunderts geben unter anderen Tim Edensor, National identity, popular culture and everyday life, Oxford / New York 2002; Gerald Newman, The rise of English nationalism: a cultural history 1740 – 1830, New York 1997; Linda Colley, Britons: forging the nation 1707 – 1860, New Haven 1992. 40 Nationale Stereotype haben – im Nachgang zur Nationalismusforschung der 1980er Jahre – seit den 1990er Jahren einen wahren Boom in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung erfahren. Vielfach firmieren die Arbeiten zu Nationenbildern unter dem interdisziplinären Begriff der Imagologie. Die häufig literaturwissenschaftlich geprägten imagologischen Forschungen wählen einen konstruktivistischen Zugang und nähern sich der Systematisierung nationaler Rhetorik über Konzepte der Intertextualität und der sich wandelnden Bedeutung von Tropen und Topoi in ihrer Funktion der sozialen Inklusion und Exklusion. Vgl. dazu Ton Hoenselaars / Joep Leerssen (Hg.), The rhetoric of national character. European Journal of English Studies 13/3 (2009): darin vor allem Emer O’Sullivan, S is for Spaniard: the representation of foreign nations in ABCs and picturebooks, S. 333 – 349; Birgit Neumann, Towards a cultural and historical imagology : the rhetoric of national character in 18th-century literature, S. 257 – 291; zudem William L. Chew, What’s in a national stereotype? An introduction to imagology at the threshold of the 21st century, in: Language and Intercultural Communication 6/3 & 4 (2006), S. 179 – 187; Joep Leerssen, The

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divert and instruct children in their most tender years« – in besonderer Weise zu erfüllen. Die Repräsentationen nationaler Typen dienten als Informationsquelle über fremde Länder und ihre Bevölkerung, als Anstoß zum Amüsement über deren angenommene Eigenarten und Besonderheiten sowie als Wegweiser in einem moralischen Wertesystem. Wissen wurde dabei mit Affekten und Evaluationen angereichert. Zwei Funktionen sind erkennbar : Erstens dienten die Typologien zur Orientierung in einer komplexen Welt, indem sie eindeutige Kategorien zur Unterscheidung von Gut und Böse, Eigen und Fremd, Normal und Anders wiederholten. Zweitens förderten sie ein affirmatives Selbstbild durch die Konstruktion eines negativen Fremdbildes. Das Fremde wurde genau dadurch fremd, dass man es mit dem Eigenen kontrastierte. Als Mechanismen kamen Wiederholung und Serialität, Selektion und evaluative Gegenüberstellung zum Einsatz.41 Diese Mittel wurden durch intertextuelle und intervisuelle Bezüge in eine vermeintlich lange Tradition gesetzt und gewannen so an Plausibilität. Besonders die der Gattung der Druckgraphik eigene Serialität übertrug sich auf die nationalen Typen und erzeugte eine Regelhaftigkeit von Motiven, Komposition und Konnotation.42 Damit suggerierten die anschließbaren und diskursfähigen Inhalte des Darstellbaren eine Selbstverständlichkeit des Dargestellten. Die Nation wurde kulturalisiert, ihre zugeschriebenen Merkmale und Charaktereigenschaften essentialisiert. Auch in den lotteries, in ihrem Aufbau bereits als Serie angelegt, waren nationale Stereotype ein fest etabliertes Sujet, welches intertextuell mit Bezügen zur patriotischen Propaganda zeitgenössischer Politik, Literatur und Kunst verankert wurde. So trägt eine Dinner-Szene, in der ein wohlgenährter Mann mit rundem Gesicht an einem üppig gedeckten Tisch sitzt und die Betrachterin anblickt (Abb. 2), den Titel des berühmten Gemäldes »The Gate of Calais; or O the Roast Beef of Old England« von William Hogarth aus dem Jahr 1748. rhetoric of national character : a programmatic survey, in: poetics today 21 (2000), S. 267 – 292. Einen Überblick geben ferner aus literaturwissenschaftlicher Sicht Manfred Beller / Joep Leerssen, Imagology : the cultural construction and literary representation of national characters, Amsterdam / New York 2007; Neumann; Emer O’Sullivan, Imagology meets children’s literature, in: International Research in Children’s Literature 4/1 (2011), S. 1 – 14. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. unter anderen Meyer, Ikonographie der Nation. Dieser Beitrag beruht weitgehend auf den dort publizierten Forschungen. 41 Ausführlicher zu Funktionen und Wirkweisen von Stereotypen vgl. Silke Meyer, Warum die Lederhosen anbleiben. Interkulturalität und Stereotype, in: Judith Schmidt / Sandra Keßler / Michael Simon (Hg.), Interkulturalität und Alltag, Münster 2012, S. 71 – 90. 42 Susann Fegter, Die Macht der Bilder – Photographien und Diskursanalyse, in: Gertrud Oelerich / Hans-Uwe Otto (Hg.), Soziale Arbeit und Empirische Forschung. Ein Studienbuch, Wiesbaden 2011, S. 207 – 222, hier S. 215. Zur Wirkung der Serialität vgl. auch Cornelia Renggli, Komplexe Beziehungen beschreiben. Diskursanalytisches Arbeiten mit Bildern, in: Franz X. Eder / Oliver Kühschelm / Christina Linsboth (Hg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 45 – 62, hier S. 51 f.

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Abb. 2: »O the Roast Beef of Old England«. Aus: Bowles & Carver, Catchpenny prints, S. 81, Nr. 123.

Das Ölgemälde wurde vielfach reproduziert, unter anderem als Kupferstich von Hogarth selbst. Der Künstler verweist auf den patriotischen Gehalt seines Werkes in seiner Autobiographie: »I meant to display to my own countryman the striking difference of food, priests, soldiers, & c. of two nations so contiguous, that in a clear day one coast might be seen from the other«.43 Der Untertitel »O the Roast Beef of Old England« ist ein Zitat aus Henry Fieldings Theaterstück »The Grub-Street Opera« (1731), in dem ein Lied die nationalen Verdienste des Bratens preist: »When mighty Roast Beef was the Englishman’s food, It ennobled our brains and enriched our blood. Our soldiers were brave and our courtiers were good Oh! the Roast Beef of old England, And old English Roast Beef! But since we have learnt from all-vapouring France To eat their ragouts as well as to dance, We’re fed up with nothing but vain complaisance Oh! the Roast Beef of Old England, And old English Roast Beef!«

43 William Hogarth, Anecdotes of William Hogarth, written by himself, London 1833, S. 63.

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Gemeinsam ist der literarischen und den bildlichen Fassungen die kulinarische Symbolik mit nationaler Aufladung. Hinter dem ersten Mann bringt ein Bediensteter eine weitere dampfende Schüssel zum Tisch, vor ihm sitzt ein anderer Esser. So dient die kleine gedruckte Szene dazu, Wohlstand und politische Stabilität in England im Kontrast zu Armut und Chaos in Frankreich darzustellen. Die nächste Szene hat den Titel: »Soup Meagre, Frogs and Sallad« (Abb. 3).

Abb. 3: »Soup Meagre, Frogs and Sallad«. Aus: Bowles & Carver, Catchpenny prints, S. 81, Nr. 123.

Hier blickt ein dürrer Mann mit spitzen Gesichtszügen über seine Schulter zum/zur Betrachter/in. Mit seiner rechten Hand zeigt er anklagend auf eine Terrine mit einer dünnen Wassersuppe, der »soup meagre«, die ein ebenso hagerer Diener hereinbringt. Dessen Kopf bedeckt eine Mütze, die an den bonnet rouge der französischen Revolutionäre erinnert. Die Kleidung der Speisenden – am rechten Bildrand sitzt ein weiterer Mann – ist elegant, sie tragen den modischen Justaucorps als Mantel, Perücken mit geflochtenen Queues, und vor dem Stuhl steht ein dekorativer Spitzdegen. Auf den Tellern jedoch herrscht Leere: Die Armut, trotz Eleganz am Tisch der Franzosen, unterstreicht die Prosperität der englischen Szene. Vor diesem Hintergrund wird die elegante Kleidung der Franzosen zur unnützen Ziererei (bei Fielding heißt es: »nothing but vain complaisance«), welche das bodenständige Auftreten der Engländer noch hervorhebt. Beide Topoi – der Reichtum der englischen Bevölkerung und die Stabilität ihres politischen Systems – waren Gemeinplätze des visuellen National-

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diskurses im 18. Jahrhundert und ließen sich in der Kontrastierung mit den durch ihre politischen Verhältnisse verarmten Franzosen verdeutlichen. Das Mittel der Gegenüberstellung war daher in Repräsentationen des Franzosen weit verbreitet: Motive wie »The Contrast« (British Museum Catalogue of Personal and Political Satires (BM Satires) 8284, gestochen von Thomas Rowlandson 1792) oder »French Liberty – English Slavery« (BM Satires 8145, von James Gillray 1792) etwa fanden sich über Jahre hinweg auf so unterschiedlichen Medien wie Einblattdrucken, Porzellantassen und Kupfermünzen. Sie teilten die gegensätzliche kulinarische, vestimäre, physische und physiognomische Symbolik ihrer Protagonisten.44 Durch seine Ikonographie der übertriebenen Eleganz und hageren Statur war der Franzose leicht zu identifizieren, nicht nur in der elaborierten politischen Karikatur, sondern auch in den einfachen Kinderdrucken. Die nationale Rhetorik seiner modischen Kleidung, seiner markanten Gesichtszüge an Nase und Kinn und seiner überzogen vornehmen, fast tänzerischen Körperhaltung mit einem weit ausgestellten Spielbein waren gattungsübergreifend erkennbar : Schnell auszumachen war er auch in »Monsieur from Paris« (Abb. 4) und »Monsieur Francois« (Abb. 5). Im nationalen Reigen »Sailors, English, Dutch, French« (Abb. 6, Detail aus Abb. 1)45 erkannte man den französischen Typ ebenfalls an seiner graziösen Beinhaltung und modischen Kleidung. In der Hand hält der Franzose eine Dose Schnupftabak.46 Das Bild neben den Seemännern greift übrigens die gleichen Merkmale der Beinhaltung und eleganten Kleidung auf, um »Monsieur Prate« zu beschreiben, der beim wortreichen Buhlen – to prate bedeutet schwätzen oder schwafeln – um die Gunst einer jungen Frau karikiert wird (Abb. 1). Beide Darstellungen sind auch durch den gereimten Text verbunden: »Sailors, English, Dutch, French« und »Monsieur Prate and a Wench«. Und auch der feige Aufschneider und Maulheld »Captain Bobadil«, eine Figur aus Ben Jonsons Komödie »Every Man in his Humour« (1598), wird auf derselben Seite in der Pose des Ausfallschritts gezeigt (Abb. 1). Der Bildautor griff auch hier auf etablierte Seh- und Deutungsgewohnheiten zurück, die ganz der zeitgenössischen Ästhetik entsprachen: 44 Vgl. David Bindman, The shadow of the guillotine: Britain and the French Revolution, London 1989, S. 118 – 121. 45 Ebd., S. 19, Nr. 31. 46 Die Objekte lassen sich benennen, wenn man eine ähnliche Darstellung kennt, gestochen von John Bell um 1760 und gedruckt auf Einwickelpapier von Tabak. Sie zeigt ebenfalls einen eleganten Franzosen mit Schnupftabak links, einen gedrungenen Niederländer mit einer Pfeife in der Mitte und einen Schotten rechts mit Kautabak. Die Sprechblasen verweisen eindeutig auf die Nationalität der Figuren, so fragt der Franzose: »Voule Vous de Rape«, der Niederländer antwortet »No Dis been Better« und der Schotte: »Will you ha’a Quid«. Vgl. O’Connell, S. 28, ill. 2.11.

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Abb. 4: »Monsieur from Paris«. Aus: Bowles & Carver, Catchpenny prints, S. 125, Nr. 180.

Abb. 5: »Monsieur Francois«. Aus: Bowles & Carver, Catchpenny prints, S. 35, Nr. 48.

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Abb. 6: »Sailors, English, Dutch, French«. Aus: Bowles & Carver, Catchpenny prints, S. 19, Nr. 31.

»Such dispositions of the body and limbs as appear most graceful when seen at rest, depend upon gentle winding contrasts, mostly govern’d by the precise serpentine line, which in attitudes of authority, are more extended and spreading than ordinary, but reduced somewhat below the medium of grace, in those of negligence and ease: and as much exaggerated in insolent and proud carriage, or in distortions of pain […] as lessen’d and contracted into plain and parallel lines, to express meanness, awkwardness, and submission.«47

In »Sailors, English, Dutch, French« ist die Haltung des Franzosen kontrastiert in der Figur des Niederländers in der Mitte, dessen Körpermasse durch die Pluderhose noch unterstrichen wird. In seinem Mund steckt eine Pfeife als weiterer Verweis auf seine Nationalität.48 Seine Beine stehen parallel und fest auf dem Boden, die Hände stecken in den Taschen oder hinter seinem Rücken. Die Position der Hände in den Hosentaschen wurde in einer Reihe von Abbildungen wiederholt und lässt sich als Hinweis auf seine politische Neutralität, Passivität und die Wahrung des eigenen Vorteils interpretieren.49 Das Kinderbuch »A New Moral System of Geography« weiß zum nationalen Charakter der Niederländer : 47 William Hogarth, The analysis of beauty, London 1753, S. 135. 48 Diese national konnotierte Requisite verweist auf das koloniale Engagement der niederländischen Nation. Tabakpfeifen wurden in der Gegend von Gouda produziert und in die ganze Welt exportiert; vgl. Simon Schama, The embarrassment of riches: an interpretation of Dutch culture in the Golden Age, London 1997, S. 194 f. 49 Die Karikatur »Dutch gratitude display’d« (1780) zeigt einen Niederländer am rechten Bildrand, der zögert, den Engländern in einer Allianz gegen die amerikanischen Kolonien beizustehen. Die linke Bildhälfte zeigt, dass es aus englischer Sicht einen guten Grund für Loyalität gäbe, nämlich die militärische Hilfe, die englische Truppen den Niederländern

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»[T]hey are brave, industrious, and persevering. But their avarice is so excessive, as to have caused them frequently to barter their national honour for a temporary convenience or emolument. Sir W. Temple in his Account of Holland says that all appetites and passions run lower and cooler here than in any other county, avarice excepted. Quarrels are very rare, revenge seldom heard of and jealousy scarce ever known. It is very rare for any of them to be really in love, nor do the women seem to care whether they are or not. This shews that when once the mind is occupied by sordid avarice the social and tender passions can have no influence.«50

In der zugehörigen Illustration hat der Mann seine Hände ebenfalls auf dem Rücken verschränkt oder in die Taschen seines weiten Mantels gesteckt, die Beine stehen parallel mit nach außen gedrehten Zehen. Die Hauptaussage der kleinen Szene der Seemänner ist jedoch die Positionierung des Engländers, der neben dem gedrungenen Niederländer und dem manierierten Franzosen ein Ideal markiert. John Bull als Allegorie des freien Engländers trifft in allen Kategorien der nationalen Merkmale das goldene Mittelmaß: Er ist wohlgenährt, aber nicht fett, steht fest, aber nicht plump, ist angemessen gekleidet, aber nicht extravagant, stolz, aber nicht hochmütig, loyal, aber nicht untertänig, frei, aber kein Revolutionär. Positiv konnotiert ist sein Selbstbild vor allem in seiner Normalität, Eigenständigkeit, Natürlichkeit und Bodenständigkeit. Die Verfremdung des Franzosen bekam in einem weiteren Motiv noch eine andere, quasi-ontologische Qualität. Mit dem Mittel des Kontrastes wird unter dem Titel »The Frenchmen in Billingsgate« (181651) (Abb. 7) eine Marktszene gezeigt, in der ein englisches Fischweib einen Franzosen im Kampf schlecht aussehen lässt. Der graziöse Tanzschritt gibt ihm keinen festen Stand, er ist kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren. Wiederum ist die Kleidung des Franzosen auf dekorative Elemente reduziert, hier Manschetten und Rüschen, dazu trägt er eine Perücke. Im Gegensatz zur Zierkleidung ist sein Gesäß entblößt und wird gleich von einem Hummer gezwickt werden, den ein weiteres Fischweib in der gegen die Spanier 1585 geleistet hatten. Die Untertitel führen aus: »See Holland opress’d by his old Spanish Foe, To England with cap in hand kneels very low. The Free-hearted Britton, dispels all its care. And raises it up from the brink of Dispair. But when three spitefull foes does old England beset, The Dutchman refuses to pay a Just debt, With his hand in his pockets he says he’ll stand Neuter, And England his Friend may be D-d for the Future«. BM Satires 5663. 50 [George Riley], A new moral system of geography, containing an account of the different nations ancient and modern: their situation and climate – their rise and fall – their customs and manners; including a description of each country, and their respective productions, by which commerce has been established, and society cemented for the good of mankind. Adorned with the dresses of each country. The second edition, printed for G. Riley, London 1790, S. 66. 51 Dieser Druck stammt aus dem Jahr 1816, eine ältere Version des Motivs, die sich im Besitz der Guildhall Library in London befindet, ist auf 1754 datiert.

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Abb. 7: »The Frenchmen in Billingsgate« (1816), Privatbesitz.

Hand hält. Sein Kamerad steht nutzlos und ängstlich neben ihm. Eine Farbversion des Motivs, ausgeführt als Mezzotint mit dem Titel »Sal Dab Giving Monsieur a Reciept in full« (1776) (Abb. 8; vgl. auch das Titelbild des Bands), zeigt die Nase des nach hinten ausweichenden Franzosen voller Blut, im Hintergrund steht hier ein englischer Metzger und lacht herzlich. Das Wirtshausschild greift einen weiteren satirischen Topos auf: Über dem Namen »The Good Woman« ist ein kopf- und damit stimmloser Frauenkörper abgebildet. Wie um ihr Geschlecht zu betonen, sind die Brüste der kämpfenden Frau im Bild entblößt, aber auch in ihrer Weiblichkeit gewinnt die Engländerin den Faustkampf mit dem Franzosen mit Leichtigkeit.52 Die binäre Opposition im othering wird hier geschickt genutzt, indem die vermeintliche Natürlichkeit der Geschlechtsunterschiede auf die nationalen Differenzen übertragen wird. In der Figur des weibischen Franzosen53 und im Gegenbild des männlichen Engländers wird Ethnisierung zum Essentialismus und otherness zur biologischen Tatsache. Diese scheinbar ontologische Qualität nationaler Charaktere konnte im 18. Jahrhundert bereits auf eine jahrhundertelange Tradition zurückgreifen. In 52 Eine Reihe anderer Ausführungen dieses Motivs ist bekannt; siehe Meyer, Die Ikonographie der Nation, S. 219 – 224. 53 Dem Topos geht Ruth Florack in der Literatur der Aufklärung nach; vgl. Ruth Florack, »Weiber sind wie Franzosen geborne Weltleute«. Zur Verschränkung von GeschlechterKlischees und nationalen Wahrnehmungsmustern, in: dies. (Hg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur, Tübingen 2000, S. 319 – 338.

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Abb. 8: »Sal Dab Giving Monsieur a Reciept in full« (1776), BM Satires 4623.

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der Tat waren nationale Stereotype mitnichten eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, sondern fanden sich in politisch-historischen, philosophischen und geographischen Abhandlungen seit der Antike. Ihre Verwendung war jedoch – zumindest in der englischen Literatur und Kunst – eher vereinzelt und fand vor dem 18. Jahrhundert kaum systematische Ausdrucksformen. So schrieb Thomas Overbury in seinem Charakterbuch von 1615, das auf die Typenlehre bei Theophrast zurückging, einzelnen Typen nationale Attribute zu und machte den Trinker zum Niederländer (»a drunken Dutchman«) und den extravaganten Koch zum Franzosen (»A French Cook«), der sich aber an nahrhafte Fleischgerichte nicht heranwagt: »[H]e does not feed the belly but the palate. […] he dare not for his life come among the butchers; for sure they would quarter and bake him after the English fashion; hee’s is such a enemy to Beefe and Mutton. To conclude, he were onely fit to make a funerall feast, where men should eate their victuals in mourning.«54

In englischsprachigen klimatheoretischen Traktaten wurden geographische Lagen mit nationalen Charakteren in Zusammenhang gebracht, die Zuordnungen waren jedoch auch hier vereinzelt und variierten stark. Argumentiert wurde vielmehr mit einem Nord-Süd-Modell, welches je nach Herkunft des Autors seine ideale mittlere Zone verschob.55 Eine Systematik und Ausdifferenzierung in wiedererkennbare nationale Attribute der Kulinarik, der Kleidung, der Körperstatur und -haltung war noch nicht in Sicht. Erst mit der politischen Entstehung der Nation und den Prozessen des nation building auch auf kultureller Ebene wurden medizinische, geographische und philosophische Schematisierungen national überformt und fanden auch Eingang in den zeitgenössischen Bilddiskurs. Paradigmatisch hierfür scheint die auch in England breit rezipierte Lehre der Physiognomie, prominent vertreten von Johann Caspar Lavater in seinen »Physiognomischen Fragmenten« (zuerst 1772). Im vierten und letzten Band führte er unter der Überschrift »National- und FamilienPhysiognomie« unterschiedliche Typologien zusammen und klassifizierte sie

54 Thomas Overbury, New and choise characters of severall authors, London 1615, ohne Seiten. 55 Waldemar Zacharasiewicz, Die Klimatheorie in der englischen Literatur von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Wien 1977, S. 421 – 437; Joep Leerssen, National thought in Europe: a cultural history, Amsterdam 2006, S. 52 – 70. Zum Protonationalismus in England vgl. Jeremy Black, Contesting history : narratives of public history, London / New York 2014, S. 52 – 60. Allgemeiner vgl. Otto Dann, Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991, S. 56 – 73; Reinhard Stauber, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu »Nation« und »Nationalismus« in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 139 – 165.

