Auftritte: Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien [1. Aufl.] 9783839423929

Ob Theaterbühne oder Internet, ob Parlament oder Castingshow: Auftritte sind kulturelle Praktiken - sie ermöglichen Vorg

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Auftritte: Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien [1. Aufl.]
 9783839423929

Table of contents :
Inhalt
Einleitung.K(l)eine Theorie des Auftritts
Wundertheater.Der Auftritt des Theaters
Royal Re-entries.Zum Auftritt in der griechischen Tragödie
Attraction universelle.Opernauftritte zwischen Ancien Régime und Aufklärung
Auftritte der Sonne.Zur Genealogie des Scheinwerfens und Stimmungsmachens
Sinnliches Aufsteigen.Zur Vertikalität des Auftritts auf dem Theater
Die verfehlte Anrufung.Der verstolperte Auftritt in Peter Steins Torquato Tasso
Phänomenologie der Rampensau
Das Loch im Vorhang.Zu den Auftritten des Publikums
Auftritte von Kindern.Vorführung, Inszenierung, Teilhabe
Der Auftritt der Dinge.Zu epistemischen und relationalen Objektbegriffen im Museum
Im Off.Dhorasoo und Rosencrantz und Guildenstern
Suspensionen des Auftritts.Lulu – Pollesch
Autorinnen und Autoren

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Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte

Theater | Band 58

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.)

Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bild aus der Produktion »My heart will go on« (Fotograf: Joachim Dette), mit freundlicher Genehmigung des Theaterhauses Jena Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2392-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2392-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung K(l)eine Theorie des Auftritts

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt | 7-16 Wundertheater Der Auftritt des Theaters

Gabriele Brandstetter | 17-32 Royal Re-entries Zum Auftritt in der griechischen Tragödie

Christopher Wild | 33-61 Attraction universelle Opernauftritte zwischen Ancien Régime und Aufklärung

Annette Kappeler | 63-83 Auftritte der Sonne Zur Genealogie des Scheinwerfens und Stimmungsmachens

Ulf Otto | 85-104 Sinnliches Aufsteigen Zur Vertikalität des Auftritts auf dem Theater

Juliane Vogel | 105-119 Die verfehlte Anrufung Der verstolperte Auftritt in Peter Steins Torquato Tasso

Gerald Siegmund | 121-139 Phänomenologie der Rampensau

Jens Roselt | 141-156 Das Loch im Vorhang Zu den Auftritten des Publikums

Annemarie Matzke | 157-169

Auftritte von Kindern Vorführung, Inszenierung, Teilhabe

Geesche Wartemann | 171-182 Der Auftritt der Dinge Zu epistemischen und relationalen Objektbegriffen im Museum

Stefan Krankenhagen | 183-197 Im Off Dhorasoo und Rosencrantz und Guildenstern

Stefanie Diekmann | 199-212 Suspensionen des Auftritts Lulu – Pollesch

Bettine Menke | 213-244 Autorinnen und Autoren | 245-249

Einleitung K(l)eine Theorie des Auftritts* A NNEMARIE M ATZKE , U LF O TTO , J ENS R OSELT

»Die ›Botschaft‹ der Vertreter des Harlekin-Prinzips bestand häufig allein in ihrem Auftreten«,1 hat Rudolf Münz in Hinblick auf jenes andere Theater festgestellt, das abseits der theatralen Architekturen und Literaturen in großem Maß dem Vergessen anheim gestellt wurde. – Als Vertreter eines Prinzips hat der Harlekin folglich keine Botschaft, die sich in Medien verpacken lässt oder aber als Medium selbst entpuppt. Die Botschaft des Harlekins ist sein Auftritt, besser gesagt sein Auftreten, d.h. eine theatrale Praxis, die ihren singulären Manifestationen vorhergeht: ein kulturell und historisch kontingenter Komplex aus ineinandergreifenden und dennoch potentiell widersprüchlichen Praktiken, d.h. inkorporierter, unreflektierter und variabler Verfahren des Agierens, Rezipierens und Organisierens. Diese Überlegung aber ließe sich auf Theater überhaupt, grundsätzlicher noch auf Theatralität übertragen: Nicht das Werk – ob nun als Drama, Inszenierung oder Aufführung konzipiert – stände dann als maßgebliche Einheit im Zentrum des Interesses der Analyse und Historiografie solch einer praxeologischen Perspektive auf Theatralität, sondern der Auftritt, d.h. die basale pragmatische Differenzierung von Akteuren und Publikum, verstanden als Keimzelle von Theater, die es auf ihre kulturellen und medialen Bedingtheiten zu untersuchen gälte.

*

Die folgenden Ausführungen zum Auftrittsbegriff stellen eine gekürzte Fassung der Überlegungen dar, die Ulf Otto im Rahmen seiner Dissertation Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld: transcript 2013 entwickelt hat.

1

Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Zur Historiografie von Theatralitätsgefügen, Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf 1998, S. 62.

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Im Paradox über den Schauspieler berichtet Diderot von einer Debütantin, die im kleinen Kreise im Salon auftritt, dort großes Talent zugesprochen bekommt, dann aber auf der Bühne kläglich versagt: »Sie tritt auf und wird ausgepfiffen [...]. Hat sie etwa von gestern auf heute ihre Seele, ihre Empfindsamkeit, ihre Innerlichkeit verloren? Nein – aber in ihrer Wohnung standen Sie mit ihr auf gleichem Boden; [...] nichts forderte eine Steigerung. Auf den Brettern war das alles anders: dort war eine andere Gestalt nötig, denn alle Dinge waren größer geworden.«2

An diesen misslungenen Auftritt der Debütantin in der Comédie-Française aber lassen sich drei Beobachtungen anschließen, die zu einer heuristischen Aspektierung dessen führen, was einen Auftritt ausmacht. Erstens: Das Scheitern des Auftritts drückt sich in dem Verhältnis von Akteuren und Publikum aus, es ist nicht auf fehlendes Talent zurückzuführen, sondern ist dem falschen Umgang mit der Bühnensituation geschuldet. Zweitens: Hätte der Auftritt Erfolg gehabt, hätte er eine Steigerung bewirkt und eine ›andere Gestalt‹ hervorgebracht, die der Größe der Dinge auf der Bühne gewachsen gewesen wäre. Drittens: Seine Bedeutung erhält der Auftritt durch Diderots Versuch, etwas zu veranschaulichen, d.h. durch die nachträgliche diskursive und mediale Verbreitung, die ihm überhaupt erst eine eindeutige und sinnvolle Gestalt gibt. Was mit diesen drei Beobachtungen hervortritt, lässt sich auch als ostentative, figurative und zirkulative Dimension des Auftritts fassen und kann dazu dienen, Differenzkriterien und Analyseaspekte abzuleiten. Denn Auftritte lassen sich entsprechend danach einteilen und beschreiben, wie sie erstens zwischen Akteuren und Publikum unterscheiden, was für Gestalten sie zweitens hervorbringen und auf welche Art und Weise drittens ihre Bedeutung in Umlauf gebracht wird. Diese drei Aspekte sollen im Folgenden näher ausgeführt werden.

O STENTATION Ein Auftritt setzt weder Darsteller noch Zuschauerinnen voraus, sondern bringt diese erst hervor, indem er zwischen ihnen unterscheidet.3 Dadurch erregt ein Auftritt Aufmerksamkeit. Die Hervorhebung macht den Akteur und in der Bün-

2

Diderot, Denis: Ästhetische Schriften, Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1967, S. 524f.

3

Wo sich geschlechtsneutrale Formulierungen oder Beidnennung der Geschlechter ausschließen, alterniert die Publikation zwischem generischem Femin und Maskulin.

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delung der Aufmerksamkeit wird das Publikum. Die Schaustellung trennt und verbindet zugleich. Akteure und Publikum sind durch den gegenseitigen Bezug aneinander gebunden und voneinander abhängig. Erst im Rückbezug und in der Rückkopplung zwischen beiden Seiten der Differenz wird ein Auftritt möglich: ein paradoxes Phänomen, das in einem Atemzug Teilnahme verlangt und unterbindet. Denn der Auftritt geht aus einer Versammlung hervor, die durch die Trennung von Handelnden und Schauenden und durch das implizite Wissen um diese Trennung erzeugt wird, und ist folglich nichts anderes als jene Operation, die ein Interaktionssystem in ein Schausystem verwandelt. Da aber die kollektive Aufmerksamkeit, die ein Auftritt verlangt bzw. hervorruft, die Tätigkeiten und das Tagwerk der Einzelnen unterbricht und verdrängt, grenzt er sich als außerordentlicher und außergewöhnlicher Zeitraum von Alltag und Umwelt ab. Ein Auftritt ist Ausnahmezustand und Gesellungsereignis – grundsätzlich etwas, das im und aus dem Alltag heraus mit fließenden Grenzen entstehen kann und damit potentiell instabil ist. Die ungeteilte Aufmerksamkeit ist unwahrscheinlich und Auftritte sind grundsätzlich prekär und instabil. Es bedarf eines nicht unerheblichen Aufwands, sie zustande zu bringen, und eines noch größeren, sie aufrechtzuerhalten. Im gesellschaftlichen Kontext findet ein Auftritt daher immer auch im Rahmen eines sozial verankerten, institutionell abgesicherten und technisch bedingten Verfahrens statt, das diese Unwahrscheinlichkeit der Aufmerksamkeit verringert. Denn ein Auftritt kann sich nur so viel Dezenz leisten, wie ihm durch seine Rahmung ohnehin schon an Aufmerksamkeit zukommt: Durch die Wiederholung an festgelegten Orten, in bestimmten zeitlichen Abständen und nach klar nachvollziehbaren Mustern, die sich in der Wiederholung selbst ähnlich bleiben, wird der Auftritt im Rahmen von institutionalisierten Ausnahmen installiert und schafft habitualisierte und tradierbare Praktiken des Darstellens und Zuschauens. Das aber hat zur Folge, dass mit der Differenzierung von Agierenden und Publikum immer auch eine Diskrimierung zwischen denen einhergeht, die schauen müssen/dürfen, und denen, die handeln dürfen/müssen. Die Einen werden zugunsten der Anderen erhöht – und sei es nur, um im Verlauf der Vorstellung erniedrigt zu werden.

F IGURATION Aus einem Auftritt geht eine Figur hervor, weil er die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was auftritt: eine Gestalt, die sich von ihrer Umgebung abhebt, eine Wirkung erzeugen soll und sich im Wechselspiel von Aktion und Rezeption konstituiert – auch wenn ihr Erscheinen gefährdet, die Wirkung fraglich und die Be-

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deutung verhandelbar ist. Die Figur geht damit auch immer aus einem Prozess der Ablösung und Überhöhung hervor, der Sichtbarkeit herstellt und Aufmerksamkeit verlangt. Die Figur ist bigger than life, erscheint trotz aller Nähe in der Distanz und ist dem Gewöhnlichen und Alltäglichen enthoben, weil sie dem Zugriff der Hand entzogen ist. Figuration ist insofern immer auch Transfiguration: eine Verklärung der Gestalt, die über das Hier und Jetzt des Auftritts hinaus aufs Übernatürliche verweist und die Gestalt als größer erscheinen lässt, als sie eigentlich ist. Dass eine Person auftritt, verleiht ihr Bedeutung, weil sie nur deshalb auftreten darf, weil ihr Bedeutung zukommt. Denn der Autorisierung und Legitimation bedarf der Auftritt vor allen Dingen deshalb, weil er sie gleichzeitig verleiht. Durch die Transfigurationen, die sie zur Folge haben, befinden sich Auftritte daher im Mittelpunkt von Gemeinschaftsbildungen. Auftritte konstituieren temporäre und lokale Gemeinschaften, die sich in der kollektiv erlebten und bezeugten Erscheinung einer Figur von ihrer Umgebung abgrenzen. Das, was dabei erscheint, verweist nicht nur auf eine höhere Wirklichkeit, sondern hält die Gemeinschaft in dem Glauben daran im profanen und sakralen Sinne zusammen. Ein Auftritt stellt daher auch immer einen Zugang zum kollektiven Schauplatz einer Gesellschaft dar, auf dem entschieden wird, was eine Gesellschaft als Gemeinschaft zusammenhält und wer zu dieser Gemeinschaft überhaupt gehört. Dementsprechend sind Auftritte umkämpft und wollen gelernt sein. Wer oben steht, kann auf die unten herabblicken, es kann ihm aber auch die Aufmerksamkeit entzogen und die Maske abgerissen werden, sie kann mit Spott, Tomaten und Schlimmerem überhäuft werden. Die Ausnahme des Auftritts und die Macht der Alleinstellung machen angreifbar und daher findet wenig so viel Aufmerksamkeit wie die Wiederholung eben dieser Ausnahme, die ein Auftritt ist, und die Reglementierung dieser Wiederholung. Denn wer auftritt, ist mehr, weil er oder sie erscheint, weshalb nur auftreten darf, wer dieses Mehrs auch berechtigt ist. Wer wann und wo auftreten darf, wer diesen Auftritten beizuwohnen hat und wie diese Auftritte berichtet und bewertet werden, sind die klassischen Fragen symbolischer Politik. Ihre Antworten finden diese Fragen in den unterschiedlichen Institutionalisierungen der Auftritte, und begründet werden sie von vielfältigen Strategien der Autorisierung und Legitimation des Auftretens: Auftritte fügen sich in Institutionen ein, die ihren Ablauf regeln, und sie müssen sich auf Höheres berufen können: auf göttliche Gnade, religiöse Weihung, politische Wahl, gesellschaftlichen Verdienst, künstlerisches Talent oder auch akademische Meriten.

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Z IRKULATION Ein Auftritt erlangt seine Bedeutung erst mit seiner medialen Zirkulation. Er findet nicht nur auf der Bühne statt, sondern auch im Foyer, Fernsehen und Feuilleton. Reden wie Schreiben über Auftritte prägt das, was zukünftige Auftritte gewesen sein werden, wie sie wahrgenommen und erlebt wurden. Ein Auftritt ist daher immer schon mehr und zugleich weniger als der körperliche Vollzug, aus dem er hervorgeht, und die Figur, die er hervorbringt. Ein Auftritt ist die Vergegenständlichung eines vergangenen oder zukünftigen Geschehens, das nur vermittelt zugänglich ist; etwas, das erst einmal nicht ist oder sich ereignet, sondern wird, genauer: gemacht wird – und zwar nicht nur auf Hinter- oder Probebühnen. Ein Auftritt lebt immer auch und nicht zuletzt von seiner Vermittlung, Verbreitung und Verdichtung. Erst in der Erinnerung, im Gespräch oder im Gerücht, in der Aufzeichnung oder dem Aufsatz wird der Auftritt zu einem distinkten Etwas, das stattgefungen hat und in der Erzählung von diesem Stattfinden als Ereignis Bedeutung erlangt. Die Bedeutung des Auftritts kommt erst durch seine Vermittlung zustande, indem er kritisiert, kommentiert und kanalisiert wird. Das heißt aber nicht nur, dass es den einen, den realen Auftritt dort draußen nicht gibt ohne das Medium, das ihn vermittelt, erst recht gibt es natürlich auch nicht den Auftritt mit bestimmtem Artikel, als etwas, das sich definieren ließe oder sich zur Theoriebildung eignen würde. Eine Theorie des Auftritts kann daher nichts anderes als eine Methode sein, die sich am Gegenstand bewähren muss, und legt nahe, den Begriff – wie Wittgensteins Leiter – am besten fallen zu lassen, wenn man dort angekommen ist, worauf man hinaus wollte. – Nicht was ein Auftritt ist, ist ein sinnvolle Frage, sondern was man damit machen kann. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen unterschiedliche Perspektiven auf ein Phänomen eröffnen, das noch weitgehend der Erforschung harrt und dabei vielfältige Anschlussmöglichkeiten verspricht.4 Eine Theorie des Auftritts oder auch nur eine heuristische Kategorisierung von Auftrittsformen wäre nicht nur ein verfrühtes Unterfangen, sondern erschiene den Herausgebern auch grundsätzlich zweifelhaft. Ausgehend von den erzählten Auftritten eines fiktiven Wundertheaters, das in einem satirischen Einakter des spanischen Barocktheaters von Miguel de Cer-

4

Ein entscheidende Ausnahme bildet der von Juliane Vogel und Christopher Wild herausgegebene Band: Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin: Theater der Zeit 2014.

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vantes Einzug hält, arbeitet der den Band eröffnende Aufsatz von Gabriele Brandstetter Rahmensetzung und Evidenzerzeugung als entscheidende Leitfragen an den Auftritt heraus. So zeigt sich an dem historischen Beispiel, wie im Spiel mit Sein und Schein die imaginierten Auftritte theatrales ›als ob‹ mit identitätsstiftender cultural performance verknüpfen und sich als gesellschaftliches Selbstverständigungsspiel erweisen. Den Gedanken der Herstellung von Evidenz im Erzählen und Zeigen weiterführend, verfolgt der Beitrag das Motiv des Eintretens des Fremden am Beispiel von DV8s Enter Achilles als konfliktäres Modell des Auftritts und setzt dieses abschließend in Kontrast zu einem stillen, gleitenden In-Erscheinung-Treten, das an den Arbeiten Hiroshi Sugimotos und der japanischen Tradition des shakkei festgemacht wird. Anschließend fokussiert der Beitrag von Christopher Wild die Doppelnatur des Auftritts als physische Bewegung und semiotische Operation anhand wegweisender Auftritte in der griechischen Tragödie. Dabei zeigt er, wie die Heimkehr des Königs oder Thronfolgers – des royal re-entries und nostos – als dramaturgisches Grundmuster der griechischen Tragödie fungiert. Das Warten auf Nachricht aus dem Off führe in den Persern zur Dekonstruktion des orientalischen Herrscherauftritts durch die Verkehrung des Empfangsprotokolls; im Agamemnon sei es das tödlich endende Überschreiten der Schwelle zwischen maritimen und häuslichem Off, das das Bühnengeschehen als Heimkehr bestimme; und im Orest und der Odyssee seien es die Auftritte von Heimkehrern als Fremden, anhand derer sich die Anagnorisis als Bestandteil jedes Auftritts erweist. Schließlich ist es die Heimkehr des Dionysos nach Theben in den Bakchen, die den Wiedereinzug des Gottes in die Stadt Athen zu Beginn der städtischen Dionysien spiegelt, die als maßgebliches Vorbild des antiken Herrschereinzugs benannt wird und den Auftritt im Theater auf eine maskierte Kulthandlung zurückbindet, in der ein Gott zur Erscheinung kommt. Einen Bruch mit dieser an der Einzugsprozession des Herrschers orientierten Auftrittskultur Europas nimmt Annette Kappeler am Ende des 18. Jahrhunderts in den Blick, wenn sie anhand der Reformopern Glucks einen Wandel in der Inszenierungspraxis der zeitgenössischen Oper, der tragédie en musique, attestiert. Im Zuge der Aufklärung und naturphilosophischer Denkmodelle, namentlich der Ablösung von Descartes’ Äthermodell durch Newtons universelle Anziehungskraft, würden höfische Auftrittsformen und das solare Modell, das bis dahin Choreographie, Planetenbewegung und Sozialwesen als harmonische Analogien aufeinander bezog, in Frage gestellt. Wie an der Bewegungsästhetik der Reformschriften von Diderot und Noverre gezeigt wird, weicht ein auf die Vertikale bezogenes majestätisches Schreiten zunehmend horizontalen Bewegungsmustern, die auf Erdmittelpunkt und Bühnenboden bezogen zwischen Schweben und Fal-

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len oszillieren und den menschlichen Körper als Ausdrucksfeld der Naturgesetze entdecken. Symbolische Anziehungskräfte würden so durch Naturkräfte ersetzt und unterbrächen die auf Herrscherfiguren zentrierten Auftrittsformen durch neue Bewegungsmuster. Auch der Beitrag von Ulf Otto beschäftigt sich mit einer historischen Auftrittskonstellation, die sich aus dem solaren Modell ableitet, setzt jedoch einen anderen Schwerpunkt, wenn er die technischen Bedingtheiten der Licht und Wärme spendenden Himmelskörper und Theatermittel ins Zentrum der Untersuchung stellt. Anhand eines historischen Abrisses theatraler Sonnenaufgänge von der griechischen Tragödie bis zu den Avantgarden wird ein sich schrittweise vollziehender und um 1880 kulminierender Wandel skizziert, der als Übergang von einem theatralen, auf den eigenen Körper verweisenden Auftreten zu einem medialen Erscheinen-Lassen begriffen wird, das auf einer entkörperlichten und verunsichtbarten Technik beruht. Ausgehend von der Trennung von Licht und Sonne beim Einzug des Theaters in die geschlossenen Räume der Renaissance, über die technische Zurichtung von frühen Projektionsmitteln im bürgerlichen Landschaftstheater bis hin zur avantgardistischen Emanzipation des Lichtstrahls als dem Darsteller gleichberechtigtes Ausdrucksmittel verfolgt der Beitrag den Wandel von Auftrittspraxis im Schnittpunkt ästhetischer und technologischer Praktiken. Als ein Ensemble rhetorischer Mittel, die einer Figur Evidenz verleihen, beschreibt Juliane Vogel den Auftritt, dessen artikulatorische Funktion sie in Hinblick auf seine Dorsalität untersucht. Im aufrechten Gang werde ein Bild erzeugt, das über die Gebrechlichkeit des Körpers hinwegtäusche und in der Senkrechten Souveränität und Dignität behaupte. Dies werde nicht zuletzt durch die in Auftrittsprotokollen festgelegten Schrittmuster gestützt, die durch ein technisch kontrolliertes Setzen der Füße ein Aufsteigen zu höherer Wesenhaftigkeit zelebrierten. Wie an der Kontinuität vom römischen Triumphzug zum höfischen Prunkauftritt gezeigt wird, bleibe die Figur der Sonne und die vertikale Bewegung Paradigma des Prunkauftritts, der erst mit der Moderne zunehmend ins Straucheln gerate. Gerade in der dramatischen Literatur werde so die artikulatorische Funktion und der Zwang zur Vertikalisierung durch den Einfluss der Horizontalen, den Mangel an verbindlichen Schrittmustern und das Versagen des starken Schrittes in Frage gestellt. Hier schließt Gerald Siegmunds Beitrag an, der das Stolpern als eine (im wörtlichen Sinne) szenische Schwellenerfahrung der Moderne beschreibt, die nicht nur das Theater selbst thematisch werden lasse, sondern auch die Kontingenz herrschender Ordnung aufzeige. Die Unterbrechung der normativen Ordnung des aufrechten Gangs durch einen im Selbstentzug auf sich aufmerksam

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machenden Körper lasse denselben und seine Bewegung als ein Außen der Ordnung erlebbar werden und führe dazu, dass der Ordnung wiederum etwas körperlich zustoße. Ausgehend von Balzacs 1833 erschienener Theorie des Gehens und dem bürgerlichen Ideal eines eleganten Ganges, der Kunst als Natur ausgibt, liest der Aufsatz Peter Steins Torquato Tasso Inszenierung von 1969 und insbesondere das unentwegte Stolpern des von Bruno Ganz gespielten Protagonisten als Infragestellung der naturalisierten Verbindung von Gesten, aufrechtem Gang und sprachlicher Ordnung und als Mechanismus einer fehlgeschlagenen Anrufung, die sich sowohl auf das Hadern mit der Macht des Künstlers Tasso als auch jenes des Regisseurs Stein beziehen lasse. Ähnlich geht auch Jens Roselts Beitrag von der potentiellen Prekarität des Auftritts und seinem möglichen Scheitern aus. Als zentrale Figur einer obsessiv auf Präsentation ausgerichteten Kultur erscheint dabei die Rampensau, deren Schwanken zwischen Überschreiten und Übertreiben der Beitrag von ihrer versuchten Zähmung in den Theatergesetzen des 18. Jahrhunderts bis zu Schlingensiefs Reüssieren in der Volksbühne skizziert. Im Zentrum der Überlegungen stehen jedoch die Auftritte Fabian Hinrichs in René Polleschs Ich schau Dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang, anhand dessen der Beitrag ein zeitgenössisches Zelebrieren des Auftritts festmacht, das gerade im Gegensatz zu dem modernen Verbergen des Auftritts durch Vorhänge und Lichtwechsel stehe. Hier werde nicht nur das Theater als kommunikativer Raum neu thematisiert, sondern in unentwegt scheiternden Auftrittsversuchen durch eine penetrante Ostentation und eine das Provisorische nicht überschreitende Figuration die theatrale Vergemeinschaftung im Angesichts des theatralen Auftritts in Frage gestellt. Auch Annemarie Matzkes Untersuchung zum Auftritt des Zuschauers geht von einem problematischen Status des Auftritts im zeitgenössischen Theater aus. Hier ist es die schon fast Konvention gewordene Auftrittsverweigerung in der zeitgenössischen Live Art und die Beobachtung kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägter Umgangsformen mit den Einlasssituationen der eigenen Performance Gruppe She She Pop, die den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet. In einer vergleichenden Perspektive bis zum barocken Theater und zum Bayreuther Festspielhaus zurückgehend, sowie Arbeiten von Marina Abramović und Gob Squad in den Blick nehmend, umreißt der Beitrag, wie der Auftritt des Publikums abhängig von institutionellen Vorgaben und historischen Bedingungen Theater überhaupt erst konstituiert, indem er nicht nur zwischen Darstellern und Zuschauerinnen sondern auch zwischen jenen, die innerhalb, und denen, die außerhalb des Theaters sind, trennt und unterscheidet.

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In Geesche Wartemanns Beitrag zum Auftritt von Kindern hingegen steht am Anfang ein aktuell zu beobachtender Klärungsbedarf zwischen den Generationen, der sich in einem antipädagogischen Gestus in der Theaterarbeit mit Kindern wiederfinde. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme aktueller Projekte und Konzeptionen, wie beispielsweise den von CAMPO/Victoria initiierten Projekten, fragt der Aufsatz nach den Konsequenzen und Implikationen dieser antipädagogischen Auftritte von Kindern. Anhand dreier Fallstudien werden dabei drei unterschiedliche Positionierungen der Kinder im Kontext der Theaterarbeit herausgearbeitet: Erstens wird die artistische Vorführung von Kindern in Erwachsenenrollen, wie sie sich in den Kinderpantomimen des 18. Jahrhunderts zeige, als weitgehend kommerzielle Funktionalisierung begriffen; zweitens wird die Reflexion erwachsener Projektionen auf Kinderwelten in Gob Squads Before your very eyes mit einem Auftreten von Kindern als ebenbürtige und ernst genommene Darsteller in Verbindung gebracht; und drittens wird an Arbeiten von Mammalian Diving Reflex und Akira Takayama gezeigt, wie der Aufritt von Kindern die Wahrnehmung und das Wissen von Kindern als ein eigenständiges sehens- und hörenswertes Weltverständnis in Szene und damit ins Recht setzen kann. Dies reduziere den Auftritt von Kindern im Theater nicht mehr auf ein bildungspolitisches Anliegen, sondern lasse ihn als ein ästhetisch gleichberechtigtes und die Gesellschaft bereicherndes Phänomen erleben. Der Auftritt der Dinge als epistemische Objekte in Museen, Ausstellungen und Sammlungen steht in Stefan Krankenhagens Beitrag zur Untersuchung. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass auch die Dinge im Auftreten ihren Zustand ändern und diese Zustandsänderungen spätestens seit dem 18. Jahrhundert auf einen Auftritt menschlicher Experten angewiesen und bezogen sind, die den auftretenden Dingen Wert zuweisen – sei es monetären, nationalen oder pädagogischen – und sie auf etwas Abwesendes verweisen lassen. An diese Beobachtung schließt die Frage, inwiefern sich der Objektstatus der Dinge in den Museen und ihre Ästhetik durch aktuelle partizipative Praktiken in der Museumskultur veränderten. Unter anderem anhand einer Ausstellung des Wiener Volkskundemuseums und in Bezug auf Latours Konzept des Quasi-Objekts, wird gezeigt wie durch die partizipativen Praktiken der Verweis auf ein abwesendes Anderes in den Hintergrund gedrängt und das museale Ding als relationales Ding zum Mittel und Mittler für Prozesse der Teilhabe und des Austausch werde. Die Handhabung der Dinge werde so zum Teil der Ausstellungspraxis werden. Die Tradition szenischer Darstellung des Offs als unmittelbares Abseits des Auftritts nimmt der Beitrag von Stefanie Diekmann in den Blick. Ausgangspunkt sind der Dokumentarfilm SUBSTITUTE von Fred Poulet, der den nicht oder kaum stattfindenden Auftritt des französischen Nationalspielers Vikash

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Dhorasoo bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 aus Sicht einer Super8-Kamera in der Hand des Protagonisten porträtiert, sowie Tom Stoppards Rosencrantz and Guildenstern are dead. In der parallelen Lektüre der Szenerien beider Artefakte wird die Verkehrung von Off und On untersucht, die das Off zum Schauplatz des Wartens auf ein Spiel oder eine Handlung werden lässt, die anderswo stattfindet. Wie der Beitrag zeigt, verliert die Teichoskopie hier ihre Funktion Informationen aus einem gegebenen Außen zu übermitteln, und verweist in erster Linie auf das schwierige Verhältnis der Szene zu dem auf sie bezogenen Außen. Abschließend nimmt Bettine Menkes Beitrag die Suspendierungen dramatischer Auftritte in zeitgenössischen Theaterinszenierungen in den Blick. Ausgehend von Lulus Verweigerung aufzutreten und G. W. Pabsts filmischer Reflexion der theatralen Grenze zwischen On und Off in der Verfilmung des Theaterstücks von Wedekind, wird der Auftritt als Passage einer Schwelle und als unabgeschlossenes Zwischengeschehen thematisiert, das immer auf ein abwesendes Anderswo verwiesen bleibt. Erst in der dramatischen Figuration, die sich als imaginäre Person ausgibt und Subjektivität vortäuscht, werde dieser Konstruktionscharakter vergessen gemacht, dessen Wiedereinsetzung durch die Dekonstruktion der dramatischen Figur anhand von Christoph Marthalers Murx den Europäer! und René Pollesches Schmeiß Dein Ego weg! sowie JFK nachgezeichnet werde. Indem die Inszenierungen die darstellende Verkörperung einer projizierten Innerlichkeit verweigerten, kehrten sie die Maskenhaftigkeit des Gesichts und die Zitathaftigkeit des Sprechens hervor und hielten den Aufritt im Schwellenraum der Bühne in der Schwebe. Enstanden ist der vorliegende Band im Rahmen einer Tagung, veranstaltet vom Herder-Kolleg der Universität Hildesheim anlässlich der Eröffnung eines neuen Theatergebäudes des Instituts für Medien, Theater und Populäre Kultur auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg. Annemarie Matzke Ulf Otto Jens Roselt

Wundertheater Der Auftritt des Theaters* G ABRIELE B RANDSTETTER »Das Wunder des Theaters ist eine Hypostase.« 1 ANDRZEJ WIRTH Andrzej Wirth sei dieser Text gewidmet.

Der Anlass der folgenden Überlegungen ist die Eröffnung eines Raumes: Szenen des Erscheinens, Vorträge, Dialoge auf der neuen Bühne des Instituts für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim gehören zum Ritual dieser Eröffnung. Sie werden gewissermaßen um ein Ereignis herum gebaut: Denn alle Beiträge widmen sich einem Thema: dem Auftritt, dem Ereignis des Auftretens. Dar-

*

Der vorliegende Text enthält Teile meiner (unpublizierten) Antrittsvorlesung am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen. Anlass für diese Übertragungen sind die persönlichen und fachlichen Verbindungen zwischen dem Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur in Hildesheim und der Gießener Angewandten Theaterwissenschaft. In den Jahren, in denen ich dort lehrte (zwischen 1994 und 1998), entstanden die Begegnungen u.a. mit jenen Kollegen und Kolleginnen (Stefanie Diekmann, Annemarie Matzke, Jens Roselt), die heute in Hildesheim das Modell einer intensiv mit Theaterpraxis verknüpften (angewandten) Theaterwissenschaft weiterentwickeln.

1

Wirth, Andrzej: »Lob der dritten Sache. Jubiläumsrede am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft«, in: Spiegel der Forschung 20 (2003), Nr. 1, S. 118-125, hier S. 119.

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über hinaus wird nun aber ein ganz besonderer Auftritt in Szene gesetzt: nämlich der Auftritt des Theaters selbst! Ein Theater wird eröffnet: Es tritt auf – in jedem emphatischen Sinn dieses Bildes von Auftreten – als in Erscheinung treten. Und, wie könnte es anders sein beim Theater, mit all den Wundern, die es technisch und medial zur Erscheinung zu bringen vermag: Dieser Auftritt des Theaters präsentiert sich als ordo inversus. Wie durch Zufall, oder durch Zauberhand, wird das Theater zum Akteur, zum Mittelpunkt und zur Figur des Auftretens. Und wir als Publikum, oder als die Vortragenden, bilden den Rahmen dieses Events. Wie eine gute (oder weniger gute) Inspizientin stehe ich nun also hier, als Eröffnungs-Rednerin, und probiere das Einrufen zum Auftritt – eine Adresse nicht an Schauspieler oder Schauspielerinnen, nein: an das Theater selbst; als Ort, als Möglichkeitsraum, als Ein-Richtung: der Auftritt der Auftritte. Lassen Sie mich im folgenden zwei grundlegende Merkmale des Auftritts einführen, vorstellen – gewissermaßen als Ouvertüre zur Vielfalt der möglichen Perspektiven. Es sind die Begriffe des Rahmens und der Evidenz, die ich hier gleichsam als Leitfiguren des Auftretens ins Spiel bringen möchte. Der Rahmen bildet eine Markierung des Auftritts – räumlich, institutionell, performativ: Ein Theater, eine Bühne kann einen Rahmen für einen Auftritt darstellen, ebenso eine Kanzel, oder ein Rednerpult. Umgekehrt kann Auftreten – als eine Handlung, beispielsweise des Eintretens, oder Hinaus- oder Hinübergehens – Rahmen überhaupt erst setzen oder sichtbar machen. Auftritte vermögen, Rahmen zu setzen, zu verschieben oder zu übertreten. Eine Theorie des Auftritts impliziert demnach auch eine Theorie des Rahmens.2 Buchstäblich bildet der Vorhang3 den Rahmen eines räumlichen Vor und Hinter der Bühne, eines zeitlichen Davor und

2

Zur Theorie des Rahmens vgl. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Zum Verständnis des Rahmens als einem Intervall, das (Bild-)Räume der Repräsentation und der Präsentation verbindet, vgl. Beyer, Vera: Rahmenbestimmungen. Funktionen von Rahmen bei Goya, Velásquez, van Eyck und Degas, Paderborn: Wilhelm Fink 2009. Zu einer Theorie des Rahmens, die neurowissenschaftlich argumentiert, indem sie aus der Forschung und Perspektive der Wechselspiele von subjektiver Erfahrung und neurowissenschaftlichen Forschungen die Rahmungen von Wahrnehmung betrachtet und damit das Wundertheater des menschlichen Gehirns, seiner Emotionen und Illusionen, beschreibt, vgl. Pöppel, Ernst: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München/Wien: Hanser 2006.

3

Vgl. Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle (Hg.): Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste, Freiburg i.Brsg./Berlin/Wien: Rombach 2008.

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Danach. Ein Rahmen des Auftretens modelliert darüber hinaus auch die Dynamiken und Ökonomien von Übertretung, die hier geschehen können. Wenn hier und heute – mit der Eröffnung dieses Auftritts für ein Theater – das Theater selbst auftritt, so stellt es sich zugleich auch als ein Rahmen für das Auftreten von Wissenschaftlerinnen, Performern und von Aktivitäten des Feierns dar: Theater und Theaterwissenschaft bereiten für sich und die eingeladenen Gäste einen Auftritt – auf/in/als Theater. Ich möchte auf diese Interaktion von Theater und Wissenschaft später noch einmal zurückkommen; und ebenso auf die Fragen der Evidenz und Evidentialisierung, die in und mit den Auftritten einhergehen. Werfen wir zunächst einen Blick auf einen Auftritt, der Wunder und das Sich-Wundern thematisiert; als ein Zwischenspiel: nämlich eines der entremeses von Miguel de Cervantes, das den Titel trägt: El retablo de las maravillas (1615) – Das Wundertheater4. Es handelt sich um einen Einakter, in dem – als Spiel im Spiel, als Theater auf dem Theater – folgende Szene erscheint: Irgendwo in Spanien trifft eine Schauspieltruppe ein, bestehend aus Chanfalla, dem Direktor, Chirinos, einer Schauspielerin, und Rabelín, einem zwergenhaften Drehleiermann, der die Pausen mit Musik füllen soll. Die Honoratioren des Dorfes erscheinen, der Gobernador, der Regidor, der Alkalde und der Stadtschreiber. Chanfalla, der Schauspieldirektor, stellt sich als Direktor des Wundertheaters vor, das von einem weisen Zauberer namens ›Brettvormkopf‹ erbaut sei. ›Wundertheater‹ werde das Theater genannt, und zwar »wegen der wunderbaren Erscheinungen, die es bringt und zeigt«.5 Um diese wunderbaren Erscheinungen des Theaters wahrzunehmen, müsse freilich jeder Zuschauer zwei Bedingungen erfüllen: Er müsse erstens ein reinblütiger Spanier sein, denn »niemand könne das Wundertheater sehen, der auch nur den kleinsten Tropfen moriskischen oder mosaischen Blutes in den Adern hat«6; und zweitens müsse er »von rechtmäßigen Eltern in rechtmäßiger Ehe rechtmäßig gezeugt«7 sein. Mit diesen Bedingungen ist die Ausschließungs- bzw. Einschließungsregel für diese Inszenierung formuliert. Es ist gewissermaßen die Rahmenbedingung als ein Wahrnehmungs-

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De Cervantes Saavedra, Miguel: »Das Wundertheater«, in: Acht Schauspiele und acht Zwischenspiele, alle neu und nie aufgeführt, verfasst von Miguel de Cervantes Saavedra, hg. und übers. v. Anton M. Rothbauer, Stuttgart: Henry Goverts 1970, S. 1193-1215.

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test – beruhend auf dem Gedanken der Reinblütigkeit, der im Goldenen Zeitalter Spaniens eine bedeutende soziale Funktion erfüllte. Chanfalla, der Spielleiter, setzt die normative Funktion dieses Reinblütigkeitsparadigmas als Legitimationsstrategie für seine Absichten ein. Die Regeln einer kulturellen Konvention werden so zum Rahmen des theatralen Pakts zwischen Darstellenden und Zuschauenden: Die standesbewussten Bürger des Ortes können gar nicht anders, als diese Spielregel zu akzeptieren. Sie kommen überein, das Wundertheater zur Verlobungsfeier Teresas, der Tochter des Regidors, aufführen zu lassen. Chanfalla und Chirinos stellen die Bilder des Wundertheaters vor: Und was sich zeigt, ist ein wunderbares Auftreten von Figuren. Ein Auftreten in und als Erzählung – als Narration durch Chanfalla und Chirinos. Aus ihrer Rede entfaltet sich Szene für Szene der Auftritte, erzählt – und von allen mit Kommentaren bedacht. Es treten auf: Simson, der die Säulen des Tempels einreißt; der Stier von Salamanca; es erscheinen wilde Tiere und Naturereignisse – ein Bilderbogen, der geradezu schulgerecht den Wahrnehmungskonzepten und Wirkungstheorien des Theaters folgt: eleos und phobos, die Faszination von Angst und Lust, die (dramatische) Spannung und Peripetie. Das Wundertheater ist ein Wunschtheater, in dem auf einer Metaebene Spielende und Zuschauende sich über ihre Erwartungen verständigen. Die Sequenz der imaginären Auftritte gipfelt in einem Tanz der Salome. Der Neffe des Stadtschreibers darf mit ihr tanzen – zum größten Vergnügen aller. Sie tanzen eine Sarabande, also einen spanischen Tanz, der damals aber noch nicht in der späteren, höfisch gemessenen Schreitform getanzt wurde, sondern als ein heftiger, erotischer Paartanz. Capacho, einer der Zuschauer, kommentiert die Tanzvorführung: »Bei meinem seligen Großvater! Was sind doch die Sarabande und die Chaconne für alte Tänze!«8 Mit a-parte-Bemerkungen wie diesen inszeniert Cervantes in raffinierter Weise den Gegentext im Text des imaginären Theaters; die Illusion spielt selbst ihre Desillusion mit. An diesem Punkt der Performance bricht nun das Realitätsprinzip in das Wundertheater ein. Ein Trupp von Soldaten, die Quartier suchen, stört die Vorstellung. Natürlich sehen sie den Tanz der Salome nicht! Im Rahmen der Regeln dieses Spiels ist dies für die Bürger der Beweis für die Bastard-Genealogie der Soldaten – »Ex illis ist er! Einer von jenen.«9 Für die Soldaten als Außenstehende hingegen zeigt das Verhalten der Bürger und Theaterleute alle Anzeichen von Verrücktheit. Quartiermacher: »Sind die Leute da verrückt?

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Ebd., S. 1211.

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Was zum Teufel ist das für ein Fräulein? Was für ein Tanz und was für ein Brettvormkopf?«10 Der Schluss des Stücks bleibt offen: Während Chirinos in die Klage ausbricht, nun sei der Betrug der Komödianten aufgedeckt, sieht Chanfalla eben in diesem Augenblick die Kraft des Wundertheaters bestätigt. Cervantes hält die Ambivalenz dieses Theaters im Theater, die Evidenz der Auftritte zwischen Schein und Desillusion bis zuletzt aufrecht. Was nun, so könnte man sich fragen, sehen die Zuschauer dieses Theaters auf dem Theater? Einen Raum. Sie sehen sich selbst – in der Rolle von Zuschauern und Akteuren; einen Schauspieldirektor, der eine Geschichte erzählt, der bekannte Bilder und Mythen und unbekannte fantastische Gestalten heraufruft. Auftritte auf welcher Bühne? Die Situation ist vergleichbar dem Märchen von Des Kaisers neue Kleider. Denn schließlich lässt keiner der Zuschauer – nach außen – einen Zweifel darüber aufkommen, dass er alles, was hier als Auftritt inszeniert wird, auch wirklich sieht. Das Wunder dieses Theaters freilich ist nichts anderes als ein imaginäres Szenario – eine »Hypostase«11. Die Bühne bleibt leer. Die Zuschauer hingegen werden zu wirklichen Mitspielern dieses unsichtbaren – eines nie gesehenen und nie gehörten – Theaters. Die Zuschauer spielen füreinander und vor den Schaustellern das Spiel der makellosen Genealogie, sie inszenieren ein Beglaubigungsritual der kulturellen Identität. Die Schauspieltruppe nützt diesen mentalen contract social, um aus dem Sprachspiel für einen Augenblick eine imaginäre Welt entstehen zu lassen, in der die Einzelnen ihre Identität – aus dem Gestus der Suggestion – beglaubigt sehen. Zugleich aber hält Cervantes mit dieser Rahmen-Konstruktion die Differenz zwischen Sein und Schein – zwischen engaño und desengaño, jenem großen spanischen Thema – offen. Die Sprache als Organ der Weltbildung erscheint dubios in diesem Doppelsinn: in ihrer Legitimationsfunktion und in ihren gleichzeitig wirksamen Strategien der Delegitimation. Das Auftreten des Wundertheaters geschieht aus der Verschränkung zweier Konstruktionsmuster von Wirklichkeit: aus dem kulturellen Paradigma der Genealogie – dem (hier geltenden) Gedanken der Reinblütigkeit; und aus dem Modell eines fingierten, symbolisch konstituierten Wirklichkeitsraums – dem

10 Ebd. 11 Vgl. A. Wirth: »Lob der dritten Sache«, S. 119. Wirth bezieht sich auf die Definition des Philosophen Kotarbinski. Hypostase sei »alles was auf kein materielles designatum verweisen konnte. [...] Kotarbinski sprach nicht vom Theater, aber ich wusste: Das Wunder des Theaters ist eine Hypostase. Hinter der Maske des Wunders bewegt sich etwas, was ich ergründen möchte.«

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Schau-spiel. Der Pakt zwischen den Spielenden und Mitspielenden – denn alle sind im Spiel – besteht darin, dass die Regelsysteme beider Darstellungsebenen einander wechselseitig beglaubigen. Das kulturelle Identitätsmuster der reinblütigen Genealogie wird zur Wahrheitsprobe für das Spiel der Auftritte im Theater. Und umgekehrt wird die Wahrnehmung der jeweils Anderen und das Mitspielen im Szenario der Fiktionen zur Identitäts-Probe und zum sozialen Legitimationsritual. Ein einziger Augenblick jedoch, in dem dieses komplementäre Setting einzubrechen droht, hebt sich aus der letzten Sequenz heraus. Es ist jene Szene, in der Salome ihren Tänzer im Publikum findet. Benito sagt: »Nun los, Neffe! Zeig es der jüdischen Tänzerin nur richtig!« Aber dann wundert er sich: »Aber wie geht das zu, dass sie, die Jüdin, etwas von diesen Wunderdingen sehen kann?« – »Jede Regel hat ihre Ausnahme, Herr Alkalde«12, antwortet der Schauspieldirektor versiert. Der Moment, in dem das System überschritten wird, ist eben jener, in dem Sprache und Körper als Darstellungsmedium wechseln: Der Auftritt wird nicht erzählt, sondern getanzt. So ist diese Systemüberschreitung denn auch nur durch eine Metareflexion aufzufangen, nämlich durch die Thematisierung des Systems selbst und jener Regeln, die seinen Rahmen konstituieren. Regeln und Ausnahmen von der Regel: Cervantes’ Wundertheater inszeniert die Möglichkeiten eines Auftretens des Nicht-Sichtbaren. Und es fragt zugleich nach den Rahmenbedingungen für die Evidenz eines solchen Vor-Augen-Stellens. In der erzählten Prosopopoeia13, in der gespielten Form der Hypotypose14 – des Vor-Augen-Stellens – erhält das Spiel seinen Auftritt: als Spiel von Schein und Sein, in dem es die Regeln des Theaterspiels – die Zauberformel des ›als ob‹ – über die Koppelung mit einem kulturellen Muster, als Selbstverständigungsspiel einer Gesellschaft, vorführt. Dieser Auftritt geschieht durch eine Rahmen-Konstruktion, die ihrerseits wiederum Wahrnehmung problematisiert im Beziehungsprozess von Mimesis und Alterität.15

12 M. de Cervantes Saavedra: »Das Wundertheater«, S. 1211. 13 Vgl. Campe, Rüdiger: »Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft (DFG-Symposion 1995), Stuttgart: Metzler 1997, S. 208-226. 14 Zur Hypotypose als Verfahren zwischen Theatralität, Pose und Narrativität vgl. Brandl-Risi, Bettina: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Brsg.: Rombach 2013, S. 192-198. 15 Vgl. Taussig, Michael: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, Hamburg: EVA 1997.

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Das Nachdenken über den Rahmen des Theaters und über die Bedingungen von Theatralität ist vielleicht so alt wie das Theater selbst. Reflexionen darüber sind auf der Bühne und in Theatertheorien, aber auch in den Bereichen der Anthropologie, Soziologie und Ethnologie immer wieder angestellt worden. Victor Turner, um hier einen älteren Referenztext der Performance- und Ritualtheorien zu zitieren, hat in seiner Studie die Frage aufgeworfen: »Are there universals of performance?«16 Dabei geht er von einem weiten Begriff einer cultural performance aus, die er definiert als öffentliche Darstellung einer Sequenz von Handlungen oder Ereignissen an einem Ort und in einer Zeit, die speziell dafür vorgesehen sind. Natürlich ist die Frage nach universals – selbst wenn wir sie poststrukturalistisch wenden – problematisch. Doch die Frage nach Rahmen lässt sich auch offen – als passe-partout – stellen: gewissermaßen als Relais für Relationen. Und dann kann der Rahmen der jeweiligen cultural performances – mit Turner – als Selektionsmuster dienen, z.B. um ritual frames und play frames17 zu differenzieren. Rahmen regieren auch die Formel: ›als ob‹. Das Erscheinen als oder: das Zeigen auf oder von etwas oder jemand als, ist ein Merkmal des Auftretens: in spezifischer Weise verwandelt, verzaubert dieses als: zu einer Bühne des Theaters; doch ebenso in dem, was wir – etwas pauschal und vage – cultural performance nennen. Das Prinzip tell and show, das Geschichten-Erzählen, das in vielfältigen Varianten seit den 90er Jahren Auftritte in Theater und Performance konfiguriert, arbeitet mit beiden Prinzipien: mit der Produktion und mit der Brechung von Rahmungen. Und diese Performance- und Theater-Arbeiten erweisen sich auch als Experiment, als Test auf die Möglichkeiten der Herstellung von Evidenz: im Erzählen/Zeigen.18 Sei es die Last Performance von Jérôme Bel, die Arbeiten von Forced Entertainment, von She She Pop, Rimini Protokoll oder Showcase Beat Le Mot, oder andere Formate wie z.B. die geheimagentur, die unterschiedlichste Formate und Rahmungen finden, um das Sich-Wundern im Theater zu

16 Vgl. Turner, Victor: »Are there universals of performance in myth, ritual, and drama«, in: Richard Schechner/Willa Appel (Hg.), By means of Performance. Intercultural Studies of Theatre and Ritual, Cambridge: University Press 1990, S. 8-18. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Geschichte(n)Erzählen im Performance/Theater der neunziger Jahre«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre (= Recherchen 2), Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 27-42.; Dies.: »Tanzen Zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 1990er Jahren«, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 45-61.

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demonstrieren. Und auch hier ist es ein relationales Geschehen, die Belebung stellt sich durch Auftritte und ihre emergenten Evidenzen in und mit einem Publikum her. Nach wie vor sei die Metapher ›Rahmung‹ (frame), so auch Turner, geeignet als Bezeichnung für das Regelwerk, das den Fluss eines performativen Prozesses in Gang setzt und kanalisiert. Der Prozess selbst freilich überschreitet den Rahmen. Wiederholbarkeit und Differenz charakterisieren die Performance von Ritual, Theater und Spiel gleichermaßen. Das ›als ob‹ als Rahmenbedingung übernimmt darüber hinaus die Funktion eines Modus der Über-Tragung: Es ist die Formel für Fiktionalität. Hier verbindet sich der Bildroman der Repräsentation mit den Figurationen des Präsentierens. Der ›als ob‹-Auftritt vermag sich selbst und ein anderes vorzustellen: Körper, Objekte, Gesten, Farben, Klänge, Sprache, Bewegungen, Beziehungsmuster, Zeiteinheiten – Elemente der Fabrikation von Fiktionen, die eine Welt auf- und abtreten lassen und sie zugleich refigurieren. Nicht nur das Theater, auch die Wissenschaft ist Teilhaberin, partizipiert in einem solchen Feld von Auftritten; wobei damit nicht nur die Auftritte im Sinn von Lectures und Präsentationen gemeint sind, sondern auch die unterschiedlichen Modi der wissenschaftlichen Produktion von Evidenz und ihre Rahmungen.19 Es ist hier nicht möglich, die angedeutete Engführung von Wissenschaft und Kunst genauer zu erläutern. Dass jedoch Theaterwissenschaft – die ihren Auftritt im Theater der Wissenschaft zeigt und reflektiert – in besonderer Weise engagiert ist in der Theorie und Praxis solcher Modi des Auftritts, muss an diesem Ort, der Theaterwissenschaft in Hildesheim, nicht im Einzelnen dargelegt werden.20 Angesichts eines sich stets der Untersuchung entziehenden Gegenstands findet sich die Theaterwissenschaftlerin in der Praxis immer wieder in der Position jenes Schauspieldirektors, der ein Wundertheater heraufbeschwört, indem er die Wunder der Erscheinungen auf dem Theater:... erzählt. Die Theaterwissenschaft hat Anteil an der Herstellung der Auftritte im normativen Szenarium der Evidentialisierung. Solch (wissenschaftliche) Darstellung eines Zeigens-als unterliegt deshalb selbst bis zu einem gewissen Grad den Mustern von Auftritten als cultur-

19 Vgl. Peters, Sibylle/Schäfer, Martin (Hg.): Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript 2006. 20 Es möge hier genügen, auf die Arbeiten von Stefanie Diekmann, Hajo Kurzenberger, Annemarie Matzke, Sibylle Peters und Jens Roselt hinzuweisen.

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al/academic performance, die sie untersucht.21 Und die (Zu-)Hörenden solcher Gedächtnis-Performances längst entschwundener szenischer Ereignisse bedürfen einer nicht geringen Visualisierungs-Kraft in der Re-Animation all der herbeigeredeten, zitierten Dokumente, der Argumente, Theorien und Bilder. So agieren Wissenschaftlerinnen und Künstler, Lehrende und Lernende gemeinsam, und immer wieder, im Rollentausch im Rahmen solcher Performances. Vielleicht ist gerade jene Darstellung, die im Fluchtpunkt theaterwissenschaftlicher Forschungen liegt, nämlich die gemeinsame Hervorbringung der Erscheinungen jener Theaterwunder, die immer schon entschwunden sind, dem Modell einer hier vertretenen Theaterwissenschaft noch am nächsten: der Weg auf die Probebühne, Entwurf und Experiment einer Wissenschaft als Praxis und einer Praxis, die sich auch als Beitrag zur Forschung legitimiert, und zwar gerade indem sie sich einer Funktionalisierung entzieht. Innerhalb dieser Konfigurationen des Auftritts – des Eintretens und des Abtretens (beides ist damit angesprochen) – in Theater und Wissenschaft möchte ich zuletzt noch zwei Ausprägungen oder Varianten ansprechen, die beide mit den Prozessen der Rahmung und der Herstellung von Evidenz verknüpft sind: zum einen das Prinzip enter oder entering, zum anderen das Prinzip der Rahmenverschiebung als ein Leihen (ein Borgen). Die Frage nach dem Auftreten ist – neben dem emphatischen Moment des großen Auftritts, oder des In-Erscheinung-Tretens – ganz schlicht auch und vor allem ein Akt des Eintretens: enter, oder ein entering. Ich wähle hier den englischen Begriff, weil er das Spektrum und die Dichte des Eintretens/Auftritts vergrößert (ähnlich wie dies der Begriff exit für das Abtreten/Hinausgehen leistet). Der englische Begriff to enter lässt sich auf vielfältige Weise übersetzen – und fast alle Bedeutungen lassen sich auf Auftritte, auf stagings, auf Rahmen von Bühnenkonfigurationen beziehen: enter als Betreten (eine Platzes, Raumes); auf die Bühne kommen; oder auch in etwas eindringen oder aufgenommen werden, z.B. als ein Mitglied. Im Sinn von Eindringen, Erobern ist enter jedoch auch mit dem Begriff des Enterns22 verbunden: des Übertritts, wie z.B. das En-

21 Vgl. die Habilitationsschrift von Peters, Sibylle: Der Vortrag als Performance, Bielefeld: transcript 2011. 22 Entern – mit Schiffshaken – kommt aus dem Niederländischen und bezeichnet u.a. »ein feindliches Schiff erklettern und im Kampf aufbringen«. Siehe: Der Duden, Bd.7, Duden Etymologie Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl. v. Günther Drosdowski, Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1989, S. 157.

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tern eines Schiffs. Das piratische Moment des Eintretens, der Übergriff im Akt des Auftretens wird hier angesprochen. Enter Achilles, so lautet der Titel eines sehr bekannt gewordenen Tanz-Stücks der Gruppe DV8 Physical Theater aus dem Jahr 1995. Dabei geht es um das Eintreten eines Außenseiters in eine Gruppe von Männern in einer Bar. In dem Stück werden – mit Mitteln des Tanztheaters – Fragen von Männlichkeit, von Ein- und Ausschließungsritualen, von Genderstereotypen23 dargestellt. Das Stück wurde zu einem Markstein im masculinity- und queer-theory-Diskurs im Feld des Tanzes. Doch schon vor der inhaltlichen Debatte um Körperkonzepte ereignet sich das Moment des enter als ein Akt, eine Setzung, die Differenz nicht nur markiert, sondern im Handeln, ja: allein im Akt des Gehens, zeigt. Lloyd Newson, der Choreograf, ist sich dessen sehr bewusst, wenn er sagt: »If someone walks into a café, we have an immediate reaction to the way they look, how they hold their body, what their body’s telling us. As a creator you become aware of that information and you find ways to reveal that formaly, stylistically.«24 Lloyd Newson thematisiert hier enter, Eintreten als Auftreten im Doppelsinn – als ein Rahmensetzen von staging und als Überschreitung. Derjenige, der – wie akzentuiert oder auch nebenbei piratisch – in das Eintreten eintritt, erscheint in jenem Moment als der von außen; als Außenseiter, als der Fremde oder Andere.25 Dass in Enter Achilles der große Held der Antike, Achill, als mythischer Platzhalter für diesen Auftritt benannt wird, markiert umso deutlicher die Ambivalenz der Situation: das Eintreten, Betreten der Szene als eine Erfahrung oder als ein Momentum von Differenz und Fremdheit. Ist es nicht auch und gerade die Situation des Eintretens – politisch gesehen – in eine Gemeinschaft: ein coming closer, in der das Eindringen in diese Umgebung als Fremdkörper ein (piratisches) entering auslöst? Eine Choreografie also, die in diesem enter Ansteckungspotentiale entfaltet? Dies wäre eine Option, über virtuelle enterings in anderen Medien nachzudenken; ebenso wie über das Betreten eines Raums, eines Ortes, wie es die Occupy-Bewegung markiert. Damit wäre auch das Problem der Wirksamkeit als eine Frage des Gelingens angesprochen. Hier ist nicht nur die materielle Seite des Auftretens sich widersetzender Körper von Belang, son-

23 Vgl. Schulze, Janine: Dancing Bodies Dancing Gender – Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie, Dortmund: Edition Ebersbach 1999, S. 179f. 24 Tushingham, David: Dance about something – Interview mit Lloyd Newson, in: J. Schulze, Dancing Bodies, S. 183. 25 Zur Ambivalenz von Gender-Fragen sowie zum mythischen Motiv des Achill als Held in Frauenkleidern vgl. ebd. S. 193f.

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dern das entering eines Systems. Ein solches piratisches Eintreten bezeichnet Formen und Ökonomien in den Grauzonen des Rechts. Entering, das piratische, das heimliche und zugleich (gerade deshalb?) spektakuläre Auf-/Eintreten in eine Szene, einen Raum, eine Situation als Fremde oder Fremder beansprucht eine Ausnahmesituation. Es markiert ein konfliktäres Moment des Auftritts, indem die transformatorische Potentialität dieses Akts sich manchmal geradezu gewaltsam Evidenz und Geltung verschafft: der Modus des Auftritts als Usurpation. Demgegenüber lässt sich ein anderes Modell des Auftretens vorstellen: eine eher leise, unspektakuläre Art und Weise des In-ein-Verhältnis-Tretens, oder Erscheinens – in dem vielleicht sogar wieder das Wunder als ein Sich-Wundern möglich ist. Vielleicht ist aber auch und gerade dafür ein fremder Blick nötig? Auf einer Reise nach Japan in den neunziger Jahren begegnete mir erstmals im Tokioter Museum of Contemporary Art die Arbeit des Künstlers Hiroshi Sugimoto. An einer langen Ausstellungswand war eine Serie monochrom schwarzer Bildtafeln gehängt. Erst bei längerem Betrachten erkannte man, dass es sich um Fotografien handelte und dass die monochromen Flächen in schwarzanthraziten Flecken changierten. Abbildung 1: Hiroshi Sugimoto, Ionian Sea, Santa Cesarea, 1993

Quelle: Hiroshi Sugimoto

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Die Fotografien zeigten, oder besser, sie verwiesen auf seascapes: nächtliche Meeresansichten, die der Künstler als Serie an allen Küsten der Welt aufnahm.26 Abbildungen 2 und 3: Blick aus dem Haus auf das Wasser

Quelle: Michael Freeman

Die konkreten Räume verwischen sich auf der Fotografie in der Unterbelichtung ins Ununterscheidbare. Die Zeit der Welt-Reise – als reale Zeit der Darstellung – wird in der Museums-Ausstellung zum Raum einer gelöschten Kartografie. Sugimoto inszeniert seine Seestücke als Konstruktionen eines fliehenden Horizonts. So weit könnte eine solche Installation eines zeitgenössischen Künstlers auch in Europa gedacht werden. Doch mit der modernen Serie dieser schwarzen Horizonte verbindet sich darüber hinaus ein altes Blickmuster der japanischen Kul-

26 Vgl. Kellein, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed. Buch zur Ausstellung Hiroshi Sugimoto ›Time Exposed‹, Kunsthalle Basel 1995, Stuttgart: Edition Hansjörg Mayer 1995.

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tur, das mit dem Thema des Rahmens zusammenhängt. Es gibt ein japanisches Wort, shakkei, mit dem jene Blick-Ausschnitte bezeichnet werden, die in die Steingärten der Tempel Elemente der Hintergrund-Landschaft hineintragen. Ein berühmtes Beispiel für die Kunst der japanischen Gärten, die als sakuteiki, einer Gartenlehre der Schönheit, vielerlei Ausprägungen besitzt, ist der Steingarten des Ryôan-ji-Tempels in Kyoto.27 Beim Betrachten zeigen sich karge Kiesflächen, in die regelmäßige Furchen gezogen sind. Aus den Wellen dieses steinernen Meeres ragen Inseln von glatten oder kantig-bizarren Felsen; dazwischen ein Fleckchen Moos, alles sorgfältig komponiert und von größter Einfachheit: Der Blick auf die Szenerie dieser Bewegung, die durch die Anordnung der Steine rhythmisiert ist, fällt durch den Rahmen der Holzveranda und die Schiebetüren des Zen-Klosters. Von jedem Blickpunkt aus treten der Steingarten und der Horizont der ihn umgebenden Landschaft in Beziehung, in einen schweigenden Dialog. Shakkei: Die in solchen Rahmen übertragenen Ausschnitte der künstlich komponierten Natur nennt man ›geliehene Landschaft‹. Dieser Begriff ist, so untersucht es Itoh Teiji in seinem Buch Space and Illusion in the Japanese Garden, relativ jung in der japanischen Philosophie zur Gartenkunst.28 Das Phänomen jedoch, nämlich »Elemente der Hintergrundlandschaft für die Gartenkomposition zu borgen«, findet sich schon sehr viel früher.29 »Die Methode, ein Element der Hintergrundlandschaft einzurahmen und im Besucher die Illusion zu erwecken, es sei ein Teil des Gartens, führten zu der Einteilung des Shakkei-Gartens in vier Ebenen«30, – eine Konstruktion, die Natur konstelliert wie ein Still in einem theatralen Raum. Die Theatralität von shakkei, dessen Rahmen-Gebung ursprünglich mit dem Gedanken des ikedori, d.h. ›lebendig eingefangen‹ spielt, wurde zum Anlass für architekturale Gestaltung auch eines modernen shakkei.31 Der Theater- und Filmregisseur Miyamoto und der Architekt Tetsuo Gotō übertrugen die Tradition des shakkei, der ›geborgten Landschaft‹, auf die Konstruktion der Blickwinkel eines modernen Hauses. Für das im Süden Japans an der Küste Okinawas gele-

27 Vgl. Schaarschmidt-Richter, Irmtraud: Gartenkunst in Japan, München: Hirmer 1999. 28 Teiji, Itoh: Space and Illusion in the Japanese Garden, New York: Weatherhill Inc. 1980. 29 Vgl. Nitschke, Günter: Gartenarchitektur in Japan. Rechter Winkel und natürliche Form, Köln: Benedikt Taschen 1991, S. 206. 30 Ebd., S. 207. 31 Vgl. Mosé, Michiko R.: Der moderne japanische Garten. Von der Schönheit der Leere (mit Fotos von Michael Freeman), Stuttgart/München: DVA 2002, S. 34-39.

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gene Gebäude entwarfen und gestalteten sie den gerahmten Blick auf die Küste – eine Art »geborgtes Seestück«32. Abbildung 4: Blick/Rahmen aus dem Teeraum

Quelle: Michael Freemann

Die stille, gleitende – in einem emergenten Sinn relationale – Art des InErscheinung-Tretens ist hier kein Auftritt im spektakulären Sinn.33 Die Rahmung und die Evidenz dessen, was sichtbar wird, folgt einer anderen Ökonomie des Auf- und Ein-Tretens: dem Leihen. Und so ist es der Gestus dieses Leihens, mit dem ich meine Überlegungen zum Theater und dem Auftritt schließen oder eher: öffnen möchte. Der Gedanke dieses Leihens meint nicht Tausch und nicht Ersetzung, nicht ein Borgen – in einer Ökonomie von Nehmen und Rückerstatten; nicht die Wucherungen von Besitz und Ertrag mit dem Ziel einer Verrechnung

32 Ebd., S. 35. 33 Dieses Moment des Zeigens, Rahmens folgt vielmehr Prinzipien des Zen, d.h. einer Philosophie des Ästhetischen als Erfahrungs-Raum, wie dies als Kire gedacht wird: Vgl. Ôhashi, Ryôsuke: Kire. Das Schöne in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, übers. v. Rolf Elberfeld, Köln: Du Mont 1994. – Ich danke Rolf Elberfeld (Hildesheim) für inspirierende Gespräche und wertvolle Hinweise.

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der Macht der Erscheinung. Es ist ein Modus einer Rahmung, in der innen und außen zugleich erscheinen; ein Übergang, der die Übertragungs-Muster einer Figuralität des Auftretens nicht kennt: nicht die Schärfe der Illusion, nicht das Fiktive ›als ob‹; weder die Aura des Scheins noch den Verdacht der Lüge, denn es kennt nicht die Dualität von Sein und Schein, von Authentizität und Verstellung/Darstellung. Es ist ein anderer Rahmen – gleichsam das Öffnen einer Schiebetür für einen Auftritt: Leihen als ein sanftes Weitertragen. Mit dieser Wahrnehmung eines anderen, eines fremden Rahmens, möchte ich nun nicht etwa ein Plädoyer für die Übertragung eines anderen kulturellen Musters auf Globalisierungsszenen von Auftritten anschließen (dieser Zugriff wäre vielleicht schon zu gewaltsam); nur ein wenig leihen um der Wunder des Wunderns willen, das den Rahmen unserer Sichtweisen verrückt.

L ITERATUR Beyer, Vera: Rahmenbestimmungen. Funktionen von Rahmen bei Goya, Velásquez, van Eyck und Degas, Paderborn: Wilhelm Fink 2009. Brandl-Risi, Bettina: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Brsg.: Rombach 2013. Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle (Hg.): Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste, Freiburg i.Brsg./Berlin/Wien: Rombach 2008. Brandstetter, Gabriele: »Geschichte(n)Erzählen im Performance/Theater der neunziger Jahre«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999 ( = Recherchen 2), S. 27-42. Brandstetter, Gabriele: »Tanzen Zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 1990er Jahren«, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.), Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 45-61. Campe, Rüdiger: »Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft (DFG-Symposion 1995), Stuttgart: Metzler 1997, S. 208-226. De Cervantes Saavedra, Miguel: »Das Wundertheater«, in: Acht Schauspiele und acht Zwischenspiele, alle neu und nie aufgeführt, verfasst von Miguel de Cervantes Saavedra, hg. und übers. v. Anton M. Rothbauer, Stuttgart: Henry Goverts 1970. S. 1193-1215.

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Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Kellein, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed. Buch zur Ausstellung Hiroshi Sugimoto ›Time Exposed‹, Kunsthalle Basel 1995, Stuttgart: Edition Hansjörg Mayer 1995. Mosé, Michiko Rico: Der moderne japanische Garten. Von der Schönheit der Leere (mit Fotos von Michael Freeman), Stuttgart/München: DVA 2002. Nitschke, Günter: Gartenarchitektur in Japan. Rechter Winkel und natürliche Form. Köln: Benedikt Taschen 1991. Ôhashi, Ryôsuke: Kire. Das Schöne in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, hg. und übers. v. Rolf Elberfeld, Köln: Du Mont 1994. Pöppel, Ernst: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München/Wien: Hanser 2006. Schaarschmidt-Richter, Irmtraud: Gartenkunst in Japan, München: Hirmer 1999. Schulze, Janine: Dancing Bodies Dancing Gender – Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie, Dortmund: Edition Ebersbach 1999. Taussig, Michael: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, Hamburg: EVA 1997. Teiji, Itoh: Space and Illusion in the Japanese Garden, New York: Weatherhill Inc. 1973. Turner, Victor: »Are there universals of performance in myth, ritual, and drama«, in: Richard Schechner/Willa Appel (Hg.), By means of Performance. Intercultural Studies of Theatre and Ritual, Cambridge: University Press 1990, S. 8-18. Wirth, Andrzej: »Lob der dritten Sache. Jubiläumsrede am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft«, in: Spiegel der Forschung 20 (2003), Nr. 1, S. 118-125.

Royal Re-entries Zum Auftritt in der griechischen Tragödie* C HRISTOPHER W ILD

I. A ISCHYLOS ’ P ERSAE : E IN B ESIEGTER

KEHRT HEIM

Die abendländische Theatergeschichte setzt mit einer Szene des Wartens ein: »Wir heißen die Treuen im Volke der Perser das in den Kampf gegen Griechenland zog, und heißen die Wächter des reichen, goldglänzenden Schlosses; uns hat der Großkönig Xerxes der Sohn des Dareios, persönlich aufgrund unserer Würde erwählt, damit wir das Vaterland hüten. Doch um die Heimkehr des Königs und seines von Goldschmuck prangenden Heeres klopft unruhig schon, banger Ahnungen voll, unser Herz in der Brust – die gesamte Macht Asiens zog ja zu Felde –, es bedauert die jungen Soldaten; und weder zu Fuß noch zu Roß erreicht ein Bote die Hauptstadt der Perser.«1

*

Dieser Beitrag stellt die gekürzte Fassung des ersten Kapitels einer Monographie zum Auf- und Abtreten im europäischen Theater dar, die ich zusammen mit Juliane Vogel (Konstanz) verfasse und die 2015 beim Verlag Theater der Zeit erscheinen wird.