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national.56 Der Sanguiniker wurde zum leichtlebigen Franzosen, illustriert ist diese Textpassage mit einem männlichen Profil mit Hakennase und ausgeprägtem Kinn: »Der Franzose ist der Sanguineus von allen Nationen. Leichtsinnig, gutherzig, prahlend, und wieder von der Prahleren gutmüthiger Weise ablassend, bis in’s höchste Alter munter, zum Genusse des Lebens zu allen Zeiten geschickt, und daher der beste Gesellschafter. […] Sein Gang ist tanzend; […] Die Beredsamkeit seines Wesens ist oft betäubend – allein seine Gutmütigkeit wirft den Mantel über alle seine Fehler. So sehr seine feine Gestalt sich vor anderen Nationen ausmahlt, so schwer ist sie mit Worten anzugeben. Nirgends sind so wenig feste, tiefe Züge, und so viele [sic!] Bewegung. Der Franzose ist ganz Miene.«57

Kaum überraschend ist die Darstellung des Phlegmatikers, welche die Bildsprache von weichen Gesichtszügen und fleischigen Lippen, rundem Kinn und Schlupflidern nutzt. Der Text zum »Holländer« lautet dementsprechend: »Der Holländer ist ruhig, harmlos, beschränkt, und es scheint: Er wolle nichts. Sein Gang und Auge sagen lange nichts, und man kann stundenlang mit ihm umgehen, bis ihm eine Nennung entfährt. Mit dem Ozean der Leidenschaften mag er wenig zu schaffen haben, und es mögen alle Nationen mit den buntesten Wimpeln und allen 32 Winden die Kreuz und Quere vor seinen Augen vorüber fahren; Er bleibt ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Besitz und Ruhe sind sein Gott. […] Hohe Stirn, halbgeöffnete Augen, fleischige Nase, hängende Backenmuskeln, weit geöffneter Mund, flache Lippen, breites Kinn und große fleischige Ohren würden mir das Bild des Holländers verkündigen.«58

Lavater konnte in seinen Ausführungen auf einen Diskurs nationaler Typen zurückgreifen, den er an eine Zusammenschau von Charakterlehre, Humoralpathologie und Klimatheorie rückband. Im 18. Jahrhundert hatten Repräsentationen nationaler Stereotype diese diskursive Qualität erreicht und lenkten die Rhetorik und Propaganda in Text und Bild.59 Ihre Verbreitung und scheinbare Selbstverständlichkeit in den einfachen lotterie-Blättern ist ein eindrückliches 56 Vgl. Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart / Weimar 2001, S. 219 – 222. 57 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Vierter Versuch, Leipzig / Winterthur 1778, S. 286. 58 Ebd., S. 287. 59 Ein besonders überzeugendes Beispiel, das zudem auch noch zeigt, dass es sich hier um kein rein englisches Phänomen handelt, sind die sogenannten Völkertafeln des 18. Jahrhunderts, mit denen sich Franz K. Stanzel wiederholt beschäftigt hat. Ich bin zwar der Meinung, dass Stanzel einen systematischen Nationen-Diskurs zu früh ansetzt, nämlich bereits im Mittelalter, möchte aber seine detaillierten und kontextreichen Untersuchungen zu den Völkertafeln dennoch hervorheben, zum Beispiel Franz K. Stanzel (Hg.), Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1999; ders., Europäer. Ein imagologischer Essay, 2. Aufl., Heidelberg 1998, bes. S. 21 – 32.

Politische Kommunikation in alltäglichen Bildwelten

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Zeichen hierfür. Mit der nationalen Prägung bereits etablierter Typenprogramme entstand eine visuelle Ordnung des Fremden und des Eigenen, die sich als kulturelle Sehgewohnheit interpretieren lässt. Damit erhielten die lotteries und andere Gattungen der populären Druckgraphik eine Funktion, die über Unterhaltung und Bildung hinausreichte. Sie wirkten identitätsstiftend, indem sie Diskurse des Anderen kommunizierten. In der Auseinandersetzung mit der systematischen nationalen Rhetorik erlernten die jungen Betrachter/innen die Kulturtechnik, Fremdheit zu entwerfen und sich selbst dazu zu positionieren. Wie weit die Bildbotschaften in das Selbstverständnis von kindlichen Rezipient/innen vordrangen, zeigt die Erinnerung von William Thackeray an eine Karikatur Gillrays von Napoleon Bonaparte, die er als Junge in der Bibliothek seines Großvaters gesehen hatte. In der moralisch aufgeladenen Konstruktion von Fremdheit wurde Napoleon zum Sinnbild des Anderen stilisiert, und seine körperlichen Attribute übertrug man auf dessen englische Sympathisanten, woraus der junge Thackeray moralisch, politisch und biographisch die für ihn einzig richtigen Schlüsse zog: »Boney was represented as a fierce dwarf, with goggle eyes, a huge laced hat and tricolored plume, a crooked sabre, reeking with blood: a little demon revelling in lust, murder, massacre. John Bull was shown kicking him a good deal: indeed he was prodigiously kicked all through that series of pictures; by Sidney Smith and our brave allies the gallant Turks; by the excellent and patriotic Spaniards; by the amiable and indignant Russians, – all nations had boots at the service of poor Master Boney. How Pitt used to defy him! How good old George, King of Brobdingnag, laughed at GulliverBoney, sailing about in his tank to make sport for their Majesties! This little fiend, this beggar’s brat, cowardly, murderous, and atheistic as he was (we remember, in those old portfolios, pictures representing Boney and his family in rags, gnawing raw bones in a Corsican hut; Boney murdering the sick at Jaffa; Boney with a hookah and a large turban, having adopted the Turkish religion, & c.) – this Corsican monster, nevertheless, had some devoted friends in England, according to the Gilray [sic!] chronicle, – a set of villains who loved atheism, tyranny, plunder, and wickedness in general, like their French friend. In the pictures these men were all represented as dwarfs, like their ally. […] One with shaggy eyebrows and a bristly beard, the hirsute ringleader of the rascals, was, it appears, called Charles James Fox; another miscreant, with a blotched countenance, was a certain Sheridan […] we hated these vicious wretches, as good children should; we were on the side of Virtue and Pitt and Grandpapa.«60

60 Thackeray, S. 78.

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4.

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Fazit

Beim Betrachten der Bilder lernte der junge Thackeray moralische Ordnungen sowie tages- und familienpolitische Loyalität kennen. Manche Feinheiten der Satire mögen ihm zwar verborgen geblieben sein.61 Entscheidend ist aber, dass es ihm die gedruckten Nationen-Bilder durch ihre vertrauten Wirkmechanismen der pointierten Gegenüberstellung, der einfachen Reduzierung und der krassen Übertreibung dennoch ermöglichten, Deutungen abzuleiten. Sehgewohnheiten sind Teil einer Identitätsformation, die mit einem Wertesystem verknüpft ist, hier visualisiert und repräsentiert in den Typisierungen des Eigenen und des Fremden. Diese Bilder vom Fremden und vom Eigenen zielten auf Legitimierung und Plausibilisierung politischen Handelns. Gerade die propagandistisch geprägte Graphikproduktion im England des 18. Jahrhunderts, welcher nicht zuletzt die Aufgabe zukam, die Bevölkerung zur Unterstützung und Finanzierung von jahrzehntelangem Kriegsengagement zu mobilisieren, zeigt dies eindrücklich, und entsprechend nachhaltig war ihre Bildargumentation. Die visuellen Ordnungssysteme der politischen Kommunikation prägten nicht nur den zeitgenössischen Blick, sondern auch das zeitgenössische Denken: Sehen ist eben – auch – eine Kulturtechnik.

61 So merkte er an, dass er einige Darstellungen nicht verstehen könne: »In those great colored prints in our grandfathers’ portfolios in the library, and in some other apartments of the house, where the caricatures used to be pasted in those days, we found things quite beyond our comprehension.« Ebd.

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»[…] daß bey weitem nicht alles salzburgischer Boden ist, was […] gelb gemahlt ist.« Aneignung von Land und Rechten durch Visualisierung auf geographischen Karten von Salzburg und Tirol im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert1 1.

Einleitung

Mit dem von Peter Anich und Blasius Hueber in den Jahren 1760 bis 1769 angefertigten »Atlas Tyrolensis« – später meist »Anich-Karte« genannt – besaß auch Tirol als eines der letzten österreichischen Erbländer eine Landkarte, die auf genauer Vermessung beruhte.2 Als die Karte 1774 in Wien erschien, wurde sie, aus Sicht des Appellationsrats Andreas Alois Dipauli und aus einem zeitlichen Abstand von 40 Jahren, »wie man ganz ohne Uebertreibung sagen kann, von ganz Europa mit außerordentlichem Beyfall aufgenommen, und mit solcher Begierde gesucht und aufgekaufet, daß sie in wenig Jahren ganz vergriffen war, und auf das Doppelte und Dreyfache ihres anfänglichen Preises im Werthe stieg.«3

Die Reaktion des benachbarten Erzstiftes Salzburg war jedoch weniger Begeisterung als vielmehr Sorge um mögliche Verletzungen von Rechten. Der Hofrat forderte die an der Tiroler Grenze liegenden Pfleggerichte auf, die neue Karte von Tirol genau auf ihren Grenzverlauf zum salzburgischen Territorium zu prüfen und alle Bedenken zu melden.4 Wesentlich für Salzburg war dabei vor allem auch die Frage, ob dieser Karte ein offizieller – landesfürstlich geneh1 Zitat aus: Johann Heinrich von Bleul, Geographisch-statistischer Beytrag zur nähern Kenntniß der Größe, Bevölkerung, und der Staats-Einkünfte des Fürst-Erzbisthums Salzburg, in: Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen 1 (1801), S. 56 – 60, 142 – 147, 235 – 239, hier S. 235. 2 Hans Kinzl, Der topographische Gehalt des »Atlas Tyrolensis«, in: ders. (Hg.), Peter Anich 1723 – 1766. Der erste »Bauernkartograph« von Tirol. Beiträge zur Kenntnis seines Lebenswerkes, Innsbruck 1976, S. 51 – 176, hier S. 55 ff. 3 Andreas Alois de Pauli, Lebensgeschichte des Landmessers Blasius Hueber mit umständlichen Nachrichten von den Arbeiten der Geodeten von Oberperfus, Innsbruck 1815, S. 43. 4 Otto Stolz, Ein Salzburgischer Protest gegen Peter Anichs »Atlas Tyrolensis«, in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 9 (1912), S. 118 – 133, hier S. 120. Als Beispiel eines Berichts vgl. Tiroler Landesarchiv (TLA), Gericht Windischmatrei, Reihe B Akten, 1773 – 1778, 20/5/17, Bericht des Pflegers, 14. Februar 1776.

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migter – Charakter zukam oder sie nur »durch private Männer, zwey Bauern«5 gefertigt worden war, ob sie also durch ihre Zeichnung der Grenzen politische Verhältnisse gefährden könne oder nicht. Man war in Salzburg zwar der Meinung, dass kein Vermerk die Karte als offizielle auszeichnete, und wusste demnach offensichtlich nicht, dass sie in enger Abstimmung mit dem Gubernium in Tirol und in Rücksprache mit Wien entstanden war, doch formulierte man zur Sicherheit einen ausführlichen Protest gegen die wahrgenommenen Grenzverstöße. Der unlängst in Wien abgedruckte Atlas mache »seiner Zierlichkeit halber dem Verfasser allerdings Ehre, doch so viel die an das Erzstift treffende Gränzen und Gegenden betrifft, wird man gewahr, daß selber teils von der natürlichen Lage, Benennung und ächten Gränzzug […] abweiche und Vieles in sich fasse, was sich mit den erzstiftischen Landesbefugnissen und Gränzen nicht vereinbaren läßt.«

Man sei sich zwar sicher, dass das Gubernium »diesem Atlas als privat und einseitigen Werke niemals den Wert eines Beweises« zumessen würde, doch halte man es »der behörigen Vorsicht zu Vorbeugung künftiger Irrungen und Mißverständnisse« für angemessen, sich »gegen alles, was dieser Atlas den Erzstiftischen Landesgränzen und Gerechtsamen zuwieder enthält, […] auf das bündigste« zu verwahren.6 Dieses Protestschreiben und die darauf folgende ausführliche Auseinandersetzung über die einzelnen umstrittenen Punkte waren Teil einer seit 1760 wieder intensiver geführten Diskussion um die Zugehörigkeit bzw. Rechte der Pfleggerichte Itter im Brixental, Fügen und Zell im Zillertal sowie der im heutigen Osttirol gelegenen Gerichte Windischmatrei und Lengberg im Grenzraum zwischen Salzburg und Tirol, die seit dem Mittelalter zwar zur Landeshoheit des Erzstiftes Salzburg gehörten, in denen jedoch auch die Grafschaft Tirol verschiedene Rechte wahrnahm. So war fast überall die Gerichtsbarkeit geteilt – die Niedergerichtsbarkeit übten die Salzburger Pfleger aus, der Blutbann gehörte jedoch den angrenzenden Tiroler Gerichten. Manche Bergwerke wurden gemeinsam verwaltet, und in den Salzburger Wäldern kamen Tirol Rechte zu, um seine Berg- und Schmelzwerke mit Holz versorgen zu können.7 Diese Rechtspluralität hatte seit dem 16. Jahrhundert immer wieder zu Auseinandersetzungen und in der Folge zu konkreten Verträgen geführt, in 5 Referat des Hofratsdirektors Franz Thaddeus von Kleimayrn, 4. Januar 1776, zit. nach: Stolz, S. 120. Otto Stolz zitiert die verwendeten Akten aus dem Salzburger Landesarchiv sehr ausführlich und gibt sie teilweise im Gesamtumfang wieder, so dass diese hier für die Auseinandersetzung um die Anich-Karte von ihm übernommen werden. 6 Schreiben Hofrat Salzburg an Gubernium Innsbruck, 19. Jan. 1776, zit. nach: Stolz, S. 120 f. 7 Gerhard Ammerer, Von Franz Anton Harrach bis Siegmund Christoph von Schrattenbach – Eine Zeit des Niedergangs, in: Heinz Dopsch / Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/1, S. 245 – 323, hier S. 321.

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denen die genaue Aufteilung der Rechte stets neu geregelt wurde. Entsprechend vorsichtig ging man von Tiroler Seite bei der Darstellung der Grenzen dieser Gerichte auf der Anich-Karte vor. Keinesfalls wollte man durch eine zu großzügige Kennzeichnung zu viel von den beanspruchten Rechten preisgeben. Daher sollten nach der Fertigstellung insbesondere die Grenzen gegen Graubünden und Salzburg nochmals geprüft werden, »damit man nicht einstens von den Nachbahrn den unangenehmen Vorwurff erleiden miese, als hätte man ihnen in Herausgöbung der Tyroler Karte an Land und Leuthen etwas ein- und zugestanden, was man darnach als das seinige zu behaupten oder strittig zu machen gedächte.«8 In der Folge wurde beispielsweise die Grenze zwischen Tirol und dem salzburgischen Zillertal, die Peter Anich mit den schwarzen Quadraten einer Landesgrenze dargestellt hatte, auf eine Markierung mit nicht ausgefüllten Quadraten geändert, was die Grenze als umstritten kennzeichnete und damit die Salzburger Landeshoheit anfocht (Abb. 1).9

Abb. 1: »Anich-Karte« von 1774, Ausschnitt mit den als umstritten markierten Grenzen zwischen Tirol und Salzburg. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Historische Sammlungen.

Diese Überlegungen und Ansprüche waren kennzeichnend für das 18. Jahrhundert. Die aufgesplitterten bzw. gemeinsamen Rechte von zwei Landesfürsten in einem Gebiet gerieten in dem Maße in Frage, in dem sich die Idealvorstellung 8 Hofresolution, 18. August 1770, zit. nach: Stolz, S. 119. 9 Stolz, 123.

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eines einheitlichen, abgeschlossenen und allein regierbaren Territoriums stärker durchsetzte. Mittels des im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewonnenen Messens und Zählens vermeinte man, ein Territorium objektiv und flächendeckend erfassen – und in der Folge auch gestalten – zu können. Zu diesen neuen Vorstellungen eines nach außen eindeutig abgrenzbaren und nach innen einheitlichen Raums passte die Rechtspluralität der früheren Jahrhunderte nicht länger.10 Dementsprechend ging es nun nicht mehr um die genaue Aufteilung der unterschiedlichen Rechte, sondern konkrete Tauschprojekte und Gebietsausgleichungen wurden ins Auge gefasst, verhandelt, wieder fallengelassen, bis schließlich vor allem 1805 der Friede von Preßburg »von oben« Gebietsarrondierungen vorschrieb. Das Ergebnis des Messens und Zählens waren nicht nur Statistiken und Markierungen im Raum als Ausgangsbasis der politischen Gestaltung, sondern auch Karten, die diese Inhalte visualisiert darstellten. Die Hinwendung zum Raum und zur Herstellung von Karten hatte schon am Beginn der Frühen Neuzeit stattgefunden, aber erst mit den umfassenden Erfassungstendenzen des 18. Jahrhunderts nahm beides an Intensität zu. Auf Karten wurde das Wissen symbolisch kodiert mit der Fiktion übertragen, dass sich die politische Herrschaftssituation durch das Einzeichnen der genau erhobenen Daten auf der Karte darstellen lasse.11 Demnach wurde ihnen im Verlauf der Verhandlungen eine verstärkte Bedeutung zugeschrieben, und das Wissen, das mit ihnen konstruiert wurde, gewann an Eigenständigkeit. Karten dienten damit der Formulierung eines Anspruchs und der Legitimation der Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet. So stehen im Folgenden die Funktion und der Stellenwert von Landkarten in der Auseinandersetzung zwischen Salzburg und Tirol über die Rechte in den genannten Pfleggerichten im Mittelpunkt. Der »Visual History« folgend werden Karten dabei nicht als Medium verstanden, das lediglich aktuelle oder veränderte Verhältnisse abbildet, sondern als eines, das aktiv und kommunikativ das Bild eines idealen Territoriums mitgestaltet und so die Möglichkeit bietet, Wertvorstellungen (und deren Veränderungen) der dahinterstehenden Akteure

10 Lars Behrisch, Vermessen, Zählen, Berechnen des Raums im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2006, S. 7 – 25, hier S. 16 – 19, 25. 11 Jörg Dünne, Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 49 – 71, hier S. 49 – 57. Vgl. monographisch etwa Daniel Schlögl, Der planvolle Staat. Raumerfassung und Reformen in Bayern 1750 – 1800, München 2002; Christian Fieseler, Der vermessene Staat. Kartographie und die Kartierung nordwestdeutscher Territorien im 18. Jahrhundert, Hannover 2013. Für den Hinweis auf diese beiden Publikationen danke ich Niels Grüne.

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abzulesen.12 Der Fokus liegt somit auch auf dem Handeln, das der Umgang mit Karten in Gang setzte.13 Dabei wechselten die Akteure der Auseinandersetzung: Bis 1805 standen sich das habsburgische Tirol und das Erzstift bzw. ab 1803 Kurfürstentum Salzburg gegenüber. Durch die Gebietsverschiebungen des Friedens von Preßburg stand hinter Tirol in der Folge statt Österreich nun Bayern, während Salzburg seine Eigenständigkeit verlor und Österreich zugesprochen wurde, das damit die zuvor gegnerischen Argumente vertrat. Mit der Zugehörigkeit beider Territorien zu Bayern von 1810 bis 1814 bzw. 1816 im Fall von Salzburg ruhten die Grenzdifferenzen, um nach 1816 – nunmehr befanden sich beide Länder bei Österreich – endgültig innerhalb der Kronländer geregelt zu werden.

2.

Information als Basis aller Verhandlungen und die zunehmende Bedeutung von Landkarten

Wann immer die Grenzstreitigkeiten wieder neu aufflammten, waren möglichst genaue Informationen gefragt. Dabei wurde das Fehlen von Informationen wie auch Originalkarten zunehmend als problematischer empfunden. Die in den jeweiligen Vereinbarungen getroffenen Regelungen ließen sich den Verträgen des 16. und 17. Jahrhunderts entnehmen. Diese waren für beide Seiten verfügbar. Doch schienen diese Informationen für die angestrebten Ausgleiche nicht auszureichen. Die Rechte in den umstrittenen Gerichten waren jeweils an konkrete Orte rückgebunden, wenn es etwa um die Nutzung von Weiden, Wäldern und Bergwerken ging, vor allem aber, wenn es zu bestimmen galt, welche Untertanen welcher Landesherrschaft grund- und gerichtspflichtig waren. Damit kamen der genaue Grenzverlauf und die Kennzeichnung von Rechten bestimmter Orte ins Spiel – die nicht so ohne weiteres den alten Rechtsbeschlüssen zu entnehmen waren. Zwar hatten diese Verträge konkrete Ortszuweisungen enthalten, waren aber offensichtlich entweder gar nicht im Raum oder nur auf verrottbarem Material kenntlich gemacht worden, das nicht erneuert wurde. Zum Teil hatten sich zudem Flurnamen verändert, so dass der Grenzverlauf schwierig nachzuvollziehen war. Die Beschreibung im Vertrag von 1533 für Lengberg hatte beispielsweise die Kennzeichnung auf Eichenbäumen, Lindenstöcken, die sich nicht mehr finden ließen, oder Gräben, die nicht mehr eindeutig zu identifizieren waren, vorgesehen. Damit war es zu keiner bleibenden Marksteinsetzung 12 Gerhard Paul, Von der historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienhandbuch, Göttingen 2006, S. 7 – 36, hier S. 9 ff. 13 Jörg Döring / Tristan Thielmann, Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: dies. (Hg.), Spatial Turn, S. 7 – 45, hier S. 17.