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Aischylos’ erstes überliefertes Stück Die Perser, das wahrscheinlich im Jahre 472 v. Chr. entstanden ist, beginnt mit dem Auftritt des Chors der Daheimgebliebenen, der Alten, die nicht mehr kriegstüchtig sind und die auf die Rückkehr der waffenfähigen jungen Männer warten, die mit ihrem König Xerxes gegen die Griechen ausgezogen sind. Es geht also um die Inszenierung des Wartens, um die Inszenierung des sehnsüchtigen Verlangens derer, die zurückbleiben mussten und die diejenigen herbeisehnen, die in die Ferne gegangen sind. Damit ist die Konstellation in nuce bezeichnet, die die Dramaturgie und Raumsemantik dieses Stücks strukturiert. Sie ist durch eine unüberbrückbare Distanz gekennzeichnet zwischen denen, die hier und daheim geblieben sind, und denen, die fortgegangen und weg sind, zwischen den jungen Männern und den Alten, zwischen denen, die handeln, und denen, die sprechen. Diese Differenz zwischen hier und dort, die in diesem Stück so stark markiert ist, ist aber auch die Differenz zwischen Bühne und Off. Zwischen beiden besteht keine Verbindung, denn die Daheimgebliebenen wissen nichts vom Schicksal der Fortgegangenen. Umso mehr ersehnen die Daheimgebliebenen die Heimkehr der Fortgegangenen oder zumindest Nachrichten über deren Verbleib. Fokus dieses Sehnens ist der abwesende Herrscher, der persische König Xerxes, von dessen Anwesenheit das Wohl des Gemeinwesens abhängt.2 Alles Denken und Wünschen des auf der Bühne anwesenden Personals ist somit auf dessen Auftritt gerichtet. Dieses sehnsüchtige Verlangen hat ein Vakuum zur Folge, das einen ungeheuren Sog ausübt. Im Falle der Perser strömen in dieses Informationsvakuum vielfältige Nachrichten und Zeichen ein. So hat die Königinmutter Atossa mehrere bedeutungsschwangere Träume, die von dem geschehenen Unheil künden. Daneben stellen sich Vogelzeichen ein, die in eine ähnliche Richtung deuten.3 Wenig später tritt dann ein Bote auf und bestätigt diese unheilvollen Omen.4 Als letztes vor der Rückkehr des Königs erscheint dann der Geist von Xerxes’ Vater, um die Niederlage des Sohnes und den Niedergang des persischen Reiches zu beklagen.5 Insgesamt haben die Nachrichten, die in den funktoten Raum der Bühne einströmen, alle die Funktion, die Rückkehr und den Auftritt des Königs, mit dem das Stück endet, zu rahmen und vorzubereiten. Der

1

Aischylos: »Die Perser«, in: Werke in einem Band, hg. und übers. v. Dietrich Ebener, Berlin und Weimar: Aufbau 1976, Z. 1ff. Aischylos’ Dramen werden im Folgenden nach dieser Ausgabe und mit Zeilenangaben zitiert.

2

Vgl. Ebd., 168ff.

3

Ebd., 205ff.

4

Ebd., 249ff.

5

Ebd., 680ff.

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größte Teil des Stücks besteht somit in der umständlichen Vermittlung des royal re-entry, als könnte bzw. dürfte der König nicht unvermittelt auftreten. Nur dienen die Vorbereitungen des Herrscherauftritts paradoxerweise, jedoch aus griechischer Sicht ganz konsequent, nicht dazu, diesen zu glorifizieren, sondern ganz im Gegenteil, diesen zu dekonstruieren. Überraschenderweise gerät somit der erste Königsauftritt des abendländischen Theaters zur Dekonstruktion und stellt damit die Weichen für die Assoziation der Gattung Tragödie mit dem ›Fall hoher Häupter‹. Wie an dem doppelten Auftritt der Königinmutter Atossa zu sehen ist, geht Aischylos bei der Dekonstruktion des royal re-entry ganz systematisch vor. Zuerst lässt er sie im Wagen triumphal einfahren:6 »Doch siehe, da tritt hervor, so leuchtend wie Augen der Götter, die Mutter des Großkönigs unsere Herrin! Wir sinken zu Boden. Wir allesamt haben ihr unseren Gruß mit höflichem Wort zu entbieten. Allerhöchste Herrscherin der tiefgeschürzten Perserfraun; Mutter, hochbetagt, des Xerxes; des Dareios Frau: Heil dir! Gattin eines Persergottes, Mutter eines Gottes auch – falls nicht jetzt das alte Glück für unser Heer geschwunden ist!«7

In der Beschreibung des Chors spiegelt sich die Figuration ihres Auftritts in seinen wichtigsten Aspekten. So lässt der Glanz ihrer Einfahrt ihre Gestalt gottähnlich erscheinen. Ihre erhöhte Position auf dem Wagen veranschaulicht die Machtdifferenz zwischen Herrscherin und Untertanen. Geblendet durch diesen ›orientalischen Glanzauftritt‹ werden die Untertanen in ihrer niedrigen Stellung fixiert. Umso drastischer kontrastiert damit ihr zweiter Auftritt, ihr re-entry, nachdem sie die Nachricht der persischen Niederlage erreicht hat. Nun tritt sie

6

Dass sich die Königinmutter bei ihrem ersten Auftritt auf einem Wagen befindet, macht der Text erst bei ihrem zweiten Auftritt ersichtlich, denn dann betont sie, dass sie im Gegensatz zum ersten Mal zu Fuß kommt. Vor der Einführung der Skenetür mussten Herrscher von einem der beiden eisodoi auftreten und um ihren Auftritt zu markieren, bediente man sich offenbar häufig eines Wagens. Vgl. dazu Taplin, Oliver: The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy, Oxford: Clarendon 1977, S. 76ff.

7

Aischylos: Perser, 150ff.

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zu Fuß, ohne Schmuck und wahrscheinlich auch ohne Gefolge – vollkommen glanzlos – auf: »Vom Hause kehre ich nunmehr hierher zurück, Nicht hoch zu Wagen, ohne Schmuck, wie ich vorhin Ihn trug…«8

Der Kontrast zwischen Atossas ersten und zweiten Auftritt veranschaulicht nicht nur Peripetie und Wechsel des Schicksals, sondern präfiguriert darüberhinaus natürlich den glanzlosen re-entry ihres Sohnes. Der Auftritt von Dareios’ Geist dient ebenfalls der Dekonstruktion des Glanzauftritts des orientalischen Herrschers bzw. der orientalischen Herrscherin. Denn Dareios macht rasch deutlich, dass mit ihm der bessere und wahre König auftritt – nur eben in der substanzlosen und schattenhaften Gestalt eines Gespenstes. Seine Kritik an Größenwahn und Maßlosigkeit seines Sohnes fällt vernichtend aus. Aber auch theatralisch stiehlt Dareios’ spektakulärer re-entry (und was ist das Erscheinen eines Geistes anderes als eine Wiederkehr) seinem Sohn die Schau, denn sein Auftritt wird als Epiphanie figuriert:9 »Ihr jammert, nah dem Grabmal stehend, und indem ihr laut die Schattenwelt beschwört, ruft kläglich ihr nach mir; doch ist der Weg herauf durchaus nicht leicht, die Götter in der Unterwelt begehren eher sich Beute zu gewinnen als sie freizulassen. Gleichwohl: ein Herrscher auch in ihrem Kreis, bin ich zur Stelle.«10

Obwohl unklar bleiben muss, wie diese erste Geistererscheinung des abendländischen Theaters im Einzelnen inszeniert wurde,11 macht sie doch eines klar: Selbst der Tod kann Dareios seine Königswürde und Macht nicht nehmen. Xerxes ist dagegen auch lebend nur ein Schatten seines Vaters. So macht die Sequenz ihrer Auftritte, oder anders ausgedrückt Xerxes ›Nachfolge‹, nicht nur die dynastische Sukzession sinnfällig, sondern auch seine Größe als König.

8

Ebd., 670ff.

9

O. Taplin: Stagecraft, S. 115. Die hymnische Form von Dareios’ Beschwörung (hymnos kletikos) lässt ihn zu einer übermenschlichen, ja göttlichen Gestalt werden.

10 Aischylos: Perser, 686ff. 11 Vgl. dazu O. Taplin: Stagecraft, S. 103–107 und S. 114–119.

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Der adventus des regierenden Königs Xerxes ist Höhe- wie auch Tiefpunkt des Stücks: Höhepunkt, weil alles im Stück darauf zuläuft, Tiefpunkt, weil Xerxes nicht im Triumph des Sieges heimkehrt, sondern geschlagen und in Schande. Die dramatische und theatralische Figurierung seines Auftritts liest sich wie die Umkehrung eines erfolgreichen Empfangsprotokolls. So bleibt Xerxes’ Auftritt, trotz der komplexen dramaturgischen Vorwegnahme seiner Rückkehr, vom Chor unangekündigt. Dieser trauert noch seinem Vater nach, als Xerxes mit einem »Wehe, o weh!«12 unvermittelt die orchestra betritt. Keiner begrüßt den König – wie zuvor seine Mutter – mit einem Kniefall; keiner erniedrigt sich, um ihm zu huldigen. Der König, der auf die Bühne tritt, ist von seiner erhöhten Stellung gefallen und präsentiert damit das Gegenteil des orientalischen Herrschers. Dass Xerxes tatsächlich hier ohne ›Empfangskommittee‹ auftritt, wird auch dadurch unterstrichen, dass Atossa der Aufforderung ihres verstorbenen Gatten Dareios offensichtlich nicht nachkommt und noch mal auf der Bühne erscheint, um ihren Sohn zu begrüßen: »Doch du, des Xerxes hochbetagte, liebe Mutter, tritt in das Schloß zurück, wähl aus den schönsten Schmuck und geh dem Sohn entgegen! In dem Schmerz, den er in seiner Not verspürt, zerreißt er überall am Leib in Fetzen seine prächtigen Gewänder.«13

An dieser Stelle versucht Dareios nicht nur den Empfang (als Komplement zum Auftritt) zu orchestrieren, er betreibt auch die Figurierung von Xerxes’ visueller Erscheinung. Der amtierende König tritt nämlich – im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger – in zerrissenen und zerlumpten Kleidern auf.14 Er erscheint zu Fuß und ohne großes Gefolge auf der Bühne.15 Der leere Köcher, den der Verlierer demonstrativ vorweist, symbolisiert die Gefährten und Gefolgsleute, die auf dem Schlachtfeld geblieben sind und ihn deshalb nicht im Triumph begleiten

12 Aischylos: Perser, 901. 13 Ebd., 832ff. 14 Deshalb tituliert ihn Siegfried Melchinger in: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München: Beck 1974, S. 73, als »Lumpenheld«. Vgl. auch Aischylos: Perser, 1029: »Mein Gewand zerriß ich unter dem Schlage des Unglücks.« 15 Allerdings wurde Xerxes wahrscheinlich von einem »verdeckten Wagen« (Aischylos: Perser, 1000) begleitet. Für eine eingehende Diskussion der Details dieses Auftritts vgl. O. Taplin, Stagecraft, S. 121–127.

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können. Insofern erfordert die Heimkehr eines geschlagenen Herrschers ein anderes, eigenes Empfangsprotokoll: »Um deiner Heimkehr den Gruß zu entbieten, muß ich einen Ruf, der Unglück verheißt, ein Lied von verderblichem Klang, nach Art eines klagenden Mariandyners, ertönen lassen, ein Wehegeschrei unter Tränen.«16

In den Persern ist der exodos (d.h. der Teil einer griechischen Tragödie nach dem letzten Chorlied oder stasimon) als einziges, langes Klagelied oder kommos gestaltet.17 Die Rückkehr des Königs mündet im tiefsten Leid. Gesang und Tanz vereinend spiegelt sich der Versfuß des Chorliedes im Schritt der Chorsänger, so dass sich Niederlage und Fall von König und Reich sicht- und hörbar im physischen Gang von Protagonist und Chor manifestieren: »XERXES. Schrei nun Antwort auf mein Gejammer! CHOR. O wehe, o weh! XERXES. Klagend zieh hin zum Palast! CHOR. Oh! Oh! Schwer wird das Gehen auf persischer Erde. […] XERXES. Klagt im schleppenden Marschtritt! CHOR. Oh! Oh! Schwer wird das Gehen auf persischer Erde.«18

Der König, der allein oder mit minimalem Gefolge auf der Bühne erschien, führt nun schweren Schrittes und klagend die Prozession des greisen Chors ab. Weniger als 200 Zeilen verbringt der König auf der Bühne, bevor er wieder abtritt. Und in dieser kurzen Zeit vergegenwärtigt er in seinem Erscheinungsbild lediglich, was zu diesem Zeitpunkt sowieso alle, dramatische Figuren wie auch Zuschauer, schon wissen. Mit anderen Worten ereignet sich nichts mehr als die Klage über vergangene Ereignisse. Zugespitzt formuliert tritt Xerxes auf, um abzutreten; zumal wenn man bedenkt, dass er viel spektakulärer ab- als auftritt. Letzteres geschieht ohne Aufwand und unangekündigt, ersteres dagegen ist der

16 Aischylos, Perser, 935ff. 17 Die einzige andere griechische Tragödie, die mit einem kommos endet, Euripides’ Trojanerinnen fokussiert auch Niederlage und Leid im Krieg. Vgl. Garvie, A.F. (Hg.): Aeschylus’ Persae, Oxford/New York: Oxford UP 2009, S. 336f. 18 Aischylos, Perser, 1066ff.

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Fokus der gesamten Interaktion zwischen König und Chor. So führt Aischylos Xerxes’ ›Niedergang‹ in der Figurierung seines Auf- und Abtretens augenfällig vor. Xerxes’ Auftritt bildet also das totale Gegenbild zu den glanzvollen royal entries orientalischer Herrscher. Bei seinem re-entry ist er ein Schatten seines machtvollen Selbst. Geschlagen und gedemütigt tritt er als der wahre Geist seines großen Vaters auf – und kehrt auch in diesem Sinne wieder. Mit den Persern inszeniert und installiert Aischylos ein dramaturgisches Grundmuster, dessen Bedeutung für die Figurierung des Auftretens in der griechischen Tragödie ich anhand einer Reihe weiterer Beispiele untersuchen werde. In diesem Stück findet sich die Dramaturgie der Heimkehr bzw. des nostos in Reinform, denn nichts lenkt vom Fokus auf den Auftritt des rückkehrenden Königs ab, kein anderer Konflikt, keine andere Handlung im Off.19 Alles läuft darauf zu und alles ist gelaufen, sobald der König zurückgekehrt ist. Auch wenn die Stücke, die ich im Folgenden untersuchen werde, diese Dramaturgie der Heimkehr variieren, bleibt doch das Auftrittsprotokoll des nostos klar erkennbar.

II. A ISCHYLOS ’ A GAMMENON : E IN S IEGER

KEHRT HEIM

Auch die erste und einzige erhaltene Trilogie der griechischen Tragödie beginnt mit einer Szene des Wartens. Am Beginn von Agamemnon sind orchestra und skene leer. Wir sehen die Fassade des königlichen Palastes von Mykene und keiner kommt heraus. Stattdessen hören wir die Stimme eines Wächters, der sich auf dem Dach des Skenegebäudes befindet. Er soll nach dem Schein des Signalfeuers Ausschau halten, das von der Rückkehr Agamemnons aus Troja kündet. Das Stück setzt also am Ende dieser Warte- und Wachzeit ein; und der Umstand, dass keiner auftritt, sondern der Wächter gewissermaßen immer schon da ist, symbolisiert sein jahrelanges Warten auf das zentrale Ereignis des Stücks: die Rückkehr des Königs aus dem (trojanischen) Krieg. In Agamemnon liegt also eine ähnliche Situation wie in den Persern vor. Auch hier ist die Bühne ein funktoter Raum, in dem man sehnsuchtsvoll auf Nachrichten aus dem Off wartet. Auch in Agamemnon geschehen Ankunft und Auftritt des zurückkehrenden Königs nicht unvermittelt, sondern sind in komplizierter Weise gestaffelt. Zuerst erreicht das Signal des Feuertelegraphen die Wartenden, dann wird es von einem Boten bestätigt. Erst dann kommt der König selbst an. Wie in den Persern ist das gesamte Stück um den Auftritt Agamemnons herum arrangiert. Allerdings

19 Vgl. O. Taplin: Stagecraft, S. 124f., Taplin spricht von »story pattern of the nostos play«.

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erweist sich hier die Dekonstruktion seiner triumphalen Heimkehr zweideutiger und komplexer. Zunächst ist einmal zu betonen, dass Agamemnon natürlich als siegreicher Feldherr des trojanischen Krieges heimkehrt. Sein adventus gestaltet sich mehr oder minder triumphal, denn Agamemnon tritt nicht zu Fuß auf, sondern fährt auf einem Wagen ein, auf dem er auch seine wichtigste Kriegsbeute, Priamus’ Tochter Kassandra mitführt. Wahrscheinlich muss man sich seinen Auftritt als regelrechten Triumphzug vorstellen, als lange Prozession, die an einem der eisodoi beginnt und an der skene endet.20 Der Glanz seines Auftritts spiegelt sich in der Lichtmetaphorik, die das Stück von Anfang bis Ende durchzieht. So wartet der Wächter seit Jahren im Dunkeln der Nacht auf das Feuerzeichen und begrüßt es ekstatisch: »Willkommen, Licht! Du läßt zum Tag die Finsternis entflammen und rufst auf zum Tanzgewimmel im Argeierland, zur Freude über unser Glück.«21

Später stellt der Bote, der die Nachricht der Feuerpost authentifiziert, einen expliziten Zusammenhang zwischen Licht und Fürst her: »Denn Licht in dunkler Nacht bringt er mit seiner Ankunft für euch und diese alle, er, Fürst Agamemnon.«22

Mit seiner Ankunft kehrt metaphorisch der Tag wieder nach Mykene zurück und sein Auftritt erstrahlt im Glanz seines ruhmreichen Sieges. Doch von Anfang ist der Glanz von Agamemnons triumphaler Heimkehr getrübt. Das fängt damit an, dass die Feuerpost natürlich von Klytemnästra installiert wurde und somit sich deren Glanz nicht vom König herschreibt, sondern von der Frau, die in seiner Abwesenheit seine Macht usurpiert und ihn durch Aigisthos ersetzt hat. Die erste Freude des Chors weicht schnell der Erinnerung an die Opferung Iphigenies und dem Gedenken an den Verlust so vieler Menschenleben um der Wiedergewinnung einer einzigen Frau willen. Nur wenig später bringt dann der Bote die Nachricht von dem Sturm, der die griechische Flotte auf ihrem Heimweg zerund Menelaus Schiffe verschlagen hat. Dies und noch einige andere Umstände lassen den Triumph Agamemnons in zweifelhaftem Licht erscheinen. Aber auch was seine eigentliche Ankunft anbelangt, knirscht es im Getriebe des Auftritts-

20 Vgl. dazu O. Taplin: Stagecraft, S. 305. 21 Aischylos: Agamemnon, 22ff. 22 Ebd., 521f.

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und Empfangsprotokolls. So ist sich der Chor nicht ganz im Klaren, wie er seinen zurückgekehrten Herrn begrüßen soll: »Wie soll ich dich grüßen? Wie soll ich dich ehren, ohne zu viel und ohne zu wenig dem richtigen Maß der Freude zu spenden?«23

Das Problem der korrekten Adressierung ist kein triviales. Denn erst die passende Rezeption macht den königlichen Auftritt. Ein schlechter Empfang kann gar den royal entry, den Glanzauftritt, scheitern lassen, was zu der paradoxen Konsequenz führt, dass der Souverän, der seine Macht im Zuge seines entrée manifestiert und konstituiert, darin von seinen Untertanen abhängig ist. Wie sehr der Erfolg von Agamemnons royal re-entry von seinem Empfang abhängig ist, zeigt die Rolle, die Klytemnästra dabei spielt. Denn tatsächlich führt sie von Anfang Regie über den triumphalen Einzug ihres Gatten. Voraussetzung dafür ist das Nachrichtensystem, das die Rückkunft Agamemnons ankündigt und das von Klytemnästra installiert worden ist, damit sie vorgewarnt ist und ihren Racheplan rechtzeitig in die Wege leiten kann. Dem Chor erscheinen die Zeichen dagegen als höchst zweideutig und erst der menschliche Bote, dessen Heimkehr die Agamemnons vorwegnimmt, schafft Gewissheit, dass der König im Anzug ist. Im Gegensatz zu der von Klytemnästra installierten Feuerpost ist der Bote allerdings von Agamemnon geschickt worden, um sicherzustellen, dass ihm ein Empfang bereitet wird, der ihm als siegreicher Feldherr angemessen ist. Daran zeigt sich schon, dass der Auftritt Agamemnons einer doppelten Regie untersteht. Zum einen meint natürlich Agamemnon, mächtigster aller griechischen Könige, immer noch Herr im eigenen Hause zu sein und damit auch die Kontrolle über seinen Eintritt zu haben. Zum anderen erkauft sich Klytemnästra durch die Feuerpost genügend Vorwarnzeit, um ihre eigenen Vorbereitungen zu treffen und Agamemnons Empfang nach ihren Plänen zu gestalten. Dass Klytemnästra in der Tat die dramatische Figur ist, die Regie über Agamemnons re-entry führt, zeigt sich auch darin, dass ihre eigenen Bühnenbewegungen sehr schwer bestimmbar sind. Ohne Regieanweisungen gibt der Dialog nur wenig Auskunft, wann genau Klytemnästra aus dem Palast heraustritt, und impliziert dennoch wiederholt ihre Anwesenheit. Für ihre Figur fehlen somit die in der griechischen Tragödie üblichen Auftrittsankündigungen. Darüberhinaus ist sie die einzige Figur, die bis zum Eintritt Agamemnons die Tür zum Palast benutzt hat – während für die anderen Figuren (Wächter und Chor) das Haus

23 Ebd., 785ff.

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Atreus letzlich undurchsichtig bleibt. Mit anderen Worten manifestiert sich Klytemnästras Macht auch darin, dass sie sowohl den Verkehrs- wie auch Nachrichtenfluss zwischen Palast und Außenwelt kontrolliert. Diese Kontrolle der Schwelle kristallisiert sich im Bild des Wachhunds, das Klytemnästra wiederholt aufruft, um ihre Rolle und Treue zu illustrieren.24 Ganz folgerichtig vertritt sie Agamemnon in genau dem Augenblick den Weg, als sich der Hausherr daran macht, vom Wagen herabzusteigen und in sein Heim einzukehren: »Jetzt will in den Palast und an den Heimatherd ich treten und die Götter grüßen, die mich einst weithin entsandten, jetzt nach Hause führten.«25

Nicht die Götter kontrollieren seine Heimkehr, wie Agamemnon meint, sondern seine – ihm inzwischen untreu gewordene – Gattin. Er ist offenbar nicht mehr Herr im eigenen Haus; und er mag sich Einlass nach Troja verschafft haben, aber nicht in sein eigenes Haus. Dieses kann er nur unter den Bedingungen betreten, die Klytemnästra diktiert.26 Und so verbringt er etwas unbeholfen die nächsten 100 Zeilen Dialog auf seinem Wagen, ohne absteigen zu können. Dass Klytemnästra buchstäblich für die ›Bahnung‹ von Agamemnons Auftritt zuständig ist, wird klar, wenn sie ihn auffordert: »[...] Steig mir, teures Haupt, herab vom Wagen, doch tritt, Herr, mit deinem Fuß, der Ilion zerstampft, nicht auf den bloßen Boden! Was säumt ihr, Mägde? Euch erteilte ich den Auftrag, des Weges Bahn mit Teppichen zu überdecken! So gleich sei Purpur seinem Schritt gebreitet; in ein Haus, das ihn erstaunt, soll Dike ihn geleiten.«27

Indem Klytemnästra Agamemnon nötigt, seinen Fuß statt »auf den bloßen Boden« auf die ausgebreiteten Purpurteppiche oder -tücher zu setzen, hält sie ihn auch davon ab, die heimatliche Erde zu betreten. Die Teppiche stellen eine direkte Verbindung zwischen Wagen und Haus her; sie bilden eine Art Brücke oder Bahn, von der abzuweichen für Agamemnon fast unmöglich ist. Mit der Aus-

24 Ebd., 896. 25 Ebd., 851ff. 26 Cf. O.Taplin: Stagecraft, S. 307. 27 Aischylos: Agamemnon, 906ff.

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breitung des Tuches lenkt Klytemnästra auch die Aufmerksamkeit darauf, dass Auftritte zwei Seiten haben: auf der einen Seite sind sie physische Bewegungen und auf der anderen semiotische Operationen. Beide manipuliert Klytemnästra. Zum einen kontrolliert sie die Bühnenbewegungen von Agamemnon und zum anderen kodiert und figuriert sie damit sein physisches Auftreten. Denn gerade um die Kodierung entspinnt sich zwischen den Ehegatten ein Streit. Agamemnon deutet die Symbolik des Purpurtuches nämlich ganz anders: »Auch sonst beschenk mich nicht, als wäre ich ein Weib, mit Prunk, auch grüß mich nicht, nach Weise der Barbaren, hin in den Staub gestreckt, lauthals, mit offnem Munde, und lenke nicht durch Breiten von Gewändern Neid auf meinen Weg! Nur Götter soll man derart ehren! Auf bunte Prachtgewebe kann ich meinen Fuß, als Sterblicher, nicht ohne tiefe Sorge setzen. Erweise Achtung mir als Menschen, nicht als Gott! Man nennt nicht Fußabtreter mit dem gleichen Namen wie Prachtgewänder…«28

In den Augen Agamemnons miss-figuriert der Tritt auf das Tuch ihn mindestens in dreifacher Weise: (1) Aufgrund seiner Assoziation mit weiblicher Handarbeit und der Sphäre des oikos feminisiert und entmännlicht seine Begehung den Herrn des Hauses.29 (2) Den Prunk und die Verschwendung, die Klytemnästra dadurch treibt, dass sie dieses kostbare Tuch als Fußabstreifer verwendet, ist eher einem barbarischen, sprich orientalischen Despoten angemessen, denn einem griechischen Fürsten. (3) Und die Ehre, die sie ihm dadurch angedeihen lässt, überhöht ihn so sehr, dass er damit Gefahr läuft, Neid und Vergeltung seitens der Götter herabzurufen. Somit kommt der Tritt auf das Purpurtuch dem Auftritt einer Frau, dem eines barbarischen Herrschers oder dem eines Gottes gleich, nur nicht dem eines sterblichen griechischen Mannes. Erst als sich der siegreiche Feldherr endlich geschlagen gibt, nennt Klytemnästra die Kodierung, die für die Figurierung von Agamemnons nostos am entscheidensten ist: »Es gibt das Meer – wer wird es jemals trockenlegen? –, stets neu nährt es den Saft, der kostbar ist wie Silber,

28 Ebd., 918ff. 29 Vgl. Morrell, Kenneth Scott: »The Fabric of Persuasion: Clytaemnestra, Agamemnon, and the Sea of Garments«, in: Classical Journal 92 (1996), S. 141-165, hier S. 146.

44 | C HRISTOPHER W ILD den Saft des reichen Purpurs, der die Kleider färbt. Das Haus besitzt davon, mit Götterhilfe, reichlich, mein König; der Palast weiß nicht, was Armut ist.«30

Vordergründig dient der Verweis auf den Ursprung des Färbemittels aus dem Meer31 dazu, den unerschöpflichen Reichtum des Hauses Atreus darzutun. Doch gefärbt mit dem Blut von Meeresschnecken ist das Tuch noch eng mit seinem Ursprungselement verbunden; so eng, dass Agamemnon dem Meer gar nicht entkommt und anlandet, wenn er vom Wagen heruntersteigt. Er ist gewissermaßen noch immer auf hoher See, wenn er auf das Tuch tritt. Und erst wenn er ins Haus eintritt, dann betritt er Land. Aber auch dann nicht, denn es vergeht nicht viel Spielzeit, strenggenommen nur der Monolog Kassandras, und er endet wieder im Nass. Das Netz, mit dem ihn Klytemnästra im Bad wie ein Meereswesen fängt, ist das Pendant zu dem Purpurtuch, mit dem sie ihn ins Haus lockt. Der Gewandteppich fungiert also als Brücke zwischen zwei Offs, zwischen Meer und Haus, die sich für die griechischen nostoi gleichermaßen als Orte des Schreckens erweisen. Denn für nostoi wie Agamemnon oder Odysseus erweist sich das eigene Heim als fast noch gefährlicher als die Ebene von Troja oder das stürmische Meer, dem sie entronnen sind. Im Agamemnon dekonstruiert Aischylos den ersten Glanzauftritt der abendländischen Theatergeschichte. Systematisch zerlegt er den royal re-entry in seine Einzelteile und reflektiert dramaturgisch und theatralisch auf die doppelte Dimension des Auftretens bzw. ›Tretens-Auf‹. Gerade in dessen Störung und Scheitern wird natürlich die Feinmechanik des (Glanz-)Auftritts sichtbar. Denn indem Aischylos die physische Dimension des Auftretens ostentativ ausstellt, kommt auch seine symbolische Dimension zu Tage. Normalerweise geht erstere in letzterer auf und wird gewissermaßen vergessen. Aischylos’ Agamemnon und die anderen hier untersuchten Stücke entspringen jedoch einer Theaterkultur, die ausgesprochen sensibel für die körperliche Verfasstheit des Auf- und Eintretens war und sie deshalb immer wieder zum Gegenstand theatralischer und dramatischer Reflexion machte.

30 Aischylos: Agamemnos, 958ff. 31 Gewonnen aus verschiedenen Arten der marinen Stachelschnecken (Muricidae).

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III. H EIMKEHR

INKOGNITO :

O REST

UND

O DYSSEUS

Im Universum der antiken Intertexte wird Agamemnon als erster Heimkehrer aus Troja zum negativen Exemplum, von dem die anderen nostoi (Heimkehrer) lernen, wie man es nicht macht. Es sind vor allem zwei nostoi, die aus der fatalen Heimkehr Agamemnons lernen: Orest und Odysseus. Im Exil im benachbarten Phokis ist es für Orest nicht schwer, Informationen über die Umstände der Ermordung seines Vaters zu bekommen. Umhergespült im Mittelmeerraum tut sich Odysseus da um einiges schwerer. Im elften Buch der Odyssee erzählt Homer, wie Odysseus auf Geheiß Circes in die Unterwelt hinabsteigt, um sich bei Tireisias Rat zu holen, wie er erfolgreich nach Ithaka heimkehren kann. Dabei trifft er auch Agamemnon, dessen Rat für die eigentliche Heimkehr mindestens genauso wichtig ist: »Darum solltest auch du jetzt niemals gar zu vertraulich sein mit deinem Weibe, noch ihr die ganze Rede kundtun, so gut du sie weißt, sondern nur das eine sage ihr, das andere bleibe ihr verborgen! […] Doch noch ein anderes will ich dir sagen, du aber nimm es auf deinen Sinn: lege mit deinem Schiff nicht offenkundig in deinem väterlichen Lande an! Denn es ist kein Verlaß mehr auf die Frauen.«32

Odysseus nimmt sich diesen Rat zu Herzen und kehrt – mit der Hilfe Athenes – als Fremder verkleidet unerkannt heim und vermeidet auf diese Weise das fatale Ende Agamemnons. Textgeschichtlich ist es natürlich umgekehrt und der nostos, von dem die Odyssee erzählt, ist das Vorbild für all die anderen griechischen nostoi. Deshalb werde ich anhand der Odyssee auf einige Elemente des nostosNarrativs eingehen, die für seine Dramatisierung und Theatralisierung in den überlieferten griechischen Tragödien besonders wichtig sind. Die Odyssee erzählt einen bestimmten nostos, nämlich den des Odysseus. Zugleich war sich Homer der anderen nostoi, die zu seiner Zeit erzählt wurden, wohl bewusst. Tatsächlich nahm er eine ganze Reihe dieser nostoi in die Odyssee auf: die Heimkehr von Agamemnon, von Menelaus, von Nestor und einiger anderer griechischen Helden. Er lässt Odysseus nach seiner Ankunft auf Ithaca gar einen erfundenen nostos erzählen, um mit dieser Lügengeschichte seine Identität zu verschleiern. Literaturgeschichtlich bildet Homers Odyssee natürlich das paradigmatische Beispiel für das nostos-Narrativ und war insofern modellbildend für zahllose andere Geschichten von der Heimkehr griechischer Kämp-

32 Homer: Odyssee, hg. und übers. von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg: Rowohlt 1958, S. 150.

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fer aus Troja – von denen die meisten (die Geschichten, nicht die Kämpfer) verschollen sind. Vergleicht man beide Epen Homers, dann bildet der nostos das Gegenstück zum Konzept des kleos (griechisch für ›Ruhm‹), das bestimmend für das Handeln der Helden auf dem Schlachtfeld vor Troja in der Ilias ist. Kleos ist die Währung, mit der Helden der Ilias ihren sozialen Status und Wert und den ihres oikos etablieren und bemessen. Wie Leslie Kurke gezeigt hat, standen kleos und nostos in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis: »The nature of Greek society also exerted a centrifugal pull on the individual through the constant rivalry of aristocratic households for achievement and prestige.«33 Da dieser agonistische Wettstreit nicht innerhalb des oikos stattfinden konnte, wurden dessen männliche Angehörige in die Fremde getrieben, um dort Ruhm zu erlangen. Diese Taten in der Fremde wurden natürlich zum Ruhm des Hauses vollbracht, so dass dieses zugleich auch eine zentripetale Anziehungskraft ausübte. Diese entgegensetzten Anziehungskräfte resultieren in einer oszillierenden Bewegung, die Kurke mit dem Begriff »loop of nostos«34 zusammenfasst. Der Heros muss das Haus verlassen, um kleos zu akkumulieren, und nur ein erfolgreicher nostos versetzt ihn in die Lage, die Früchte seines Ruhmes genießen zu können. Paradigmatisch wird diese Ideologie im zwölften Buch der Ilias von dem lykischen Helden Sarpedon artikuliert, der seine Heimat verlässt, um auf trojanischer Seite so viel kleos wie möglich zu akkumulieren. Während sich in der Odyssee kleos und nostos komplementär zueinander verhalten, insofern deren Protagonist Odysseus – wenn auch nach langer Verzögerung – beides bekommt, schließen sie einander in der Ilias – zumindest für ihren Protagonisten Achill – aus. Der Held der Ilias muss sich zwischen einem langen, aber ruhmlosen Leben zu Hause und einem kurzen, aber ruhmreichen Leben, das in der Fremde endet, entscheiden. Für ihn gibt es entweder kleos oder nostos, aber nicht beides. Während die homerischen Epen kleos und nostos also trennen, insofern die gesamte Ilias auf dem Schlachtfeld des Ruhms spielt und gut die Hälfte der Odyssee mit der eigentlichen Heimkunft befasst ist, ergibt sich in den griechischen Tragödien ein anderes Bild.35 Denn diese verstoßen gegen die Auslage-

33 Kurke, Leslie: The Traffic in Praise: Pindar and the Poetics of Social Economy, Ithaca: Cornel UP 1993, S. 16. 34 Ebd. 35 Tatsächlich sind die Verhältnisse in der Odyssee jedoch komplizierter. Weil die Freier in seiner Abwesenheit das Gastrecht verletzt und das akkumulierte Kapital verzehrt haben, bringt Odysseus den Krieg heim und macht aus seinem Haus ein Schlachtfeld. Mit anderen Worten erringt er durch die Art und Weise seines Heimkehrens kleos.

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rung des agon aus dem oikos. In vielen der überlieferten Tragödien trägt der nostos die Gewalt, mittels derer der Ruhm auf dem Schlachtfeld errungen wird, in das Haus und zerstört die Familie des Heimkehrers. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass – angeregt und vermittelt durch die Odyssee – der meist gewalttätige nostos das häufigste dramaturgische Modell der griechischen Tragödie darstellt. Steht nicht die Inszenierung der eigentlichen Heimkehr im Zentrum, wie das bei Aischylos’ Persern, Agamemnon, seinen Choephoroi, bei Sophokles’ Trachinierinnen und seiner Elektra, bei Euripides’ Hippolytos (Theseus’ Heimkehr), Andromache, Heracles, Elektra und den Bakkhen der Fall ist, dann werden sie entweder vorbereitet, wie zum Beispiel in Euripides’ Helena, Ion, Iphigenia auf Tauris und in seinen Abfahrtsstücken Hekuba und Trojanerinnen; oder nachbereitet wie Aischylos’ Sieben gegen Theben, Euripides Phoenissae und vor allem Sophokles’ Oedipos Tyrannos. Wie Kurkes Wendung vom »loop of nostos« deutlich macht, folgt dieser dramaturgische Plot einer charakteristischen räumlichen Logik. Als Heimkehr relationiert der nostos Haus und die Weite des Mittelmeerraumes. Auf der einen Seite steht das Eigene und Bekannte, auf der anderen das Unbekannte und Fremde; auf der einen Seite der umschlossene, begrenzte und bestimmte Raum des oikos und auf der anderen Seite die Tiefe und Unbestimmtheit des Meeres. Das On der Bühne spannt sich auf zwischen diesen zwei Offs, dem engen Off, das durch die skene markiert und gebildet wird, und dem fernen Off, das das Schlachtfeld wie auch den dazwischen liegenden Reiseraum einschließt. Der Ort des Tragischen in diesen nostos-Dramen ist somit der schmale ›Küstenstreifen‹ zwischen dem häuslichen und maritimen Off36 und das zentrale dramatische Ereignis besteht in der Überschreitung dieses Schwellenraums. Es ist gerade die Diskrepanz zwischen dem trauten Heim und dem Raum da draußen, welche die Heimkehr zur Heimkehr macht. Von einem Abstecher in den Nachbarort kommt man zurück, kehrt aber nicht heim. Dazu muss man die vertraute Sphäre des Eigenen verlassen und ins Unbekannte reisen. Überhaupt besteht der nostos in der Navigation von weiten, gefährlichen Räumen und beruht deshalb auf der Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit des Reisens im Allgemeinen und der Meerreise im Besonderen. Das ist auch der Grund, dass die Daheimgebliebenen keine oder nur unzureichende Informationen über Verbleib und Schicksal des Reisenden haben. Wie wir gesehen haben und sich auch in der Odyssee zeigt, ist das Haus ein funktoter Raum, in den unablässig falsche wie wahre Nachrichten über die Heimkehrer einströmen. Und in den bis jetzt ange-

36 Eine ähnliche Beobachtung macht Barthes, Roland: On Racine, New York: Hill & Wang 1963, S. 3, für Racines Dramatik.

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sprochenen Texten zeigt sich, wie kompliziert und unzuverlässig die nachrichtendienstliche Verwertung sein kann. Die Zweideutigkeit der Nachrichten und Vorzeichen von den Heimkehrern spiegelt die Irritation, die ihre Identität im »loop of nostos« erfährt. Denn der Plot des nostos zeichnet sich durch ein kompliziertes Wechselspiel von Identität und Differenz aus. Sowohl die Heimkehrenden als auch die Daheimgebliebenen gehen einerseits von der Fiktion aus, dass sich nichts geändert hat; dass das Zuhause noch so ist, wie es der Heimkehrer verlassen hat, und dass der Heimkehrer im Wesentlichen derselbe geblieben ist. Auf der anderen Seite haben sich natürlich sowohl Heim als auch Heimkehrer zutiefst verändert; so sehr, dass sie sich gegenseitig nicht wiedererkennen. So erkennt Odysseus sein heimatliches Ithaka zunächst gar nicht (zu Anfang von Buch XIII), als er von den Phaiaken dort (allerdings im Schlaf) abgesetzt wird (und man sollte natürlich auch erwähnen, dass Pallas Athene die Insel mit einem Nebelschleier verfremdet). Umgekehrt vermögen die Daheimgebliebenen Odysseus, der in Gestalt eines Fremden erscheint, nicht zu erkennen. Die Verkleidung und Verstellung von Odysseus ist somit nicht nur seiner – Agamemnon abgeschauten – klugen Voraussicht geschuldet, sondern lässt sich auch als Symptom für die Verfremdung verstehen, die dem nostos in der Fremde widerfährt. Deshalb ist die Wiedererkennung auch so ein wichtiges Moment der Heimkehr. Es ist gerade dieses Wechselspiel von Fremdheit und Bekanntheit, welche die anagnorisis möglich und notwendig macht. Nur weil der Heimkehrende bekannt ist, kann er wiedererkannt werden, und nur weil er durch sein Wegsein verfremdet wurde, muss er überhaupt erst wiedererkannt werden. Darüberhinaus wird die anagnorisis durch die Verkleidung, d.h. die intendierte Verfremdung noch schwieriger und dringlicher gemacht. Die Wiedererkennung ist also ein integrales Moment der erfolgreichen Heimkehr. Erst mit der Wiederkennung vollendet sich Odysseus’ nostos; erst durch die Wiedererkennung durch die Familienmitglieder und die soziale Umwelt, kann es zur vollständigen Integration des Heimkehrers in seine alte Heimat kommen und er in seiner sozialen Position re-installiert werden. Mit der Wiedererkennung vollzieht sich die Heimkehr also nicht nur an, sondern auch für sich. Dass der nostos nicht allein in der physischen Heimkehr besteht, zeigt sich an der komplizierten und umständlichen Staffelung der verschiedenen Wiedererkennungen von Odysseus: zuerst durch Telemach, dann durch den treuen Schweinhirt Eumaios, die alte Magd Eurykleia, die Freier, Penelope, und zum Schluss durch seinen eigenen Vater, um nur die wichtigsten zu nennen. Anagnorisis bildet somit einen essentiellen Bestandteil des Empfangsprotokolls seitens

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der Daheimgebliebenen, ohne das, wie der fatale Fall von Ödipus zeigt, die Heimkehr unvollendet bleibt. Natürlich hat der Rat von Agamemnon die paradoxe Konsequenz, dass der Heimkehrer am besten als Fremder auftritt, um sicher und wohlbehalten zu Hause aufgenommen zu werden. Denn als Fremder steht er unter dem Gesetz der Gastfreundschaft. Dieses fängt für die nostoi die Kontingenz und Unberechenbarkeit des Reisens ab. Weil man nie weiß, wo man hin verschlagen wird, muss man darauf hoffen können, gastfreundlich aufgenommen zu werden. Somit stützt das Gesetz der Gastfreundschaft den »loop of nostos« und das deshalb notwendige Reisen. Die sogenannten xenia bezeichneten einen strikten Verhaltenskodex zwischen Gastgeber, Gast, Fremden und Schutzflehenden, mit dem sich die Griechen von Nicht-Griechen, d.h. Barbaren abzusetzen glaubten.37 Wie die Erinnyen bzw. Eumeniden im gleichnamigen Stück von Aischylos betonen, ist die Verletzung der Gastfreundschaft gleichbedeutend mit Frevel gegenüber den Göttern und Missachtung und Gewalt gegen die Eltern.38 Insofern verpflichteten sich Gastgeber und Gast, sich gegenseitig so zu behandeln, als wären sie verwandt. Dazu gehört, keine der Frauen des oikos zu verführen (sondern gewissermaßen exogam zu bleiben) und sich in Konflikten und Kämpfen auf Seiten des Gastfreundes zu schlagen. Fremde gastlich aufzunehmen, ist zudem buchstäblich ein Akt der Frömmigkeit, da sich diese bekanntlich als verkleidete Götter erweisen können und entsprechend großzügig aufgenommen werden sollten.39 Folgerichtig war Zeus Xenios der Schirmherr des Gesetzes der Gastfreundschaft, der dessen Verletzung unnachgiebig ahndete, wie ja der trojanische Krieg zeigt, der damit begann, dass Paris die Gastfreundschaft von Menelaus missbrauchte und dessen Frau ver- und entführte. Bei ihrer Heimkehr sind also die Soldaten des trojanischen Krieges genau auf das Gesetz angewiesen, für dessen Geltung sie u.a. zehn Jahre kämpften. Wie man in Homers Odyssee immer wieder sehen kann, beinhalteten die xenia mehr und minder streng geregelte Prozeduren zur Begrüßung und Aufnahme des Fremden. Ein guter Gastgeber bereitet seinem Gast ein Bad, stellt ihm frische Kleider zur Verfügung und bereitet ihm ein Mahl, das dem Reichtum seines Hauses angemessen ist. Darüberhinaus wird von ihm erwartet, dass er dem Fremden die Mittel verschafft, um ein Opfer für seine sichere Weiterreise darzu-

37 Roth, Paul: »The Theme of Corrupted Xenia in Aeschylus’ ›Oresteia‹« in: Mnemosyne 46 (1993), S. 1–17, hier S. 2. 38 Aischylos: Eumeniden, 269ff & 540ff. 39 Vgl. dazu Pitt-Rivers, Julian: »The Law of Hospitality«, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory 2 (2012), S. 501–517, hier S. 506ff.

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bringen. Mit der Abreise endet jedoch die durch gastliche Aufnahme und Beherbergung begründete Beziehung keineswegs, denn Gastgeber und Gast, ja sogar deren Nachkommen, sind von nun an ein Leben lang in Gastfreundschaft (xenia) verbunden – wie das Beispiel von Diomedes und Glaukos im sechsten Buch der Ilias zeigt.40 Als Empfangsprotokoll bildet der Brauch der Gastfreundschaft somit das Komplement zum Auftrittsprotokoll des nostos. Das hat natürlich vor allem damit zu tun, dass der Heimkehrer als Fremder heimkehren muss, um erfolgreich heimzukehren. Aber wie zahlreiche Beispiele aus dem Haus Atreus zeigen, wird auch der unverkleidete Heimkehrer nach den Regeln der Gastfreundschaft empfangen. So hat Paul Roth überzeugend gezeigt, dass der Topos der pervertierten xenia – angefangen mit dem kannibalistischen Gastmahl, das Atreus seinem Bruder Thyestes serviert – die gesamte Orestie durchzieht.41 Die Trilogie endet nicht zufällig in Athen, das – in Absetzung von z.B. Theben – berühmt für und stolz auf seine Gastfreundlichkeit war und seine Bereitschaft, Flüchtlingen und Schutzflehenden Asyl zu gewähren. Folgerichtig rücken gleich drei griechische Tragödien diese athenische Tugend in den Mittelpunkt: die Eumeniden, Sophokles’ Oedipus auf Kolonos und Euripides’ Herakles, wo Theseus dem berühmten Helden das Gastrecht in Athen anbietet, nachdem er in Raserei seine Familie umgebracht hat. So gesehen bildet die athenische Gastfreundlichkeit eine wesentliche Rezeptionsbedingung seitens der Zuschauer für den reentry und Auftritt der nostoi auf der Bühne des Dionysostheaters. Wenden wir uns nun mit Orest der anderen Figur zu, die aus dem fatalen nostos von Agamemnon lernt und die zudem in der Odyssee immer wieder als Vorbild (vor allem für Telemach) zitiert wird. Sein ›nostos management‹ in den Choephoroi beleuchtet nämlich die auftrittstheoretische Dimension der anagnorisis. Wenn Orest auf der Bühne erscheint und den Mitgliedern seiner Familie entgegentritt, dann ist er dennoch für diese noch nicht da, da er sich noch nicht zu erkennen gegeben hat. Anagnorisis stellt nicht nur eine zentrales Moment des nostos dar, sondern jeden Auftretens. Denn wenn anagnorisis im Grunde »ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis ist«42, wie Aristoteles definiert, dann involviert jeder erste Auftritt (egal, ob für die Zuschauer oder für die dramatis personae) eine solche Wiedererkennung: Der Auftretende ist zunächst ein Fremder, der erkannt oder wiedererkannt werden muss. Anagnorisis trägt somit entscheidend zur Figurierung des Auftritts bei.

40 Vgl. Homer: Ilias, VI. 224ff. 41 Vgl. dazu P. Roth: Corrupted Xenia, passim. 42 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hg. und übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982, Kap. 11, 1452a.

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In der ersten Begegnung zwischen Orest und seiner Schwester Elektra, der ersten Wiedererkennungsszene der abendländischen Theatergeschichte, kommt es einmal mehr zu einer komplizierten Staffelung der verschiedenen Dimensionen des Auftretens. Der »Umschlag von Unkenntnis zu Kenntnis« geschieht hier, ganz entgegen dem Rat von Aristoteles in der Poetik43, durch eine Reihe externer Zeichen, die Orest für Elektra, jedoch nicht nur für sie, allmählich in Erscheinung treten lassen. Die Wiedererkennung beginnt damit, dass Elektra die Locken, die ihr Bruder am Grabe des Vaters gespendet, findet und mit ihrem eigenen Haar vergleicht. Obgleich sie die Familienähnlichkeit erkennt, implizieren diese Spenden für sie die Abwesenheit des Spenders bzw. Senders. Weil er selbst nicht kommen kann, schickt er stellvertretend Locken von sich. Dennoch bleiben Zweifel und ähnlich wie der Chor in Agamemnon wünscht sich Elektra die Bestätigung durch einen menschlichen Boten. Erst sein Auftritt würde Gewissheit über das Schicksal des Bruders bringen: »Ach, wäre es begabt mit Stimme, als ein Bote, ich brauchte nicht unschlüssig hin und her zu schwanken.«44

Solange ein Bote ausbleibt, bedarf es weiterer Zeichen, um dieses Erkennungszeichen zu authentifizieren und auszudeuten. Das nächste Zeichen in dieser gestaffelten anagnorisis sind bekanntlich Orests Fußabdrücke: »Sieh, Fußeindrücke, weitere Bestätigung: Die Füße sind ganz ähnlich und entsprechen meinen! Die Spuren weisen auf ein Paar von Männern, auf Orestes selbst und einen noch, der ihn begleitet. Wenn man die Fersen und den Sohlenabdruck mißt, so stimmen sie mit meinen Tapfen überein. Mich packt ein jäher Schmerz, die Sinne schwinden mir.«45

Wie in der Purpurteppichszene im Agamemnon ist es auch hier kein Zufall, dass Aischylos in dieser Szene die auftrittstechnische Dimension dieses Erkennungszeichens und allgemeiner der Wiedererkennung systematisch reflektiert. Zunächst einmal besteht dieses Erkennungszeichen in den Spuren, die Orests physischer Auftritt hinterlassen hat. Wie die Locken implizieren sie die Abwesen-

43 Aristoteles: Poetik, Kap. 16. 44 Aischylos: Cheophoroi, 195f. 45 Ebd., 206ff.

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heit des Aufgetretenen. Solange er an der Stelle steht, wo seine Spuren sein werden, kann man sie schlichtweg nicht sehen. Er muss aufgetreten sein, damit man die Spuren seines Auftritts überhaupt erst sehen kann. Aber im Gegensatz zu den Locken, erfordern die Fußspuren – zumindest in den Choephoroi – den Nachvollzug, um gedeutet werden zu können. Denn Elektra erkennt die Fußabtritte des Bruders, indem sie sie mit ihren eigenen Füßen vergleicht (so unwahrscheinlich es sein mag, dass zwei Geschwister verschiedenen Geschlechts identische Fußgrößen und –formen haben), ja buchstäblich hineintritt. Noch deutlicher gesagt: Sie erkennt ihn, indem sie den Auftritt des Bruders nachvollzieht. Und genau in dem Moment, in dem Elektra Orests Fußspuren erkennt, tritt er in vivo auf: »ELEKTRA. [...] Mich packt ein jäher Schmerz, die Sinne schwinden mir. ORESTES tritt mit Pylades aus dem Versteck hervor: Den Göttern melde die Erfüllung deines Flehens, und fleh zugleich auch für die Zukunft um Erfolg!«46

Es ist, als würde die Wiedererkennung seiner Fußabtritte ihn sinnlich zur Erscheinung bringen oder noch prägnanter: auftreten lassen. Doch seltsamerweise vermag sie seine leibhaftige Gestalt nicht zu erkennen: »Du hast vor Augen mich und willst mich nicht erkennen! doch als du hier die Locke sahst vom Grabesopfer und meine Spuren dir zu deuten suchtest, da gerietst du außer dir und glaubtest mich zu sehen! Schau, halte an den Schnitt der Locke, die vom Haar des Bruder stammt: das Haar paßt trefflich zu dem deinen! Sieh dies Gewand auch, deiner Hände Werk, den Schlag des Spatels und das eingewebte Bild der Tiere!«47

Es scheint fast, dass die leibhaftige Präsenz von Orest seine Wiedererkennung sabotiert oder wenigstens irritiert. Der Umstand, dass Elektra ihn zu sehen und mithin zu erkennen glaubt, wenn er abwesend nur mittels Zeichen re-präsentiert wird, deutet auf die Rolle der Einbildungskraft bei der Wiedererkennung hin. Es ist das Erinnerungsbild, das von den Zeichen evoziert wird und von ihr wiedererkannt wird. Umgekehrt dient es aber zum Vergleich mit dem realen Orest, der

46 Ebd., 211ff. 47 Ebd., 225ff.

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– aufgrund seiner langen Abwesenheit – davon notwendig differiert. Das Vermögen, das die Wiederkennung überhaupt erst ermöglicht, sabotiert sie also im Falle Elektras beinahe. Die Wiedererkennung durch seine Schwester Elektra ist nur eine Station von Orests umständlichem re-entry. Wie bei Odysseus erfolgt die Heimkehr von Orest gestaffelt, muss er von den verschiedenen Angehörigen seines Hauses immer wieder neu wiedererkannt werden, um Eintritt in den oikos zu erhalten und in seiner rechtmäßigen Stellung (re-)installiert zu werden. Denn vergessen wir nicht, dass mit Orest der rechtmäßige König heimkehrt und Klytemnestra und Aigisthos die Herrschaft nur usurpiert haben.48 Mit anderen Worten gilt es den nostos und Auftritt von Orest als Variation des royal re-entry zu lesen, den Aischylos in den Persern und Agamemnon inszeniert hat; eben als Variation, die darauf zielt, den fatalen Fehler seines Vaters zu vermeiden. Wie Orest gegenüber Elektra und dem Chor betont: »Der Plan [ist] einfach. […] Als Ausländer, in voller Reisetracht, will ich mit ihm hier, Pylades, mich hin zum Schloßtor wenden, ein Fremder neben einem alten Freund des Hauses.«49

Orest gibt sich nicht nur als Fremder aus, sondern auch als Bote seines eigenen Todes. Er gibt die Botschaft einer Reisebekanntschaft weiter: »Wo du nun ohnehin schon, Freund, nach Argos ziehst, so richte doch, gewissenhaft, den Eltern aus, Orestes sei gestorben!«50

Er bedient sich also der Ankündigungs- und Vermittlungsdramaturgie des royal re-entry, nicht nur um sie um ein Glied zu erweitern, sondern auch um sie auf

48 Als Sohn von Thyestes und damit Cousin von Agamemnon hat Aigisthos zwar einen gewissen Anspruch auf den Thron, dennoch wird er in der Orestie als Usurpator dargestellt. Darüberhinaus wird er als schwacher Souverän dargestellt, der neben Klytemnestra die zweite Geige im Staat spielt. Das zeigt sich auch auftrittstechnisch: Aigisthos tritt so spät wie keine andere Hauptfigur in der griechischen Tragödie auf (Ebd., 837ff). Er kommt erst, nachdem alles schon gelaufen ist. 49 Ebd., 554ff. 50 Ebd., 680ff.

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den Kopf zu stellen. Denn mit der Nachricht seines eigenen Todes verkündet er sein endgültiges Ausbleiben. Er kündigt an, dass er nie an- und heimkommen wird, und wiegt damit die Usurpatoren seines Thrones in Sicherheit. Gegenüber dem Diener, der ihm auf sein wiederholtes Klopfen die Haustür öffnet, beruft er sich auf das Gesetz der Gastfreundschaft: »Den Herrn des Hauses überbringe gleich die Meldung: Ich bin mit einer neuen Botschaft für sie hier. Beeile dich, schon rollt das finstere Gespann der Nacht herbei, die Stunde mahnt den Wanderer, im gastfreundlichen Hafen Anker auszuwerfen.«51

Bezeichnenderweise respondiert nicht der Herr, sondern die Frau des Hauses diesem Anruf: »Ihr Fremden, ihr könnt eure Wünsche äußern! Was dem Haus hier angemessen ist, steht zur Verfügung, ein warmes Bad, ein Lager, das den müden Leib erquickt, und pflichtgetreue aufmerksame Diener.«52

Das Empfangsprotokoll der Gastfreundschaft verschafft Orest also eine erfolgreiche Heimkehr und Eintritt in sein Haus. Die Heimkehr von Odysseus und Orest stellen also einen eigenen Typus des royal re-entry dar: Sicher kehrt der rechtmäßige König nur heim, wenn er als Fremder auftritt. Die Heimkehr des Königs gelingt nur, wenn er nicht als König auftritt, wenn er als sein Gegenteil auftritt, ja wenn er seinen Tod meldet; eine Heimkehr, die allerdings erst einmal wieder scheitert. Denn bekanntlich wird Orest infolge des Muttermordes viel nachhaltiger exiliert, wenn er von Furien getrieben seine Heimatstadt verlassen muss. Erst über den Umweg nach Athen und die Institution einer neuen Rechtsordnung gelingt die endgültige Rückkehr nach Argos. Daran wird jedoch ersichtlich, dass die Orestie als Ganzes die erfolgreiche und endgültige Heimkehr des rechtmäßigen Thronfolgers des Hauses Atreus betreibt.

51 Ebd., 658ff. 52 Ebd., 668ff.

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IV. D AS (D IONYSOS -)T HEATER E URIPIDES ’ B AKCHEN

KEHRT HEIM :

Nicht zufällig werden in der metatheatralischsten aller griechischen Tragödien, Euripides’ Bakchen, Dramaturgie und Auftrittsprotokoll des nostos selbstreflexiv. Auch Dionysos’ Auftritt im Prolog erweist sich als Heimkehr an seinen Geburtsort: »Hier bin ich nun, in Theben, ich, der Sohn des Zeus, Dionysos, den einst des Kadmos Kind, Semele, in eines Blitzes Feuerstrahl zur Welt gebracht. Als Gott in menschlicher Gestalt erreichte ich den Quell der Dirke und die Fluten des Ismenos. Das Grabmal meiner Mutter, die der Blitz erschlug, erblick ich dort am Schloß, und ihres Hauses Trümmer […]«53

Mit der Rückkehr an die Stätte seiner Geburt rekapituliert Dionysos seine Ankunft in menschlicher Gestalt. Sein Auftritt auf dem Theater vollzieht somit seine Geburt zur Sichtbarkeit nach: »[Z]ur Welt gebracht« wird er durch Kaiserschnitt; herausgeschnitten mit des »Blitzes Feuerstrahl«, der ihn aus der Dunkelheit des mütterlichen Leibes ans Licht bringt. Mit seinem Prologauftritt identifiziert sich Dionysos nicht nur, indem er sich in den Stammbaum des Königshauses von Theben einreiht, sondern er kartiert auch den gesamten geographischen und semantischen Raum des Stücks: »Von den Gefilden Lydiens und Phrygiens, die reich an Schätzen, über die besonnene Flut der Perser, Baktras Mauern, durch das rauhe Land der Meder, das gesegnete Arabien und durch ganz Asien, das längs der Salzflut sich erstreckt mit hochgetürmten Städten voller Volk, in dem sich Griechen und Barbaren bunt vereint, kam ich, erstmalig hier, in eine Griechenstadt, nachdem ich dort schon meine Reigen eingeführt und Weihen: Zeigen will ich mich als Gott den Menschen!

53 Euripides: Bakchen, in: Tragödien, griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Bd. VI, Berlin: Akademie 1980, 1ff.

56 | C HRISTOPHER W ILD Als erste Griechenstadt erfüllte Theben ich mit Jubel […]«54

Seine Ankunft übers Meer aus Asien her wiederholt oder antizipiert, je nachdem welche Chronologie man anlegt, die Heimkehr der Griechen aus Troja. Es überrascht nicht, dass Dionysos Heimkehr keine einfache ist. Denn obgleich er mit diesem Auftritt heimkehrt, ist es zugleich die erste Ankunft in Griechenland, mithin die erste Wiederkehr. Im Gegensatz zu den Barbaren, die seinen Kult bereitwillig angenommen haben, haben die Griechen seinen Versuchungen bis jetzt widerstanden. Obgleich Theben und Griechenland seine Heimat sind, sind sie auch die Orte, wo er am fremdesten geblieben ist. Viel bereitwilligere und offenere Aufnahme hat er in der Fremde gefunden. In der Fremde zuhause ist er zuhause fremd.55 Dionysos erscheint in menschlicher und damit fremder Gestalt, als Fremder, so dass er nicht ohne weiteres wiedererkannt werden kann und zugleich wiedererkannt werden muss. Somit realisiert er die göttliche Latenz des Fremden, worauf das griechische Gesetz der Gastfreundschaft beruht. Euripides nimmt wörtlich, dass jeder Fremde ein Gott sein kann. Aber er ist eben auch ein Fremder, der immer schon dazu gehört. Insofern ist der Kampf um Wieder- und Anerkennung, welcher im Zentrum des Stückes steht, u.a. auch der Dramaturgie des nostos geschuldet. Umgekehrt hat die mangelnde Anerkennung die Folge, dass Dionysos permanent im Kommen und am Erscheinen ist. Der dionysische re-entry, den Euripides in den Bakchen inszeniert, wiederholte sich jedes Jahr bei der Veranstaltung von Athens Großen Dionysia.56 Einige Tage vor deren Beginn wurde die hölzerne Statue des Dionysos aus dem Tempel in der Stadt, der im Theaterbezirk gelegen war, entfernt und zu einem kleinen Altar (eschara) im Gymnasium der Akademie gebracht. Dieser war außerhalb der Stadtmauern an der Straße nach Böotien gelegen und bildete die letzte Station auf dem Weg von und nach Eleutherai (wo Dionysos ursprünglich verehrt wurde). Dort verblieb die Inkarnation des Gottes einige Tage, um dann am Vorabend der Dionysia in einem feierlichen Fackelzug, der eisagoge apo tes escharas, wieder in das theatron eingeführt zu werden.

54 Ebd., 13ff. 55 Ausführlicher dazu Detienne, Marcel: Dionysos. Göttliche Wildheit, Frankfurt und New York: Campus 1992, S. 13ff. 56 Für das Folgende vgl. u.a. Deubner, Ludwig: Attische Feste, Berlin 1932, reprint Hildesheim: G. Olms 1959, S. 138–142, und Parke, H.W.: Festivals of the Athenians, Ithaca und New York: Cornell UP 1977, S. 125–136.

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Die eigentlichen Theaterfestspiele begannen also mit einer Re-Inszenierung der ursprünglichen Überführung des Dionysos und seines Kultes aus Eleutherai. Da der Gott aber inzwischen natürlich in Athen ansässig geworden war, bildete die Einführung gleichzeitig eine Heimkehr. Entscheidend ist, dass Dionysos nicht einfach in Athen anwesend ist. Seine Anwesenheit in Athen ist Funktion seiner An- bzw. Wiederkunft. Deshalb bezeichnet ihn Walter Otto als »kommenden Gott, dessen [Kultformen] ihn als Kommenden [zeigen], den Epiphaniengott, dessen Erscheinung dringender und zwingender ist, als die irgend eines anderen Gottes.«57 Bei seiner Ankunft im Rahmen des Antihesterienfestes, welches im gleichnamigen Monat (Januar/Februar) gefeiert wurde, bediente sich Dionysos eines Verkehrsmittels, das im vorliegenden Zusammenhang besonders relevant ist – und zwar eines hölzernen Schiffskarrens, dem sogenannten carrus navalis.58 Wenn Dionysos also jedes Frühjahr in Athen ankommt, dann kehrt er wie so viele andere griechische nostoi aus dem maritimen Off heim. Wie die siegreichen Heimkehrer aus Troja zieht Dionysos im Triumph ein und wird auf diese Weise zum göttlichen Vorbild für die meisten antiken Triumphatoren.59 Das lateinische Wort triumphus, das in die meisten europäischen Sprachen eingegangen ist, ist nicht umsonst vom griechischen thriambos abgeleitet, die Hymne, die im Zuge der dionysischen Festprozessionen gesungen wurde.60 Zusammenfassend schreibt Paul Brooks Duff: »The political entrance procession of the Greco-Roman world were an outgrowth of Greek epiphany processions. […] During the classical period, the epiphany procession was exemplified by the Dionysus processions of the Athenian festivals. In the politically motivated processions of the Greco-Roman period, the appearance of the conqueror or ruler before the gates of the city was frequently treated as the epiphany of a new god, and

57 Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960, S. 7. 58 Ähnliche Einzüge auf dem Schiffskarren oder katagogia sind aus anderen ionischen Städten wie Smyrna, Ephesos, Priene und Milet bezeugt. In Smyrna wurde ein von einem Priester gesteuertes Schiff vom Hafen aus auf Rädern in die Stadt gefahren, mit dem dann auf dem Markt ein Umzug veranstaltet wurde. Vgl. L. Deubner: Attische Feste, S. 102-4; W.F. Otto: Dionysos, S. 61, und Versnel, H.S.: Triumphus. An Inquiry in the Origin, Development, and Meaning of the Roman Triumph, Leiden: E.J. Brill 1970, S. 36. 59 Vgl. W.F. Otto: Dionysos, S. 73 und vor allem H.S. Versnel: Triumphus, S. 11ff. 60 H.S. Versnel: Triumphus, S. 16.

58 | C HRISTOPHER W ILD as a result, the subsequent procession escorting the ruler into the city took on the characteristics of the entrance of a deity.«61

Der royal entry in der griechischen und römischen Welt – und damit im westlichen Abendland – ist also im wesentlichen dionysischen Ursprungs; ist theatralisch in diesem ursprünglichen rituellen Sinne. Bis ins Detail sind, ohne dies hier im Einzelnen nachweisen zu können, Dramaturgie und Ikonographie des adventus bzw. triumphus des antiken Herrschers dem Einzug von Dionysos nachgebildet. Der entry von Dionysos ist, wie deutlich geworden ist, immer schon ein reentry. Für den entry des Herrschersauftritts in der antiken Tragödie und anderswo bedeutet dies, dass dieser im doppelten Sinne re-entry ist: zum einen im ursprünglichen Sinne, in dem das Kommen von Dionysos immer schon ein Wiederkommen ist; und zum anderen in dem abgeleiteten, dass das Kommen des Herrschers immer auch die Ankunft von Dionysos wiederholt. Die dionysische Dramaturgie und Regie des antiken Herrscherauftritts wird in den Bakchen theatralisch reflektiert, wenn Dionysos in Gestalt des Fremden Pentheus’ Auftritt bis ins kleinste Detail orchestriert. Dabei beaufsichtigt er nicht nur dessen Einkleidung und Schminke, sondern er dirigiert auch dessen Choreographie – und transformiert ihn auf diese Weise in eine Bakche und damit Anhängerin seines Kultes. Hält man die schon besprochene Teppichszene in Aischylos’ Agamemnon daneben, dann wird klar, dass die Entmachtung von Pentheus und die Demonstration von Dionysos’ überlegener Macht nicht drastischer hätte ausfallen können, als wenn aus dem patriarchalen und der Rationalität verschriebenen Herrscher Pentheus eine rasende Mänade wird. Diese selbst-reflexive Szene macht deutlich, dass die Verfremdung im Falle des dionysischen re-entry theatralischen Ursprungs ist. Anagnorisis ist nicht allein wegen der Verfremdung gefordert, die dem »loop of nostos« inhäriert, sondern durch die dionysische Transformation, die das Selbst verwandelt – sei es durch Umnachtung oder durch Maskierung und Verkleidung. Nicht nur verbreitet der lärmende und tanzende Gott Wahnsinn, so dass selbst Familienangehörige sich fremd werden und nicht wiedererkennen, seine Fremdheit ist auch seiner Maskierung geschuldet. Der Gott des Theaters ist der maskierte Gott – und in Gestalt der Maske wird er auch gemeinhin verehrt.62 Der maskierte Auftritt im Theater ist somit eine Kulthandlung, in der immer auch der Gott zur Erschei-

61 Duff, Paul Brooks: »The March of the Divine Warrior and the Advent of the GrecoRoman King. Mark’s Account of Jesus’ Entry into Jerusalem«, in: Journal of Biblical Literature 111 (1992), S. 55–71, hier S. 59. 62 Vgl. W. F. Otto: Dionysos, S. 80ff.

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nung kommt. Wie Walter Otto betont, gehört die Maskierung zur Struktur der dionysischen Epiphanie, die die Erscheinung »dessen [ist], was da ist und zugleich nicht da ist.«63 Der Auftritt des Dionysos ist somit ein Kommen, das in seinem Entzug, auf sein Wiederkommen, d.h. seinen re-entry angelegt ist. Wie Marcel Detienne treffend bemerkt, sind die menschlichen Gehwerkzeuge lebenswichtige Organe des dionysischen Körpers.64 Dionysos’ Ankunft, sein Auftreten hat nämlich gravierende physische Konsequenzen. Sein Kommen schreibt sich buchstäblich in den Körper seiner Anhänger ein. Dem Gott zu folgen, heißt, in den »Tanzschritt der Bakche«65 zu verfallen. Im Theater ist es der sogenannte bacchische Schritt, wobei der Fuß schnell nach vorne geschleudert wird, der in Athen um 500 v. Chr. von Pratinas, dem Tanzmeister der Satyrchöre, einstudiert wird. Und bekanntlich unterscheidet man den tragischen vom komischen Schauspieler an der Gangart, den Schuhen und den Schritten, mit dem sie immer wieder auf den Boden der orchestra treten. Besonders deutlich manifestiert sich diese dionysische Choreographie am Beispiel der beiden Greise Kadmos und Teiresias, deren Schritt durch die Ankunft von Dionysos regelrecht verjüngt wird. Sie vertauschen ihre Gehstöcke mit dem Thyrsos, der neben Hirschkalbfell und Efeu das wichtigste Requisit der Bakchen bildet, und beginnen zu tanzen und zu springen. Dionysos Lysios (abgeleitet von dem griechischen Verb luein ›lösen‹) löst den durch Alter beeinträchtigten Gang und transformiert ihn rhythmisch. Noch immer dreibeinig sind ihre Schritte nun mehr gestützt und beschwingt durch die lösende Kraft des Gottes. Wie so ein dreibeiniger Tanzschritt auszusehen hat, macht der als Fremder verkleidete Dionysos selbst vor, als er Pentheus in eine Bakche verwandelt: »PENTHEUS. Soll ich, um einer Bakche besser noch zu ähneln, den Thyrsos mit der Rechten oder Linken fassen? DIONYSOS. Rechts halte ihn, und schwinge zu der gleichen Zeit den rechten Fuß!«66

Mit dem Erlernen der bakchischen Tanzschritte vollendet sich Pentheus’ Verwandlung zur Bakche. Die Anerkennung von Dionysos’ Macht, der sich Pentheus so stur widersetzt hatte, geschieht auftretend. An Pentheus’ schreckli-

63 Ebd., S. 84. 64 Vgl. für das Folgende M. Detienne: Göttliche Wildheit, S. 52ff. 65 Euripides: Bakchen, 168. 66 Ebd., 941ff.

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chem Schicksal demonstriert Dionysos, was dem Herrscher widerfährt, der der dionysischen Choreographie des re-entry nicht folgt.

L ITERATUR Aischylos: »Die Perser«, in: Werke in einem Band, hg. und übers. v. Dietrich Ebener, Berlin und Weimar: Aufbau 1976. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hg. und übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1982. Barthes, Roland: On Racine, New York: Hill & Wang 1963. Detienne, Marcel: Dionysos. Göttliche Wildheit, Frankfurt und New York: Campus 1992. Deubner, Ludwig: Attische Feste, Berlin 1932, reprint Hildesheim: G. Olms 1959. Duff, Paul Brooks: »The March of the Divine Warrior and the Advent of the Greco-Roman King. Mark’s Account of Jesus’ Entry into Jerusalem«, in: Journal of Biblical Literature 111 (1992), S. 55–71. Euripides: Bakchen, in: Tragödien, griechisch und deutsch von Dietrich Ebener, Bd. VI, Berlin: Akademie 1980. Garvie, A.F. (Hg.): Aeschylus’ Persae, Oxford/New York: Oxford UP 2009. Homer: Odyssee, hg. und übers. von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg: Rowohlt 1958. Kurke, Leslie: The Traffic in Praise: Pindar and the Poetics of Social Economy, Ithaca: Cornel UP 1993. Melchinger, Siegfried: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München: Beck 1974. Morrell, Kenneth Scott: »The Fabric of Persuasion: Clytaemnestra, Agamemnon, and the Sea of Garments«, in: Classical Journal 92 (1996), S. 141-165. Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960. Parke, H.W.: Festivals of the Athenians, Ithaca und New York: Cornell UP 1977. Pitt-Rivers, Julian: »The Law of Hospitality«, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory 2 (2012), S. 501–517. Roth, Paul: »The Theme of Corrupted Xenia in Aeschylus’ ›Oresteia‹« in: Mnemosyne 46 (1993), S. 1–17. Taplin, Oliver: The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy, Oxford: Clarendon 1977.

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Versnel, H.S.: Triumphus. An Inquiry in the Origin, Development, and Meaning of the Roman Triumph, Leiden: E.J. Brill 1970.

Attraction universelle Opernauftritte zwischen Ancien Régime und Aufklärung A NNETTE K APPELER

P ROLOG Der französische Hof unter Louis XIV. ist durch wirkungsvolle Formen des Erscheinens bestimmt, sein Zeremoniell ist in höchstem Maße auftrittsbetont. Die höfische Bewegungserziehung verwendet einen nicht geringen Teil ihres Ausbildungsprogramms auf die Vermittlung des richtigen Eintretens.1 Mächtige Personen präsentieren sich im Rahmen von prunkvollen entrées als Herrscher über geographische, architektonische und soziale Räume. Im Akt des Eintretens lenken sie nicht nur die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich, sondern ordnen diese durch ein detailliertes Protokoll um sich an. Die Choreografie der entrées entwirft eine soziale Ordnung, bei der jede scheinbar noch so beiläufige Bewegung Bedeutung gewinnt. Die entrée ist dabei häufig Geste der Unterwerfung, sie bedeutet die Machtübernahme von Herrschenden über geographische und soziale Räume.2 Das Hofzeremoniell des Ancien Régime gestaltet so eine maximale Sichtbarkeit der Machthabenden, die im Moment des Eintretens in besonderer Weise augenfällig wird. Die zeremonielle Ordnung der entrées birgt dabei von Beginn an die Gefahr des Misslingens. Durch kleinste Abweichungen vom Protokoll können soziopolitische Ordnungen ins Wanken geraten.

1

Hilton, Wendy: Dance of Court & Theater. The French Noble Style. 1690-1725, Princeton: Princeton Book Company 1981, S. 281.

2

Vaillancourt, Daniel: »La ville des entrées royales. Entre transfiguration et défiguration«, in: Dix-septième siècle 53 (2001), Nr. 3, S. 491-508, hier S. 492.

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Theatrale Bewegungsformen des französischen Hofes orientieren sich stark an einer zeremoniellen Ordnung des Erscheinens. Auftritte in ballet und Theater werden in Anlehnung an die höfische entrée gestaltet und an sich im 17. Jahrhundert etablierende Bühnenformen adaptiert. Theatrale Bewegungsformen, ihre Krisen und Transformationen stehen in enger Beziehung zu soziopolitischen Zusammenhängen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem der elementaren Umbrüche der europäischen Auftrittskultur. Das von höfischen Auftrittsformen geprägte Theater des Ancien Régime wird im Zuge der Aufklärung durch eine Theaterform abgelöst, die ihre Bewegungsordnung auf neue naturphilosophische Diskurse bezieht. Ich werde diese Umstrukturierung anhand derjenigen Gattung nachzeichnen, die am französischen Hof die beherrschende ist: der tragédie en musique, der Oper des Ancien Régime. In einem ersten Schritt werde ich zeremonielle Auftrittsformen des Ancien Régime im Allgemeinen und der tragédie en musique im Besonderen aufzeigen, in einem zweiten Schritt werde ich auf diskursive Grundlagen einer Transformation der theatralen Auftrittsordnung eingehen. Abschließend werde ich die theatrale Bewegungsordnung der Aufklärung anhand zweier Opern des wahrscheinlich bedeutendsten Opernreformers vor Wagner – Christoph Willibald Gluck – erläutern.

E NTRÉE Im Rahmen einer allgemeinen Zentralisierung und Reglementierung der Künste und Wissenschaften werden in Frankreich Ende des 17. Jahrhunderts zahlreiche académies gegründet, darunter die Académie d’Opéra (1669), die es sich zum Ziel setzt, eine spezifisch französische Operntradition zu begründen. Die neue Gattung der tragédie en musique soll die Überlegenheit französischer Kultur und des absolutistischen Herrschaftssystems in ganz Europa demonstrieren. Die Oper des Ancien Régime ist dabei eine stark auftrittsbetonte Gattung: In immer neuen Figurationen setzt sie den Eintritt des absoluten Herrschers bühnenwirksam in Szene. Künste und andere Wissensformen wie Musik, Literatur, Tanz, Maschinentechnik, Architektur, Malerei, Lichttechnik und Akrobatik fügen sich zu einem Ganzen, um die Gattung zu dem zu machen, was sie hundert Jahre lang sein wird: das zentrale Instrument der Herrscherinszenierung. Dabei orientiert sich die tragédie en musique direkt an Bewegungsformen der entrée royale. Die vor der Folie des antiken Triumphzugs gestaltete Einzugsprozession ist für den französischen Hof von außerordentlicher Bedeutung. Entrées sind fester Bestandteil der meisten zeremoniellen Handlungen und vieler

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theatraler Formen. In festlichen Einzügen werden Ankünfte einflussreicher Personen gestaltet und in Machtzusammenhänge gestellt. Im Rahmen von entrées wird die Verfügungsgewalt der Ankommenden über Territorien und Personengruppen verwaltet und ein soziales Gefüge hergestellt.3 Die Menge der Teilnehmenden ist während der entrées um eine zentrale Person gruppiert. Diese ist Mittelpunkt und organisierendes Prinzip der Inszenierung, der jeweilige Abstand zu ihr markiert die soziale Position der Teilnehmenden.4 Die zentrale Funktion der entrée ist es dabei, den Eintritt des Souveräns in geographische, architektonische und soziale Räume in Szene zu setzen. Sein Auftritt wird in einem eigens für die jeweilige entrée gestalteten Raum vollzogen, durch ausführliche Ankündigungsrituale vorbereitet und von musikalischtänzerischen Darbietungen begleitet. So bildet das Durchschreiten temporär installierter Triumphbögen einen zentralen Moment vieler entrées. Für die entrée Louis XIV.’ nach Paris (1660) konstruiert der für Dekoration und Maschinen von ballets, tragédies en musique und höfische Feste zuständige Gaspare Vigarani mehrere Triumphbögen, durch die der Souverän die Stadt Paris betritt.5 Die Triumphbögen werden in den folgenden Jahrzehnten zu fest installierten Stadttoren, die den Einzug des Königs und dessen Machtübernahme als feste Bausubstanz in der Anlage der Stadt festschreiben. Das Eintreten des Souveräns bedeutet die Verwaltung von Machträumen und sozialen Strukturen: Der Eintritt des Königs in die Stadt gestaltet die räumliche und soziale Ordnung auf längere Sicht mit. Dabei setzen Herrscher-entrées Maßstäbe für alle festlichen Inszenierungen des französischen Hofes. Robert Isherwood stellt in seinem Buch Music in the Service of the King fest, die entrée Henris II. nach Paris (1549) habe für Jahrzehnte das Modell für alle höfisch-theatralen Formen vorgegeben.6 Auch die französische Hofoper, die tragédie en musique, entwirft paradigmatische Herrscherauftritte, die zeremonielle Elemente der entrées aufnehmen und weiterentwickeln. Herrscherfiguren werden hier mittels langwieriger Ankündigungsprozesse auf der Bühne verortet. Sie bilden den Mittelpunkt der Bühnenbewegungen und übernehmen die vollständige Kontrolle über Bühnenräume und das (Auftritts-)Geschehen: Sie haben die Macht, Figuren erscheinen oder verschwin-

3

Althoff, Gerd/Götzmann, Jutta/Puhle, Matthias et al. (Hg.): Spektakel der Macht? Rituale im Alten Europa 800-1800, Darmstadt: Primus 2008, S. 392.

4

Ebd.

5

Isherwood, Robert M.: Music in the Service of the King. France in the Seventeenth Century, Ithaca/London: Cornell 1973, S. 13.

6

Ebd., S. 57.

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den zu lassen. Während der König in entrées und früheren höfisch-theatralen Formen wie dem ballet de cour physischer und symbolischer Mittelpunkt der Choreografien war, wird er nun auf der Theaterbühne von wechselnden theatralen Stellvertretern ersetzt und lässt sich selbst im Publikumsraum nieder. Dort wird ein Ort für ihn bereitgestellt, an dem alle Achsen der zentralperspektivischen barocken Bühne zusammenlaufen, von dem aus er den Bühnenraum entwirft und überblickt. Abbildung 1: Jean Marot, Entrée de 1660, Arc de triomphe dans le Marché Neuf

Quelle: Paris, Bibliothèque nationale

S OLEIL Das Modell der entrée royale, des triumphalen Herrschereinzugs, wird in der tragédie en musique mit einer zweiten Form des Königsauftritts überblendet: dem Sonnenaufgang, der den Herrscher als alle blendendes Zentralgestirn auf die Bühne bringt. Dabei wird auf eine seit dem Mittelalter präsente Analogie zwischen Planetenbewegungen, Choreografien und sozialen Strukturen zurück-

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gegriffen: Zeremonielle und theatrale Bewegungen stellen demnach astronomische wie soziale Ordnungen dar und beeinflussen diese. Das Gleichgewicht der himmlischen Ordnung, die gesellschaftliche Stabilität und deren theatrale Repräsentationen sind demnach eng aneinander gebunden.7 Die als Sonne(ngott) auftretende Figur bringt durch ihre Anziehungskräfte andere Bühnenbewegungen erst hervor und ordnet diese um sich an. Die Sonne ist dabei nicht den Einschränkungen der Schwerkraft unterworfen, da sie ein Kräftegleichgewicht erst herstellt: Sie bewegt sich souverän auf allen Achsen der Theaterbühne. Mit dem solaren Auftrittsmodell avanciert in der tragédie en musique der vertikale Auftritt auf Bühnenmaschinen zur paradigmatischen Erscheinungsform des Souveräns. Ein vertikales Auftreten bedeutet ein Gebieten über Bühnenräume und -bewegungen, die nun im begrenzten Bühnenraum des Theaters dreidimensional um den Herrscher angeordnet werden. Maschinentechnik und nicht zuletzt vertikale Maschinenauftritte spielen für Aufführungszusammenhänge von tragédies en musique eine entscheidende Rolle. Maschinenmeister sind unmittelbar am Inszenierungsprozess beteiligt, sie gestalten das Raum- und Bewegungskonzept einer tragédie en musique mit. Die Mehrheit der französischen Theatersäle ist mit einem komplexen Maschinenapparat ausgestattet, der einerseits die Bedienung der Kulissen und des Schlussprospekts erlaubt und andererseits vertikale Auf- und Abtritte vom Raum oberhalb und unterhalb der Bühne möglich macht.8 Dabei kann die technische Ausführung der Auftrittsmaschinen stark variieren, sie befördern aber im Allgemeinen einen oder mehrere Akteure durch ein System von Seilwinden von der Oberbühne auf die Szene oder lassen diese durch Klappen im Bühnenboden in vertikaler Bewegung auf diese aufsteigen.9 Der paradigmatische Herrscherauftritt wird in Frankreich im Rahmen eines Maschinenauftritts der königlichen Familie eingeführt. In den Aufführungen der Oper Ercole Amante in der Salle des Machines (1662) besteigt diese in einem der ersten groß angelegten vertikalen Auftritte in Frankreich eine Bühnenma-

7

Deshoulières, Christophe: »Machinérie cosmique et scène néo-baroque«, in: Revue d’Esthétique. Les images trafiquées 21 (2002), S. 41-49, hier S. 47.

8

Die in Frankreich eingesetzte Maschinentechnik beruht auf Erfindungen italienischer Maschinenmeister wie Niccolo Sabbatini, Giovanni Aleotti und Giacomo Torelli. In Texten vom Beginn des 17. Jahrhunderts sind die von ihnen entwickelten Maschineneffekte beschrieben, so z.B. in Sabbatini, Nicola: Practica di fabricar scene e macchine ne’ teatri, Ravenna 1638/39.

9

Lazardzig, Jan: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 42.

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schine: Während des Prologs der Oper wird eine etwa achtzehn mal vierzehn Meter große Maschine, in der die königliche Familie Platz nimmt, von der Oberbühne auf die Szene herabgelassen.10 Dieser Auftritt ist modellbildend für alle vertikalen Maschinenauftritte: Er macht deutlich, dass Auftritte aus der Oberbühne auf die Person des Herrschers bezogen sind. Maschinenauftritte nehmen von nun an einen Ort ein, der nicht mehr physisch vom König besetzt ist, aber weiterhin auf diesen verweist. Während hundert Jahren setzt sich die tragédie en musique intensiv mit machtvollen Auftrittsformen des Herrschers auseinander: Sie erhebt entrée royale und Sonnenaufgang zu Modellen aller (Opern-)Auftritte und macht den eintretenden Herrscher zum Mittelpunkt ihrer Bühnenkonfigurationen. Auftritte sind in der tragédie en musique solche in einen Machtraum, den es durch ein gemessenes Ein-Schreiten zu verwalten gilt.

P ANTOMIME Dagegen haben Herrscher-entrée und Sonnenaufgang in den Jahren vor der Französischen Revolution als Mittelpunkt der Auftrittspraxis ausgedient. Die tragédie en musique, die von Beginn an überwältigende Herrscherauftritte zu ihrem Mittelpunkt machte, fokussiert in ihrer vorrevolutionären Ausprägung Krisen- und Grenzformen des Auftretens: Die Figuren stürzen Ende des 18. Jahrhunderts übereilt auf die Bühne oder sinken während ihres Auftritts in sich zusammen. Der geregelte Auftritt, das machtvolle majestätische Ein-Schreiten wird zur Ausnahmeerscheinung der Opernpraxis, die durch neue Auftrittsformen überformt wird. Anhand der vorrevolutionären französischen Opern lässt sich ein Umbruch zwischen zwei Auftrittskulturen deutlich nachvollziehen. Während die frühe tragédie en musique durch höfisch-absolutistische Auftrittsformen geprägt ist, bildet sich im Zuge der Aufklärung eine neuartige Auftrittsordnung heraus. Diese beschäftigt sich intensiv mit Grundgesetzen der Bewegung und orientiert sich dabei an neuesten naturphilosophischen Diskursen. Die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierende Auftrittsordnung wird unter anderem in theaterästhetischen Schriften entworfen und reflektiert. Im Folgenden werde ich auf diskursive Grundlagen einer bewegungsästhetischen Theaterreform eingehen.

10 Tollini, Frederick P.: Scene Design at the Court of Louis XIV. – The Work of the Vigarani Family and Jean Berain (= Studies in Theatre Arts, Band 22), Lewiston/Queenston: Edwin Mellen 2003, S. 25.

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Abbildung 2: Jean Berain, Le char d’Apollon

Quelle: Paris, Archives nationales

Eine Vielzahl von theaterästhetischen Schriften rückt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts theatrale Bewegungsformen in den Mittelpunkt ihres (Reform-) Interesses. Sowohl die Schriften Denis Diderots als auch diejenigen Jean Georges Noverres entwickeln eine theatrale Bewegungsästhetik, die unter anderem mit dem Terminus der Pantomime benannt wird. Noverre unterscheidet in seinen tanzästhetischen Schriften bspw. zwischen »danse méchanique ou d’éxecution« und »danse pantomime ou en action«.11 Die Pantomime wird als stumme Handlungssequenz begriffen, sie möchte beredte Körpersprache sein.12

11 Noverre, Jean G.: Lettres sur la danse, sur les ballets et les arts. Band 2, St. Petersburg: Schnoor 1803/1804, S. 106. (»mechanischem oder Ausführungstanz« und »pantomimischer oder Aktionstanz«, Übers. A.K.) Dabei beruft man sich u.a. auf antike Traditionen der Pantomime und auf Bewegungsformen der Commedia dell’arte. Vgl. dazu: Thurner, Christina: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten (= Tanzscripte, Band 16), Bielefeld: transcript 2009, S. 52. 12 Ebd.

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Die Ausdruckskraft der Pantomime wird dabei auf eine Stufe mit derjenigen der gesprochenen Sprache gestellt.13 Die im höfischen Theater bis dahin dominierende Bewegungsordnung wird in diesem Zusammenhang vehement kritisiert. Der musikalisch, sprachlich und visuell betonte Auftritt, auf den ein weitgehend bewegungsloses Verharren an einem klar vorgegebenen Ort folgt, wird als zu einer unnatürlichen, zeremoniellen Ordnung gehörig abgelehnt. Die barocke Bewegungsordnung wird nicht als geeignete Naturnachahmung verstanden, sondern erscheint artifiziell und inhaltsleer.14 Die Akteure sollen in eine Bewegung versetzt werden, die als Natursprache begriffen wird.15 Unter der Bedingung von ausdrucksstarken Bewegungssequenzen rückt der Moment des Auf-die-Bühne-Tretens selber in den Hintergrund, die horizontale Bewegung auf der Bühne gewinnt an Bedeutung. Für ein ausdrucksstarkes Bühnenspiel reicht es nicht mehr aus, die Szene am richtigen Ort zu betreten, sich an einer klar definierten Stelle zu positionieren und die Bühne an einem dafür vorgesehenen Ort wieder zu verlassen. Das an der Form der entrée und dem Sonnenaufgang orientierte Bewegungssystem der frühen tragédie en musique scheint an einem Endpunkt angelangt. Die aufklärerische Theaterkritik entwirft nicht mehr Bewegungsformen, die Figuren in markierter, gemessener, vertikaler Art auf die Bühne (und von dieser weg) befördern: Die neuen Auftrittsformen handeln von den physischen Bedingungen horizontaler Fortbewegung. Dabei kommt es zu einer Verschiebung der Bezugspunkte theatraler Bewegungsordnungen: Der Souverän als ihr Ordnungsprinzip wird durch ein neues Bezugssystem ersetzt, das sich unter anderem an naturphilosophischen Theorien zur Bewegungslehre orientiert. Zentraler Anziehungspunkt ist nicht mehr der Sonnenkönig oder einer seiner theatralen Stellvertreter, sondern der Erdmittelpunkt, der alle Akteure in Richtung Bühnenboden zieht. Die tragédie en musique, die von Beginn an vertikale Herrscherauftritte zu ihrem Mittelpunkt

13 Dabei reicht der Diskurs über eine Aufwertung der theatralen Bewegungs- und Gestensprache bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zurück. Michel de Pure stellt bereits 1668 in seiner Idée des spectacles anciens et nouveaux (Genf, 1972) die Sprache der Bewegung derjenigen der Worte gleichwertig gegenüber. De Pure wurde nach Veröffentlichung seiner Idées die königliche Pension gestrichen, da er die höfischen Bewegungspraktiken direkt angegriffen hatte. Siehe: C. Thurner: Bewegte Körper, S. 62. 14 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Band 2, Vom ›künstlichen‹ zum ›natürlichen‹ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, Tübingen: Gunter Narr 1982, S. 102. 15 Ebd., S. 120.

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machte, fokussiert in ihrer vorrevolutionären Ausprägung Auftrittsformen unter der Voraussetzung der Schwerkraft. Dabei geraten sowohl Fall- als auch schwebende Bewegungen ins Blickfeld – Bewegungsformen, die sich in ein Spannungsfeld von Körperschwere und größtmöglicher Leichtigkeit einschreiben. Als Garant für eine natürliche Bewegungsform werden grundlegende Naturgesetze und deren sinnliche Wahrnehmung angeführt, die theatrale Bewegungen hervorbringen. Mechanistische Theorien verbinden sich dabei mit vom englischen Sensualismus beeinflussten Vorstellungen, die die Natur als durch sinnliche Wahrnehmung erfahr- und ausdrückbar begreifen.16 Der menschliche Körper wird zum Sensor und Ausdrucksfeld für Naturgesetze.

P ESANTEUR Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entworfene Bewegungsordnung ist bestimmt von einer Spannung zwischen légèreté, Leichtigkeit, und pesanteur, Körperschwere. Während beschleunigte Bewegungen, die einem Über-dieBühne-Schweben gleichen, zum Ideal erhoben werden, ist der Diskurs über theatrale Bewegungsformen andererseits durch eine Erörterung von Fallbewegungen gekennzeichnet. Wenn Noverre in seinem letzten Buch Lettres sur les arts imitateurs en général et sur la danse en particulier Tänzerinnen und Tänzer positiv hervorhebt, so geschieht dies meist für ihre légèreté, für ihre schwebenden Bewegungen, die den Bühnenboden nicht zu berühren scheinen: »[…] elle avoit de l’aisance, de la facilité, et du brillant, c’étoit un ballon qui rendoit son exécution si légère, que, sans sauter, […] on se persuadoit qu’elle ne touchoit point la terre.«17

Ein Über-die-Bühne-Schweben wird auch in Noverres Feststellung angedeutet, Tänzerinnen und Tänzer seien dazu fähig, eine noch so breite Bühne in vier

16 Ebd., S. 98. In seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719) führt Jean-Baptiste Dubos den englischen Sensualismus in die ästhetische Theorie ein. Vgl dazu ebd., S. 104. 17 Noverre, Jean G.: Lettres sur les arts imitateurs en général et sur la danse en particulier, Band 2, Paris: Lormel 1807, S. 119 (»[…] sie hatte Gewandtheit, Leichtigkeit und Brillanz, wie ein Ballon, der seine Bewegungen so leicht machte, dass man, ohne dass sie sprang, […] meinte, sie berühre den Boden nicht.«, Übers. A.K.).

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Schritten zu überqueren – angesichts der zeitgenössischen Bühnengrößen muss hier von springenden, beinahe fliegenden Akteuren die Rede sein.18 Auch in Bezug auf das Sprechtheater werden vermehrt beschleunigte, leichtfüßige Bewegungen thematisiert. Die Schauspielerin Dumesnil bspw. wird als die erste beschrieben, die es gewagt habe, auf der Bühne der Comédie Française zu rennen. Über ihre Darstellung der Mérope in Voltaires gleichnamigem Stück heißt es: »Elle traverse en un clin d’oeil tout le théâtre […].«19 Es handelt sich bei diesen stark beschleunigten, fast schwebenden Bewegungen um solche, die nicht dazu dienen, sich vertikal in die Lüfte zu erheben, sondern eine horizontale Bewegung derart auszuführen, dass die Ausführenden den Bodenkontakt beinahe zu verlieren scheinen. Während theaterästhetische Schriften sich einerseits mit der Erlangung einer größtmöglichen Leichtigkeit und Geschwindigkeit beschäftigen, ist der Diskurs über theatrale Bewegungsformen andererseits durch eine Erörterung des Niederfallens geprägt. Ein Großteil der Beispiele gelungener Pantomime endet mit dem Niederstürzen der Figuren. Nicht nur der Höhepunkt von Sokrates’ Pantomime in Diderots De la poésie dramatique besteht in deren Niedersinken20, sondern auch das vorangehende Beispiel des von den Eumeniden verfolgten Orestes: »[…] dans quel effroi ne me jetterai-t-il pas […]; s’il s’arrête; s’il continue de parler; s’il s’arrête encore; si le désordre de son action et de son discours s’accroît; si les Furies s’emparent de lui et le tourmentent; s’il succombe sous la violence du tourment, s’il est renversé par terre […].«21

Diderots theaterästhetische Schriften sind dabei in besonderem Ausmaß vom Begriff der pesanteur beherrscht: Einerseits werden gleich zu Beginn des Ab-

18 J.G. Noverre, Arts imitateurs, Band 1, S. 82. Von der Geschwindigkeit als neuem theatralen Ideal ist beispielsweise auch die Rede in: Noverre, Jean G: Lettres sur la danse et sur les ballets, Lyon: Delaroche 1760, S. 169. 19 Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Basel: Stroemfeld 2000, S. 109 (»Sie überquert das ganze Theater in einem Augenblick [...]«, Übers. A.K.). 20 Diderot, Denis: Le père de famille: comédie en 5 actes et en prose; avec un discours sur la poèsie dramatique, unveröffentlicht, Amsterdam 1758, S. 242. 21 Ebd., S. 239 (»[…] in welche Angst versetzt er mich […]; wenn er innehält; weiterspricht; noch einmal innehält; wenn die Unordnung seiner Bewegungen und seiner Rede wächst; wenn die Furien sich ihm bemächtigen und ihn quälen; wenn er unter der Gewalt seiner Qualen niederbricht, wenn auf die Erde stürzt […]«, Übers. A.K.).

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schnitts De la pantomime des Discours sur la Poésie dramatique die Begriffe le pesant und l’empesé als Negativfolie jeder Bewegung auf dem Theater eingeführt22, andererseits scheinen die Akteure des 18. Jahrhunderts von einer vorher nie dagewesenen Körperschwere befallen zu sein, die sie gewaltsam niederdrückt. Auch Noverres Beispiele gelungener Pantomimen schildern das Einsinken der Knie, das den Akteuren schließlich jede Bewegung verunmöglicht. Eine gelungene Pantomime des englischen Schauspielers David Garrick beschreibt Noverre bspw. mit den folgenden Worten: »[…] ses jambes se dérobaient sous lui […] il tombait enfin. […] Cette situation faisoit frémir: il grattait la terre, il creusoit en quelque faҫon son tombeau.«23

Nicht umsonst enden diese Beispiele gelungener Schauspielkunst meist mit dem Tod der Protagonisten. Der Anziehungskraft des Bühnenbodens nachzugeben, bedeutet in eine Bewegungslosigkeit zu verfallen, die eine weitere Bühnenaktion auf der Bühne erschwert oder verunmöglicht. Leichtigkeit und Körperschwere sind zwei Komponenten einer Bewegungsordnung, die sich von zeremoniellen Formen lossagt und den Auftritt des Souveräns aus ihrem Zentrum verbannt. Während sich Figuren einerseits mit großer Leichtigkeit und Geschwindigkeit über die Bühne bewegen, so werden sie andererseits von einer bis dahin unbekannten Kraft gegen den Bühnenboden gezogen. Wenn sie nicht die nötige Leichtigkeit und Geschwindigkeit aufbringen, »die Bühne in vier Schritten zu überqueren«, werden sie von ihrer Körperschwere niedergedrückt und fallen.24 Die Bewegungsordnung, die sich nicht mehr um den

22 Ebd., S. 236. 23 J. G. Noverre: Arts imitateurs, S. 325 f (»[…] seine Beine sackten unter ihm zusammen […] er fiel schließlich. […] Diese Situation ließ einen erzittern: Er wühlte die Erde auf, er grub gewissermaßen sein Grab.«, Übers. A.K.). 24 Ebd., S. 82. Die Leichtigkeit der Bewegung, die sich der Schwerkraft widersetzt, spielt auch im 19. Jahrhundert – im romantischen Ballett und der Bewegungsästhetik Kleists – eine zentrale Rolle. Die Puppen in Kleists Marionettentheater sind »antigrav«, sie »brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen.« Zit. aus Kleist, Heinrich von: »Über das Marionettentheater«, in: Berliner Abendblätter vom 12.-15. Dezember 1810, S. 247-259, hier S. 254. Im romantischen Ballett wird die Schwerelosigkeit zum Tanzideal schlechthin. Dazu Brandstetter, Gabriele: »Die Bilderschrift der Empfindungen. Jean Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde«, in: Achim

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Auftritt des Sonnenkönigs anordnet, erhebt die Körperschwere zur zentralen Kraft und Voraussetzung jeder (theatralen) Bewegung. Dabei findet eine Bezugnahme auf neueste Theorien zur Bewegungslehre statt. Theatrale Körper und Bewegungen erfahren Ende des 18. Jahrhunderts eine Reorganisation unter Bezugnahme auf neue Wissensformen.

A TTRACTION Einen wesentlichen Bezugspunkt für bewegungsästhetische Überlegungen stellen dabei Voltaires 1738 erschienene Eléments de la philosophie de Newton dar, die in Zusammenarbeit mit Émilie de Châtelet entstanden sind.25 Bis zum Erscheinen der Newtonlektüre Voltaires ist in Frankreich die Bewegungslehre René Descartes weit anerkannter als diejenige Isaac Newtons. Mit der Verbreitung der Éléments setzt sich auch im Frankreich der Aufklärung das Bewusstsein durch, dass die Newtonsche Mechanik eine epochale Veränderung bedeutet, die eine fundamentale Neuordnung der Grundgesetze der Natur vorstellt. Voltaire weist in den Éléments auf die Bedeutung der Gravitation für die Organisation der gesamten (bewegten) Natur hin: »Vous voyez que ce principe agit d’un bout de notre monde planétaire à l’autre, sur Saturne et sur le moindre atome de Saturne, sur le soleil et sur le plus mince rayon du soleil. Ce pouvoir si actif et si universel ne semble-t-il pas dominer dans toute la nature? N’est-il pas la cause unique de beaucoup d’effets?«26

Die Gravitation wird zur organisierenden Kraft der gesamten Natur und vor allem jeder natürlichen Bewegung. Zentraler Anziehungspunkt kann in der tra-

Aurnhammer/Klaus Manger/Friedrich Strack (Hg.), Schiller und die höfische Welt, Tübingen: de Gruyter 1990, S. 77-93, hier S. 91. 25 Voltaire: »Éléments de la philosophie de Newton«, in: ders., Oeuvres complètes de Voltaire. Nouvelle édition, avec notices, préfaces, variantes, table analytique, les notes de tous les commentateurs et des notes nouvelles, Mélanges, Paris: Garnier 18771885, S. 393-604, hier S. 509. 26 Ebd., S. 578 (»Sie sehen, dass dieses Prinzip von einem zum anderen Ende unseres Planetensystems wirkt, auf Saturn und das kleinste Atom des Saturn, auf die Sonne und den kleinsten Sonnenstrahl. Scheint diese aktive und universelle Kraft nicht die ganze Natur zu dominieren? Ist sie nicht alleinige Ursache vielerlei Phänomene?«, Übers. A.K.).

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gédie en musique der Aufklärung nicht mehr eine Bühnenrepräsentation des Sonnenkönigs sein, der absolute Herrscher verliert seine kosmische Kraft, über Naturgesetze zu gebieten. Anziehungspunkt ist der Erdmittelpunkt, der alle Figuren mit ungeheurer Kraft in Richtung Bühnenboden zieht. Die symbolischen Anziehungskräfte des Sonnenkönigs werden durch Naturkräfte ersetzt, die ein verbindliches neues Ordnungssystem bilden. Es werden nicht mehr die Bedingungen des Auftretens unter der Voraussetzung eines alles um sich gruppierenden Souveräns verhandelt, sondern unter der Voraussetzung der attraction universelle. Die symbolischen Anziehungskräfte des Sonnenkönigs werden durch mechanische Kräfte ersetzt, die ein verbindliches neues Ordnungssystem bilden. Eine der grundlegenden Paradoxien der Aufklärung besteht dabei darin, dass die als Naturgesetze bezeichneten Regelsysteme »auch als normative Forderungen verstanden werden, für deren Durchsetzung gesorgt werden muss.«27 Die Bezugnahme theaterästhetischer Schriften auf Theorien Newtons wird unter anderem im Werk Noverres deutlich. Der Choreograph und Tänzer Jean Georges Noverre zählt neben Denis Diderot, Voltaire und Jean-Jacques Rousseau zu den einflussreichsten Theatertheoretikern der Französischen Aufklärung. Noverre bezieht sich in seinen Schriften wiederholt auf die newtonsche Gravitationslehre. Theatrale Bewegungsformen werden dabei am newtonschen Prinzip gemessen. Seine Kritik an den pirouettes der Tänzer und Tänzerinnen in der Pariser Oper stellt er bspw. der – bei Erscheinen des Textes durch die newtonschen Schriften verdrängten – Descarteschen Lehre der tourbillons gegenüber: »Ne pourrait-on pas dire, Madame, que la danse de l’Opéra semble avoir adapté, sans le savoir, le système de Descartes, et qu’elle se perd dans les tourbillons.«28

Die Drehbewegung der Tänzer und Tänzerinnen in der Luft entspricht der Bewegung der Himmelskörper, die Descartes zufolge einem sich um den Fixstern drehenden Ätherwirbel folgen. So wie die Anhänger der Theorie Descartes’ die zentralen Gesetze der Gravitation verleugnen, so tun dies auch die Tänzerinnen und Tänzer der Pariser Oper, die sich wirbelnd in der Luft bewegen, ohne dabei von der Stelle zu kommen. Die von Noverre beschriebenen theatralen Bewe-

27 Brandstetter, Thomas: Kräfte messen. Die Maschine von Marly und die Kultur der Technik 1680 – 1840, Weimar: Dissertation 2006, S. 48. 28 J.G. Noverre: Arts imitateurs, Band 2, S. 128f (»Könnte man nicht sagen, Madame, dass der Operntanz, ohne es zu wissen, das System Descartes übernommen zu haben scheint, und dass er sich in seinen Wirbeln verliert.«, Übers. A.K.).

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gungsformen gehorchen durch die newtonsche Forschung überholten mechanischen Gesetzen. Eine natürliche Bewegungsweise dagegen muss sich an die newtonschen Prinzipien halten. Auch in seinen Lettres sur les arts imitateurs kommt Noverre auf Analogien aus dem Bereich der Gravitationslehre zurück. Hier werden den kritisierten Bewegungsfolgen naturwissenschaftliche Prinzipien gegenübergestellt, denen diese widersprechen: »Les êtres qui brillent à l’Opéra depuis sept heures jusqu’à onze heures du soir, et que le public regarde comme autant de corps célestes, n’ont pas la moindre analogie avec ceux qui composent le système planétaire. J’ai entendu dire que tous les corps qui composent l’univers tendoient à se rapprocher, et que cette attraction augmentoit ou diminuoit en raison inverse du carré des distances. Cette loi immuable de la Nature ne fut jamais celle des corps pirouettans de l’Opéra; ils n’ont aucune propension à se rapprocher, soit qu’ils s’éloignent, soit qu’ils se rencontrent; ils se heurtent et tendent sans cesse à leur destruction. Que deviendroit l’univers, si tous les mondes, dont la marche et les rapports offrent une harmonie si sublime ressembloient aux petits mondes de l’Opéra?«29

Die Tanzbewegungen der Pariser Oper ordnen sich in keiner Weise dem unverrückbaren newtonschen Naturgesetz der Gravitation unter: Sie widersprechen dem Prinzip der attraction universelle. Trotz ironischer Anklänge in Noverres Beschreibung wird die Nichtbefolgung fundamentaler Naturgesetze nicht nur als Gefahr für die einzelnen Akteure, sondern auch für das Universum dargestellt. Alle Bewegungen sollen sich dagegen dem Gesetz der attraction universelle unterordnen, das die Mechanik des Universums organisiert.

29 Ebd., S. 303f (»Die Wesen, die von sieben bis elf Uhr abends in der Oper glänzen, und die das Publikum als ebenso viele Himmelskörper ansieht, sind nicht im Geringsten mit denen zu vergleichen, die das Planetensystem bilden. Ich habe gehört, dass alle Körper des Universums dazu tendieren, sich einander anzunähern, und dass diese Anziehungskraft umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung zu- oder abnehme. Dieses unumstößliche Naturgesetz war nie das der Pirouetten drehenden Körper der Oper; sie zeigen keinerlei Bereitschaft, sich einander anzunähern, entweder entfernen sie sich voneinander oder sie treffen sich; sie stoßen ständig gegeneinander und treiben ohne Unterlass auf ihre Zerstörung zu. Was würde aus dem Universum, wenn alle Welten, deren Fortgang und deren Beziehungen eine so erhabene Harmonie bereitstellen, den kleinen Welten der Oper glichen?«, Übers. A.K.)

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N ATUREL Neue Erkenntnisse zur Massenanziehung (und damit zu fundamentalen Bewegungstheorien) scheinen für den Entwurf einer Bewegungsordnung des 18. Jahrhunderts von außerordentlicher Bedeutung zu sein. Körper schreiben sich in ein System von Anziehungskräften ein, das ihnen auf der einen Seite die Leichtigkeit einer sich von einem zeremoniellen System lösenden Bewegungsordnung verleiht, und sie andererseits mit ungeheurer Kraft gegen den Erdmittelpunkt zieht. In diesem Spannungsfeld von Bewegung erschwerender Anziehungskraft und Leichtigkeit, die eine Stabilität im Rahmen der mechanischen Gesetze ermöglicht, findet eine Neuordnung der theatralen Bewegungen statt, die als natürlich bzw. organisch bezeichnet werden. In Bezugnahme auf die newtonsche Theorie wird ein verbindliches neues Ordnungssystem für theatrale Bewegungen entworfen. So wie eine Verletzung des zeremoniellen Bewegungssystems soziopolitische Ordnungen gefährdete, so ist nun auch eine Konformität mit den universalen Naturgesetzen nötig, um die neue (Bewegungs-)Ordnung zu etablieren. Theorien zur Mechanik sind demnach für den Entwurf einer theatralen Bewegungsordnung des ausgehenden 18. Jahrhunderts von immenser Bedeutung. Körper schreiben sich in ein System von mechanischen Anziehungskräften ein, das sie mit gewaltiger Kraft gegen den Erdmittelpunkt zieht. Den Figuren allerdings, die sich unter den Bedingungen der Schwerkraft behaupten, verleiht es die Fähigkeit, sich mit ungeheurer Geschwindigkeit und Leichtigkeit fortzubewegen. In dem Moment, in dem das barocke Kräftegleichgewicht, das sich um den Herrscher als Zentralgestirn ordnete, aufgegeben wird, kann auch die Vertikale der Opernbühnen nicht mehr ohne Weiteres befahren werden, und die sich horizontal bewegenden Akteure geraten aus dem Gleichgewicht. Die entscheidende Bühnenbewegung ist nicht mehr die entrée solennelle, das mächtige Eintreten auf einer Bühnenmaschine, sondern die Bewegung des den Naturgesetzen unterworfenen Körpers. Die Körper der Akteure geraten in eine »schiefe Lage«.30 Unter der Anziehungskraft der Gravitation und der nun freigesetzten Affekte, die den Körper zum Boden hin biegen, versagt mitunter das Spiel der Gleichgewichtskräfte – der Körper sinkt in sich zusammen. Während die Akteure auf dem barocken Theater ihre affektiven Gesten innerhalb eines klar definierten Systems in den Raum stellten und ihr Gleichgewicht während ihres Auftritts hielten, werden sie nun gegen den Bühnenboden gezogen. Wenn die Überwindung der vom Bühnenboden ausgehenden Anziehungskraft nicht durch das Er-

30 G. Heeg: Natürliche Gestalt, S. 330.

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langen einer Leichtigkeit oder des Anscheins einer solchen gelingt, können sie sich nicht aufrecht halten. Wenn der barocke Körper also damit beschäftigt war, sein Gleichgewicht in einem klar organisierten System immer wieder neu herzustellen, so ist der Körper der Aufklärung im Begriff, sein zeremonielles Gleichgewicht aufzugeben, sich der Erdanziehungskraft und einer sich freisetzenden Affektgewalt zu unterwerfen, von dieser niedergedrückt zu werden oder sich durch schnelle horizontale Bewegungen unter ihren Voraussetzungen zu behaupten. Die Bühne ist nicht mehr Ort der (Re-)Präsentation souveräner Macht und deren zeremonieller Ordnung, sondern Ort der Neustrukturierung von Bewegungsmustern, die den (individuellen) Körper so genannten Naturkräften unterwerfen. Die Abgrenzung von höfischen Bewegungspraktiken findet durch die Unterwerfung unter ein naturwissenschaftliches Prinzip statt, das den natürlichen Körper wie kein anderes in Szene setzen kann: Das Gewicht des eigenen Körpers garantiert die natürliche Körperlichkeit, die sich vom absolutistischen ornatus lossagt.

R APIDITÉ Besonders deutlich werden die Veränderungen der theatralen Bewegungsordnung, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzen, in den Pariser Opern Christoph Willibald Glucks. Der wahrscheinlich bedeutendste Opernreformer vor Wagner hat sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in Italien, England und Frankreich gewirkt. Glucks Werk stellt den Übergang von einem zeremoniell geprägten Hoftheater zu einem Theater der Aufklärung dar, dass das Theaterschaffen des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst. In seinen Pariser Opern aus den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts knüpft Gluck an die Tradition der tragédie en musique an. Die Neukonzeption der Auftritts- und Bewegungsordnung ist dabei eine fundamentale Innovation der Pariser Opern Glucks. Ihnen wird eine Revolution der Bewegungsdramaturgie der tragédie en musique und des Französischen Theaters allgemein zugeschrieben. Die Pariser Opern Glucks bringen einige Jahre vor der Französischen Revolution noch einmal Fragmente zeremonieller Auftrittspraktiken auf die Bühne: Am Ende der Opern kommt es mitunter zu vertikalen Maschinenauftritten, die weder angekündigt werden noch einen Machtgewinn über das Bühnengeschehen darstellen. Während der Opern werden von Machthabern (Königen, Priestern, Gottheiten) immer wieder zeremonielle Abläufe in Gang gesetzt. Diese werden jedoch durch stark beschleunigte Auftritte unterbrochen oder durch auf der Bühne verharrende Figuren blockiert. Die absolutistische Ordnung wird von den

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durchwegs schwachen männlichen Machthabern nur noch mit Mühe aufrechterhalten. Im Laufe der Opern setzt sich eine Bewegungsordnung durch, die dem einzelnen Auftritt keine Ankündigung, keinen klar umrissenen Zeitabschnitt und keine geordnete Choreografie mehr zugesteht: Figuren treten in großer Eile auf oder fallen zu Boden und verharren auftritts- (und abtritts-)los auf der Bühne. Die sich um den spektakulären Auftritt des Herrschers zentrierende Auftrittsordnung der tragédie en musique wird durch eine neuartige Bewegungsordnung überformt. In Glucks Iphigénie en Aulide (1774) fällt Iphigénies Mutter Clitemnestre wiederholt zu Boden, in die Arme anderer Figuren oder auf die Knie. Im dritten Akt bspw. geht Iphigénie übereilt ab, ihrem Opfertod entgegen. Ihre Mutter Clitemnestre versucht, ihrer Tochter ins Off zu folgen, um sie zu retten. Bevor es zu einem Abgang Clitemnestres kommen kann, stürzt diese nieder.31 Auf Clitemnestres Ohnmacht folgt eine der längsten Pausen der Oper und daraufhin eine fragmentierte Rede, in der sie den Priester Calchas anklagt. Clitemnestres Versuch, schnell abzutreten und damit aktiv in das Geschehen einzugreifen, wird durch ihr Niedersinken verhindert. Clitemnestre verharrt im Folgenden – weiterhin mehrmals fallend und sich wieder aufrichtend – auf der Bühne. In Glucks zweiter Iphigénie-Oper Iphigénie en Tauride (1779) hat besonders Iphigénie selbst Mühe, sich auf den Beinen zu halten. In der zweiten Szene des vierten Aktes tritt ihr Bruder Oreste auf die Bühne, um von Iphigénie geopfert zu werden. In diesem Moment fällt sie auf einen Stuhl, während sie kommentiert: »La force m’abandonne«.32 Sie bleibt während der Opferzeremonie im Vordergrund der Bühne sitzen, was im Erstdruck der Partitur durch eine Regieanweisung festgehalten wird: »Iphigénie toujours assise sur le devant du Théâtre«.33 Indem die Priesterin Iphigénie niederfällt, verlangsamt sich die Opferzeremonie. Für den Abbruch der Zeremonie, und um die Wendung des Geschehens herbeizuführen, ist allerdings ein überstürztes Auftreten einer männlichen Figur notwendig.

31 Gluck, Christoph W.: Iphigénie en Aulide, tragédie opéra en trois actes, Paris: Huguet 1775, S. 218. Ich werde im Folgenden jeweils den Erstdruck der Partituren der Iphigénie en Aulide (1775) und der Iphigénie en Tauride (1780) zitieren. 32 Gluck, Christoph W./Guillard, Nicolas F.: Iphigénie en Tauride. Tragédie en quatre actes, Paris: Deslauriers 1780, S. 171 (»die Kräfte verlassen mich«, Übers. A.K.). 33 C.W. Gluck: Iphigénie en Tauride, S. 177 (»Iphigénie, die noch immer im Bühnenvordergrund sitzt«, Übers. A.K)

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Abbildung 3: Christoph Willibald Gluck u. Nicolas François Guillard: Iphigénie en Tauride

Quelle: Gluck, Christoph Willibald/Guillard, Nicolas François: Iphigénie en Tauride. Tragédie en quatre actes, Paris 1780, S. 171.

Der Beginn der Opferzeremonie in Iphigénie en Tauride ist durch Iphigénies Niedersinken und Sich-Aufrichten bestimmt. Dagegen multiplizieren sich gegen Ende des Aktes stark beschleunigte Auftritte. Zuletzt stürzt Orestes Begleiter Pylade in großer Geschwindigkeit auf die Bühne.34 Er hat einen extrem verkürzten Gesangsauftritt (sechs Silben, zwei Takte). Während seines Auftritts ersticht er den Barbarenkönig Thoas und bewirkt so den dénouement: Oreste und die übrigen Griechen sind gerettet.35 Pylade, der in großer Eile auftritt und handelt, führt die Wendung des Geschehens durch einen Königsmord herbei.36 Auch der gegen politische und religiöse Autoritäten aufbegehrende Achille folgt in Iphigénie en Aulide einer stark beschleunigten Zeitordnung, die sich in schnellen Auftritten, schnellen Bühnenbewegungen und schnellen musikalischen

34 Ebd., S. 196. 35 Ebd., S. 200f. 36 In der ersten Fassung der Oper übernimmt Oreste selber diese Funktion, indem er Thoas umbringt. Er wird in einer zweiten Fassung in der Pariser Gebrauchspartitur durch Pylade ersetzt, der nun mit einem überstürzten Auftritt die Rettung Iphigénies bewirkt. Siehe: Croll, Gerhard: »Mit Leben und Geschick arrangiert... Zu Glucks Iphigénie en Tauride«, in: ders., Gluck-Schriften. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge 1967-2002 (= Gluck-Studien, Band 4), hg.v. Irene Brandenburg/Elisabeth Richter/Elisabeth Croll, Kassel/Basel: Bärenreiter 2003, S. 55-59, hier S. 57.

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Tempi äußert. Dabei beschleunigt sich Achilles musikalisches Tempo im Laufe der Oper sukzessive. In der vierten Szene des dritten Aktes kniet Iphigénie vor dem Altar, um geopfert zu werden.37 Die durch ein gemäßigtes Tempo geprägten Opferzeremonien wurden vom König Agamemnon und der Göttin Diane in Gang gesetzt. Als Iphigénies Verlobter Achille auf die Bühne stürzt, um deren Tod zu verhindern, findet ein abrupter Wechsel der Tempi und Bewegungsformen statt.38 Achilles Auftritt bricht einen zeremoniellen Ablauf ab und leitet eine Folge von überstürzten Bewegungen ein, die zum dénouement und damit zur Rettung Iphigénies führen. Achille und Pylade führen durch ihre Auftritte eine neue Zeitordnung in das Geschehen ein. Die beschleunigte Auftrittsdramaturgie der Figuren ist wirkungsvollen Formen des Aufbegehrens gegen politische und religiöse Autoritäten zugeordnet. Dagegen bleiben die Fallbewegungen der Protagonistinnen ineffektiv bzw. haben retardierende Funktion. Abbildung 4: Christoph Willibald Gluck u. Nicolas François Guillard: Iphigénie en Tauride

Quelle: Gluck, Christoph Willibald/Guillard, Nicolas François: Iphigénie en Tauride. Tragédie en quatre actes, Paris, 1780, S. 196.

37 C.W. Gluck: Iphigénie en Aulide, S. 225. 38 Ebd. S. 227.

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E PILOG In Glucks Pariser Opern stehen zeremonielle, sich um Herrscherfiguren zentrierende Auftrittsformen solchen Bewegungsformen gegenüber, die das zeremonielle Maß durchbrechen. Letztere unterbrechen zeremonielle Abläufe und lösen diese schließlich ab. Die neuen Bewegungsformen gehorchen den Gesetzen der Schwerkraft. Einige Figuren meistern den Umgang mit der Gravitation in einer beschleunigten Bewegung, während andere von ihr niedergedrückt werden. Fallbewegungen bedeuten bei Gluck eine weitgehende Handlungsunfähigkeit. Dagegen bedeuten beschleunigte Auftritte erfolgreiche politische Interventionen, erfolgreiche Revolten, die neue, junge männliche Machthaber installieren. Ein Sich-Behaupten unter den Bedingungen der Gravitation bedeutet, die Kontrolle über sich neu etablierende soziopolitische Zustände zu übernehmen. In einem ersten Schritt führt die Bewegungsordnung der Körperschwere und der mit ihr verbundenen affektiven Spannung ein neues Ordnungsprinzip für jede Art der Bewegung ein, in einem zweiten Schritt meistern bei Gluck männliche Akteure den Umgang mit der Schwerkraft in einer beschleunigten Bewegung, weibliche Figuren dagegen werden von ihrer eigenen Körperschwere niedergedrückt. Die Einführung der pesanteur als natürliches Körperzeichen steht im Zentrum einer neuen Geschlechterordnung, die auf der Konstruktion eines natürlichen Körpers beruht.

L ITERATUR Althoff, Gerd/Götzmann, Jutta/Puhle, Matthias et al. (Hg.): Spektakel der Macht? Rituale im Alten Europa 800-1800, Darmstadt: Primus 2008. Brandstetter, Gabriele: »Die Bilderschrift der Empfindungen. Jean Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les Ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde«, in: Achim Aurnhammer/Klaus Manger/Friedrich Strack (Hg.), Schiller und die höfische Welt, Tübingen: de Gruyter 1990, S. 77-93. Brandstetter, Thomas: Kräfte messen. Die Maschine von Marly und die Kultur der Technik 1680 – 1840, Weimar: Dissertation 2006. Croll, Gerhard: »Mit Leben und Geschick arrangiert... Zu Glucks Iphigénie en Tauride«, in: ders., Gluck-Schriften. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge 1967-2002 (= Gluck-Studien, Band 4), Hg. v. Irene Brandenburg/Elisabeth Richter/Elisabeth Croll, Kassel/Basel: Bärenreiter 2003, S. 55-59.

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Auftritte der Sonne Zur Genealogie des Scheinwerfens und Stimmungsmachens U LF O TTO

»Die See und der Himmel waren erfüllt von dem kalten stählernen Blau des Nordens. Die Sonne glänzte hell und über dem Wasser stachen die zerfurchten Berge schroff heraus. [...] Kein Mensch oder ein anderes Lebewesen war zu sehen. Doch plötzlich stand da ein Seemann [...].«1 – 1878 im Londoner Lyceum tritt Henry Irving nicht mehr auf, er erscheint nur noch. Er springt nicht aufs Podest, tritt aus keiner Kulisse und kommt auch durch keine Tür, er ist einfach da. Denn ähnlich wie seine Kollegen in den einige Jahre später in Mode kommenden bewegten Bildern verdankt er sein Erscheinen weniger der Körperbeherrschung oder dem Einfühlungsvermögen als einem Apparat, der ihn ins Bild setzt. Irvings Auftritt muss kaum noch Aufmerksamkeit erregen, denn er hat sie schon. Die ostentative Differenzierung wird von einer bildmächtigen Bühnenmaschinerie übernommen, die nicht nur dem Akteur seinen Platz zuweist, sondern auch das Publikum ins Dunkel setzt, so dass die figurative Gestaltwerdung

1

Stoker, Bram: Personal Reminiscences of Henry Irving, 2 Bände, New York: Macmilan Company 1906. Band 1, S. 55, in der Übersetzung u. Hervorhebung des Verfassers, im Original: »The scene was of the landing-place on the edge of the fiord. Sea and sky were blue with the cold steely blue of the North. The sun was bright and across the water the rugged mountain-line stood out boldly. Deep under the shelving beach, which led down to the water, was a Norwegian fishing-boat whose small brown foresail swung in the wind. There was no appearance anywhere of a man or anything else alive. But suddenly there stood a mariner in old-time dress of picturesque cut and faded colour of brown and peacock blue with a touch of red. On his head was a sable cap.«

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kaum noch auf sprachliches und körperliches Agieren angewiesen ist und auf Textilgestaltung und Farbgebung übertragen werden kann. Nicht ganz zufällig erscheint es daher auch, dass der Bericht von diesem Auftritt, der keiner mehr ist, weil er durch eine apparative Erscheinung ersetzt wurde, der Nachwelt ausgerechnet von Bram Stoker vermittelt wurde, der weniger als zeitweiser Assistent und Geschäftsführer Irvings in Erinnerung geblieben ist, sondern als Erfinder des Grafen Draculas; jenes Grafen Dracula, für den Irvings Physiognomie im Übrigen Pate gestanden haben soll, und dessen erste Erscheinung in einem abgelegenen Schloss in den Karpaten und dem nach ihm benannten Roman aus dem Jahre 1897 eine ähnlich schattenlose und unbewegliche Angelegenheit ist wie die Irvings auf dem Theater. Diese Abwesenheit des Auftritts um 1880 aber – das aus der Wahrnehmung der Zuschauenden verschwundene Betreten der Bühne – weist nicht nur auf die kommende Kultivierung des bewegten Bildwerfens voraus. Es steht auch am Ende einer langen Entwicklung, in der die Auftritte einer steigenden technischen Zurichtung ausgesetzt wurden. Einerseits zeigt dieses Beispiel daher, dass der Begriff vom Auftritt gerade auch dort Sinn machen kann, wo er eigentlich nicht mehr stattfindet, und die Geschichte des Theaters entsprechend nicht immer dort endet, wo das Theater aufhört; andererseits markiert es einen historischen Bruch und ermöglicht eine theoretische Unterscheidung: zwischen theatralem Auftreten und medialem Erscheinen. Ersteres bezeichnet dann einfach solche Praktiken, die sich selbst Aufmerksamkeit verschaffen, zweiteres jene, die sie auf ein Anderes lenken. Das liegt nicht unweit der Alltagssprache, hilft aber vielleicht zu erklären, was Medientheater oder Theatralität in den Medien meinen könnte, und damit auch der immer noch wiederholten essentialistischen Unterscheidung von Medien und Theater in die Quere zu kommen. Der historische Ort dieser Unterscheidung liegt im 19. Jahrhundert, seine praktische Wiederholung findet er zu jenem Zeitpunkt, der in der Disposition der Theater meist mit dem Kürzel TE verzeichnet ist: der technischen Einrichtung. Denn mit dieser vollzieht sich nicht nur der Übergang von der Probebühne zur Bühnenprobe, sondern mit jeder Produktion wandelt sich das Theater von Neuem aus einer improvisierten Unternehmung in einen geregelten und reglementierten Apparat. Diesen Übergang will ich im Folgenden versuchen daran zu skizzieren, wie aus einer handfesten gelben Scheibe aus Pappmaché eine ungreifbare Stimmung wird, die sich über den Bühnenhimmel ergießt, wie aus dem Auftritt der Sonne eine Erscheinung des Lichts wird. Denn erst wenn die Sonne verschwunden ist und das künstliche Licht die Welt beherrscht, können mediale Gestalten wie Dracula die Bühne betreten.

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S ONNENKÖNIG ( INNEN ) Es ist Nacht. Auf dem Dach des Palastes liegt ein Wächter, der auf ein Signal wartet, das das Ende des trojanischen Krieges verkünden soll. »Ihr Götter, bitte, setzt ein Ende meiner Qual, dem jahrelangen Wachdienst! Wie ein Hund gelagert, versehe ich ihn auf dem Schloßdach der Atriden und weiß, durch ihn, vom Kreis der nächtlichen Gestirne, weiß von den strahlenden Gebietern, die den Menschen, am Himmel glänzend, Sommerglut und Winter bringen, von ihrem Aufgang und von ihrem Untergang. Auch heute schau ich nach dem Fackelzeichen aus, dem Feuerschein, der Kunde bringt, aus Troja [...]«2

Die Orestie des Aischylos beginnt mit einer Reflektion des Nachthimmels, der Sterne, dem Wechsel der Jahreszeiten – und dem Warten auf das künstliche Licht als Zeichenträger: Der Wächter auf dem Tempeldach harrt auf den Lichtschein aus der Ferne, der von Berg zu Berg gesendet vom Sieg der Griechen über Troja kündet. Die Ankunft dieses Lichtscheins ist es, die den Wächter schließlich aufspringen lässt: »Willkommen, Licht! Du läßt zum Tag die Finsternis entflammen und rufst auf zum Tanzgewimmel im Argeierland, zur Freude über unser Glück.«3

Während der Wächter noch im Dunkeln lauert, ist es der Chor, Stellvertreter der Polis, der folgerichtig mit dem Licht der Fackeln in die Orchestra einzieht und im Zwiegespräch mit dem Wächter den Kontext des Geschehens ausmisst. Erst der Auftritt von Klytaimnestra, der Königin, bringt den Sonnenaufgang und den beginnenden Tag mit sich: »Mit guter Nachricht komme, wie das Sprichwort sagt, die Morgenröte von der lieben Mutter Nacht!

2

Aischylos: Orestie, in: Werke in einem Band, übers. v. Dietrich Ebener, Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag 1987, S.157.

3

Ebd.

88 | U LF O TTO Laß unverhoffte Freude dir verkünden: Die Argeier nahmen ein die Stadt des Priamos!«4

Wie das Morgenrot aus der Nacht geboren wird, so endet auch der Fackelschein, der die Nachricht von der Niederlage Trojas bringt, die Nacht des Krieges. Der Sonnenaufgang begleitet aber nicht nur den Sieg über Troja und den Auftritt der Königin, er begleitet auch den Anfang eines Festtages der städtischen Dionysien, in deren Verlauf bis in die späten Abendstunden die drei zusammenhängenden Tragödien der Orestie und ein thematisch verbundenes Satyrspiel gegeben wurden. Wer die in den Berg eingelassenen antiken Theaterbauten kennt und ein wenig mit den klimatischen Bedingungen im Mittelmeerraum vertraut ist, kann sich das prächtige Schauspiel vorstellen, wenn über der Ägäis langsam die Sonne aufgeht und der helle Feuerschein der Fackeln in der Orchestra durch die in weiter Ferne erscheinenden Silhouetten der Berge überwältigt wird. Als spektakulärer Effekt, wie Wagner sich ihn erträumt haben mag, taucht das Morgenrot den noch im Dunkel liegenden Schauplatz in mystisches Licht. So schön, so mächtig und spektakulär die Sonne aber auch ist, desillusioniert sie doch zugleich mit ihrem Aufgang die Szene. Sie lässt Theater und Publikum sichtbar werden, nimmt den Fokus von den Fackeln, lässt das Bühnengeschehen in die Ferne rücken und die umgebende Versammlung der Polis hervortreten, wie es Brecht sich nicht besser hätte wünschen können. Die Erscheinung der Sonne heiligt und profaniert so im gleichen Atemzug. Bemerkenswert an diesem antik-theatralen Sonnenaufgang ist aber nicht nur diese Ambivalenz in der Wirkung des Lichts, das spektakuläres Feuerwerk der Macht und zugleich entillusionierende Öffnung des Bühnenraumes ist. Denn anders als der König in den Gärten von Versailles zu Zeiten Ludwig XIV. tritt die Königin hier nicht als Sonne auf, sondern mit ihr. Himmelskörper und Menschenkörper sind unterschieden, wenn auch szenisch und metaphorisch gekoppelt. Die Sonne scheint und erscheint, tritt aber selbst nicht auf; sie wird weniger sichtbar, als dass sie sichtbar macht. Entscheidend ist das Licht, das sie auf den Schauplatz wirft, sind Farbigkeit und Strahlkraft, der Naturzusammenhang und Zeitlauf, die damit markiert werden, und der Schein, der dem Auftritt der Königin verliehen wird. So unterscheidet sich der Aufgang der Sonne vom Auftritt der Königin. Letzterer vollzieht sich im Rückbezug von Agieren und Rezipieren, besser gesagt, er konstituiert diesen überhaupt erst, indem er ihn in dem gegebenen Rahmen aktualisiert. Der Auftritt figuriert, indem er den Körper der Darstellerin der sozialen

4

Ebd., S.164.

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Interaktion enthebt und ihn doch in der theatralen Situation potentiell greifbar werden lässt. Die Sonne jedoch bleibt von den Reaktionen des Publikums unbeeindruckt und geht trotz aller semiotischen Zuschreibungen und mythischen Aufladungen ihres Weges. Sie selbst bleibt ungreifbar und manifestiert sich in den Strahlen, die sie aussendet und die erst auf den Dingen, die sie reflektieren, und den Sinnen, die sie beeindrucken, wirksam werden. Man könnte eben auch sagen, dass der Auftritt der Königin theatral ist, während die Erscheinung der Sonne mediale Qualitäten hat, weil sie wie jedes gute Medium etwas wahrnehmbar werden lässt und die eigene Wirkung in diesem Prozess der Wahrnehmung entzieht. Deutlich wird an dem antiken Beispiel aber auch, dass die kategorische Unterscheidung immer Heuristik bleiben muss, weil sich Auftritt und Erscheinung in der Praxis so wenig trennen lassen wie Ereignis und Vermittlung. Und dennoch hilft das theoretische Modell, gerade letztere Unterscheidung zwischen unvermitteltem Theaterereignis und mittelbarer Medienreproduktion entschieden zu relativieren und auf die Bezogenheit von medialen und theatralen Techniken hinzuweisen, wie sich vielleicht dort am besten zeigen lässt, wo es mit den Auftritten der Sonne vorerst ein Ende hat, weil sie in die Erscheinung von Licht übergehen.

T HEATER

ALS

S OLARIUM

Häufig werden die Anfänge des europäischen Theaters, d.h. genauer gesagt eines neuzeitlichen Theaterbegriffs, der sich als normative Kunstform behauptet, mit der Herausbildung einer ausspezialisierten Architektur und Literatur des Theaters in Verbindung gebracht. Vielleicht könnte man aber auch sagen, dass das, was wir heute unter Theater verstehen, dort beginnt, wo Licht und Sonne auseinanderfallen. Denn das, was sich ab dem 15. Jahrhundert fortan als Theater auf den Begriff bringt, entsteht mit einer neuen Form von Spektakeln in Innenräumen und Abendstunden, deren Orientierung an der Antike vor allen Dingen eine rhetorische ist. Bezeichnend hierfür ist das Teatro Olimpico in Vicenza, das nach antikem Vorbild gebaut und mit antikem Text eröffnet wird, aber nicht nur eine perspektivische Hinterbühne hat, sondern auch ein Dach. Diese Dächer, die Theater fortan haben sollen, haben zwei entscheidende Konsequenzen: Sie sperren das Licht aus und machen es zugleich möglich, Dinge an die Decke zu hängen. D.h. die Sonne wird in einem Atemzug ausgesperrt und nachgebildet. Sie zerfällt in Licht und Körper. Das Licht muss fortan künstlich erzeugt werden: mit Kerzen,

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Lampen, Leuchtern; die Sonne und der Himmel ebenfalls: mit Mechanik und Maschinen. Von Serlio, Sabattini, Furchtenbach und anderen kennen wir seit dem Barock die diversen Maschinen, um den Himmel und seine Körper herabzulassen oder hochzuziehen. Und wir wissen von den begrenzten Möglichkeiten der Beleuchtung. Serlios Architektur-Traktat empfiehlt daher Mitte des 16. Jahrhunderts in dem Kapitel über die Himmelskörper, für Planeten oder andere Dinge, die durch die Luft fliegen, eine bemaltes Stück Pappe zu benutzen.5 In der hintersten Ecke des Hauses mit einem unsichtbaren Stück Draht angebracht, ließe es sich mit einem Faden von einer Seite zur anderen ziehen. Im Opernhaus Darmstadt ist aus dem Jahr 1711 der Bericht von einer herausragenden Theatersonne überliefert.6 Sie bestand aus zwei großen runden Gläsern als Linsen, einem mit Taffet7 überzogenen Ring als Farbfilter sowie einer großen mit Flittergold8 ausgelegten Blechscheibe, die auch die Öllampen trug. Doch trotz Linsen und Reflektor bleibt die Sonne bei der möglichen Lichtausbeute Andeutung, Zeichen und Ding.9 Die barocke Ästhetik hat das Augenmerk auf den Maschinen, und nicht zuletzt auf denjenigen, die darauf sitzen: Ziel des Effekts ist das Staunen, nicht die Täuschung. Die Aufmerksamkeit im Maschinentheater gilt den Apparaten.10 Sonne, Mond und Sterne sind meist weniger Abbild der Natur als Gefährt und Gefährten von Gottheiten, Engeln und Herrschern, deren Auftritte dadurch an Bedeutung gewinnen, dass sie auf den Gebrauch des eigenen Körpers verzichten können und stattdessen von oben herab schwebend die Bühne betreten – und deren Wirksamkeit nicht zuletzt durch das heute kaum vorstellbare Halbdunkel dieser Räume zustande kam. Doch mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und den (realistischen) Ressentiments der aufstrebenden bürgerlichen Kultur regt sich die Kritik an den

5

Serlio, Sebastiano: Tutte l’opere d’architettura di Sebastiano Serlio Bolognese, Il secondo libro di prospettiva, Venetia 1584, S. 52.

6

Vgl. Baumann, Friedrich: Licht im Theater. Von der Argand-Lampe bis GlühlampeScheinwerfer, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1988, S. 40.

7

Steifer Stoff aus Seide oder Kunstseide (Duden).

8

Als Ersatz für Blattgold dienendes, sehr dünnes Messingblech (Duden).

9

Bei Sabbatini finden sich ähnliche Vorrichtungen, die das Bekannte noch um Me– thoden des Verdeckens und Versteckens erweitern: Die Sonne erscheint zwischen zwei gebogenen Himmelsplatten. Doch auch diese Sonnenmaschinen bleiben noch weit vom Illusionismus des 19. Jahrhundert entfernt.

10 Vgl. u.a. Nelle, Florian: Künstliche Paradiese: vom Barocktheater zum Filmpalast, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.

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Sonnenwagen aus Pappmaché. Rousseau schreibt 1761 hämisch in der neuen Heloise über eine Pariser Opernaufführung: »Der Himmel ist durch etliche blaue Lappen vorgestellt, welche an Stäben oder Schnüren schweben, wie zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Als Sonne [...] dient eine Kerze hinter einem Rahmen. Die Wagen der Götter und Göttinnen bestehen aus vier aneinander gefügten Wänden, die in langen Seilen schweben wie eine Schaukel; [...] Im Grunde der Maschine bemerkt man eine Beleuchtung von zwei bis drei qualmenden und schlecht geputzten Lichtern, welche die Person, während sie sich auf ihrer Schaukel hin- und herschwankend zerarbeitet und heiser schreit, nach Herzenslust einräuchern: ein Weihrauch ganz eines Gottes würdig [...].«11

Konsequenz dieser Kritik ist eine Fülle von Reformschriften und Forderungen, die jedoch schon aufgrund der technischen Möglichkeiten nur sehr begrenzt realisiert werden. Vorbild für die Reformvorschläge ist nicht selten Rembrandt: die Ungleichmäßigkeit von Licht und Schatten einer neuen Landschaftsmalerei. Thema sind Verteilung und Richtung des Lichts. Fußrampen und Kronleuchter geraten in die Kritik. Erstere, weil sie die Gesichter der Schauspielerinnen zu »widerlichen Fratze[n]« verzerrt, wie es E.T.A. Hoffmann ausdrückt.12 Letzterer, weil er die Repräsentanten der Gesellschaft und nicht die Repräsentationen der Bühne ins Sichtfeld des Theaterbesuchs rückt. Beide stehen für ein unnatürliches Licht, weil das dem Licht der Sonne widerspricht, denn dieses fällt erstens von oben und zweitens gebündelt herab. Lavoisier fordert 1781, dass das Licht verschiedene Helligkeiten und Farben erhalten müsse: »Sonnenglanz, das dunkle Licht eines Gewitters oder eines Sturmes, Auf- und Untergang der Sonne, Nacht, Mondschein, usw.«13 Das neue Sonnenideal ist ein Licht, das Natur abbildet. Einer der ersten, der mit diesen Forderungen versucht Ernst zu machen, ist David Garrick, der am Drury Lane in London den Landschaftsmaler und Maschinenbauer de Loutherbourg als etwas engagiert, was man heute wohl Bühnenbildner nennen würde, das zu dieser Zeit jedoch noch den Namen Bühnen-

11 Rousseau, Jean-Jaques: Die neue Heloise, Brief 23, Leipzig: Wiegand 1877, S. 176ff, zit. n. F. Baumann: Licht im Theater, S. 61. 12 Hoffmann, E.T.A: Nachtstücke, Seltsame Leiden eines Theaterdirektors, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg.v. Hans-Joachim Kruse, Berlin: Aufbau Verlag 1994, S. 435. 13 Levoisier, Antoine-Laurent: Sur les differents moyens qu’on peut employer pour éclairer uns grande ville, in: Oeuvre de Lavoisier, Paris 1865, S. 94, zit. n. F. Bau– mann: Licht im Theater, S. 27.

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maler trägt. Der neue Stil des Schauspiels, für den Garrick europaweit gefeiert wird, und der, wie viele andere Stile vor und nach ihm, das Etikett realistisch bekommt, ist mehr als nur ein Stil. Er ist eingebettet in eine völlig neue Art Theater zu machen, die sich dadurch auszeichnet, dass Licht, Raum und Publikum konsequent als zusammenhängende Teile einer konsistenten ästhetischen Produktion begriffen werden. Das Licht bekommt auf einmal Qualität und die Sonne wandelt sich von einer Pappmaché-Scheibe zu einer Projektion auf transparentem Prospekt.14 Hinter dieser Entwicklung aber steht nicht zuletzt eine neue Auffassung von Licht und Flamme. Ersteres wird seit Newton als zerlegbare physikalische Größe erkannt, das Zweite als chemische Reaktion beschrieben. Und so rückt das Licht mit der Aufklärung – dem Enlightenment – sowohl technisch als auch metaphorisch in den »Bereich des zu Leistenden«, wie es Hans Blumenberg ausgedrückt hat.15 Die Folge ist 1783 eine neue Lampe, nach ihrem Erfinder Argand benannt, die der Flamme über den Docht Sauerstoff zuführt und damit das Qualmen und die Pflege der Dochte entschieden vermindert; gleichzeitig jedoch auch die Helligkeit maßgeblich erhöht, was durch die Verbindung mit dem Reverbere, einem metallenen Reflektor, noch gesteigert wird. Mit der Argand-Lampe wird das Licht erstmals technisch zugerichtet und gebündelt. Gefärbte Zylinder und andere Einrichtungen zur Färbung des Lichts kommen systematisch zum Einsatz und das »Tag- und Nachtmachen« durch Farbwechsel von Gelbrot zu Blau kommt zunehmend in Mode.16

14 Diese Entwicklung im Theater hat ihre Parallele in den optischen Spektakeln. Phantasmagorien, die mit Laterna-magica-Projektionen arbeiten, haben Hochkon– junktur und de Loutherbourg, der auch für die Innovation auf dem Theater ver– antwortlich war, eröffnet 1781 in London das Eidophusikon: ein mechanisches Klein– theater von 1,80 mal 2,50 Metern Ausmaß, das vor allen Dingen mit transparenten Bildern und farbigem Licht arbeitet und nach einer Londoner Zeitung »various imitations of natural phenomena represented by moving pictures« präsentiert. Wie im Theater, erscheint auch hier die Sonne vor allem im Auf- und Untergang als Rückprojektion farbigen Lichts über der Landschaft. 15 Blumenberg, Hans: »Licht als Metapher der Wahrheit«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Hans Blumenberg. Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 139-171, hier S. 445. 16 Bis Anfang des 19. Jahrhunderts lässt sich in Deutschland und Frankreich kein regelmäßiger Einsatz von farbigem Licht belegen. Vgl. F. Baumann: Licht im Theater, S. 28ff.