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gekommen, und die Grenzen waren bald nicht mehr eindeutig zuordenbar. »Durch nachgesetzte kostbare schwierig und langwierige kommissionalische Untersuchungen wurden diese Gränzen endlich wieder aufgefunden und nach einem Verlauf von mehr denn hundert Jahren in dem Vertrag vom Jahre 1699. wieder bestimmt.«14 Doch sei auch 1699 wiederum die Setzung von neuen Marksteinen unterblieben und die Grenzlinie zwischen Lengberg und der Tiroler Herrschaft Lienz den Verwaltungsbehörden nur noch ungefähr bekannt. Zu Beginn der 1790er Jahre betonte man auf Tiroler Seite, dass dieses Mal – falls Lengberg durch die Tauschverhandlungen nicht zu Tirol kommen sollte – durch eine Kommission an Ort und Stelle »die wirkliche Ausmarchung zur künftigen Richtigkeit allenthalben bewirket, auch darüber ein gemeinschaftliches Protokoll geführt werden solle.«15 Doch müsse man die Karten, auf deren Basis dies geschehen sollte, erst wieder finden, wie es generell gelte, sich für die Verhandlungen unbedingt verlässliche Ausweise zu besorgen, »woran es zur Zeit ermangelt«.16 Dieser Hinweis auf die fehlenden Karten im Gutachten des Gubernialrats Johann Franz Strobl von 1793 war ein sensibler Punkt in den gesamten Verhandlungen. Auf Tiroler Seite war man eindeutig im Hintertreffen, was genaue Informationen und Karten betraf. Stets wurden Alternativen mitgedacht, falls Karten, die in Innsbruck nicht auffindbar waren, auch in Wien nicht liegen sollten und Salzburg ein Duplikat verweigere.17 Salzburg hingegen war in den Verhandlungen zunächst allein schon deshalb in der besseren Position, weil die Gerichte, um die es ging, unter der Salzburger Landeshoheit standen. Somit ließen sich Informationen vom eigenen Pfleger abfragen. Tirol hingegen konnte über die salzburgischen Verhältnisse nur jeweils spekulieren. Wie wenig Wissen hier über die benachbarten Gerichte vorhanden und wie schwierig der Zugang dazu war, zeigen beispielsweise die Überlegungen von 1783, ob man versuchen solle, das Gericht Lengberg unter Tiroler Landeshoheit zu bringen. Aus Wien kam die Aufforderung an das Gubernium in Innsbruck, dafür die genauen Rechtsverhältnisse und den wirtschaftlichen Ertrag des Gerichts zu erheben.18 Die Antwort des Guberniums an die Hofstelle fiel jedoch ernüchternd aus. Man habe dem Kreisamt im Pustertal aufgetragen, diese Auskünfte durch den sich in Lienz befindlichen Vizekreishauptmann erheben zu lassen, weil man gedacht 14 TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/7, Konzeptartiges Gutachten über die zwischen Tyrol und Salzburg bestehenden vorgehenden Differenzen und derselben Beylegung, 11. Juli 1793, [im Folgenden zitiert als Gutachten Strobl, 11. Juli 1793], § IX. 15 Ebd. 16 Ebd., § XVI. 17 TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 26/1, Schreiben Gubernium an Registratursdirektor Gassler, 10. Oktober 1788; Schreiben Gassler an Gubernium Innsbruck, 3. Januar 1789. 18 Ebd., Fasz. 25/7a, Schreiben Hofstelle Wien an Gubernium Innsbruck, 5. Juni 1783.

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habe, dass dieser von der nächstgelegenen Herrschaft Lengberg die besten Kenntnisse habe, doch aus dessen Bericht lasse sich gar nichts entnehmen, »alles bestehet blos in lehren Vermuthungen.«19 Salzburg schickte zudem den Pfleger der Gerichte im Zillertal, Gottfried Freiherrn von Moll, in die Verhandlungen, der aufgrund seiner Verwaltungstätigkeit seit 1764 sehr genaue Ortskenntnisse hatte. Die salzburgischen Pfleger entstammten durchwegs dem Adel, hatten zum Teil auch den Rang eines geheimen Rats und unterstanden direkt dem Hofrat in Salzburg. Dieser Stellung hätte auf Tiroler Seite etwa der den Landgerichten übergeordnete Kreishauptmann entsprochen, der aber meist nicht die gleichen lokalpolitischen Kenntnisse der Grenzverhältnisse vorweisen konnte. Zudem war diesem bis zur entsprechenden Hofstelle in Wien noch das Gubernium in Innsbruck vorgeschaltet. Offensichtlich wollte man die Verhandlungen in Wien auch nicht so leicht aus der Hand geben und führte sie zuerst in Wien, was zu entsprechenden Zeitverzögerungen führte, denn die Informationen mussten immer erst über das Gubernium in Innsbruck von den Kreisämtern und Gerichten erfragt werden. Erst als die Beratungen im Lauf der 1760er Jahre festgefahren waren, gab man der Initiative des Landesgouverneurs Ignaz Graf Enzenberg nach, der in der Einrichtung einer eigenen Kommission in Tirol die einzige Möglichkeit sah, doch noch zu Ergebnissen zu kommen. Man hätte »so gelassen nicht zusehen sollen, daß Salzburger Seits im Zillerthal die meisten Hoheits Rechte mit Ausschluß des Landes Tyrol ausgeübt und benutzt worden« seien. Aus seiner Begründung klingt die Resignation der bisherigen Verhandlungsführung. Diese habe bisher nur Kosten verursacht, »worauf es allzeit wieder beym alten nemlich Salzburg in seinem Besitze verblieben«. Die vorhandenen Vergleichsvorschläge sollten »endlich frucht- und nutzbar« gemacht werden, »welche seit etlichen hundert Jahren zu weiter nichts gedienet, als an der Erzählung oder in Durchleßung ihrer Beschreibung sich zu unterhalten, und mit einer vergebenen Hoffnung eines zukünftigen Nutzens von einer Zeit zur anderen sich zu schmeicheln.«20 Doch auch Salzburg hatte Befürchtungen, schließlich war der Landesfürst von Tirol – ab 1780 – zugleich der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs und damit ein mächtiger Gegner. Aus diesem Grund appellierte man schon frühzeitig an dessen Schutzfunktion für das gesamte Reich. Wenn die Verhandlungen scheitern würden, habe man »nur den einzigen Trost noch übrig, […] daß die Gerechtigkeit Ihro K. K. A. Maytt gleichwohl nicht zulassen wird, das Erzstift aus seinen Befugnissen, ohne rechtlich oder gütlichen Austrag hinaus zu setzen«. Man verwies auf die Weisheit und Großmut des »allerhöchsten Reichs Ober-

19 Ebd., Fasz. 26/1, Konzept Gubernium Innsbruck an Hofstelle Wien, 5. August 1783. 20 Ebd., Fasz. 25/6 (4. Teil), Konzept Gouverneur Ignaz Graf Enzenberg, 23. März 1768.

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haupt[es], und oberste[n] Schutz Herrn«, womit sich »sämtliche deutsche Erz und Hochstifter zu getrösten haben.«21 Von beiden Seiten wurden im Lauf der Verhandlungen genaue Karten angefertigt. Von Salzburg aus reiste der landesfürstliche Bauverwalter Wolfgang Hagenauer 1765 und 1766 ins Zillertal und nahm in insgesamt 111 Tagen eine »geometrische Entwerfung« auf.22 Zugleich ließ auch Tirol vom Bergwerksdirektor in Schwaz, Erlacher, eine genaue Karte anfertigen.23 Die Vermessungen von Peter Anich und Blasius Hueber fanden inmitten dieser Verhandlungen statt und dynamisierten die Vorgänge offensichtlich. Obwohl Peter Anich von Salzburg die Erlaubnis zur Vermessung erhalten habe, sei Gottfried von Moll als Pfleger der Zillertaler Gerichte der Bitte von Anich, die Aufnahmen durchzugehen und zu kontrollieren, nicht nachgekommen und habe ihn durch die Äußerung, er wolle Anichs Papiere vernichten lassen, zur fluchtartigen Abreise aus dem salzburgischen Gebiet genötigt, hieß es in der Rechtfertigung des Guberniums gegenüber dem eingangs skizzierten Protest auf die Anich-Karte.24 Daneben sind im Hintergrund der Verhandlungen und Vermessungen die für das 18. Jahrhundert typischen Katastrierungsunternehmen beider Länder mitzudenken. Maria Theresia war beispielsweise nach den Erbfolgekriegen in den 1740er Jahren – beeinflusst von ähnlichen Maßnahmen in anderen Territorien25 – darangegangen, die Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu zentralisieren und mittels Zählung der Untertanen ein neues Steuersystem zu entwerfen.26 Zwar blieben für Tirol die Ergebnisse sehr bruchstückhaft, weil die eingebrachten Gegenargumente – zu erwartende Schwierigkeiten, weil die Grundobrigkeiten dies nicht mittragen würden, das Land sei zu groß, der Ortschaften zu viele – zunächst offensichtlich auf Verständnis zu treffen schienen, so dass sich Wien vorerst mit unvollständigen Ergebnissen zufrieden gab.27 Mit der Bevölkerungszählung ging jedoch eine Hausnummerierung einher, die zwar ebenfalls auf sehr große Skepsis stieß, doch 1767 angeordnet und auch durchgeführt 21 Ebd., Fasz. 25/7, Abschrift Promemoria von Franz Thaddäus von Kleimayrn u. Gottfried von Moll, 5. April 1781. 22 Ammerer, S. 321. 23 TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/6 (3. Teil), Verweis im Faszikel auf eine Karte, eingelegt nach dem Schreiben von Erlacher an das Gubernium, 16. Mai 1767. 24 Stolz, S. 127. 25 Dabei war sie wohl auch von jenem Kataster geleitet, dessen Erstellung ihr Vater Karl VI. 1718 im neu erworbenen Herzogtum Mailand angeordnet hatte, auch wenn dieser erst 1760 in Kraft trat. Carlo Capra / Giancarlo Galli, The 18th-Century Land Register in the State of Milan, in: Luca Mannori (Hg.), Kataster und moderner Staat in Italien, Spanien und Frankreich (18. Jh.), Baden-Baden 2001, S. 55 – 81. 26 Anton Tantner, Seelenkonskription und Parzellierung in der Habsburgermonarchie, in: Behrisch (Hg.), S. 75 – 94, hier S. 79. 27 Ders., Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Innsbruck 2007, S. 59.

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wurde. Die Nummern sollten mit roter Farbe auf die Häuser aufgetragen werden. Dieser Vorgang wurde 1784 – im Zusammenhang mit dem Josephinischen Grundsteuerpatent – wiederholt und damit neuerlich Hausnummern in der Größe von etwa drei Zoll an den Häusern angebracht, nun in schwarzer Farbe neben den dort bereits befindlichen roten. Schon innerhalb Tirols kam es dagegen zu starken Protesten.28 Zugleich stießen diese Versuche vor allem in jenen Gebieten an ihre Grenzen, deren Zugehörigkeiten umstritten bzw. rechtemäßig aufgeteilt waren. Auf Grundherrschaften sollte keine Rücksicht genommen, sondern Ortschaften oder Pfarren – eingeteilt in Städte, Märkte und Dörfer – mussten als territoriale Grundlage herangezogen werden. Auch alle Häuser und Ansiedlungen, die abseits lagen, waren jeweils einer Einheit zuzuordnen.29 Damit lagen die Schwierigkeiten in den Salzburger Gerichten, die mit den Tiroler Gerichten durch die gemeinsamen Rechte vermengt waren, auf der Hand. Oftmals handelte es sich nur um ein Haus in einem Dorf, das der Salzburger Herrschaft zugerechnet wurde. Die Einbeziehung dieser Häuser in die Hausnummerierung wurde von Salzburger Seite als Vereinnahmung verstanden. Der Salzburger Hofrat schrieb vor diesem Hintergrund an das Tiroler Gubernium: »Kaum, daß Wir vor wenigen Wochen wegen Numerirung der Häuser in dem Erzstift.Bezirk zu Niderahrnbach, und die zu gleicher Zeit unternohmenen Personal-Beschreibung die abgenötigte Verwahrung gegen diese thättigen Vorschritte […] eingelegt haben, so sind Wir neuer Dingen durch die Berichte des Salzburg. Pfleggericht Fügen verständiget worden, daß eben dieses Unternehmen bey der Behausung des Franz Wildauers zu Gagering zur Ausführung gebracht wurde, ohngeachtet der die Conscription führende H. Officier dieses Haus in seinem Vorbereittungs Prothokoll nicht aufgezeichnet hatte, und überhin gegen diese Anmaßung an der Stelle die Verwahrung eingelegt worden«.

Die Nummer auf dem Haus solle sofort gelöscht »und die Beschreibung der Innwohner sogleich aus dem Catastro getilget« werden.30 Den Grund des Protestes machte Salzburg dabei deutlich. Das »Numeriren und Conscribiren« dieses einen Hauses könnte dem Erzstift eigentlich gleichgültig sein, »wenn beedes keine weiteren, und tieffers in die Erzstift. Rechte greiffende Folgerungen nach sich zöge. Dergleichen Handlungen haben aber insgemein entweder eine Dienstleistung, oder Abgabe des Unterthans an Persohn, oder Gut, oder an beyden zum Zwecke.«31 Auch Salzburg begann ab 1774 mit den Vorbereitungen zu einem neuen Steuersystem, das auf der Basis einer geometrischen Vermessung eingeführt 28 Ebd., S. 60. 29 Ders., Seelenkonskription, S. 82. 30 TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 26/1, Schreiben Hofrat Salzburg an Gubernium Innsbruck, 15. April 1785. 31 Ebd., Schreiben Hofrat Salzburg an Gubernium Innsbruck, 31. März 1786.

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werden sollte.32 Diese verzögerte sich jedoch und wurde offensichtlich nicht flächendeckend durchgeführt.33 Ein um 1765 geplanter »Atlas Salisburgensis«, der aus 34 Blättern der Pfleg- und Landgerichte im Maßstab von 1:57.000 bestehen sollte, war ebenfalls nur für einige Gerichte zustande gekommen. Damit bezog sich Salzburg in seiner Argumentation neben Hagenauers erwähnter Spezialkarte des Zillertals bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch auf die 1718 entstandene Karte des Erzstifts von Johann Baptist Homann.34 In die neuerlichen Verhandlungen der 1780er Jahre wollte Tirol mit einer umfassenden Aufarbeitung der bisherigen Verträge unter Heranziehung aller bis dahin angefertigten Karten gehen. Die Arbeiten zogen sich über vier Jahre hin, aus Wien wurden dafür 23 Kisten mit Unterlagen nach Innsbruck gebracht.35 Das Ergebnis waren neun Bände inklusive 17 Karten, die 1793 vorgelegt wurden.36

3.

Neue Vorstellungen

Die Stoßrichtung in den Verhandlungen der 1760er Jahre war von Wien aus eine zweifache gewesen. Zunächst wurde versucht, die Situation durch Rückgriff auf mittelalterliche Rechte einer Vogtei der österreichischen Herzöge über den Erzbischof von Salzburg zu klären.37 Nicht zuletzt aufgrund fehlender oder nicht

32 Oskar Dohle, Der Hieronymuskataster, in: Erzbischof Colloredo und sein Kataster. Eine Steuerreform am Ende des Erzstifts Salzburg, hrsg. vom Salzburger Landesarchiv, Salzburg 2012, S. 33 – 58, hier S. 36 f. 33 Ders., Das Kartenwerk zum Hieronymuskataster – Versuch einer Rekonstruktion eines »Neufundes«, in: ebd., S. 59 – 62. 34 Der Entwurf zu dieser Karte stammte von Odilo Guetrather, weshalb sie auch manchmal als Guetrathische Karte bezeichnet wird. Ingrid Kretschmer, Salzburger Landeskarten aus vier Jahrhunderten, in: Wilhelm Schaup (Hg.), Salzburg auf alten Landkarten 1551 – 1866/67, Salzburg 2000, S. 9 – 12, hier S. 10 f. Zu Johann Baptist Homann und seinem Verlag vgl. Michael Diefenbacher (Bearb.), »auserlesene und allerneueste Landkarten«. Der Verlag Homann in Nürnberg 1702 – 1848. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg und der museen der stadt nürnberg mit Unterstützung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz im Stadtmuseum Fembohaus vom 19. September bis 24. November 2002, Nürnberg 2002. 35 TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/7, Schreiben Gassler an Gubernium, 21. Februar 1791. 36 Das waren drei Bände zum Zillertal, ein Band zu Kitzbühel, Kufstein und Rattenberg, ein Band zu Lengberg, Windischmatrei und Deffereggen, dazu je separate Abhandlungen über den Eisenhandel im Zillertal, über Unterfahrenbach und Stumm, schließlich noch ein Band zu allen mit Salzburg geschlossenen Verträgen von 1409 bis 1790 wie auch eine Abhandlung über die salzburgische Steuerverfassung in Bezug auf Tirol. 37 TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/6 (3. Teil), Schreiben Hofkanzlei Wien an Gubernium Innsbruck, 21. Juni 1766. Mit dem Hinweis auf die »Germania Sacra« des Jesuitenpaters Marcus Hansiz, der im zweiten Teil (S. 444 ff.) erwähne, dass das Vogteirecht Österreichs über das Erzstift Salzburg »irgendwo vorhanden gewesen« sei, sollten im Provinzial-Archiv

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auffindbarer Urkunden gedieh dieses Unternehmen jedoch nicht sehr weit.38 So wollte man die Rechtspluralität durch einen Austausch von Gebieten beseitigen. Nun solle eine »neue Gränzen Linie […] iedem Theile das seinige so zuwenden, daß es von den andren völlig geschieden wäre«, beschrieb Gottfried von Moll 1767 den Vorschlag, der von Tiroler Seite unterbreitet wurde. Alle »fremden von Tyrol inclavierten corpora sollen mit dem inclavirenden Staate zusammenflüssen«.39 Das Gegenangebot für die Abtretung der im Streit stehenden Gerichte war jedoch eine für Salzburg nicht akzeptable Herrschaft im Allgäu. Sie sei nicht nur ertragsmäßig nicht gleichwertig, sondern vor allem 32 Meilen von Salzburg entfernt und durch Tirol völlig vom Erzstift abgeschnitten. Dieses Ansinnen von Seiten Tirols wurde somit abgelehnt.40 Der Vorschlag von Tirol weist ebenfalls wie der Hinweis auf die weite Entfernung des Vergleichsangebots in Richtung einer Idealvorstellung abgerundeter, nach innen einheitlich regierbarer Territorien. Diese stand in den Verhandlungen ab etwa 1780 – aufgrund neuerlicher Streitigkeiten – noch stärker im Vordergrund der Argumentation. Nun drängte auch Salzburg auf eine endgültige Bereinigung der Rechtspluralität. Sehr deutlich wurde das Unverständnis gegenüber früheren Regelungsmechanismen geäußert. Wiederum Gottfried von Moll schrieb 1780 in einem Gutachten, dass es nur auf den ersten Blick sinnvoll sei, den Verhandlungen die alten Verträge von 1533 und 1690 zugrunde zu legen. Die bisherige Erfahrung habe gezeigt, wie wenig sie dazu geeignet seien, »Ruhe und Richtigkeit herzustellen, u. zu erhalten«. Insbesondere jener von 1690 habe »einen solchen widersprechenden zweyfachen Innhalt, der eigens dazu gemacht scheint, daß er die beederseitigen Befugniße anstatt dieselben aus ihren Durchkreitzungen herauszulösen, noch mehr in einander verwickeln möge.« Die anfangs bestimmten Grenzlinien würden mit nachfolgenden Bestimmungen wieder in »größte Verwirrung« gebracht, »dort ein Gut, da mehrere Gütter, dort wieder eine Alpe von der Jurisdiction, die die Gränzen Linie giebt, eximirt«. Auf keine Weise hätte man die doppelte Jurisdiktion »mehr durcheinander weben können, ausser man hätte auch in den Häußern, Stuben, Kämern, Küche, u Stallung, oder auf den Feldern die Zuwäge, u Raine von den Äckern eben also abgetheilt«.41 Zur Untermauerung dieser Argumentation verwies Moll auf

38 39 40 41

in Innsbruck entsprechende Urkunden gesucht werden. Zu Hansiz vgl. Burkhart Schneider, Hansiz, Marcus, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 636. TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/7a, Schreiben Hofstelle Wien an Gubernium Innsbruck, 31. Juli 1766. Mit einer Auflistung aller betreffenden Urkunden. Ebd., Fasz. 25/6 (3. Teil), Schreiben Gottfried von Moll an Gubernium Innsbruck, 23. Oktober 1767. Ammerer, S. 322. TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/7, Gottfried von Moll, Abschrift Hochfürst. Salzburg. Gegenerklärung auf die von Kais. König. Hof-Kanzlei bei anher erlassenen VergleichPunkten wegen Zillerthal, 6. Oktober 1780.