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Statt als Himmelskörper tritt die Sonne mit den bürgerlichen Theaterreformen zunehmend als Lichtschein auf und ist als solcher Teil eines Abbildes der Natur, das Theater fortan zu sein hat. Die Sonne wird in diesem Prozess zugleich romantisiert und naturalisiert. Sie gehört fortan zu Natur und Landschaft, zu den Jahres- und Tageszeiten, zu Wind und Wetter. Sie steht nicht mehr als einzelnes Objekt apart, sondern findet sich eingebettet in ein stimmiges Bild des Naturganzen. Einerseits ist das Licht so noch ganz barocker, wenn auch natürlicher Effekt, andererseits ist das Licht schon moderne, aber noch Naturstimmung. Die ab 1830 eingeführte Gastechnologie setzt diese Entwicklung mit gesteigerter Helligkeit und ersten zentralen Mechanismen der Regulierung fort. Doch ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihre Überbietung finden diese durchscheinenden Sonnen Mitte des Jahrhunderts durch eine andere Technologie: Am 16.4.1849 – während die bürgerlichen Erhebungen gegen die Restauration schon im Abklingen sind, zwei Jahre vor der ersten Weltausstellung im Londoner Kristallpalast 1851 und vier Jahre, bevor 1854 erstmals von einem Krieg (dem Krimkrieg) per Fotografie berichtet wird – geht in der Pariser Oper die Prophetensonne auf. Am Ende des 3. Aktes von Meyerbeers Le Prophet, nachdem der Chor der Täufer in revolutionärer Begeisterung »à Munster! oui! oui! en marche Dieu vous (nous) suit!« gesungen hat und auf die belagerte Stadt marschiert, teilt sich der Nebel, der den Weiher und den Wald bedeckte. Die Sonne scheint und lässt in der Ferne die Stadt und die Stadtmauer von Münster erkennen – so heißt es in der Regieanweisung.17 Die Musik aber schweigt, während über dem gefrorenen Weiher das von einer Bunsenbatterie gespeiste elektrische Kohlenbogenlicht zündet und ausgehend von der Hinterbühne seine gleißende Helligkeit verbreitet.18

17 »Dans ce moment le brouillard, qui couvrait l’étang et la forèt se dissipe: le soleil brille et laisse apercevoir dans le lointain, au-delà de l’étang glacé, la ville et les remparts de Munster, que Jean montre de la main (...)« Meyerbeer, Giacomo: »Le Prophèt«, in: Eugène Scribe (Hg.), Oeuvre complètes, Paris: Lambert 1859, S. 42. 18 Zur Bedeutung des Effekts vgl. u.a. Döhring, Sieghart: »Multimediale Tendenzen in der französischen Oper des 19. Jahrhunderts«, in: Daniel Heartz/Bonnie Wade (Hg.), Report of the 12th Congress of the International Musicological Society Berkley, Kassel: Bärenreiter 1981, S. 498: »Der Sonnenaufgang hat für ihn [Meyerbeer, d. Verf.] nicht die Stimmungsqualität eines Naturphänomens, sondern fungiert als visuelles Symbol jenes Sieges, den Jean charismatisch verkündet. Die große musikalische Steigerung jenes Aktfinales erhält so ihren Höhepunkt durch einen optischen Schlussakzent, und in der Tat würde jede zusätzliche musikalische Interpretation an dieser Stelle den Spannungsverlauf unterbrechen und die Gesamtwirkung entscheidend schmälern.«

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Möglich gemacht hatte diesen Effekt eine von dem Physiker Léon Foucault konstruierte Bogenlampe mit elektromagnetisch reguliertem Kohlennachschub. Von dem Feinmechaniker und Optiker Jules Duboscq wurde diese neue Lichtquelle mit einem parabolischen Hohlspiegel versehen, der ein paralleles zylindrisches Strahlenbündel erzeugt, welches von einem transparenten Schirm aufgefangen wird.19 Die immense Helligkeit und der nach Blau verschobene Spektralbereich stellten ein bis dahin ungesehenes Licht dar, das auf die Zeitgenossen einen unglaublichen Eindruck gemacht haben muss: Im Constitutionel schreibt der Rezensent Adolphe Adam, der Effekt des Sonnenaufganges sei einer der neuesten und schönsten Dinge, die man je im Theater gesehen habe. Dank des elektrischen Lichtes sehe man eine wahre Sonne, die man nicht anschauen könne, ohne geblendet zu werden, und deren Licht sich bis auf den Boden der entlegensten Logen erstrecke.20 Nicht nur Richard Wagner ist begeistert und spricht vom »Propheten der neuen Welt«21, in ganz Europa breitet sich das neue Licht aus. So wirbt bspw. auch in Dresden ein Maschinist für seine elektrische Sonne, jenen »Apparat zur Erzeugung des so ausgezeichnet intensiven Lichtes«, dessen man sich gegenwärtig besonders in Theatern zur Darstellung der Sonne bediene.

19 Duboscq beschreibt den Apparat als: »Cet appareil se compose d’un grand réflecteur parabolique fixé sur un support de bois sur lequel on adapte la lampe électrique. Les rayons, rendus parallèles par le réflecteur, sont concentrés sur un écran destiné à représenter le disque solaire.« Pougin, Arthur: Dictionnaire historique et pittoresque du Théâtre et des Arts qui s’y rattachent, Paris: Libraire de Firmin-Didot et Cie 1885, S. 480f. 20 Adolphe Adam im Constitutionel (18. April 1849): »L’effet du lever du soleil est une des choses les plus neuves et les plus belles que l’on ait vues au théâtre: grâce à la lumière electrique, nous avons vu un vrai soleil, qu’on ne pouvait regarder fixément sans être ébloui, et dont la lumière se projetait jusqu’au fond des loges plus reculées de la scène ...«, zit. n. Meyerbeer, Giacomo: Briefwechsel und Tagebücher, hg.v. Heinz Becker u. Gudrun Becker, Berlin: Walter de Gruyter 1985, Band 4, S. 619. G.H. in Le National am 19. April 1849: »Un vrai soleil, qui rayonne dans toute la salle, et dont aucun œil ne peut soutenir l’éclat.« 21 Wagner, Richard: Brief vom 13. März 1850. Und trotz seiner späteren antisemitischen Ablehnung Meyerbeers findet der Effekt Eingang in den Schluss des Rheingolds: »Plötzlich verzieht sich die Wolke: Donner und Froh werden sichtbar: von ihren Fü– ßen aus zieht sich, mit blendendem Leuchten, eine Regenbogenbrücke über das Thal hinüber bis zur Burg, die jetzt, von der Abendsonne beschienen, im hellsten Glanz erstrahlt.«

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Sie »strahlet mit dem Glanze der Sonne und der Schein von 1000 Kerzen ist Dunkelheit dagegen«22.

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Das Ende dieser elektrischen Sonnen aber wird eingeleitet, nachdem Thomas Edison die kommerzielle Verwertung des elektrischen Glühlichts institutionalisiert hat. Gegenüber dem Kohlenbogenlicht hat es nicht nur den Vorteil regulierbar zu sein, sondern auch verteilt werden zu können. 1881 eröffnet das Londoner Savoy-Theater erstmals mit elektrischem Licht auf der Bühne, in Paris werden an der großen Oper erste Versuche unternommen und der Bühnenmaschinist Karl Lautenschläger demonstriert auf der elektrischen Ausstellung in München eine voll elektrifizierte Versuchsbühne.23 Ende desselben Jahres brennt das Wiener Ringtheater aufgrund einer Gasexplosion vor einer Vorstellung von Offenbachs Les Contes d’Hoffmann bis auf die Grundmauern ab. Mit über 400 Toten geht der Brand in die Katastrophengeschichte des 19. Jahrhunderts ein und gibt der hitzig geführten Diskussion über Vor- und Nachteile von Gaslicht und elektrischem Licht den Ausschlag: Angesichts von 290 Theaterbränden, 10.000 Toten und 150.000.000 Thaler Schaden in den letzten 25 Jahren sei durch die neue Technologie ein »erfreulicher Wandel eingetreten«, stellt bspw. Alfred Ritter von Urbanitzky in seiner Elektrotechnik für den Laien fest. Mehr noch: Es sei nun »auch ermöglicht worden, die Beleuchtungseffecte ins Märchenhafte zu steigern«24. – Doch ähnlich wie bei den ersten Berliner Filmvorführungen der Brüder Skladanowsky im selben Jahr ist auch hier noch nicht ganz klar, worin dieses Märchenhafte eigentlich genau bestehen könnte. Beleuchtung wird noch ganz in barocker Tradition als Effekt gedacht und der Vorteil als ein technischer gesehen. Denn der Vorteil des Glühlichts ist, dass es erstmals ohne Flamme auskommt. Es hat keinen Körper; denn anders als Wachs, Öl und Gas – und in der

22 Seidmacher, O.: Die elektrische Sonne. Allgemein verständliche Beschreibung des Apparates mit dem das prachtvollste Licht durch Elektricität hervorgebracht wird, Dresden: Adler & Dietze 1850. 23 Vgl. F. Baumann, Licht im Theater, S. 152-181. 24 Urbanitzky, Alfred Ritter von: Die Elektricität im Dienste der Menschheit. Eine Darstellung der magnetischen und elektrischen Naturkräfte und ihrer praktischen Anwendung, Wien/Pest/Leipzig 1885, hier zitiert nach der zweiten Auflage von 1895, S. 827.

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Umgangssprache – brennt das elektrische Licht nicht mehr. Das Vakuum in der Glühbirne entzieht den Sauerstoff und so kann auch der Kohlenstoff, aus dem die ersten Drähte der Glühlampen gemacht sind, nicht verbrennen. Die Folgen sind groß und führen zur Durchsetzung des Glühlichts: Keine Feuergefahr, keine Ruß-Ablagerungen, kein Sauerstoffverbrauch, weniger Hitze und kein Flackern. Die Steigerung der Helligkeit, anfangs nur um ungefähr ein Viertel gegenüber dem Gaslicht, ist zu Beginn eher praktischer Nebeneffekt, und an der Beleuchtung ändert sich entsprechend erst mal nicht viel. Elektrische Lampen werden dort installiert, wo zuvor die Gasbrenner angebracht waren, die Kabel werden in den ausgedienten Gasrohren verlegt. Die Deutsche Edison Gesellschaft, aus der später die AEG werden sollte, wirbt für das elektrische Licht im Theater entsprechend mit den atmosphärischen Annehmlichkeiten der neuen Technologie.25 Denn die Überhitzung der Theater durch das Gas mache die gesteigerte Tätigkeit der Sinne und die geistige Arbeit, die der Genuss des Kunstwerkes erfordere, unmöglich. Wie in den Tropen lasse die Spannkraft des Organismus nach und zwinge Schauspieler und Zuschauer zur geistigen Siesta. So wird das Gaslicht schließlich für den Erfolg von Melodramen und Spektakelstücken und damit letztlich für den Niedergang des Theaters verantwortlich gemacht: »Die Häufung der Effecte gegen Ende eines Theaterstückes, die Anwendung scenischer Reizmittel in den letzten Akten, [...] haben nicht zum geringen Theil ihren Grund darin, dass es gilt, ein durch hohe Temperatur erschlafftes und ermüdetes Publikum durch kräftigere Mittel anzuregen, als genau genommen mit edler Kunst vereinbar sind.«26

Erst das Glühlicht hingegen gebe den Theatern »die Annehmlichkeiten wieder, welche das Gaslicht ihnen genommen« habe, denn: »Das elektrische Glühlicht erhöht die festliche Stimmung durch seinen reinen, sonnigen Glanz, den es ausstrahlt, ohne die Luft zu erhitzen und zu verderben.«27 Folgt man der Argumentation der AEG, dann ist Glühlicht im Grunde Sonne ohne Wärme, reine Sichtbarkeit ohne Effekt auf die Physis, es lässt den Organismus in Frieden und ermöglicht freie geistige Tätigkeit. Das Fehlen des Lichtkörpers der Flamme entspricht der fehlenden Wirkung auf den Organismus des Zuschauer- und Schauspielerkörpers. Elektrisches Licht ist so in doppeltem Sinne körperloses Licht, das den Himmels- und Leuchtkörper endgültig in den Schnürboden verbannt und

25 Elektrische Beleuchtung von Theater mit Edison-Glühlicht, hg. v. Deutsche EdisonGesellschaft: Berlin 1884. 26 Ebd., S. 7. 27 Ebd., S. 13.

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nur noch einen Glanz übrig lässt; einen Glanz, der sich als technisch kontrollierbarer Natureffekt manifestiert. Die märchenhafte Steigerung der Beleuchtungseffekte, von der allerseits geschwärmt wird, entpuppt sich so – wie bspw. in Urbanitzkys Elektrotechnik für den Laien – als per Stellwerk regulierte Simulation von Naturzyklen. »Soll beispielsweise helles Tageslicht in Abenddämmerung und diese in Nacht und Mondlicht übergehen und diese später der Morgendämmerung mit Morgenroth und schließlich wider dem vollen Tageslichte weichen, so sind folgende Schaltungen notwendig: Zunächst schaltet man den Hebel Ha auf Contact b und Umschalter I auf w, die weißen Lampen brennen mit voller Lichtstärke – Tagesbeleuchtung. Hierauf stellt man Hebel Hb auf b1 und Umschalter II auf g1, die weißen Lampen brennen immer dunkler – Abendbeleuchtung, schließlich Nacht; sobald die Lichtstärke auf diese Weise hinlänglich erniedrigt ist, beginnt man gleichzeitig mit der Drehung des Hebels Ha nach rechts gegen s und des Hebels Hb von s1 nach b1, die grünen Lampen werden heller – Mondbeleuchtung. Ist der Hebel Ha von s nach b und H b von b1 nach s1, wodurch das Mondlicht mehr und mehr verschwindet, um der Morgenröthe zu weichen. Ist Hb auf s1 angelangt, so schaltet man Umschalter II von g1 auf w1, dreht Hb von s1 nach b1 und gleichzeitig Ha von s nach d, so entsteht das Tageslicht, während die Morgenröthe langsam verschwindet.«28

Die Sonne wie auch der Mond und alle anderen Himmelskörper sind hier ausgetrieben und verdrängt von Mondbeleuchtung, Tageslicht und Morgenröte, die per Hebel und Schalter reguliert werden können. Theaterarbeit wird in bisher unbekanntem Maße zu einer technisch und organisatorischen Unternehmung und realisiert sich in dem Bau von Geräten, die es auf die Erzeugung von Stimmungen abgesehen haben: Noch bevor er die Darsteller getroffen hat, sitzt der amerikanische Produzent David Belasco Ende des 19. Jahrhunderts wochenlang mit seinem Elektriker zusammen und experimentiert mit Farben und Atmosphären, um »moods« und »feelings« zu erzeugen: »Night after night we experiment together to obtain color or atmospheric effects, aiming always to make them aid the interpretation of the scenes.«29 Doch das unter Maßgabe einer immer authentischeren Reproduktion der Natur. Drei Monate lang habe er einmal experimentiert, um genau die weichen wechselnden Farben eines kalifornischen Sonnenuntergangs über der Sierra Nevada nachzubilden, schreibt Belasco in seinen Erin-

28 A.R.v. Urbanitzky, Die Elektricität im Dienste der Menschheit, S. 830f. 29 Belasco, David: Theatre through its stage door, New York: Harper Brothers 1919, S. 56.

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nerungen, um ihn schlussendlich doch zu verwerfen: Es war ein guter Sonnenuntergang, schreibt Belasco, aber kein kalifornischer.30 Dieser stimmungsmachenden Landschaftsmalerei mit Mitteln des Theaters, wie sie schon von den Meiningern, Irving und Wagner kultiviert wurde, steht jedoch seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts der szenische Naturalismus des Théâtre Libre, Freier Volksbühne und Moskauer Künstlertheater gegenüber. Licht wird hier zum dramaturgischen Mittel, das Handlung strukturiert und soziale Wirklichkeit reflektiert. Der zweite Akt von Gerhart Hauptmanns Erstling Vor Sonnenaufgang beginnt »[m]orgens gegen vier Uhr. Im Wirtshaus sind die Fenster erleuchtet, ein grau-fahler Morgenschein fällt durch den Torweg, der sich ganz allmählich im Laufe des Vorgangs zu einer dunklen Röte entwickelt, die sich dann, ebenso allmählich in helles Tageslicht auflöst.«31 Die Natur ist hier ausgesperrt, ihr Licht fällt nur noch durch das Fenster und steht in Konkurrenz zu dem künstlichen Licht des Wirtshauses, dank dessen sich die Hauptfigur bis in die Morgenstunden betrinken kann: So ist die Sonne im Naturalismus paradoxerweise eben keine Natur mehr, sondern Gesellschaft geworden. Darüber hinaus umgeht die Konzentration aufs Interieur der Salons und Wohnzimmer das ästhetische Problem, das dem Theater mit den elektrischen Sonnen entstanden war. Denn die auf den Lichtschein reduzierte Sonne lässt etwas anderes sichtbar werden, das im Halbdunkel von Öl und Gaslicht bisher nicht zu Tage trat. Wo statt der funzelnden diffusen und flackernden Lampen die Scheinwerfer sich dem Tageslicht in Bläue und Bündelung annähern, wird plötzlich deutlich, dass das, was sich da auf der Bühne befindet, gar keine Natur ist, sondern mit Stoff bespanntes Holz. Schon 1882 schreibt Paul Lindau in der Deutschen Bauzeitung: »Die ganze Manier, in der die Bühnendekoration bisher meistens hergestellt zu werden pflegte, wird wechseln müssen, wenn das elektrische Licht auf den Theaters sich einbürgern sollte. Es werden an Stelle der groben Linien und Klexereien, in der die landläufige Malerei sich zu bewegen pflegt, mit größerer Feinheit durchgeführte, veredelte Darstellungen treten müssen und Knalleffekte der Malerei, die im Strahl der traulichen Gasflammen sich bezaubernd ausnahmen, verurteilt sein, aus der Nähe des elektrischen Strahles zu verschwinden.«32

30 Ebd., S. 57. 31 Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang, Berlin: Ullstein 1994, S. 32. 32 Paul Lindau in der Deutschen Bauzeitung 1882, zit. n. Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke, Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 181.

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Der einzige Zweck der Theaterbeleuchtung sei es bisher gewesen, »die Dekorationsmalereien erkenntlich zu machen«, stellt Adolphe Appia 1895 in der Reformschrift La mise en scene du drame Wagnerien fest und fordert stattdessen ein gestaltendes Licht, das nicht nur Helligkeit erzeugt, sondern mit Licht und Schatten formt.33 Das aber ist mehr als eine Aufwertung des Lichts und eine neue Funktionszuweisung. Aufbauend auf Wagners Theorie des Gesamtkunstwerkes formuliert Appia überhaupt erst die Idee des szenischen Mittels und der Bühne als eines Ortes, der nicht etwas darstellt oder abbildet, sondern selbst ästhetische Qualität besitzt. Denn Appia fordert vom Licht nicht weniger als Ausdruck, d.h. eben jene Kompetenz und Qualität, die seit den bürgerlichen Theaterreformen die Essenz und Kompetenz des Schauspielers bestimmt. Was also zuvor in der Verantwortung der Darsteller lag, wird nun von einem Licht verlangt, das Raum und Zeit der Bühne strukturiert und die Schauspieler auf ihren Platz verweist. Die Praxis zu dieser Theorie findet sich unabhängig davon aber im selben Jahr im Varieté: in Loië Fullers Serpentinentänzen in den Folies Bergère. Bezeichnend dabei ist, dass eine der ersten künstlerischen Manifestationen des neuen Lichtes eben das ins Zentrum stellt, was dem neuen Licht fehlt: Feuer. Denn es ist der 1894 uraufgeführte Feuertanz, der neben dem Serpentinentanz zum Inbegriff der Ästhetik Fullers wird.34 In der Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen wird Fuller so zu einer Göttin, Magierin35 oder Priesterin36 des Lichts; einer Fée de l’Electricité37, die das Licht zum Tanzen bringt.38

33 Hier zit. n Kirchmann, Kay: Licht-Räume – Licht-Zeiten. Das Licht als symbolische Funktion im Theater der Neuzeit, Siegen 2000, S. 49. 34 UA Paris 1894, bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als Solostück zu Wagners Walkürenritt präsentiert. 35 Brandstetter, Gabriele: »›La Destruction fut ma Béatrice‹ – Zwischen Moderne und Postmoderne. Der Tanz Loïe Fullers und seine Wirkung auf Theater und Literatur«, in: Erika Fischer-Lichte/Klaus Schwind (Hg.), Avantgarde und Postmoderne. Prozeßstrukturelle und funktionale Veränderungen, Tübingen: Stauffenberg 1991, S. 191, S. 194. 36 Albright, Ann Cooper: Traces of Light: Absence and Presence in the Work of Loïe Fuller, Wesleyan University Print: Middleton, CT 2007, S. 54. 37 Brandstetter, Gabriele/Ochaim, Brygida M. (Hg.): Loie Fuller. Tanz. Licht-Spiel. Art Nouveau, Freiburg: Rombach 1989, S. 7. 38 Vgl. eine anonyme Kritik, zit. in: A.C. Albright: Traces of Light, S. 193 und zit. n. Current, Richard N./Current, Marcia E.: Loie Fuller: Goddess of Light, Northeastern

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In Fullers szenischen Anordnungen ist die Lichtquelle selbst der Sicht entzogen und der Raum in Dunkelheit getaucht. Ein Bühnenbild oder eine Dramaturgie, die unabhängig vom Licht wären, gibt es nicht. Raum und Zeit der Szene konstituieren sich überhaupt erst als Funktion des Lichts. Und auch das Kostüm hat nicht mehr die Funktion, einen Körper sichtbar zu machen, sondern das Licht aufzufangen und im Raum erscheinen zu lassen. Es ist im Grunde weniger Kleid als Leinwand: eine dynamische Projektionsfläche.40 Im Zentrum der Synästhesie von Licht, Textil und Rhythmus aber steht ein entmaterialisierter Körper, der sich von klaren Umrissen, Schritt-Kanons, Geometrie und Handlungsverlauf des klassischen Tanzes weit entfernt hat. Der Körper verschwindet in der Bewegung des Lichts und lässt Wahrnehmung übrig: »It is not what you see, but how you see that counts«, kommentiert Fuller selbst.41 Ähnlich wie Belascos Melodramen entstehen die Inszenierungen Fullers dabei zu großen Teil im Labor und als technisches Experiment. Und wie wissenschaftliche Erfindungen versuchen sie

University Print: Boston 1997, S. 213: »There once was a woman who caused the light to dance.« 39 Jean Lorrain: La danse, 1898, S.371, zit. n. A.C. Albright: Traces of Light, S. 70. 40 Im Gegensatz zu der zeitgleich entstehenden Projektionstechnologie des Films, der wie das Eidophusikon die Dynamik in einen statischen Projektionsrahmen verlegt, entsteht die Dynamik der Projektion hier durch die Bewegung des (menschlichen) Projektionsträgers im Raum. 41 Die Natur wird hier nicht mehr abgebildet, sondern als Formvorlage genutzt und ins Abstrakte übersetzt. Schon die Titel der Tänze zitieren neben Feuer, Licht und Schatten vor allen Dingen immer wieder Naturformen wie La danse Serpentine (1891), The Butterfly (1892), The Flower (1893), La danse du Lys (1895). Das ist sicher auch Fullers Nähe zur zeitgenössischen Wissenschaft zuzuschreiben, die sich um 1900 zunehmend vom Gegenständlichen entfernt, und jene Gesetze entdeckt, die sich der Anschaulichkeit weitgehend entziehen. Vor allen Dingen Elektrizität und Chemie sind es – die entscheidenden Technologien der zweiten Industrialisierung –, mit denen sich Fuller aktiv beschäftigt.

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ihre Originalität gegenüber den vielzähligen Reproduktionen im Patentamt abzusichern.42 Mit der Elektrifizierung der Theatersonnen hat sich so anno 1895 das Verhältnis von Natur, Technik und Ästhetik im Theater grundlegend gewandelt: Das Licht beginnt zu erscheinen und die Sonnen werden vertrieben. Das Einleuchten und Abfahren von Stimmungen wird fortan zum entscheidenden Prinzip von Regie, Inszenierung und Theaterapparat. Theorie und Varieté vollziehen zeitgleich den epochalen Wandel vom Effekt zur Atmosphäre, der auch die Doktrin der Naturabbildung in Frage stellt und bis heute Begriff, Organisation und Ästhetik des Theaters prägt. Anders gesagt: Die Auftritte der Sonnenkönige à la Louis XIV. sind von den Erscheinungen einer Fee d´electricité verdrängt worden – auch wenn die Futuristen, kurz bevor die Lichter 1913 über Europa wieder ausgehen, den ›Sieg über die Sonne‹ für sich reklamieren und das elektrische Licht für ihre Schlacht gegen den »weichen und dekadenten Mondschein« in Anspruch nehmen.43

R ESUMÉE Zu zeigen war mit dieser kleinen Geschichte der theatralen Sonnenaufgänge, wie mit der technischen Entwicklung aus Pappmaché-Scheiben gleißende Strahlung wird, anders gesagt: wie aus körperlich bewegten Dingen apparativ erzeugte

42 Fuller meldet in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zwei Patente an, die beide in Verbindung mit dem Feuertanz stehen: Ein Gewand für Tänzer und Tänzerinnen, das aus einem seidenen Umhang besteht, der sich mithilfe von Aluminiumstäben in Schwingungen versetzten lässt. Und einen Mechanismus für Bühneneffekte, der unter anderem durch die Beleuchtung von unten auf einer Glasfläche ein Schweben der Darsteller und Darstellerinnen erzeugen kann. 43 Der phallische Elektrokult der Futuristen beansprucht schon bald darauf sowohl Varieté als auch Elektrizität für sich. Von einer »Schlacht zwischen dem spasmodischen Mondschein, der schrecklich gequält und verzweifelt ist, und dem elektrischen Licht«, weiß Marinetti 1913 zu berichten, nur um festzustellten, dass natürlich »das energiegeladene elektrische Licht [siegt], und der weiche und dekadente Monschein wird besiegt«. Und in St. Petersburg feiern im Dezember des gleichen Jahres Alexeij Krutschonych, Michail Matjuschin, Kasimir Malewitsch mit der gleichnahmigen futuristischen Oper den »Sieg über die Sonne«. Zitiert aus: Marinetti, Filippo T.: »Das Varieté«, in: ders., Drahtlose Phantasie. Aus- und Zurufe des Futurismus, Hamburg: Nautilus 1985, S. 44.

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Stimmungen werden. Von den Auftritten der Sonnen bleiben Erscheinungen des Lichts, in einem Prozess, der sich historisch im 19. Jahrhundert abspielt, sich jedoch praktisch in jeder Theaterproduktion wiederholt. Mit jeder technischen Einrichtung wird der Auftritt in eine Erscheinung verwandelt, übernimmt das Stellwerk die Kontrolle und mit ihm der Regisseur. Und da hilft es auch nichts, wenn Einar Schleef im Regelkanon für Schauspieler noch einmal wie fast alle Theatertheorien seit 1900 den Darsteller und Darstellerinnen als selbstleuchtenden Körper beschwört: »Licht auf der Bühne ist kein Scheinwerfer, sondern das Licht, das du machst, wie die Sonne, die durch Wolken sticht, diesen Zweig, jenes Fenster für einen Augenblick beleuchtet, das kann kein Inspizient vom Pult. Du musst das Licht sein. Deine Aura.«44

Das aber sagt einer, der genau wusste, in welches Licht er seine Sprechchöre stellte und seinen vielleicht paradigmatischen Auftritt als Friedrich Nietzsche im Zentrum eines Lichtkegels zelebrierte. Denn dieser Übergang betrifft das Theater als ganzes, verändert Produktions- und Rezeptionsprozesse grundlegend und nachhaltig. Nirgends lässt sich dies so gut ablesen, wie an der Veränderung der Probenprozesse im 19. Jahrhundert und der Institutionalisierung der Technischen Einrichtung, die noch bis heute den entscheidenden Wendepunkt des Produktionsprozesses darstellt. Die Konsequenzen dieser Überlegungen aber führen zu zwei Einsichten: erstens, dass man innerhalb der Theatergeschichte die technologische Entwicklung neu bedenken muss – und zwar weder einfach als Fortschritt ästhetischer Mittel noch als epistemische Determinante ästhetischer Umbrüche; zweitens, dass man Theater- und Mediengeschichte noch viel enger zusammen denken muss, als bisher geschehen und sowohl theatrale Praktiken im Film als auch mediale Techniken im Theater einer erneuten Sichtung unterziehen sollte.

L ITERATUR Aischylos: Orestie, in: Werke in einem Band, übers. v. Dietrich Ebener, Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag 1976. Albright, Ann Cooper: Traces of Light: Absence and Presence in the Work of Loïe Fuller, Wesleyan University Print: Middleton, CT 2007.

44 Schleef, Einar: Droge. Faust. Parzival, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 474.

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104 | U LF O TTO

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Sinnliches Aufsteigen Zur Vertikalität des Auftritts auf dem Theater J ULIANE V OGEL

Folgt man der Semantik des Wortes ›Auftritt‹, so wird man nicht davon absehen können, dass das Auftreten eine markante und akzentuierte Bewegungsform darstellt. Die Mise en Scène einer Figur auf einer gegebenen Bühne ist in entschiedener Weise an einen Schritt gebunden. Definiert man den Auftritt als das Ensemble aller rhetorischen Mittel, die einer Figur vor den Augen der anderen Evidenz verleihen,1 ist dieser als der entscheidende Teil der actio zu betrachten. Ihr In-Erscheinung-Treten erfordert ein »motus corporis«2 – ein körperliches Handeln, einen Akt des Hervortretens, Schreitens oder aber eine andere äquivalente Bewegung, mittels derer sie die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft von Anwesenden erregt und ihren Empfang vorbereitet. Im Schritt über die Bühnenschwelle wird eine künstliche Persona geschaffen, die den Zuschauer im Moment ihres Erscheinens für sich einnimmt und durch seine Ankunft eine Erneuerung der bestehenden Situation verspricht. Im Idealfall dient also der Auftritt der emphatischen Verdeutlichung eines Ankömmlings. Indem er einem Erscheinenden zur Kenntlichkeit verhilft, ist er als untrennbarer Bestandteil der artikulatorischen Funktion anzusehen. Deren

1

Vgl. Gabriele Brandstetter in diesem Band sowie die Einleitung in Vogel, Juliane/ Christopher Wild (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin: Theater der Zeit 2014.

2

Cicero, Marcus Tullius: Brutus, hg. v. Bernhard Kytzler, München: Heimeran 1970, 203, S. 150; Vgl. Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt: Wiss. Buchges. 2006, Bd. 2, XI, 3,1, S. 608.

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Aufgabe besteht darin, einen noch ungeordneten Sinneseindruck in Hinblick auf einen Empfänger zu ordnen, zu gliedern und zuletzt in eine lesbare Figur zu überführen. Wie die sprachliche Artikulation einen Einsatz der artikulatorischen Organe notwendig macht, erfordert auch die Herstellung einer Figur auf der Bühne eine körperliche Aktivität. Die ›körperlichen Freuden‹ der Artikulation, von denen Jürgen Trabant bezüglich der Sprechwerkzeuge spricht, sollen daher im Folgenden auch für das Spektrum menschlicher Auftrittsbewegungen in Anspruch genommen werden: »Artikulation hat mit unserem Körper zu tun. Sie ist Bewegung – gewiß eine kulturell gezügelte, domestizierende Bewegung, wie Rousseau so dramatisch zeigt – und als Bewegung ist sie an unseren Leib gebunden.«3

Diese Schritte sind jedoch alles andere als zufällige Bewegungen, sie sind vielmehr das Objekt einer ambitionierten Überformung. Im Überblick über ihre möglichen Varianten können sie als Bewegungsartefakte beschrieben werden, die die natürliche Ausstattung dessen, der kommt, übersteigen und ausschmücken. Der überzeugende Auftritt erfordert eine künstliche Ausgestaltung des ›motus corporis‹ – ein kontrolliertes Vorwärts- und Nach-vorne-Kommen des Menschen mit dem Ziel, ein über die Gebrechlichkeit seines Körpers hinausweisendes Bild des Eintreffenden zu entwerfen und einem Publikum vor Augen zu stellen.4 Die geglückte Artikulation, so behauptet David Wills in seinem Buch Dorsality, kann nicht aus eigenem Vermögen gelingen, sie ist stets auf die Aktivierung prothetischer Hilfsmittel – seien sie technischer oder auch rhetorischer Art – angewiesen, die korrigierend und optimierend auf die menschlichen Schritte einwirken: »Technology as mechanicity is located – not for the first time but in a particularly explicit way, that is to say, as fundamental relation to the earth as exteriority – in the step. In walking, one, the human, any given biped, is with each step correcting its bearing, limping from one foot to the other, realigning its center of gravity, compensating for the disequi-

3

Trabant, Jürgen: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 70.

4

Vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2003, S. 19ff.

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librium of each movement, as it were turning one way then the other in order to advance.«5

Zwei körperliche Voraussetzungen des ›motus corporis‹ können somit ausgemacht werden. Einerseits besteht sie in der Dorsalität der Erscheinung. Die Auftrittsfähigkeit einer Figur ist an die Fähigkeit zum aufrechten Gang gebunden: »The figure or pose of our fundamental technological articulation and actualization – the point at which that emerges into visibility – is the upright stance.«6 Erfordert ist eine Ausrichtung an der Vertikalen, die dem Auftretenden Erkennbarkeit, Souveränität und die Stabilität einer Form verleiht und ihn durch die künstliche Verstärkung seines Rückgrates über die ihm angeborene Hinfälligkeit erhebt. Nur durch eine solche Aufrichtung kann sich eine Person verdeutlichen, nur in der Senkrechten gewinnt der auftretende Körper seine Dignität.7 Die zweite Voraussetzung geglückter theatraler Artikulation ist die kontrollierte Setzung der Füße oder die beherrschte Anwendung anderer und ähnlicher technisch gestützter Bewegungsformen, die den Auftretenden über die Schwelle einer Bühne – aber auch über die Schwelle der Aufmerksamkeit – hinwegtragen. Der souveräne Auftrittsschritt ist wie der Tanzschritt »ein Schritt, der sein Schreiten weiß«, ein Schritt, der sich selbst zeigt und »in der Darstellung reflektiert«.8 Bedenkt man die rhetorischen oder auch die technischen Voraussetzungen dieser Bewegungsform, so fällt in erster Linie sein transformatorisches Potential ins Auge. Überzeugende Auftrittsbewegungen verwandeln die Ankommenden, die sich in eine Rolle hinein und über die Schwelle begeben, in ein höheres Wesen – und das nicht zuletzt im Sinne einer räumlichen Erhöhung. Seine einprägsamste Formel findet dieser Umstand in Grimms Wörterbuch, das den ›Auftritt‹

5

Wills, David: Dorsality. Thinking Back through Technology and Politics (= Posthumanities, Band 5) Minnesota: University Press 2008, S. 4. Den Hinweis auf Wills verdanke ich dem von Céline Kaiser geleiteten DFG-Nachwuchswissenschaftlernetzwerk ›Szenografien des Subjekts‹.

6

D. Wills, Dorsality, S. 8.

7

Vgl. Krauss, Rosalind: »Horizontality«, in: Yve-Alain Bois/Rosalind Krauss, Formless. A User’s Guide, New York: Zone Books 1997, S. 93-103: »A function of the well-built, form is thus vertical because it can resist gravity.« (S. 97).

8

Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Stück mit Flügel. Über Gehen schreiben«, in: Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München: Fink 2006, S. 319-330, hier S. 322f.

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aus einer idealisierenden Perspektive als ein »sinnliches [A]ufsteigen«9 definiert. Im Maximalfall ist die Ankunft einer Figur als ein stellarer Vorgang im weitesten Sinn zu begreifen – als Aufgang eines Gestirns, das sich am Horizont erhebt, am Himmel aufsteigt und im Zuge dieser Progression Licht verbreitet. Der große Auftritt wird in den Rang eines kosmischen Lichtereignisses erhoben, das eine im Dunkeln oder Halbdunkel liegende Welt erhellen soll und durch sein Eintreten eine entscheidende Neuerung verspricht. Insbesondere den Herrscher- und Prunkauftritten wird die Eigenschaft der Solarität und damit die höchste Lichtstärke zugeschrieben, wie folgende Verse aus Aischylos’ Tragödie Die Perser illustrieren, die das Erscheinen einer Königin als ein solares Ereignis assoziieren: »Sieh dort! wie in Strahlen der Gottheit naht Sie, die Sonne, die Mutter des Königes uns, Unsere Königin! In den Staub werf ich mich. Laßt ehrfurchtsvoll Uns alle zugleich Sie begrüßen in schuldiger Demut!«10

Charakteristisch für dieses hyperbolische und besonders für die Höfe typische Auftrittsmuster ist die imaginäre Vertikalisierung der Auftrittsbewegung, die eine Loslösung aus den Bindungen an die Schwerkraft bzw. eine stellare Überwindung der Horizontalen suggeriert. In prinzipieller Weise geht es darum, den Schritt auf die Bühne buchstäblich oder metaphorisch als eine Elevation zu kennzeichnen – als die jubilatorische Manifestation einer Person, die sich im Moment ihres Erscheinens zugleich den Bedingungen entzieht, die dem sterblichen Menschen auferlegt sind. Solche Schrittmuster11 werden nicht jedes Mal neu erfunden, sondern tradiert, aufgerufen und weiter entwickelt. Im Lauf der politischen Geschichte wie der Theatergeschichten verfestigen sich erfolgreiche Auftrittsformen zu Auftrittstopoi oder Auftrittsprotokollen. Der Begriff des Protokolls ist dabei sowohl als

9

Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Leipzig: Hirzel 1962, Bd. 1, Sp. 765.

10 Aischylos: »Die Perser«, in: ders., Tragödien, übers. v. Johann Georg Droysen, Hamburg: Standard-Verlag 1957, S. 12. 11 Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Über Gehen und Fallen. Fehltritte im Tanz, Lücken in der Choreographie«, in: Felix Philipp Ingold/Yvette Sánchez (Hg.), Fehler im System. Irrtum, Defizit und Katastrophe als Faktoren kultureller Produktivität, Göttingen: Wallstein 2008, S. 170-185, hier S. 172.

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Vorschrift wie auch als Nachschrift zu verstehen, da er die Wechselwirkungen von Idealisierung und körperlicher oder sozialer Realität immer wieder neu erfasst und ausbalanciert.12 Er umfasst die jeweiligen Regelsysteme, die die Inszenierung einer Person im Moment ihres öffentlichen Erscheinens bestimmen und reagiert zugleich auf reale Gegebenheiten und Kontexte, die darin eingreifen. Folgenreich für die Entwicklung der europäischen Auftrittskulturen und den sie kennzeichnenden Ermächtigungsgestus war vor allem das römische Triumphalprotokoll, das diese Erhöhung in exemplarischer Weise leistet. Es entstammt den Siegesfeiern, die einen Feldherrn oder Kaiser in der Rolle des sol invictus – der unbesiegten Sonne – auf der Bühne der Stadt erscheinen ließ und ihm zugleich für einen Tag die Herrschaft über sie einräumte. In diesen Inszenierungen wurde der Triumphator bereits im Moment seiner Ankunft auf einer urbanen Festbühne als ein übermenschliches Wesen in Szene gesetzt.13 Ein goldener Festwagen und die vestis triumphalis erhoben ihn bei seinem Eintritt über die Sterblichen hinaus und präsentierten ihn als ein mit Gold bekleidetes Standbild, d.h. in bewegter Bewegungslosigkeit, während die körperliche Arbeit der Vorwärtsbewegung durch die Quadriga – das Pferdegespann – übernommen wurde. Auch diese Ausstattungen verdeutlichen den Anteil prothetischer Elemente, die der große Auftritt erfordert – in diesem Fall des Kampfwagens und eines durch einen Sklaven gehaltenen goldenen Blätterkranzes. Dieses stellare Auftrittsprotokoll, das den Auftretenden im Moment seines Erscheinens als Leitstern in einem kosmischen Aufgangsgeschehen begreift, ist insbesondere für die höfischen Kulturen maßstäblich, die in ihren theatralen Repräsentationen von der Sonne des Fürsten ausgehen und sein Erscheinen in festlichen Entrees als das »sinnliche [A]uf– steigen« eines Gestirns inszenieren.14 Insbesondere die großen Theatermaschinen des absolutistischen Theaters ermöglichten die Elevation von Königen und die Vertikalisierung ihrer Auftrittsbahnen. Durch die Konstruktion von Flugmaschinen in den Theatern des Ancien Régime wurde das Schreiten oder Treten ei-

12 Zum Begriff des Auftrittsprotokolls vgl. Vogel, Juliane/Christopher Wild (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin: Theater der Zeit 2014. 13 Vgl. Beard, Mary: The Roman Triumph, Cambridge, MA: University Press 2007, S. 219ff.; Kernodle, George R.: From Art to Theatre. Form and Convention in the Renaissance, Chicago: University Press 1944, S. 58ff. 14 Vgl. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 127ff.

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nes Ankommenden in eine triumphale und raumnehmende Bewegung transponiert und einem planetarischen oder solaren Protokoll zugeordnet:15 »Le Ciel s’ouvre, & le Soleil en sort dans un Chart tout brillant […] avec des rouës d’or, & des rayons d’argent, traisné par quatre chevaux blancs qui souflent du feu.«16

Ziel solcher solaren oder stellaren Auftritte ist nicht zuletzt die Niederwerfung und zugleich Demütigung der Anwesenden im Sinne des flectere: Das Steigen des Ankommenden bewirkte die Beugung des Publikums: »In den Staub werf ich mich. Laßt ehrfurchtsvoll/ Uns alle zugleich/ Sie begrüßen in schuldiger Demut!«17 Eine solche triumphale Erhöhung des Auftretenden erfordert jedoch eine Kunstanstrengung, die die Regeln der Wahrscheinlichkeit bricht und mit höheren Mächten im Bund zu sein scheint. Die große Gattung des Prunkauftritts, die im Zentrum des höfischen Theaters steht, erhält in der weiteren Geschichte der höfischen Kultur den Status eines Wunders, auch wenn die technischen Grundlagen dieses Wunders bekannt und durchschaut sind. Dichte Beispiele für diese ins Wunderbare ausgreifende Transposition des menschlichen Schritts finden sich beispielsweise in den dramatischen Texten Pierre Corneilles, der als Exponent der absolutistischen Fest- und Theaterkultur des 17. Jahrhunderts über große Kompetenzen für triumphale Auftrittsformen verfügte.18 In seiner Komödie

15 Vgl. dazu Kappeler, Annette: Un opéra sans machines! Parbleu, c’est une femme sans fontanges. Auftrittsformen der Tragédie en musique. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie. Masch. Ms.; Quaeitzsch, Christian: Une société de plaisirs. Festkultur und Bühnenbilder am Hofe Ludwig XIV. und ihr Publikum, Berlin/München: Dt. Kunstverlag 2010. 16 Donneau de Visé, Jean: Sujet des Amours du Soleil, Paris: Pierre Promé 1670, S. 7, abgedruckt in: Christian Delmas (Hg.), Recueil de tragédies à machines sous Louis XIV (1657-1672), Toulouse: Université de Toulouse-Le Miral 1985, o.P.; Vgl. C. Quaeitzsch: Une société de plaisirs, S. 265 (»Der Himmel öffnet sich und die Sonne kommt heraus in einem glänzenden Streitwagen [...] mit Rädern aus Gold und Strahlen aus Silber und von vier weißen Pferden gezogen, die Feuer atmen.«, Übers. U.O.). 17 Aischylos: »Die Perser«, S. 12. 18 Vgl. C. Quaeitzsch: Une société de plaisirs, S. 266ff. Vgl. Starobinski, Jean: Das Leben der Augen, Berlin: Ullstein 1984, S. 21: »Was ist Allmacht, wenn nicht das Privileg, sich nur zu zeigen zu brauchen, um Gehorsam zu erlangen? Das Wort Éclat (plötzliches Erstrahlen), das bei Corneille so häufig vorkommt, drückt jenen aktiven Glanz vollkommen aus: siegreiche Überraschung, blitzhafte Eroberung, Triumph oh-

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L’illusion comique, deren Handlung um einen alten Zauberer und Meister der Maschinen kreist, werden wie beschrieben menschliche Auftrittsschritte ins Wunderbare gesteigert und zugleich in die Domäne der Kunst als einer Domäne der Machbarkeit verwiesen: »Espérez, mieux, il sort, et s’avance vers vous./ Regardez-le marcher, ce visage si grave/ Dont le rare savoir tient la nature esclave/ N’a sauvé toutefois des ravages du temps/ Qu’un peu d’os et de nerfs qu’ont décharnés cent ans,/ Son corps malgré son âge a les forces robustes,/ Le mouvement facile et les démarches justes,/ Des ressorts inconnus agitent le vieillard,/ Et font de tous ces pas des miracles de l’art.«19

Auch bei seinem Auftritt müssen ›resorts inconnus‹ – unbekannte Kräfte – aktiviert werden, um den Auftritt des Magiers in einen übermenschlichen Modus zu versetzen. Präzise wird bezeichnet, welche Leistung im Moment des Auftritts zu vollbringen ist: Die wunderschaffenden Künste oder ›miracles de l’art‹ sind wiederum Vertikalisierungskünste, denen es gelingt, den hinfälligen Körper eines Hundertjährigen so in Bewegung zu setzen, dass seine Schritte leichtfüßig, jugendlich und situationsmächtig erscheinen und jene Kraft und Macht ausstrahlen, die dem überwältigenden Auftritt zugeschrieben wird.20 Mit den Mitteln der Zauberkunst kann der in die Horizontale und zuletzt ins Grab strebende Körper des Menschen dorsalisiert und mit einer Souveränität ausgestattet werden, die ihn zum Herr der Szene macht. Handelt es sich hier um Bewegungsprotokolle, die einen idealen Auftrittsvorgang wider die Natur entwerfen, ist nun das kehrseitige Protokoll der Pannen und des Scheiterns nachzutragen, das es begleitet. Wie sich bereits an den Auftrittsszenarien der antiken Tragödie ablesen lässt, weist der Schritt auf die Bühne eine Störungsanfälligkeit auf, die den dem gelingenden Auftritt innewohnenden

ne Kampf. So waren die Siege von Louis XIV. beschaffen: ›Louis braucht nur zu erscheinen‹, und schon fallen die Mauern, die Schwadrone fliehen, die Völker unterwerfen sich.« 19 Corneille, Pierre: »L’illusion comique«, in: ders., Théâtre complet I: Comédies, Paris: Garnier-Flammarion 1968, S. 439-513, hier S. 447 (»Warten Sie besser, dass er herauskommt und Ihnen entgegen kommt. Sehen Sie ihn gehen mit solch ernsthaftem Gesicht, dessen seltenes Wissen die Natur versklavt hält, dem Zahn der Zeit ein paar Knochen und Sehnen entrissen, die schon 100 Jahre verdorren, sein Körper trotz des Alters kraftvoll, seine Bewegung einfach und die Schritte genau, unbekannte Federn treiben den Alten und stammen alle aus den Wunder der Kunst.«, Übers. U.O.) 20 Vgl. M. F. Quintilianus: Ausbildung des Redners, Bd. 2, XI, 3,2, S.609.

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Machtanspruch permanent und von je her desavouiert. Aus technischen, rhetorischen und sozialen Gründen ist der Festauftritt ›illusion‹. Er ist allenfalls als idealer Richtwert zu bezeichnen, an dem sich die Skalen und Spielformen des Scheiterns ablesen lassen.21 Zur Rekonstruktion dieser Krisen sind die Zeugnisse der dramatischen Literatur unverzichtbar. Indem sie die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens, menschlicher Handlungsspielräume und menschlicher Lebenszeit aufzeigt, leistet gerade die dramatische Literatur eine unaufhörliche Kritik des Prunkauftritts und seiner Imagines. Am Bild des Königs verdeutlicht sie jedoch auch darüber hinaus die Widerstände, die einer überzeugenden theatralen Figuration insgesamt entgegenstehen. Seit den Anfängen der griechischen Tragödie werden die Übersteigerungsziele des großen Auftritts auf der Bühne als Hybris des Körpers gekennzeichnet oder insbesondere am Beispiel der Könige in Frage gestellt. Diese Kritik äußert sich nicht zuletzt in der Aktivierung von Schrittformen, die die Schwächen des natürlichen Körpers gerade im Moment des Eintretens und Herankommens herausstellen. Nicht zufällig lautet der Name eines griechischen Tragödienhelden ›Oidipous‹ – übersetzt ›Schwellfuß‹ –, der darauf hinweist, dass der Auftritt des Königs von Theben von einem körperlichen Gebrechen beeinträchtigt ist und in der Form der Gehbehinderung auf die vorausliegende wie auf die kommende Katastrophe hindeutet.22 Kontrafaktisch zu den jubilatorischen Auftrittsformen der höfischen Feste unterstreichen auch moderne Schritt- und Bewegungsformen, dass die ›miracles de l’art‹ nicht mehr auf den Körper zugreifen und sich die daraus folgenden Souveränitätsverluste auch in der radikalen Informalisierung oder Depotenzierung von Auftrittsformen niederschlagen. Die Fähigkeit, den Körper aufzurichten und einen Raum durch die Setzung eines starken Schrittes zu eröffnen, verliert den Status eines Ideals. In der langen Kette der Zeugen, die das passive Bewegungsprotokoll des Fallens in unterschiedlichen Abstufungen repräsentieren, findet sich natürlich Kleist, der hier deswegen zu nennen ist, weil er seine Figuren stets unter dem Gesichtspunkt ihrer Gefallenheit auf der Bühne in Erscheinung treten lässt. Nicht zuletzt der Richter Adam aus Der zerbrochene Krug stiftet ein neues und modernes Auftrittsprotokoll, das sich unter dem Motto: »Zum Straucheln braucht’s doch nichts, als Füße«23, von souveränen und prothetisch unterstützten

21 Vgl. M. Beard: Roman Triumph, S. 221ff. 22 Vgl. den Aufsatz von Christopher Wild in diesem Band. 23 Kleist, Heinrich von: »Der zerbrochne Krug«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden, Bd. 1: Dramen 1802-1807, hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker Verlag 1991, S. 285-358, hier S. 287.

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Auftrittsformen absetzt.24 Dieses erinnert nicht nur daran, dass der Mensch der theologischen Überlieferung nach durch einen Fall in die Welt kam,25 es macht auch die Koordinaten einer modernen Existenzform sichtbar, die durch einen ersten Fall begründet wird und sich auch in der weiteren Folge in defizienten und unsicheren Schritten darstellt. Nicht ohne Grund transkribiert Kleist die Tragödie des Sophokles in eine Komödie, die seit ihren Anfängen mit informellen und defizienten Bewegungsformen arbeitet. Emblematisch für diese Krise ist der Abdruck eines in sich ungleichen Schritts, den der bei seinem Fenstersturz verletzte Richter Adam im Schnee hinterlässt. Aus seinen Spuren lässt sich das Auftrittsprotokoll des gefallenen Menschen rekonstruieren, das bereits in der ersten Szene gültig ist, als er sein fragwürdiges Entree auf der Bühne hält: »Rechts fein und scharf und nett gekantet immer,/ Ein ordentlicher Menschenfuß,/ Und 26

links unförmig grobhin eingetölpelt/ Ein ungeheurer klotz’ger Pferdefuß.«

Fallend, hinkend und stolpernd – das gesamte Bewegungsrepertoire des gefallenen Menschen wird gegen die Integrität des richterlichen Amtskörpers aufgewendet. Über den individuellen Fall hinaus wird damit eine Bewegungsform eingesetzt, die das Auftrittsprotokoll eines von den Formen verlassenen und unbalancierten Mängelwesens kennzeichnet. Im Ungleichgewicht des Schritts zeigt sich die Instabilität eines Wesens, das sich auf seine zwei Füße nicht verlassen kann und im Schreiten eine in sich gespaltene Bewegung vollzieht. Während der eine Fuß eine deutliche Spur hinterlässt und in seiner scharfen Kantung eine gelungene Artikulation des Menschen darstellt: ›ein ordentlicher Menschenfuß‹, wechselt der zweite Abdruck ins Register des Monströsen und der Formlosig-

24 Vgl. Schneider, Helmut J.: »Standing and Falling in Heinrich von Kleist«, in: Modern Language Notes 115 (2000), 502–518. Wie Schneider zeigt, zielt Kleist auf »the demise of the power of iconic representation, the defacement of the symbolic imagery of the state and community« (S. 508) – oder umgekehrt auf die »production of the nonimage« (ebd.). Vgl. außerdem G. Brandstetter, »Stück mit Flügel«, S. 326: hier zum »Kippmoment des Equilibre«. 25 Vgl. Mülder-Bach, Inka: »Am Anfang war… der Fall. Ursprungsszenen der Moderne«, in: dies./Eckhard Schumacher (Hg.), Am Anfang war… Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne, München: Fink 2008, S.107-129. Vgl. Wild, Christopher: Das Theater der Keuschheit. Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Freiburg i. B.: Rombach 2003, S. 21-27. 26 H. v. Kleist: »Der zerbrochne Krug«, S. 348.

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keit. ›[U]nförmig‹ durchkreuzt er die Anstrengung des ›recht[en]‹ Fußes, ein deutliches Zeichen zu setzen. Auf seiner Seite regiert die Informalität des Animalischen – hier ereignet sich eine Tierwerdung,27 die die rohe Körperlichkeit eines Wesens aufweist, das sich nicht artikulieren lässt und damit auch die Verdeutlichungsanstrengungen der anderen Körperhälfte zunichtemacht. Verlagert sich das Gewicht vom artikulierten zum unartikulierten Auftritt, lassen sich Linien zu einer modernen Auftrittskultur ziehen, die die artikulatorische Funktion und die sie tragende Bewegung zusehends in Frage stellt und vielgestaltige Formen der Horizontalisierung entwickelt. Nach dem Zusammenbruch der souveränen Auftrittsprotokolle ist die Senkrechte nur noch im Zitat oder als ein unerreichbarer spatialer Richtwert zu haben, der in der körperlichen und sozialen Realität des Auftritts immer wieder unterschritten wird. Ihre Nachfolger in der Moderne machen die körperliche Anstrengung kenntlich, die der Vertikalisierungszwang erfordert und markieren die Grenzen, die der menschlichen Gestaltungskraft im Auftritt gesetzt sind. Wie Gabriele Brandstetter in ihren Studien zum Gehen und Fallen gezeigt hat, bilden diese Krisenformen jedoch die Grundlage neuer und durch Mangel bestimmter Schrittmuster.28 Für die Auftrittsformen der Moderne lässt sich Ähnliches festhalten: Aus dem Versagen des starken Schritts entwickeln sich neue Protokolle, die dem Schwinden oder der Ermächtigung der Prothesen gerecht werden und die Schwächung der Fasson in die Konstitution menschlicher Selbstentwürfe aufnehmen. Neue Protokolle integrieren diese Krisen in ihre Bewegungsabläufe und entwickeln sich gleichzeitig zu anthropologischen Analyseinstrumenten, die den phantasmatischen Charakter des souveränen Auftritts durch widersprechende und störungssensible Bewegungsanalysen in Frage stellen. Von hier aus eröffnet sich ein weites Spektrum von nicht-souveränen Auftrittsformen. Diese binden den menschlichen Akteur an den Boden, kehren seine Schlagseite hervor und weisen zuletzt darauf hin, dass er im Moment seines Erscheinens zuletzt auch den festen Stand wird preisgeben müssen. Wenn sie nicht notdürftig durch ein Rollenzitat zusammengehalten werden oder in ein Kleid gefasst sind, das den abrutschenden Körper einen Moment lang in Form hält, können solche Auftrittsformen vertikalisierende Gegenkräfte nicht mehr dauerhaft mobilisieren. Der Schritt, der den Auftritt eröffnet, wird zusehends zu einem Schauplatz eines Formverlusts, im Zuge dessen Kleid und Fleisch, Körper und Rolle auseinandertreten können. Die artikulatorische Funktion des Schreitens

27 Vgl. Deleuze, Gilles: Francis Bacon. The Logic of Sensation, Minneapolis: University of Minnesota Press 2003, S. 15ff. 28 Vgl. G. Brandstetter: »Über Gehen und Fallen«, S. 176ff.

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verkehrt sich dann in ihr Gegenteil. Der aufrechte Gang verliert seine Maßstäblichkeit, die dorsale Präsenz ihre Kraft, während sich »wirkliche Menschen […] schreiend und schwindlig und ineinander verkrallt entgegentorkeln«29. Elfriede Jelineks 1999 entstandenes Dramolett Macht nix führt beispielhaft die Dissoziation eines lebendigen Rollenkörpers in einen verwesenden und einen ossifizierenden, einen steigenden und einen sinkenden Teil vor Augen.30 ›Flesh and bone‹ treten in einem Moment auseinander, wo es eigentlich um ein ›sinnliches [A]ufsteigen‹, die Totenfeier einer berühmten Schauspielerin geht. Die prothetische Eigenschaft der Vertikalität wird nunmehr den entfleischten Knochen zugeordnet, während das Fleisch wie in einem Gemälde Francis Bacons in die Horizontale abrutscht. Folgende Passage aus Macht nix kann als Umkehrung jener Beschreibung gelesen werden, die Corneille in seiner Komödie l’Illusion comique vom Auftritt eines Hundertjährigen gab – einer Beschreibung, der es gelang, die entfleischten Nerven (›nerfs décharnés‹) des Greises durch ein ›miracle de l’art‹ neu einzukleiden: »Eine berühmte Burgschauspielerin, die tot ist, wird soeben dreimal um das Burgtheater herumgetragen. Sie sitzt im Sarg. Die Knochen stehen ihr überall heraus. Ab und zu schneidet sie sich ein Stück Fleisch heraus und wirft es ins Publikum.«31

Aufgrund solcher und anderer protokollarischer Vorschriften stellt sich die Frage, welchen Status das moderne Theater, das Theater der Avantgarde, dem Schritt auf der Bühne einräumt, wie die Protokolle ihn aufladen und wie sich das dynamische Verhältnis zwischen Horizontalität und Vertikalität im Moment des Auftritts gestaltet. Denn auch wenn das Fallen zum integralen Teil moderner Figurationsprozesse geworden ist, lässt sich von einer progressiven Horizontalisierung theatraler Auftritte nur sehr bedingt sprechen. Viel eher kann von permanenten kritischen Unterhandlungen zwischen den Achsen die Rede sein – d.h. von Bewegungsformen, die dem fallenden Körper die Senkrechte des aufrechten Gangs immer wieder abgewinnen und umgekehrt. Denn so, wie aus dem Fallen

29 Jelinek, Elfriede: Der Lauf-Steg (Rede anlässlich des Mühlheimer Dramatikerpreises 2004), http://www.a-e-m-gmbh.com/wessely/flaufste.htm vom 21.06.2004. 30 Vgl. G. Deleuze: Francis Bacon, S. 16ff. 31 Vgl. Jelinek, Elfriede: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S.7. Vgl. Vogel, Juliane: »Ich möchte seicht sein. Flächenkonzepte in Texten Elfriede Jelineks«, in Thomas Eder/Juliane Vogel (Hg), Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. München/Paderborn: Fink 2010, S. 9-19, hier S. 14ff.

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ein prekärer Stand erreicht wird, erweisen sich auch Vertikalität und Dorsalität stets als transitorisch. Sie sind Zwischenzustände ohne Aussicht auf Dauer oder auch Impulse, die der Horizontalen rhythmisch entgegenwirken, um ihr zu erliegen, sie wieder zu überwinden und ihr wieder zu erliegen. In diesem Zusammenhang soll nur kurz auf das Theater Samuel Becketts verwiesen werden: In Act without words wird ein nach diesem Muster entworfenes Bewegungsprotokoll vorgeführt. Auftritt ist hier Vorfall und Rückfall, Passivität und Aktivität zugleich. Die zentrale Figur des Stücks konstituiert sich, indem sie fallend auf die Bühne, aus dem Fall in den Stand kommt und einen winzigen Reflexionsraum gewinnt, dann aber auf ein Signal unbekannter Mächte hin in die Backstage zurückkehrt. In rhythmischen Abständen durchläuft sie eine zweiphasige und zugleich rekursive Auftrittsbewegung, die sich aus Fall und Wiederaufrichtung zusammensetzt und den Akteur unermüdlich an der Grenze zwischen Fortsein und Dasein, On und Off beschäftigt. In den folgenden Alternationen wird nicht zuletzt deutlich, dass Auftritte Arbeit sind – körperliche Arbeit an der Schwelle zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, unermüdliche Überquerungen und zuletzt vergebliche Versuche, einen Raum zu eröffnen und zu beherrschen oder eine Figur in Szene zu setzen, die die Schwelle definitiv überschreitet. »Person: A man. Familiar gesture: he folds and unfolds his handkerchief. Scene: Desert. Dazzling light. Action: The man is flung backwards on stage from right wing. He falls, gets up immediately, dusts himself, turns aside, reflects. Whistle from right wing. He reflects, goes out right. Immediately flung back on stage he falls, gets up immediately, dusts himself, turns aside, reflects. Whistle from left wing He reflects, goes out left. Immediately flung back on stage he falls, gets up immediately, dusts himself, turns aside, reflects.«32

32 Beckett, Samuel: »Act without words I«, in: ders., Dramatische Dichtungen, Bd. 1: Französische Originalfassungen. Deutsche Übertragung von Elmar Tophoven. Englische Übertragung von Samuel Beckett. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 505-511, hier S. 507.

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Die verfehlte Anrufung Der verstolperte Auftritt in Peter Steins Torquato Tasso G ERALD S IEGMUND

U NEBENHEITEN

DES

B ODENS

In jedem System, so scheint es, gibt es eine Stelle, die bei unsachgemäßer Behandlung die Ordnung zum Einstürzen bringt. Man stolpert über diese Unebenheit des Grundes, auf dem man eben noch sicher zu gehen schien, und schon ist es passiert. Ebenso ergeht es dem Diener James, der Jahr für Jahr ein Dinner anlässlich Miss Sophies neunzigstem Geburtstag ausrichten muss. Alle Gäste sind inzwischen weggestorben. Eisern aber hält Miss Sophie, so als wäre alles noch so wie früher, an den streng ritualisierten Abläufen und Gängen fest, was mit der schon sprichwörtlich gewordenen Frage des Dieners: »The same procedure als last year?«, und der Antwort Miss Sophies: »The same procedure as every year« auf den Punkt gebracht wird.1 In dieser Welt spielt neben dem Alkohol, den der Diener trinkt, weil er alle Rollen der abwesenden Gäste selbst spielen muss, um die Illusion einstiger Größe vor Miss Sophie aufrecht zuhalten, ein Tigerfell den Stein des Anstoßes. Das Fell markiert im Sketch die Stelle eines Übertritts, einer Schwelle, die den Off- oder Backstagebereich des Buffets, von wo aus der Diener bedient, vom offiziellen Bereich des Tischs trennt. Genau an dieser Schwelle besteht nun die Gefahr, statt aufrechten Ganges aufzutreten, in die durch die strenge Tischordnung repräsentierte Ordnung auf der anderen Seite des Fells hineinzufallen, diese zu dynamisieren und in Chaos zu verwandeln. Das Fell ist eine in die Szene integrierte Schwelle zum Auftritt des Dieners vor Miss Sophie und damit eine meta-theatrale Reflexion auf die Schwierigkeit des korrekten

1

DINNER FOR ONE ODER DER 90. GEBURTSTAG (D 1963, R: Heinz Dunkhase).

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Auftritts, eines Eintritts in die Welt der Illusion, die Miss Sophie lebt, oder zumindest in jene Welt, die der Festsaal als Bühne seiner Welt zu etablieren und zu zeigen versucht. Einmal darüber gestolpert, hat der schlaue Diener in der Tradition des Harlekins beim nächsten Gang gelernt, wie er den drohenden Sturz vermeidet. Er geht einfach am Kopf vorbei, oder er verhöhnt ihn sogar, indem er lässig drüber springt, nur um auf dem Rückweg doch wieder darüber zu fallen. Der verstolperte Auftritt ist eine Schwellenerfahrung im doppelten Sinn. Er findet einerseits auf einer Schwelle im Moment des Übertritts statt und macht die Schwelle und damit den Rahmen, innerhalb dessen sich eine Welt etabliert, überhaupt erst kenntlich. Das Stolpern zieht zweitens Strategien der Vermeidung des Stolperns wie Hüpfen, Springen oder Ausweichen nach sich. Es ist eine Schwellenerfahrung an sich, weil derjenige, der stolpert, im Moment des Stolperns die Orientierung verliert und nicht wissen kann, wo ihn sein Körper hinführt. In der Wiederholung der immer gleichen Gänge wird etwas von der Kontingenz der Ordnung, die die rituellen Abläufe doch zu bannen suchen, offenbar. Dass man immer noch mal von vorne anfangen bzw. noch mal auftreten und loslaufen kann, heißt auch, dass letztlich nichts in Stein gemeißelt ist. Die Welt verflüssigt sich nicht nur im Alkohol. Im Schwindel des Körpers, der seinen Grund verliert, entlarvt sie sich als Schwindel. Gleichzeitig überführt der Sketch aber den Ausbruch zurück ins Ritual und integriert ihn damit in die Stabilität des Systems. Inhaltlich kann man diese Unebenheit des Bodens, diesen Stolperstein, ohne Schwierigkeit als Naht zum Verdrängten, Ausgeschlossenen verstehen. So ist das Tigerfell in DINNER FOR ONE selbstredend die Markierung der alten Kolonialmacht Großbritannien, die ebenso wie die mit aristokratisch klassenbewussten Attributen ausgestattete Miss Sophie längst in die Jahre gekommen ist und deren mörderische Ordnung nur noch durch Blindheit aufrecht zu halten ist. Unter den Teppich gekehrt hat auch Herr Ludwig Klinke seinen folgenreichen Seitensprung mit der spanischen Fliege, einer Tarantella tanzenden Tänzerin als Inbegriff des Verruchten. In Falten gelegt hat Herbert Fritsch diesen Teppich, der sich nach vorne ins Parkett der Berliner Volksbühne ergießt und dabei aussieht wie ein übergroßes Sofakissen, das wiederum aussieht wie ein Bett; und zwar in seiner Inszenierung des Schwankes Die (s)panische Fliege von Franz Arnold und Ernst Bach. Aus den Falten springen und hüpfen nun die Figuren hervor wie die Püppchen in einem Marionettentheater. In jener Szene nun, in der Ludwig Klinke auf offener Bühne die Dokumente, die seinen Fehltritt – auch das ein Stolpern, ein Aussetzer der Moral – belegen, vor seiner Frau verbergen muss, verbindet sich das Stolpern mit einer momentanen Freiheit von Sinn: einer Freiheit in der Suspendierung der Handlung, die verstolpert auf der Stelle tritt und

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sich wie der Körper Klinkes im Kreis dreht, bückt, versteift, zu Boden sinkt und sich wieder aufrichtet, ohne dass etwas vor- oder zurück ginge. Das Stolpern wird zu einem mini- und meta-theatralen Zeigen und Verbergen eines Geheimnisses, das offen zu Tage liegt und von Frau Klinke ebenso offensichtlich wie unwahrscheinlich nicht gesehen wird, ein Zeigen und Verbergen, dass das Theater in Gang setzt. Das Stolpern gleichsam ohne Auftritt mitten im Stück retardiert die Handlung. Es hebt die Intentionalität der Figur und ihre Psychologie auf. An deren Stelle tritt das Thematischwerden des Theaters als Theater, das sich einen Moment lang als auffällig werdende körperliche Energie manifestiert. Der Körper, seine Bewegungen, Gesten und sein energetisches Potenzial verselbstständigen sich in einem zeitlich gedehnten Moment, der auf sich selbst verweist. Das Stolpern über Teppich und Geheimnis initiiert eine selbstreferentielle Schleife, die die Ordnung der Welt und die des Theaters in der Schwebe hält. Es ist daher auch unerheblich, ob das Stolpern auf der Ebene des Dargestellten oder auf der Ebene der Darstellung selbst stattfindet. Ob der Auftritt durch ein tatsächliches Missgeschick des Schauspielers nun verstolpert ist oder ob das Missgeschick wie in meinen Beispielen inszeniert ist: beides spielt mit dem Bewusstsein der aufs Spiel gesetzten Grenze zwischen Kunst und Leben, das Karlheinz Stierle einmal als den typischen Komödieneffekt bezeichnet hat.2

S TOLPERN

ALS

C HANCE

In eine bestehende Ordnung hineinstolpern, innerhalb einer Ordnung deren Stabilität stolpernd aufs Spiel setzen und aus einer Ordnung stolpernd herausfallen: In allen Fällen, so lautet nun die These, werden der Körper und seine Bewegungen als Außen einer Ordnung konzipierbar, der körperlich etwas zustößt, weil der Körper als lebendiger Körper mit seiner Energie, seinem Begehren oder gar seinen Trieben im Gegensatz zum sprechenden Körper der Gesten nie mit den ihn konstituierenden Ordnungssystemen identisch sein kann. Der stolpernde, strauchelnde, fallende Körper fällt aus dem sinnstiftenden logos von Sprache, Geste und Handlung heraus. Kurzum: Körper und Sprache kommen nicht zur

2

Stierle, Karlheinz: »Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.), Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII, München: Wilhelm Fink 1976, S. 237-268.

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Deckung, wiewohl sie sich gegenseitig implizieren. Das Stolpern markiert einen Abstand des Körpers zu sich selbst, der Veränderungspotenzial birgt. Das Stolpern ist, soviel lässt sich hier zu Beginn sagen, eine merkwürdige Angelegenheit. Ein Körper, aufgespannt zwischen Himmel und Erde, zwischen Hinfallen und Weitergehen, zu Boden gezogen und doch nach vorne beschleunigt, in der Luft mit den Armen rudernd und mit der Balance ringend, sich versteifend und verbiegend, um Stabilität in der Instabilität zu gewinnen, in äußerster Wachsamkeit gefangen im Niemandsland zwischen Abbruch und Neuanfang, schlingernd in der Unterbrechung der normativen Ordnung des aufrechten Gangs und dem Versuch, diese irgendwie aufrechtzuerhalten, um das Schlimmste, den Sturz, zu verhindern. Das Stolpern setzt eine Ordnung oder, allgemeiner formuliert, den Anspruch eines Anderen, voraus, aus der man herausfallen kann. Stolpern impliziert Ungehorsam. Der Körper gehorcht nicht. Er hört und ge-hört mir nicht. Gleichzeitig unterbricht das Stolpern diese Ordnung, es suspendiert sie, um sie aus dem Stolpern heraus neu und vielleicht anders zu etablieren. Ein Teil dieser Ordnung ist das Gehen, das einen geregelten Umgang der Menschen miteinander und im Verhältnis zum Raum, den sie einnehmen, ermöglicht. Ein anderer zentraler Teil dieser Ordnung ist das Sprechen, das im Stolpern ausgesetzt wird. Sowohl dem Stolpernden als auch dem Zuschauenden verschlägt es die Sprache. Sie sind außer sich und für die anderen nicht ansprechbar – keine guten Voraussetzungen für das Theater. »Stehen, Sitzen und auch das Liegen setzen eine aufrechte Position voraus, die nicht umgekehrt werden kann, ohne dass der Sinn der Dinge sich verliert (…) «, schreibt Bernhard Waldenfels. »Im Umfallen oder Herabfallen geraten wir in eine Bewegung, die unserer Kontrolle entgleitet. Der Körper entschlüpft sich selbst.«3 Das Stolpern ist, so Waldenfels, mithin ein »Selbstentzug der Bewegung«4, die ihren Rhythmus verliert, bis sie sich wieder gefangen hat. In seinem Selbstentzug macht der Körper, wenn er stolpert, aber auch auf sich aufmerksam. In seiner Unangepasstheit ermöglicht er Erfahrungen, die gerade weil sie nicht als bloße Umkehrung der Ordnung verstanden werden können, Sinn suspendieren und neue, andere räumliche und körperliche Verhältnisse aufscheinen lassen.

3

Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 219.

4

Ebd.

D IE VERFEHLTE A NRUFUNG | 125

Im Folgenden möchte ich das Stolpern zunächst mit der Etablierung der bürgerlichen gesellschaftlichen Ordnung verbinden.5 Dazu ziehe ich einen Text des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac heran, Theorie des Gehens aus dem Jahr 1833. Zentral für meine weitere Argumentation ist dabei das Faktum der Eleganz und der Schönheit, durch die sich nach Balzac die bürgerliche Ordnung als grundlose legitimiert. Durch Stolpern, das zunächst der Eleganz trotzt, und der Fähigkeit des Körpers, sich elegant wieder aufzurichten, wird die Norm des aufrechten Gangs und die Gesellschaft, die auf ihn gründet, als eine performativ immer wieder neu hervorzubringende kenntlich gemacht. Durch einen Exzess von Körperlichkeit in beide Richtungen – des Stürzens und des Fliegens – wird diese als nicht essentielle, sondern kontingente Ordnung einsehbar. Vor diesem Hintergrund diskutiere ich im Anschluss daran die verstolpernden Auftritte von Goethes Torquato Tasso in Peter Steins berühmter Inszenierung am Bremer Theater aus dem Jahr 1969. Die Inszenierung, die für Kritiker wie Ivan Nagel eine Zäsur in der Geschichte des bundesrepublikanischen Nachkriegstheaters darstellte, gilt heute als eine der wegweisenden Inszenierungen auf dem Weg zum sogenannten Regietheater.6 Sie vollzieht im Stolpern ihres Protagonisten eine Kritik des bürgerlichen Theaters und der Gesellschaft, für die es gemacht wurde, mit den Mitteln des bürgerlich dramatischen Theaters selbst.

D IE E LEGANZ DES K ÖRPERS VON G ESELLSCHAFT

ALS

N ATURALISIERUNG

Balzac will in seinem zwölfteiligen Essay den Ursachen für das Gehen und nicht, wie zur damaligen Zeit in der Literatur üblich, den Auswirkungen und Folgen des Gehens auf den Grund gehen.7 Ausgangspunkt seiner Theorie, die einer klassifizierenden Wissenschaftspraxis ironisch gegenübersteht, ist nun nicht der aufrechte Gang, der seit der Aufklärung den aufrechten Menschen als

5

Zum Verhältnis von Gehen und Bürgertum vgl. Warneken, Bernd J.: »Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang. Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800«, in: Das Argument 179 (1990), S. 39-52.

6

Nagel, Ivan: »Epitaph und Apologie auf Steins Tasso«, in: Volker Canaris (Hg.), Goethe u.a. Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 174-192. Das Buch enthält neben der Regiefassung des Textes auch zahlreiche Dokumente rund um die Inszenierung sowie einen Fragenkatalog an die Schauspieler und Schauspielerinnen.

7

Balzac, Honoré de: Theorie des Gehens, Lana/Wien/Zürich: Edition Howeg 1997.

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freien unabhängigen Menschen definiert, der auf seinen eigenen zwei Beinen stehen und erhobenen Hauptes anderen freien Menschen begegnen kann. Der Spaziergang des Bürgers ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Praxis der Demonstration vor anderen, wer man ist und was man hat. Andrew Hewitt siedelt das Gehen im 19. Jahrhundert in seinem Buch Social Choreography daher an der Schnittstelle zwischen lesbarem Text und Performance an.8 Das Gehen ist lesbar als bürgerliche Geste der Freiheit, einer Geste, die doch diese bürgerliche Ordnung über das Gehen als Handlung nachträglich als natürliche, weil körperliche Ordnung herstellt und legitimiert. Vor diesem Hintergrund bedeutet das Stolpern ein Unlesbarwerden des Körpers, das somit eine Gefahr für die Selbstransparenz der Ordnung darstellt. Balzacs Ausgangspunkt in seinen Überlegungen zum Gehen ist nun gerade jenes Stolpern, das die Ordnung aussetzt. Wir schreiben das Jahr 1830. Der Erzähler steht im Posthof und wartet auf eine Kutsche. Während er wartet, lässt er seine Blicke schweifen und beobachtet die Menschen um ihn herum. Der Hof ist voller Bewegung. Sein Blick fällt auf einen Mann, der in der Menge schnell auf einen anderen Wartenden zugeht. Er habe, so der Erzähler, wohl einen Bekannten entdeckt, dem er von hinten auf die Schulter klopfen wollte. Doch da geschieht das Missgeschick. Just in jenem Moment der Berührung geht der Freund ein paar Schritte nach vorne, was die Geste des Mannes ins Leere laufen lässt und diesen »wie ein aufgeschreckter Frosch«, so der Erzähler, »der ins Wasser plumpst«9, stolpern lässt, so dass er sich an einer Mauer aufstützen muss, um nicht zu fallen. Der Erzähler muss Lachen. Er vergleicht den Menschen in seiner Fähigkeit, das Gleichgewicht zu verlieren, mit einer Postkutsche, die ebenfalls gerne umfalle. Der stolpernde Mensch kann wie die umgekippte Postkutsche seine Fracht, seine Botschaft nicht mehr an den Mann oder die Frau bringen. Die intentionale Mitteilung kommt nicht an. An deren Stelle tritt die Aufmerksamkeit für das, was in der Ordnung nicht aufgeht, weil es sie begründet: die Eleganz. Das Merkwürdige an diesem Beispiel ist nun nicht das Stolpern, sondern die Schlussfolgerung, die der Erzähler daraus zieht: Sein Interesse gilt nicht dem Stolpern, sondern der Frage, warum der Mensch, wo er sich doch ständig und überall hin bewegen muss, nicht viel öfters stolpert, als er es tatsächlich tut.

8

Hewitt, Andrew: Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement, Durham: Duke University Press 2005, S. 78-116.

9

H. de Balzac: Theorie des Gehens, S. 80.

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»Borelli sagt zwar, warum ein Mann hinfällt, wenn er aus dem Gleichgewicht gerät; aber er sagt nicht, warum ein Mann, geleitet durch unsichtbare Mächte, seinen Füßen eine unglaubliche Retraktionskraft verleihen muss, um nicht zu fallen.«10

Die Antwort liegt also in der mysteriösen Kraft des Menschen, sich wieder zu fangen, sich wieder aufrichten zu können. Das Lachen des Erzählers reagiert daher auch nicht auf das Stolpern, sondern auf den Moment des gelungenen Wiederaufrichtens. Diesem spricht Balzac eine gewisse Eleganz zu, die für den Ausgang seiner Theorie die zentrale Rolle spielen wird. Halten wir zunächst fest: Balzac vergleicht das Gehen mit der Sprache und dem Sprechen: »Von diesem Moment an umfasste der Begriff Bewegung für mich, erstens, das Denken, das den reinsten Vorgang des menschlichen Geistes darstellt, zweitens, das Wort, als dessen Übertragung, und drittens, den Gang und die mehr oder weniger lebhafte Ergänzung des Wortes, der Gebärde.«11

Es ist das Verb, die Tätigkeit, im Satz unserer alltäglichen Handlungen, das in unserer Handlungssphäre etwas bewegt. Gehen ist ein Performativ. Um seine Position im Raum zu bestimmen und korrekt und stilvoll handeln zu können, muss der Körper das Verhältnis von Kraftaufwand, Bewegung und räumlicher Distanz zum Ziel richtig berechnen.12 Benötigt der aufrechte Gang also einen permanenten Datenabgleich zwischen der eigenen Position und der Umwelt, ist für die Kraft der eleganten Retraktion mehr als das vonnöten. Sie setzt einen Körper voraus, der seine Umwelt nicht als reine Information begreift, sondern sich im Austausch mit ihr bewegt. Phänomenologisch liegt hier der Unterschied zwischen der Positionsräumlichkeit des Körpers und dem, was Maurice Merleau-Ponty seine Situationsräumlichkeit genannt hat.13 Immer schon in der Situation seiend, antwortet der Körper auf sich selbst bezogen auf ihre Anforderungen. Stolpern bringt also die Grammatik der Positionen durcheinander und löst ein unvorhergesehenes Bewegen

10 Ebd., S. 91, Herv. i.O. 11 Ebd., S. 86. 12 Ebd., S. 83. 13 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1974, S. 123-129; vgl. dazu auch Siegmund, Gerald: »Das Gedächtnis des Körpers in der Bewegung«, in: Leopold Klepacki/Eckart Liebau (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster/New York/München u.a.: Waxmann 2008, S. 29-44.

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aus. Die Verausgabung von Energie erzeugt eine Bewegung, deren Effekt nicht mehr zu kontrollieren ist, weil sie als Geste unlesbar wird. Oder genauer: Sie ist lesbar als unlesbare. Damit ist aber auch gesagt, dass die Ordnung, deren Elemente das Stolpern zur Unkenntlichkeit entstellt, eine kontingente Ordnung ist, die sich grundlos als natürliche legitimiert. Der elegante Körper, und darauf weist Hewitt wiederholt hin, übernimmt hier die Funktion der Naturalisierung und Essentialisierung. Er wird zum ideologischen Einsatz in jener Ordnung, die er durch seine Eleganz zu allererst herstellt. Im eleganten, nicht stolpernden Körper verbinden sich Natur und Kunst zum Ideal der Schönheit, das wiederum die bürgerliche Ordnung legitimiert und auszeichnet. »Das Geheimnis der schönen Gangart besteht ausschließlich in der Aufgliederung der Bewegung«14, so Balzac, um später zu präzisieren: »Der Ausdruck einer jeden Bewegung ist wesentlich und kommt von der Seele. Die falschen Bewegungen lassen auf eine Eigenart des Charakters schließen, während die ungeschickten Bewegungen [das Stolpern, d. Verf.] von falschen Gewohnheiten herrühren.«15 Die Eleganz überbrückt den Abgrund der gesellschaftlichen Unlesbarkeit und zeigt ihn dadurch, dass sie die reine Funktionalität durch ein Zuviel übersteigt, zugleich an. Gesellschaft gründet sich auf der Eleganz der Gesten, die sich auf die Retraktionskraft als performative Qualität stützt. Der elegante Köper ist eine Illusion, ein Phantasma, ohne das wir nicht auskommen. Eleganz heißt, die Balance zu wahren auch wenn überall auf dem Weg die Gefahr des Stolperns lauert.

D IE M ACHT DER S CHÖNHEIT : P ETER S TEINS T ORQUATO T ASSO Die naturalisierte Verbindung von Gesten, aufrechtem Gang und der sprachlichen Ordnung als ideologische Markierung des Bürgertums ist, so mein Argument, der Einsatz in Peter Steins Tasso-Inszenierung. Die Beispiele aus dem Bereich des Slapstick haben gezeigt, dass sich der Körper beim Stolpern und Lachen verselbstständigt, dass der Körper sich von sich als gestischem trennt, um auf seine prinzipielle Unverrechenbarkeit mit abstrakten rationalen Ordnungen, die ihn doch als einen bestimmten Körper hervorbringen, hinzuweisen. Die Figur des Tasso von Bruno Ganz spielt mit ihrem Stolpern im Angesicht der Macht um einen anderen, nicht-bürgerlichen Körper, den die Inszenierung jedoch schuldig bleibt. Meine These lautet nun: Das Stolpern ist ein Mechanismus

14 H. de Balzac: Theorie des Gehens, S. 113. 15 Ebd., S. 127.

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der fehlgeschlagenen Anrufung. Ich möchte Anrufung hier durchaus im Sinne Louis Althussers und Judith Butlers als Mechanismus der Subjektwerdung verstehen.16 Das Theater ist ein Apparat, der Subjekte anruft und sie dadurch konstituiert. Wir folgen seinem Ruf und lassen uns bestimmte Positionen der Zuschauenden, Beobachtenden und Teilnehmenden, der Spielenden und Zeigenden innerhalb seiner Ordnung zuweisen. Stolpern verhindert die Wiedererkennung (im Hewitt’schen Sinn die Lesbarkeit) des Subjekts in der Anrufung durch ein anderes Subjekt: die Gesellschaft. Es verweigert die Akzeptanz ideologischer Anrufung und führt zu einer Verkennung gesellschaftlicher Normen. Das Stolpern verweigert also die normative Subjektivierung, die im bürgerlichen Theater auf der Integration von Sprache, Stimme und körperlichen Gesten zu einem, wie es Günther Heeg prägnant formuliert hat, »Phantasma der natürlichen Gestalt«17 basiert. Die im Bildfeld des Bühnenraums erscheinenden Körper werden über den Dialog zur Darstellung gebracht. In der Sprache für den anderen ansprechbar, in seinem Körper anwesend und damit wiedererkennbar, präsent und transparent zu sein, ist die zentrale Annahme dieses Theaterentwurfs.18 In diesem Rahmen setzen Stolpern und Lachen die Sprache und die Ansprechbarkeit der Figuren aus, um andere Subjekte zu generieren. Das Stolpern macht damit zunächst im Moment ihrer Unterbrechung selbst auf diese Norm aufmerksam. Der Körper, der sich selbst und der sprachlichen Anrufung entschlüpft, weist die Anordnung von Körper und Sprache als kontingent und damit als veränderbar und verhandelbar aus. Er stellt darüber hinaus ein Potenzial dar, das auf der Schwelle zur tatsächlichen Veränderung verharrt. Damit markiert er einen Moment der produktiven Orientierungslosigkeit, die noch nicht in eine neue Ordnung überführt worden ist. Das Stolpern macht zum einen das Anrufungsverhältnis von Sprache und Körper, den Appell der Sprache an den Körper kenntlich und weist dieses Ver-

16 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; auf das Theater bezogen vgl. Siegmund, Gerald: »Cédric Andrieux von Jérôme Bel. Choreographische Strategien der Subjektwerdung«, in: Friedemann Kreuder/Michael Bachmann/Julia Pfahl et al. (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld: transcript 2012, S. 41-54. 17 Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Nexus 2000. 18 Haß, Ulrike: »Der Köper auf der Bühne. Voraussetzungen von Ausdruck und Darstellung«, in: Heinz-B. Keller/Karl Prümm/Birgit Peulings (Hg.), Der Körper im Bild. Schauspielen – Darstellen – Erscheinen, Marburg: Schüren 1999, S. 31-45.

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hältnis zum Anderen als lösbar aus. Stolpern ist ein ungehöriger Vorgang, er weist den Körper als ungehörigen aus. Er gehört als lebendiger Leib nicht der sprachlich vermittelten Machtrelation an, obwohl Körper und Sprache im sprechenden Körper der Figuren sich gegenseitig implizieren. Das Problem der Anrufung des Künstlers durch die Macht, das Stein im Tasso inszeniert, ist immer auch eine theatrale Konfrontation der Mittel des Theaters mit sich selbst. Das Theater wird als Theater auffällig. Zum anderen impliziert es eine Konfrontation zwischen Theater und der Institution, in der es gemacht wird. In beiden Fällen kommt es zu einem Konflikt und einer Verschiebung zwischen Körper und Sprache respektive Inszenierung und Institution, die zum Stolpern gebracht wird. Steins Inszenierung, die ein Jahr später auch ins Repertoire der neu gegründeten Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin übernommen wurde, führt vor Augen, dass das Anrufungsverhältnis zwischen dem Dichter Tasso und seinem Mäzen, dem Herzog Alfons von Ferrara, dem er zu Beginn des Stücks endlich das lang ersehnte Dichtwerk zu seinem Ruhme abgeben soll, ein körperliches Machtverhältnis ist. Stein fokussiert den ideologischen Aspekt der Anrufung, der in der geschlossenen Form des Goethe’schen Dramentextes sowie in der Körperführung der Figuren in der Inszenierung als Effekt der Schönheit maskiert und kaschiert wird. Es ist eines der signifikanten Merkmale der Inszenierung, dass sich alle anderen Figuren durch ein geführtes künstlich erscheinendes Gestenrepertoire auszeichnen, das als Choreographie auffällig wird. Die Eleganz der Bewegungen, ihr Zuviel, bindet die Körper der Figuren, die durch ihre Art den Körper zu führen und zu sprechen charakterisiert werden, erfolgreich als sprechende Körper an die Schönheit der Goethe’schen Verssprache. Deren Gebundenheit, wie die Schauspieler und Schauspielerinnen in Äußerungen zur Arbeit am Stück immer wieder betonten, schien in der Probenarbeit das Stück nahezu hermetisch abzuriegeln. So schreibt etwa die Schauspielerin Jutta Lampe: »Mich faszinierte die Schönheit der Sprache, die einzelnen poetischen Bilder, die sie beinhaltet, und die große, hohe, geschlossene Kunstform, die mich wegen ihrer scheinbaren Unnahbarkeit erschreckte. Wie sollte man in dieses Stück einsteigen?«19 Wilfried Minks Bühnenbild unterstreicht die Harmonie der Form durch Plexiglaswände, die die Bühne umstellen und abschließen, so dass sich die Figuren selbstbezüglich ohne Außen darin spiegeln können. In diesem paradiesischen hortus conclosus bedeckt hellgrüner Kunstrasen mit gelegentlichen dunkleren Flecken den Boden, der nach vorne zur Rampe hin leicht abfällt. Das Grün spiegelt sich in den Wänden, die von hinten durch eine weitere goldfarbene Wand

19 V. Canaris: Goethe u.a., S. 139.

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ergänzt wird, was den Effekt eines noblen bürgerlichen Interieurs erzeugt. Die Bühne kann daher als Grenze zwischen Kunst und Natur gedeutet werden, als natürliche Kunst und künstliche Natur, in der sich Innenraum und Außenraum, Subjekt und Gesellschaft aufheben. Beide Konzepte begegnen sich mithin in der Vorstellung von Schönheit. Das Theater stellt für Goethe, wie Bernhard Greiner gezeigt hat, eine Notwendigkeit dar, weil nur im Theater als konkretem Vorgang der Konflikt zwischen geistiger Idee und sinnlicher Anschauung als spannungsreich augenscheinlich werden kann. Doch die »Schönheit als Symbol der Klassik«, die Anschauung und Idee im Symbol zu verbinden sucht und im Theater auf die Probe stellt, ist von konkreten Machtverhältnissen gestiftet, auf die Steins Inszenierung abzielt.20 »Du sollst dich selbst uns freundlich überlassen«, so formuliert es die Prinzessin in Goethes Stück, ein Vers, der die Freiheit der Kunst und des Künstlers dahin gehend einzuschränken scheint, als dass sie als käuflicher Besitz der Gesellschaft erscheint.21 Das Symbol ist mithin nur ein Symbol für die Idee der Freiheit, deren Realisierung zumindest für unstandesgemäße, in unserem Sinne verstolperte Subjekte zu wünschen übrig lässt.22 Die Schönheit der Gesten bindet die Körper an die Schönheit der jambischen Verssprache und beides zusammen wiederum verhüllt und verschleiert die Machtverhältnisse am Hofe und gibt sie als aufgehobene aus. Dieses Verschleiern ist hier durchaus wörtlich zu verstehen. So sind die beiden Frauenfiguren – Leonore von Este gespielt von Jutta Lampe und Leonore Sanvitale gespielt von Edith Clever – mit bodenlangen kunstvoll gewebten Tüchern bekleidet, die sie mit ihren Armen und Händen führen. Mit jeder ihrer Bewegungen weben sie sich ein in eine Textur aus Geste, Körper, Stimme und Sprache, die ihren Figuren etwas Skulpturales, Gefasst-Geformtes verleiht, als Zeichen der Harmonisierung und Sublimierung von Trieben und Konflikten.23 Dabei fungiert die ausgestellte Körperhaltung als Mittel zur Charakterisierung der Figuren. Hierzu setzt Stein zusätzlich die Stimmführung der Schauspielerinnen ein. Als markantestes Beispiel hierfür mag an dieser Stelle die kränkelnde, zusehends kraftlose und erschöpfte Leonore von Este gelten, die gleich

20 Greiner, Bernhard: »Das Schöne als Symbol des Klassischen Theaters: Torquato Tasso«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 86 (1992), S. 171-185. 21 V. Canaris: Goethe u.a., S. 113. 22 Vgl. zum Verhältnis von bürgerlichen Autonomievorstellungen, Geschmack und Ideologie Menke, Christoph: »Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos 2010, S. 226-239. 23 Vgl. dazu I. Nagel: Epitaph, S. 186.

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bei ihrem ersten Auftritt mit einem ausgeatmeten Seufzer zu Boden sinkt, um ein Tuch aufzuheben, wobei Jutta Lampe in der Folge gerne mit sinkendem, zum Ende des Verses abfallenden Ton spricht und bevorzugt die hohen Vokale dehnt. Demgegenüber steht das Spöttische, Intrigierende der Sanvitale durch Edith Clevers lachenden, hüpfenden Tonfall. Beide Frauenfiguren erscheinen als perfekt durchgestaltete Kunstgebilde, ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, es handele sich um Puppen. Der verstolperte Auftritt markiert in diesem Zusammenhang der verführerischen Verknüpfung der Mittel mithin eine Zäsur. Tasso wird vom Fürsten angerufen und zum Künstlersubjekt gemacht, was in der Inszenierung als ein gescheitertes, weil verstolpertes Verhältnis von Körper, Geste und gebundener Sprache erscheint. Die Inszenierung weist die Anrufungsverhältnisse auf der Ebene des Dargestellten zunächst als doppelte aus. Das von Goethe im Stücktext thematisierte Verhältnis des Renaissancedichters Torquato Tassos zu Alfons spiegelt sich in Goethe und seinem zur Zeit der Entstehung des Stücks zwischen 1780 und 1790 gespaltenem Verhältnis zum Weimarer Hof, das 1786 zu seiner fluchtartigen Abreise nach Italien führte. In Steins Inszenierung verweist neben den Kostümen aus der Goethezeit auch eine Goethe-Büste am rechten Bühnenrand auf diese zweite historische Zeitebene. Ganz in die Gegenwart des Jahres 1969 und die Ebene der Produktion verlagert, erscheint der Konflikt zwischen dem Künstler und der Macht respektive der Gesellschaft, die ihn finanziert, wenn man das Verhältnis des Regisseurs Peter Stein zu seinem damaligen Intendanten, Kurt Hübner, betrachtet. Durch die Arbeit am Tasso zunehmend aufmerksam geworden auf die Widersprüche der eigenen Position als Gruppe von Künstlern gegenüber dem System des Stadttheaters, wollte die Gruppe in der Pause ein Publikumsgespräch ansetzen. In einem vorbereiteten Text, der verlesen werden sollte, wollten sich die Schauspielerinnen und Schauspieler über die Wünsche und Bedürfnisse des Publikums bewusst werden.24 »Es formulierten sich auch Zweifel an der Vertretbarkeit der Arbeit«, fasst Günther Rühle damals den Konflikt innerhalb des Produktionsteams zusammen, »weil die außerordentliche ›Genussfähigkeit‹ der Inszenierung, die von ihrem hohen ästhetischen Reiz herrührte, das System des Stadttheaters, das auf die Befriedigung der Zuschauerbedürfnisse ausgerichtet ist, nicht so aufhebe, wie der kritische Ansatz der Tasso-Interpre-

24 V. Canaris: Goethe u.a., S. 121-126.

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tation und der erwachte politische Veränderungswille der Ausführenden es erwartete.«25 Zugleich begann man daher mit der Erarbeitung einer Kollektivinszenierung, Frauenvollversammlung nach Aristophanes, die sich im Gegensatz zur TassoInszenierung, jedem aufführbaren und damit für die Verführung durch Schönheit anfälligen Produkt entzog. An die Stelle einer Inszenierung trat eine Lesung des Stücks, die mit Kommentaren zum eigenen Arbeits- und Diskussionsprozess versehen war, was Kurt Hübner zu wenig war, woraufhin er die Aufführung absetzte.26 Eine Protestnote der Gruppe wurde untersagt. Vor diesem Hintergrund sind die Gesten in Steins Inszenierung in ihrer eleganten schönen Ausführung zugleich die Kritik an den Gesten, die sich als gemachte, als ideologische zeigen. Der Körper Tassos entschlüpft sich selbst, um daneben einen anderen, zweiten Körper anzukündigen, der die natürliche in dem einen Körper verankerte Selbsttransparenz der bürgerlichen Ordnung empfindlich stört. Hier wird das Verfahren Steins zur Herstellung von Schönheit als Zusammenfallen von Kunst und Natur noch einmal deutlich: Kostüm, Gesten, Bewegung, Vers und Stimme werden so aufeinander abgestimmt, dass die jeweils eine Ebene die andere expliziert und in der jeweils anderen Ebene aufgehoben wird. Die Mittel werden überhöht und entfalten dadurch die Möglichkeit von Kritik, ohne in den Gestus distanzierten Zeigens zu verfallen. Aus dieser Selbsttransparenz oder Evidenz der Schönheit fällt Tasso durch sein Stolpern heraus. Trotz dieser erkennbaren Offenlegung der Machtmechanismen aus dem Inneren der Figuren und ihrer Sprache heraus erachtete Stein seine Arbeit als gescheitert: »Goethes Torquato Tasso ist das Drama vom überflüssigen (d.h. luxuriösen) Zuckerguss der Hohen Kunst, mit dem das unnötige Elend überzogen wird, um es genießbar zu machen. [...] Ähnliche Erwartungen wie die höfische Gesellschaft ihrem Dichter, bringt die bürgerliche Gesellschaft ihrem Theater entgegen. Wir wissen, dass wir mit unserer Inszenierung diese Erwartungen befriedigen: wir verhalten uns dabei wie Goethes Tasso und wie Goethe selbst. [...] Dennoch ist es uns nicht gelungen, unsere Zweifel am Sinn unserer Arbeit auf der Bühne deutlich zu machen. Unsere Produktion bleibt im Goetheschen Kunstrahmen, der nur durch rigorose Striche zu sprengen gewesen wäre.«27

25 Rühle, Günther: »Die Suche nach der Kunst. Elf Jahre Theaterarbeit in Bremen (1962-1973)«, in: Ders., Theater in unserer Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 186-205, hier S. 193-194. 26 V. Canaris: Goethe u.a., S. 121, S. 124. 27 V. Canarsis: Goethe u.a., S. 135f.

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Das Gefühl des Scheiterns, dass der Regisseur Peter Stein seiner Inszenierung attestierte, resultiert daraus, dass es aus der Logik des Textes heraus nicht gelang, diesem zweiten sich im Stolpern ankündigenden Körper Raum zu geben. So bleibt die bürgerlich-körperliche Ordnung erhalten, weil sie das Angebot des stolpernden Körpers zum Slapstick in all seiner doppelbödigen Mechanik zwischen Balzac’scher Eleganz und radikaler Zerstörung der Ordnung ganz im Gegensatz etwa zur anfangs erwähnten Inszenierung von Die (s)panische Fliege nicht aufgreifen kann, ohne Goethes Text zu zerstören. Auf der anderen Seite wird auf der Ebene der Produktionsbedingungen im Stadttheater versucht, in Form einer Kollektivinszenierung diesen ideologischen Körper der Schönheit abzuschaffen, wobei daraus allerdings in mehrfacher Hinsicht ebenso wenig ein spielbarerer, zweiter Körper entstehen konnte. Zwischen Schönheit und Ideologie auf der einen und Diskurs und Aufklärung auf der anderen Seite, bleibt zum historischen Zeitpunkt des Jahres 1969 der stolpernde Körper eine Leerstelle, in die neuere, performative Theaterformen eintreten konnten, um den Apparat der Stadttheater zum Stolpern zu bringen. Das Verdienst von Steins Tasso-Inszenierung bleibt es, durch Tassos Stolpern diese Lücke überhaupt erst aufgerissen zu haben. Wie Goethes Tasso im Stück am Ende schließlich den Hof verlässt, verlässt Stein nach der Auseinandersetzung mit Hübner das Bremer Theater.

D AS S TOLPERN

ALS

E INBRUCH

DER

P HANTASIE

In Steins Inszenierung gibt es drei markante Szenen des Stolperns, die die schöne Ordnung von gebundener Sprache und geführten Gesten durcheinander bringen.28 Tasso kann erstens in seinem Verhältnis zu seinem Idealbild als Dichter, zweitens in seinem rivalisierenden Verhältnis zu Antonio und drittens in seinem Begehren nach Eleonore nicht Fuß fassen. Er stolpert und rutscht ab. Ad 1. Torquato Tasso übt Posen ein.29 Er stellt sich an seinen Schreibtisch, der die Mitte der Bühne einnimmt, legt die Fingerspitzen staatstragend auf die Tischplatte, drückt den Rücken durch und streckt, den Körper nach vorne gebeugt, den Kopf ganz weit nach oben. Befriedigt dreht er sich dem Publikum zu, schlägt das rechte Bein über das linke, versucht es noch einmal, bevor er mit einem Schwung seines Armes ein Blatt Papier vom Tisch nimmt, um es mit gran-

28 Der Betrachtung liegt eine DVD Aufzeichnung der Premiere vom 30. März 1969 im Bremer Theater zugrunde; Schwiedrzik, Wolfgang M. (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. Zwei Mal Torquato Tasso, Neckargmünd/Wien: Edition Mnemosyne 2006. 29 W.M. Schwiedrzik: J. W. v. Goethe. Zwei Mal Torquato Tasso. Min. 0:30ff.

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dioser Geste vor sein Gesicht zu halten. Er legt das Blatt ebenso schwungvoll wieder zurück, streckt sich noch einmal, den Blick ganz weit nach oben gerichtet. Doch dann geschieht es. Tasso verschränkt die Arme vor der Brust und will sich setzen. Prompt setzt er sich neben den Hocker und fällt zu Boden. Zwischen Tisch und Stuhl liegt er da, der Künstler, der doch so gerne Staat machen möchte und der der Macht doch nur auf eine lächerliche Art und Weise hinterherläuft. Just in jenem Moment betritt Herzog Alfons die Bühne, ruft ihm besorgt ein »Tasso!« zu, woraufhin dieser sich setzt, um demonstrativ in die berühmte Denkerpose von Rodin zu verfallen. Wie Goethe auf Tischbeins Gemälde legt er anschließend die Beine übereinander, stützt sich mit dem rechten Arm auf den Tisch und beginnt zu schreiben. Ad 2. Tasso möchte sich Antonio, Alfons Staatssekretär, der gerade von einer diplomatischen Mission aus dem Vatikan zurückgekehrt ist, freundschaftlich an die Brust lehnen, doch dieser tritt einen Schritt zurück, was Tasso ins Stolpern bringt, so dass er ihm, um nicht hinzufallen, mit gebeugtem Oberkörper in der Pose des Unterwürfigen nach laufen muss.30 Wenig später versucht er es erneut, doch wieder stolpert er und fällt hin. Der Streit zwischen den beiden eskaliert, Tasso greift zum Degen und haut in der Szene, in der er, wie er wenig später zu seiner Entschuldigung zum Herzog sagt, das Gesetz vergessen habe, auf Antonio ein.31 Ad 3. In der vorletzten Szene, die in Steins Regiebuch als neunte Szene den Titel Faux Pas trägt, versucht Leonore Tasso davon zu überzeugen, am Hof zu bleiben.32 Vom Gefühl ergriffen in einem Zustand der Verirrung und Raserei, wie er sagt,33 versucht er Leonore zu berühren. Jutta Lampe zieht in der Szene ihr schillerndes smaragdgrünes Umhängetuch bis weit ins Gesicht nach oben und beugt sich stocksteif nach hinten, um Tassos Zudringlichkeit auszuweichen. Immer wieder streckt Bruno Ganz die Hand nach ihr aus, eine Geste, die wie alle seine anderen Gesten der Berührung zurückgewiesen werden. Er geht in die Hocke und springt nach vorne wie ein Frosch, was sie zu einer eleganten Drehung veranlasst, so dass er im Leeren landet. Er stolpert auf sie zu, greift sie, doch sie beugt sich in seinen Armen nach hinten, so dass er sie nicht küssen kann. Er besteigt sie, tritt im Wortsinn fehl, bekommt ihr Tuch zu fassen, reißt es ab, wo-

30 W.M. Schwiedrzik: J. W. v. Goethe. Zwei Mal Torquato Tasso. Min. 51:00ff. 31 »Hab ich des Gesetzes/Und dieses Ortes vergessen, so verzeih.« Zit. aus V. Canaris: Goethe u.a., S. 56. 32 Ebd., S. 109. 33 »Ist es Verwirrung, was mich nach dir zieht?/Ist’s Raserei? Oh, diese Leidenschaft/Gedacht ich zu bekämpfen«, zit. aus ebd., S. 113.

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raufhin beide stolpernd nach hinten weg zu Boden fallen.34 Während der gesamten dritten Stolperszene hat Bruno Ganz’ Tasso die körperliche Ordnung des aufrechten Menschen und die Berechnung seiner Position schon weitgehend hinter sich gelassen. Er beugt und bückt sich, torkelt und rollt über den Boden, was Botho Strauß in seiner Kritik der Inszenierung als »Don Quichotte-Komik« und als »verzweifelte […] Narretei«35 beschrieben hat. Am Ende ergibt sich Tasso affirmativ und doch doppeldeutig in sein Schicksal und erachtet Antonio als seinen Retter. In dem berühmten Schlussbild steigt er Antonio auf die Schulter, der ihn, den »Emotionalclown« der Mächtigen, so Stein, auf seinen Schultern sitzend wie ein Äffchen von der Bühne trägt.36 Alle drei Stolperszenen sind emotional stark besetzte Momente, die gegen die gefügte Ordnung von Stück und Inszenierung anrennen. Die narzisstisch besetzte Identifikation mit dem Idealbild des Dichters und Intellektuellen, die Aggression gegen den Rivalen und die Liebe zu Leonore drohen, das Gebärdengefüge zu zerreißen. Sie tun dies also in jenen Momenten, in denen es Tasso widerfährt, etwas Realität werden zu lassen, was in den Gesten der Schönheit lediglich als Phantasie vorstellig war, als symbolische Form, die sich als eingelöste ausgibt, sich aber gegenüber den individuellen Voraussetzungen und dem subjektiven Begehren nach Liebe und Anerkennung indifferent verhält. Eben darin liegt ihr ideologischer Charakter. Tasso stellt die reine Idee mit seinem Körper auf die Probe, stolpert und scheitert daran. Das Stolpern als Dynamisierung der Verhältnisse, die grundlos sind, stellt andere Ansprüche an das Subjekt, »auf die«, so Bernhard Waldenfels, »unser Leib antwortet«.37 Das Stolpern macht uns also darauf aufmerksam, dass unser Gehen, unsere Bewegungen, nicht allein von uns ausgehen. Unser Körper weist uns darauf hin, dass wir auch von der Welt bewegt werden, dass die Kräfteverhältnisse mit ihren Vektoren, die unseren Körper in Bewegung versetzen, mit jenen der materiellen Welt in Beziehung stehen. Dem Anderen, Fremden ausgesetzt, antworten wir, ohne jedoch zu wissen, wohin die Antwort führen mag. Balzac hatte in seinem Text über das Stolpern den bürgerlichen aufrechten Gang als permanente Rechenleistung, als permanenten Abgleich von räumlichen Informationen in Bezug auf den Körper und den eigenen Standpunkt beschrieben. Gelingt dies, vermag der Bürger sich im Verhältnis zur Umwelt anmutig, elegant

34 W.M. Schwiedrzik: J. W. v. Goethe. Zwei Mal Torquato Tasso. Min. 120:00ff. 35 Strauß, Botho: »Das Schöne Umsonst«, in: V. Canaris (Hg.), Goethe u.a., S. 160-167, hier S. 163, S. 166. 36 V. Canaris: Goethe u.a., S. 135. 37 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 222.

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und stilvoll zu verorten. Schlägt die Zuweisung eines eigenen Platzes im Gefüge der Welt fehl, erzeugt dies Lachen. Der Körper fällt aus der Ordnung und kann sich nur durch jene wunderbare Kraft der Retraktion, die nicht auf die bloße Verarbeitung von Informationen zu reduzieren ist, elegant aus der Affäre ziehen. Diese Eleganz nun geht Bruno Ganz als Tasso völlig ab. Sein verkrampfter Körper kann den Riss zwischen seinem begehrenden Körper und der herzoglichen Verordnung nicht schließen, sich nicht anders, unerwartet neu ausrichten und verhalten. Der Fall ins Ungewisse, der der Lösung vorausgeht, die fehlgeschlagene Anrufung des nicht gehorchenden Körpers, der nicht nur das macht, was sich ziemt, wie Leonore von Este sagt, sondern das möchte, was gefällt, spaltet den Körper und löst ihn aus der Ordnung. Das Stolpern als Markierung des Begehrens kommt vor diesem Hintergrund auch von woanders her. Es setzt eine Zeit in Gang, die nicht mehr länger der Kontrolle des Subjekts des Bewusstseins unterliegt. Im Stolpern liegt die Gefahr einer Öffnung zum gänzlich sprachlosen, toten Köper, für den das Stolpern als letzter Versuch der eleganten Retraktion, des Lachens, als lesbare Unlesbarkeit eine letzte oder erste Maske darstellt, hinter der wie im Slapstick der Zusammenbruch lauert. Darin dem sprachlichen Stolpern, dem Stottern oder Versprechen gleich, eröffnet das Stolpern wie Freuds Witz einen anderen Schauplatz, der die zeitliche und räumliche Kontinuität der Szene außer Kraft setzt.38 Das Stolpern ist unter diesem Gesichtspunkt eben keine kausal-logische Folge einer Aktion, einer fehlerhaften Berechnung der eigenen Position oder eine Störung durch einen Gegenstand, der uns anstößt, wie es Waldenfels nahelegt und die zur Auflösung strebt. Der Augenblick des Stolperns in diesem radikaleren Sinn markiert gerade jene Zäsur, in der eine Phantasie aufscheint von etwas, das nicht, noch nicht oder niemals realisiert wurde oder werden wird: die Liebe und Anerkennung des Herzogs, Antonios und Leonores. Im Stolpern verliert sich der Sinn Tassos, er ist von Sinnen, ohne Richtung: Er schreitet zur Tat als Moment der ausgeführten Phantasie, die in seinen sozialen Tod führt. Das Stolpern in Steins Tasso ist der Einbruch der Phantasie in die Wirklichkeit, der zum Zusammenbruch von Tassos Verhältnis zum Symbolischen führt.

38 Vgl. dazu Bergande, Wolfram: »Das Unbewusste in der Skulptur«, in: Jochen Bonz/Gisela Febel/Insa Härtes (Hg.), Verschränkungen von Symbolischem und Realem. Zur Aktualität von Lacans Denken in den Kulturwissenschaften, Berlin: Kadmos 2007, S. 193-213.

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L ITERATUR Balzac, Honoré de: Theorie des Gehens, Lana/Wien/Zürich: Edition Howeg 1997. Bergande, Wolfram: »Das Unbewusste in der Skulptur«, in: Jochen Bonz/Gisela Febel/Insa Härtes (Hg.), Verschränkungen von Symbolischem und Realem. Zur Aktualität von Lacans Denken in den Kulturwissenschaften, Berlin: Kadmos Verlag 2007, S. 193-213. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Canaris, Volker (Hg.): Goethe u.a. Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. Greiner, Bernhard: »Das Schöne als Symbol des Klassischen Theaters: Torquato Tasso«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 86 (1992), S. 171185. Haß, Ulrike: »Der Köper auf der Bühne. Voraussetzungen von Ausdruck und Darstellung«, in: Heinz-B. Keller/Karl Prümm/Birgit Peulings (Hg.), Der Körper im Bild. Schauspielen – Darstellen – Erscheinen, Marburg: Schüren 1999, S. 31-45. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Nexus 2000. Hewitt, Andrew: Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement, Durham: Duke University Press 2005. Menke, Christoph: »Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos 2010, S. 226-239. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1974. Nagel, Ivan: »Epitaph und Apologie auf Steins ›Tasso‹«, in: Volker Canaris (Hg.), Goethe u.a. Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 174-192. Rühle, Günther: »Die Suche nach der Kunst. Elf Jahre Theaterarbeit in Bremen (1962-1973) «, in: ders., Theater in unserer Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 186-2005. Schwiedrzik, Wolfgang Matthias (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. Zwei Mal Torquato Tasso, Neckargmünd/Wien: Edition Mnemosyne 2006.

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Strauß, Botho: »Das Schöne Umsonst«, in: Volker Canaris (Hg.), Goethe u.a. Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 160-167. Siegmund, Gerald: »Cédric Andrieux von Jérôme Bel. Choreographische Strategien der Subjektwerdung«, in: Friedemann Kreuder/Michael Bachmann/Julia Pfahl et al. (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld: transcript 2012, S. 41-54. Siegmund, Gerald: »Das Gedächtnis des Körpers in der Bewegung«, in: Leopold Klepacki/Eckart Liebau (Hg.), Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens, Münster/New York/München u.a.: Waxmann 2008, S. 29-44. Stierle, Karlheinz: »Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie«, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.), Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII, München: Wilhelm Fink 1976, S. 237268. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Warneken, Bernd J.: »Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang. Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800«, in: Das Argument 179 (1990), S. 39-52.

Phänomenologie der Rampensau J ENS R OSELT

Inszenierungen der Künste, der Medien und des Alltags sind ohne Auftritte nicht denkbar. Als exemplarische Prozesse des In-Erscheinung-Tretens kodieren sie eine ästhetische Praxis, die von der alltäglichen Begrüßung bis zur Kommunikation in Internetforen Vorgänge des Zeigens, Darstellens und Wahrnehmens ermöglichen und auslösen. Auftritte vollziehen sich als soziale Vorgänge. Sie setzen eine Gruppe voraus, aus der sie hervorgehen und die durch den Auftritt strukturiert und verändert wird. Und zugleich sind Auftritte Akte der Individuation, indem eine Person der Gruppe gegenübertritt und sich im Auftritt als jemand zeigt, der Aufmerksamkeit verdient, der etwas zu sagen oder zu machen hat und dafür respektiert oder bewundert werden will. In einer Kultur, die ein obsessives Interesse an den Praktiken des Zeigens und Präsentierens entwickelt, gehört es zu den allgegenwärtigen Überlebensstrategien, seine Auftritte zu meistern. Dennoch findet der Vorgang des Auftretens als ein fragiler Übergangsmoment wenig Beachtung. Oft richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Person, die aufgetreten ist, oder das, was ihr Auftritt ausgelöst hat. Nicht selten wird ein Auftritt als solcher erst dadurch auffällig, dass er scheitert. Die Freude an stolpernden Politikern und stotternden Nachrichtensprecherinnen kündet davon, dass neben der Bewunderung für gelungene Auftritte auch die Schadenfreude angesichts ihres Misslingens ein Grund sein kann, Auftritte zu beobachten. In den populären Homevideoshows des Fernsehens kann man verfolgen, wie in einer Dilettantenkultur der Sinn für katastrophale Auftritte kultiviert wird. Rituelle Momente von Familienfeiern gehören ebenso zum Repertoire dieser Pleiten-, Pech- und Pannen-Formate wie das explizite Posieren vor der Kamera, um ein Kunststückchen vorzuführen. Zwischen der Bewunderung für den gelungenen Auftritt und der Schadenfreude angesichts seines peinlichen Scheiterns tut sich

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jene Fallhöhe auf, die Auftritte zu riskanten Manövern macht. Mit ihnen wird etwas oder jemand aufs Spiel gesetzt, selbst wenn sie vorher minutiös geplant und geprobt werden. Medien übernehmen hierbei eine zentrale Funktion, insofern jedes Medium eigene Formen des Auftritts kreiert und zelebriert.1 Im Theater kann das Heraustreten des Einzelnen aus einer Gruppe, vor der er bestehen muss, als ein szenischer Vorgang par excellence gelten. In flüchtigen Übergangsmomenten wird dabei ein instabiles Verhältnis von Akteuren und Zuschauern ausgehandelt. Auf beiden Seiten der Bühne geht dies mit Erwartung, Vorfreude und Angst einher, wobei die Umgangssprache des Theaters für diese psychophysische Dimension den Begriff Lampenfieber gefunden hat.2 Mit Hans-Thies Lehmann lässt sich der Auftritt als eine Art Urszene des Theaters verstehen, durch die eine theatrale Schauanordnung überhaupt erst konstituiert wird: »Theater begann, als einer sich aus dem Kollektiv löste, vor es hintrat und etwas von sich hermachte: der Angeber, der booster, der seinen Körper vorzeigt und ausstellt, sich kostümiert, von (eigenen) Heldentaten erzählt.«3 Ein leibhaftiger Booster des postdramatischen Theaters hat seinen inzwschen legendär gewordenen ersten Auftritt auf der Theaterbühne nachträglich selbst so beschrieben: »Am sechsten Abend habe ich mir in der Kantine Mut angetrunken, bei der Requisite ein paar Sachen bestellt und mir gesagt: Jetzt gehe ich hoch, jetzt mache ich das klar. Ich hatte mir ein Glas Bier über den Kopf geschüttet, sah ziemlich fertig aus. So bin ich auf die Bühne, ans Pult, habe geschrien: ›Macht das Licht aus, ich bin der Apothekersohn aus Oberhausen, da habt ihr mich. Ihr habt es ja gewollt. Es war ein Offenbarungseid.«4

1

Vgl. Otto, Ulf: Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld: transcript 2013.

2

Hierzu: Warstat, Matthias: »Vom Lampenfieber des Zuschauers. Nervosität als Wahrnehmungserlebnis im Theater«, in: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau/Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 86-97.

3

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 361.

4

Schlingensief, Christoph: »Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da«, in: Julia Lochte/Wilfried Schulz (Hg.), Schlingensief! Notruf für Deutschland, Hamburg: Rotbuch 1998, S. 26.

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Mit diesem Erinnerungstext beschreibt und mythologisiert der Regisseur Christoph Schlingensief seinen ersten Auftritt auf der Bühne in einer eigenen Performance. In der Kantine der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin hatte Schlingensief 1993 die Aufführungen seiner Inszenierung 100 Jahre CDU verfolgt und dabei den Eindruck gewonnen, das Publikum würde seine Arbeit »nicht wirklich ernst«5 nehmen. Sein unerwarteter Auftritt habe »das blöde Gekicher«6 dann aber endlich verstummen lassen. Schlingensief schrie ins Publikum und forderte die Zuschauer auf, sich nackt auszuziehen, worauf diese erwiderten: »Zieh dich doch selber aus.«7 Dass er dieser Aufforderung prompt nachgekommen ist, mag für beide Seiten peinlich gewesen sein. Schlingensief jedenfalls erinnert sich daran, wie unangenehm es ihm war, weil er sich nie gerne nackt gezeigt habe.8 Glaubt man seinen Ausführungen, war dieser Auftritt weder geprobt noch geplant, dennoch kann man ihn auch nicht ohne weiteres spontan nennen, denn er machte Vorbereitung nötig. Der Regisseur musste sich erst Mut antrinken und – hier schon ganz im Stadttheater angekommen – die Requisite bemühen, um sich ein paar Sachen bringen zu lassen. Schlingensiefs nachträgliche Selbstbeschreibung seines ersten Erscheinens vor dem Publikum stilisiert den Auftritt als eine Art Schwellenerfahrung, die mit Überwindung, Mut und Scham zu tun hat und statt Verhüllung und Rückzug einen Akt der Offenbarung herbeiführt, wobei gar nicht mehr beurteilt werden kann, ob sein Auftritt nun gelungen oder gescheitert ist. Schlingensiefs Erzählung weist nicht zuletzt darauf hin, dass ein Auftritt nicht lediglich ein Transportvorgang ist, sondern auch ein mentaler Akt, dessen Vorlauf den Blicken der Zuschauenden entzogen wird und in den Katakomben des Theaters beginnt. Dass Schauspielerinnen und Schauspieler im Stadttheater durch Sprechanlagen zu ihren Auftritten gerufen werden, ist nur eine der technischen Vorrichtungen, durch welche Theater Auftritte zu bewerkstelligen helfen. Auch wichtige bühnentechnische Erfindungen und Apparaturen, vom antiken Ekkyklema über Hubbühnen, Fliegemaschinen, Schwanen-, Schiffs- und Walkürenwagen bis zu den Projektionsflächen im gegenwärtigen Theater, dienen dazu, Auftritte zu ermöglichen und zu inszenieren. In gewisser Weise liefert Schlingensiefs anarchischer Auftritt die zeitgenössische Version einer zwiespältigen kulturellen Figur, die der Mottenkiste des Theaters im 19. Jahrhundert entstammt und abschätzig Rampensau genannt

5

Ebd.

6

Ebd., S. 27.

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Ebd., S. 26.

8

Ebd., S. 26f.

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wird. Rampensäue sind Darstellerinnen oder Darsteller, die sich wenig subtil an der Rampe in den Vordergrund schieben und ohne Rücksicht auf das Stück, seine Inszenierung, ihre Rolle oder die übrigen Mitspielenden nach der Aufmerksamkeit des Publikums heischen. Der Theaterdiskurs im 19. Jahrhundert hat dieses Buhlen, das insbesondere virtuosen Schauspielstars zur Last gelegt wurde, als unkünstlerischen Frevel gebrandmarkt. So hebt das Allgemeine TheaterLexikon von 1839 die Relevanz des Auftritts hervor und warnt zugleich vor eklatanten Auftrittsfehlern, denn »nirgends erscheint die Vertrautheit mit der Bühne, die vollständige Ergründung des Charakters klarer, als in der Art des Auftretens.«9 Einer darzustellenden Figur drohen bereits beim Auftritt des Schauspielers vielfältige Gefahren: »Eine falsche, aber leider gewöhnliche Art ist es, beim Auftreten auf dem kürzesten Wege bis zum Souffleurkasten zu gehen und dort die Scene zu beginnen.«10 Besonders prekär wird der Auftritt des Schauspielers, wenn er bei seinem ersten Erscheinen auf der Bühne direkten Kontakt zum Publikum aufnimmt oder sich von den Zuschauern empfangen lässt: »Ein großer Fehler, besonders jüngerer Schauspieler, ist es auch, wenn er beim Auftreten die Augen in den Zuschauerraum richtet und das Publikum statt seinem Mitschauspieler ansieht.«11 Rampensäue verstießen souverän gegen diese Benimmregeln des dramatischen Theaters. Die Tatsache, dass das Lexikon sich ausführlich damit beschäftigt und überhaupt ein entsprechendes Lemma zum Auftritt ausweist, zeigt, dass der Vorgang des Auftretens zu jener Zeit explizit Aufmerksamkeit erhielt. Hierfür spricht auch die damals gängige Praxis des Publikums, einzelne Schauspielerinnen oder Schauspieler bei ihrem Erscheinen auf der Bühne mit speziellem Auftrittsapplaus zu bedenken. Strickt mahnt das Lexikon den Darsteller, auf diese individuellen Ovationen nicht zu reagieren, außer »wenn er nach langer Krankheit zum erstenmale wieder auftritt […].«12 Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Auftritte nicht mehr alleine durch den dramatischen Text festgelegt, der das Erscheinen oder Verschwinden einer Figur anzeigt, sondern durch sogenannte Scenarien, in denen der Regisseur, der Inspizient oder der Souffleur detailliert festlegt, welcher Schauspieler wann, wie und von wo aufzutreten hat. Folgerichtig ahnden die Theatergesetze Verstöße gegen diese Regeln mit Geldstrafe. In den Hamburger Theatergesetzen von 1798 heißt es beispielsweise in § 23:

9

Blum, Robert/Herloßsohn, Karl/Marggraff, Hermann (Hg.): Allgemeines TheaterLexikon, Altenburg/Leipzig: H. A. Pierer 1839, S. 169.

10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd.

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»Wer bei der Vorstellung […] zu spät oder zu früh heraustritt, von einer unrechten Seite kommt oder dahin abgeht, bezahlt den zwölften Theil seiner Monatsgage. Auch der, welcher, wenn ihm gleich sein letztes (Stich-)Wort gesagt wird, um eine, oder mehrere Scenen zu früh heraustritt, erlegt dieselbe Strafe, da Jeder das Scenarium in seiner Rolle hat.«13

Da es den Schauspielern und Schauspielerinnen gleichzeitig immer häufiger verboten wurde, sich während der Aufführung vor oder nach ihrem Auftritt in den Gassen auf der Bühne oder im Publikum aufzuhalten, wurde der vermeintlich simple Auftritt ein immer komplexer werdender kommunikativer Akt, an dem bis heute mehrere Personen und viel Technik beteiligt sein können. Im zeitgenössischen Theater scheinen Aufritte allerdings mitunter als altmodische Relikte einer vergangenen Theaterepoche zu gelten. Die Konvention, die Darstellerinnen und Darsteller bereits beim Eintritt der Zuschauer in den Saal auf offener Szene zu zeigen, verschenkt die Möglichkeit des Auftritts ebenso wie das gängige Verfahren, Anfang und Ende einer Szene durch Lichtwechsel (Black) zu markieren und damit das Kommen und Gehen der Schauspielerinnen und Schauspieler im Dunkel den Blicken des Publikums zu entziehen.

E IN A UFTRITT OHNE E NDE : V ERBLENDUNGSZUSAMMENHANG Entgegen dieser Praxis soll nun eine zeitgenössische Inszenierung betrachtet werden, die den Auftritt eines einzigen Schauspielers geradezu lustvoll inszeniert und als schier endlosen Übergangsmoment zelebriert. Es geht um die Inszenierung Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang, die der Regisseur René Pollesch mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs 2010 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz in Berlin herausgebracht hat. Die Rehabilitation des Auftritts als schauspielerische Praxis wird dem Publikum schon beim Eintritt in den Saal der Volksbühne vor Augen geführt, denn es erblickt auf der Bühne des Szenografen Bert Neumann einen geschlossenen Vorhang. So eindeutig dieser als Symbol für Theater schlechthin bzw. für Theater, das gleich beginnen wird, gelten kann, so wenig selbstverständlich ist das

13 Hamburger Theatergesetze von 1798, zit. n. Meyer, Friedrich Ludwig Wilhelm: Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des Menschen und des Künstlers, zweiter Theil, zweite Abtheilung, Hamburg 1819, S. 236.

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Gewahrwerden eines geschlossenen Vorhangs zu Beginn einer Aufführung heute geworden. Denn auch jene Inszenierungen, die in großen Häusern stattfinden und in deren architektonischen Rahmen bleiben, indem sie die tradierte Trennung von Bühne und Publikumsraum übernehmen, verzichten in aller Regel auf den Lappen, der hoch gehen muss. Er gilt als lumpiges Relikt eines antiquierten Theaterverständnisses, das mit Begriffen wie Illusionismus und Scheinwelt einhergeht und so gegen den Knigge des postdramatischen Theaters verstößt. Besonders radikal ist dieser Verzicht freilich selten, da die drei klassischen Funktionen des Vorhangs, also das Bezeichnen von Anfang und Ende einer Aufführung, die Unterteilung der Auftritte sowie das Verhüllen und Enthüllen einzelner szenischer Orte nunmehr – wie gesagt – vom Licht übernommen werden.14 Allenfalls der den Blicken des Publikums sonst entzogene Eiserne Vorhang darf nun gelegentlich in Erscheinung treten, um statt rauschenden Samts ratterndes Metall vor das Publikum zu schieben und dem plüschigen Ambiente ein martialisch wirkendes Proszenium entgegenzusetzen. Auch die Zuschauerinnen und Zuschauer in der Volksbühne, die den Vorhang als Tabubruch oder als ironisches Zitat wahrnehmen mögen, dürfen ihrerseits in den vertrauten Klappsesseln Platz nehmen.15 Im Saal ist das Einlasslicht an und während die Zuschauenden sich setzen, ertönt laute Popmusik. Unvermittelt erhebt sich der Schauspieler Fabian Hinrichs in einer der vorderen Reihen, betritt die Bühne und geht schnurstracks auf die Mitte des Vorhangs zu, wo er kurz innehält, eine Art Verbeugung (zum Vorhang gerichtet) macht, um sodann flink im Vorhangschlitz zu verschwinden. Die Zuschauer und Zuschauerinnen sehen Hinrichs dabei lediglich von hinten. Er trägt eine Jeanshose und ein kariertes Hemd. Besonders kostümiert sieht er nicht aus.16 Weder das Licht noch die Musik oder die körperliche Adressierung des Schauspielers haben auf diesen Auftritt hingewiesen. Als solchen hat man ihn

14 Vgl. Radke-Stegh, Marlis: Der Theatervorhang. Ursprung-Geschichte-Funktion, Meisenheim am Glan: Anton Hain 1978, S. XVIII. 15 Bei der Premiere und der ersten Aufführungsserie waren die Stühle deinstalliert und durch großzügige Sitz- oder Liegekissen ersetzt. Spätere Aufführungen waren wieder auf die konventionelle Bestuhlung zurückgegangen, wobei noch einige Liegekissen als Zitat am Rand vor dem Portal lagen. 16 In einer anderen Vorstellung, die ich besuchte, waren der Schauspieler und der Regisseur von Beginn an im Publikum präsent, sie wechselten die Positionen, begrüßten Zuschauer oder sprachen mit ihnen oder miteinander. Beim Gang auf die Bühne warf Hinrichs einen kurzen schelmischen Blick ins Publikum.

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unter Umständen gar nicht wahrgenommen, bzw. erst identifiziert, als er schon wieder vorbei und der Schauspieler hinter dem Vorhang verschwunden war. Kann hier überhaupt von einem Auftritt die Rede sein? So beiläufig und flüchtig Hinrichs Erscheinen auch sein mag, weist sein Gang doch jene Merkmale auf, die man mit Ulf Otto als für Auftritte konstitutiv annehmen kann. Der Schauspieler vollzieht die Differenzierung von Zuschauenden und Agierendem (für die auch der Vorhang steht), indem er sich – im wahrsten Sinne des Wortes – erhebt, aus dem Publikum heraustritt und sich vor ihm platziert. So apart diese Ostentation auch (noch) sein mag, bringt sie doch eine rudimentäre Figur hervor, die eine explizite Handlung vollzieht (Verbeugen) und klar macht, dass von ihr noch etwas zu erwarten ist. Die Bedeutungen dieser Figuration bedürfen noch keines sprachlichen Textes. Die körperliche Handlung eröffnet bereits durch die Frage, ob sie überhaupt dazu gehört, einen Interpretationsraum, welcher semiotisch ermessen werden kann, etwa indem man fragt, was das Kostüm bedeutet, ob es überhaupt schon als Kostüm gelten kann, bzw. ob es nicht ein Kostüm ist, das bedeutet: ›Ich bin (noch) kein Kostüm‹. Hinrichs Erscheinen verkehrt aber zugleich die Theatersituation, die der Vorhang behauptet. Sein erster Auftritt ist ein Abgang. Seine erste Handlung ist das Verbeugen zum Vorhang (und nicht zum Publikum) zu Beginn der Vorstellung (und nicht an deren Ende). Noch bevor der erste Satz in Polleschs Diskurstheater gesprochen wird, ist der Theaterdiskurs in vollem Gange. Während manche im Publikum vielleicht noch dem Gedanken nachhängen, ob der erste Auftritt schon stattgefunden und die Aufführung also begonnen hat, wird die trennende Funktion des Vorhangs ein weiteres Mal in Frage gestellt. Diesmal von der anderen Seite. Der Geräuschpegel im Saal lässt darauf schließen, dass das Publikum seine Aufmerksamkeit noch nicht auf die Bühne gerichtet hat. Auch das unveränderte Einlasslicht und die gleichbleibende Musik legen dies nahe. An einer Stelle beginnt der Vorhang leicht zu zittern, die Falten schlagen sanfte Wellen, als ob jemand hinter ihm entlanghuschen würde. Ein Auftritt steht noch bevor. Es werden vielleicht Vorbereitungen getroffen, Nervosität liegt in der Luft. Der Vorhang bewegt sich und seine Bewegung steht auch für die naive (Vor-)Freude auf Theater, auf das Spiel mit Verhüllen und Zeigen, das auf beiden Seiten des Vorhangs Spannung verursachen kann. Die Bewegung der Vorhangfalten wird immer deutlicher sichtbar und wirkt schließlich ausgestellt, als würde jemand absichtlich mit der Hand am Tuch entlangstreichen. Schließlich tritt ein Unterarm auf. Er wird durch den Vorhangschlitz gestreckt. Seine Hand hält eine Art Heroldsstab, der in den Saal gezeigt wird. Die Musik bricht abrupt ab und das Publikum ist nach wenigen Sekunden still. Die Aufmerksamkeit im Raum verändert sich. Der Stab wird einige Male laut auf den

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hölzernen Bühnenboden geschlagen, als gelte es eine Verlautbarung zu machen. Ein Auftritt kündigt sich an. Doch zunächst wird das rechte Bein des Schauspielers herausgestreckt, um gemeinsam mit dem Stab das Pochen zu wiederholen. Dann wird Text vernehmbar. »Das Spiel«, ruft Hinrichs und macht eine Pause, in der man seinen Ausruf in Gedanken mit dem Wort »beginnt« vervollständigen kann. Doch Hinrichs ruft dann weiter: (Das Spiel) »ist kein Schatten des übrigen ernsten Lebens. Rita Tobias one two one two three four«17. Während ein Musikstück (That’s The Joint) ertönt, wird der Vorhang zur Seite gerafft, wodurch der Blick auf die leere Bühne und auf den ganzen Schauspieler freigegeben wird. Hinrichs hüpft übermütig auf die erste Reihe des Publikums zu, reckt den Stab in die Luft und wirft ihn dann von sich. Unvermittelt stürmt er über die Rampe zwischen die Zuschauer und Zuschauerinnen, wo er hastig sein Hemd auszieht, um sogleich wieder zurück auf die Bühne zu rennen und das Publikum von dort zu animieren, mit ihm im Rhythmus zu klatschen. Hinrichs Aktionen sind überdreht und übertrieben. Aus der diskreten wird die penetrante Ostentation. Die Bühne erscheint als Ort, den der Auftretende erst noch ausfüllen muss. Dabei bleibt der Schauspieler ständig in Bewegung. Er rennt hin und her. Jede seiner Handlungen wirkt größer und breiter, lauter und aufdringlicher als gewöhnlich. Ähnlich ausgestellt ist auch häufig seine Stimme, die klar artikuliert geschrien wird oder im gehobenen Vortragston spricht. Hinrichs immer etwas heiser klingende Jungenstimme bricht sich dabei mit dem deklamierenden Wohlklang hehrer Schauspielkunst, die er zitiert. Die Kommunikation in diesem Raum klingt hohl, was der Schauspieler wie folgt kommentiert: »Die Stimme kommt von keinem Ursprung.«18 Dem Auftritt ist ein Missverhältnis eigen, all das Rufen und Deklamieren, die großen Worte und das unentwegte Ausschreiten der Bühne scheinen den Raum nie ganz zu erfüllen. Von der Hinterbühne holt der Schauspieler einen Rollwagen mit einem Schlagzeug und schiebt ihn nach vorne. Das Requisit wird dem Publikum gezeigt und Hinrichs fordert die Zuschauer auf, dem Objekt Beifall zu spenden. Tanzend reist er sich die Hose vom Leib und vollführt einen dilettantischen Striptease. Viele Aktionen werden angefangen, keine wird zu Ende geführt. Vor lauter Auftritten bleibt der ultimative Auftritt aus. Das Schlagzeug steht (vorerst) unbenutzt am Rand. Wie ein Kind, das einem Besucher stolz seine Spielsachen präsentiert, kramt der Schauspieler alles hervor, was er und die Bühne gerade zu

17 Im Folgenden zitiert nach dem Stückabdruck in Theater der Zeit: Pollesch, René: Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang, Script von Fabian Hinrichs, in: Theater der Zeit 3 (2010), S. 51. 18 Ebd., S. 52.

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bieten haben. Durch eindeutige Zeigegesten und einladende Bewegungen werden die Zuschauer motiviert irgendwie mitzugehen oder mitzumachen. Schließlich wird auch noch ein Klavier hereingerollt und vom Schauspieler auf der Vorderbühne platziert. Eine Armgeste Hinrichs lässt die Musikeinspielung schlagartig abbrechen und der Schauspieler beginnt mit einem Monolog. Die ersten Minuten der Inszenierung zeigen so zwei gegensätzliche Varianten des Auftritts. Man könnte sie den kleinen und den großen nennen. Der kleine Auftritt ist das diskrete Erscheinen, das nicht jeder bemerkt, das keine Ausrichtung auf das Publikum kennt, scheinbar nichts zeigen will oder nichts zu zeigen hat. Seine aparte Ostentation vermag kaum Aufmerksamkeit zu bündeln. Der große Auftritt sucht die eindeutige Geste, die körperliche Adressierung des Publikums und schließlich das laute Sprechen. Jede Handlung ist zugleich ein Zeigen. Ein großer Auftritt präsentiert und fordert zugleich. Seine penetrante Ostentation saugt die Aufmerksamkeit im Raum gleichsam auf. Im Grunde aber drohen beide Auftritte zu scheitern. Der Kleine verpufft, weil man ihm das Understatement nicht recht abnimmt, falls man ihn überhaupt bemerkt. Und der Große wird verschenkt, weil er nie zum Abschluss kommt. Das pompöse Theaterversprechen, das der Vorhang macht, wird durch den Schauspieler subtil unterwandert. Wie ein Maulwurf durchwühlt er das Terrain zwischen on-stage und off-stage und markiert die Rampe als erogene Zone zwischen Bühne und Publikum, die er zu seinem Schauplatz zu machen gedenkt. Dabei zeigt Hinrichs zwar Eigenschaften einer veritablen Rampensau, doch indem er gleich zu Beginn über die Rampe trampelt, verstößt er auch gegen die Konvention des Rampenspiels, das – selbst wenn es auf der äußersten Kante operiert – doch stets die Trennung von dem (Schauspieler) da oben und den anderen (Zuschauern und Zuschauerinnen) da unten strikt einhält. Um bewundert zu werden, darf sich die Rampensau ja nicht mit ihrem Publikum gemein machen. Die Geste des Zeigens und Präsentierens von Objekten und Handlungen entlang der Rampe erinnert nicht von ungefähr an entsprechende Darstellungskonventionen im Zirkus oder Varieté, wo sich ihrer vor allem Zauberer bedienen, die ja nicht selten sogar spezielle Assistentinnen beschäftigen, die in gespreizter und stilisierter Pose hinweisen, worauf zu achten ist. So klar und unmissverständlich diese Gesten sind, geht mit ihnen doch auch der Verdacht einher, dass gerade diese Bewegungen das Publikum verblenden, um den Bluff zu kaschieren. Der Verblendungszusammenhang lässt sich so als ein einziger anderthalbstündiger Auftrittsversuch verstehen. Pollesch und Hinrichs zelebrieren das ewige Versprechen nach dem ultimativen Moment, nach Erfüllung, die sich nicht

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einstellen will. Sie feiern den Auftritt, spielen mit seinen Möglichkeiten und nehmen ihm zugleich die Selbstverständlichkeit, indem sie seine Konventionen und die entsprechenden Erwartungen des Publikums desavouieren. Die Inszenierung kann deshalb als eine theatrale Untersuchung aufgefasst werden, die die Voraussetzungen für einen Auftritt, die Bedingungen seiner Rezeption und die ideologischen und politischen Prämissen, die mit ihm einhergehen, in den Blick nimmt und szenisch auf die Probe stellt. Als zentraler Ansatz dieser Untersuchung erweist sich der Raum des Theaters, den Hinrichs immer wieder körperlich aus- und überschreitet, um ihn zu ermessen. Die Leitthese formuliert der Schauspieler selbst: »In diesem Raum steckt wahrscheinlich eine andere Kommunikation, eine andere Kommunikationsform als wir sie kennen.«19 Hinrichs macht dabei kenntlich, dass auch der Umraum der Bühne zu den räumlichen Bedingungen eines Auftritts zählt. Es gibt nicht nur ein Diesseits und Jenseits der Rampe, sondern auch einen komplexen Apparat, zu dem Hinter- und Seitenbühnen gehören. Immer wieder spielt Hinrichs an, dass selbst im Rücken der Zuschauer und Zuschauerinnen Theater ist, nämlich die Licht- und Tontechnik, die Hinrichs mit individuellen Namen anspricht, mit Blicken und Gesten über die Zuschauenden hinweg adressiert und kommandiert. Anweisungen wie »Tusch«, »Musik« oder »Dosengelächter« werden routiniert in den Saal gerufen, als würde Hinrichs die Funktion des Inspizienten gleich mit übernehmen. Auch die Kommunikation im Umfeld der Bühne, die den Augen und Ohren der Zuschauer und Zuschauerinnen in der Regel vorenthalten wird, ist Teil der Kommunikation des Raums, in dem ein Auftritt stattfindet. Die Untersuchung dieses eigenartigen Kommunikationsraums beginnt mit einer Reihe von Negationen, die Hinrichs ausspricht: »Das ist kein interaktives Theater«20, beginnt er einen Monolog, in dem er Interaktivität als »widerliche Kunstform der Geselligkeit«21 schmäht. In der gesamten Inszenierung fehlt es nicht an ironischen Anspielungen auf interaktives Theater und seine Mitmachkonventionen. So initiiert Hinrichs eine gemeinsame Atemübung mit dem Publikum, bei der er die Zuschauer animiert zusammen mit ihm laut auszuatmen, um so allmählich einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, den er schließlich am Schlagzeug laut zu Gehör bringt. In einer anderen Szene denunziert er das Mitmachtheater, während er eine Zahnbürste mit Zahnpasta bestreicht und sich damit in die ersten Zuschauerreihen begibt. Mit dem während einer Aufführung

19 Ebd. 20 Ebd., S. 51. 21 Ebd.

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improvisierten Satz: »Ich muss töten«, spielt er mit der ängstlichen Erwartung der Zuschauenden, dass der Schauspieler sie mit der Zahnbürste traktieren könnte, was freilich nicht passiert. Mag diese Volte gegen das Mitmachtheater noch auf Sympathie stoßen, trifft ein weiteres Argument das Theater als Gesellungsereignis im »Zustand katastrophaler Kommunikation«22 schlechthin, denn »das Auditorium jedes Theaters [stellt] eine schreckliche Form der Gemeinschaft dar, die glaubt einen Sinn zu teilen und die Gesellschaft als eine Sinngemeinschaft zu verstehen, und für Kommunikation hält, sich dauernd einen abwesenden Sinn mitzuteilen.«23 Da für diese sinnvermittelnde Funktion der Schauspieler das zentrale Medium ist, wird auch er in die Kritik genommen: »Das hier spricht auch nicht für alle. (weist auf seinen Körper) Das ist ganz klar ein weißer männlicher Heterosexueller, der hier spricht, von einer Plattform, die auch nur ihm gehört, und keinem Hund, keiner Kakerlake und keinem sonstigen Zeug. […] Was teilen wir denn mit der weißen männlichen Hete [ …], die hier spricht?«24 Die anfängliche Polemik gegen das interaktive Theater der 1970er Jahre weitet sich rasch aus zu einer fundamentalen Befragung der Bedingungen, auf denen Theater beruht. Dabei geht es um das Theater als Ort einer Gemeinschaft, die eines Sinnes ist bzw. einen Sinn teilt, welcher durch den Schauspieler auf der Bühne stellvertretend bedeutet werden kann. Damit wird genau jener Repräsentationsanspruch aufs Korn genommen, der in großen Häusern der Stadt- und Staatstheater architektonischen Ausdruck findet. Souffliert werden diese wie die folgenden Theorie-Inserts aus Texten von Jean-Luc Nancy25, Robert Pfaller26 und dem titelgebenden Sammelband ich schau dir in die augen, gesellschaftlicher verblendungszusammenhang27 von Jan Deck. Ausgerechnet die Schaubühne wird als Schauplatz einer Verblendung entlarvt. Demnach stellt die Annahme, dass sich im Theater eine Gemeinschaft konstituiert, die etwas zu teilen hat, den Verblendungszusammenhang dar, der durch jeden Auftritt vor Publikum aufs Neue bestätigt wird. Diese Verwerfung der »Grundlagen der Gemeinschaft, die die Voraussetzungen sind, […] zusam-

22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein, Berlin: diaphanes 2005. Sowie ders.: Corpus, Zürich/Berlin: diaphanes 2007. 26 Vgl. Pfaller, Robert: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg: Philo Fine Arts 2008. 27 Vgl. Deck, Jan/Dellmann, Sarah /Loick, Daniel/Müller, Johanna (Hg.): ich schau dir in die augen, gesellschaftlicher verblendungszusammenhang!, Mainz: Ventil 2001.