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Landkarten, die dies sehr anschaulich darstellen würden. Mit einem Blick sei dies »aus der Anichschen Tyroll. Mappa, u noch deutlicher aus der A.o 1766 cumulative verfaßten«42 zu ersehen. Auf der Basis der umfangreichen zusammengestellten Materialien verfasste Gubernialrat Strobl 1793 das oben bereits erwähnte Gutachten für die neuerlichen Verhandlungen. Eng angelehnt an die zugrunde gelegte Anich-Karte folgte er dem Grenzverlauf und argumentierte, dass einige Grenzen »tief in Tyroll« hineingreifen würden. Sie würden beinahe die Hälfte des Landes durchschneiden. Andere salzburgische Besitzungen seien von den übrigen völlig isoliert und allein von Tirol oder von Tirol und Kärnten umschlossen.43 Insbesondere bei dem im heutigen Osttirol gelegenen Gericht Windischmatrei betonte Strobl die Gebirge, die es vom benachbarten salzburgischen Gericht trennten. Die einzige Verbindung sei nur über Bergwege möglich. Zugleich reiche dieses Gericht aber wie das Horn eines »Rhinoceros […] sehr tief in Tyrol herein« und schneide eine diesseitige Tiroler Herrschaft entzwei, »wie die Mappa ganz augenscheinlich darstellet«.44 Die Karten, auf die sich Strobl dabei bezog, sind nicht mehr erhalten, aber die Wahrnehmung des Gerichts Windischmatrei im Süden Salzburgs als Rhinozeroshorn lässt sich beispielsweise gut auf einer Karte des »Herzogthums Salzburg« von 1808 nachvollziehen (Abb. 2). Solche Formulierungen, die auf eine natürliche Zusammengehörigkeit von landschaftlichen Räumen zielten, korrespondierten mit der neuen Sicht auf die Geographie, die im 19. Jahrhundert vor allem Carl Ritter in Berlin vertrat.45 Landschaft wurde nicht mehr nur nach politischen Grenzen beschrieben, sondern nach naturräumlichen Gegebenheiten und deren Kommunikationsmöglichkeiten.46 Indem Strobl im Gutachten Überlegungen darüber anstellte, wie diese Gerichte »in Mitte des austriaci«47 in die Salzburger Herrschaft gelangt sein konnten, brachte er einmal mehr die Vorstellung zum Ausdruck, dass diese Gerichte zu Tirol gehören müssten. Schließlich fand nun auch er Formulie42 Ebd., Unverfänglicher beylicher Entwurf Uber samentliche Vergleich Gegenstände zwischen dem Durchlauchtigsten Erzhaus Oesterreich an einem, und dem hohen Erzstifte Salzburg, am anderen Theile, 1781. 43 Gutachten Strobl, 11. Juli 1793, § II. 44 Ebd., § XVII. 45 Carl Ritter, Die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen, oder allgemeine vergleichende Geographie als sichere Grundlage des Studiums und Unterrichts in physicalischen und historischen Wissenschaften, Berlin 1817 – 1859; Max Linke, Ritters Leben und Werk. Ein Leben für die Geographie, Halle 2000. 46 Vgl. das Dissertationsprojekt von Isabella Consolati »Comunicare lo spazio, collocare la storia. Le scienze geografiche tedesche tra 1790 e 1830«, Internationales Graduiertenkolleg »Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert«, http://www.unifrankfurt.de/43913899/Consolati_Isabella [5. 1. 2015]. 47 Gutachten Strobl, 11. Juli 1793, § XXXII.

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Abb. 2: »Herzogthum Salzburg«. Aus: Tranquillo Mollo, Neuester allgemeiner Atlas über alle Theile der Erde zum Unterricht für die Jugend der höhern und niedern Schulen, nach den besten Karten und den neuesten Beobachtungen zusammen getragen, Wien 1808.

rungen, die das Unverständnis gegenüber früheren Vereinbarungen zeigen. Man habe sich im alten Vertrag »auf das Hergebrachte« bezogen, »mithin schon wieder sich eines Ausdruckes bedient, der durch seine Unbestimtheit zu Strittigkeiten Anlas zu geben geeignet ist, und auch zu Strittigkeiten Anlaß gegeben hat«.48 Diese Auseinandersetzungen sollten sich noch weiter ziehen.

4.

»Fehlerhafte« Landkarten als Argument

Die zentrale Aussagekraft, die Landkarten – und der dahinterstehenden genauen Vermessung – um 1800 zugeschrieben wurde, lässt sich für Salzburg an einem weiteren Beispiel darstellen. Als das Erzstift im Dezember 1800 nach der Schlacht auf dem außerhalb der Stadt gelegenen Walserfeld von französischen Truppen besetzt wurde, richtete Obergeneral Jean-Victor Moreau die Aufforderung an den Hofrat, neben einer Reihe von Naturalleistungen sechs Millionen Livres – das entsprach 2.750.000 Gulden – an Kriegskontribution zu leisten. Der Abt von St. Peter, Dominikus Hagenauer, hielt im Klostertagebuch fest, dass sich 48 Ebd., § XI.

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alle darüber wunderten »und iederman sah sie als äusserst überspant an«.49 Während man im Landtag über verschiedene Maßnahmen beriet, dieses Geld bereitzustellen,50 schlug der Hofrat einen anderen Weg ein. Er wollte den Beweis erbringen, dass die als viel zu hoch befundene Geldforderung auf einer unrichtigen Einschätzung Salzburgs an Fläche, Bevölkerung und Einkommen beruhte. Die entsprechenden statistischen Materialien wurden dem französischen Obergeneral vorgelegt. Zugleich veröffentlichte Hofkanzler Johann Heinrich Reichsfreiherr von Bleul die Daten im »Politischen Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen«.51 Hinsichtlich der Frage, wie es zu einer Überschätzung der Landesgröße hatte kommen können, gab er vage an, dass dies »wahrscheinlich durch unsere äußerst fehlerhaften Karten von Salzburg« bedingt sei. »Weder die Lage, noch die Größe des Erzstifts wissen wir zur Zeit astronomisch genau. So viel aber können wir nun doch mit Gewißheit annehmen, daß der Fehler der bisherigen Flächen-Inhalts-Angabe wenigstens 60 Quadratmeilen betrug, – ein Abstand, der, zumal bey einem so kleinen Lande, wie Salzburg, wirklich ungeheuer ist.«52

Von einer früheren Angabe hätten alle abgeschrieben. So lange das Land nicht exakt vermessen sei, lasse sich auch der Flächeninhalt nicht genau bestimmen.53 Die Suche nach der fehlerhaften Größenbestimmung regte offensichtlich auch andere an. Der Herausgeber des Salzburger Intelligenzblattes, Michael Vierthaler, veröffentlichte am 2. Mai 1801 einen Artikel darüber, wovon Bleul wiederum im »Politischen Journal« berichtete. Der Ursprung des Fehlers liege in der Homann-Karte. Diese habe den Flächeninhalt des Landes Salzburg auf 240 Quadratmeilen bestimmt, »und, um diese Zahl herauszubringen, von Mühldorf in Baiern bis Friesach in Kärnten eine Linie gezogen, sohin über Landstriche hinweggemeßen […], die gar nicht zu Salzburg gehörten«.54

49 Adolf Hahnl / Hannelore Angermüller / Rudolph Angermüller (Hg.), Abt Dominikus Hagenauer (1746 – 1811) von St. Peter in Salzburg. Tagebücher 1786 – 1810, Teilbd. II: Tagebücher 1799 – 1810, St. Ottilien 2009, Eintrag unter dem 17. Dezember 1800, S. 761. 50 Ebd., 19. u. 21. Dezember 1800, S. 763 f. 51 Von Bleul, Geographisch-statistischer Beytrag (wie Anm. 1). 52 Ebd., S. 57. 53 Ebd., S. 235. 54 Johann Heinrich von Bleul, Nachschrift, in: Politisches Journal nebst Anzeige von gelehrten und andern Sachen 1 (1801), S. 468 – 469, hier S. 469.

Aneignung von Land und Rechten durch Visualisierung

5.

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Auseinandersetzung mittels Farbgebung?

Nicht nur mit der Markierung von Grenzen kann auf Karten Eigentum definiert werden, sondern auch durch die Farbgestaltung lassen sich Herrschaft und vor allem Einheitlichkeit visuell einprägsam darstellen und behaupten. Damit bedienten Karten vor allem im 19. Jahrhundert die wesentliche Funktion, eine deutlichere Vorstellung eines Territoriums zu erzeugen. So entwickelte sich beispielsweise Rot als markante, symbolhafte Farbe für die Darstellung des Britischen Empires, die eine Zusammengehörigkeit mit den Kolonien und damit eine Größe und Stärke suggerierte, die politisch noch nicht im gleichen Maß erreicht war.55 In Vorläuferkarten war, etwa um die unterschiedlichen Religionen zu kennzeichnen, schon Rosa für die christliche Religion in Abgrenzung zu anderen – Grün für den Islam und Blau für heidnische Religionen – verwendet worden.56 Dass Farbzuordnung jedoch beliebig war, zeigen andere Beispiele. Zwar festigte sich das Rötliche offensichtlich als dominante Farbe, wie beispielsweise für die Kennzeichnung deutschsprachiger Gebiete im Vergleich zu slawischsprachigen, doch begann dies erst im frühen 19. Jahrhundert.57 Die Farbgebung im 18. Jahrhundert war weniger einheitlich, bzw. schien der Farbe Rot noch keine Dominanz zuzukommen. So entstand beispielsweise im Zuge der Teilungen Polens eine Reihe von Karten, die die jeweils aktuelle Situation darstellten, wie etwa die erste Karte von 1788 in Berlin aus preußischer Sicht. Durch die Farbgebung der unterschiedlichen Regionen wurden – mit einigen Abweichungen – schon die weiteren Teilungen vorweggenommen: Gelb markierte Gebiete kamen später zu Preußen, rote und blaue zu Russland, grüne zu Österreich.58 Auch aus Salzburger Sicht war die zentrale eigene Farbe Gelb. Darauf deutet die – im Vortragstitel zitierte – Aussage von Bleul angesichts der falschen Größendarstellung der Salzburger Karten. Man wisse bestimmt, »wie und worin unsere Charten fehlerhaft sind, und daß bey weitem nicht alles salzburgischer

55 ZoÚ Laidlaw, Das Empire in Rot. Karten als Ausdruck des britischen Imperialismus, in: Christoph Dipper / Ute Schneider (Hg.), Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentationen in der Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 146 – 159. Dies ging so weit, dass schließlich mit der Farbe argumentiert wurde. So habe 1846 auf die Frage der umstrittenen Zugehörigkeit der Auckland Inseln der für die Kolonien zuständige Minister geantwortet, dass das Territorium auf der Karte rot eingezeichnet sei, es müsse daher ein britischer Anspruch darauf vorhanden sein und damit sei die Sache erledigt. Ebd., S. 155. 56 Ebd., S. 155 f. 57 Bernhard Struck, Farben, Sprachen, Territorien. Die deutsch-polnische Grenzregion auf Karten des 19. Jahrhunderts, in: Dipper / Schneider (Hg.), S. 177 – 192, hier S. 178, 186 – 190. 58 Ebd., S. 181.

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Boden ist, was auf denselben gelb gemahlt ist«.59 Dies ging ganz offensichtlich auf die Farbgebung der Homann-Karte von 1712 zurück, mit der man, wie erwähnt, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts argumentierte, die also präsent war. Die Tiroler Anich-Karte hingegen arbeitete nicht mit Farben, sondern nur mit Grenzmarkierungen. Allerdings hatte offensichtlich der Schwazer Bergwerksdirektor Erlacher für seine Karte sehr wohl Farben verwendet, die jedoch nicht zuordenbar sind, weil die Karte nicht mehr vorliegt. Es gibt nur in den Quellen den Hinweis, dass diese mit »Anzeigung der Farben« hergestellt worden sei.60 Als nun aber im Zuge der intensiven Aufarbeitung der Quellen Ende der 1780er Jahre auf Tiroler Seite zu den detaillierten Textbänden auch Karten erstellt wurden, bediente man sich Farben, um die Verhältnisse darzustellen. Auf der Grundlage der Anich-Karte wurde mit gelber Farbe Tirol gekennzeichnet, das salzburgische Gebiet mit unumstrittener Zugehörigkeit mit deutlichem (»hochem«) Rot, jenes mit unentschiedener Herkunft jedoch mit einem blasserem Rot. Die kärntnerischen Grenzen wurden grün markiert, die übrigen Grenzen – gegen Bayern, Schweiz und Trient – mit anderen Farben unterschieden.61 Damit stellt sich die Frage, ob man sich bewusst des ›salzburgischen‹ Gelbs bedient hatte, um dem Erzstift etwa gleichwertig gegenüberzutreten, es vielleicht sogar zu provozieren – oder ob die Farbgebung einen anderen Grund hatte. Es gibt auch für Tirol eine Karte von Johann Baptist Homann von 1720, die als Bezug in der Argumentation indes ganz offensichtlich keine Rolle gespielt hatte, doch könnte vielleicht die Farbgebung einen Einfluss ausgeübt haben: Die Grafschaft Tirol findet sich hier ebenfalls gelb gefärbt, Vorarlberg und das Hochstift Brixen grün, das Hochstift Trient rötlich. Die umgebenden Territorien, wie etwa Salzburg, wurden farblich nicht gekennzeichnet.62 Mit dem Blick auf weitere Karten aus dem Homann’schen Verlag muss eher dem ›Homann-Gelb‹ die Patenschaft für die Farbwahl der Tiroler Karte zugestanden werden. Homann hatte sich in seiner Farbgebung an Johann Hübner, dem Autor von geographischen Schulbüchern, orientiert, der zur besseren Visualisierung der politischen Verhältnisse die einzelnen Länder in ihrer gesamten Fläche mit Farbe versah. Teilgebiete oder dazugehörige Provinzen wurden mit Nuancen der bestimmenden Farbe gekennzeichnet. Dabei war offensichtlich Gelb die schon von Hübner bevorzugte

59 60 61 62

Bleul, Geographisch-statistischer Beytrag, S. 235. TLA, Ältere Grenzakten, Fasz. 25/7, Schreiben von Gassler, 3. Januar 1789. Gutachten Strobl, 11. Juli 1793, § III. Abbildung der Homann-Karte von Tirol, in: Meinrad Pizzinini, Weltliche und geistliche Herren teilen sich das Territorium, in: Spurensuche3. Ausstellungstrilogie 2005/2006/2007, Teil II: Viele Grenzen – viele Herren. Katalog zur Ausstellung, hrsg. vom Museum der Stadt Lienz Schloss Bruck, Lienz 2006, S. 21 – 29, hier S. 29.

Aneignung von Land und Rechten durch Visualisierung

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Farbe für die Darstellung des Landes, das im Mittelpunkt der Karte stand, gewesen.63

6.

Argumentationslinien des beginnenden 19. Jahrhunderts

Die Verhandlungen der 1790er Jahre waren nicht zuletzt aufgrund des begonnenen Krieges mit einer neuerlichen Fixierung der unterschiedlichen Rechte und geringfügigen Grenzberichtigungen beendet worden. Als mit dem Frieden von Preßburg 1805 und der Rheinbundakte 1806 die Arrondierung der betroffenen Territorien festgeschrieben wurde, verlief die Argumentation vielschichtiger. Zum einen setzten die politischen Überlegungen zur Umsetzung des konkreten Ausgleichs die Argumentation des späten 18. Jahrhunderts fort. Mit den veränderten Besitzverhältnissen war es mittlerweile an Österreich, das sich im Besitz von Salzburg befand, mit Bayern, zu dem Tirol gehörte, über die Verhältnisse in den betroffenen Gerichten zu verhandeln. Als Basis diente Österreich die anlässlich der Regierungsübernahme angefertigte ausführliche Beschreibung der statistisch-ökonomischen wie rechtlichen Verhältnisse auf der Basis von Daten der vorhergegangenen Jahre.64 In der Beschreibung der eigenen Gerichte zeigte sich bereits der Niederschlag der früheren Argumentation über eine natürliche Zugehörigkeit zu Territorien. Aus Salzburger Sicht lagen nämlich nun das Brixental, Windischmatrei und Lengberg »um den westlichen Theil des Hauptlandes herum in Tyrol«. Nur noch das Zillertal gehörte offensichtlich zum Hauptland, es wurde inmitten der Aufzählung der anderen Salzburger Gebietsteile eingefügt.65 Nach wie vor rang man um genaue Grenzen, schickte Sachverständige in die Gerichte, versehen mit Karten und dem Auftrag, die Grenzlinien nachzuprüfen. Akribisch wurden alle Zuordnungen auf älteren und neueren Karten mit den vorgefundenen Gegebenheiten verglichen. Dabei zeigte sich nun auch auf Salzburger Seite eine Unsicherheit über den Ursprung der vorhandenen Karten. »Die vor uns ligende alte Mappa correspondirt genau mit den Gränzmauern des Vertrags vom Jahre 1690; ich halte sie daher für die 63 Vgl. dazu Christian Sandler, Johann Baptista Homann (1664 – 1724) und seine Landkarten, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (1886) [ND: 3. Aufl., Bad Langensalza 2009], S. 30 f., und die Vorrede in Johann Hübner, Kurtze Fragen aus der neuen und alten Geographie […], 28. Aufl., Leipzig 1721, S. 12 f. 64 Diese Akten, eigentlich Vorträge, liegen, versehen mit einem »Elencus über die salzburgischen Akten«, interessanterweise im Tiroler Landesarchiv, wohin sie wahrscheinlich unter der gemeinsamen bayerischen Regierung von 1810 bis 1814 gekommen sein dürften. TLA, Cattanea, Nr. 768. 65 Ebd., Nr. 768, Nr. 1d: Ueber die geographischen Verhältnisse, Salzburg, 27. April 1806, zur Rubrik X.

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Original Charte«.66 Genau wurden alle Argumente geprüft, die für und gegen eine Beanspruchung eines Gebietes sprachen, was für wen eine »passive« oder »aktive« Enklave darstellte. Stärker als zuvor kam es darauf an, ob einzelne Gebiete abgeschnitten waren oder ob sich auf den Karten eine Verbindung zum eigenen Gebiet argumentieren ließ.67 Neu war nun jedoch, dass man von Salzburg aus auch die Bevölkerung stärker in die Grenzfindung und Grenzziehung einbezog – offensichtlich ohne zufriedenstellenden Erfolg. »Über die Verhältnisse seien die Bewohner dieser Gegenden in ihren Meinungen verschieden.« Die einen würden sagen: »Wir sind Tyroler aber mitten im Salzburger Lande; Die Tyroler bei Melitz und Feistritz sagen – Wir sind Tyroler auf tyroll. Grund und Boden; während die dort situierten Salzburger behaupten, sie liegen im salzburgischen Gebiethe. – Kein Theil weiß aber genau zu bestimmen, ob die Gränzen von unten nach oben so auf die Höhe gehen, und so die salzburg. Antheile ganz treffen.«68

Mit Einbeziehung der Bevölkerung vor Ort war man zudem auch deren Interpretation ausgeliefert. Als abgewogen wurde, wie die Chancen im Zillertal für die Erlangung der gesamten Herrschaft stünden, sprachen offensichtlich für Tirol die Grenzbeschreibungen, die beiderseits aufgenommenen Grenzskizzen und selbst die einseitigen Salzburger Karten. Außerdem würden unparteiische salzburgische Zillertaler einräumen, dass die tirolische Behauptung die richtige sei. Damit blieb als Fazit aus Salzburger Sicht nur : »Wir haben nichts für uns, als eine sehr gezwungene künstliche Interpretation der Grenzbeschreibung nebst den Behauptungen derjeniger unseriger Bauern, welchen an dieser Interpretation gelegen ist.«69 Die Auseinandersetzung wurde noch auf einer weiteren Ebene ausgetragen, die alte und neue Facetten in die Diskussion bzw. Öffentlichkeit brachte – der Publizistik. Anonym erschienen im »Historisch-statistischen Archiv für Süddeutschland« in den ersten beiden Bänden 1807 und 1808 »Beyträge zur Statistik des Herzogthums Salzburg«, in denen in ausführlichster Weise wieder mit alten Verleihungsurkunden und den Vergleichsverträgen der vorangegangenen Jahrhunderte argumentiert wurde.70 Dem begegnete der Pfleger des dem Zillertal benachbarten Tiroler Gerichts Rottenburg, Joseph Paul von Inama, mit einem 66 Ebd., Nr. 768, Nr. 4: Vortrag über die Land-, Forst- und Jagdgrenzen Irrungen gegenüber Alt- und Neubayern, 20. August 1806. 67 Vgl. z. B. die ausführlichen Darstellungen der möglichen Szenarien im Windischmatreier Deffereggental – je nachdem, wo die Grenzziehung verlief. Ebd., Nr. 768, Nr. 3: Vortrag über die differenten Land-Tage und Forst Gränzen, Salzburg, 19. Juli 1806. 68 Ebd. 69 Ebd., Nr. 768, zu Tabelle 3, ohne Datum. 70 Beyträge zur Statistik des Herzogthums Salzburg, in: Historisch-Statistisches Archiv für Süddeutschland 1 (1807), S. 3 – 41; 2 (1808), S. 1 – 52.

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Artikel »Ueber die politischen Verhältnisse des Zillerthals«.71 Auch er bezog sich auf die früheren Verträge und argumentierte mit den »höchsten Gebirgen, worunter sich auch Eiswände befinden«, mit denen das Zillertal umschlossen »und sonach schon von der Natur zur unzertrennlichen Verbindung mit Tirol geeignet« sei.72 Den »Grundsätzen der neuern Zeit gemäß« solle nun »ein besseres Arrondissement nach den natürlichen Gränzen eingeleitet und ausgeführt werden«.73 Durch die neuen Wissensbestände über die genauen wirtschaftlichen Daten der einzelnen Gerichte ließen sich nun jedoch die Kommunikationsmöglichkeiten und die Zugehörigkeit noch weiter ausbauen. Inama führte als Beispiel den Handelsverkehr an. Das hauptsächliche Handelsprodukt sei Holz, wofür das Zillertal »keinen andern Ausweg hat, als nach Tirol« zu liefern.74 Die Verhandlungen zwischen Salzburg und Tirol führten schließlich auch in dieser letzten Phase zu keinem Austausch der Gebiete, weil der Krieg von 1809 die politische Konstellation neuerlich veränderte. Doch waren dieses Mal die angedachten Tauschprojekte viel weiter gediehen. Die beauftragten Unterhändler befanden sich im Frühjahr 1809 auf dem Weg ins Zillertal, wo die Pläne weiter konkretisiert und zum Abschluss gebracht werden sollten, als die Erhebung der Bevölkerung in Tirol und den angrenzenden Gerichten dies verhinderte.75 Schaut man sich die Tauschoptionen und die Diskussion dahinter an, wird deutlich, wie sehr sich beide Parteien vor allem darum bemühten, von allen betroffenen Gerichten insbesondere das Zillertal zu bekommen bzw. zu behalten. Aus Salzburger Sicht hielt man dieses Gericht »von wesentlicher Bedeutenheit; wenn gleich der Vicinal Weg dahin über die Gerlos beschwerlich ist, so ist er doch beynahe das ganze Jahr practicabl«. Doch vor allem stehe es »wie eine Warte Mitten im Tyrol; seine Ausgänge sind dem Inn zu gegen Innsbruck, so wie durch die Zem und Dux gegen das südliche und welsche Tyrol offen.«76 Diese Argumentation verweist zugleich auf die Grenzen des reinen Strebens nach einem abgerundeten Territorium. Gerade weil dieses Gericht so weit in das Nachbarterritorium hineinreichte, sollte daran festgehalten werden, um sich in alle Richtungen Handlungsoptionen offen zu halten. Dies stand jedoch den Interessen Tirols entgegen. So lässt sich in diesen Zusammenhang abschließend eine 71 Joseph Paul von Inama, Ueber die politischen Verhältnisse des Zillerthals, in: Sammler von Tyrol 5 (1808), S. 122 – 147. 72 Ebd., S. 125. 73 Ebd., S. 142. 74 Ebd., S. 125. 75 Salzburger Landesarchiv, Nachlass Joseph Felner, Nr. 20, Tage und Gedenkbuch (Historiae mei temporis) von der erstmaligen oesterreichischen Regierung im Herzogthum Salzburg und Fürstenthume Berchtesgaden, § 14: Eine diplomatische Purification der sogenannten Territorial Enclaven (ein und abgeschlossener Landesgebiethe) in Windischmatrey und Zillerthal, S. 283. 76 TLA, Cattanea, Nr. 768, Nr. 4: Promemoria, 25. Februar 1807.

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letzte Karte von 1806 stellen, die nur mit dem Wissen um die Grenzstreitigkeiten und mit der Bereitschaft, sich auf Landkarten als Medium der politischen Kommunikation einzulassen, interpretierbar ist. Die Karte trägt den Titel »Neueste General-Karte von Tirol. Nach den vortreflichen Karten P. Anich und B. Hubers«77 und ist im Tiroler Landesarchiv mit den Bemerkungen archiviert, dass diese Karte nicht stimmen könne, weil sie zum einen falsche Bezeichnungen für Territorien verwende und zum anderen die politischen Grenzen nicht richtig darstelle. Schaut man sich die Karte aber genauer an, dann zeigt sie ganz offensichtlich das Tiroler Wunschszenario in diesem Grenzstreit. Tirol präsentiert sich als schön geschlossenes Territorium, das Zillertal mit einbegriffen. Lediglich das Gericht Itter im Brixental, auf das keine der verhandelnden Parteien großen Wert gelegt hatte, befand sich noch bei Salzburg.

7.

Abschließend

Der Anspruch, visuelle Zeugnisse »jenseits des Illustrativen« als Quellen ernst zu nehmen, wurde in diesem Beitrag am Beispiel von Landkarten des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts umgesetzt. Befürchtungen, durch das visuelle Festlegen von Grenzen eigene Ansprüche zu gefährden, aufwendige Bemühungen, in den Besitz von Originalkarten zu gelangen, sowie das zunehmende Verweisen auf etwa auffälliges, auf Karten gut sichtbares Hineinreichen eines Gebietes in das andere weisen zum einen auf den Stellenwert hin, den Landkarten im politischen Agieren einnahmen. Ihnen wurde ein Wahrheitscharakter zugesprochen, auch wenn man sich offensichtlich aufgrund der umstrittenen Rechte, die dahinter standen, der Konstruiertheit auch bewusst war. Zum anderen lassen sich daran sehr gut veränderte Werthaltungen bezüglich des eigenen Territoriums ablesen, das immer mehr dem Ideal eines abgerundeten, nach außen klar abgegrenzten und nach innen ohne Schranken regierbaren Staats entsprechen sollte. So schlüssig sich diese Argumentation darstellen lässt, so verweist doch das Bemühen Salzburgs, an einem der in Diskussion stehenden Gerichte – dem Zillertal – festzuhalten, darauf, dass man auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts sehr wohl noch bereit war, beschwerliche Wege in eigenes Gebiet in Kauf zu nehmen, wenn deren Lage vielversprechende politische Aussichten eröffnete. Mit dem Jahr 1816 gelangte Österreich – erstmals gleichzeitig – in den Besitz der beiden Länder. Eine der ersten Maßnahmen war die Zuordnung aller Gerichte, um die es in diesen Auseinandersetzungen gegangen war, zu Tirol. Die 77 TLA, Karten und Pläne, Nr. 2740, Neueste General-Karte von Tirol. Nach den vortreflichen Karten P. Anich und B. Hubers, Wien bey Artaria und Compagnie, 1806.

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tatsächlichen Gründe dafür lassen sich nicht so leicht eruieren, aber es steht zu vermuten, dass die Argumentation Österreichs für die Tiroler Seite bei den entscheidenden Akteuren mehr Spuren hinterlassen hat als die kurze Zeit von 1806 bis 1809, als Österreich die gegenteiligen salzburgischen Argumente vertreten hatte.

Sybille Moser-Ernst / Ursula Marinelli

Geschichte des Karikaturprojektes Kris / Gombrich. Antworten und offene Fragen

1.

Einleitung

Die Karikatur als der »Gegenwurf des Ideal-Schönen«1 war ein von der Kunstgeschichte wenig beachtetes Genre. Die Disziplin kümmerte sich in ihren Anfängen zunächst nur um die Kunstbetrachtung und -würdigung gemäß einem ästhetischen Kanon; vor diesem konnte die Karikatur nicht bestehen und fiel somit in den Bereich des Hässlichen. Man vergaß, dass es ausgerechnet die Künstler der »hohen Kunst« gewesen waren, die – zuerst zum Zeitvertreib und zur Entlastung – den spielerischen Umgang mit der Form gesucht hatten; in diesem Spiel hatten sie es nur der Natur gleich getan, so waren sie überzeugt.2 Erst unter dem Gesichtspunkt des Klassifizierungs- und Historisierungsbestrebens des 19. Jahrhunderts wurde die Karikatur interessant, sie wurde zum »Gegenstand der Geschichtsschreibung«.3 Es waren in der Folge auch haupt1 Werner Hofmann, Die Karikatur. Von Leonardo bis Picasso, erg. Neuaufl., Hamburg 2007, S. 39. Die Arbeit von Hofmann wurde 1956 erstmals veröffentlicht und bildet den bislang unübertroffenen Meilenstein für die kunsthistorische Erforschung der Gattung Karikatur. Nach ihm wagte sich lediglich Michel Melot in ähnlicher Weise an eine umfassende Gesamtdarstellung; vgl. Michel Melot, Die Karikatur : das Komische in der Kunst, Stuttgart u. a. 1975. 2 »Wir sehen, dass Spielen und Scherzen ein nicht nur dem Menschen, sondern auch den Tieren höchst eigentümliches Verhalten ist, denn es gibt Tiere, die, kaum geboren, so pflegte Annibale Carracci zu sagen, zu spielen beginnen, und so zeigen sie, dass ihr Selbsterhaltungstrieb nicht grösser ist als ihr Spieltrieb. Wir sehen ferner, dass die Natur selbst dadurch, dass sie etwas entstellt, eine dicke Nase, einen breiten Mund oder einen Buckel schafft oder auf andere Weise ein Geschöpf deformiert, uns auf die Art hinweist, in der sie selbst, die Natur, sich an jenem Geschöpf Spaß und Vergnügen verschafft; über eine solche Missgestalt (deformit—) oder Unproportioniertheit lacht sie auch selbst zu ihrer Erholung.« Carlo Cesare Malvasia, Felsina Pittrice, Bd. 1, Bologna 1678, 379 f. Deutsche Übersetzung von Ernst Gombrich, in: Ernst Kris / Ernst Gombrich, Die Karikatur (Manuskript dt.) mit Ergänzungen von Ernst Kris (in Englisch und deren Übersetzung ins Deutsche), 254 S., vollendet vermutlich 1936, S. 4, BOX Caricature III, EHG c/b/caricature/KSS/Ger/CO, Warburg Institute Archive London (EH Gombrich Estate). 3 Gerd Unverfehrt, Karikatur – Zur Geschichte eines Begriffs, in: Gerhard Langemeyer u. a.

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sächlich Historiker, die sich des Phänomens annahmen;4 später auch Literaturwissenschaftler, dann Kultur- und jüngst vor allem Kommunikationswissenschaftler, die an der Rolle der Karikatur in ihrer Funktion als visuelle Strategie interessiert sind.5 Die Vertreter dieser unterschiedlichen Disziplinen hatten jeweils eigene Betrachtungsperspektiven und bevorzugten vor allem Methoden wie Ikonographie, Ikonologie oder Semiotik, galt es doch, die Bilder in erster Linie inhaltlich zu entschlüsseln. Die Frage nach dem Wesen der Karikatur bzw. danach, welches die Gestaltungsmittel der Karikatur seien, wurde dabei meistens ausgeklammert.6 Allein Untersuchungen im Rahmen einer Begriffsgeschichte des Wortes »Karikatur« zeigen, dass wir es hier mit einer Kategorie zu tun haben, die mit vielen verschiedenen Einzelbegriffen assoziiert wird und deshalb durch Unschärfen gekennzeichnet ist.7 Die heutige Forschung neigt eher zu Spezialisierungen, sie bevorzugt entweder Einzelstudien in einem durch Konsens abgesegneten historischen Abschnitt oder sie untersucht einzelne Themengruppen der Karikatur; wenig kümmert sie sich um die Grundlagenforschung.8 Wahrscheinlich ist ihr deshalb

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(Hg.), Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten, 2. Aufl., München 1985, S. 345 – 354, hier S. 351. Zunächst durch Eduard Fuchs, dem ersten Begründer eines Archivs zur Geschichte der Karikatur. Fuchs war bekennender Marxist. Er publizierte mehrere für die spätere Forschung impulsgebende Werke zur Karikatur : z. B. Die Karikatur der europäischen Völker vom Altertum bis zur Neuzeit, Berlin 1901; Die Karikatur der europäischen Völker vom Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Berlin 1903. Ein prominentes Denkmal setzte ihm Walter Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), S. 346 – 381. In der unübersichtlichen Fülle der neueren Forschungsliteratur sei hier nur auf drei Publikationen verwiesen: Dietrich Grünewald (Hg.), Politische Karikatur. Zwischen Journalismus und Kunst, Weimar 2002; Christine Ohno, Die semiotische Theorie der Pariser Schule, Bd. 2: Synkretistische Semiotik. Interpretationen zu Karikatur, Bildergeschichte und Comic nach der Zeichentheorie der Pariser Schule, Würzburg 2003; Steffen Krüger, Das Unbehagen in der Karikatur. Kunst, Propaganda und persuasive Kommunikation im Theoriewerk Ernst Kris’, München 2011. Der Kunsthistoriker Gerd Unverfehrt vermerkte dazu: »Übersehen wurde zumeist, dass es sich bei den Untersuchungsgegenständen um Kunstwerke handelt, zu deren Verständnis zuerst einmal die Regeln der Gestaltung und erst dann Wirkungsabsichten zu rekonstruieren sind.« Unverfehrt, S. 354. Einen neuen Ansatz wagt Sybille Moser-Ernst, Die Karikatur als »die Sprache der Dinge«, in: Christoph Bertsch / Viola Vahrson (Hg.), Gegenwelten, Innsbruck / Wien 2014, S. 396 – 409. Im populären Sprachgebrauch wird in der deutschen Sprache unter Karikatur nicht zwischen den einzelnen graphischen Erzeugnissen wie Bildsatire, Cartoon, Comic Strip und Porträtkarikatur unterschieden. Zur Begriffsgeschichte vgl. Unverfehrt, S. 345. Den Versuch einer Abgrenzung unternahm Dietrich Grünewald, Zwischen Journalismus und Kunst – politische Karikaturen, in: ders. (Hg.), S. 9 – 24, hier S. 13 ff. Eine Übersicht über die Forschungsgeschichte zur Karikatur lieferte zuletzt der Historiker Christoph Studt, »No-man’s land«. Die Karikatur als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, in: Historisch-Politische Mitteilungen 15 (2008), S. 63 – 80.

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mehr oder weniger bis heute eine breit angelegte Studie entgangen, die sich ganz und gar auf die oben angesprochene Frage nach dem Wesen der Karikatur einließ.9 Die beiden Autoren dieser Studie bemühten sich um das Erstellen einer Kriteriologie, die Licht auf das Problem werfen helfen sollte, wie diese Art Bilder funktionierten. Das Interesse für das Thema Karikatur, wie wir es gegenwärtig wahrnehmen, scheint hingegen besonders den Wirkungsabsichten oder Intentionen zu gehören. Die historische Forschung versucht politische Parteinahmen mit Hilfe von Bildern zu erkennen, es interessieren sie – beinahe ausschließlich – die Bildpraxis und Bildpragmatik.10 Dabei verliert sie andere – noch grundlegendere – Fragen aus dem Auge. Im Verfolgen einer spekulativen Thesenbildung über konstruierte historische Kontexte passieren auch Fehlinterpretationen von Quellen. Ereignisse in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit, wie der berühmte Karikaturenstreit 2006 oder der Anschlag auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015, befördern vermutlich das große Interesse an Karikaturen als Strategien visueller Kommunikation in politischen Kontexten. Walter Benjamin vermutete: »Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit.«11 Der Kunsthistoriker und Psychoanalytiker Ernst Kris und der Kunsthistoriker Ernst Gombrich arbeiteten zwischen 1934 und 1936/1937 an einem Projekt über die Karikatur. Sie hinterließen uns wichtige Ansätze zur theoretischen Reflexion über die ›belastenden Bildnisse‹, wie man Porträtkarikaturen ursprünglich nannte (»ritratti carrichi«).12 Sie setzten alles daran, ihre Erkenntnisse in Form eines Buches zu publizieren, versuchten es im deutschen Raum und dann in London am »Warburg Institute« unter der Leitung von Fritz Saxl, doch aus verschiedenen Gründen sah das Manuskript nie die Veröffentlichung. Im Folgenden möchten wir zum einen schildern, wie es zu diesem sogenannten Karikaturprojekt kam, und zum anderen, wie sich dessen Verlauf im Licht der Quellen, zu denen wir Zugang fanden, heute darstellt. Die Rekonstruktion des Projekt-Verlaufs lässt die Bedeutung erkennen, die das Thema Karikatur für jeden der beiden Wissenschaftler hatte und darüber hinaus als gleichsam heuristisches Prinzip bekam. Es wird auch notwendig werden, Fragen wie die der Intention der beiden Autoren bzw. jene nach dem Karikaturprojekt als politi9 Kris / Gombrich, Die Karikatur, MS unpubl. [1936] (vgl. Anm. 2). Vom Manuskript gibt es eine deutsche und eine englische Fassung. Zwei Publikationen, die daraus resultierten, sind in Anm. 113 angeführt. 10 Zum Begriff »Bildpraxis« vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, 6. Aufl., München 2004, S. 25 f.; zur »Bildpragmatik« Gernot Böhme, Theorie des Bildes, 2. Aufl., München 2004, S. 10 ff. 11 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, S. 578. 12 Zur genauen Herkunft des Begriffes nach den italienischen Quellen des 16. Jahrhunderts vgl. Unverfehrt, S. 345 ff.; Moser-Ernst, Die Karikatur, S. 397 f.

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schem Signal zweier nicht-arischer Wissenschaftler in einer äußerst prekären Zeitperiode zu behandeln. Wir haben für diesen Beitrag die Methode der Mikrogeschichte oder MikroHistorie13 gewählt, um mit Hilfe eines »verkleinerten Beobachtungsmaßstabes«14 zu zeigen, wie die beiden Projektbeteiligten zu den Ergebnissen ihrer Arbeit gelangten; das heißt, in einer zeitlich eng umgrenzten Dokumentation beleuchten wir inhaltliche Voraussetzungen, ihr Zusammentreffen und die gemeinsame Arbeit bis zum Weggang beider nach London 1936 bzw. 1938. Dabei werden die biographisch relevanten Abschnitte der zwei Kunsthistoriker im zeitlichen Verlauf nebeneinander gestellt, was die Ähnlichkeit ihrer persönlichen und intellektuellen Hintergründe hervortreten lässt. Die Mikro-Historie hilft aber auch verstehen, weshalb möglicherweise das Karikaturprojekt im ursprünglich intendierten Konzept nie abgeschlossen werden konnte. Die genaue Beschreibung, wie sich die Arbeitsbeziehung entwickelte, macht einerseits sichtbar, wie positiv bindend die persönliche Freundschaft sich auswirkte. Andererseits können wir mitverfolgen, wie zuerst deutlich die Prämissen und Vorstellungen Kris’ die Zusammenarbeit bestimmten; wie jedoch im weiteren Verlauf die Logik der Forschung Gombrichs diesen in den Zwiespalt brachte, dem Freund gedanklich nicht mehr folgen zu können und dennoch die – buchstäblich lebens- und existenzrettende – Freundschaft nicht zu verraten. Die theoretischen Differenzen, welche die beiden in Bezug auf das Karikaturprojekt scheiden sollten, ja, mehr und mehr in einen Gegensatz brachten, treten klar zu Tage. Und genau hier sei noch einmal die Forschungsfrage von oben angefügt, nämlich, ob Kris und Gombrich mit ihrem Projekt überhaupt ein ›politisches Zeichen‹ setzen wollten.

2.

Quellensituation

Von Ernst Kris (1900 – 1957), dem älteren der beiden Projektpartner, gibt es keine autobiographischen Schriften. Die Forschung stützt sich bei der Rekonstruktion biographischer Details hauptsächlich auf die Überlieferung seines Mitarbeiters und langjährigen Freundes Ernst H. Gombrich, der ihm in mehreren Artikeln Tribut zollte: zunächst mit einem berührenden Nachruf in der »Times« (1957),15 gefolgt von einem intensiven Reflektieren über Kris im Vorwort der posthum erschienenen italienischen Ausgabe von Kris’ »Psychoana13 Vgl. Carlo Ginzburg, Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 167 – 192. 14 Ebd., S. 181. 15 Vgl. Ernst H. Gombrich, Dr. Ernst Kris: A Mind of Distinction, in: The Times, 23. 3. 1957, S. 11.

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lytic Explorations in Art« (1967),16 das Gombrich später zu einem eigenen Aufsatz für seinen Band mit dem bezeichnenden Titel »Tributes. Interpreters of our cultural tradition« (1984)17 ausweiten sollte. Schließlich verfasste Ernst H. Gombrich den Eintrag über Ernst Kris im renommierten »New Dictionary of National Biography« (Oxford 2004).18 Es scheint wie gewollt, wenn dieser posthum veröffentlichte Lexikonartikel der letzte Text Gombrichs vor seinem Tod wurde. Auch in vielen anderen Schriften erinnerte sich Gombrich immer wieder seines Mentors und Freunds, wenn er ihn im Zusammenhang mit der eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema Karikatur oder im Ansprechen psychologischer oder psychoanalytischer Themen zur Kunst als vorbildgebend anführte. Im Allgemeinen jedoch erfolgt die Beschäftigung mit dem Werk Ernst Kris’ hauptsächlich von Seiten der Psychoanalyse, der modernen Kommunikationswissenschaften oder der Disziplin Geschichte.19 Ernst H. Gombrich (1909 – 2001) hinterließ mehrere Selbstzeugnisse, die, in Form von Interviews gesprochen, von ihm später überarbeitet und publiziert wurden. Sie gaben ihm den Raum, nicht nur über private Zusammenhänge, sondern vor allem über intellektuelle Hintergründe und Koinzidenzen zu reflektieren.20 Wir suchen für den vorliegenden Aufsatz, der sich eine kritische Analyse der Situation rund um das Karikaturprojekt zur Aufgabe stellt, vor allem das Zeugnis von Gombrichs Erinnerungen. Würden wir die inzwischen unge-

16 Vgl. ders., Prefazione, in: Ernst Kris, Ricerche psicoanalitiche sull’arte, Turin 1967, S. 13 – 26. 17 Vgl. ders., The Study of Art and the Study of Man. Reminiscences of Collaboration with Ernst Kris (1900 – 1957), in: ders. Tributes. Interpreters of our cultural tradition, Oxford 1984, S. 220 – 233. 18 Vgl. http://www.oxforddnb.com/index/101061516/Ernst-Kris [26. 12. 2012]; vgl. Joseph B. Trapp, E.H. Gombrich: A Bibliography, London 2000, S. 104, mit dem Vermerk »in press«. 19 Eine bibliographische Auswahl zur Sekundärliteratur über Ernst Kris: Samuel Ritvo / Lucille B. Ritvo, Ernst Kris 1900 – 1957. Twentieth-Century »Uomo Universale«, in: Franz Alexander / Samuel Eisenstein / Martin Grotjahn (Hg.), Psychoanalytic Pioneers, New York 1966, S. 484 – 500; Elke Mühlleitner, Biographisches Lexikon der Psychoanalyse, Tübingen 1992, S. 187 ff.; Ulrike Wendland, Kris, Ernst, in: dies., Biographisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, Teil 1, München 1999, S. 387 – 392; Krüger. Vgl. weiters die (unvollständige) Sekundärliteraturliste zu Ernst Kris in der online Bibliographie: http://ernstkris.wordpress.com/biographical-outline [17. 5. 2014]. 20 Vgl. Ernst H. Gombrich, An Autobiographical Sketch and Discussion, in: Rutgers Art Review 8 (1987), S. 123 – 141; ders., »Wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen …« – Wandlungen in der Kunstgeschichtsbetrachtung, in: Martina Sitt (Hg.), Kunsthistoriker in eigener Sache. Zehn autobiographische Skizzen, Berlin 1990, S. 63 – 100; ders., Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen. Ein Gespräch mit Didier Eribon [Ce que l’image nous dit, Paris 1991], Stuttgart 1993; ders., »Die Assimilation war sozusagen das natürliche Programm …«, in: Adi Wimmer (Hg.), Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat. Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil, Wien 1993, S. 25 – 29.