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men in einem Zuschauerraum zu sitzen«28 kann durchaus auch als Schuss ins Theoriekontor der neueren Theaterwissenschaft verstanden werden. Hatte diese doch unter dem Schlagwort der Performativität gerade die soziale Dimension von Aufführungen betont. Man muss allerdings keine Theaterwissenschaftlerin sein, um sich durch diese Zurückweisung einer Gemeinschaft, deren Teil man im Publikum doch gerade wird, in eine ambivalente Haltung zur Aufführung versetzt zu sehen. Nicht wenige im Publikum dürften sich als Pollesch-Fans gerade im emphatischen Sinne einer Gemeinschaft zugehörig fühlen, auch wenn Hinrichs dieses in der Aufführung immer wieder zu desavouieren sucht. Dass man eigentlich nicht weiß, wie ernst man seine lächerlichen Aktionen nehmen soll, vermag ironisches Lächeln nur notdürftig zu kaschieren. Und dass der ein oder andere (zumindest der Autor dieses Aufsatzes) tatsächlich in Erwägung gezogen hat, bei der Atemübung mit Hinrichs gemeinsam mit anderen ein- und auszuatmen, möchte man hinterher auch lieber schnell verdrängen. Der Auftritt schafft so eine ambivalente Situation. Der Schauspieler steigert seine stimmliche und körperliche Ostentation bis zur Penetranz, zugleich aber bleibt die Figuration provisorisch, was nicht zuletzt durch die permanenten Kostümwechsel anschaulich wird. Links und rechts hinter dem gerafften gelben Vorhang ist das Refugium, von wo aus Hinrichs die einzelnen Kleidungsstücke holt. Die Kostüme zitieren die Popkultur (Hip-Hop) ebenso wie die Hochkultur des Theaters (Balletttrikot). Auch nachdem er sich nahezu alles wieder vom Leib gerissen hat, rennt er hinter die Bühne und kommt mit Tüchern und Hawaii-Blumenketten zurück. Manches verteilt er im Publikum, eine Blumenkette stopft er sich in seine knappe, schwarze Unterhose. Doch auch dieser – wie jeder andere Aufzug – hält nur einige Sekunden oder Minuten. Sogleich holt Hinrichs eine schwarze, ledrig wirkende Pluderhosen hervor, streift sie über, versucht sich in einem Tanz im Rapper-Stil und animiert die Zuschauer durch einladende Gesten erst der Hose, dann seinem Tanz und schließlich sich selbst zu applaudieren. Später vervollständigen eine dicke Silberkette und eine bunte Lederjacke diese Erscheinung, die doch nie komplett wirkt, und die Figur immer nur als einen kurzfristigen und provisorischen Effekt produziert. Kurze Zeit später erscheint Hinrichs in einer schwarzen Trikothose, die der Text als Nurejev-Kostüm annonciert. Mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht vollführt er einen hektisch-verunglückten Modern-DanceSchleiertanz. Dabei rennt er zwischen den gerafften Vorhanghälften hin und her, wirbelt den Schleier um Oberkörper und Gesicht, als gelte es sein Antlitz zu

28 »Die Grundlagen der Gemeinschaft verwerfen«. Der Regisseur und Autor René Pollesch im Gespräch mit Tom Mustroph, in: Theater der Zeit 3 (2010), S. 50.

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verbergen, das jedoch gerade wegen der Fahrigkeit der Bewegungen immer wieder sichtbar wird. Jeder Kostümwechsel ist ein neuer Auftrittsversuch und zugleich ein Versprechen, das nie eingelöst wird. Obwohl die ostentativen Zeigeund Jubelgesten doch gerade ausstellen, was der Schauspieler bzw. die ganze Inszenierung zu bieten hat. Zurückgeworfen werden die Zuschauer und Zuschauerinnen vielmehr immer wieder auf den Darstellerkörper, den der Schauspieler mitunter präsentiert wie eines der übrigen Objekte auf der Bühne. »Dies hier«29, schreit Hinrichs und meint seinen fast nackten Körper, während er ins Publikum sieht und sich selbst keines Blickes würdigt. Und später wird verlautbart: »Unsere Seele ist draußen. Weg mit diesem Gebräu da in uns drinnen. […] Das ist gar nichts, da drinnen. Wir sind eine Außenbeziehung unseres Körpers mit sich selbst.«30 Der Auftritt des Schauspielers verbürgt so keine Innerlichkeit mehr, die körperlich ausgedrückt werden könnte. Als Hort der Identifikation des Publikums hat er damit ausgedient. So selbstreferentiell Polleschs Theater zweifellos ist, geht es hier doch in erster Linie nicht um Selbstbezüglichkeit, sondern um die radikale Frage danach, was Referenz im Theater überhaupt sein kann. Was soll Theater bedeuten? Was hat der Schauspieler zu sagen? Was kann sein Körper ausdrücken? Von diesem Punkt aus verschaltet die Inszenierung den Diskurs um das Theater mit einer politischen und gesellschaftlichen Debatte, die durch die Jahreszahl 1971 und ein szenisches Referat zum Abkommen von Bretton Woods eingeführt wird: »Im Gegensatz zu 1971 gibt es ja hier irgendwo noch deponierte Werte, die lassen sich ja nicht so einfach abschaffen, wie durch das Abkommen von Bretton Woods 1971 […] die Fixierungen der Währungen auf die Goldstandards. Das gibt es ja noch: Wertedepots der Gesellschaften, obwohl die in der Finanzökonomie seit 1971 abgeschafft sind.«31 Auch diese Überlegung lässt sich auf den Auftritt bzw. auf die Trennung beziehen, die durch ihn gesetzt wird. Der Auftretende muss etwas haben oder können, worüber die Zuschauer nicht verfügen oder was sie nicht machen. Bei aller Kritik am Verblendungszusammenhang des Theaters kann man Hinrichs Pamphlet auch als Plädoyer dafür verstehen, dass es im Theater hinter der Verblendung doch noch etwas zu sehen gäbe. Die Inszenierung lässt zwar offen, inwiefern Theater ein Wertedepot der Gesellschaft sein könnte, doch sie macht Momente spürbar, in denen die Beteiligten der Aufführung erahnen mögen, dass sie mehr

29 R. Pollesch: Ich schau dir in die Augen, S. 51. 30 Ebd., S. 52. 31 Ebd., S. 53.

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und anderes teilen als ihre physische Anwesenheit. Solch ein Augenblick ist das Talentlied, zu dem Hinrichs sich ein Mikrophon holt und tatsächlich am Klavier Platz nimmt. Es ist der erste ruhigere und halbwegs entspannte Moment der Aufführung. Man könnte meinen, dass mit ihm der Auftritt vollzogen ist und die eigentliche Aufführung beginnen mag. Auch dies erweist sich schnell als Bluff, denn das Lied besteht nur aus einem Akkord und sein Text kommt über drei Wörter (»Zu viel Talent«) nicht hinaus. Und als es Hinrichs schließlich gelingt, doch den einen oder anderen Zuschauer zum Mitsingen zu bewegen, wird die Situation auch schon wieder vom Schauspieler aufgelöst. Da auch hier der ultimative Auftritt letztlich ausbleibt, erscheint die Inszenierung einmal mehr als ein permanenter Auftrittsversuch, der nie zum Abschluss kommt. Ihr Programm besteht darin, die Grundlagen der Gemeinschaft in Frage zu stellen, auf der das Theater beruht bzw. die durch einen Auftritt gesetzt wird. Diese Infragestellung besteht nun aber nicht nur durch den Pamphletcharakter der Theorie, sondern auch durch die Praxis der Performance bzw. den (perfiden und plumpen) Strategien des Schauspielers den Sympathiereflex der Zuschauer und Zuschauerinnen zu desavouieren und sich der Vergemeinschaftung zu widersetzen, die sein Auftritt doch gerade auslöst. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass Polleschs Inszenierung auch den Auftritt seines Theaters in einem neuen Raum markiert. In den letzten Jahren ist Polleschs Theater nämlich in den großen Häusern der Staatstheater von Berlin, Wien, Hamburg oder Stuttgart angekommen. Seit den Anfängen in Gießen und Frankfurt am Main hatte der Autor und Regisseur seine Ästhetik in Off-Bühnen, Blackbox- oder Studiotheatern entwickelt. Zuletzt hatte er als Leiter der Nebenspielstätte Prater der Volksbühne einen Ort gefunden, der unterschiedliche, variable und zumeist verhältnismäßig intime Raumnutzungen möglich macht. Der nicht zuletzt dem Erfolg geschuldete Umzug in die großen Häuser ist deshalb alles andere als ein selbstverständliches Umräumen. Hinrichs verzweifelt anmutendes Hin- und Herrennen zwischen Bühne und Publikum, seine körperliche Quadratur von Vor-, Hinter- und Seitenbühne erscheint wie der vergebliche Versuch einen intimen Rahmen doch noch irgendwie unter dem Stalinstuck des Tankers am Rosa-Luxemburg-Platz zu behaupten und den Saal stimmlich und körperlich zu entern. Die Inszenierung arbeitet sich so obsessiv am Großen Haus des Theaters ab und kritisiert zugleich das Theaterdispositiv, das dieser Guckkasten mit sich bringt.32

32 Zugleich trifft sich dies mit dem boulevardesken Spiel mit der Rampe, für das sich Pollesch bereits in seinen frühen Arbeiten begeistert und das er mit Inszenierungen von Salonstücken wie L’affaire Martin! Occupe-toi de Sophie. Par la fenêtre, Caro-

P HÄNOMENOLOGIE DER R AMPENSAU | 155

L ITERATUR Blum, Robert/Herloßsohn, Karl/Marggraff, Hermann (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon, Altenburg/Leipzig: H. A. Pierer 1839. Deck, Jan/Dellmann, Sarah/Loick, Daniel/Müller, Johanna (Hg.): ich schau dir in die augen, gesellschaftlicher verblendungszusammenhang!, Mainz: Ventil 2001. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999. Meyer, Friedrich Ludwig Wilhelm: Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des Menschen und des Künstlers, zweiter Theil, zweite Abtheilung, Hamburg: 1819. Mustroph, Tom/Pollesch, René: »Die Grundlagen der Gemeinschaft verwerfen«. Der Regisseur und Autor René Pollesch im Gespräch mit Tom Mustroph, in: Theater der Zeit 3 (2010), S. 50-51. Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein, Berlin: diaphanes 2005. Nancy, Jean-Luc: Corpus, Zürich/Berlin: diaphanes 2007. Otto, Ulf: Internet Auftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, Bielefeld: transcript 2013. Pfaller, Robert: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg: Philo Fine Arts 2008. Pollesch, René: Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang, Script von Fabian Hinrichs, in: Theater der Zeit 3 (2010), S. 51-56. Radke-Stegh, Marlis: Der Theatervorhang. Ursprung-Geschichte-Funktion, Meisenheim am Glan: Anton Hain 1978. Schlingensief, Christoph: »Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da«, in: Julia Lochte/Wilfried Schulz (Hg.), Schlingensief! Notruf für Deutschland, Hamburg: Rotbuch 1998, S. 12-39. Warstat, Matthias: »Vom Lampenfieber des Zuschauers. Nervosität als Wahrnehmungserlebnis im Theater«, in: Erika Fischer-Lichte/Barbara Gronau /Sabine Schouten/Christel Weiler (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authenti-

line! Le mariage de Spengler. Christine est en avance. (Volksbühne am RosaLuxemburg Platz Berlin, 2006) weiterverfolgt hat. Das komplexe Gefüge des konventionellen Theaterraums wird auch in der Hamburger Inszenierung Mädchen in Uniform (Schauspielhaus Hamburg, 2010) untersucht, an deren Beginn die Schauspielerin Sophie Rois in einer merkwürdigen Verquerung von Auftritt und Abgang hängen bleibt.

156 | J ENS R OSELT

zität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 86-97.

Das Loch im Vorhang Zu den Auftritten des Publikums A NNEMARIE M ATZKE

Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist eine Beobachtung, die ich in meiner eigenen Praxis als Performance-Künstlerin mit der Gruppe She She Pop gemacht habe. Wir vermeiden Auftritte. Wir versuchen alles, um eine Situation herzustellen, in der für uns kein Auftritt aus dem Off der Hinterbühne oder Seitenbühne nötig oder möglich ist – wohl wissend, dass es immer den Akt des Auftritts geben wird, den Moment, in dem wir uns an unser Publikum wenden, das Licht des Scheinwerfers angeht und in dem wir versuchen, die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Aber wir versuchen vorher, einen anderen Auftritt zu provozieren, auszustellen und zu zelebrieren, den wir als Beobachter betrachten: den der Zuschauer. Wir lassen die Zuschauer einzeln in einen großen Stuhlkreis eintreten, wie in unserer Performance Bad, führen sie eine rote Showtreppe herunter, wie in der Performance Warum tanzt ihr nicht?, oder wir sind einfach schon auf der Bühne, wenn das Publikum hereinkommt, schauen die Zuschauer offensiv an, wenn sie ihre Plätze einnehmen. Der Eintritt der Zuschauer in den Theaterraum wird ausgestellt und als mehr oder weniger freiwilliger Auftritt inszeniert, betrachtet von jenen, deren Auftritte die Zuschauer später betrachten werden.1

1

Dies ist eine gängige Praxis im gegenwärtigen Theater. In zahlreichen Inszenierungen werden dem Auftritt der Schauspieler oder Performer andere Auftritte vorgeschaltet: Der Eintritt der Zuschauer wird gefilmt und projiziert und damit als Auftritt gerahmt und sichtbar, Zuschauer müssen unter den Augen der Darsteller die Bühne überqueren, um zu ihren Sitzen zu gelangen, sie müssen einzeln den Theaterraum betreten. Vgl. Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Paradoxien des Zuschauens, Bielefeld: transcript 2008.

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Eine erste Lesart dieses umgedrehten Betrachterblicks im zugewiesenen Auftritt der Zuschauer wäre, dass es hier um ein Offenlegen der theatralen Situation geht. Die Anwesenheit der Performer verweigert die Trennung in ein verstecktes Offstage und ein Onstage. Sie bleiben deshalb immer als Performer präsent. Spätestens seit den historischen Avantgarden Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lassen sich solche Verfahren finden. Die theatrale Raumsituation wird in ihren technischen Vorrichtungen offengelegt, so dass die Konstruktionen des Theaters immer präsent bleiben. Das Theater stellt sich selbst aus. Man könnte also sagen – gerade mit Blick auf das gegenwärtige Theater –, dass wir es hier längst mit einer Konvention zu tun haben. Doch dass diese Umkehrung der Auftrittssituation viel weniger akzeptiert ist, als zu vermuten wäre, und eigene Probleme hervorbringt, machen die Widerstände gegen die den Zuschauern zugewiesenen Auftritte deutlich. Beispielhaft lässt sich dies an verschiedenen Aufführungen unserer Inszenierung Testament2 zeigen. Auch hier sind wir während des Einlasses auf der Bühne und warten auf unser Publikum. Wir schauen von der beleuchteten Bühne in den beleuchteten Zuschauerraum und sehen die Zuschauer hereinkommen. Diese müssen – unter unserer Beobachtung – einen kurzen Weg über die Bühne nehmen. Die Zuschauer sehen uns und wir sehen sie. Wir blicken uns gegenseitig an: Der Eintritt der Zuschauer wird zum Auftritt, indem der Akt, seine Zuschauerposition einzunehmen, ausgestellt, ins Licht gesetzt und betrachtet wird. (Auch wenn die Zuschauer sich vielleicht gar nicht als Auftretende wahrnehmen.) Wir haben diese Inszenierung in verschiedenen Ländern gespielt, die auf sehr unterschiedliche Theatertraditionen zurückblicken. Nicht die Form der Inszenierung, sondern diese Einlasssituation hat dabei die meisten Irritationen und Missverständnisse hervorgebracht. In Irland gingen die Zuschauer ganz selbstverständlich davon aus, dass wir Platzanweiserinnen sind und fragten nach Programmheften. In Finnland verstörte unsere Präsenz auf der Bühne so, dass die Zuschauer sich nicht trauten, den kurzen Weg über die Bühnen zu ihren Sitzen zu nehmen, sondern sich einen komplizierten Weg über die Tribüne suchten. Das Resultat war, dass der Einlass eine halbe Stunde lang dauerte. In Japan wurde uns von der Theater- bzw. der Technischen Leitung grundsätzlich verweigert, bereits auf der Bühne zu sein, wenn die Zuschauer ihre Plätze einnehmen. Die Begründung war, dass die Zeit vor der Aufführung, die Zeit der Zuschauer sei.

2

Uraufgeführt am 10.02.2010 im Theater Hebbel am Ufer.

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Diese bräuchten eine halbe Stunde, um anzukommen. Trotz langer Diskussionen wurde diese Konvention über unsere ästhetische Setzung gestellt.3 Die Auftritte wurden auf drei verschiedenen Ebenen problematisch: 1. die durch die Architektur vorgegebenen Raumverteilungen, 2. den Rahmen der Aufführung und dessen Abgrenzung von anderen Praktiken im Theater und 3. das Verhältnis der Gesetze der Institution Theater zu jenem ästhetisch begründeten Regelsystem der Inszenierung. Deutlich wird, dass das Verhältnis von Publikum und Schauspielerinnen und Schauspielern nicht einfach gegeben ist. Es konstituiert über konkrete Praktiken die Raumanordnungen und unterliegt den Konventionen der Institution Theater. Dies wird im besonderen an der Praxis des Auftritts sichtbar: Jeder Auftritt konstituiert ein Publikum und markiert damit eine Trennung zwischen denen, die auftreten, und jenen, die zuschauen. Als sozialer Vorgang grenzt der Auftritt Akteurinnen und Zuschauer von einander ab. Erst im Auftreten wird die Figur des Akteurs hervorgebracht. Zugleich aber konstituiert der Auftritt damit auch Figurationen von Zuschauer und Publikum. Beiden sind damit Positionen und Orte im theatralen Gefüge zugewiesen. Die Architektur und die damit verbundene Trennung von Bühne und Zuschauerraum allein reichen als Rahmensetzung nicht. Der Theaterbesucher muss in seiner Funktion als Zuschauer ›in Erscheinung treten‹, um den Apparat Theater (mit) zu konstituieren. Anders gesagt: das Verhältnis von Zuschauer und Akteur und die Situation Theater konstituiert sich in Abgrenzung zum Alltag erst über Auftritte. Auftritte verhandeln so die notwendige »doppelte Grenzziehung«4 des Theaters:

3

Hier eröffnet sich die Frage der Vorbereitung des Auftritts in verschiedenen Theaterkulturen. Zum Auftritt des japanischen Schauspielers gehört der langsame Übergang in die Darstellung und jene Zeit, die er sich nimmt, bedarf auch des Publikums. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, diese verschiedenen Auftrittskulturen zu untersuchen. Vgl. Schechner, Richard: Essays on Performance Theory 1970-1976, New York: Drama Book Specialists 1977, S. 122. Sowie Bennett, Susan: Theatre Audiences. A Theory of Production and Reception, London/New York: Routledge 2003, S. 166ff.

4

Vgl. Benjamin Wihstutz’ Überlegungen zu einer Topologie des Theaters: »[…] das Theater [ist] als Raum der Aufführung auf eine doppelte Grenzziehung angewiesen [...] – genauer auf die Unterscheidung zwischen Akteur und Zuschauer einerseits und die Distanzierung zu einer Sphäre des Alltags andererseits [...]. Die Form der Aufführung bestimmt demnach immer auch über die politische Frage, wer befugt ist, öffentlich aufzutreten, und wer lediglich zuschauen darf, wer eingeschlossen und wer ausgeschlossen wird.« Wihstutz, Benjamin: Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheatertheater, Berlin: Diaphanes 2012, S. 279.

160 | A NNEMARIE M ATZKE

zwischen Zuschauern und Akteuren und zwischen dem Theater und einer außertheatralen Öffentlichkeit. Durch die Analyse von Auftrittsformen und -praktiken lassen sich somit Zuschauer, als Teil der Schauordnung Theater, und Publikum, als Verbindung zwischen Kunst und Öffentlichkeit, in ihren verschiedenen Figurationen in den Blick nehmen.

D IE S ZENE

DES

Z USCHAUERS

Die Beschäftigung mit der Position der Zuschauer hat Konjunktur in der neueren theaterwissenschaftlichen Theoriebildung. In den Fokus rückt das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum. Im Kontext des performative turn treten die Prozesse und Praktiken, die eine Aufführung konstituieren, in den Mittelpunkt des Interesses. Erst die Wechselbeziehungen von Zuschauern und Akteuren bringen die Aufführung als Zwischengeschehen hervor.5 Gegen die historische Konzeption eines passiven Zuschauers, der still gestellt, isoliert die Aufführung betrachtet, wird die Idee einer wechselseitigen Abhängigkeit von Zuschauer und Akteur gestellt. Mit der Frage nach dem Auftritt des Zuschauers ließe sich somit die Perspektive auf die Aufführung und das Verhältnis von Zuschauer und Darsteller erweitern und neu justieren. Im Akt des Auftretens (der Schauspieler) konstituiert sich das Publikum als temporäres Kollektiv: nicht im Sinne einer Einheit, sondern als zeitlich begrenzte Versammlung von Individuen. Diese Vielheit der Theaterbesucher im Kollektiv des Publikums zeigt sich auch in den Auftritten der Theaterbesucher selbst: Diese Auftritte zeichnen sich durch Handlungsformen aus, die eine klare Aufmerksamkeitsökonomie zwischen Bühne und Zuschauerraum in Frage stellen. Neben der Einlasssituation und ihrer räumlichen Inszenierung gibt es Auftritte des Publikums im Moment des Applauses – bis hin zu Standing Ovations. Aber Theaterbesucher inszenieren auch andere Handlungen als Auftritt: z.B. in jenen nicht-legitimierten Auftritten störender oder den Saal verlassender Zuschauer. Ebenso inszeniert der Zwischenrufer seinen eigenen Auftritt. Nicht mehr den Darstellern auf der Szene gilt die Aufmerksamkeit, sondern ihnen, die in Konkurrenz mit der Bühnensituation treten. Und schließlich gibt es vor allem im gegenwärtigen Theater jene Auftritte von Zuschauern, die von den Akteuren inszeniert werden: Ihnen werden Rollen, Handlungen oder ausgestellte Plätze zugewiesen. Die Zuschauer bekommen eine eigene Rolle im theatralen Geschehen,

5

Vgl. Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters, München: Fink 2008, S. 194 sowie S. 363ff.

D AS L OCH IM V ORHANG | 161

die je eigene Auftrittsmöglichkeiten mitbringt. Es finden sich allerdings auch andere Auftritte der Zuschauer jenseits der oben beschriebenen, z.B. in Foyers oder Logen. In den Blick treten damit die verschiedenen Regeln und Gesetze des Auftretens je nach ästhetischer oder sozialer Situation. Es lassen sich also verschiedene Modi des Auftretens des Publikums differenzieren: legitime und illegitime, institutionskonstituierende oder extraordinäre Auftritte, welche die Verabredungen und Gesetze verlassen (oder zu thematisieren versuchen), bewusste und unbewusste Auftritte.

V OM P UBLIKUM ZUM Z USCHAUER : EINE F RAGE DER R AHMUNG Die genannten Überlegungen zum Auftritt verweisen zugleich auf einen Widerspruch. Vorschnell habe ich vom Auftritt des Zuschauers gesprochen. Allerdings stellt sich die Frage: ob ein Zuschauer überhaupt auftreten kann. Jemand, der auftritt, wird angeschaut. Er kann auch zurückschauen, aber er ist kein Zuschauer. Im Gegenteil: Er bedarf der Zuschauer, damit sein Auftritt als solcher wahrgenommen wird. Er muss die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dies verweist auf ein Problemfeld: Inwieweit kann die von den Performern beobachtete Einlasssituation als Auftritt gefasst werden? Inwieweit braucht es ein Bewusstsein um einen Auftritt, eine Form der Planung, einen Gestaltungswillen? Nicht jedes beobachtete Handeln, lässt sich als Auftritt beschreiben. Dennoch rahmt die szenische Situation die Handlungen der Zuschauer als Auftritt, in dem die Zuschauer sich selbst des Auftritts bewusst sind und sich mehr oder weniger freiwillig in die Beobachtungssituation begeben. Um die Praxis des Auftritts genauer zu bestimmen, müssen verschiedene Positionen unterschieden werden: zwischen dem Theaterbesucher als einer Funktion im Dispositiv Theater – als jenem, der in die spezifisch ausgestellte Situation Theater eintritt – und jener Position des Zuschauens, die ein konstituierendes Moment für den Auftritt bildet.6 Auch der Theaterbesucher kann zum Akteur werden und der Schauspieler kann einem Auftritt eines Theaterbesuchers zuschauen. Und noch eine dritte Position ist zu markieren: Der Schauspieler tritt im Auftritt dem Kollektiv des Publikums gegenüber. Jede dieser Positionen kann einem anderen Aspekt des Dispositivs Theater zugeordnet werden: der Zuschau-

6

In seiner Rahmenanalyse unterscheidet Irving Goffman zwischen Theaterbesucher und Zuschauer. Vgl. Goffman, Irving: Rahmen-Analyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 149ff.

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er dem Theater als Schauanordnung, der Theaterbesucher der Institution Theater mit ihren ökonomischen, politischen und sozialen Implikationen und das Publikum dem Theater in seinem Verhältnis zu einer nicht-theatralen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Praxis des Auftretens ist weder eine bewusste Setzung, noch an die Person des Schauspielers oder an ästhetische Praktiken gebunden. Diese ritualisierten, gestohlenen oder auch erzwungenen Auftritte zeigen aber die Instabilität der vermeintlichen Trennung von Bühne und Zuschauerraum: jene Grenze oder Teilung durch die Rampe – in Bühne und Schauraum – wird durch die Praktiken unterlaufen, aufgehoben, ausgetrickst. Diese Praktiken verweisen darauf, dass die gleichzeitige Anwesenheit von Zuschauer und Performer den Raum nicht einfach zu einem kollektiven Raum macht. Er bleibt durch verschiedene Auftritte im wahrsten Sinne des Wortes geteilt, auch dort, wo die Rampe abgeschafft ist. Jedoch muss diese Teilung immer wieder neu hervorgebracht werden. Mit den Praktiken des Auftretens treten andere Verhandlungen auf die Szene: Es geht um die Praktiken, welche die Situation Theater hervorbringen und damit auch um Ökonomien von Aufmerksamkeit, um Hierarchisierungen von Sichtbarkeit, um die Legitimation von Auftritten und die Deutungshoheit über die theatrale Situation und ihr Verhältnis zu einer Wirklichkeit außerhalb des Theaters. Mit dem Fokus auf den Auftritt lässt sich somit eine eigene (kurze) Theatergeschichte des Publikums erzählen.

E INE

ANDERE

G ESCHICHTE

DES

P UBLIKUMS

Im 28. Brief seiner Lettres Persanes lässt Montesquieu den jungen Perser Rica einen Abend im Theater beschreiben: »Aux deux côtés, on voit, dans des petits réduits, qu’on nomme loge, des hommes et des femmes qui jouent ensemble des scènes muettes [...].«7 Beschrieben wird eine verkehrte Auftrittssituation: Nicht die Bühne, sondern die Logen sind für ihn Szene des Auftritts. Doch damit nicht genug: Es präsentiert sich keine statische Situation allein, die Logen und Bühne gegenüberstellt, sondern die Praxis des Auf- und Abtretens ist durch eine permanente Bewegung gekennzeichnet:

7

Montesquieu, Charles Louis de Secondat de: Lettres Persanes, Paris: Gallimard 1973, S. 99 (»Auf beiden Seiten sieht man, in kleinen Nebenräumen, die Logen genannt werden, Frauen und Männer, die miteinander stumme Szenen spielen.«, Übers. A.M.)

D AS L OCH IM V ORHANG | 163

»Mais ceux qui prennent le plus de peine, sont quelque gens, qu’on prend pour cet effet dans un âge peu avancé, pour soutenir la fatigue. Ils sont obligés d’être partout; ils passent par des endroits qu’eux seuls connaissent, montent avec une adresse surprenante d’étage en étage; ils sont en haut, en bas, dans toutes les loges; ils plongent, pour ainsi dire; on les perd, ils reparaissent [...].«8

Auf- und Abtritte der Zuschauer stehen neben denen der Schauspieler. Die umherwandernden Theaterbesucher stehlen den Schauspielern im wahrsten Sinne des Wortes die Szene, inszenieren sich mit ihren wiederholten Auftritten selbst und machen dem Tun auf der Bühne Konkurrenz. Montesquieus Parodie verweist damit auf eine barocke Theaterarchitektur, deren elliptische Form keine Trennung von Bühne und Zuschauerraum vorgibt. Durch die Installation von Zuschauerplätzen auf der Bühne und über den Seitenrand hinausgezogenen Logen wird die Zusammengehörigkeit beider Räume betont. Es gibt keine klare räumliche Trennung von Auftrittsort und Schauraum. Diese Bauform ermöglichte (repräsentative) Auftritte der Zuschauer neben jenen der Schauspieler. Das Sich-Zeigen in den Logen markiert eine Ordnung zweier Auftrittspraktiken, die räumlich und zeitlich nicht voneinander getrennt waren. Nicht der einzelne Auftritt bestimmt hier die Situation Theater, sondern eine Potenzierung verschiedener Auftritte. Montesquieus Parodie zeigt allerdings auch, dass im beginnenden 18. Jahrhundert jenes Nebeneinander von Auftritten im Raum des Theaters als problematisch empfunden wurde. Sie unterliefen eine andere Theaterkonzeption, die bis heute wirkungsmächtig ist: ein Theater, das dem Betrachter eine in sich geschlossene Welt präsentiert und zugleich daran arbeitet, dass der Betrachter den Rahmen, in dem diese Welt ihm präsentiert wird, vergessen soll. Dies spiegelt sich in veränderten Theaterarchitekturen mit der Einführung der Guckkastenbühne wider, die klar die Zonen der Aufmerksamkeit definiert – und damit auch die Möglichkeiten zum Auftritt. Bühnen- und Zuschauerraum werden als zwei getrennte Zonen konzipiert, die sich gegenüber liegen. Die räumliche Rezeptionssituation zielt darauf, den Zuschauer ganz auf die Bühne und die dortigen Auftritte zu fokussieren. Somit wird dem Auftritt die Aufmerksamkeit zugestan-

8

Ebd., S. 99f (»Am meisten Mühe aber geben sich einige Leute, die man aus diesem Grund unter den Jüngeren ausgewählt hat, damit sie die Strapazen aushalten. Sie müssen überall sein; sie schlüpfen durch die Gänge, die ihnen allein bekannt sind, sie steigen mit einer überraschenden Gewandtheit vom einen ins andere Geschoss, sie sind unten und oben in allen Logen, sie tauchen förmlich unter [...] aber sie kommen immer wieder zum Vorschein.«, Übers. A.M.)

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den, die er braucht. Allerdings heißt dies nicht, dass es damit keine Inszenierungen von Auftritten der Theaterbesucher mehr gäbe. Allerdings finden sie an einem anderen Ort jenseits von Bühne und Zuschauerraum statt.9 Beispielhaft lässt sich dies an Richard Wagners Konzeption des Festspielhauses in Bayreuth zeigen, das ganz bewusst außerhalb der Stadt liegt. Der Weg in das Theater ist ein Weg aus der Stadt. Mit dem Festspielgedanken wird der Eintritt der Zuschauer in das Theater zu einem eigenen Auftritt, der die Festspielgemeinde konstituiert (und sie von jenen abgrenzt, die daran teilnehmen). Es lässt sich eine Verlagerung des Auftritts des Zuschauers nach draußen konstatieren – und damit eine Auftrittsinszenierung, die ein neues Publikum jenseits des Theaters generiert. So beschreibt bereits Mark Twain, wie die Zuschauer von Passanten bestaunt in das Festspielhaus einziehen.10 Noch heute ist die Auffahrt auf den ›grünen Hügel‹ eine eigene Inszenierung. Anders formuliert: die Abschließung des Theaters gegenüber einem anderen – der Stadt, anderen potentiellen Zuschauern, einer umgebenden Gesellschaft. Auch der Zuschauer geht somit von einem Off – dem anderen des Theaters – in ein On – den Theaterraum.11 Das Konzept des Theaters funktioniert nicht nur durch Trennung im Theaterraum selbst, sondern auch durch den Auftritt, in dem sich der Zuschauer konstituiert und zugleich gegenüber anderen Nicht-Zuschauern abgrenzt. Jener Moment der Abschließung wird zum Auftritt des Publikums. Erst die räumliche Anordnung macht die Auftritte der Zuschauer offensichtlich oder versteckt diese. Theaterarchitektur ist damit immer auch eine Bedingung für jeden Auftritt und seine Praktiken. Dass dieser Auftrittsraum des Theaters – mit seinen ästhetischen wie institutionellen Vorgaben – aber selbst immer wieder neu zur Verhandlung steht, thematisieren Aufführungen aus der Performancekunst der siebziger Jahre sowie aus dem Gegenwartstheater.

9

Es eröffnet sich eine neue Perspektive auf jene Versuche der Disziplinierung des Publikums im 18. und 19. Jahrhundert, die bspw. durch Theatergesetze formuliert wurden. Vgl. dazu Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutscher Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800), Frankfurt a.M.: Klostermann 2002.

10 Vgl. Twain, Mark: »Travel Letters 1891-1892«, in: Chicago Daily Tribune, December 6, 1896. 11 Vgl. zur historischen Entwicklung der Theaterarchitektur und dem Entstehen von Auftrittsmöglichkeiten für das Publikum in Foyers und Aufgängen Brauns, Jörg: Schauplätze. Zur Architektur visueller Medien, Berlin: Kadmos 2007, S. 195ff.

D AS L OCH IM V ORHANG | 165

D IE P ERFORMANCE

DES

Z USCHAUERS

»We are standing naked in the main entrance of the Museum, facing each other. The public entering the Museum have to pass sideways through the small space between us. Each person passing has to choose which one of us to face.«

12

So beschreibt die Performance-Künstler Marina Abramović in einer Videodokumentation ihre neunzigminütige Performance Imponderabilia, die sie gemeinsam mit ihrem Partner Ulay 1977 in der Galleria Communale D’Arte in Bologna aufgeführt hat. Vor dem Eingang des verglasten Museumsbaus ist ein Portal vorgebaut, an dessen Seiten Abramović und Ulay stehen. Beide sind nackt. Zwischen ihnen ist gerade noch genug Platz, dass sich eine Person seitlings an ihnen vorbei drücken kann. In der Videodokumentation sieht man die Museumsbesucher, wie sie sich an den beiden vorbeizwängen und in rascher Abfolge in das Museum strömen. Die Performer stehen die ganze Zeit regungslos. Die besondere Rahmung der beiden Performancekünstler eröffnet dem Besucher und seinem Eintritt eine Bühne, die er, wenn er die Ausstellung sehen will, betreten muss. In der Performanceforschung wurde das Konzept der Performance hinsichtlich der von den Zuschauern geforderten Entscheidung beschrieben. An dieser Stelle ist aber der Akt des Eintritts in das Museum von Interesse. Die Dokumentation zeigt scheinbar nur mit sich selbst beschäftigte Besucher, die sich ihres Ausgestelltsein nicht bewusst sind oder sich dieses zumindest nicht anmerken lassen wollen. Allerdings drehen sich einzelne Besucher um, nachdem sie die beiden Performer passiert haben, um ihren Nachfolgern beim Eintritt zuzuschauen. Es entsteht ein temporäres Publikum, das den Eintritt zum (teils unfreiwilligen) Auftritt macht. Museumswärter lösen diese Versammlung dann auf und bitten die Besucher/Zuschauer weiterzugehen. Für die Frage des Auftritts ist aber nicht allein der Akt der Entscheidung wichtig, sondern die räumliche Anordnung, die sich hier findet. Abramović verweist auf die besondere räumliche Setzung: »We wanted to be the door of the museum for three hours.«13 Der Eintritt zielt auf einen Akt der Vereinzelung. Indem aus dem Kollektiv der Museumsbesucher der einzelne Betrachter in ein Verhältnis zu den Performern gesetzt wird, werden Intimitäts- und Schamgren-

12 Marina Abramović zitiert nach dem Videomitschnitt von Imponderabilia, in: A Performance Anthology, Volume 3, Marina Abramović/Ulay 1976-1980. Die Performance fand Juni 1977 in der Galleria Communale D’Arte Moderna in Bologna statt. 13 Abramović, Marina: »Body Art«, in: Marina Abramović/Antonio Ratti (Hg.), Marina Abramović, Mailand: Charta 2002, S. 27-39, hier S. 33.

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zen in Frage stellt. Er wird als Verbindung zwischen den beiden Performern inszeniert, ohne dass dieses Verhältnis weitere Möglichkeiten zur Handlung nach sich ziehen würde. Abramović spricht in dieser Arbeit – in Abgrenzung zu ihren früheren Performances – von einem public body – einem öffentlichen Körper, der sich hier zeigt. Die Rahmung der Tür setzt diesen Körper in Szene, gibt ihm einen Auftritt. Erst über die Handlung des Eintretens tritt hier der Betrachter der Performance auf. Der Eintritt in das Museum wird auch hier zum mehr oder weniger beachteten Auftritt. Dass die Performance nicht drei Stunden dauerte, sondern nach neunzig Minuten von der Polizei abgebrochen wird, verweist darauf, dass dieser Auftritt nicht allein eine individuelle Erfahrung des einzelnen ermöglichte, sondern als Teil einer Schauanordnung gelesen wurde, in der die Regeln der Institution Museum den Gesetzen und Vorschriften einer öffentlichen Ordnung untergeordnet werden.

D ER

LETZTE

A UFTRITT

Gegen Ende der Aufführung tritt eine Frau allein in das Halbrund der Bühne und schwenkt eine übergroße Fahne. Die hohen Wände des Bühnenraums der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz lassen sie klein wirken. Die überdimensionierte Fahne unterstreicht dies noch. Ihr gegenüber sitzen 400 Zuschauer, die über zwei Stunden mitverfolgt haben, wie dieser Auftritt vorbereitet wurde. Sie klatschen frenetisch enthusiastisch und jubeln der Frau zu. Es ist die letzte Szene der Inszenierung Revolution Now! des deutsch-englischen Performance-Kollektivs Gob Squad.14 Thema der Aufführung ist die Inszenierung einer revolutionären Situation. Die Performer nehmen die konkrete Situation, dass Gob Squad als freie Gruppe eingeladen ist, auf der großen Bühne eines traditionsreichen Hauses zu inszenieren, zum Ausgangspunkt, um über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, Theater und Revolution zu verhandeln. Dabei steht nicht die Frage nach dem, was verändert werden soll, im Mittelpunkt – »Es gibt kein Manifest und keine geteilten Überzeugungen«, heißt es in der Inszenierung –, sondern die Gesten und Parolen einer revolutionären Rhetorik selbst. Die Performer präsentieren sich weniger als Revolutionäre denn als professionell Inszenierende, die eine Revolution in Szene setzen können. Dabei wird der Ort des Theaters selbst zum

14 Uraufführung am 04.02.2010 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Vgl. auch Woolf, Brandon: »(Gob Squad’s) Revolution Now! Or Never?«, in: TDR Vol. 55, (2011), S. 144-151.

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Thema. Die Performer inszenieren ihren ersten Auftritt als Triumphzug: als Einzug und Machtübernahme der Volksbühne. Zwei Orte werden sich gegenübergestellt: das Theater als Institution mit dem Bühnenraum – der hier auch die Zuschauer umfasst – und auf der anderen Seite die Umgebung des Theaters als öffentlicher Raum, der für eine gesellschaftliche Wirklichkeit steht. Innen und Außen des Theaters werden zum Thema. Der urbane Raum wird als Gegenort und Bezugspunkt zum symbolischen Raum der Kunst inszeniert. Die Inszenierung spielt mit Auf- und Übertritten zwischen beiden Räumen. Die Performer gehen vom Theater in den urbanen Raum. Passanten werden auf der Straße angesprochen und in das Theater geholt. Durch Videoübertragungen von der Bühne zu einem Monitor vor dem Theater und andersherum werden immer neue Blickkonstellationen von Innen nach Außen und umgekehrt inszeniert. In einem Auswahl- und Aushandlungsprozess wird aus den zufällig vorbeilaufenden Passanten die Figur ›Volk‹ gecastet, die in jener oben beschriebenen Szene den letzten Auftritt in der Inszenierung hat. Die Performer sprechen Passanten an, diskutieren mit ihnen über die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines Umsturzes, inszenieren sie in revolutionären Gesten. Schließlich tritt die Figur in das Theater ein und hat ihren Auftritt auf der Bühne. Dem Theaterpublikum wird in dem Auftritt des gecasteten Passanten eine andere Öffentlichkeit gegenübergestellt. Die Figur ›Volk‹ wird dabei zur Metapher für ein Kollektiv aus Individuen, das nicht in der Gleichheit aufgeht. Zwar wird der Einzelne ausgestellt, ihm eine besondere Rolle zugeschrieben, sein Eintritt in das Theater inszeniert, zugleich wird aber auf die Zufälligkeit jener Auswahl verwiesen. Es könnte jeder sein, der hier auftritt, auf das richtige Bild komme es an. Gob Squad zeigt immer wieder Auftritte von Zuschauern oder Passanten, in denen das Verhältnis des Theaterraums, der Institution Theater und einer außertheatralen Wirklichkeit thematisiert wird. Beispielsweise macht die Inszenierung In diesem Kiez ist der Teufel eine Goldmiene15 die Verhandlung von Auftrittsbedingungen zum eigentlich Thema: Auf der Berliner Kastanienallee castet die Gruppe Passanten, um diese dann zu Sprechern eines Textes von René Pollesch werden zu lassen. Die eigentliche Show besteht in den Verhandlungen über die Gage und die Bedingungen des Auftritts. Ihre Inszenierungen zeichnen sich dadurch aus, dass kein Auftritt einfach erfolgen kann. Im Gegenteil, jeder Auftritt muss medial vermittelt, durch verschiedene Praktiken sichtbar vorbereitet oder in seinen (ökonomischen) Bedingungen verhandelt werden. Immer wieder präsentiert Gob Squad für diese Auf-

15 Prater Saga 3: In diesem Kiez ist der Teufel eine Goldmiene, uraufgeführt im Prater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz am 10.12.2004.

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tritte räumliche Aufbauten – Videowände, welche die Einsicht verwehren, Spiegelkästen, die immer wieder den Blick des Publikums zurückgeben, die vor allem aber jene beschworene gemeinsame Gegenwart in Frage stellen. Nicht die geteilte Gegenwart im Theaterraum, sondern der Akt der Trennung selbst wird ausgestellt. Damit ist auch der Auftritt keine Bühnenpraxis, die einfach geschieht, sondern muss vorbereitet und verhandelt werden und scheint immer wieder gefährdet. Nicht der endgültige Auftritt, sondern der Moment der Vorbereitung ist das eigentliche Thema der Inszenierungen. Nicht als ein reines Offenlegen der Inszenierungsstrategien, sondern vielmehr in der diskursiven Verhandlung mit den zufälligen Passanten. Damit wird jeder als potentiell Auftretender markiert, die Differenz zwischen den gecasteten Darstellern und den professionellen Performern wird negiert. Inszeniert wird die Idee einer Demokratisierung des Auftritts, dessen Bedeutung sich nicht aus den Akten des Auftretenden ablesen lässt, sondern in den Verhandlungen und notwendigen Vorbereitungen, die jedem Auftritt vorausgehen. Auch wenn der Auftritt letztlich stattfindet und vom Theaterpublikum bestätigt wird, wird doch das Risiko seines Scheiterns genauso ausgestellt. So handeln die Inszenierungen immer auch von der prekären Situation jedes Auftritts.

F AZIT Der Auftritt der Zuschauer verweist auf die strukturellen Bedingungen des Dispositivs Theater. Die Auftritte richten den Blick auf jene Zurichtungen und institutionalisierten Vorgaben, die bereits vor dem ersten Auftritt da sind und jeden Auftritt von Zuschauern wie Akteuren mitkonstituieren. Jene Praktiken des Auftretens gehen über die Aufführung und deren Raum hinaus und verweisen auf die ökonomischen, politischen, historischen sowie sozialen Bedingungen des Vorgangs Theater. Das räumliche Verhältnis von On und Off wird dabei immer wieder neu konstalliert: als Akt des Abschließens und Trennens. Über Auftritte des Zuschauers wird der Apparat Theater selbst in Szene gesetzt – als Markierung der Trennung. Zugleich werden im Akt des Auftritts – die Bedingungen des Apparats bestätigt, verhandelt oder unterlaufen. So zeigen sich diese Trennungen als vorläufig und doch konstitutiv.

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L ITERATUR Abramović, Marina: »Body Art«, in: Marina Abramović/Antonio Ratti (Hg.), Marina Abramović, Mailand: Charta 2002, S. 27-39. Bennett, Susan: Theatre Audiences. A Theory of Production and Reception, London/New York: Routledge 2003. Brauns, Jörg: Schauplätze. Zur Architektur visueller Medien, Berlin: Kadmos 2007. Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Paradoxie des Zuschauens, Bielefeld: transcript 2008. Goffman, Irving: Rahmen-Analyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Heßelmann, Peter: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutscher Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750-1800), Frankfurt a.M.: Klostermann 2002. Montesquieu, Charles Louis de Secondat de: Lettres Persanes, Paris: Gallimard 1973. Roselt, Jens: Phänomenologie des Theaters, München: Fink 2008. Schechner, Richard: Essays on Performance Theory 1970-1976, New York: Drama Book Specialists 1977. Twain, Mark: »Travel Letters 1891-1892«, in: Chicago Daily Tribune, December 6, 1896. Wihstutz, Benjamin: Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheatertheater, Berlin: Diaphanes 2012. Woolf, Brandon: »(Gob Squad’s) Revolution Now! Or Never?«, in: TDR Vol. 55, (2011), S. 144-151.

Auftritte von Kindern Vorführung, Inszenierung, Teilhabe G EESCHE W ARTEMANN

Unter dem Titel Mütter.Väter.Kinder inszenierte Sebastian Nübling 2008 am Theater Freiburg ein Stück Familienforschung, in dem drei ›echte‹ Familien nebst ihrer ›echten‹ Kinder auftraten. Auch She She Pops Inszenierung Testament bringt die Performerinnen mit ihren Vätern auf die Bühne und thematisiert das Verhältnis der Generationen. Mit den Einladungen zum Theatertreffen (2011) und den Theaterformen (2013) zählt diese Produktion zu den bemerkenswertesten im deutschsprachigen Theaterraum der letzten zwei Jahre. Und im Januar 2012 war der populäre dänische Familienberater Jesper Juul im Rahmen des Freitag Salons ins Berliner Gorki Theater eingeladen. All diese Beispiele zeigen, dass ein aktueller Klärungsbedarf zwischen den Generationen besteht und auch im Theater die Rollen von Erwachsenen und Kindern reflektiert und verhandelt werden. In diesem Beitrag soll der Fokus auf Auftritte von Kindern im Theater gerichtet werden. Wie werden Kinder im Theater inszeniert? Und welche Figuren, welche Konzepte von Kindheit gehen aus diesen Auftritten hervor? Einer der wichtigsten Impulsgeber für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen und aktuellen Konzepten von Kindheit ist der Belgier Dirk Pauwels, einst Leiter des Victoria bzw. des Produktionshaus CAMPO in Gent. Innerhalb von zehn Jahren entstand hier eine Trilogie von Stücken mit Kindern als Darstellern für ein erwachsenes Publikum: Josse de Pauws üBUNG (2001), Tim Etchells That Night Follows Day (2007) und Gob Squads Before Your Very Eyes (2011). Ausgangspunkt der künstlerischen Konzeption war es, Kinder als Darsteller und Darstellerinnen eines experimentellen Theaters zu gewinnen. Dirk Pauwels begründet seine Idee so:

172 | G EESCHE W ARTEMANN »Vor ein paar Jahren, als CAMPO noch Victoria hieß, beschlossen wir, eine Trilogie zu machen, in der Kinder die Schauspieler sein sollten. Wir wollten dafür Theaterproduzenten ansprechen, die von sich aus nicht im Geringsten an einem solchen Ansatz interessiert sind, die damit keinerlei Erfahrung, geschweige denn ein Interesse an der Lebenswelt von Kindern haben. Sie wurden gebeten, ihren künstlerischen Schaffensprozess kurz für diese Herausforderung zu unterbrechen. Die Aufgabenstellung war klar: Eine Vorstellung aus rein künstlerischen Gründen zu machen, bei der alle pädagogischen Aspekte überhaupt nicht beachtet werden, bei der Kinder auf die gleiche Weise eingesetzt werden wie professionelle Darsteller; dass der Inhalt im Prinzip nicht berücksichtigen muss, was Kinder anspricht, dass die Kinder keinen Einfluss auf den Inhalt der Vorstellung haben.«1

Der so entschieden antipädagogische Gestus Pauwels kennzeichnet auch andere Auftritte von Kindern und Jugendlichen als Darstellerinnen und als Zuschauer im zeitgenössischen Theater. Stop teaching. Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen lautet zum Beispiel der Titel eines Bandes, in dem aktuellen Tendenzen von Inszenierungen mit Kindern und Jugendlichen nachgegangen wird, die sich selbst jenseits pädagogischer Zielvorgaben definieren.2 No education ist auch das Label für Angebote der Ruhrtriennale 2012-2014, die sich an Kinder und Jugendliche richten und eine grundlegend andere Sicht auf junges Publikum markieren als frühere Vermittlungsprogramme des renommierten Festivals wie zum Beispiel die Theaterakademie (Ruhrtriennale 2005 – 2007), in denen Kinder und Jugendliche den Vorträgen prominenter Theaterautoritäten lauschen durften und noch frontal in der Kunst des Theaters unterrichtet wurden. Die skizzierte antipädagogische Tendenz markiert einen aktuellen Wandel im Konzept von Kindheit und Jugend. Seit etwa fünfzehn Jahren wird eine Konzeption von Kindern als becomings, die in ihrer Entwicklung durch Erwachsene begleitet und gefördert werden müssen, durch Vorstellungen von Kindern als beings, die als Akteure sich und ihre Lebenswelt gestalten, abgelöst bzw. ergänzt.3 Auch im Theater führt diese veränderte Perspektive auf Kinder und Ju-

1

Pauwels, Dirk: »Kunst lässt sich nicht täuschen«, in: Kulturstiftung des Bundes (Hg.), Heimspiel 2011. Wem gehört die Bühne? Theater, Workshops, Symposium, Festival. Dokumentation, Halle a.d.S.: Kulturstiftung des Bundes 2011, S. 51-62, hier S. 57.

2

Primavesi, Patrick/Deck, Jan (Hg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen, Bielefeld: transcript 2014.

3

Vgl. z.B. James, Allison/Jenks, Chris/Prout, Alan: Theorizing Childhood, Oxford: Polity Press 2008; Qvortrup, Jens/Corsaro, William A./Honig, Michael-Sebastian (Hg.): The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Hampshire: Palgrave Macmillan 2009;

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gendliche dazu, sie stärker als bisher als Akteure auftreten zu lassen. Doch zu welchen Darstellungen und Begründungen führt es, wenn man im Theater den Bildungsaspekt als Motivation und Zielsetzung der Inszenierungen von Kindern weglässt? Wie werden Auftritte von Kindern und Jugendlichen jenseits pädagogischer Rahmungen inszeniert? Und welche kindlichen Figuren gehen aus diesen Auftritten hervor? Um diese Fragen soll es im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele gehen.

K INDER ALS V IRTUOSEN . D AS T HEATER ALS O RT VON U NTERHALTUNG UND KOMMERZIELLEM I NTERESSE Historische Beispiele für Auftritte von Kindern und Jugendlichen als professionelle Darsteller und Darstellerinnen jenseits pädagogischer Begründungen gibt es vor allem aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Für sogenannte Wunderkinder, darunter musikalische Virtuosen wie die Geschwister Mozart, aber auch Schauspieler wie zum Beispiel William Henry West Betty, gefeiert als Master Betty, begeisterte sich das Publikum vor allem in England und Frankreich. Im Theater traten die Kinderstars an großen Häusern und in großen Rollen auf, wie Gertraude Dieke in ihrer theaterhistorischen Untersuchung Die Blütezeit des Kindertheaters von 1934 darlegt. So spielte besagter ›Wunderknabe Master Betty‹4 zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dreizehn Jahren im Londoner Covent Garden Rollen wie Hamlet oder Macbeth. Für das Jahr 1771 ist dokumentiert, dass auch in Hamburg die Titelrolle in Lessings Emilia Galotti mit der 14-jährigen Charlotte Ackermann besetzt wurde. Dieke betont die höchste Anerkennung, die diese und andere Kinderdarsteller beim damaligen Publikum fanden, während sie zu den kulturgeschichtlichen Voraussetzungen dieses Phänomens keine weiterführenden Aussagen treffen mag.5 Der größere Teil ihrer Untersuchung widmet sich nicht individuellen Talenten, sondern den ebenfalls im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Kinderpantomimen. Sie existierten zwischen 1740 und 1820, also in einem Zeitraum von rund achtzig Jahren. Auch in den Kinderpantomimen traten Kinder als professionelle Darsteller vor erwachsenem Theaterpubli-

Uprichard, Emma: »Children as Being and Becomings – Children, Childhood and Temporality«, in: Children & Society 22 (2008), S. 303–313. 4

Dieke, Gertraude: Die Blütezeit des Kindertheaters. Ein Beitrag zur Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ( = Die Schaubühne. Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte, Band 8) Emsdetten: Lechte 1934, S. 6.

5

Vgl. G. Dieke: Die Blütezeit des Kindertheaters, S. 7.

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kum auf. Es waren wandernde Truppen, die nach ihren jeweiligen Prinzipalen benannt wurden. Besonderen Ruhm erlangten zum Beispiel die Pantomimen des Nicolini, der ab 1745 in Deutschland auftrat und große kommerzielle Erfolge feierte. In einem von Dieke zitierten Zeitzeugenbericht von 1746 heißt es: »Stellen Sie sich einmahl eine Bande von etwa einem Dutzend Knaben und Mägdleins, unterschiedlichen Alters, von 7. bis ohngefähr 14. Jahren [...] die das verliebte Wesen nebst ihren mancherley Thorheiten, mit nichts als stummen Gebährden, und doch auf das lebhafteste, vollkommmen darauf abgerichtet, vorzustellen suchen, und deren Vorstellungen zugleich mit der Ton-Kunst und derselben hierzu vollkommen übereinstimmenden Manieren vereinbart werden so, daß alles aufs genaueste auf dem Tackt und Schlag der Musik richtig passet [...].«6

Die Kinderpantomimen waren ein musikalisches Bewegungstheater, dessen Kunstfertigkeit der Darstellung, Kostüme, Szenografien und Bühnentechnik zu den avanciertesten ihrer Zeit zählten. Anerkennend kommentierte Gotthold Ephraim Lessing die technische Qualität der Darbietungen: »Die Pracht und Ordnung des Nicolinischen Theaters, sowohl in Ansehung der Malerei als der Maschinen, welche wir noch auf keinem Theater so vollkommen gesehen haben, besonders aber die ungemeine Geschicklichkeit der 6-12jährigen Pantomimisten, hatte schon vorigen Sommer [...] die Bewunderung vieler tausend Zuschauer auf sich gezogen [...].«7

Lessing selbst distanziert sich dennoch kritisch: »Endlich habe ich Ihnen gefolgt, und bin gestern in dem Nicolinschen Schauplatz gewesen. Es hat mir so wohl darinnen gefallen, daß ich niemals wieder hineinkommen werde. Was für ein sinnreicher Mann ist Nicolini! Uns seine kleinen Affen unter dem Namen Pantomimen aufzudringen!«8

Den Darstellenden der historischen Kinderpantomimen wird also immer wieder Virtuosität und Professionalität im Sinne ausgezeichneten handwerklichen Könnens zuerkannt. Worauf Lessings Rede von den »kleinen Affen« aber kritisch hinweist, ist das Dressurartige dieser Inszenierungen, die allein am kommerziel-

6

Ebd., S. 29.

7

Lessing, zit. n. ebd., S. 42.

8

Ebd., S. 41.

A UFTRITTE VON K INDERN | 175

len Erfolg ausgerichtet waren. Die Kinder waren professionelle, aber auch extrem fremdbestimmte Darsteller und Darstellerinnen, die materiell ausgebeutet und körperlich stark belastet wurden, wie eine überdurchschnittlich frühe Sterblichkeit dieser jungen Menschen belegt.9 In den Kinderpantomimen galt also das Interesse nicht einer spezifischen Kinderkultur, sondern dem Amüsement an einer theatral aufwendigen und technisch eindrucksvollen Darstellung von Erwachsenen en miniature: »Aus der Vorliebe für die Porzellankunst lässt sich auch ein wenig der Erfolg des Kindertheaters erklären. Es war dieses lebendig gewordene Kleinformat, welches das Publikum entzückte, die bunte Pracht der Harlekinaden, auf die sich das Kindertheater zuerst beschränkte. Nicht naives, kindliches ›Spiel‹ sah man oder wollte man sehen, sondern die kleine, entzückende Form, die graziösen, oft gerade in ihrer Unbeholfenheit so anmutigen Bewegungen der Figürchen, welche die modische Tracht der Erwachsenen oder das Typen-Kostüm der commedia dell’arte-Figuren trugen.«10

Eine solche der Unterhaltung, Schaulust und kommerziellem Interesse Erwachsener geschuldete Vorführung von Kindern als Erwachsene en miniature gibt es auch heute. Sie findet überwiegend im Unterhaltungsfernsehen ihren Platz – etwa als eigenes Format einer Mini-Playback-Show oder als gängige Einlage einzelner ›Wunderkinder‹ bei Casting- und Abendshows.

K INDER

ALS

D ARSTELLER . D AS T HEATER ALS O RT K INDHEIT

SELBSTREFLEXIVER I NSZENIERUNG VON

Im Spiegel des historischen Beispiels, bei dem Kinder ungeachtet ihrer besonderen körperlichen und seelischen Voraussetzungen als professionelle Darsteller eingesetzt wurden, kann auch die zeitgenössische antipädagogische Haltung fragwürdig erscheinen; denn auch sie birgt grundsätzlich eine Möglichkeit, Kinder für Darstellungsinteressen Erwachsener zu funktionalisieren. Die Herausforderung im Theater mit Kindern besteht deshalb darin, die mit ihm einher gehenden Projektionen der Erwachsenen zu reflektieren. Gob Squads Inszenierung Before your very eyes zeichnet sich genau dadurch aus, dass sie die Inszenierung von Kindern selbstreflexiv wendet. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das szenografische Konzept, wie ich nun genauer ausführen möchte.

9

Vgl. ebd., S. 94f.

10 Ebd., S 2.

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Die Aufführung von Before your very eyes beginnt, indem die Zuschauerinnen ihre Plätze einnehmen, während sich die darstellenden Kinder bereits auf der Bühne befinden. Ein Auftritt der Akteure wird so umgangen. Auf der Bühne steht eine Box mit gläserner Front, eingerichtet mit Sofa, Sesseln und Fernseher. Dem Charakter nach eher Garderobe oder Probenraum – also eigentlich das Off. Die sieben Kinder und Jugendlichen zwischen acht und fünfzehn Jahren blättern in Illustrierten oder erzählen sich etwas. Schließlich beginnen sie Blinde Kuh zu spielen. Das Publikum kann alldem zusehen, wird selbst jedoch nicht beachtet. Einen Auftritt in dem Sinn, dass zwischen Akteuren und Zuschauenden unterschieden wird, ein Moment also, der diese Funktionen etabliert und hervorbringt, gibt es bis dahin nicht. Ein, zwei Mal wird ein solcher Auftritt umspielt, wenn eines der Kinder an die zur Rampe gelegene Wand tritt, tänzelt, posiert, den Sitz der Haare prüft – aber die vermeintliche Hinwendung zum Publikum entpuppt sich schnell als ein Sich-selbst-spiegeln. Das Publikum ist für die Kinder und Jugendlichen auf der Bühne nicht sichtbar, da der Glaskasten, in dem sie sich befinden, von innen verspiegelt ist. Unvermittelt unterbricht ein black das Geschehen auf der Bühne. Das Dunkel macht eine ebenso knappe wie effektvolle Zäsur; denn als das Licht wieder an geht, stehen die Akteure im freeze und blicken ins Publikum. Für Sekunden ereignet sich ein frontales Gegenüber. Die Kinder unterbrechen ihr Spiel, verharren bewegungslos und richten alle Aufmerksamkeit in den Zuschauersaal. Waren sie bis dahin Objekte erwachsener Schaulust, markieren sie nun ihr Wissen um dieses Angeschautwerden. Es folgt ein weiteres black und im Hellen geht das Kinderspiel weiter wie zuvor. Und doch ist die Situation grundlegend verändert, weil mit diesem Auftritt der Kinder ein Kontrakt des Schauens und Angeschautwerdens etabliert wurde. Die dramaturgische Entscheidung, ihn als Unterbrechung vom restlichen Geschehen abzusetzen, wirkt als besondere Hervorhebung, die ihn jeder Selbstverständlichkeit enthebt und zum Gegenstand der Reflexion werden lässt. Die Figurenexposition ist damit noch nicht beendet: Eine kühle, freundliche Frauenstimme unterbricht das Bühnengeschehen: »Hi kids. How are you?« Die Kinder und Jugendlichen hören zu, warten ab. Die Stimme informiert sie darüber, dass alle im Publikum Platz genommen haben, dass sie die Kinder ansähen und es jetzt losgehen könne. Die jüngste Spielerin löst sich darauf hin aus dem Chor der Mitspielenden, der still stehen bleibt. Sie stellt sich frontal zu den Zuschauerinnen in der Mitte der Bühne auf und spricht, gleich einem akustischen Scheinwerfer, ins Mikrofon: »We were thinking a lot about death lately.« Der Satz bricht mit den Erwartungen im Zuschauerraum, die sogleich explizit gemacht werden: »You are so young. They want to see you carefree!«, kommentiert die Stimme aus dem Off. Nach einem weiteren black folgt ein Szenenwech-

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sel. Noch einmal beginnt die Aufführung mit der Ankündigung der Darsteller: »Gob Squad proudly presents...« Versprochen wird eine Show »mit echten Kindern«, in der wir als Zuschauer miterleben werden, wie vor unseren Augen sieben Leben im Schnelldurchlauf gelebt werden. Und unter dem Titel »Starring« treten zu Queens Song Don’t stop me now noch einmal alle Spieler nacheinander auf. So sind die quicklebendig tanzenden Darstellerinnen gleichzeitig live und als Videoprojektionen zu sehen – in Aufnahmen, die zu Beginn der Probenphase entstanden, mit deutlichem Altersabstand zur Live-Präsentation. Die Sequenz endet damit, dass eine Spielerin ein Mikrofon an die Brust des letzten Tänzers legt und die Stimme aus dem Off ergänzt: »That’s a good beginning – the sound of a small heart beating!« Fasse ich das bisher Gesagte noch einmal zusammen, ergibt sich daraus die folgende Figurenexposition: Zunächst sind die Kinder in einer theatralen Versuchsanordnung den Blicken des Publikums ausgesetzt, ohne selbst das Publikum wahrnehmen zu können. Es ist eine Art Wartesituation im Off, in der sie sich die Zeit mit belanglosen Beschäftigungen vertreiben. Plötzlich und sehr kurz wird diese Situation unterbrochen. Mit diesem Moment eines ersten Auftritts der Kinder werden die heimlichen Zuschauer mit ihrem eigenen Schauen konfrontiert. Das Vorspiel macht also das Schauen selbst thematisch und warnt das romantisierende Publikum: Die Kinder wissen natürlich um das Angeschautwerden und die Theatermachenden stellen die damit verbundene Schaulust, die Zuschreibungen und Erwartungshaltungen zur Diskussion. Auch der zweite Auftritt, bei dem ein einzelnes Kind an die Rampe tritt und zum ersten Mal spricht, ist nicht nur ein Einstieg ins Thema der Inszenierung, sondern zugleich Anlass mögliche Vorstellungen von Kindern und kindgemäßen Themen zu hinterfragen. Der dritte Auftritt schließlich führt die Spieler und Spielerinnen einzeln mit ihren Darstellerfertigkeiten vor. Ganz im Sinne von Dirk Pauwels eingangs zitiertem Konzept werden die Kinder und Jugendlichen nun als ebenbürtige, professionelle Darstellerinnen präsentiert. Die antipädagogische Haltung vermeidet einen defizitären Blick auf Kinder. Ihnen wird als Darsteller viel zugetraut und überdurchschnittlich viel zugemutet. Für die Kunst erweist sich dies als produktiv und innovativ. Die Lässigkeit und Energie der kindlichen Spielerinnen kontrastieren sinnfällig die Glanzlosigkeit des zukünftigen erwachsenen Daseins, von dem sie erzählen. Das erwachsene Publikum interessiert an dieser Darstellung nicht die Kinder als Individuen. Die Besetzung in Before your very eyes überzeugt als Darstellungsstrategie, die ernüchternde Durchschnittlichkeit der hier vorgeführten Stehpartys und Einsamkeit im Leben eines typischen Erwachsenen zu verfremden. Das Interesse der Erwachsenen gilt also nicht primär den Kindern, sondern einer Reflexion ihrer

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selbst. So schwärmt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung: »Es ist wahrscheinlich, zumindest für den etwa 46-jährigen Teil der Zuschauer, die schönste und wahrste Aufführung des Jahres.«11 Die ›Wahrheit‹ dieser Inszenierung liegt dabei nicht so sehr in den zum Teil recht klischeehaften Präsentationen eines etwa 46-jährigen Lebensalltags. Zur ›Wahrheit‹ der Inszenierung trägt vor allem die selbstreflexive Thematisierung der Kinder als Darsteller bei. Von der ironischen Ankündigung »echter Kinder« bis zur Maskerade der Kinder als Erwachsene, die sie in jedem Moment der Aufführung als Darstellerinnen von Erwachsenen sichtbar hält, ist diese Selbstreflexion erkennbar. Indem Gob Squad die Kinder und Jugendlichen als inszenierte präsentieren und Zuschreibungen und Schaulust der Erwachsenen befragen, lassen sie Kindheit als ein historisches und kulturelles Konzept hervortreten.

K INDER

ALS E XPERTEN . D AS T HEATER ALS GESELLSCHAFTLICHER T EILHABE

O RT

Zu den Aufführungen der Ruhrtriennale 2012 und 2013 werden Kinder in Autos vorgefahren, betreten über einen roten Teppich den Veranstaltungsort und nehmen unter dem Applaus des anwesenden erwachsenen Publikums ihre Plätze in den ersten Zuschauerreihen ein. Es handelt sich dabei um den Auftritt der »offiziellen Festivaljury« im Rahmen des Projekts The Children’s Choice Awards12 unter der Leitung von Mammalian Diving Reflex13. Diese »Performance einer Jury«14 changiert zwischen kunstkritischem Spaß der erwachsenen Initiatoren und der Ermächtigung der beteiligten Kinder und Jugendlichen. Die Kinder in dieser Weise auf dem Festival auftreten zu lassen, zielt zum einen darauf, erwachsene Festivalbesucher sowie Künstlerinnen zu überraschen und zu irritieren. Die Kinder wiederum bekommen über diese Darstellungsaufgabe Zugang zu Aufführungen und Begegnungen mit Künstlern, die ihnen ansonsten verwehrt

11 Laudenbach, Peter: »Na, wie ist dein Leben so gelaufen? Die Gruppe Gob Squad spielt im Berliner HAU das Erwachsenwerden und Altern durch – mit echten, lebenden Kindern«, in: Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2011, S. 13. 12 Siehe http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/produktionen/the-childrens-choiceawards/ vom 30.9.2013. 13 Siehe http://mammalian.ca vom 30.9.2013. 14 http://childrenschoiceawards.blogspot.de/2013/08/the-red-carpet-post-by-darren-odonnell. html#more vom 30.9.2013.