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mein angewachsene Sekundärliteratur zu Ernst Gombrich auf unser Thema hin auswerten, bedürfte es einer eigenen Abhandlung. Die Quellensituation zum Karikaturprojekt Kris / Gombrich im Besonderen stellt sich wie folgt dar : Es gibt publizierte (zwei Aufsätze und ein Büchlein)21 und nichtpublizierte Materialien – sowie das fertige Buchmanuskript (in deutscher und englischer Sprache), Textfragmente, Vorlesungsmanuskripte, Briefwechsel zwischen Kris und Gombrich sowie mit Fritz Saxl, dem damaligen Leiter des »Warburg Archive«. Die Materialien befinden sich in den jeweiligen Nachlässen, im Fall von Ernst Kris in der »Library of Congress« in Washington, im Fall von Gombrich im »Gombrich Estate«, welches dem »Warburg Archive« eingegliedert ist. Das Edieren des druckfertigen Karikaturmanuskripts (in Deutsch oder in Englisch) wäre für jeden Wissenschaftler eine Herausforderung, nach der er sich sehnt; Gombrich selbst untersagte es jedoch noch mit testamentarischer Verfügung. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, ist die Geschichte eines scheinbar gescheiterten Projektes für die Forschung von großem Interesse. Der US-Historiker Louis Rose ging als Erster dem Briefwechsel zwischen Kris und Gombrich nach.22 Er stützte sich auch auf Gespräche mit den in den USA lebenden Nachkommen von Ernst Kris und veröffentlichte Einiges in einem Aufsatz; ihm verdanken wir zudem die Einsicht in ein unpubliziertes Manuskript.23 Von kunsthistorischer Seite wurde das Karikaturprojekt Kris / Gombrich bislang noch nicht aufgearbeitet.

3.

Details. Genaue Rekonstruktion der Umstände bis zum Projekt »Karikatur«

Ernst Kris und Ernst Gombrich stammten beide aus der assimilierten jüdischen Mittelschicht Wiens, ihre Väter waren Rechtsanwälte. Beide erlebten das Ende der Donaumonarchie und die bittere Not des Ersten Weltkrieges und wählten das Studium der Kunstgeschichte aus ähnlichen Motiven: Sie waren von den Schriften bzw. der Lehre von Max Dvorˇ‚k angetan, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Auffassung vom Kunstwerk proklamierte.24 In der Zeit des Bildungsbürgertums, welches die Wichtigkeit der Kunst zur Vermittlung moralischer Werte in der goetheschen Tradition sah, wurde von Dvorˇ‚k die neue 21 Die Aufsätze werden in Abschnitt 5 zitiert. 22 Vgl. Louis Rose, Daumier in Vienna: Ernst Kris, E.H. Gombrich, and the Politics of Caricature, in: Visual Resources 22 (2007), S. 39 – 64. 23 Ders., Psychology, Art, and Antifascism: Ernst Kris, E. H. Gombrich, and the Caricature Project, MS Nov. 2007. Steffen Krüger (vgl. Anm. 5) bezieht sich in seiner Arbeit über Ernst Kris auf dieses Manuskript. 24 Vgl. Max Dvorˇ‚k, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, München 1924.

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und radikal anti-klassische Auffassung vom Kunstwerk als Ausdruck der Zeit eingeführt.25 Diese »Krise in der Auffassung von Bildern«26 – wie Gombrich diese Zeit und Ideen später bezeichnete –war die Geburtsstunde der expressionistischen Kunstbetrachtung. Schließlich waren Kris wie Gombrich Doktoranden bei Julius von Schlosser, einem Hauptvertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, geworden. Diese tradierte eine bestimmte methodische Ausrichtung, die unter anderem auch Ansätze aus der Psychologie übernommen hatte.27 Es ergab sich, dass Ernst Kris, dessen Gymnasialzeit vom Ersten Weltkrieg überschattet war, schon während der Schulzeit Vorlesungen an der Universität, und zwar bei Max Dvorˇ‚k, besuchte. Aus Mangel an Heizmaterial konnte der Schulunterricht nur nachmittags stattfinden, und so war die Universität eine willkommene, warme, Alternative.28 Nach dem Abitur studierte er von 1918 bis 1921 an der Universität Wien Kunstgeschichte, Geschichte, Archäologie sowie Psychologie.29 Er promovierte 1922 bei Julius von Schlosser mit einer Arbeit über die Naturabgüsse von Kleintieren und Insekten, wie sie der Goldschmied Wenzel Jamnitzer und der Emaillekünstler Bernard Palissy für ihre Kunst verwandten.30 Ihn beschäftigte vor allem der extreme Naturalismus dieser Objekte, eine Frage, die ihn in das Grenzgebiet zwischen Naturwissenschaft und Kunst (der Spätrenaissance) führte und damit über die damals üblichen kennerschaftlichen Analysen hinaus.31 Diese kunsthandwerklichen Artefakte erforderten ein anderes Werkzeug des Herangehens. Er reflektierte über das spannungsgeladene Wechselverhältnis zwischen dem »Überrealismus«32 der nach der Natur abgegossenen Tiere und den klassischen (und idealen) Schönheitskonzepten der Renaissance. Nach der Promotion arbeitete er als unbezahlte wissenschaftliche Hilfskraft am »Kunsthistorischen Museum«. Mit wissenschaftlichen Arbeiten, Vorträgen und Führungen verdiente er sich seinen Lebensunterhalt, bis er 1927 schließlich zum Kustos für die Sammlung für Plastik und Kunstgewerbe ernannt wurde.33 In 25 Ernst H. Gombrich, Wenn’s euch Ernst ist, S. 65 f.; ders., Study of Art, S. 221. 26 Ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 66. 27 Vgl. ders., Kunstwissenschaft und Psychologie vor fünfzig Jahren, in: Hermann Fillitz / Martina Pippal (Hg.), Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte. Wien, 4.–10. September 1983, Bd. 1: Sektion 1. Wien und die Entwicklung der kunsthistorischen Methode, Wien / Köln / Graz 1984, S. 99 – 104, hier S. 99. 28 Ders., Study of Art, S. 221. 29 Mühlleitner, S. 187; Wendland, Kris, S. 387; Gombrich, Study of Art, S. 221 f.; Rose, Daumier, S. 41 – 46. 30 Vgl. Ernst Kris, Die Verwendung des Naturabgusses bei Wenzel Jamnitzer und Bernard Palissy, Diss. Wien 1922. Erschienen unter dem Titel: Der Stil »Rustique«, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen Wien N.F. 1 (1926), S. 137 – 208. 31 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 222. 32 Vgl. Ernst Kris, Zum Werke des Perino da Vinci, in: Pantheon 3 (1929), S. 94 – 98, hier S. 96. 33 Vgl. Wendland, Kris, S. 387.

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dieser Zeit beschäftigte er sich in seinen Aufsätzen mit vernachlässigten Objekten des Museums wie Goldschmiedearbeiten, italienischer Steinschneidekunst, Elfenbeinschnitzereien, Münzen, spätmittelalterlichen Skulpturen und Kameen. Diese Tätigkeit machte ihn jedoch bereits vor seinem 30. Lebensjahr zu einem international gefragten Spezialisten auf diesen kunsthistorischen Randgebieten.34 So wurde er beispielsweise 1929 vom »Metropolitan Museum of Art« in New York als Berater für die Katalogisierung einer Kameen-Sammlung angeworben.35 Laut dem Kunsthistoriker Thomas Roeske, der die frühen kunsthistorischen Schriften von Ernst Kris analysiert hat, beschäftigte sich Kris ab 1923 vermehrt mit Themenbereichen, in deren Folge er psychologischen Interessen nachging.36 Durch die Methode der exakten Beschreibung der individuellen Merkmale der Porträtierten in einem Kameenbildnis versuchte er, die Dargestellte zu charakterisieren:37 Er schrieb etwa von »spitz zulaufenden Umrisslinien des Antlitzes, die von den Backenknochen jäh zum Kinn führen und das Hektisch-Spiritualisierte in den Zügen betonen«.38 Kris unternahm den Versuch, mittels der genauen Beschreibung physiognomischer Details auf die Persönlichkeit der Porträtierten zu schließen. Schon in den Anfangsjahren seiner Tätigkeit am Museum lernte Kris seine spätere Ehefrau Marianne Rie kennen. Die Tochter eines Kinderarztes und engen Freundes von Sigmund Freud war damals eine junge Ärztin, die gerade eine Psychoanalyse-Ausbildung in Berlin absolviert hatte. Angeblich hatte Freud Marianne geraten, ihren Verlobten zu einer Analyse zu schicken.39 Kris unterzog sich daraufhin von 1924 an einer Analyse bei Helene Deutsch.40 Über seine Frau machte er Bekanntschaft mit Sigmund Freud, der wiederum aufgrund eines gemeinsamen Interesses an Kameen und Kleinkunst Kris öfters im Museum besuchte und um dessen kunsthistorischen Rat fragte. Als Kris 1927 seine Analyse beendet hatte, nahm er neben seiner Tätigkeit als Museumskustos noch eine weitere auf – nämlich die eines Psychoanalytikers.41 Gombrich erinnerte sich an das enorme Arbeitspensum von Kris zu dieser Zeit, der frühmorgens und abends zu Hause Patienten empfing und tagsüber im Museum arbeitete.42 34 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 222. 35 Vgl. Wendland, Kris S. 388. 36 Vgl. Thomas Roeske, Traces of Psychology : The Art Historical Writings of Ernst Kris, in: American Imago 1 (2001), S. 463 – 477, hier S. 469. 37 Vgl. Ernst Kris, Vergessene Bildnisse der Erzherzogin Johanna, Prinzessin von Portugal, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 36 (1923 – 25), S. 163 – 166. 38 Ebd., S. 164. 39 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 224. Die Recherchen von Elke Mühlleitner ergaben, dass Freud selbst Kris zu einer Analyse geraten hatte. Mühlleitner, S. 187. 40 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 224; Mühlleitner, S. 187; Roeske, S. 464. 41 Vgl. Mühlleitner, S. 187; Wendland, Kris, S. 388. 42 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 226.

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Dessen ungeachtet publizierte Kris in dieser Zeit viele kunsthistorische Studien, obwohl ihn damals schon Zweifel am Fach plagten, wie wir aus der Überlieferung Gombrichs wissen. 1931 kam es zu einem ersten Treffen zwischen Ernst Gombrich und Ernst Kris.43 Der junge Student Gombrich war im Rahmen eines Seminars bei Julius von Schlosser von diesem zu Kris geschickt worden, um sich ein Objekt aus der Sammlung des »Kunsthistorischen Museums« anzusehen. Es handelte sich um eine mittelalterliche Pyxis, die Gombrich beschreiben sollte. Als Kris das Objekt Gombrich überreichte, fragte er ihn völlig unerwartet: »Warum wollen Sie das machen? Wir wissen ohnehin alles darüber. Das ist uninteressant.«44 Gombrich war zunächst völlig irritiert, und es sollte noch schlimmer kommen, denn bei einem weiteren Zusammentreffen setzte Kris nach: »Warum möchten Sie Kunstgeschichte studieren?« Als Gombrich sich von dieser Frage überrascht zeigte und keine Antwort darauf wusste, bohrte Kris noch weiter nach: »Möchten Sie ein Kunsthändler sein oder möchten Sie Expertisen für Sammler schreiben? Wenn nicht, warum sind Sie dann hier? Die Antwort, dass man Kunst mag, ist kein ausreichender Grund für ein Kunstgeschichtestudium. Wenn Sie es sich leisten können, so werden Sie ein Sammler. Aber wenn Ihr Interesse nur rein intellektueller Natur ist, so müssen Sie sich darüber im Klaren sein, dass Sie das falsche Fach gewählt haben. Wir wissen wirklich zu wenig über Kunst, um eine gültige Aussage darüber zu machen. Die besten unserer Kollegen flüchten sich in ein fortschrittlicheres Studiengebiet, in die Psychologie. Aber auch diese ist bis jetzt noch nicht weit genug entwickelt, um dem Kunsthistoriker zu helfen. Nehmen Sie meinen Rat an und wechseln Sie Ihr Fach.«45

Gombrich, beeindruckt von Kris‘ offenen Worten, nahm diesen Rat zwar nicht an, sagte jedoch später von sich, dass er sich möglicherweise wegen dieser Interventionen von Kris nie zu einem konventionellen Kunsthistoriker oder zu einem Spezialisten auf einem Gebiet entwickelt habe; also nie das wurde, was Kris zu dieser Zeit doch war. Gombrich wurde ein Kunsthistoriker, doch es begleitete ihn die Skepsis an der Disziplin und so entwickelte er die Fähigkeit des Hinterfragens. Die Suche nach den Wurzeln des Bildermachens, nach den Kriterien der Wahrnehmung von Bildern und Fragen des Bilddenkens wurden ein lebenslanges Interesse.46 Kris begann 1932 ein Medizinstudium – man könnte über das Motiv spekulieren; er brach es aber auf die Bitte Sigmund Freuds hin bald ab, denn Freud wollte (von 1933 an), dass Kris mit ihm gemeinsam die erste psychoanalytische 43 44 45 46

Ebd., S. 223. Ders., Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 31. Ders., Study of Art, S. 223 f. Vgl. ebd., S. 224.

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Zeitschrift »Imago« herausgebe.47 Kris hatte bereits ein Jahr vorher seine Neigung zur Psychoanalyse mit einem kunsthistorischen Thema verbunden. In einem Aufsatz von 1932 beschäftigte er sich mit dem Barockbildhauer Franz Xaver Messerschmidt, der gemäß Überlieferung als geisteskrank galt und eine große Anzahl physiognomischer Studien geschaffen hatte. Die Physiognomik war natürlich ein vorbelastetes Thema in einer Zeit, da die Rassenlehre aufkam. Ernst Kris hatte bei Messerschmidts naturalistischen Büsten, die in der Tradition der Physiognomik als Charakterköpfe interpretiert wurden, erkannt, dass nicht alle von ihnen Abbilder von frei erfundenen Charakteren waren, sondern dass einige auch in direktem Zusammenhang mit der Geisteskrankheit des Bildhauers standen.48 Hierher gehört auch die Alabaster-Büste »Der Speyer«, die als Selbstbildnis des Künstlers gedeutet wurde (Abb. 1).49 In dieser Arbeit steigern sich Leid und wohl auch Wut zu einem schmerzverzerrten Ausdruck. Die ganze Serie der Charakterköpfe ist von einer Expressivität bestimmt, die im Vergleich zum Gesamtœuvre des Künstlers, das die Stilmerkmale des Klassizismus trägt, sehr ungewöhnlich und auffallend ist. Die Mimik der Büsten scheint in eine Verzerrung getrieben, wie wir sie in Porträtkarikaturen finden; es handelt sich jedoch explizit nicht um Karikaturen, wie wir wissen. Die Übertreibungen und Verzerrungen sind nicht dazu angetan, das Charakteristische einer karikierten Person zu offenbaren. Der Gedanke liegt nahe, dass diese außergewöhnlichen Werke Kris’ weitere thematische Richtung veranlassten und lenkten. Der Aufsatz über Messerschmidt erschien zunächst im »Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien« (1932), fand dort aber kein entsprechendes Echo. Später publizierte er ihn nochmals in »Imago«, wo der Aufsatz auf breiteres Interesse stieß, sowie ein drittes Mal 1952.50 Nach der MesserschmidtStudie versuchte Kris vermehrt, kunsthistorische Problemstellungen mit psychoanalytischen Fragen zu verbinden; so auch in Bezug auf ein weiteres Thema, das aus seinen Messerschmidt-Studien erwachsen war und für das er ein eigenes Projekt startete: die künstlerische Biographieforschung. Ihm war aufgefallen, dass auch neuere Biographien von Künstlern durch Anekdoten und Legenden bestimmt waren, die sich zäh tradiert hatten. Diese förderten die Mythenbildung um das Genie Künstler, und das war Stil der Romantik. Diese Beobachtungen 47 Vgl. Wendland, Kris, S. 388. 48 Vgl. Gombrich, Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 32. 49 Vgl. Ernst Kris, Die Charakterköpfe des F.X. Messerschmidt. Versuch einer historischen und psychologischen Deutung, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien N.F. 6 (1932), S. 169 – 228, hier S. 189, 185. 50 Vgl. ders., Ein geisteskranker Bildhauer, in: Imago 19 (1933), S. 384 – 411, wiederabgedruckt in: ders., Psychoanalytic Explorations in Art, New York 1952. In deutscher Übersetzung: Die ästhetische Illusion, Frankfurt a. M. 1977.

Geschichte des Karikaturprojektes Kris / Gombrich

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Abb. 1: Franz Xaver Messerschmidt, »Der Speyer«, nach 1770, 42 cm, Alabaster, verschollen. Aus: Ernst Kris, Die Charakterköpfe des Franz Xaver Messerschmidt, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien N.F. 6 (1932), S. 169 – 228, hier S. 185 (Abb. 165).

begann er »mit Fragen der Bildmagie und der psychoanalytischen Auffassung der Biographik« zu verknüpfen.51 So wie im Fall Messerschmidts Geisteskrankheit zum ›Faktum‹ für Thesenbildung wurde, gab es unzählige Vorstellungen über andere Künstler, welche die Basis für Künstlerviten im Bann eines Mythos lieferten. Faszinierend dabei ist nur, dass gerade der Fall Messerschmidt für Kris die Herausforderung wurde. Auf der einen Seite gab es absurde Anekdoten wie zum Beispiel, dass der frühere Schafhirte Messerschmidt sein Modell für einen Kruzifixus tatsächlich gekreuzigt habe, um den Todeskampf so realistisch wie möglich künstlerisch darstellen zu können.52 Dieser Bericht wäre für 51 Vgl. Gombrich, Kunstwissenschaft und Psychologie, S. 102. Hervorhebung durch die Autorinnen. 52 Zum Schafhirten vgl. Kris, Charakterköpfe S. 188, 223; zum Gerücht über das gekreuzigte Modell vgl. Ernst H. Gombrich, Vorwort, in: Ernst Kris / Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt a. M. 1995, S. 9 – 15, hier S. 11.

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die Annahme der Geisteskrankheit ausreichend gewesen. Nicht alle Kunsthistoriker glaubten jedoch an die Überlieferung einer Geisteskrankheit Messerschmidts, so zum Beispiel Erika Tietze-Conrad in Wien.53 Das war für Kris eine Herausforderung, der er mit einem Beweis mit den Methoden der Psychoanalyse begegnen wollte. Er war grundsätzlich von Messerschmidts geistigem Handicap überzeugt, die psychoanalytische Überzeugung hatte ihn zu dieser – in unseren Augen gleichwohl hoch spekulativen – Thesenbildung geführt. Für diese Arbeit, die er im Rahmen seiner normalen Museumsarbeit nicht durchführen konnte, benötigte er einen Assistenten. Deshalb engagierte er 193254 Otto Kurz – ebenfalls einen Schüler von Julius von Schlosser.55 Mit Kurz zusammen gab er sein wohl bekanntestes Buch »Die Legende vom Künstler« (1934) heraus, das ihm auch einen endgültigen Platz in der Kunstgeschichte sicherte. 1933 reichte der neun Jahre jüngere Ernst Gombrich seine Dissertation bei Julius von Schlosser über »Giulio Romano als Architekt« ein. Giulio Romano, der Schöpfer des Palazzo del Te in Mantua, hatte ihn zu interessieren begonnen, da er an seinem Beispiel die Frage ausloten konnte, ob es denn außer einem Manierismus in der Malerei auch einen solchen in der Architektur gab. Unter den Vertretern der Wiener Schule der 1920er und 1930er Jahre war das Thema des Manierismus ein vieldiskutiertes, und Gombrich wollte mit seiner Arbeit daran anschließen. Ihm lag daran nachzuweisen, dass es auch einen Manierismus als stilistische Ausdrucksform in der Architektur gab.56 Die Doppelbegabung Giulio Romanos als Architekt und Maler kam ihm dabei mehr als entgegen, hatte dieser doch die Palastarchitektur des Palazzo del Te geplant und dazu auch gleich die Räume freskiert. Das Zuordnen der Fresken zum »manieristischen Stil« erfolgte ziemlich zu Beginn der kunsthistorischen Manierismus-Diskussion am Anfang des 20. Jahrhunderts. Gombrich konnte nachweisen, dass Giulio auch in seiner Architektur »capricci und Anspielungen, all den Witz, der den manieristischen Stil charakterisiert«,57 verwandt habe. Er deutete die Fakten aus den Quellen psychologisch.58 Das Augenmerk auf psy53 Dabei wird der Wahrheitsgehalt einer wichtigen Quelle über Messerschmidt angezweifelt. Vgl. Erika Tietze-Conrat, Österreichische Barockplastik, Wien 1920, S. 59. 54 Datierung nach Ulrike Wendland, Kurz, Otto, in: dies., Biographisches Handbuch, S. 399 – 404, hier S. 399. Gombrich gibt zu dieser Zusammenarbeit kein Datum an; vgl. Ernst H. Gombrich, The Exploration of Culture Contacts. The Services to Scholarship of Otto Kurz (1908 – 1975), in: ders., Tributes, S. 235 – 249, hier S. 238 f. 55 Vgl. ders., Study of Art, S. 239. 56 Vgl. ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 73. Vgl. ders., Zum Werke Giulio Romanos, I., in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien N.F. 8 (1934), S. 79 – 104; ders., Zum Werke Giulio Romanos, II., in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien N.F. 9 (1935), S. 121 – 150. 57 Ders., Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 28. 58 Vgl. ders., Kunstwissenschaft und Psychologie, S. 101.

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chologische Problemstellungen zu legen, war einerseits dem Einfluss seines Lehrers Julius von Schlosser geschuldet, andererseits lag es unbedingt in Gombrichs eigenem Interesse am Fach Psychologie. Denn anlässlich eines Aufenthalts in Berlin 1932 besuchte Gombrich Vorlesungen des Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler.59 In Wien waren es Lehrveranstaltungen des Historikers und Psychologen Karl Bühler, dessen Bücher über Ausdrucks- und Sprachtheorie Gombrich nachhaltig beeindruckten.60 Er hatte zudem an Experimenten teilgenommen, die Bühler im Rahmen von Seminaren an Studenten durchführen ließ. Man kann nicht genug betonen, wie hoch und aufgeladen die Differenzen zwischen den Lehren Karl Bühlers und Sigmund Freuds einzuschätzen sind. Die jeweiligen Anhänger der verschiedenen Theorien lagen sich regelrecht in den Haaren.61 Schon während seines Studiums hatte sich Gombrich mit der Ausdrucksform der Gebärden im Sinne Bühlers beschäftigt, sein Untersuchungsbeispiel waren die Handgebärden in der Handschrift des Sachsenspiegels.62 Bereits hier, in den verschiedenen Voraussetzungen der wissenschaftstheoretischen Ausrichtung von Kris und Gombrich, war vorgezeichnet, wie sich das gemeinsame Projekt »Karikatur« fast notwendig entwickeln musste. So sehr sie versuchten, die gestellte Forschungsaufgabe – das Begreifen des Wesens der Karikatur – in einem gemeinsamen Manuskript zu beantworten, so schwierig und schlussendlich unlösbar erwies sich dieses Unterfangen. 1933 war das Jahr der Machtergreifung durch Hitler in Deutschland. Die Situation für Menschen mit jüdischer Abstammung wurde auch in Österreich zunehmend problematisch. Für Otto Kurz, der schon einige Zeit davor – mitten im Hörsaal der Universität – von einem nationalsozialistischen Schlägertrupp angegriffen und verletzt worden war, wurde die Lage in Wien zu prekär. Ernst Kris, der die Zeichen der Zeit in aller Konsequenz erkannte, vermittelte Kurz an die »Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg«, die damals noch in Hamburg war.63 Auf Grund seines Interesses an Kulturgeschichte hatte Kris schon früh Kontakte zur »Warburg Bibliothek« aufgebaut. Er wurde unter anderem ein Mitautor für das große Unternehmen der »Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Nachleben der Antike« (Bd. 1: 1934), zu dem er 156 Kurzrezensionen beisteuerte.64 Kurz ging nach Hamburg, kehrte jedoch im selben Jahr 59 60 61 62 63 64

Vgl. ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 72. Vgl. ebd., S. 69; ders., Kunstwissenschaft und Psychologie, S. 102 f. Vgl. ebd., S. 102. Vgl. ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 69. Vgl. ders., Exploration of Culture Contacts, S. 239 f. Vgl. seine Rezensionen in: Kulturwissenschaftliche Bibliographie zum Nachleben der Antike, Bd. 1: Die Erscheinungen des Jahres 1931, hrsg. von der Bibliothek Warburg, Leipzig / Berlin 1934.

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noch einmal nach Wien zurück, um Prüfungen am Österreichischen Institut für Geschichtsforschung abzulegen. Es erwies sich jedoch, dass er nicht mehr in Wien bleiben konnte, und so ging er im Dezember 1933 nach London, wohin die »Warburg Bibliothek« mittlerweile übersiedelt worden war. Ernst Kris entwickelte vermutlich im nämlichen Jahr die Idee einer weiteren, für ihn noch wichtigeren Arbeit, die er unbedingt zusammen mit Otto Kurz verwirklichen wollte. Es war eine Untersuchung über das ›Bilderverbot‹ und die Magie von ›Effigies‹. Die Fragen um diese brisante Thematik ließen ihn nicht mehr los. Doch er musste einsehen, dass Kurz in erster Linie seine Verpflichtung gegenüber der »Warburg Bibliothek« zu erfüllen hatte, so dass Kurz dem Wunsch von Kris nicht mehr nachkommen konnte.65 Im ereignisreichen Jahr 1933 sollte es noch zu einer Ausstellung über den französischen Maler und Bildhauer Jean-Pierre Dantan (1800 – 1869) kommen, die Kris im Rahmen seiner Museumsarbeit organisiert hatte. Sie fand im Herbst in der Wiener Hofburg statt.66 Wer war dieser Dantan? Er war berühmt für seine Karikatur-Skulpturen der Bourgeoisie während der französischen Restauration. In den 1830er Jahren wurde in seinem Pariser Atelier eine ganze Sammlung von Karikatur-Skulpturen berühmter Zeitgenossen ausgestellt, die als das »Dantanorama« große Bekanntheit erlangten.67 Abb. 2 zeigt die Bronzeplastik Niccolý Paganinis, des berühmtesten Geigenvirtuosen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schon zu Lebzeiten wurde er wegen seiner brillanten Spielweise und seines exaltierten Auftretens als »Legende« verehrt. Dantan stellte ihn in einer kleinen Bronzestatuette als »une v¦ritable ¦tude ost¦ologique« dar – so der Kommentar eines zeitgenössischen Kritikers.68 Das Äußere des Violinisten ist beinahe skeletthaft, der Musiker posiert in der für ihn typischen Spielhaltung – ein Bein nach Vorne in leichter Schrittstellung, die Geige eng zwischen Kinn und Schulter geklemmt. Trotz ausgreifender Pose erinnert die magere Gestalt an eine Vanitas-Darstellung und ist vermutlich eine Anspielung auf die Vergänglichkeit des Ruhmes. Man muss nämlich wissen, dass Paganinis Stern zu dieser Zeit schon im Sinken begriffen war.69 Es war letztlich Dantans genaue Beobachtung des Charakteristischen und dessen Überzeichnung, modelliert in einer meisterhaften Bronze-

65 Vgl. Gombrich, Exploration of Culture Contacts, S. 240. 66 Vgl. Die Karikaturen des Dantan Paris – London, 1831 – 1839. Ausstellung im Corps de Logis der neuen Hofburg, hrsg. vom Kunsthistorischen Museum. Sammlung für Plastik und Kunstgewerbe, Wien 1933. 67 Vgl. Ernst Kris, Jean Pierre Dantan, in: Die Karikaturen des Dantan, S. 3 – 4. 68 F¦lix Andry, Charges et bustes de Dantan jeune, Paris 1863; zitiert nach Janet Seligman, Figures of Fun. The Caricature-Statuettes of Jean-Pierre Dantan, London 1957, S. 70. 69 Zur Biographie Paganinis vgl. Edward Neill, Niccolý Paganini, München / Leipzig 1990.

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Abb. 2: Jean-Pierre Dantan, Niccolý Paganini, 1832, 31 cm, Bronze. Aus: Janet Seligman, Figures of Fun. The Caricature-Statuettes of Jean-Pierre Dantan, London 1957, S. 39 (Abb. 8).

plastik, die endgültig den »Mythos Paganini« manifestierte,70 einen Mythos, der zu Lebzeiten Paganinis durch viele (Zeitungs-)Karikaturisten kommentiert wurde. Waren Messerschmidts Skulpturen eindeutig keine Porträtkarikaturen, so ist es Dantans Darstellung des Virtuosen Paganini sehr wohl. Die Überzeichnung des Charakteristischen/Persönlichen neigt sich vom Ausdruck des Erhabenen eindeutig weg zur komischen Kunst. Welche Intentionen könnten den Impuls für die Dantan-Ausstellung gegeben haben? War es psychologisches Interesse, oder war es die Neigung zu Ausdrucksstudien, erwachsen aus den Messerschmidt-Forschungen; oder war die Ausstellung Ausdruck einer politischen – in diesem Fall antifaschistischen – Haltung des Wissenschaftlers Ernst Kris, wie es der Historiker Louis Rose erkannt haben will?71 Die Mikro-Historie hilft uns, weniger spektakuläre Zusammenhänge, ja Zufälle zu erkennen. 1933 wurde der Kustos am »Kunsthistorischen Museum« in 70 Seligman, Figures of Fun, S. 67 ff. 71 Louis Rose über die Dantan-Ausstellung von Kris: »The Dantan exhibition seemed to recall the last years of the Habsburgs and the ultimate demise of that liberal royalism which defined Kris’s own political convictions and from which emerged his own anti-Anschluss and antifascist position.« Rose, Daumier, S. 52.

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Wien, Leo Planiscig, zum Direktor der Sammlung für Plastik und Kunstgewerbe ernannt und machte sich sogleich an eine zeitgemäße Neuaufstellung dieser Abteilung. Sein Spezialgebiet waren italienische Bronzen, der Assistent Ernst Kris nahm sich des Rests an, der Kleinplastiken, Gemmen und anderer Goldschmiedearbeiten. Beide Kunsthistoriker wurden sich bewusst, dass das Museum auch eine Bildungsaufgabe für die Masse wahrzunehmen habe; dazu eigneten sich Ausstellungen, die Kris zu organisieren begann. Dies könnte dazu beigetragen haben, dass der Zufallsfund mehrerer Kleinplastiken von Dantan auf einem Schloss in Niederösterreich in die Idee und Verwirklichung einer Dantan-Ausstellung mündete.72 Es war der glückliche Umstand eines Fundes. Ernst Kris hatte also nicht bewusst nach diesem Künstler gesucht. Obwohl Louis Rose wiederholt Zusammenhänge zwischen Dantan, dessen Wahl der Personen für seine Skulpturen-Darstellungen, dem Karikaturprojekt und der Intention Kris’ für die Dantan-Ausstellung konstruieren wollte, musste er in seinem unveröffentlichten Manuskript in einer Fußnote eingestehen: »Nothing is now known of the influence which the donor or his collection of sculpture might have had on Kris’s research into caricature.«73 Wiederum naheliegend ist jedoch, dass die Beschäftigung mit Karikatur-Skulpturen und noch dazu seine zunehmende Vorliebe für psychologisch-psychoanalytische Anliegen innerhalb kunstgeschichtlicher Problemstellungen in Kris die Gewissheit auslösten, sich mit zwei berühmten Schriften Freuds auseinandersetzen zu müssen, nämlich mit dessen Studien über den »Witz« (1905) und den »Humor« (1927).74 Gombrich reflektierte in seinen Erinnerungen an den Freund, dass dieser bereits zu Beginn der 1930er Jahre begonnen habe, über die Gründe der Instabilität oder des plötzlichen Umschlags der Komischen ins Tragische nachzudenken.75 Den unmittelbaren Anstoß können wir wiederum im Biographischen

72 Vgl. Kris, Jean Pierre Dantan, S. 3. 73 Rose, Psychology, Art, and Antifascism, S. 140, Anm. 160. 74 Vgl. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Frankfurt a. M. 1986; ders., Der Humor, in: ders. Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1999, S. 383 – 389. Die Hauptthese lautete, dass der Witz Beziehungen zum Infantilen und zum Traum unterhält. Beim Witz steht jedoch der Primärvorgang im Dienste des Ichs, während dieses im Traum keine Kontrolle auszuüben vermag. Werner Hofmann, Gestalt und Symbol, in: ders., Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979, S. 19 – 33, hier S. 31. Steffen Krüger sieht in den Arbeiten von Kris zu Messerschmidt sowie in den Ausführungen zu den Künstleranekdoten (»Die Legende vom Künstler«) eine Entwicklung hin zur DantanAusstellung. Bei dieser Ausstellung habe Kris über die »Psychologie des Komischen« reflektiert und so die »Analyse des sprichwörtlichen Schrittes vom Erhabenen zum Komischen« gemacht. Krüger vermutet bei Kris in der Dantan-Ausstellung den Beginn zu seinen späteren theoretischen Reflexionen über die Transformation der Karikatur hin zu bewusster Propaganda. Krüger, S. 201. 75 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 228. Dieses sogenannte Kipp-Phänomen des Komischen wird

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finden. Auch Kris war in Zeiten zunehmender Bedrohung und Gewalt aufgrund seines jüdischen Hintergrunds immer mehr unter Druck geraten. Als er einmal seinen Mitarbeitern im Büro einen regierungsfeindlichen Witz erzählte, löste er damit nicht Lachen aus, sondern erntete nur starre Blicke. Seine Einladung zur gemäßigten Aggression und Entlastung durch Witz hatte das Gegenteil bewirkt und nur zu allgemeiner Verlegenheit geführt.76 Trotz der täglichen Ungewissheit, ob seine Forschungsarbeiten angesichts des zunehmenden Antisemitismus – der auch oder gerade vor der Wissenschaft nicht Halt machte – in Wien überhaupt weiterhin möglich sein würden, arbeitete Kris fieberhaft an weiteren wissenschaftlichen Projekten. Allein konnte er die Arbeiten, die er sich vorgenommen hatte, nicht mehr bewältigen. Er benötigte einen weiteren Assistenten. Otto Kurz schlug Kris daraufhin seinen besten Freund aus Studienzeiten, Ernst Gombrich, vor.77

4.

Beginn der Zusammenarbeit und erste Forschungsfragen

Ab 1934 arbeitete Gombrich für Kris. Zuvor hatte er in Wien erfolglos nach Arbeit gesucht; er sollte später die Gründe reflektieren, die er nicht nur, aber natürlich auch mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung brachte.78 Somit kam ihm das Angebot von Ernst Kris, dessen Mitarbeiter zu werden, mehr als gelegen. Weder aus Primär- noch Sekundärquellen geht hervor, ob Gombrich als Assistent von Kris eine bezahlte Anstellung am Museum hatte, oder ob ihn Kris aus privaten Mitteln entlohnte. Denn diese zusätzlichen Forschungsprojekte gingen über den Rahmen von Kris’ Museumsarbeit hinaus. Zunächst betraute Kris Gombrich mit einer Forschungsfrage, die ihn schon in Zusammenhang mit der Messerschmidt-Studie beschäftigt hatte: mit dem Problem des menschlichen Gesichtsausdrucks und seiner Deutung. Wieder hatte er dazu ein Beispiel in der Kunstgeschichte entdeckt, das im Licht der spekulativen Theorien der Physiognomik im Laufe der Geschichte Anlass für untersucht von Wolfgang Iser, Das Komische – Ein Kipp-Phänomen, in: Wolfgang Preisendanz / Rainer Warning (Hg.), Das Komische, München 1976, S. 398 – 401. 76 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 228. Krüger, S. 201, zitiert zusätzlich aus einem Brief Ernst Kris’ vom 22. 11. 1933 an Fritz Saxl, den Leiter des Warburg Institutes, wonach Kris die Karikatur »mit viel neuer Einsicht« locken würde. 77 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 226. 78 Vgl. ders., Assimilation, S. 28 f. Darin bezeichnete er den Umstand, dass seine Bewerbung bei der Albertina abgelehnt wurde, als »schweren Schlag«, gab aber nicht allein dem Antisemitismus die Schuld: »[M]an weiß ja, wie Österreich ist, und die Sache kann auch persönliche oder politische Motive gehabt haben. Ich war nie Sozialdemokrat, ich war immer unpolitisch – schon deswegen, weil ich die damals üblichen Massenaufmärsche nicht ausstehen konnte.« Ebd., S. 29.

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verschiedene, oft abstruse Hypothesen geworden war. Konkret handelte es sich dabei um die Naumburger Stifterfiguren und ihren jeweils expressiven Gesichtsausdruck (Abb. 3). Ein Interpretieren der Mimik auf Grundlage der Lehre von der Physiognomik hatte eine Legende über die angeblich dramatische Beziehung der Stifter untereinander in die Welt gesetzt, es ging um Ermordung und Rache.79

Abb. 3: Graf Thimo und Graf Syzzo, um 1250/60, Naumburger Dom. Aus: Ernst H. Gombrich, Tributes. Interpreters of our cultural tradition, Oxford 1984, S. 227 (Abb. 76).80

Kris wollte der Legende mit einer Rekonstruktion der geistigen Haltung der mittelalterlichen Figuren begegnen und nachweisen, wie vielfältig der Gesichtsausdruck gedeutet werden könne. Nachdem er von Gombrichs Seminararbeit über die Ausdrucksgebärden und von dessen Vorlesungen bei Bühler wusste, gab er ihm die Aufgabe, psychologische Experimente durchzuführen. Gombrich suchte dafür freiwillige Probanden, zeigte ihnen Bilder von Gesichtern und fragte: »Was lesen Sie in diesem Gesicht?« Die Experimente erwiesen, wie verschieden ein und derselbe mimische Ausdruck ausgelegt werden konnte, wenn der jeweilige Aktionszusammenhang fehlte. Die Arbeit über die Naumburger Stifterfiguren wurde vorzeitig beendet, denn Kris ahnte, dass seine Tage in Wien gezählt seien, und er wollte sich hier doch 79 Vgl. auch für das Folgende ders., Study of Art, S. 226 f.; ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 74; ders., Kunstwissenschaft und Psychologie, S. 102. 80 Gombrich wählte für seinen Erinnerungsbeitrag zu Kris zwei Fotos der Naumburger Stifterfiguren, obwohl das Projekt nicht zu Ende geführt wurde.

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noch einem großen Thema widmen, das ihm weitaus wichtiger erschien, nämlich der Karikatur. Es interessierten ihn ihre Geschichte, ihr Wesen und ihre Psychologie. Für dieses kaum bewältigbare Thema hatte nun ausdrücklich die Messerschmidt-Studie den Anstoß geliefert, wie Gombrich sich erinnerte, denn diese hatte Kris in Bereiche geführt, die sich in der Nähe unbewusster Fantasien, aber auch des Komischen befanden. Hiermit hatte sich Freud in seiner Studie über den Witz auseinandergesetzt. Für Kris lag es nahe, sich dem Bereich des Unbewussten nicht über das Wort, sondern über den graphischen Witz anzunähern, und damit war er bei der Karikatur angelangt.81

5.

Das Projekt »Karikatur«

Das Jahr 193482 gilt uns als dasjenige, in dem Ernst Kris das Projekt über Karikatur initiierte, er konnte sich der Mithilfe von Ernst Gombrich gewiss sein. Die Arbeit war zunächst auf die Geschichte der Karikatur konzentriert, wobei Themen wie die Geschichte der Physiognomik, die Macht der Bildmagie und Freuds Theorie über das Komische behandelt werden sollten.83 Ziele des Karikaturprojektes waren: 1) Eine Ausstellung der Karikaturen von Honor¦ Daumier ; sie wurde 1936 verwirklicht. 2) Ein gemeinsames Buch über die Karikatur – dieses blieb jedoch unpubliziert. Gombrich beschrieb die damalige Zusammenarbeit mit dem Museumskustos Kris, der seit 1934 zugleich auch schon in die Therapeutenausbildung am Wiener Institut für Psychoanalyse84 eingebunden war : »Tagsüber habe ich Literatur über die Karikatur exzerpiert und hunderte von Zetteln geschrieben und vorbereitet. Wir trafen uns zwei- bis dreimal die Woche, meist nach dem Nachtmahl. Er war zwar todmüde, aber er hatte eine ungeheure Arbeitskraft.«85 Die gemeinsame Arbeit wurde von der Idee Ernst Kris’ bestimmt, »den Zusammenhang der Karikatur mit der Bildmagie aufzuzeigen.«86 Im August 1934 hielt Kris auf dem 13. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Luzern einen Vortrag über die »Psychologie der Karikatur«, das 81 Vgl. ders., Study of Art, S. 228. 82 Diese Jahreszahl nennt Gombrich ebd. Hier wird die Zusammenarbeit von 1934 bis 1935 angegeben, ein genaueres Datum finden wir in all seinen publizierten Selbstzeugnissen nicht. 83 Vgl. ders., Kunstwissenschaft und Psychologie, S. 102. 84 Vgl. Roeske, S. 464. 85 Gombrich, Wenn’s euch Ernst ist, S. 75. 86 Ebd.; Hervorhebung durch die Autorinnen.

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Manuskript erschien noch im selben Jahr in der Zeitschrift »Imago«.87 Freud deutete den Witz als Ventil menschlicher Aggressionen und als bewusste Methode, unbewusste Mechanismen auszulösen. Kris sah die Karikatur als eine Sonderform des Witzes und das satirische Bild als Werkzeug feindseliger Impulse an.88 Das Konzept, das er für den graphischen Witz entwickelte, war die »Regression im Dienste des Ich«.89 In dem aus dem Vortrag hervorgegangenen Aufsatz bestimmte er jedoch den Begriff »Karikatur« nicht näher. Er unterschied auch keine Typen, wie wir sie in Texten der späteren gemeinsamen Arbeit mit Gombrich sehr wohl finden. Eine Fußnote gibt den Hinweis auf die enge Zusammenarbeit mit Ernst Gombrich, der nun darauf drängte, eine Studie mit der genauen Rekonstruktion der Geschichte der Karikatur zu erarbeiten.90 Die Arbeitsbeziehung in der Wiener Zeit zwischen 1934 und 1935 erinnernd, gestand Gombrich, wie sehr ihn die Widersprüchlichkeiten, die sich ihm beim Zuhören von Kris’ wissenschaftlicher Auffassung einstellten, zunächst völlig verwirrten. Im Verlauf ihrer regelmäßigen Zusammenkünfte abends habe Kris gern über die Entwicklung des menschlichen Geistes und über den Stellenwert der Kunst in Zusammenhang mit der menschlichen Psyche gesprochen. Er neigte zu einer kühnen Theorie über das Wachstum der menschlichen Kultur; die Geschichte der Karikatur sei in dieser Evolution lediglich eine Facette.91 Traf ihn Gombrich anderntags wieder und fragte im Wiederholen der am Vorabend angesprochenen Thesen nach, sollte Kris jedoch oft antworten, alles sei doch lediglich Unsinn gewesen. Er bestand darauf zu zeigen, wie wenig wir über alle diese Dinge wüssten, und dass »alles viel viel komplizierter«92 sein müsse. Im Nachverfolgen der Mikrogeschichte, wie sich das Projekt »Karikatur« – in fast notwendiger Folge auf das Sinnieren über Bildgebrauch und Bildmagie auf der Seite von Ernst Kris – einstellte und von diesem als Programm entwickelt wurde, wird uns immer klarer, wie stark Gombrichs spätere Fragen und sein Drängen, der Ratio immer den Vortritt zu geben, durch seine Erlebnisse der Zusammenarbeit mit Kris evoziert und bestimmt wurden. Erst im Spiegel der Argumente Kris’ können die Erkenntnisse Gombrichs über die Karikatur entsprechend evaluiert werden. Die Erkenntniswege der beiden Freunde sollten nach dem Krieg immer unübersehbarer verschiedene Richtungen einschlagen. Doch bleiben wir zunächst bei der Erzählung der Ereignisse kurz vor Aus87 Vgl. Ernst Kris, Zur Psychologie der Karikatur, in: Imago 20 (1934), S. 450 – 466. 88 Vgl. Gombrich, Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 32, 37 f. 89 Vgl. Kris, Psychologie der Karikatur, S. 454. Eine Interpretation dieses Konzeptes lieferten Rose, Daumier, S. 40; Krüger, S. 211 – 214. 90 Vgl. Kris, Psychologie der Karikatur, S. 458, Anm. 8. 91 Vgl. Gombrich, Study of Art, S. 229; ders., Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 31. 92 Ders., Study of Art, S. 229.