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blieben. Erläuternd schreibt der künstlerische Leiter des Projekts Darren O’Donnell: »Als performative Handlung tun wir alle so, als seien diese Jugendlichen etwas Besonderes. Eine Handlung, die zu dem wird, was sie vorgibt. [...] ›Diese Kinder sind wichtig genug für einen roten Teppich.‹ Wenn wir es vielleicht oft genug sagen, oft genug so tun als ob, oft genug dafür klatschen, wird es Stück für Stück wahrer.«15

The Children’s Choice Awards ist beispielhaft für eine Reihe aktueller Inszenierungen, in denen Kinder als Expertinnen auftreten bzw. im Probenprozess beteiligt werden. Gerade im Feld des Theaters für Kinder und Jugendliche war diese Entwicklung noch vor wenigen Jahren sehr umstritten. Mit der Begründung, dass es notwendig sei, zwischen professionellen Künstlern und theaterpädagogischen Formaten genau zu unterscheiden, sollten zum Beispiel die Bühnen beim renommierten Festival für junges Publikum Augenblick mal! den professionellen, erwachsenen Darstellerinnen vorbehalten bleiben. Diese Haltung hat sich grundlegend verändert, wie exemplarisch die Auszeichnungen und Popularität des Forschungstheaters von Sibylle Peters aus Hamburg oder die Einladung der Inszenierung 9 Leben des Jungen Ensembles Stuttgart (JES) zum Augenblick Mal! 2013 zeigen. Bei beiden hier nur stellvertretend erwähnten Beispielen werden Kinder und Jugendliche als Experten zu ausgewählten Themen konstitutiv an der Entwicklung und Aufführung von Inszenierungen beteiligt. Anders als noch im emanzipatorischen Theater der 1970er Jahre werden in zeitgenössischen Formen partizipatorischen Theaters mit Kindern nicht nur Modelle der Ermächtigung vorgespielt, die auf eine spätere Emanzipation von Kindern im sozialen Lebenszusammenhang zielen. Eine Ermächtigung und Teilhabe findet bereits im Prozess der Entwicklung und den Aufführungen von Inszenierungen statt, da diese den beteiligten Kindern und Jugendlichen sowohl Erfahrungsräume als auch Öffentlichkeit bieten. Sie können im Rahmen des Theaters die Welt erkunden, reflektieren und ihre hierfür gefundenen Darstellungen vor Publikum zeigen. Den Theatermachern, die Kinder als Expertinnen in ihre Inszenierungen einbinden, geht es allerdings nicht allein um das Interesse der teilhabenden Kinder. Auch das mag ein Unterschied zu den Begründungen des emanzipatorischen Theaters sein: Die Wahrnehmungen und das Wissen der Kinder werden ernsthaft als ein alle bereichernder Beitrag zu den jeweiligen Themen und Fragestellungen gesehen. Die Kinder, als Akteure der Kunst und des Theaters zu beteiligen,

15 http://childrenschoiceawards.blogspot.de/2013/08/ the-red-carpet-post-by-darrenodonnell.html#more vom 30.09.2013.

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ist damit nicht primär pädagogisch, also im Sinne eines entwicklungsfördernden Settings begründet. Vielmehr werden mit diesen teilhabenden Auftritten Kinder und Jugendliche als ein hörens- und sehenswerter Teil ihrer Gesellschaft ins Recht gesetzt, ihre Sicht auf Welt öffentlich zu präsentieren. In diesem Sinn entschied sich auch der japanische Regisseur Akira Takayama für jugendliche Schülerinnen und Schüler als Protagonisten seines referendum project16. Nach den einschneidenden Erfahrungen der Erdbeben- und Atomkatastrophe im März 2011 in Japan suchte Takyama nach einer Form, wie er im Rahmen des Theaters Zukunftsvisionen sammeln könne. Der Wiederaufbau hatte im großen Stil begonnen und der Glaube an den Mythos von Geschwindigkeit und Wachstum nach Beobachtung Takayamas noch an Dynamik gewonnen. Im Kontrast dazu sieht er das Theater als Raum, um eher kleine, flüchtige Dinge wie zum Beispiel die Stimmen von Schülerinnen vor der Vergessenheit zu bewahren: »Referendum Project has worked with hundreds of middle school students to collect their opinions. How will they reflect on today’s society? What are they thinking about now? What can we learn by listening to these young observers?«17

Mit seinem referendum project sammelt Takayama daher drei Arten von Stimmen: Es sind Interviews mit zur Zeit 440 Mittelschülern aus Fukushima und Tokio, es sind Befragungen der Zuschauerinnen, die sich diese Interviews auf DVD ansehen können und es sind Stimmen, die er im sogenannten ›Forum‹ sammelt. Das ›Forum‹ ist eine Diskussionsreihe zu Themen wie Atomkraft, japanischer Nachkriegsgeschichte und Demokratie mit jeweils geladenen Intellektuellen und Kulturschaffenden, die die Präsentationen der Jugendlichen rahmt. Die Inszenierung der Jugendlichen ist wenig spektakulär. Sie beantworten rasch einen Katalog der ihnen gestellten Fragen. Nur einmal, wenn sie eine Forderung an die Erwachsenen formulieren, sollen sie direkt in die Kamera blicken. Und um genau solche Durchschnittlichkeit ging es Akira Takayama: »Die Individualität der Mittelschüler ist begrenzt, als Filme hinterlassen sie eher schwachen Eindruck. Ich denke aber, das war gerade gut. Ich hatte angenommen, dass nach der Katastrophe, wo nicht nur der Boden, sondern die Gesellschaft insgesamt ins Wanken geraten war, wo alle sich wie ›verirrte Kinder‹ fühlten, Zukunftsvisionen sichtbar würden, wenn wir den Träumen und Wünschen von Mittelschülern lauschen. Aber bei der Reali-

16 Siehe http://www.referendum-project.com/about.html vom 30.09.2013. 17 Ebd.

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sierung habe ich festgestellt, dass [...] ihre Existenz mehr als jede andere Altersgruppe taumelt zwischen Eltern, Lehrern, Massenmedien [...]. Womöglich formulieren sie also nicht ihre eigenen Wünsche, sondern in ihren Worten sind unsere eignen Wünsche verborgen, die Vision einer Zukunft, die wir uns vorstellen. [...] Beim Sehen der Interviews hatte ich das Gefühl, dass meine eigene Stimme, die ihnen aufgenötigt wird, wie Papageiengeschwätz zu mir zurückkehrte. Wenn eine Stimme plötzlich einmal ausbrach, freute ich mich, einem Moment lang ›einem Anderen‹ begegnet zu sein.«18

Mit Akira Takayamas nüchternem, nicht idealisierendem Blick auf die von ihm befragten Jugendlichen erledigen sich Vorstellungen von Jugend als Träger von Veränderung, Aufbruch oder gar Revolte. Gleichzeitig beweist gerade diese schlichte Präsentation mittelmäßiger Mittelschüler, die kein Casting und keine Theater- oder Kunstschule durchlaufen, eine Humanität und Aufrichtigkeit, indem sie die Jugendlichen von solchen Erwartungen und Projektionen befreit, ihren Auftritt in der Öffentlichkeit nicht an den Nachweis besonderer Begabung oder Leistung bindet.

L ITERATUR Dieke, Gertraude: Die Blütezeit des Kindertheaters. Ein Beitrag zur Theatergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ( = Die Schaubühne. Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte, Band 8), Emsdetten: Lechte 1934. James, Allison/Jenks, Chris/Prout, Alan: Theorizing Childhood, Oxford: Polity Press 2008. Laudenbach, Peter: »Na, wie ist dein Leben so gelaufen? Die Gruppe Gob Squad spielt im Berliner HAU das Erwachsenwerden und Altern durch – mit echten, lebenden Kindern«, in: Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2011. Pauwels, Dirk: »Kunst lässt sich nicht täuschen«, in: Kulturstiftung des Bundes (Hg.), Heimspiel 2011. Wem gehört die Bühne? Theater, Workshops, Symposium, Festival. Dokumentation, Halle a.d.S.: Kulturstiftung des Bundes 2011, S. 51-62. Qvortrup, Jens/Corsaro, William A./Honig, Michael-Sebastian (Hg.): The Palgrave Handbook of Childhood Studies, Hampshire: Palgrave Macmillan 2009.

18 Unveröffentlichtes Manuskript zum Vortrag über das referendum project im Rahmen der Veranstaltung Sperrzone Japan – Ein Jahr nach Fukushima am Deutschen Theater Berlin, 03.03.2012, S. 4f.

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Uprichard, Emma: »Children as ›Being and Becomings‹ – Children, Childhood and Temporality«, in: Children & Society 22 (2008), S. 303–313.

Der Auftritt der Dinge Zu epistemischen und relationalen Objektbegriffen im Museum S TEFAN K RANKENHAGEN

Die Milch in einem Glas oder in einem Becher »tritt auf, wenn sie sich rahmet«. So schreibt es der Adelung von 1793.1 Milch tritt auf, wenn sie sich rahmt. Auch der Auftritt der Dinge ist demnach mit einer Veränderung von Qualität und Materialität verbunden, mit der Veränderung des spezifischen Zustands der Dinge. Geneigte Milchtrinker werden im hier beschriebenen Fall zu Zeugen eines Transformationsprozesses: Verwandelt sich die Milch in Rahm, so tritt sie auf. Nicht vollständig zu klären bleibt auch in dieser Definition aus dem späten 18. Jahrhundert, ob die Milch auftritt, während sie sich rahmt oder nachdem sie Rahm geworden ist. Das ist vorteilhaft, zumindest für die hier eingenommene Perspektive: bildet doch die Frage ›noch Milch oder schon Rahm‹ einen fragilen Zustand des Dazwischen, der im Folgenden hermeneutisch weiter ausgeschöpft wird. Tatsächlich kann der Auftritt der Dinge, so wie er im Folgenden anhand von Objekten in Museen, Ausstellungen und Sammlungen behandelt werden soll, als jener Moment beschrieben werden, in dem die Dinge ihren Zustand ändern. Im Museum, in einer Ausstellung und bereits in einer Sammlung werden Dinge zu historischen Objekten mit spezifischen, semantischen Qualitäten. Ein blutbeflecktes Hemd wird im Militärmuseum Belgrad zu einer ›Admiral uniform worn

1

Adelung, Johann C.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Elektronische Volltext- und Faksimile-Edition nach der Ausgabe letzter Hand Leipzig 1793–1801, Berlin: Directmedia 2004, Lemma »Auftreten«.

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by King Aleksander I on the day of his assasination‹; eine Platte der Sex Pistols im Londoner Victoria & Albert Museum zu einem ›Statement of Style‹ und eine Walter PPK im Imperial War Museum North ›tells a story about Odette Hallowes and Fritz Sühren‹. In der Terminologie des Historikers und Museumswissenschaftlers Krzysztof Pomian werden die Dinge im Moment ihres musealen Auftritts zu Semiophoren, sie sind »wertvoll, das heißt, man schreibt ihnen Wert zu, weil sie das Unsichtbare repräsentieren«2. Der Moment der Transformation ist in den hier angeführten Fällen entsprechend weniger deutlich zu beobachten, als im eingangs aufgeführten Beispiel der sich rahmenden Milch, deren nicht genanntes Vorbild die auftretende Schauspielerin ist. Ganz im Gegenteil besteht die Herausforderung im Auftritt der Dinge darin, einen symbolischen und damit unsichtbaren Verwandlungsprozess sichtbar zu machen: »Es geht hier um den ebenso offensichtlichen wie komplizierten Umstand, dass ein Ding seine Geschichte nicht sichtbar mit sich führt, dass ihm diese offenbar erteilt und abgesprochen werden kann, ohne – und darauf kommt es an – ohne, dass es seine äußere Gestalt dabei auch nur im geringsten verändern müsste.«3 Die äußerlich nicht sichtbare Verwandlung vom Ding zum historischen Ding – und damit die Verwandlung vom Ding zum Objekt4 – steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Welche Qualitäten und Funktionen, so wird im ersten Teil gefragt, werden den Dingen zugesprochen, die als Objekte auftreten? Und wie verändern sich jene Funktionen und Zuschreibungsprozesse im Auftritt der Dinge, zweitens, wenn jene vermehrt aus massenproduzierten, alltäglich bis banalen Gegenständen bestehen und abseits des musealen Regimes kuratorischer Expertise ihren Weg in das Museum finden? Bruno Latours Aus-

2

Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums: Vom Sammeln, Berlin: Wagenbach 2007, hier S. 50.

3

Geimer, Peter: »Über Reste«, in: Anke te Heesen/Petra Lutz (Hg.), Dingwelten – Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005, S. 109-118, hier S. 112, Herv. i.O.

4

Im Folgenden wird von Objekten gesprochen, wenn Dinge gemeint sind, die sich im Kontext des Museums und seiner Ausstellungen befinden. Dass auch der DingBegriff nicht neutral ist, sondern in einer Forschungstradition zwischen Sachkulturforschung (vgl. Kingery, David (Hg.): Learning from Things – Method and Material of Material Studies, Washington, D.C.: Smithsonian Institution Press 1996) und Phänomenologie steht (Heideggers Ding-Aufsatz findet eine Aktualisierung in Positionen der Gegenwart, vgl. Olsen, Bjørnar: In Defense of Things. Archeology and the Ontology of Objects, Lanham/New York/Toronto u.a.: AltaMira Press 2010), ist unzweifelhaft, soll hier aber nicht weiter thematisiert werden.

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führungen zu Quasi-Objekten bietet abschließend die Grundlage dafür, einen relationalen Objektbegriff in die Diskussion zu bringen, der die veränderten Auftrittsmöglichkeiten der Dinge in den Blick nimmt.

I. Ein großer Teil der Museumsforschung hat sich darauf geeinigt, dass ausgewählten Dingen eine intrinsische historische Qualität innewohne, die jene als natural born history ausweist. »Die Objekte sind Realien, die das Quellenmaterial […] unserer kulturhistorischen oder volkskundlichen Disziplinen darstellen«, schreibt Otto Homburger in seiner Museumskunde am Anfang des letzten Jahrhunderts.5 Was er dabei verschweigt, ist der Prozess der Objekt-Werdung und damit der Prozess der Musealisierung: Nur diejenigen Dinge, die durch einen sorgfältigen Prozess der Auslese zu Quellen der Geschichte gemacht worden sind, haben Bedeutung als Objekte. Der Prozess der Verwandlung hat sich dabei traditionell jenseits der Gegenwart vollzogen und muss von Institutionen und ihren Experten, seit dem 18. Jahrhundert übergreifend von einer liberalen Öffentlichkeit, nachträglich und kontinuierlich beglaubigt werden. Das Ding verändert in jenem Moment seine semantischen Qualitäten und wird zu einem Repräsentant des Abwesenden, in dem es zum historischen Objekt erklärt wird. Der Auftritt der Dinge ist ein Auftritt von Menschen. Eine sprechende Szene in dieser Hinsicht hat sich im frühen 19. Jahrhundert in London ereignet, als Teile des von Lord Elgin in Athen geraubten Skulpturenfries aus dem Parthenon Tempel dem British Museum zum Kauf angeboten wurden. Das britische Unterhaus setzte dafür eine Kommission ein, deren Report from the Selective Committee on the Earl of Elgin’s Collection von 1816 auf dem Auftritt einer Vielzahl von Experten und deren Befragung durch die Kommission fußt. Auch wenn die performative Dimension dieser Auftritte von Künstlern, Kunstkritikern und Parlamentsabgeordneten nicht mehr zu rekonstruieren ist, ist eine spezifische Struktur der Auftritte erkennbar, denn sie erfolgen nach einem klaren Muster. Mit dem ersten Satz wird jeweils der Status des Befragten geprüft, der als ein Kenner der Materie auftritt. »Are you well acquainted with the collection of Marbles brought to England by Lord Elgin? - I am.«6 Abgeprüft wird die be-

5

Homburger, Otto: Museumskunde, Breslau: Ferdinand Hirt 1924, S. 12.

6

Siegel, Jonah (Hg.): The Emergence of the Modern Museum. An Anthology of Nineteenth-Century Sources, Oxford: Oxford University Press 2008, hier S. 39.

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hauptete Expertise an dem Urteil, um das die Befragten im Folgenden jeweils gebeten werden. Dieses Urteil, das im Zuge der Auftritte den meisten Raum einnimmt, strukturiert sich in Angaben zu ästhetischem und monetärem Wert, zu Alter und Herkunft der Skulpturen sowie zum finalen Zweck des Ankaufs »as a National Object, that […] should become public property«7. Zentraler Frageund Antwortmodus ist dabei der Vergleich: »Do you think the Theseus is as fine a sculpture as the Apollo – I do. […] Do you consider the River God as considerably superior to the Theseus? – Yes, I do. – Then do you consider the Theseus as vastly inferior to the Torso of Belvidere? – I consider it considerably inferior, not vastly inferior.«8 Erst im Vergleich mit jenen Dingen, die bereits als Objekte in (britischen) Museen aufgetreten sind, erweisen sich die Qualitäten der Skulpturen aus dem Parthenon. Deren zukünftiger Auftritt schlussendlich wird entschieden durch die Zahl der parlamentarischen Stimmen: »The House divided: For the original Motion, 82; Against it, 30.«9 Den Dingen wird ein Auftritt im Museum gesichert, sofern ihnen Wert zugesprochen wird: monetärer Wert – wie ihn im vorliegenden Fall der Kunstkritiker Richard Payne Knight in Form einer exakten Auflistung der Kommission vorlegt10 – der sich wiederum an dem von den Experten veranschlagten historischen und ästhetischem Wert der Dinge bemisst; nationaler Wert, der als eine entscheidende Größe im 18. und 19. Jahrhundert die Gründung aller europäischer Museen11 und einiger außereuropäischer Museen12 beeinflusste; sowie Wert für die Öffentlichkeit, der sich als ein zukunftsorientierter Wert darstellt, ein Wert, der bildungspolitischen Fortschritt verspricht: »Do you think it of great importance to the progress of art in Britain, that this Collection should become the property of the Public – Of the greatest importance, I think.«13 Dinge werden vorrangig dann zu Objekten im Museum, sofern sie zu einem Anlass für Lern-

7

Ebd., S. 41.

8

Ebd., S. 41ff.

9

Ebd., S. 59.

10 Ebd., S. 47f. 11 Kaplan, Flora (Hg.): Museums and the Making of Ourselves. The Role of Objects in National Identity, London: Leicester University Press 1994. 12 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London: Verso 1983. 13 J. Siegel: The Emergence, S. 45. Vgl. zur Geschichte des Museums als Ort bürgerlicher Erziehungsansprüche u.a. Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1990.

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prozesse erklärt werden. Als Objekte im Museum erfüllen sie damit epistemische Funktionen: an ihnen sollen ihre abwesenden Qualitäten erkannt werden. Es ist deutlich, dass wir es im Auftritt der Dinge mit einem hochgradig vermittelten Prozess zu tun haben. Es beginnt mit einer Versammlung von Menschen, die über Dinge reden, sich über Dinge austauschen oder über Dinge streiten. Diese grundlegend soziale und politische Dimension im Auftritt der Dinge verweist auf die Etymologie des Wortfeldes, wie sie zentral Martin Heidegger heraus gestellt hat. »Unsere Sprache nennt, was Versammlung ist, in einem alten Wort. Dies lautet: thing.«14 So wie der Ting in den skandinavischen Sprachen bis heute den Ort des Parlaments bezeichnet, so benötigt der Auftritt der Dinge, dass sich Menschen öffentlich versammeln und in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Funktion – als Künstlerinnen, Kritiker, Politiker – in Szene setzen. Jene Versammlungen sind im 18. und 19. Jahrhundert vom Diskurs bürgerlicher Eliten geprägt15 – gleichzeitig ist schon an dieser Stelle zu beobachten, wie sich der zunächst begrenzte Versammlungsrahmen durch die mediale Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit vergrößert. Die oben zitierten Beiträge aus dem britischen Unterhaus wurden vom Penny Magazin veröffentlicht, Zeitschrift der progressiven ›Society for the Diffusion of Userful Knowledge‹, die sich der Bildung der Arbeiter- und unteren Mittelklasse verschrieben hatte. Die parlamentarische Verhandlung über den Ankauf der Marmorskulpturen wurde damit in die Öffentlichkeit hineingetragen; gesunkene Papier- und Druckkosten im 19. Jahrhundert sorgten darüber hinaus dafür, dass die Leserschaft des Penny Magazin auch Abbildungen der griechischen Skulpturen zu sehen bekam und sich so selbst als einen Teil der stattfindenden Meinungsbildung verstehen konnte. Zwischenergebnis: Im und seit dem späten 18. Jahrhundert treten Dinge, denen ein Auftritt im Museum winkt, als epistemische Objekte auf. Ihr Erkenntnisanspruch und -gehalt wird ihnen von Institutionen und Experten zugesprochen. Horizont jener Versammlung von Menschen ist »das Publikum als Träger der öffentlichen Meinung«.16 Bis in das 21. Jahrhundert hinein ist dies die dominierende Sicht auf museale Objekte geblieben. Dinge im Museum spielen eine

14 Heidegger, Martin: »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1959, S. 163-181, hier S. 172. 15 von Plessen, Marie-Louise (Hg.): Die Nation und Ihre Museen, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1992; Bennett, Tony: »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung – Politik eines Rituals, Zürich: Diaphanes 2010, S. 47-77. 16 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 55.

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»epistemische Rolle […] weil sie in absichtsvoll arrangierten epistemischen Kontexten, Ordnungen, Gefügen auftreten«.17 Auf diese Weise wird, wie Hans Jörg Rheinberger schreibt, »Sinn in sie investiert, sie werden durch Umstellung zu epistemischen Objekten, zu Erkenntnisdingen«.18 Auch differierende museumstheoretische Ansätze – etwa die seit Peter Vergos programmatischer Schrift New Museology starke semiotische Perspektive19 – halten an den epistemischen Qualitäten der Objekte fest und pointieren diese, indem sie einseitig deren Informationsgehalt stark machen20 oder Objekte gar als »spheres of static scientific knowledge«21 denken. Entsprechend statisch werden Objekt gewöhnlich ausgestellt: in Glasvitrinen, die im technischen Jargon ›Schneewittchensärge‹ genannt werden. Daran schließt sich die Frage an, ob sich der Auftritt der Dinge verändert, wenn sich der Auftritt der Menschen verändert, die für die Dinge sprechen und agieren. Verändern sich die den Objekten zugewiesenen Funktionen und Qualitäten in einer Gegenwart, in der die kuratorische Expertise von Akteuren außerhalb des Museums herausgefordert wird? Dies scheint mir die gleichsam unterirdisch verlaufende Kernfrage einer Diskussion zu sein, die damit beschäftigt ist, die Möglichkeiten und Qualitäten von Objekten für das 21. Jahrhundert neu zu definieren – und zwar so grundlegend, dass der amerikanische Museologe Steven Conn danach fragen kann, ob Museen überhaupt noch Objekte brauchen: ›Do museums still need objects?‹22

17 Korff, Gottfried: »Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen«, in: te Heesen/Lutz (Hg.), Dingwelten, S. 89-107, hier S. 96. 18 Rheinberger, Hans-Jörg: »Epistemologica: Präperate«, in: te Heesen/Lutz (Hg.), Dingwelten, S. 65-75, hier S. 65. 19 Vergo, Peter (Hg.): The New Museology, London: Reaktion Books 1989; Pearce, Susan M. (Hg.): Interpreting Objects and Collections, London: Routledge 1994. 20 Fayet, Roger: »Das Vokabular der Dinge«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (2007), S. 7-31. 21 Maranda, Lynn: »Museology: Back to Basics - Musealization«, in: ICOFOM Study Series (2009), S. 251-258, hier S. 258. 22 Conn, Steven: Do Museums still need Objects?, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2010.

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II. Selbstverständlich brauchen Museen den Auftritt museumseigener Objekte weiterhin. Nicht diese Frage steht zur Debatte, sondern der sich transformierende Auftritt der Menschen, die für die Dinge sprechen, die zu Objekten im Museum werden sollen. Wenn Conn schreibt: »the place of objects has shrunk as people have lost faith in the ability of objects alone to tell stories and convey knowledge«23, dann gilt dieser Vertrauensverlust nicht eigentlich den Objekten, sondern den Menschen, die Dinge zu Objekten erklären. Wendet man den Blick konsequent auf den Auftritt der Menschen, so ist zu beobachten, dass jene zwar immer noch in ihrer Expertise gefragt sind, dabei aber nicht mehr alleine stehen. Das Publikum außerhalb der Institutionen hat in größerem Maße Anteil an dem Auftritt der Dinge. Unter dem Begriff des ›participative collecting‹ gibt es seit den 1970er Jahren, vermehrt allerdings erst seit etwa 20 Jahren, eine Vielzahl an Ausstellungen zu beschreiben, die Teile der Öffentlichkeit aktiv in den Sammlungsprozess einbeziehen.24 Die von James Clifford anvisierte Idee des Museums als »contactzone« wird sukzessive Realität.25 Vor allem stadthistorische und ethnographische Museen nutzen das Potential ihrer lokalen Nachbarschaften zu gemeinschaftlicher Objektakquise und Ausstellungsvorbereitung.26 Seltener kommt es zu Prozessen, in denen das Publikum kuratorisch wirken kann und somit Entscheidungsfunktionen übernimmt, die den jeweiligen und sehr konkreten Auftritt der Dinge mitbestimmen. In der Ausstellung Familienmacher: Vom Festhalten, Verbinden und Loswerden des Wiener Volkskundemuseum von 2011/12 gab es diese Möglichkeit. Den Besuchern und Besucherinnen wurden drei Möglichkeiten angeboten, sich als Co-Kuratoren der Ausstellung zu verstehen und somit in deren Ästhetik ein-

23 Ebd., S. 7. 24 Kaiser, Wolfram/Krankenhagen, Stefan/Poehls, Kerstin: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2012, insb. S. 98-108. 25 Clifford, James: »Museums as Contact Zones«, in: ders., Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1997, S. 188-219. Diese Realität beschränkt sich auf einzelne Institutionen in Westund Nordeuropa sowie den USA. 26 Vgl. Gesser, Susanne/Handschin, Martin/Jannelli, Angela et al. (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012.

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zugreifen. Erstens konnten sie sich an der Gestaltung eines Familienalbums beteiligen indem sie eigene Fotografien einfügten. Vorgegeben waren Überschriften wie ›Auf dem Klavier‹, ›In der Brieftasche‹ oder ›In alten Koffern‹. Der persönlich zugewiesene Ort und Wert der Fotografien strukturierte ihre Ordnung als museales Objekt; das somit zustande gekommene Meta-Familienalbum durfte und sollte in die Hand genommen und durchgeblättert werden. Als zweites partizipatives Modell wurden die Besucherinnen aufgefordert, digitale Textmitteilungen, die zwischen den Familienmitgliedern ausgetauscht wurden, an das Museum zu schicken. Im Laufe der dann kommenden Tage erschienen die SMSNachrichten auf einer LED-Säule in der Ausstellung. Zusätzlich wurden sie ausgedruckt und in der Ausstellung ausgelegt, was den Besuchern das Angebot machte, die privaten Mitteilungen in Form einer szenischen Lesung vorzutragen. Schließlich fand sich in der Ausstellung ein sogenanntes Tauschregal, in dem Besucherinnen eigene Gegenstände mit familiärem Bezug hinterlassen konnten und/oder sich bereits vorhandene Gegenstände aus diesem Regal mitnehmen konnten. Für beides verlangte das Museum ausschließlich, dass eine Objektkarte ausgefüllt wurde, auf der neben einer Beschreibung des Gegenstandes Gründe für die Hinterlassung oder Entnahme aufgeführt wurden. Gegenstände, die hinterlassen, aber nicht mitgenommen wurden, befinden sich heute in der Sammlung des Volkskundemuseums. Es ist deutlich, dass die partizipativen Gestaltungselemente in der Ausstellung Familienmacher mit der ideengeschichtlichen Tradition der Institution Museum brechen wollen. Als eine Erfindung der Aufklärung operiert das moderne Museum seit der Eröffnung des Louvre im Jahr 1793 mit der Inthronisierung des bürgerlichen Blicks: »Das Museum der Aufklärung […] etablierte durch die Lenkung des Blicks eine hierarchische Beziehung zwischen Kuratoren und Besuchern, bei der Letztere, indem sie sich unter die Leitung Ersterer begaben, zur Erkenntnis der vernünftigen Ordnung geführt wurden.«27 Die inszenierte Distanz zwischen Objekt und Betrachter wird zur Voraussetzung für ein konzentriertes Sehen gemacht, das wiederum zum gebildeten Ein-Sehen der Besucher führt.28 In den oben beschriebenen Momenten der Wiener Ausstellung wird genau jene Distanz zu den Objekten offensiv aufgehoben, um eine im erweiterten Sinne

27 Bennett, Tony: Der bürgerliche Blick, S. 58. 28 Im Unterschied etwa zum zerstreuten Blick der unteren Klassen, der im Museum diszipliniert werden soll. Siehe hierzu Hornberger, Barbara/Krankenhagen, Stefan: »Popund Medienkultur in der Kulturellen Bildung«, in: Hildegard Bockhorst/VanessaIsabelle Reinwand/Wolfgang Zacharias (Hg.): Handbuch Kulturelle Bildung, München: Kopaed, S. 501-505.

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teilnehmende Haltung zu provozieren. »The displays permitted visitors’ actions and interventions, which showed that objects can be seen as a materiality-in-use by social practices«, schreiben die Ausstellungsmacherinnen retrospektiv.29 Gleichzeitig ist damit noch nichts über die Konsequenzen partizipativer Praktiken für den Objektbegriff gesagt. Dies bleibt – neben den ebenfalls nicht in den Blick genommenen ästhetischen Dimensionen – eine Leerstelle in der stetig wachsenden Literatur zum Thema.30 Die Forschung konzentriert sich stattdessen überwiegend auf die sozialen und kulturpolitischen Implikationen des participative turn; auf damit einhergehende »größere gesellschaftliche Akzeptanz und Relevanz« von Museen, auf »einen Zuwachs sozialer und kultureller Kompetenzen« und auf »mehr ›social inclusion‹«31. Wenn also ein veränderter Kreis an Menschen unter veränderten Bedingungen für die Dinge auftritt, welche Objekte werden dann in den Museen ausgestellt – und welche Funktionen sollen sie dabei erfüllen? Am Beispiel der Familienmacher-Ausstellung ist zu beobachten, wie alltäglich und unbedeutend die Dinge sind, die durch den Auftritt der Besucher zu Objekten im Museum geworden sind: Kuscheltiere und Supermarkt-Quittungen, Eintrittskarten für die Oper oder Sektgläser landen in der Ausstellung. Vergleichbar habe ich an anderer Stelle Telefonkarten und Satellitenschüsseln, Kaffeetassen und Döner-Equipment beschrieben und darüber nachgedacht, welchem Umstand wir ihren Auftritt in europäischen Museen der Gegenwart verdanken.32 Es scheint mir, als ob wir es hier nicht mit einem kulturgeschichtlichen Interesse an den Dingen in ihrer Alltäglichkeit;33 und auch nicht mit einer Aufwertung von seriell produziertem

29 Dankl, Kathrina/Mimica, Tena/Nieradzik, Lukasz et al.: »Fault lines of participation: An ethnography translated into an exhibition on family and kinship«, in: Museum and Society 11/1 (2013), S. 82-99, hier S. 92. 30 Crooke, Elisabeth: Museums and Communities. Ideas, Issues and Challenges, London/New York: Routledge 2007; Kreps, Christina: Liberating Culture. Cross-Cultural Perspectives on Museums, Curation, and Heritage Preservation, London: Routledge 2003; Silverman, Lois H.: The Social Work of Museums, London/New York: Routledge 2010; Simon, Nina: The Participatory Museum, Santa Cruz: Museum 2.0 2010. 31 S. Gesser et al.: Das partizipative Museum, S. 11. 32 Krankenhagen, Stefan: »Collecting Europe: On the Museal Construction of European Objects«, in: Kjerstin Aukrust (Hg.), Assigning Cultural Values, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2013, S. 253-269. 33 Vgl. Ruppert, Wolfgang (Hg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt a.M.: Fischer 1993.

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Abfall zu tun haben, wie dies ein Fokus der Mundane-Studies ist.34 Stattdessen werden die Dinge gerade aufgrund ihrer epistemischen Bedeutungslosigkeit zu Objekten im Museum: sie bedeuten nicht das Unsichtbare, das noch zu Erkennende, sondern sie bedeuten das Relationale. Man lernt nicht von ihnen, sondern man macht etwas mit ihnen.

III. Bruno Latour hat sich von Michel Serres den Begriff des Quasi-Objekts geliehen und baut jenen in seine Überlegungen zur Gleichzeitigkeit von modernem und vor-modernem Umgang mit den Dingen ein: »dieses Quasi-Objekt, das [wir] alle geschaffen haben, diese Objekt-Diskurs-NaturGesellschaft, deren neue Eigenschaften uns alle verwundern und deren Netz sich von meinem Kühlschrank bis zur Antarktis erstreckt, auf dem Weg über die Chemie, das Recht, den Staat, die Ökonomie und die Satelliten. Die Gemenge und die Netze, die keinen Platz hatten, haben nun den ganzen Platz für sich. Sie gilt es zu repräsentieren, um sie herum versammelt sich von nun an das Parlament der Dinge.«35

Latours Angriff gilt dem Auftritt ver-objektivierter Objekte in Wissenschaft und Politik, in Kunst und Religion.36 Es ist hier nicht der Platz, um Latours Argumente im Kontext der Wissenschaftstheorie zu diskutieren. Stattdessen soll sein Angebot genutzt werden, um einen relationalen Objektbegriff auch für museale Objekte zu entwickeln und jenen als Erklärung für das Auftreten von epistemisch unterforderten Objekten im Museum – Einkaufszettel, Sektgläser und Telefonkarten – aufzugreifen. Relationale Objekte sind dadurch gekennzeichnet, dass sie als Mittel und als Mittler für Prozesse der Teilhabe, des Austauschs und der Bewegung innerhalb von sichtbaren oder nicht-sichtbaren Netzwerken fungieren. In diesem Sinn ergibt sich ihr musealer Wert aus diesen tendenziell flüchtigen Qualitäten. Folg-

34 Murphey, Cullen: »Out of the Ordinary. Mundane Studies Comes to Age«, in: Atlantic Monthly 10 (2001), S. 30ff. 35 Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 191. 36 Vgl. zu Erstem: Latour, Bruno: Von der Realpolitik zur Dingpolitik oder Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin: Merve 2005; zu Zweitem: Latour, Bruno: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges?, Berlin: Merve 2002.

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lich ist es entscheidend, dass Objekte im Museum in den Stand versetzt werden, relationale Qualitäten zu bedeuten und das heißt: sichtbar zu machen. Damit transformieren sie den traditionell wirksamen Moment der Fixierung, der den Objekten im Zuge ihrer Musealisierung diskursiv und performativ zugesprochen wird. Stattdessen werden an relationalen Objekten Modi der Teilhabe wirksam, sie präsentieren sich in Form von Netzwerken und sie beschreiben eine Bewegung innerhalb und zwischen verschiedenen Netzen. Relationale Objekte sind demnach kollektiv bewegte Objekte, die auf Austausch hinweisen und jenen zur selben Zeit praxeologisch initiieren und prozessieren. Für die Objekte im Museum bedeutet dies, dass sie plötzlich und unerwartet in einen Kreislauf des Austauschs geraten, der in einem Prozess der Valorisierung und De-Valorisierung aus Dingen Objekte und aus Objekten wieder Dinge macht. Eine der Bedingungen für den Auftritt der Dinge als museale Objekte tritt somit außer Kraft: »In ihrer Eigenschaft als Semiophoren werden sie aus dem ökonomischen Kreislauf herausgehalten.«37 Hier aber, etwa in der Familienmacher-Ausstellung in Wien, können die Dinge, denen musealer Wert zugeschrieben worden ist und die entsprechend in einem Ausstellungsregal gezeigt wurden, wieder entnommen werden; sie bekommen ihre alltagsorientierte Nützlichkeit zurück. Ein Sektglas wird unbrauchbar gemacht, indem es ausgestellt, und wieder brauchbar gemacht, indem es entnommen wird. In der Ausstellung führte dies zu vehementen Verunsicherungen auf Seiten der Museumsmitarbeiterinnen und des Publikums. »Precisely this action – that visitors could take something that was part of the display – is taboo in a museum. The concerns reported here show the stability of this element of the museological dispositive; a curatorial decision to change it is not enough.«38

Rezeptiv rechnen sowohl das Museumspublikum als auch die Angestellten mit epistemischen Objekten, deren Bedeutungsgehalt auf Unendlichkeit fixiert ist; das Angebot, museale Objekte relational zu verstehen und im buchstäblichen Sinn zu begreifen, irritiert dagegen das Dispositiv des Museums. Im relationalen Objektbegriff oszilliert ein moderner wie vormoderner Umgang mit den Dingen. Marcel Mauss hat in seinen Beobachtungen bei indigenen Völkern die Praxis der Gabe als Kreislauf von Geben, Nehmen und Weitergeben beschrieben; die (heiligen) Dinge dienen als Mittler und Repräsentanten des

37 Pomian, Krysztof: Der Ursprung des Museum, S. 50. 38 Dankl, Katharina et al.: Fault lines of participation, S. 92.

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Austauschs.39 Latour forciert diese handhabbaren Qualitäten der Dinge und überträgt sie auf epistemische wie ästhetische Objekte: »Was würde geschehen, wenn durch die Aussage, ein Bild sei durch Menschenhand geschaffen, man seinen Wahrheitsgehalt erhöhte, anstatt ihn herabzusetzen? […] Dann könnten wir sagen – entgegen dem kritischen Drang – daß je mehr Menschen am Werk gezeigt werden, desto besser ihr Begreifen von Realität, Heiligkeit, Verehrung.«40 Nichts anderes geschieht in den partizipativen Praktiken aktueller Ausstellungsgestaltungen. Nicht nur, dass die Objekte durch mehrere Hände gehen, die Handhabung selbst wird zu einem sichtbaren Teil der Ausstellungspraxis.

IV. So wie die Wissenschaftstheorie Latours das statische Netzwerk-Modell der Moderne zugunsten einer Vorstellung von Netzwerken als Aufzeichnungsapparat vielfältiger Bewegungsspuren ablöst, so verschiebt sie auch die Frage nach den gesellschaftlichen Akteuren, die jene Bewegung auslösen. Im hier verhandelten Fall ging es um die Frage, wie der Auftritt der Dinge im Museum vom Auftritt der Menschen präfiguriert wird und was es für den Objektbegriff bedeutet, wenn sich jener Auftritt durch die Einbindung einer nicht-professionellen kuratorischen Praxis von Besuchern verändert. Es ist deutlich geworden, dass ein relationaler Objektbegriff die Verschiebungen aufgreifen kann, die die Institution des Museums aufgrund eines participative turn in den letzten Jahren erfahren und angestoßen hat. Legitimiert wird der Auftritt solcher partizipativ generierten Dinge im Museum weniger durch ihren Erkenntniswert als durch ihre praxeologische Handhabung unterschiedlicher Akteure. Gleichwohl verliert sich der epistemische Anspruch, der mit dem Auftritt der Dinge im Museum verbunden ist, nicht vollends. Vor allem im Zusammenhang partizipativer Sammlungs- und Ausstellungsprojekte treten Wissenschaftler und Kuratorinnen als Stellvertreter und Vermittler der teilnehmenden Besuchergruppen auf. Partizipativ ausgerichtete Ausstellungen sind sehr häufig angebunden an Forschungsprojekte oder sind sogar – wie im Wiener Fall – als eine Einheit konzipiert. Dennoch sollten wir in diesen Fällen nicht von Akteuren und ihren tatsächlich vorhandenen subjektiven Intentionen sprechen, sondern präziser von Aktanten: »An actant can literally be anything provided it is granted to be the source of

39 Mauss, Marcel: Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 40 Latour, Bruno: Iconoclash, S. 18, Herv. i.O.

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an action.«41 Um die Subjekt Zentrierung der Moderne zu verundeutlichen (nicht aufzulösen, eine Idee ist nicht durchzustreichen), bringt Latour den Begriff des Aktanten ein, der als ein Auslöser von Bewegung und Handlung fungiert und damit den Grad der Vermitteltheit weiter steigern, nicht reduzieren soll. In diesem Sinne als Aktanten verstanden, prozessieren und dokumentieren Wissenschaftlerinnen und Kuratoren, Objekte und akademische Texte, Aufsichtspersonal und Besucher den Auftritt der Dinge als gemeinsam vermittelte Handhabung: »This quasi-object, when being passed, makes the collective, if it stops, it makes the individual.«42 Der Auftritt der Dinge als relationale Objekte löst markante Positionen – wie die der Experten, der Institution, der Tradition – nicht auf; aber er reiht jene Aktanten in einen kontinuierlichen Verwandlungsprozess ein, in dem sich nicht nur Milch in Rahm, sondern auch Rahm in Milch verwandeln kann. Transformationen zeigen sich hier als Substanzen.

L ITERATUR Adelung, Johann C.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Elektronische Volltext- und Faksimile-Edition nach der Ausgabe letzter Hand Leipzig 1793–1801, Berlin: Directmedia 2004. Lemma »Auftreten«. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London: Verso 1983. Bennett, Tony: »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung – Politik eines Rituals, Zürich: Diaphanes 2010, S. 47-77. Clifford, James: »Museums as Contact Zones«, in: ders., Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1997, S. 188-219. Conn, Steven: Do Museums still need Objects?, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2010. Crooke, Elisabeth: Museums and Communities. Ideas, Issues and Challenges, London/New York: Routledge 2007.

41 Latour, Bruno: »On Actor-Network-theory. A few Clarifications«, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369-381, hier S. 373. 42 Serres, Michel: The Parasite, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1980, hier S. 239.

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Dankl, Kathrina/Mimica, Tena/Nieradzik, Lukasz et al.: »Fault lines of participation: An ethnography translated into an exhibition on family and kinship«, in: Museum and Society 11/1 (2013), S. 82-99. Fayet, Roger: »Das Vokabular der Dinge«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (2007), S. 7-31. Geimer, Peter: »Über Reste«, in: Anke te Heesen/Petra Lutz (Hg.): Dingwelten – Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005, S. 109118. Gesser, Susanne/Handschin, Martin/Jannelli, Angela et al. (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld: transcript 2012. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962. Heidegger, Martin: »Das Ding«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1959, S. 163-181. Hornberger, Barbara/Krankenhagen, Stefan: »Pop- und Medienkultur in der Kulturellen Bildung«, in: Hildegard Bockhorst/Vanessa-Isabelle Reinwand /Wolfgang Zacharias (Hg.): Handbuch Kulturelle Bildung, München: Kopaed, S. 501-505. Homburger, Otto: Museumskunde, Breslau: Ferdinand Hirt 1924. Kaiser, Wolfram/Krankenhagen, Stefan/Poehls, Kerstin: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2012. Kaplan, Flora (Hg.): Museums and the Making of Ourselves. The Role of Objects in National Identity, London: Leicester University Press 1994. Kingery, David (Hg.): Learning from Things – Method and Material of Material Studies, Washington, D.C.: Smithsonian Institution Press 1996. Korff, Gottfried/Roth, Martin (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1990. Korff, Gottfried: »Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen«, in: Anke te Heesen/Petra Lutz (Hg.): Dingwelten, S. 89-107. Krankenhagen, Stefan: »Collecting Europe: On the Museal Construction of European Objects«, in: Kjerstin Aukrust (Hg.), Assigning Cultural Values, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2013, S. 253-269. Kreps, Christina: Liberating Culture. Cross-Cultural Perspectives on Museums, Curation, and Heritage Preservation, London: Routledge 2003. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

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Im Off Dhorasoo und Rosencrantz und Guildenstern S TEFANIE D IEKMANN

Das sogenannte Off lässt sich auf verschiedene Weise als Ort eines Auftritts etablieren: durch akustische Signale, durch den Verweis auf Handlungen, die sich außerhalb der Szene abspielen, unter Umständen aber auch dergestalt, dass der Blick von dem Ort, der bislang als Szene figurierte, auf jenen gerichtet wird, der zugleich im Abseits der Szene und in ihrer unmittelbaren Nähe liegt. Tatsächlich beschreibt die Formel ›im Abseits und in unmittelbarer Nähe‹ genau jene Raumbeziehung, die für das Off konstitutiv ist, mit dem entscheidenden Zusatz, dass diese Nähe zugleich über- und unterdeterminiert erscheinen muss, da das Off als Schauplatz auf einen anderen Ort, das On, bezogen ist. Die Mise en Scène des Off hat inzwischen eine gewisse Tradition: in der englischsprachigen Dramenliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts (die deutschsprachige liefert immerhin einige Szenen und Einakter aus Theatergarderoben), im postdramatischen Theater des 21. Jahrhunderts, im Autoren- und Experimentalkino seit den 1960er Jahren; aber auch in Dokumentarfilmen, die sich an einem Blick hinter die Kulissen von Theaterbühnen versuchen. Fast immer geht es dabei um den Versuch, das Off als Schauplatz aufzuwerten: als Ort der gleichwertigen Verwicklung in Michael Frayns Noises Off;1 als Kulisse des größeren Dramas in Ronald Harwoods The Dresser;2 als konkurrierender oder exklusiver Schauplatz in den Produktionen von Frank Castorf, René Pollesch, She She Pop, die zur historischen Mythifizierung des Off in einem Verhältnis mehr oder we-

1

Frayn, Michael: Noises Off. A Play in Three Acts, New York: Anchor Books 2000.

2

Harwood, Ronald: »The Dresser«, in: ders., The Collected Plays of Ronald Harwood, London: Faber and Faber 1993, S. 63-137.

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niger deutlicher Ironisierung stehen. In den Filmen von Jacques Rivette figuriert das Off als Ort der Intrige und Verschwörung, andere Filmemacher, wie John Cassavetes, Arnaud Desplechins, Abdellatif Kechiche,3 hängen eher der Idee des konkurrierenden Schauplatzes an; aber ganz gleich, wie die Mise en Scène im einzelnen Fall gestaltet ist, erscheint sie tendenziell als eine Arbeit wider die Fliehkräfte, die Zentrifugalität, die sich aus der emphatischen Verknüpfung von Off und On ergeben. Wie alle Tendenzen kennt auch diese ihre Ausnahmen. Und wie alle Ausnahmen sind die zwei, mit denen die folgenden Überlegungen befasst sind, dennoch geeignet, etwas über den Regelfall zu erzählen. Dieser Fall ist einer des verschobenen Ortes, auch: der verschobenen, aufgeschobenen Handlung, des Auftritts, der auf sich warten lässt, oder, irritierender noch, eines Auftritts, der nicht mehr stattfinden wird und vielleicht auch nie stattfinden sollte.

S UBSTITUTE Der Film SUBSTITUTE (F 2007) ist, wie in solchen Fällen gerne formuliert wird, ein Film von und mit Vikash Dhorasoo, 2007 auf der Berlinale und auf anderen Filmfestivals präsentiert und allgemein wohlwollend rezensiert. Dass er sich eher mit einer Konstellation als mit einer Handlung befasst, ist für seine Beschreibung nicht ganz unwichtig. Und dass er nicht so sehr ein erfolgreiches als vielmehr ein suspendiertes Projekt dokumentiert, hat zu seinem Erfolg zweifellos beigetragen. Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wird dem Mittelfeldspieler Dhorasoo, zu diesem Zeitpunkt unter Vertrag beim Verein Paris Saint-Germain, von dem Filmemacher Fred Poulet eine Kooperation vorgeschlagen, in der es darum geht, Material für eine WM-Dokumentation zu sammeln. Wie die Dokumentation aussehen und was sie im Einzelnen dokumentieren soll, bleibt dabei zunächst relativ offen. Dhorasoo bekommt eine Super8-Kamera und wird filmen, was ihm vor diese Kamera kommt: nicht bei seinem Einsatz auf dem Spielfeld (von dem ja ohnehin Aufnahmen zu sehen sein werden, aus allen möglichen Blickwinkeln und auf so und so vielen Fernsehkanälen), sondern zwischen den Spieleinsätzen, davor, danach, in Aufzeichnungen von je vier Minuten (was der standardisierten Länge eines Super8-Filmes entspricht). Was daraus montiert

3

OPENING NIGHT (USA 1977, R: John Cassavetes;); ESTHER KAHN (F/USA 2000, R: Arnaud Despechins); L’ESQUIVE (F 2001, R: Abdellatif Kechiche).

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werden könnte, wäre dann ein Bericht aus dem Inneren der französischen Equipe, mit der Dhorasoo zur WM in Deutschland anreist. Abbildung 1: Ikonografie des Wartens – Fussballspieler mit Handkamera (Super 8)

Quelle: Fred Poulet, Vikash Dhorasoo, SUBSTITUTE (F 2007), Screenshot.

Die Kooperation startet also, die WM auch, und was sich dann, ziemlich bald, als Status quo des laufenden Filmprojekts etabliert, ist, dass die Leitung der Equipe kein besonderes Interesse zeigt, Vikash Dhorasoo von Paris SaintGermain bei der WM einzusetzen. Tatsächlich spielt er nur bei zwei Gelegenheiten, beide Male in der Vorrunde, zehn Minuten gegen die Schweiz, sechs Minuten gegen Südkorea, danach nicht mehr, bis zum Ende der WM am 9. Juli 2006. Um es in einem Satz zu sagen: Dhorasoo macht sich auf, bei der WM zu spielen und kommt dann so gut wie nicht auf den Platz. Er wird aber auch nicht einfach wieder nach Hause geschickt, sondern ist verpflichtet, sich zur Verfügung zu halten. Und weil er ziemlich viel Zeit hat und eine Super8-Kamera im Gepäck, fängt er irgendwann an, dort zu filmen, wo er sich gerade befindet. Nicht auf dem Platz, bei den anderen Spielern. Nicht auf der Tribüne, bei den Zuschauern. Stattdessen in Hotelzimmern und gelegentlich auf Ersatzbänken (dort filmt ihn dann der Filmemacher Fred Poulet), immer mit der Aussicht, zu einem unbestimmten Zeitpunkt doch noch in das Geschehen einzutreten. Der Film SUBSTITUTE enthält viele von Dhorasoos Super8-Aufnahmen. Er enthält außerdem einige der Videoaufzeichnungen Poulets, die sehr oft bei Fahr-

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ten zwischen den Städten entstehen, in denen die Equipe ihre Spiele auf dem Weg ins Finale austrägt, oder von den hinteren Rängen des Stadions aufgezeichnet werden, in denen das jeweilige Match, ohne Dhorasoo, gerade stattfindet. Was als eine Dokumentation aus dem Off der französischen WM-Einsätze konzipiert war, ist eine Dokumentation aus dem Off der französischen WM-Einsätze geworden. Nur hat dieses Off nichts von dem zu bieten, was eigentlich erwartet wurde: Bilder aus dem Mannschaftsbus, der Kabine; Fußballspieler in der Umkleide, der Dusche, bei der Beratung oder beim Feiern, kurz: eine kleine Inventur der aufregenden Zwischenzeiten, in denen die Auftritte auf dem Spielfeld vor- und nachbereitet werden. In dem Off, in dem Dhorasoo sich befindet, passiert nicht viel, außer Warten. Es ist ein einsamer Ort, ein Ort der Langeweile auch, seltsam konturlos und in seinen Grenzen alles andere als klar markiert. Abbildung 2: Ikonografie des Wartens – Leerer Hotelkorridor

Quelle: Fred Poulet, Vikash Dhorasoo, SUBSTITUTE (F 2007), Screenshot.

»The action takes places in and around the World Championship«: In dieser Formel ließe sich der Film SUBSTITUTE resümieren. In als eine Chiffre für jene zehn plus sechs Minuten, in denen Vikash Dhorasoo sich auf dem Spielfeld befand. Around für den Rest der Zeit, drei Wochen und ziemlich viele Filmminuten, in denen er mit der Situation konfrontiert ist, nicht drin, nicht dabei, aber auch nicht ganz draußen zu sein.

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I M O FF Es gibt einige Parallelen zwischen der Situation des Mittelfeldspielers Dhorasoo und der Situation der beiden Hauptfiguren jenes Theaterstücks, dessen Handlung nach Auskunft des Vorsatzblattes »in and around the action of Hamlet« angesiedelt ist. Das Theaterstück wurde vierzig Jahre vor der Premiere von SUBSTITUTE unter dem Titel Rosencrantz and Guildenstern Are Dead am Royal National Theatre in London uraufgeführt.4 Und wenn zugleich gewisse Unterschiede zwischen der einen und der anderen Situation bestehen, ändern sie doch nichts daran, dass sie ein Standardszenario auf interessante Weise modifizieren. Die Grundsituation: Dhorasoo wartet, Rosencrantz und Guildenstern warten – alle darauf, dass sie endlich ins Spiel kommen. Und Rosencrantz und Guildenstern warten außerdem noch darauf, dass man ihnen erklärt, was eigentlich gespielt wird und welche Rollen in dem Spiel für sie vorgesehen sind. (Dhorasoo ist in dieser Hinsicht besser orientiert. Er kennt das Spiel und seine Rolle. Was er nicht weiß, ist, warum er sie nicht spielen darf und seine Position ständig mit Zinédine Zidane besetzt wird.) Der anhaltenden Desorientierung wird bei Stoppard immer wieder in räumlichen Metaphern und solchen der Bewegung im Raum Ausdruck gegeben: »You seem to have no conception of where we stand!« – »I like to know where I am.« – »We have nothing to go on.«5 Nicht wissen, was gespielt wird, ist hier gleichbedeutend damit, nicht zu wissen, wo man steht: seitab, so viel ist klar; aber auf welcher Seite, und wie bewegt man sich von dort in das Spiel hinein? Solange Rosencrantz und Guildenstern nicht wissen, was gespielt wird, hängen sie weiter auf der Bühne herum, mehr oder weniger so, wie Dhorasoo in verschiedenen Hotelzimmern und -anlagen herum hängt, und hier wie dort läuft nicht weit von dort, wo gewartet wird, das ganz große Spiel, das im einen Fall WM heißt und im anderen Hamlet. Auch in Rosencrantz and Guildenstern wäre also der Schauplatz der Handlung als Off zu bezeichnen; allerdings besteht die topologische Pointe dieses Dramas, nicht anders als die des Films SUBSTITUTE, zuallererst darin, die Ordnung von On und Off für eine begrenzte Zeit zu verkehren. Solange man sich bei denjenigen aufhält, die nicht (noch nicht, nicht mehr, noch nicht wieder) im Spiel sind, ist das On des Spiels das Off des Off. Für Film und Drama bedeutet dies konkret: Die Perspektive in SUBSTITUTE etabliert die WM als das Off der Auftritte von Dhorasoo, die Perspektive von Rosencrantz

4

Stoppard, Tom: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead. London: Faber and Faber 2000. Uraufführung am 11.04.1967 im Royal National Theatre, London.

5

Ebd., S. 50, S. 87 u. S. 93.

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and Guildenstern etabliert Hamlet als das Off des nicht enden wollenden Auftritts der beiden Titelfiguren. Das gilt fast durchweg, außer in den Momenten, in denen Dhorasoo, Rosencrantz und Guildenstern mit dem großen Spiel in Kontakt kommen.

A UF

DER

B ÜHNE

Die konventionelle Raumaufteilung zwischen Dramenhandlung und Dramenfiguren ist damit in Rosencrantz and Guildenstern in auffälliger Weise verkehrt. Während im Allgemeinen die Handlung ihren Schauplatz auf der Bühne hat und die Figuren auf eben dieser Bühne in die Handlung ein- und wieder aus ihr austreten – enter / exeunt –, ist in Stoppards Stück die Ordnung von Auftritt und Abgang so gestaltet, dass die Bühne von zwei Figuren besetzt gehalten wird, für die man in Hamlet nur sehr begrenzt Verwendung hat, und dass etwas wie Handlung auf dieser Bühne nur dann eintritt, wenn andere, bedeutendere dramatis personae für kurze Zeit auf der Szene erscheinen. Anders formuliert: Die Handlung wird mit dem Auftritt der anderen Figuren importiert. Und das heißt zugleich: Mit diesen anderen Figuren wird sie wieder abgezogen, weg von der Bühne, auf der dann jene beiden verbleiben, deren Anwesenheit nicht ausreicht, um die Szene als Schauplatz, oder jedenfalls als Schauplatz von Hamlet, zu etablieren. Auf die Frage »Wo spielt Hamlet?«, wäre zu antworten: Immer dort, wo sich Hamlet, Claudius, Gertrude oder Polonius befinden, fast nie dort, wo Rosencrantz und Guildenstern installiert sind, außer eben in den Momenten, wenn wieder einmal einer von den anderen auf der Bühne vorbei kommt. (Dieses Vorbeikommen, die beiläufige Etablierung des Spiels durch den Auftritt einer Figur, lässt sich in SUBSTITUTE weniger einfach bewerkstelligen, da hier das große Spiel zu seiner Entfaltung eines spezifischen Settings bedarf und nicht einfach aus dem Stadion in das On des Off von Dhorasoo einbrechen kann. Stattdessen wird den Wegen zwischen den verschiedenen Schauplätzen, zwischen dem Hotel und dem Stadion, aber auch zwischen dem Stadioneingang und den Umkleideräumen, bei den wenigen Einsätzen von Dhorasoo relativ viel Platz eingeräumt. Dieser Film setzt Distanzen ins Bild, auch wenn er sie nicht ausmisst, und wenn man fragen wollte, warum er das tut, so wäre eine mögliche Antwort die, dass es dabei um die Inszenierung von Abständigkeit geht, also um eine andere Kategorie als die des unmittelbar Angrenzenden.) Bisweilen, in bestimmten Augenblicken, scheint Hamlet, das große Spiel im Off, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bühne der Stoppard-Figuren situiert. Näher nie als in jener Episode gegen Ende von Akt II, wenn auf einmal die

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Skripte von Shakespeare und Stoppard ineinander gefaltet werden,6 und immer noch relativ nahe in den Momenten, in denen Rosencrantz oder Guildenstern sich an die Bühnenseiten begeben, von dort einen Blick riskieren und im Off eine Andeutung von Handlung und eine der anderen Figuren entdecken: »Guil: Go and see if he’s there. [›he‹ = Hamlet, d. Verf.] Ros: Who? Guil: There. Ros goes to an upstage wing, looks, returns, formally making his report. Ros: Yes. Guil: What is he doing? Ros repeats movement. Ros: Talking.«7

In dieser minimalisierten Teichoskopie ist die Handlung des großen Spiels nicht nur im Off von Rosencrantz and Guildenstern angesiedelt, sondern das Off klar als ein off-stage markiert, mithin direkt an die Grenzen der Bühne verlegt, was die räumliche Ordnung, wenn nicht transparent, dann doch etwas überschaubarer macht. Indessen erfolgen dergleichen Situierungen immer nur punktuell, einmal in Akt I, zwei weitere Male in Akt II8 – davor, dazwischen, danach ist das Off ein durchaus unkartografierter Raum, und was sich wo befindet (befunden hat, befinden könnte) bleibt eine Frage, die in den Bühnendialogen immer wieder aufgegriffen wird. »He could be anywhere«9, sagt Guildenstern einmal über die erratischen Bewegungen der Titelfigur. In den langen Phasen, die zwischen den Teichoskopien liegen, trifft diese Beobachtung fast immer zu.

T EICHOSKOPIEN Grundsätzlich kann die Teichoskopie als ein Verfahren beschrieben werden, Schauplätze, Orte, Ereignisse im Off der Bühnenhandlung existent zu setzen. Sie ist außerdem ein Verfahren, diese Setzung als Setzung auszustellen, was zugleich bedeuten könnte: sie zu subvertieren. In Becketts Endgame funktionieren die Teichoskopien nach diesem Prinzip. Wenn Clov an Hamm berichtet, dass

6

Vgl. ebd., S. 82-84.

7

Ebd., S. 43.

8

Vgl. ebd., S. 65, S. 81.

9

Ebd., S. 79.

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das Meer grau sei, der Himmel auch, dann ist das nicht nur eine explizite Aussage über den Zustand des Meeres oder den des Himmels, sondern auch eine implizite Aussage dazu, dass dieses Meer und dieser Himmel existieren, außerhalb des umbauten Raums, der die Bühne ist. (Da sie außerhalb sind, befinden sie sich jenseits der Grenzen, in denen eine Überprüfung der Behauptung stattfinden könnte. Adorno nennt die Bühne des Endgame »jenes Interieur […], zu dem die Welt wurde«:10 Die Gewissheit über die Existenz eines Meers, eines Himmels, kurz: einer Welt jenseits der Bühnenwände, wird damit konsequent suspendiert.) Auch in Rosencrantz and Guildenstern implizieren die Teichoskopien zuallererst, dass irgendetwas: ein Raum, ein Schauplatz, eine Anzahl von Orten, jenseits der Bühne zu finden ist, und dass es sich dabei um diejenigen Orte handelt, an denen die anderen Figuren agieren, wenn sie nicht auf der Bühne sind. Was an Bühnengeschehen stattfindet, scheint diese Annahme zu bestätigen: Das Off ist auf jeden Fall jener Raum, aus dem die anderen Figuren kommen, weshalb in Augenblicken größerer Verzweiflung oder Langeweile immer wieder ein Ruf nach Unterbrechung in Richtung der Bühnenseiten formuliert wird. »(He leaps up again, stamps his foot and shouts in the wings.) All right, we know you are in there! Come out talking! (Pause) We have no control. None at all …«11

Nachdem die Teichoskopie die Existenz des Off etabliert hat, etabliert diese kleine Episode, dass ein Zugriff auf das Off von der Bühne aus nicht möglich ist, genauer: dass On und Off in Rosencrantz and Guildenstern nicht als kommunizierende Räume vorzustellen sind.12 Dass sich das Off, mit einem englischen Begriff beschrieben, ›unresponsive‹ zeigt, das heißt nicht auf die Appelle antwortet, erzeugt jedoch keinen Zweifel an seiner Existenz, weder auf Seiten der Titelfiguren noch auf Seiten des Publikums, das bezüglich des großen Spiels, das Hamlet heißt, ohnehin besser orientiert ist. Das Off existiert, es existiert in diesem Stück als ein vorgängiges, längst bekanntes Setting. Wenn es für Stoppards Figuren ein Problem gibt, dann nicht, dass das On ihrer Bühne möglicherweise kein Außen hat (eben dies ist die Situa-

10 Adorno, Theodor W.: »Versuch das Endspiel zu verstehen«, im gleichnamigen Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 167-214, hier S. 207. 11 T. Stoppard: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, S. 63. 12 Dies ist ein eklatanter Unterschied zu Michael Frayns Noises Off, jenem anderen großen Drama der Auftritte und Abgänge, in dem alles, was im Off geschieht, unmittelbar Konsequenzen für das Bühnengeschehen hat.

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tion in Endgame), sondern dass außerhalb der Bühne, andernorts, etwas vor sich geht, das weitgehend ohne diejenigen auskommt, die sich auf der Bühne befinden, und das ihnen zugleich abverlangt, sich in Bereitschaft zu halten, auf unbestimmte Zeit, die bis zu ihrem nächsten Einsatz oder bis zum Ende des Spiels dauern wird. Diese anhaltende Bereitschaft ist auch der Auftrittsmodus des Protagonisten von SUBSTITUTE, und was sich daraus an Beschreibungskategorien ableiten lässt, ist, dass sich alle drei: Dhorasoo, Rosencrantz, Guildenstern, an Orten befinden, die ganz und gar zentrifugal organisiert sind, auf jene andere Szene ausgerichtet, in der das eigentliche Geschehen verortet ist. Die Fliehkräfte, die auf die Figuren einwirken, sind entsprechend sehr stark, ohne dass durch sie je eine Auflösung der Situation oder ein kategorialer Ortswechsel herbeigeführt würde. Von André Bazin stammt das Statement, dass das Bühnengeschehen »allein aufgrund seiner Rückseite [existiert]«.13 Er meinte damit die Bauten, Apparaturen, Arbeitszusammenhänge hinter den Kulissen und erklärte außerdem, dass die Bühne gewöhnlich dazu eingerichtet sei, das, was sich hinter den Kulissen befindet, ganz und gar vergessen zu machen. Zugleich könnte man sein Statement auch verwenden, um die genealogischen und dramaturgischen Beziehungen zwischen Off und On, dem Theaterstück William Shakespeares und dem Theaterstück Tom Stoppards, in Rosencrantz and Guildenstern zu beschreiben. Auch dieses Bühnengeschehen existiert aufgrund seiner Rückseite, die den Titel Hamlet trägt. Allerdings, darin unterscheidet es sich von Bazins Theaterentwurf, vollzieht es sich in einem Modus, der darauf angelegt ist, das Off präsent zu halten, es als Szene, Handlung, Partitur in Erinnerung zu rufen.

E XEUNT Wenn also die Existenz des Off nicht in Zweifel steht und das Off konstitutive Bedeutung für das Bühnengeschehen hat, so ist zugleich auffällig, dass Rosencrantz und Guildenstern dieses Off bis zum Ende von Akt II nicht betreten. Gelegentlich, ziemlich häufig sogar, machen sie Anstalten, dorthin aufzubrechen, aber sie kommen nie dort an, nie über die Seitengrenzen der Bühne hinaus und oft nicht einmal bis an die Seiten, hinter denen das Außerhalb situiert ist. In dieser Bewegung zwischen der Ankündigung eines Abgangs und dessen umgehender Suspension evozieren die Dialoge von Rosencrantz and Guildenstern den

13 Bazin, André: »Theater und Film«, in: ders., Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 162-216, hier S. 192.

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Dialog (und den entsprechenden Status quo) auf einer anderen Bühne Becketts, auf der die Rede vom Aufbruch und das folgende Ausbleiben des Aufbruchs ebenfalls zu den zentralen Motiven gehören. Es besteht eine gewisse Affinität zwischen Satzfolgen wie »Komm wir gehen! – Wir können nicht. – Warum nicht? – Wir warten auf Godot. – Ach, ja«14 und »We could go. – Where? – After him. – Why?«, gefolgt von dem Zusatz: »They’ve got us placed now.«15 Andere Figuren mögen die Bühne passieren, sie bei ihren Traversen von einem off stage gelegenen Schauplatz A zu einem anderen Schauplatz B durchqueren. Rosencrantz und Guildenstern harren auf der Bühne aus, solange es eben geht, und dass es dafür wenigstens einen guten Grund geben könnte, deutet sich in jenem Dialog an, der ihrem Abgang in Akt II unmittelbar vorausgeht: »Guil: […] If we go, there’s no knowing. Ros: No knowing what? Guil: If we ever come back. Ros: We don’t want to come back. Guil: That may well be true, but do we want to go?«16

Die Figur, die die Bühne verlässt, ist auch eine Figur, die man vielleicht nicht wieder sehen wird. Dasselbe Off, aus dem in unregelmäßigen Abständen Figuren auf die Bühne entsendet werden, hat zugleich das Potential, eine Figur ganz und gar zu absorbieren, sie verschwinden zu lassen, von der Szene, aber auch: aus dem Spiel. Der Gang ins Off ist mithin keine unbedeutende Handlung; man muss, sagt Guildenstern, überlegen, ob man ihn antreten will oder nicht. Abgehen kann heißen, dass man nicht wiederkehrt; nicht wiederzukehren, auch das sagt Guildenstern, kann heißen, dass man tot ist; genauer gesagt kennen die Figuren bei Stoppard überhaupt nur den einen Tod, der darin besteht, dass man nicht mehr auf die Szene zurück kommt.17

14 Beckett, Samuel: Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 39. 15 Vgl. T. Stoppard: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, S. 32. 16 Ebd., S. 87. 17 Ein exemplarisches Szenario, an dem sich dieses Prinzip illustrieren ließe: Calderón de la Barca, Das große Welttheater, das auf einer Bühne aufgeführt wird, an deren Rückseite sich zwei Türen befinden. »[A]uf der einen ist eine Wiege, auf der anderen ein Sarg aufgemalt«, durch die eine treten die Figuren auf, durch die andere treten sie ab, in ein Off, aus dem sich nicht mehr zurückkehren. De la Barca, Calderón: El gran

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»Guil: It’s just a man failing to reappear, that’s all – now you see him, now you don’t, that’s the only thing that’s real: here one minute and gone the next and never coming back – an exit, unobtrusive and unannounced, a disappearance gathering weight as it goes on, until, finally, it is heavy with death.«18

Wenn in dieser Äußerung der Zustand aus dem Spiel zu sein mit tot sein gleich gesetzt wird, so ist das auch deshalb interessant, weil umgekehrt keineswegs dasselbe gilt. An der Tragödie Hamlet lässt sich das sehr gut studieren. Hamlet, der königliche Vater, ist tot, eine ganze Weile bevor mit dem Treffen der Wachtposten in Akt I, Szene 1 der Tragödie die Handlung überhaupt einsetzt, aber sein Tod hindert ihn nicht, in eben diesem Akt I, Szene 1, ebenso wie in Akt I, Szene 4 und 5 sowie in Akt III, Szene 4 als Geist auf die Bühne und ins Spiel zurück zu kehren. Polonius wird getötet und verbleibt auf der Bühne, für beinahe die gesamte Dauer derselben Szene 4 in Akt III. Und Hamlet, der ebenfalls zu Tode kommt, sagt: »I am dead, Horatio« und noch einmal: »Horatio, I am dead«19, eine Weile später dann: »Oh, I die«,20 bevor er schließlich zu sprechen aufhört. Aber auch danach wird er keineswegs ins Off verbracht, sondern mit den anderen Toten der Tragödie zur Apotheose arrangiert, d.h.: auf offener Szene aufgebahrt, wo sie ausführlich betrachtet werden können. Am Ende sind alle tot, aber niemand muss von der Bühne. Man könnte versucht sein, das Arrangement der finalen Szene von Hamlet in diesen Worten zu beschreiben. Jedoch ist bekannt, dass für Rosencrantz und Guildenstern, ebenso wie für Polonius und Ophelia, in diesem Arrangement kein Platz vorgesehen ist, und dass Rosencrantz und Guildenstern auch nicht auf der Bühne sterben dürfen (was Polonius darf) und keinen großen letzten Auftritt bekommen (der Ophelia in Akt IV, Szene 5 immerhin gegeben ist). Stattdessen werden diese beiden Figuren verschwinden, irgendwo zwischen Akt IV, Szene 4, wenn sie nach England aufbrechen, und Akt V, Szene 2, wenn über ihren Tod informiert wird. Sie gehen ab und kehren dann nicht mehr zurück, und was über sie bekannt gegeben wird, ist nur noch eine beiläufige Auskunft: »[…] that Rosencrantz and Guil-

teatro del mundo/Das große Welttheater, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1988, S. 43. 18 T. Stoppard: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, S. 76-77. 19 Shakespeare, William: Hamlet, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1984, S. 306. 20 Ebd., S. 308.

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denstern are dead«21, eine Fußnote, eine Zeile, danach weiter im Text und eben: Apotheose.

D ABEI

SEIN IST ALLES

Dieser Umstand: dass ihnen nach der Teilnahme am großem Spiel nun auch die Teilnahme am großen Sterben verweigert wird und es ihnen nicht gestattet ist, an der Tragödie zu partizipieren, rückt Rosencrantz und Guildenstern ein weiteres Mal in die Nähe des Mittelfeldspielers Dhorasoo, der nicht dabei ist, als die französische Equipe von den letzten Spielen der Vorrunde über das Achtel-, das Viertel- und das Halbfinale ihren Weg ins Endspiel macht, und ebenfalls nicht dabei, als sie dieses Endspiel mit 5:3 gegen Italien verliert. Vikash Dhorasoo verfolgt dies von seinem Platz auf der Ersatzbank: vor Ort, aber nicht dabei, nicht beteiligt, aber doch involviert, kaum anders also als in den drei, vier, fünf vorangehenden Spielen, nur dass es jetzt, wie gesagt, ans Sterben geht, von dem auch er affiziert wird, wobei außer dem Filmemacher Poulet wieder einmal keiner hinsieht. Abbildung 3: Players Exit

Quelle. Fred Poulet, Vikash Dhorasoo, SUBSTITUTE (F 2007), Screenshot.