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bruch des Krieges. Die fruchtbare Zusammenarbeit wurde jäh unterbrochen. Kris beobachtete mit Sorge die zunehmend problematischere Entwicklung des politischen Geschehens, und er war davon überzeugt, dass die Nazis auch in Österreich an die Macht kommen würden. Nachdem die Lebensumstände für Bürger mit nicht-arischer Abstammung immer unerträglicher geworden waren, riet er schließlich 1935 Gombrich, so bald wie möglich Wien zu verlassen. Kris selbst wollte noch so lange bleiben, wie Freud in der Stadt war – Kris harrte aus Loyalität tatsächlich noch bis 1938 in Wien aus.93 Im Herbst 1935 gelang es Kris, nun auch Gombrich an das »Warburg Institute« nach London zu vermitteln. Dieser reiste daraufhin im Dezember 1935 über Frankreich – mit einem kurzen Aufenthalt in Paris – nach London. Am »Warburg Institute« wurde er Assistent von Gertrud Bing und sogleich mit der Aufgabe betraut, den Nachlass von Aby Warburg zu bearbeiten; Bing wollte einen Band der »Gesammelten Schriften« von Warburg herausgeben. Dies sollte sich als eine sehr umfangreiche und schwierige Arbeit herausstellen, denn der Nachlass bestand aus Fotos und tausenden, nahezu unleserlichen Notizzetteln und Entwürfen eines psychisch nicht stabilen Mannes. Gombrich war somit mehr als eingedeckt mit Arbeit, und ein Finalisieren des Karikaturmanuskripts schien unter diesen Voraussetzungen kaum möglich. Doch Kris hatte bereits im Vorfeld verhandelt, das Buch über die Karikatur der »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg« zu widmen, und somit war Fritz Saxl sehr daran interessiert, das Buch über das »Warburg Institute« herauszugeben. Auf dieses Ziel hin erhielt Gombrich im Sommer 1936 von Saxl die Erlaubnis, noch einmal nach Wien zurückzukehren, um das Buch mit Kris fertigzustellen. Und so war der vorerst letzte Wien-Aufenthalt Gombrichs dem Buchmanuskript zur Karikatur gewidmet.94 In die Jahre 1935 und 1936 fielen die Vorarbeiten für die »Honor¦-DaumierAusstellung«. Bislang kann nicht hinlänglich aus den Quellen bewiesen werden, inwieweit Gombrich in diese Arbeiten eingebunden war.95 Die Ausstellung im Dezember 1936 schloss natürlich an das gemeinsame Thema der Grundlagen der Karikatur an, denn mit der Wahl des französischen Künstlers Honor¦ Daumier (1808 – 1879) konnten Karikaturen in ihrer interessantesten Ausprägung stu93 Vgl. ders., Assimilation, S. 29; ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 76; ders., Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 33. 94 Vgl. ebd., S. 34, 36 f., 39. 95 In seinen späteren Werken reflektierte Gombrich immer wieder intensiv über Daumier : z. B. ders., Art and Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London 1960, S. 330 – 358. Kurz nach Ende des Krieges erschien eine Rezension (The Burlington Magazine for Connoisseurs 89 (1947), S. 231 – 232) über ein Daumier-Buch: Honor¦ Daumier, 240 Lithographs. Selected and introduced by Wilhelm Wartmann. Translated by Harry C. Schnur, Zürich 1946.

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diert werden. Im November und Dezember 1936 wurden schließlich in der Albertina in Wien Zeichnungen, Aquarelle, Lithographien und Plastiken von Daumier einem großen Publikum gezeigt.96 Wie Steffen Krüger unter Berufung auf die Vorarbeiten von Louis Rose97 schließen zu können meint, setzte Kris mit der Ausstellung einen »mutigen politischen Kommentar«.98 Rose deutet die »Auswahl« antimilitaristischer Zeichnungen und Karikaturen als Anti-Anschluss-Haltung Kris’ und liest – im Licht des Vorabends der Katastrophe des Dritten Reichs – daraus eine fraglos politische Botschaft. Kris hatte für die Ausstellung natürlich Daumiers beste Blätter geholt, und diese hatten nun einmal zeitgenössische brisante Inhalte. Die Blätter befanden sich in Frankreich und den Niederlanden, von dort hatte sie Kris besorgt, »unter Einsatz seines Lebens«, wie Rose – wieder im Sinn einer kontextorientierten Geschichte99 – deutet. Der Kommunikationswissenschaftler Steffen Krüger hat diese These, wie erwähnt, noch weiter zum »mutigen politischen Kommentar«100 ausgebaut. Die Behauptung scheint zu allgemein. Lässt die Mikrohistorie eine solche Idee anklingen? Inwiefern hätten die politischen Inhalte von Daumiers Karikaturen überhaupt die zeitgenössischen Probleme berühren können? Unterliegen die konkreten Inhalte von Karikaturen nicht dem Verschwinden des Tagesgeschehens? Worum ging es Kris? War ihm nicht vielmehr an einer grundsätzlichen Forschungsfrage gelegen? Es interessierten ihn Konstanten der menschlichen Natur und des Menschen Lust am Komischen, selbst wenn das Thema an die Grenzen des Humanum stieß. Die Karikatur war das Studienobjekt, es ging ihm um das Wesen dieser Bildgattung. Sein Erkenntniseifer war größer als der Respekt vor einer realen politischen Gefahr. Es bleiben offene Fragen. Daumier arbeitete als Maler, Plastiker und Graphiker während einer der politisch instabilsten Perioden Frankreichs. Er erlebte die gesellschaftlichen Folgen der beiden Revolutionen von 1830 und 1848 und brachte die Ereignisse, die sozialen sowie die politischen Missstände mit Hilfe seiner satirischen Illustrationen ins Bild. Als Mitarbeiter der Zeitungen »La Caricature« bzw. »Le Charivari« führte er mit seinen politischen Karikaturen die Probleme vor und

96 Vgl. Albertina, Kulturbund, Honor¦ Daumier. Zeichnungen, Aquarelle, Lithographien, Kleinplastiken, Wien 1936. 97 Louis Roses Schlüsse aus dem Studium des Briefwechsels der beiden Forscherfreunde und aus Gesprächen mit Kris’ Sohn; vgl. Rose, Psychology, Art, and Antifascism. 98 Krüger, S. 291, mit Hinweis auf das unveröffentlichte Manuskript von Louis Rose, 2007, S. 167. 99 Genauere Ausführungen zur Organisation der Ausstellung und zu Kris’ prekärer persönlicher Situation vgl. Rose, Daumier, S. 53; ders., Psychology, Art, and Antifascism, S. 165 f. 100 Vgl. Krüger, S. 291. Krüger stützt sich in seinen Ausführungen, wie schon unter Anm. 23 erwähnt, hauptsächlich auf das unpublizierte Manuskript von Louis Rose.

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verlieh ihnen damit ein adäquates Gesicht.101 Der »Chronist des modernen Lebens, der ›Com¦die humaine‹ des Großstadtmenschen […], der trotz seines Pessimismus’ über die menschliche Dummheit, […] das Kleinbürgertum, zu dem er selbst gehörte, auch verständnisvoll aufs Korn nahm«,102 gab mit seinen Karikaturen einen politischen Kommentar ab.103 Kris vermerkte im Vorwort des Ausstellungskataloges: »Die Travestien antiker Szenen, in denen der arme Bürger, der Alltagsmensch als Held des Altertums agiert, wobei der komische Kontrast bis an das Schreckhafte reicht oder öfters bis an das Rührende, sind ebenso lebendig wie die politischen Blätter der Spätzeit. Es sind die Blätter, in denen aus einer tiefen Friedenssehnsucht das Rüstungsfieber eines kranken Europa vor dem Krieg von 1870 geschildert wird. Es sind die Blätter, in denen Leid und Weh, das der Krieg von 1870 über Frankreich brachte, mit ergreifendem Pathos dargestellt sind; sie haben seit mehr als zwei Menschenaltern nichts von ihrer Wirkungskraft verloren und manche von ihnen mögen heute wirksamer sein als damals.«104

Im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg und angesichts der Stimmung und der Verrohung der Menschen seiner eigenen Gegenwart konnte Kris mit Recht von einer ungebrochenen Wirkkraft der daumierschen Karikaturen sprechen. Dies klingt im letzten Satz an. Aber auch nicht mehr. Es sind Beobachtungen des Menschlichen, Allzumenschlichen. Aber es sind keine politischen Kommentare. Kris wies der Gattung der Karikatur ein enormes Potential zu, wenn er am Ende bemerkte: »Die Karikatur entlarvt; sie sucht das Wesen, sie macht uns lachen, aber bei Daumier lehrt sie uns den Menschen kennen.«105 Nicht zufällig dürfte also auch die Auswahl der Bilder gewesen sein, wie beispielsweise die nahezu zur Gänze gezeigte Blattfolge »Die guten Österreicher«, die sich thematisch mit dem Krieg Preußen gegen Österreich von 1866 auseinandersetzte. Österreich verlor als deutlich unterlegener Gegner diesen Krieg. Die Preußen verwandten bei der Schlacht von Königgrätz erstmals Zündnadelgewehre, die besser und effizienter töteten, als es die Bajonette der Österreicher taten.106 Daumier lässt den Erfinder des Gewehres, Nikolaus Dreyse, das Schlachtfeld mit all den Toten »mephistophelisch grinsend«107 überblicken (Abb. 4). 101 Vgl. Hans-Martin Kaulbach, Honor¦ Daumier und die Revolution 1848, in: Grünewald (Hg.), S. 81 – 104, hier S. 85. 102 Ebd., S. 88. 103 Vgl. ebd. 104 Ernst Kris, Honor¦ Daumier, in: Albertina, Daumier, S. 7 – 9, hier S. 8. 105 Ebd., S. 9. 106 Vgl. dazu das online Werkverzeichnis zu Daumier : http://daumier-register.org/werkview. php?key=3535 [26. 5. 2014]. Zur christlichen Metaphorik dieses Bildes vgl. Andr¦ Stoll, Kat.-Nr. VIII. 6, in: ders. (Hg.), Die Rückkehr der Barbaren. Europäer und »Wilde« in der Karikatur Honor¦ Daumiers. Ausst.-Kat., Hamburg 1985, S. 392 – 393, hier S. 392. 107 Reinhart Koselleck, Tod und Töten bei Daumier, in: Stoll (Hg.), S. 53 – 62, hier S. 59.

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Abb. 4: Honor¦ Daumier, »Der Traum des Erfinders des Zündnadelgewehrs, Allerheiligen« (»Le rÞve de l’inventeur du fusil — aiguilles, le jour de la Toussaint«), 1866, Lithographie, Bibliotheque Nationale Paris. Aus: Albertina, Kulturbund, Honor¦ Daumier. Zeichnungen, Aquarelle, Lithographien, Kleinplastiken, Wien 1936, Kat. Nr. 113 (Abb. 13).108

Eine letzte Frage, die sich in Zusammenhang mit der Daumier-Ausstellung erhebt, ist, inwieweit Erkenntnisse aus dieser Ausstellung in das Karikatur-Buch einflossen. Darüber lassen sich vorerst keine genaueren Angaben machen. Gombrich weist darauf hin, Kris habe die Ausstellung organisiert, »to help us with our researches«.109 Und schließlich: »1937 war das deutsche Manuskript vollkommen fertiggestellt, 250 Seiten mit Fußnoten.«110 Im Glauben, die Arbeit würde durch die »Warburg Bibliothek« publiziert, stellte Ernst Kris am 25. Mai 1937 im Rahmen eines Vortrages am »Warburg Institute« in London erste Ergebnisse des Forschungsprojektes vor.111 Das zunächst stark bekundete Interesse von Fritz Saxl schlug ins Gegenteil um, so dass an eine Drucklegung nicht mehr zu denken war : 108 Aus der Serie »Die guten Österreicher« (»Ces bons Autrichiens«) – einer Folge von 30 Lithographien, erschienen 1859 im Charivari, gezeigt auf der Ausstellung in Wien 1936. 109 Gombrich, Study of Art, S. 230. 110 Ders., Wenn’s euch Ernst ist, S. 95 f., Anm. 43. 111 Vgl. Ernst Kris / Ernst Gombrich, The Principles of Caricature, in: The British Journal of Medical Psychology 17 (1938), S. 319 – 342, hier S. 319, Anm. 1.

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»Saxl war ein vielbeschäftigter und ein sehr skeptischer Mann. Und er hat das Buch nicht wirklich selbst gelesen. Er hat es einem Kollegen gegeben, der der Psychoanalyse feindselig gegenüberstand. Deshalb ist dieses Buch nie erschienen. Wir veröffentlichten lediglich einen Aufsatz. Aber dieses dicke Buch hat nie das Licht der Welt erblickt.«112

Wer war dieser Kollege? Und stand hinter der Ablehnung eine konkrete Absicht? Es muss ein schwerer Schlag für die beiden Wissenschaftler gewesen sein, so kurz vor dem Ziel ihre mühevolle Arbeit nicht vollenden zu können. Von den Ergebnissen des Karikaturmanuskripts schafften es lediglich zwei Abschnitte zur Publikation.113 Es war zum einen der Aufsatz »The Principles of Caricature« (1938) im »British Journal of Medical Psychology« – also vorderhand nicht für einen kunst- bzw. kulturhistorischen Leserkreis bestimmt. Zum ersten Mal wurde eine Eingrenzung des Begriffes »Karikatur« vorgenommen, indem das Hauptaugenmerk auf die Porträtkarikatur gelegt wurde. 1940 erschien zum anderen »Caricature« im Penguin Verlag, ein eher populär gestaltetes Büchlein. Gombrich hatte dieses Werk 1938 allein verfasst, denn aufgrund der erschwerten Kommunikation zwischen London und Wien konnte er Kris den Text vor der Drucklegung nicht mehr zeigen. Als Zweitverfasser gab er dennoch Ernst Kris an – er selbst schrieb sich erstmals E. H. Gombrich. So blieb das ursprüngliche Manuskript zur Karikatur tatsächlich unpubliziert. Nach dem Krieg gab es noch mehrere Versuche einer Veröffentlichung, die jedoch allesamt scheiterten.114 Kris emigrierte 1938 zunächst nach London, und dort war seine Arbeit als Berater der BBC, Nazi-Propaganda zu analysieren. Nach zwei Jahren ging er in die USA, wo er sich im Auftrag der Regierung mit Propagandaforschung beschäftigte. Seine analytischen Fähigkeiten machten ihn zum begehrten Sachverständigen. In der Folge wurde er Professor an der »New School of Social Research« in New York, später Professor in Harvard und in Yale.115 In den USA machte er seine zweite Profession als Psychoanalytiker zum Hauptberuf und wandte sich von der Kunstgeschichte ab. Gombrich, der während des Krieges beim Abhördienst der BBC arbeitete,116 112 Gombrich, Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen, S. 37. 113 Kris / Gombrich, Principles, S. 319; Ernst H. Gombrich / Ernst Kris, Caricature, Harmondsworth 1940. 114 Wie aus einer ersten Sichtung des Briefwechsels Gombrich / Kris hervorging, war vor allem Gombrich an einer Publikation nach dem Krieg weiterhin interessiert. Die Bearbeitung des Briefwechsels zum Karikatur-Projekt wird Gegenstand weiterer Forschungen sein. 115 Mühlleitner, S. 188; Gombrich, Study of Art, S. 230 f.; Wendland, Kris, S. 388. 116 Über seine Zeit bei der BBC schrieb er in: Ernst H. Gombrich, Mythos und Wirklichkeit in den deutschen Rundfunksendungen der Kriegszeit, in: ders., Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften, München 1991, S. 144 – 173.

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später dann ans »Warburg Institute« zurückkehrte und seine kunsthistorischen Studien fortsetzte, kam vom Thema der Karikatur bis zum Ende seiner Publikationstätigkeit und damit bis zu seinem Lebensende nicht los.

6.

Vorläufige Zusammenfassung

Die Frage, ob Kris und Gombrich mit dem gemeinsamen, letztlich jedoch gescheiterten Karikaturprojekt nun eine politische Mission verfolgten, muss für beide Protagonisten individuell beantwortet werden. Unseres Erachtens wollte Kris kein politisches Statement setzen. Das Thema der Karikatur war für ihn die Brücke, sich mit Hilfe der damals neuen Methoden der Psychoanalyse an neue Fragen über das Bild zu wagen. Ihn interessierten Wirkung und Instrumentalisierung des Bildes, am besonderen Beispiel der Karikatur. Sein späterer Wechsel zur Propagandaforschung könnte hier seinen Ausgang genommen haben. Für Gombrich wurde das Karikaturprojekt zur wichtigen Grundlage für seine späteren kunstwissenschaftlichen Fragen. Einige Thesen, gewonnen aus dem Karikaturprojekt, modifizierte und revidierte er in nachfolgenden Werken immer wieder.117 Das politische Statement spielte für Gombrich vermutlich eine marginale Rolle, wenn es ihn überhaupt interessierte. Seine Intentionen lagen vielmehr in der Grundlagenforschung über das Bildermachen. Seine Überzeugung von einem Fortschritt in der Kunst der bildhaften Beschreibung ließ ihn eindringliche Überlegungen zu einem »Karikaturstil« anstellen. Den Methoden der Psychoanalyse118 begegnete er zeitlebens mit Skepsis. Ernst H. Gombrich, wie er sich in Abgrenzung zum anderen Ernst – Ernst Kris – dann nannte,119 sagte gegen Ende seines Lebens, die Fragen und Kriterien, die er in seiner Forschung an der Karikatur erarbeitet hätte, könnten als eine Art »Paradigma«120 für den wissenschaftlichen Ansatz gelten, den er im Sinn habe.

117 Eine Untersuchung seiner publizierten Schriften ergab, dass er sich in fast 40 Texten mehr oder weniger intensiv mit der Karikatur oder dem Karikaturprojekt befasste. 118 Über die kritische Beziehung Gombrichs zur Psychoanalyse vgl. Rachel Dedman, The importance of being Ernst: A reassessment of E.H. Gombrich’s relationship with psychoanalysis, in: Journal of Art Historiography 7 (2012); http://arthistoriography.files.word press.com/2012/12/dedman.pdf [26. 5. 2014]. 119 Sein Kommentar zu dieser Namenserweiterung: »zweimal Ernst«, das ist »zu ernsthaft« für ein Büchlein über die Karikatur. 120 Gombrich bemerkte in einem seiner letzten Bücher : »Having been interested in this last genre [caricature] since my student days, I should like to present it as a paradigm of the approach I have in mind.« Ernst H. Gombrich, The Uses of Images. Studies in the Social Function of Art and Visual Communication, London 2000, S. 8.

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Unsere Darlegungen könnten damit auch als ein kritischer Beitrag zur Methode, die Vergangenheit zu deuten, verstanden werden.

Die Autorinnen und Autoren

Birgit Emich, Dr. phil., Professorin für Neuere Geschichte an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Stefan Ehrenpreis, Dr. phil., Professor für Geschichte der Neuzeit an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Ellinor Forster, Dr. phil., Inhaberin einer Elise-Richter-Stelle des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) an der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck. Niels Grüne, Dr. phil., Assistent für Geschichte der Neuzeit an der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck. Jennifer Hein, M.A., Kollegiatin des Doktoratskollegs »Figuration ›Gegenkultur‹« des Forschungsschwerpunkts »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Philipp Hubmann, M.A., Kollegiat des Doktoratskollegs »Arts & Politics. Visuelle Rhetorik und die Sprachen des Politischen in historischer Perspektive« des Forschungsschwerpunkts »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Martin Knauer, Dr. phil., Privatdozent für Neuere Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ursula Marinelli, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kunstgeschichte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Silke Meyer, Dr. phil., Assistenzprofessorin für Europäische Ethnologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.

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Die Autorinnen und Autoren

Sybille Moser-Ernst, Dr. phil., außerordentliche Professorin für Kunstgeschichte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Claus Oberhauser, Dr. phil., Projektleiter, Kernfach Geschichte der Neuzeit an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; Mitarbeiter am »Zentrum für Fachdidaktik – Geschichte und Politische Bildung« an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Martina Sauer, Dr. phil., Kunstwissenschaftlerin, Independent Researcher, Bühl/ Baden. Katrin Sterba, M.A., Kollegiatin des Doktoratskollegs »Arts & Politics. Visuelle Rhetorik und die Sprachen des Politischen in historischer Perspektive« des Forschungsschwerpunkts »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.