21 Ebd., S. 310.

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Da es in Rosencrantz and Guildenstern ebenfalls darum geht, dort hinzusehen, wo niemand hinsieht (und wo es eigentlich auch nicht viel zu sehen gibt), wird Stoppard seinerseits versuchen, das Sterben der beiden Nebenfiguren im Auge zu behalten. Allerdings werden dabei die räumlichen Koordinaten undeutlich – die entsprechende, durchaus kryptische Regieanweisung lautet: »He disappears«22 – und erst recht verunklaren sich die zeitlichen: so dass der Tod des einen wie des anderen sich letztlich irgendwann ereignet haben wird. Irgendwann zwischen Akt IV und Akt V in Shakespeares ereignet er sich in Hamlet und irgendwo zwischen Akt I und Akt III in Rosencrantz und Guildenstern, einem Stück, dessen Titel sowohl den Ausgang als auch das Apriori der seltsamen Bühnenhandlung bezeichnen kann. Mag sein, dass sie am Ende tot sind, mag sein, dass sie es bereits am Anfang waren, und wenn man die Sache noch etwas weiter spinnen wollte, könnte man auch fragen: Sind sie es nicht immer schon, diese beiden, deren Tod in Hamlet festgeschrieben ist und am Ende jeder Aufführung von Hamlet proklamiert wird, aber nicht bevor sie ihren Auftritt gehabt haben, in so und so vielen Inszenierungen, in denen sie ihre Zeilen aufsagen und ein wenig auf der Bühne herumstehen dürfen. »We are not finished, then?« – »Wir sind noch nicht erledigt/fertig?« – fragt Rosencrantz zu Beginn von Stoppards Akt III. Er könnte es ebenso zu Beginn von Akt I oder von Akt II fragen, in denen er dann dieselbe Antwort erhalten würde wie die, die Guildenstern ihm in Akt III gibt: »Well, we are here, aren’t we?«23 Here ist ein Zwischenreich, eine Randzone, mehr oder weniger bevölkert, mehr oder weniger kartografiert und an den Grenzen mehr oder weniger durchlässig. Here ist nicht mehr die große Bühne, auf die der Spot und die Blicke des Publikums gerichtet sind. Es ist vielmehr jener Ort, so wäre es zumindest für Rosencrantz und Guildenstern und Dhorasoo zu behaupten, an dem man sich befindet, wenn man bereits tot, aber noch nicht fertig ist.

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: »Versuch das Endspiel zu verstehen«, im gleichnamigen Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 167-214. Bazin, André: »Theater und Film«, in: ders., Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag 2004, S. 162-216.

22 T. Stoppard: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, S. 115. 23 Ebd., S. 88.

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Beckett, Samuel: Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972. De la Barca, Calderón: El gran teatro del mundo/Das große Welttheater, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1988. Frayn, Michael: Noises Off. A Play in Three Acts, New York: Anchor Books 2000. Harwood, Ronald: »The Dresser«, in: ders., The Collected Plays of Ronald Harwood, London: Faber and Faber 1993, S. 63-137. Shakespeare, William: Hamlet, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1984. Stoppard, Tom: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead. London: Faber and Faber 2000.

Suspensionen des Auftritts Lulu – Pollesch* B ETTINE M ENKE

Mit der Suspendierung des Auftritts wird der Auftritt erkundet, jener physische Vorgang, der zugleich ein symbolischer ist, der kaum gesehen wird, weil er am Rande der Szene, auf der Schwelle zu ihr statthat, weil er als Voraussetzung der Szene und der szenischen Darstellung dieser nicht vollständig angehört und nicht in diese inkludiert werden kann. Die Suspendierung des Auftritts kann die Voraussetzung der Szene in den Blick bringen. Die im Folgenden betrachteten Suspendierungen beziehen sich auf alle Dimensionen des Auftritts, der einerseits als theatraler ein physischer Vorgang des Vor- und Übertritts ist, während zugleich ein symbolischer Vorgang statthaben muss, damit es sich um den Auftritt einer dramatischen Figur gehandelt haben wird – und nicht irgendetwas anderes, unbestimmbares. Es wird sich gerade auch um die Suspendierung des Auftritts im Sinne dieses symbolischen Vorgangs handeln: der Figuration des Eintritts und der Unterbrechung, die der Vor-, der Über- und Auftritt für die dramatische Szene ist.

I. Ausgehen möchte ich von Lulu, die sowohl in Wedekinds Theaterstück Lulu. Erdgeist wie auch in G.W. Pabsts Film BÜCHSE DER PANDORA den Auftritt in je-

*

Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um eine zweite andere Ausführung von »Suspendierung des Auftritts«, in: Vogel, Juliane/Christopher Wild (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin: Theater der Zeit 2014.

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nem Stück verweigert, das Alva mit ihr in verschiedenen, vielfaches Umkleiden erfordernden Tanz-Rollen zur Aufführung bringt. Diese Verweigerung aufzutreten ist in Wedekinds Theaterstück Teil der dramatischen Handlung, es ist die Verweigerung des Auftretens als Exposition vor der Verlobten Dr. Schöns. Wedekinds Schauspiel thematisiert die Verweigerung des Auftritts nur, lässt aber nicht die Verweigerung selbst statthaben. Gezeigt würde in dessen Aufführung vielmehr – statt des Auftritts als Spiel im Spiel und statt der leer bleibenden Bühne von Alvas Stück – das Backstage, das selbst zur Bühne für eine andere Szene wird; außerhalb der Szene eine Szene machen, ist hier das Thema.1 In G.W. Pabsts Film BÜCHSE DER PANDORA von 1929 geschieht etwas anderes. Die auch für den Plot des Films zentrale Szene im Theater, Akt III des Filmes, stellt Lulu in einer spezifischen meta-medialen Ausprägung vor, in der das andere Medium, das Theater, ebenso verhandelt wird, wie der Darstellungsmodus von Filmbildern. Pabst setzt das off-stage des Theaters ins Bild, indem die Handlungsstränge sich verschränken und in Lulus Weigerung aufzutreten eine Verknotung erfahren.2 Aber er macht nicht das Backstage, in dem Lulu den Auftritt verweigernd verbleibt, zur Bühne, sondern führt jene »Rückseite«3 vor, die die für alle Bühnen-Handlung konstitutiven Auftritte ermöglichte; und er tut dies im »editing« und »cross-cutting between the effervescence and mounting chaos onand backstage«4, das die Filmhandlung orchestriert. Der Film thematisiert das für das Theater konstitutive Off/On, die Grenze, die in der Bewegung, die zum Auftritt werden soll, überschritten wird, indem er die Bewegungen, die Bühnenschwelle kreuzen und queren, als unlesbare ins Bild setzt. Die filmische Theaterszene ist eine meta-mediale Szene, aber die Relation von Filmbildern zur Theaterszene wäre als »the critique of theatre in the spirit of the cinema«, wie Elsässer sie auffasst, nicht zureichend begriffen.5 Denn das Spektakulöse, das

1

Wedekind, Frank: Lulu. Erdgeist, Die Büchse der Pandora, Stuttgart: Reclam 1989, 3. Aufzug, S. 56-74, insb. S. 67-70.

2

Vgl. Elsässer, Thomas: »Lulu and the meter man: Pabst’s Pandora’s Box (1929)«, in: Eric Rentschler (Hg.), German Film & Literature. Adaptions and Transformations, New York/London: Routledge Chapman & Hall 1986, S. 40-59, hier S. 50.

3

Vgl. Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag 2004, darin: »Theater und Film«, S. 162-216, hier S. 189-192.

4

T. Elsässer: »Lulu and the meter man«, S. 50. Pabsts Film zeigt, statt der negativ konstitutiven Grenze, die im Blick auf die Vorderseite möglichst umgehend vergessen worden sein muss, eine hier mehrfach gestaffelte Schwellenzone.

5

Ebd., S. 49: »[T]he order of the spectacle […] appears in Pandora’s Box as the critique of theatre in the spirit of the cinema, this time focused […] on mise-en-scène.«

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das Kino auszeichne und das es gegen das Theater anführe, gehört dem Theater selbst an. Zumal hier, wo eine Revue mit raschen und vor allem auch reihenweisen Auf- und Abtritten zur Aufführung kommt, die nicht in der dramatischen Konstitution von Charakteren und Handlung eingefasst sind. Die Filmbilder, die die Perspektive des Theaterpublikums und damit auch eine die Bühne begrenzend umfassende Rahmung versagen, setzen sich ins Verhältnis zu den konstitutiven Rahmenbedingungen des Theaters, zur Bühne als begrenztem Raum des Sehens und des zu Sehen-Gebens, auf den die Zuschauer und Zuschauerinnen im Theater durch die Trennung von ihm bezogen sind. Durch diesen Vorenthalt wird am Theater selbst dessen Charakter der Schaustellung akzentuiert, und zwar gegen das Dramatische, jenen Rahmen, der das Drama wäre, den der Film hier vermeidet.6 An der Schwelle zur Bühne kommen die Bedingungen des theatralen Zu-Sehen-Gegeben-Seins, das jenseits ihrer läge, in den Blick. Denn es sind diese Rahmenbedingungen des Theaters, die durch den Auftritt und dessen Protokolle gedolmetscht werden. Die Grenze, die die Bühne durch den Ausschluss negativ konstituiert, die im dramatischen Theater als solche nicht sichtbar, sondern im Auftritt figuriert wird, wird im Übergang markiert, wenn die Helmvisiere als Maske in Reihe runtergeklappt werden, und als ein Übergang kenntlich, indem auf das zukünftige Vor-Ort-Sein vorgegriffen wird. Abbildung 1: Büchse der Pandora, Minute 26:39

Quelle: BÜCHSE DER PANDORA (D 1929, R: G.W. Pabst).

6

Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2011, S. 289.

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Was jede on-stage-Szene allererst ermöglicht, geben die kinematographischen Bilder als Bewegungen kreuz-und-quer über die konstitutive Grenze der Bühne zu sehen: aufgelöst in die Bewegungen der Körper. Diese werden nicht zu jenen imaginären ganzen Körpern, deren Gestalt oder Gesicht den Auftritt im dramatischen Theater figuriert, sondern sie werden unscharf und partiell das Filmbild kreuzen, in Bewegungen, die zuweilen akzentuiert werden durch Kulissen, die zerlegend, partialisierend als Trennwände und Schirme durchs Sichtfeld getragen werden. Als wilder Wechsel an der Schwelle off-/on-stage wird in Szene gesetzt, was Poetiken des dramatischen Auftritts in die Konstitution von Charakteren überführt sehen wollen. Den Auftritt auf der Bühne (von deren Rückräumen her) vorenthaltend machen die Filmbilder (bzw. ihr editing und crosscutting) den Übergang, das Passieren der Schwelle (selbst): als ein nicht finalisiertes zwischen off- /on-stage sichtbar. Die Theaterbühne ist als der Raum, in dessen Begrenzung die dramatische Handlung entfaltet wird, in dessen vermeintlich Inneren, das dramatisch gerahmt und derart ausschließend begrenzt (in sich) geschlossen sein soll, selbst auf ihre Grenze und damit ihr konstitutives Außen bezogen, und derart in sich ent-zweit, zerrissen und in sich gedoppelt. »[E]verything that takes place on stage relates, constitutively, to what has taken and will take place off-stage […]. Every speech on stage is already an echo of itself and a response to other parts, inscribed elsewhere, […]. Every role takes its cue from other roles.«7

Was im dramatischen Theater im Auftritt dramatische Person soll geworden sein, ist »never just on the stage but always somewhere else as well«8. Die An-

7

Weber, Samuel: »The Incontinent Plot (Hamlet)«, in: Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München: Wilhelm Fink 2006, S. 233-252, hier S. 236.

8

Das kennzeichnet dramatische Personen wie Gespenster. »This double or split way of being is not so much represented as enacted by the recurrence of the ghost«, so, mit Bezug auf Shakespeare, William: Hamlet, Englisch/Deutsche Ausgabe, Stuttgart: Reclam 1984, I. Akt 5. Autritt, Vs. 155-159; S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 237; vgl. ders.: Theatricality as Medium, New York: Fordham University Press 2004, S. 185-189; vgl. Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg.v. Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, Band 1, S. 203-430, hier S. 313-315. Das Theaterinduzierte Gespenst macht die Gegenwart, deren Gleichzeitigkeit mit sich selbst und deren Vorher und Nachher zweifelhaft macht, vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespens-

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wesenheit auf der Bühne ist wie diese selbst in sich entzweit, denn alles Geschehen »vor Ort«9 (jetzt und hier) ist ans ausgeschlossene Anderswo verwiesen, gespalten in sich selbst: »split between both here and everywhere«10, zwischen sowohl hier und überall – anderswo. Diesen Rück-Bezug des Hier aufs Irgend-anderswo manifestiert jeder Übertritt über die Schwelle, der einen strukturell Fremden auf die Bühne bringt; er schleppt diese Bezogenheit nach, die figurierend abzuschneiden und vergessen zu machen versucht wird.11 Das dramatisch Konstituierte ist derart durchquert von dem innerhalb der Rahmung so sehr ausgeschlossenen wie vorausgesetzten Off, den theatralen Randbedingungen jenseits des Rahmens. Jeder Auftritt ist als Übertritt über die Schwelle eine (potentielle) Störung der dramatischen Handlung, da er diese im Moment des Übertritts an die negativ konstitutive Grenze zurückverweist, die nie sichtbar, nie Teil des Dargestellten wird, die als dessen Grenze ans Ausgeschlossene, die Rückseite des theatralen Geschehens on-stage bindet, die im Sinne der dramatischen Integration möglichst umgehend schon im Auftritt als Unterbrechung vergessen gemacht würde. Die filmische Mise en Scène des verweigerten Auftritts thematisiert, indem sie das physische Passieren (der Schwelle) nicht im dramatischen Auftritt einer

ter. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 61f, S. 75ff. 9

Vgl. Weber, Samuel: »Vor Ort. Theater im Zeitalter der Medien«, in: Gabriele Brandstetter/Helga Finter/Markus Weßendorf (Hg.), Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen: Narr 1998, S. 31-51.

10 S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 237. 11 Der Ort vor Ort »kommt zustande, indem die Kontinuität von Raum und Bewegung mehr oder weniger gewaltsam abgebrochen wird«, S. Weber: »Vor Ort«, S 33. W. Benjamin bemerkte: »Könige, Prinzen, Knappen und Gefolge ›treten fliehend auf‹. Der Augenblick, da sie Zuschauern sichtbar werden lässt sie einhalten. Der Flucht der dramatischen Personen gebietet die Szene halt.« Benjamin, Walter: Einbahnstraße (= Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 77. Weber unterstreicht die Bindung des »vor Ort« an die Bewegung, die abgeschnitten und in einen »Zustand« transformiert werde; »gerade der Kontakt mit der Außenwelt muß abgebrochen oder zumindest eingeschränkt werden, um die Entstehung und Erhaltung eines Ortes zu ermöglichen. Doch diese Einschränkung bedeutet nicht die einfache Aufhebung des Bezuges. Im Gegenteil: der Ort besteht in und als diese Abgebrochenheit«; daher ist er »nicht allein das stabile Resultat der Unterbrechung: Er bleibt zugleich impliziert in der Bewegung, die Bewegung sistiert.« S. Weber: »Vor Ort«, S. 34.

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in sich geschlossenen menschenähnlichen Gestalt figuriert, mit der Unlesbarkeit dessen, was die Bilder kreuzt, die Randbedingungen des Theaters. Zugleich wird dadurch umgekehrt die Spezifik des on/off der Filmbilder kenntlich,12 die nicht ein Bild, sondern ein vom Körper abgelöstes Konstrukt13 durch Schnitt und Kadrierung sind: Sehen und Gesehen-Werden koinzidieren mit dem Akt der Darstellung durch »editing, point of view shots, framing«14, Kadrierungen, Ausschnitten und Schnitten, die in ihrer Fügung den – zwischen – unverorteten, gespaltenen Blick des (Film-)Zuschauenden aus-machen. Pabsts Film gibt mit der kinematographischen Lulu den Effekt und das Emblem der »many different systems that [...] this film [develops] for splitting perception, in order to create hesitation, indeterminacy, or ambiguity.«15

II. Bekanntlich ist der Gegenstand eines Mediums (immer) ein anderes Medium. Aber auch das Geschehen auf der Theaterbühne selbst gibt auf vielfache Weisen Mises en abyme des Auftritts und thematisiert selbst seine medialen Randbedin-

12 »The cinema is never what is shown: it is always also what the shown implies or demands in the way of the not-shown or not seen.« T. Elsässer: »Lulu and the Meter Man«, S. 54. 13 »[M]it dem Film wird das Körperbild vom Körper losgelöst. Der Film ist entstanden oder hat sich konstituiert als Schritt über eine bestimmte Schwelle – die Bühnenrampe. Die Kamera schneidet in das Gewebe einer bereits existierenden Fiktion. [...] In dem historischen Augenblick, in dem die Kamera sich vom Proszeniumsbogen löst, verwandelt sich die Bühnenperspektive in eine filmische Perspektive.« Zit. aus Haß, Ulrike: »Elemente einer Theorie der Begegnung: Theater, Film«, in: Brandstetter/Finter/Weßendorf (Hg.), Grenzgänge, S. 55-63, hier S. 60f., vgl. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Kritische Gesamtausgabe, Band 1, S. 471-508, hier S. 495f., S. 500f. 14 T. Elsässer: »Lulu and the Meter Man«, S. 52. 15 Ebd., S. 54. »Pabst transforms the cinema into an institution that turns the desire for possession into an obsession with the image« – oder genauer: »into […] divided, discontinuous, and partial views, whose identification and interpretation always entail a fine and final doubt – «, ebd., S. 52. »The source of all these ambiguities, and that which manifests them as differentiation […] is the cinema itself, with its infinite capacity of divisions […]«, zit. aus ebd., S. 57. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 232-236.

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gungen, die vor allen Darstellungen im Medium liegen – und von diesen verstellt würden. Alles Geschehen auf der Theaterbühne kann vom Auftritt her als das »sich nicht Vollendende des Auftritts«, von dem Samuel Weber spricht,16 gekennzeichnet werden. Denn in ihm vollzieht sich, solange es sich zeitlich erstreckt, der Auftritt als sich Vollendendes.17 Das sich Vollendende des Auftritts und das sich nicht Vollendende des Auftritts fallen in dem Verzug, der der Auftritt als Vollzug ist, zusammen. Das Theater als spezifisch temporale und spatiale Anordnung wird, einer gern wiederholten Erzählung zufolge, durch einen Akt, der anfänglich schon so physisch wie symbolisch ist, hervorgebracht: Durch das Vor- als Heraustreten eines Sprechers aus dem Chor, durch das dieser sich einzeln vor diesem exponiert, wird in der griechischen Antike der Raum und die Zeit des Theaters er-öffnet.18 Zugleich wird und bleibt damit dieser Raum an diesen nicht-binären, nie endgültigen symbolischen Bruch, an dieses nie abgeschlossene Vorkommnis gebunden;19 dessen Instituierung käme ihm stets noch aus der Zukunft zu. Der (in der Orchestra anwesende) Chor markiert als Zeuge des Geschehens diesen Raum und fungiert als der Spiegel der Sehenden und Hörenden im Theater. Der HerVortritt aus dem Chor wird im Theater seit der klassischen Moderne – wir ken-

16 S. Weber: »Vor Ort«, S. 45. 17 Jemand, der die Bühne betritt, »interessiert, weil der Rahmen der Bühne, der Inszenierung, der Handlung, der visuellen Konstellation der Szene sie ausstellt. Die eigentümliche Spannung, mit der sie betrachtet wird, ist die Neu-Gier auf eine bevorstehende (und ausbleibende) Erklärung. Die unruhige Spannung bleibt nur er halten, so lange mindestens ein Rest dieser ›Frage‹ erhalten bleibt. Die Gestalt ist in ihrer Präsenz dennoch – abwesend. [...] Sie bleibt theatral nur [...] und in dem Maß der Ungewissheit, die das Wahrnehmen in einer Suchbewegung hält«, H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 442f. 18 Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler 1991, S. 40f., S. 40-50, S. 54, S. 58f., S. 62; vgl. ders.: Postdramatisches Theater, S. 361. U. Haß akzentuiert (umgekehrt) die »zeit-räumliche« Vorgängigkeit des Chors: er »erwartet und ermöglicht das Auftreten der Protagonisten«, »indem ihnen ein Ort [...] eingeräumt wird« (Haß, Ulrike: »Woher kommt der Chor«, in: Genia Enzelberger/Monika Meister/Stefanie Schmitt (Hg.), Maske und Kothurn 58 (2012), Nr. 1: Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater, S. 13-39, hier S. 27, 13f.). 19 Das ist der »›Ausgang‹ aus dem Kult«, der das Theater ist, so Nancy, Jean-Luc: »Theaterereignis«, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Ereignis. Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld: transcript 2003, S. 323–330.

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nen das – vielfach auf der Bühne wiederholt, on-stage wird die Schwelle zwischen, der Übergang vom Off ins On gedoppelt, ins Bühnengeschehen gefaltet und derart als solcher sichtbar. Wird nun z.B. in Brechts Die Maßnahme der Übergang zum Auftritt einer dramatis persona durchs Anlegen einer Maske markiert, so lassen dagegen Marthalers Theaterarbeiten fraglich, wo die Schwelle zum Auftritt aus der chorischen Präsenz aller Akteure liegt oder gelegen haben wird,20 wo – und sei es temporär und stets auf dem Rückzug – und sogar ob eine dramatische Person sich konstituiert haben wird. Statt gesicherte Begrenzungen und deren versichernde Rahmungen, die dies nie bleiben können, haben wir mit auf der Schwelle verzögerten Übergängen und mit multiplen Zonen des Übergangs zu tun. So gibt etwa Marthalers berühmter patriotischer Abend Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (an der Volksbühne Berlin seit Januar 1993 aufgeführt) ein Geschehen zu sehen, von dem stets fraglich bleibt, ob überhaupt oder inwiefern so etwas wie dramatische Handlung sich ausbilden wird. Es kommt vor in Murx den Europäer!, dass jemand auf der Bühne etwas sagt, d.h. zitiert, was als Skript vorausgeht, was wiederholt wurde auf einer Vielzahl von Proben und wiederholt werden wird bei einer Vielzahl von weiteren Aufführungen. Das Sprechen als Zitation vorgängiger und nachlaufender Rede wird ausdrücklich, insofern hier zitierend durch die Münder der auf der Bühne Anwesenden geht, was alle sagen oder singen,21 was als anonymes Gerede überall, aber stets anderswo zirkuliert.22 Aber wer spricht? Kommt hier (denn) ein Sprecher oder Sprecherin (von etwas) vor? Wenn etwas gemeint sein

20 »Das System von Auftritten und Abgängen war für das dramatische Theater kennzeichnend. Wird dagegen eine ›chorische‹ Präsenz aller Beteiligten gewählt, bei der auch die gerade nicht aktiven Spieler auf der Bühne verbleiben, so erscheinen alle als sozialer Chor.« H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 238. Vgl. Philipsen, Bart: »Staying Alive. Christoph Marthalers Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie als post-melodramatisches ›Spiel vor Traurigen‹«, in: Daniel Eschkötter/Bettine Menke/Armin Schäfer (Hg.), Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin: Verlag Theater der Zeit 2013, S. 245-266, hier S. 246f. 21 Andernorts habe ich das zitierend Gesprochene und Gesungene näher betrachtet, vgl. u.a. Menke, Bettine: »Vorkommnisse des Zitierens, Stimmen – Gemurmel. Zu Marthalers Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab«, in: Martin Roussel (Hg.), Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats, München: Fink 2012, S. 69-89. 22 Insofern handelt es sich um ein (mindestens) zweifaches Verhältnis zum Chor, der im gegenwärtig chorischen Singen auftritt und der als Hintergrund des Geredes aller im Zitat aufgerufen ist.

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und verstanden werden sollte, setzt dies einen identifizierbaren Mund voraus, der spricht, das lesbare Gesicht eines Sprechenden, an das die Rede zurückgebunden wird, auf das von dieser rückgeschlossen wird, weil es das zu Vernehmende (und dessen Faktum) zu plausibilisieren hat. Wenn (denn) auf der Bühne von Murx den Europäer! Personen sprechen werden, so handelt es sich um jeweilige Verkörperungen für Zitationen, für die Fiktion einer der Rede vorausgesetzten Sprechers, als Mund und Gesicht für die zitierten umlaufenden Reden, das deren Verstehbarkeit vorstellen soll. Die zitierende, im Hier und Jetzt des theatralen Geschehens vergegenwärtigende Rede ist eine Exzitation, ein Vorkommnis. Lyotard zufolge: »[M]an zitiert jemanden vor das Gericht. Man veranlasst den Zitierten, aus der Dunkelheit [...] herauszutreten, man lässt ihn ins Licht [...] treten. [...] Hier stößt man offenbar auf die reine Tautologie des Ereignisses: es kommt vor.«23 Es handelt sich um das Ereignis, das das Vor-Kommen als solches ist. Das Vor-Kommnis, ein Bruch, die Schaffung eines Abstands, der zum Auftritt (werden) wird, gibt es nicht als solches, nicht als voraussetzungsloses und nicht als leeres und reines Vorkommnis, vielmehr tritt immer etwas oder jemand auf, das oder der herausgerufen wurde. Das Vor- als Heraustreten eines Sprechers aus dem Chor, der damit als einzelner Sprecher sich in körperlicher Präsenz vor diesem exponiert, soll den anderen Raum und die andere Zeit des Theaters eröffnet haben,24 an die umgekehrt das Auftreten gebunden ist.25 Das Vorkommnis erhält ein Gesicht, eine Figur für den Riss und anstelle des Bruchs, die persona für die excitatio. Dies leistet die rhetorische Figur der Prosopopöie, die ein Abwesendes oder Totes, es hervorrufend, sprechen mache, indem sie ein Gesicht als Maske für die Rede in

23 Lyotard, Jean-François: »Emma«, in: Hans U. Gumbrecht/Karl L.Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 671-708, hier: S. 671. 24 Indem einer »aus dem schützenden Kollektiv herauszutreten wagt, [betritt dieser] einen anderen Raum jenseits und im Angesicht der Gruppe [...]. Fremd und ›unheimlich‹ bleibt dieser andere Bezirk, so dass die Bühne etwas vom Hades behält: hier gehen Geister um. Der Körper des Theaters ist immer schon des Todes. Die Bühne ist eine andere Welt mit einer eigenen oder keiner ›Zeit‹«. H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 361. 25 Dies fasst Haß als die Vorgängigkeit des Chors, der »das Auftreten der Protagonisten« ermögliche, »indem ihnen ein Ort [...] eingeräumt wird«. U. Haß: »Woher kommt der Chor«, S. 13f.

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einer gegenwärtigen Rede-Szene verleiht.26 Das Gesicht für eine Stimme auf der Redeszene (»vor Ort«) ist die Figuration der Rede eines woandersher Heraufgerufenen, Ex-zitierten, die fictio personae für ein Gesichts-loses oder Totes, die Figuration der zitierenden/ex-zitierenden Rede, dadurch, dass dem Herausgerufenen eine fiktive persona verliehen wird,27 durch dessen Mund sie ver-laute, eine Fiktion und eine Maske, die als menschenähnliches Gesicht die Intelligibilität dieses Sprechens, dieser An-/Abwesenheit, dieser Rede vorzustellen hat. Dieses Konstrukt, das dazu tendiert, sich in naturalisierender Verwechslung zu verfestigen, wird zugleich durch die Geste des Verleihens kenntlich und durch die Maske, die dieses Gesicht ist, durchquert: gespalten.28 Eine Redeinstanz wird vorausund eingesetzt, und ihr ein Gesicht (der Rede) verliehen, das als intelligible, Verständlichkeit der Rede vermeintlich sichernde Auftrittsform für die Redeszene nachträglich gegeben sein wird und zu unserer Beruhigung als menschenähnliche fingiert wird. Das die Verständlichkeit figurierende Gesicht ermöglicht das Gesagte metaphorisch aufzufassen, indem »aus den Strukturen des Prädikats ein Analogieschluß auf die Absicht des Subjekts«29 gezogen wird, das vor dem Gesagten vorausgesetzt wird; es wird rückwirkend als metaleptischer Effekt der zi-

26 Vgl. dafür und für das Folgende Quintilian, Marcus F.: Institutionis Oratoriae/ Ausbildung des Redners, hg. und übers. v. Helmut von Rahn, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, Buch IX 2, S. 29-31; Menke, Bettine: »Zitierfähigkeit: Zitieren als Exzitation«, in: Andrea Gutenberg/Ralph J. Poole (Hg.), Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen, Berlin: E. Schmidt 2001, S. 153-171. 27 »Durch sie [die Figur der Prosopopoöie] bringen wir zumal die Gedanken unserer Gegner so zum Vorschein, als ob sie mit sich selbst sprächen [...] – und führen sodann in glaublicher Form auch Gespräche ein, die wir mit anderen und die anderen untereinander geführt haben; schließlich können wir so Ratschläge, Scheltworte, Klagen, Lob und Jammern geeigneten Personen in den Mund legen. Ja, sogar Götter vom Himmel herab- und aus der Unterwelt heraufzurufen [excitare] ist bei dieser Ausdrucksform statthaft. Auch Städte und Völker erhalten Sprache [vocem accipiunt].« Zit. aus M.F. Quintilian: Institutionis Oratoriae, S. 29f. 28 Der Rede ist als Zitation die Spur des Nicht-Eigenen eingelassen; diese spaltet die (sog.) ›eigene Stimme‹ und macht sie anfänglich zur Szene; vgl. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 139-144. Dies stellte die Maske (persona, prosopon) vor: »sie streicht das Gesicht, den Ort und Signifikanten des Geistes gleichsam durch.« H.T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 102. 29 De Man, Paul: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 49.

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tierenden Rede hervorgebracht.30 Dazu, sowohl was als auch die Art, wie gesprochen wird, metaphorisch auf einen voraus-gesetzten Sprecher schließend, zu verstehen, setzen auch die Zuschauer und Zuschauerinnen von Murx den Europäer! stets wieder an. Die Instituierung von personae für Sprech-Instanzen kommt aber in Murx den Europäer! zu keinem Abschluss. Sie wird merklich, dadurch dass sie als Prozess ausgehalten wird, dass sie sich vollzieht, ohne sich resultathaft zu vollenden und personal zu verfestigen. Derart wird das VorKommen des einzelnen Sprechers, das allen gezeigten Vorgängen vorgängige Vorkommen, selbst zum theatralen Vorkommnis. Das, »was man bei dem dramatischen Theater den Auftritt heißt«31, findet nicht statt, oder es macht sich vielmehr in der Suspense, im Aufhalt des Abschlusses jenes Vollzuges, der der Auftritt ist, (mit der Formulierung Samuel Webers) das »unmittelbar sich nicht Vollendende des Auftritts« merklich. Es handelt sich, dafür sind Marthalers Theaterabende ein Beispiel, um eine nicht finite Verzögerung: ein Zögern auf der Schwelle – die derart unbestimmbar überall im Bühnenraum liegen kann. Einerseits wird (dadurch) – wie und anders als in Pabsts Lulu – der ansonsten heruntergespielte Aufwand merklich, der getrieben werden muss, damit Personen auf der Bühne erscheinen, hier: der symbolische Aufwand, der unbemerkt betrieben (und durch seinem Effekt verstellt) wird, damit dramatische Personen auf der Bühne erscheinen – und nicht irgend was Unlesbares, der dramatischen Handlung Fremdes. Das sind jene Operationen, durch die die Rede einer persona zugerechnet wird, durch die also aus dem umlaufenden diffusen Gerede eine lesbare dramatische Person als Subjekt der Rede hervorgebracht und naturalistisch verwechselnd für einen möglichen Träger dramatischer Handlung genommen wird. Vorgeführt wird das, indem die Ankunft des Vollzugs des Auftretens weit-gedehnt und als Vorgang, der die der exzitierenden Rede vorausgesetzte Person nachträglich konstituiert haben wird, aufgehalten ist. Der symbolische Auftritt, der aus dem physischen Akt, Bedingung der Möglichkeit allen theatralen Vor-Ort-Seins, den Auftritt einer dramatischen Person machen muss, wird in der Suspension (die dieser ist) als nicht finalisierter Prozess vorgestellt.32

30 So, als »effect of belated metalepsis«, bestimmt Judith Butler überhaupt das vermeintliche Subjekt des Sprechakts: durch jene »metalepsis by which the subject who ›cites‹ the performative is temporarily produced as the belated and fictive origin of the performative itself«. Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York & London: Routledge, 1997, S. 50. 31 S. Weber: »Vor Ort«, S. 45. 32 Die Ankunft ist Verlauf und damit Auf-Halt. Das Theater bringt »in einer temporalen Erstreckung zur Darstellung, so dass einiges schon versinkt, während neue Momente

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Andererseits lässt Murx den Europäer! das mithören, was der Hintergrund jeden solchen Auftrittes ist, von dem dieser sich nicht lösen kann. Das Verhältnis zum Chor, d.i. die im Bruch unlösbare Bindung an den Chor, bestimmt (überhaupt) das Zum-Sprecher-Werden auf der Szene.33 Grund des Vor- und Auftretenden, der im Auftritt figuriert wird, ist der Chor der Reden der vielen, der hier unbestimmten, nicht-figurierten diffusen Anderen; wobei hier das SichAblösen oder Abheben, die Scheidung von Kontur und Fond oder von Figur und Grund nicht durchgesetzt ist. Vor Ort hat statt, was als jeweilige Ablösung und Absetzung auf das Abgeschiedene, distinguierend Ausgeschlossene bezogen ist. Zitierend ist das gegenwärtige Sprechen und das (für die Präsenz einstehende) Gesicht für die Rede vor Ort in sich entzweit.34 Die sprechenden Gestalten hier und jetzt werden sich bei Murx den Europäer! nicht endgültig ab-gelöst haben von ihrem Hinter-Grund des anonym zirkulierenden vielstimmigen Geredes, jenes Gemurmels, aus dem die Reden her- und zukommen, die wir ex-zitierend zuzuschreiben suchen und damit Gesichter für Instanzen der Rede, konturierend, abscheidend und charakterisierend hervorbringen. Vielmehr bleiben sie – auf der Schwelle – virtuelle Nicht-/Personen,35 gebunden an die Schatten möglicher Le-

sich eben erst ankündigen.« H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 365f. »Die Theatergestalt hat eine Realität immer nur in der Ankunft, nicht in der Anwesenheit.« ebd., S. 443. S. Weber denkt dies für den Ort vor Ort: »der Ort findet statt, indem er [»von seiner eigentlichen Herkunft tendenziell abgeschnitten« wird,] das Geschehen des Unterbrechens in einen Zustand verwandelt«, »das Abschneiden als Bewegung abschneidet und dadurch verschwinden« lässt – und zugleich an diese Bewegung und deren Abschneidung zurückgebunden: gespalten, instabil. »[D]er Ort als solcher dazu neigt immer vor Ort zu sein: d.h. unmittelbar vor einer Erfüllung zu stehen, die zugleich sein Anfang und Ende wäre«. S. Weber: Theater im Zeitalter der Medien, S. 34. 33 »Es scheint, als könnten die Protagonisten nur auftreten, wenn sie den Grund, von dem sie sich als Einzelne abgrenzen, gleichzeitig mitbringen.« Zit. n. U. Haß: »Woher kommt der Chor«, S. 14, vgl. S. 20 u.a.). 34 In Parallele zum chorischen Sprechen »[h]ört man [...] einen Maskensprecher sprechen (oder spricht man selbst unter einer Maske) [...] auch hier die Stimme seltsam abgehoben, getrennt vom Selbst zu sein, nur mehr der Persona (der Maske) angehörig, nicht mehr der sprechenden Person.« Zit. aus H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 235f. 35 »Die Gestalt ist in ihrer Präsenz dennoch – abwesend. Soll man sagen: virtuelle? Sie bleibt theatral« genau in dem Auf-Halt, der »ihre konstitutive Virtualität ausmacht«

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ben und Reden36 als ihrem vielzähligen, unentscheidbar tiefen Hintergrund oder ihre Randzone als unerschöpflicher Reserve37. Die von Marthalers Theater ausgehaltene Frage ›Wer spricht?‹ und den in dessen Suspension erfahrbaren sich vollendenden Auftritt exponiert Dr. Jacques Duval oder Martin Wuttke in Polleschs Schmeiß dein Ego weg! als die Zumutung, die die dramatische Person wäre: »M: [...] Das Sprechen hier kann man weiter als Projektionen irgendwelcher Körper zulassen oder es kann als Sprechen als Stimme hier, von hier bis hier gesehen werden, das versucht, den Körper zu exponieren und nicht zu projizieren. Dieses Sprechen hier verweist auf niemanden der spricht. Wer spricht denn hier?«38

Polleschs Theaterarbeiten lassen immer »in der Schwebe«, »ob die Schauspieler etwaigen Personen eines Dramas entsprechen«.39 Sie drängen die Frage ›Wer

in jenen Vor- und Rückgriffen, in denen sie konstituiert wird und aufgeschoben bleibt. Zit. aus H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 442f. 36 »Aus einer ›wirkliche[n] Gestalt‹ ist also eine Schar von Geistern geworden.« Zit. aus S. Weber: »Vor Ort«, S. 41. Das Theater ist »als Schattenspiel der Möglichkeiten« (ebd. S. 41f.), als »Möglichkeitsraum« (H.T. Lehmann: Politisches Schreiben, S. 368); das »Streifen an« Virtualität macht es aus (ders.: Postdramatisches Theater, S. 441-443). 37 Von der Randzone als »unerschöpflicher Reserve« spricht Derrida, Jacques: »Tympanon«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Verlag 1999, S. 24; dort geht es ums Gehör, den Klangraum. 38 Pollesch, René: Schmeiß dein Ego weg! [Script], S. 13. Premiere am 12. Januar 2011 an der Volksbühne Berlin. [Die Schreibweise gibt im Folgenden in jedem Falle die des Sripts wieder.] 39 Diederichsen, Diedrich: »Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. René Polleschs kulturtheoretisches Theater erfindet die Serienkunst neu«, in: Theater Heute 3 (2002), S. 56-63, hier S. 58; ders.: »Maggies Agentur«, in: Pollesch, René: Prater-Saga, hg.v. Aenne Quiñones, Berlin: Alexander Verlag 2007, S. 7-19, hier S. 15. Die Frage Wer spricht? wird akzentuiert durch die bei fast allen Theaterarbeiten Polleschs sichtbar auftretende Souffleuse, die den Sprech-Part übernimmt, wo immer das nötig oder gewünscht ist, vgl. ebd. sowie Brandl-Risi, Bettina: »›Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir‹. Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch«, in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 137-155, hier S. 138f, S. 141f, S. 145.

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spricht?‹ auf, weil die »ganz fremde und ganz künstliche Sprache akademischer Texte« durch die Münder der vor Ort Sprechenden geht.40 Der »Chor« wird vorhalten: »Du willst doch hier wieder nur, dass sich Subjektivität konstituiert, und Personen an denen die Erfüllung von Moral gelingen kann«.41

III. Wie sich wohl herumgesprochen hat, realisiert René Polleschs Schmeiß dein Ego weg! (seit der Spielzeit 2011/2012 an der Volksbühne Berlin) die legendäre, das dramatische Theater modellierende fiktive, den Bühnenraum gegen die Zuschauer abschließende vierte Wand. Jene Wand, Mauer oder Vorhang, die Diderot Autoren, Schauspielerinnen und Zuschauern gleichermaßen zu fingieren empfahl, damit sich in dem derart als geschlossen vorgestellten Raum eine in sich (von innen) abgeschlossene Darstellung entfalten könne, die die illusionäre Teilhabe der Zuschauenden an jenem Charakter, um den die dramatische Darstellung von innen geordnet sein solle, ermögliche, weil derart alle potentiellen kontingenten Störungen durch die hier und jetzt gegenwärtigen Schauspieler-Körper oder andere im Hier und Jetzt des Theaters möglichen ausgeschlossen seien. Die Realisierung dieser Wand, einer Redensart, einer Figur, die – so wird explizit gesagt – eigentlich etwas anderes meinte,42 in einer hölzernen Ausführung, die dieselben Holzpaneele, die alle Wände des Zuschauerraumes der Volksbühne decken, ringsum schließend fortsetzt, tut nun alles andere als die Geschlossenheit der

40 D. Diederichsen: »Maggies Agentur«, S. 13; ders. »Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen«, S. 59. 41 R. Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 17. 42 »M: [...] Sie haben doch bestimmt von der vierten Wand gehört? [...] Sie war etwas, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht existierte. Es war sogar eher ein Begriff für etwas das ausgerechnet nicht existierte. Man sprach von etwas und nannte etwas die vierte Wand und meinte damit, dass sie eigentlich nicht existierte. [...] Welchen Vergleich könnte ich da heranziehen? Etwas, das es nicht gibt, das aber sonderbarerweise Körper werden konnte ... Ach ja! Vielleicht wie die Seelendarstellungen auf traditionellen Gemälden. [...] Figuren, die aussehen wie Engel, die aus den Mündern von Menschen streben, und die Seelen darstellen. Dass sie jetzt Körper sind auf diesen Gemälden sollte man Ernst nehmen.« R. Pollesch: Schmeiß‹ dein Ego weg!, S. 4; vgl. auch »[C: ] Man hatte zwar die vierte Wand erfunden, aber sie war nur rhetorisch. Es gab sie nicht wirklich. Man meinte etwas ganz anderes damit.« Ebd., S. 5.

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Darstellung, ungestört durch die medialen Bedingungen, zu gewährleisten.43 Denn sie ist eine groteske Verkörperung figürlicher Rede: jener aktiven Verleugnung, die die Rahmung der dramatischen Szene als deren (vermeintlich innere) Schließung vollzieht. Die mit der redensartlichen Wand gemeinte projektive Teilhabe des Publikums wird durchquert, verlegt durch diese Realisierung; das wird im Stück angesprochen als: »Sinn […] den ihr [T.s] Beruf nun einmal darstellte. Dass man etwas sah und es meinte einen. Es meinte die im Zuschauerraum. Es ging um eine Ähnlichkeit. Aber welche Ähnlichkeit sollte eine vierte Wand darstellen? Wen sollten die Zuschauer darin sehen [...]? Am Rande welcher Darstellbarkeit war man angekommen, wenn die vierte Wand, die nie ein Körper war, plötzlich einer wurde?«44

Verlegt ist jede, und sei es noch so projektive, Menschen-Ähnlichkeit und mit dieser das aufgerufene Modell darstellender Verkörperung, die projektiv Innerliches zugänglich mache. Das versperrte on-stage, das hinter der fiktiven vierten

43 Der Absorption des Blicks durch die Imagination entspricht der Integration des Auftritts im Bild, das durch diesen je in seinem inneren Bestand sich stören lassen und in seiner Rahmung (die das Drama ist) bestätigt werden muss, vgl. Diderot, Denis: De la poésie dramatique (= Oeuvres de théatre de M. Diderot, avec un discours sur la poésie dramatique, Band 2), Paris 1771; zu Diderots Auffassung der Szene als Tafelbild, das durch die innere Geschlossenheit der Darstellung geeignet sei, den Blick zu absorbieren, vgl. Fried, Michael: ›Absorption‹ and Theatricality: Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago/London: University of Chicago Press 1980 (Neuauflage 1988), Introd., chap. 2 u. 3. »Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen, an den Zuschauer ebenso wenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.« Diderot, Denis: »Von der dramatischen Dichtkunst« (1758), in: ders., Ästhetische Schriften, hg.v. Friedrich Bassenge, Berlin (Ost) 1967ff, Band 1, S. 239-333, hier S. 284. 44 R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 4f; »[C:] [...] Vor zweihundert Jahren dachte man, man könne Theater spielen und den Leuten etwas zeigen [...]. Man hatte zwar die vierte Wand erfunden, aber sie war nur rhetorisch.« Zit. aus ebd., S. 5. »[M:] Miss Peterson, Sie also kam eines Tages an ihren Arbeitsplatz und fand eine vierte Wand vor sich, von der sie zwar schon gehört hatte und die in ihrem Beruf auch eine Rolle spielte, aber die ihr bis dahin wie eine Redewendung vorgekommen war, wie etwas, von dem man zwar sprach, das aber nicht existierte.« Ebd., S. 4f.

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Wand im Modus der, ein Wiedererkennen ermöglichenden, Einfühlung zugänglich sein sollte, scheint hier außen, supplementär, im anderen Medium der Video-Direkt-Übertragung aus anderen Räumen zu sehen gegeben zu werden. Mag es also zunächst noch so scheinen, als werde derart medientechnisch Diderots Anweisung an den Zuschauer, das Theater zu vergessen und »im Theater« zu sehen, als ob er »gleichsam vor einem Vorhang steht, auf welchem ein Zauberer verschiedene Tableaus eines nach dem anderen«45 projiziert, ausgeführt, so verstellen doch die außen übertragenen Videobilder die inneren Bilder, die der Einbildungskraft der Zuschauenden aufgehen sollten (welche derart, so Diderot, mit der des Dichters kommuniziere).46 Abbildung 2: Schmeiß dein Ego weg! Minute 00:40

Quelle: Mitschnitt Schmeiß dein Ego weg!, Volksbühne Berlin (2011/12)

Das theatrale Sehen (selbst) wird hier neu gesehen, indem es durch die medientechnisch ausgeführte Teichoskopie supplementiert wird. Eröffnend wird die videoapparative Vorrichtung, die das Theater seit vielen Jahrzehnten und die Pollesch-Stücke fast immer nutzen, im Stück selbst – das eine Art Science-Fiction ist und wenn, dann 200 oder 300 Jahre nach der sogenannten Entdeckung der

45 D. Diderot: »Von der dramatischen Dichtkunst«, S. 324; die Auffassung der Szene als Tableau macht sie durch alle Auftritte spezifisch störbar. 46 Ebd., S. 325.

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realisierten vierten Wand spielt – angesprochen. T. wendet sich aus dem mit einem auffälligen Art-déco-Rahmen versehenen Videobild heraus, um die Videoübertragung fiktiv zu historisieren: »T: Vor hunderten von Jahren etwa, gab es ein sehr altes ein wirklich altes Instrument, mit dem man versuchte die vierte Wand zu überwinden. Ich weiß nicht, ob das heute noch funktioniert! Hier ist es! [Damit wendet sich T. in einer Parekbasis aus der Redeszene, der vermeintlich gezeigten Unterhaltung mit M. ab, d. Verf.in.47 ] Den Menschen damals war nicht klar, wer die vierte Wand aufgestellt hatte. Einige glaubten, es war ein Bühnenbildner, der eine Vorliebe für geschlossene Räume hatte, die er vor etwa dreihundert Jahren anfing zu bauen und die Leute um ihn herum, brauchten dann natürlich ein Instrument um das Geschehen darin sichtbar zu machen.«48

Die Videoübertragung würde demnach ein Fenster der Sichtbarkeit in einen anderen, der Sichtbarkeit entzogenen Raum öffnen, wie Teichoskopien (Mauerschauen) dies im verbalen Anschluss und Eintrag des off–scenae in die Szene tun. Die Rahmung der Guckkastenbühne ist hier durch den ausgedehnten ornamentalen Rahmen des supplementierenden Ausblicks nebendran ersetzt und damit rückwirkend re-markiert. Er erinnert das Fenster der Nautilos, des U-Boots von Jules Vernes Kapitän Nemo, das – in der ersten Verfilmung von 1916 – der Glasscheibe eines Aquariums in einer Verkehrung entsprechend den geschützten Blick in wunderbare, sonst dem Blick entzogene Welten ermöglichte;49 daher

47 Die Parekbasis, die Wendung aus der Redeszene, die die Fiktion der vierten Wand untersagte und verstellen sollte, hat – stets Steigerung der Fiktionen – hier metatheatralen Charakter. Es handelt sich hier auch um eine Wendung gegen das tableau-Modell der theatralen Szene nach Diderot: Da das Theater »Bedeutungen stets in einer temporalen Ersteckung zur Darstellung« bringt, löst Sinnstiftung im und damit des Rahmen(s) des Dramatischen als Vorgang die konstruierte »Rahmung [immer wieder] auf«, H.T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 365f.; zum internen Widerstreit in Diderots Bildertheater, vgl. Heeg, Günther: »Zur Intermedialität der Schwesterkünste. Theater und Malerei bei Diderot«, in: Christopher Balme/Markus Moninger (Hg.), Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien, München: epodium 2004, S. 75-98, hier S. 83, S. 85-87. 48 R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 1. 49 Jules Vernes Vingt mille lieues sous les mers (1874/75) wurde 1916 von Stuart Panton verfilmt. Der Film thematisiert sich selbst: einerseits die filmische Technik der Brüder Williamson, »secret of under-water-photography«, die es erstmals ermögliche, die Unterwasserwelt filmen zu können, mit deren Reklame der Film einsetzt, andererseits

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werden wir in diesem Bilder-Rahmen auch irgendwann eine Unterwasserwelt sehen, in der neben Fischen auch M. schwimmt. Auch eine Steigerung und Ausweitung von Sichtbarkeit kann diagnostiziert werden:50 Der Sicht zugänglich werden – übertragend – andere Räume, nicht nur der Raum hinter der vierten Wand, die ehemalige theatrale Szene, die zum ab-geschlossenen, zum entzogenen Raum geworden ist, sondern ebenso der, der hinter der ehemaligen BühnenRückwand läge, und weitere Räume und weitere Wände, die sich im Rückraum staffeln. Wo also wäre das Off? Wohin wird es verlegt? Wird es (immer weiter) nach hinten verlegt? Per Video – als vermeintliche Live-Übertragung – bekommen wir als letzte Grenze eine Kulissenwand zu sehen, durch deren Türe höchst zeremoniell, einzeln die Mitglieder des Chors eingelassen und begrüßt werden. Oder rückt es nicht vielmehr nach vorne (vor die Bühnenrückwand) und nimmt hinter der ehemals redensartlichen vierten Wand das vor-malige on-stage ein? Oder ist es überall (und d.h. nirgends)? Durch die vermeintliche Live-Übertragung aus dem Off des verstellten Raumes wird nicht nur eine rückwärtige Staffelung von Räumen an-sichtig, sondern diese werden entfernt und unbestimmt vermittelt, von (mehreren) bewegten Kameras51 übertragen, im anderen Medium elektronischer Bilder, das die Bilder und Stimmen von den Körpern ablöst, die daher (trotz allen Live-Appeals) ungewissen Zeiten angehören und einen ungewissen, multiplen Raum konstituieren.

mit »my magic window« Kapitän Nemos, das zu sehen ermögliche, »[what] you might think God never intended us to see«; »only cristal plates protect us«. Dieses Schau-Fenster ist mit einem voluminösen, vielfältig gerafften (Theater-)Vorhang ausgestattet; das U-Boot aber entspricht der Filmkamera, die ins Gewebe des Raums einschneidet; vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 495f, S. 457ff. 50 In dieser Hinsicht fasst Gertrud Koch den ›Film‹ ›beim Theater‹ auf, unter dem Titel: »Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?«, unveröffentlichtes Manuskript (2011), auf engl. publiziert: »What Will Have Been Film, what Theater?«, in: Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema, hg. von Gertrud Koch, Volker Pantenburg, Simon Rothöhler, Wien 2012, 126-136. 51 Das distinguiert diesen Medien-Einsatz, unterscheidet ihn vom Film; die Aufnahmegeräte werden dabei selbst sichtbar. G. Koch zufolge werde »[d]ie Videoübertragung [...] zum Medium der Simultanität von Räumen, die lediglich als der Wahrnehmung entzogene, aber weder zeitlich noch räumlich abwesende inszeniert sind. Sie werden zu Blickräumen, die vom Off und on der Kamera konstituiert werden[,] zu Bildräumen.« dies.: »Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?«, S.10. Mit der Bezogenheit auf den Schauraum des Theaters wird aber stets ein Verhältnis von Gezeigtem und Abwesendem verhandelt.

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Als apparativ ausgeführte Teichoskopie leistet die Video-Einspielung keineswegs nur die Ausweitung von simultaner Präsenz, einem mit dem Theater nie erfüllbaren Präsenz-Verlangen nachkommend.52 Die Übertragung aus jenem Off, das ehemals der Inbegriff des on-stage war, wird zwar vorgestellt als Kompensation für einen durch die realisierte vierte Wand besorgten Entzug, aber sie markiert zugleich die Sperrung der Sichtbarkeit von etwas auf der Bühne Gezeigtem, indem sie diesen Entzug kompensiert. Als oder wie eine Mauerschau setzt die Übertragung das Off, dessen Entzogenheit sie überwinde. In diesem Falle setzt die Teichoskopie, als die hier die Theatererfahrung vorgeführt ist, das (vormalige) on-stage (szenischer Darstellung) ins theatrale Off des nicht-Szenischen und setzt die vermeintliche Einheit vor Ort von Körpern, Sichtbarkeit und Verständlichkeit aus. Angewiesen auf einen Screen ist die Videoübertragung selbst Modus des Entzugs, Verstellung des Geschehens vor Ort, die die Darstellung durchquert und sie – zerlegt – als die in sich gespaltene vorstellt, die sie als Verstellung ist: Im Falle von Polleschs JFK liegt anfänglich eine semitransparente Membran als Screen für die Videoübertragung über der Bühne, die die Sicht auf die Bühne sperrt53 – allerdings noch sehen lässt, dass sie leer ist, dass hier die Darbietung jetzt nicht statthat. Die hölzern realisierte (fiktive) vierte Wand zeigt rückwirkend, dass es hinter der ›eigentlich‹ etwas anderes meinenden (nur) redensartlichen vierten Wand, auf der Szene Auftritte, die zugleich physischer und symbolischer Akt wären, gar nicht gab; denn, so T.: »Für ihren Körper war es ja keine so große Veränderung. Aber seine Abwesenheit hatte sich durch die vierte Wand ein für allemal manifestiert.«54 Der dramatische Auftritt wäre vollendet, wenn die kontingente Physis, an die er gebunden ist, die vor Ort gebracht werden muss, in der Figuration, in der Darstellung der dramatis persona möglichst umgehend vergessen gemacht wäre. Demgegenüber verweigert das hier umbauend installierte neue

52 So aber G. Koch: »Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?«, S. 5 u. S.10. 53 Der Beginn von JFK (Premiere am 09.05.2009 am Thalia Theater, danach am Deutschen Theater) macht mit Leinwand und einer Art Vorspann den »Theatersaal [...] zum Kinosaal«. G. Koch: »Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?«, S. 7. Ihre Frage, »Was hat das Theater an den oder beim Film verloren?«, beantwortet G. Koch damit, das sei »die vierte Wand, die nun auf der Bühne wieder eingezogen wird, und die sich als Leinwand des Films erweist, die Fähigkeit der Illudierung in der Fiktion«, ebd., S. 10. 54 R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 4.

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Dispositiv der theatralen Sichtbarkeit55 den Auftritt, indem es physische Exposition und Bild entkoppelt.56 Das theatrale Zeigen (das derart selbst dissoziiert wird) befreit sich vom Bild als dem Inbegriff des vermeintlich darstellenden Zusammenhanges von Körper und Verständlichkeit,57 durch dessen Phantasma Herkunft und Abscheidung, die Entzweitheit des theatralen vor Ort selbst und der Darstellung als Verstellung (in sich gespalten durch den abgeschnittenen Bezug aufs abgeschiedene Außen, aus dem die Körper hergekommen sein müssen) vergessen gemacht werden. Dies wird als Verhältnis des Außen und des illusionären Innen, von Körper und Seele diskutiert. Die grotesk-realisierte figürliche vierte Wand wird von Dr. Jacques Duval oder Martin Wuttke an zwei ihrer Holzpaneele durchbrochen und mit den Worten: »Das Innere geht nicht mehr! (kommt raus)«, geöffnet.58 »Raus«, das ist in der Redeweise des Backstage die Aufforderung zu dem, was sich im Blick der Zuschauenden als dramatischer Auftritt ausnehmen sollte. Aber hier behauptet sich nicht jemand auf der Bühne, sondern (»raus«) wird vielmehr jener Para- oder Schwellen-Raum des Proszeniums betreten, an dem die konstitutive Grenze des Bühnenraumes verhandelt wurde. Eine weitere Öff-

55 Dem Theaterpublikum der letzten Jahrzehnte ist es bekannt: als Aufenthalt, Spiel im durch Video-Live-Übertragung sichtbar gemachten vormaligen off-stage, das sich von anderen Formen der Einspielung von Filmen (seit Piscator; vgl. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), in ders.: Schriften I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 99-105) und Videoaufnahmen unterscheidet (vgl. H.T. Lemann: Postdramatisches Theater, S. 416-425). Es handelt sich um eine installative Ausführung des Theaters als Teichoskopie (vgl. die Beiträge von G. Brandstetter u. S. Diekmann im vorliegenden Band). 56 »Die Theaterszene als Bild verstellt den Schauplatz der Darstellung«, so Heeg, Günther: »Szenen«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft – Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i.Brsg.: Rombach 1999, S. 269-251, hier S. 261. 57 Daher kommt es tatsächlich auf die Verstellung der Darstellung an. Anders als für die Zweitauflage der »originelle[n] Idee, die vierte Wand einmal selbst frontal zu verwenden«, im Dresdner Schauspielhaus für die Hamlet-Inszenierung (Premiere Dezember 2012): »Wo sonst der Guckkasten klafft, steht eine perfekt fortgeführte Innenfassade des Theatersaals mit Ziermuscheln, Putten, goldenen Leisten und Königsloge«, womit, so jedenfalls der Rezensent, die Bühnenbildnerin »dem Publikum aber natürlich nicht die Sicht versperren« wolle. Zit. aus Briegleb, Till: »Hamlet, Superstar«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2.12.2012. 58 R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 9.

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nung, die sofort hergestellt wird, ermöglicht als zweite Tür Wetterhäuschen-AufAbtritte (so die treffende mündliche Formulierung von Juliane Vogel). Abbildung 3: Schmeiß dein Ego weg!, Minute 9:25

Quelle: Mitschnitt Schmeiß dein Ego weg!, Volksbühne Berlin (2011/12).

Sie ist das Vehikel der Verhinderung der Dialogszene. So nutzen klamottige Komödien, wie Polleschs JFK sie einzitiert, oftmals ihre vielen Türen, auch Schranktüren und Fenster, damit immer jemand falsch oder nicht raus-kommt, oder jemand anders, der gerade abgegangen ist, schon immer und stets erneut verpasst wird, und so weiter. Wenn M. deklariert: »es gibt keine innere Schönheit! Wir müssen raus! Du kannst nicht hier hinten spielen. Schluss mit der inneren Schönheit!«59, ist es auf Äußerlichkeit angelegt, nicht der Ausdruck eines Inneren gemeint. »[S]ieh doch endlich mal was da vor dir liegt. Ich, das hier! Da ist nichts eingeschlossen, irgendein Gefangener der raus will. Nein, das was du hier siehst ist die Seele. Die springt dir doch geradezu ins Gesicht«.60 Der sogenannte innere Wert ist, wie in einer Verschiebung des Modells der ausdrucksvollen Gestalt oder des Gesichts angeführt wird, wie bei einem Geldschein außen draufgedruckt: »An einem knittrigen Geldschein sieht [daher] auch nur jeder die

59 Ebd., S.11. 60 Ebd.

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Seele.«61 »[N]iemand sieht das Papier.«62 »Und das ist das Verbrechen an den sogenannten hinfälligen Körpern.«63 »Nein! [exklamiert der Chor, d. Verf.in] Hört endlich auf, nur die inneren Werte zu sehen! Hört auf, das zu sehen, was draufgedruckt ist.«64 Das Modell der darstellenden Verkörperung, das der in der ausdrucksvollen Gestalt oder dem Gesicht figurierten, verständlichen in sich geschlossenen dramatischen Darstellung und damit das der unmittelbaren illusionären Teilhabe am (vermeintlich) Dargestellten, das als Abschließung der Darstellung durch die imaginäre Verstellung durch die fiktive vierte Wand vorgestellt wurde, ist derart nicht nur verschoben kenntlich, sondern zugleich in präzisem Sinne durchquert: »[C:] [I]ch hab immer nur dein Äußeres geliebt. [...] Ich musste nicht durch eine miese Wand hindurch auf etwas sehen. Nein, ich konnte wie bei einem Geldschein ganz genau sehen, dass du das Papier bist.«65 Das Konzept darstellender Verkörperung wird so komisch wie insistent bestritten: »Aber es gibt kein Drama.«66

61 Ebd., S. 23. 62 »C: [...] Das was ich liebte war ja ganz und gar nicht getarnt. M: ja, genau! Das war dein Äußeres, das was ich Seele nennen würde. Das hier! Nicht das Äußere als das Gefängnis einer Seele. Nein! Die Seele selber, die hier draußen ist. Diese Verdrehung ist doch interessant, dass alle, die von deinem Äußeren reden, von etwas reden, was eigentlich die inneren Werte sind. Die inneren draufgedruckten Werte, wie bei einem Geldschein. Man sieht immer nur die zwanzig Euro und niemand sieht das Papier.« »Das wird oft verkannt, dass wir vor den Seelen sitzen, dass da nichts dahinter ist, ein innerer Wert, wie die 100 Euro, die auf Papier gedruckt sind, nein, das hier ist das Papier, ich und das will endlich geliebt werden!« (ebd., S. 10f, vgl. S. 20). 63 »Dass man da drinnen eine Seele vermutet, die nicht zerstört ist, ist das Material auch noch so hinfällig.« Ebd., S. 23. »[C:] Wenn du zu mir sagst, du liebst nicht nur meinen Körper, sondern auch was Inneres, was alterslos ist, wie die Seele und das Herz, dann frage ich mich, warum ich diesen Satz nicht als zutiefst unmenschlich empfinde. Er übergeht völlig das, was vor dir steht, die Seele, das Werden, die Toten. Alle Körper denen gemeinsam ist, dass sie verletzbar sind.« Zit. aus ebd., S. 17. »[U]nsere Körper, das wollten wir, unsere Körper, und das heißt das, wenn man seine Körper will, den Tod! Das heißt das und eben nicht das Leben. [...] die Körper dulden, die Toten da vor uns.« Ebd., S. 29; vgl. S. 27. 64 Ebd., S. 23. 65 Ebd., S. 10. 66 »Ja, ich weiß, du würdest gerne von dem Kratzen an deinem Körper auf ein Inneres schließen, und dir ein Drama erzählen, das du für dein Leben hälst, ja, ich weiß. Aber es gibt kein Drama. Die Seele ist der Körper und der ist draußen.« Zit. aus ebd., S. 4.

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»[W]as man bei dem dramatischen Theater den Auftritt heißt«67, ist ein symbolischer Vorgang, der nicht umhin kann, auch die Physis auf die Bühne zu bringen; aber der dumme Körper hat keinen Ort innerhalb der Rahmung, bzw. hinter der imaginären vierten Wand, sondern die kontingente Physis abscheidend muss projektiv etabliert werden, was als dramatische Person diesem Rahmen, der das Drama ist, sich integriert. Polleschs Schmeiß dein Ego weg! nimmt das komplexe Konstrukt des Auftritts, dessen Konstruktcharakter durch dessen Effekt einer imaginären Person vergessen gemacht ist, auseinander. Daher manifestieren sich multidirektionale Energien, die nicht zur vermeintlichen Ganzheit der Darstellung eingefasst sind, die mit der fiktiven vierten Wand gemeint war, und zwar gerade auch nicht in dem darstellenden, verständlichen, sprechenden Körper. Der (Körper) des in diese Anordnung – in der fiktiven Welt des Stücks – gerade aus dem Kälteschlaf geholten Dr. Jacques Duval (oder Martin Wuttke) ist ein wild gestikulierender; Zappeln wird das immer wieder genannt. »[Aber, so M.:] Ich zappele doch gar nicht, das ist nur eine nicht-artikulierende Äußerung. Ich will hier nicht den Eindruck einer abgeschlossenen Sache erwecken, sondern von dem, was genau das Gegenteil von etwas Geschlossenem und Abgeschlossenem ist. Wenn wir also annehmen, dass es so etwas gäbe, etwas vollkommen in sich, an sich Geschlossenes, dann würde ich sagen: das ist kein Körper. Kann etwas überhaupt Körper sein in so einer geschlossenen Welt?«68

Das »Sprechen hier« behauptet sich gegen die projektive Ganzheit einer dramatischen Figur69 als Manifestation eines disparaten Körpers, der »das Außerhalbvon-sich-sein«70 ist, oder als »Aufbruch der Körper in alle Körper«71.

Und: »Es gibt hier nichts zu bereden und nichts mitzuteilen als Körper, Körper, Körper. Und wenn wir hier Seele sagen, sagen wir nur Seele wegen dem Körper, die ist der Körper, das da vor uns! [...] Ja, ich weiß, du würdest gerne von dem Kratzen an deinem Körper auf ein Inneres schließen, und dir ein Drama erzählen, das du für dein Leben hältst, ja, ich weiß. Aber es gibt kein Drama.« (Ebd., S. 29). 67 S. Weber: »Vor Ort«, S. 45. 68 R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 8. 69 »T: Sie zappeln schon wieder herum. M: nein, ich zapple nicht. Das Sprechen hier kann man weiter als Projektionen irgendwelcher Körper zulassen oder es kann als Sprechen als Stimme hier, von hier bis hier gesehen werden, das versucht, den Körper zu exponieren und nicht zu projizieren. Dieses Sprechen hier verweist auf niemanden der spricht. Wer spricht denn hier? Du musst nur mal genau hinsehn, dann kannst du es sehen./ das hier ist die Stimme und das Sprechen ist genau hier [...]. Die Projektion

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IV . Schmeiß dein Ego weg! verweigert den Auftritt; und dadurch dass die videoapparative Teichoskopie – als die die in einer Vielzahl von gegenwärtigen Theaterarbeiten eingespielte supplementäre (angeblich) simultane Videoübertragung hier ausgewiesen ist – die vormalige Szene der Darstellung, das vormalige (vermeintliche) on-stage hier ins Off setzt, hat eine Reflektion auf die Relation von theatraler Darstellung und Abwesenheit statt. Die Szene ist ›selbst‹ anders-wohin be-zogen. Zugleich leistet diese Installation im Supplement der Bilder, die vormals als in sich geschlossene (aufeinanderfolgende) Tableaus für die dramatische Geschlossenheit stehen sollten, die Zerlegung der vermeintlichen Einheit vor Ort: von Körpern, Sichtbarkeit und Verständlichkeit, durch die Ablösung der imaginären Bilder vom Theater.72

reicht nämlich nirgendwohin, sie berührt nicht, sie rührt an keine Stelle, während das Sprechen, dass [!] versucht den Körper zu exponieren, hier sehr wohl an den Körper rührt. Sie sehen das hier gerade während ich spreche. Dieses Sprechen rührt an den Körper. Wenigstens an meinen.« Ebd., S. 13f. 70 »[M.] Das hier wäre die vorherrschende Vorstellung, dass die Seele da irgendwo im Körper zappelt, aber ... (geht aus dem Chor heraus) wenn ich ganz scharf sehe und denke, dann ist der Körper außerhalb von sich. Der Körper ist das Außerhalb-vonsich-sein, das ist eigentlich dass [!], was mit dem Wort Seele benannt wird.« ebd., S. 20. Bezeichnet ist damit auch der Zusammenhang von theatralem Geschehen und Denken, der bestimmend ist für das Verhältnis dieses Theaters zur Theorie, die, entgegen häufig zu lesender theaterwissenschaftlicher Diagnosen, nicht nur in den auf der Bühne gesprochenen Teilstücken aus theoretischen Texten besteht. Vgl. Matzke, Annemarie: »Theorien auf die Bühne schmeißen. René Polleschs Lehrstück Theater«, in: dies./Christel Weiler/Isa Wortelkamp (Hg.), Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft, Berlin/Köln: Alexander Verlag 2012, S. 119-133. 71 »Alle Körper denen gemeinsam ist, dass sie verletzbar sind. Es geht um einen Aufbruch der Körper in alle Körper. Das ist die Seele.« R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 17. »[D]as heißt das, wenn man seine Körper will, den Tod! Das heißt das und eben nicht das Leben. [...] die Körper dulden, die Toten da vor uns.« Ebd. 72 Daher scheint mir diese wie andere den Theaterraum umbauende Installationen unter dem Rubrum der Intermedialität nicht angemessen aufgefasst. Vgl. dazu Balme, Christopher: »Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung«, in ders./Moninger (Hg.), Crossing Media, S. 13-31, hier S. 16 ff, S. 27-30. So auch nicht die Installation in Polleschs Liebe ist kälter als das Kapital, welche nicht nur eine Kombination aus Bühne und Filmset ist, sondern die

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Polleschs JFK lässt unseren Blick anfänglich auf den sperrenden Schirm als eine Kinoleinwand treffen, auf die dann eine Art Fernsehreportage aus rückwärtigen Räumen übertragen wird: »[J:] Ich habe sehr rätselhafte Nachbarn. Sie stehen oft vor Türen herum mit einem Manuskript in den Händen, so als würden sie gleich eintreten, oder sie überlegen es sich lange, rauchen noch eine Zigarette und haben vor lauter Ungeduld, diesen Ort zu verlassen, einen Koffer in der Hand. Ich komme sie manchmal besuchen. Sie stehen dann vor ihrer Türschwelle und scheinen zu zögern, was aber nichts mit mir zu tun hat. [...] Sie haben scheinbar Dienstboten, die ihnen die Dinge reichen, die sie so brauchen, einen Koffer, eine Zigarette [...].«73

Durch videoapparative Teichoskopie wird auch hier das eingespielt, was als Off gesetzt wird, ein Theatergeschehen, das sich auf der Rückseite dessen aufhält, was das Drama ausschließend-rahmend ermöglicht, das einen Auf-ent-halt anderswo nimmt, der den Bühnen-Auftritt aufhält, verzögert oder ihn verpassen lässt: »[F:] (Impro) Ich steh an der Tür mit meinem Koffer. Zigarette in dem Mund, so steh ich hier Stunden. Meine Kollegin schaut mich an, sie wünscht mir viel Glück. Ich sage: Das wird schon, ich zieh an der Zigarette und warte. Auf mein Stichwort. Ich glaub, ich hab’s verpasst. Kein Drama, denk ich mir. [...] Sie sagt: Nein, da war es doch! Wirklich? Sie schüttelt Kopf, sagt: Ja, ja, ja, ja, ja, ja, das wars, geh raus, du musst raus. Ich bleib einfach stehen und zieh an meiner Zigarette. Setz mich noch mal aufs Sofa, sag: dann geh du doch raus, das war doch dein Stichwort! [....] Na gut, ich nehme meinen Koffer, ich geh zu der Tür. Sie macht mir die Tür auf und ich geh raus ... geh raus. Ich gehe zum Bett. Leg den Koffer hin und setz mich dahin, ich denke kurz nach und schau mir das Publikum an. Meine Kollegin setzt sich neben mich, lächelt mich so verliebt an ... Plötzlich fällt mir ein:

das Backstage fremden Blicken aussetzt und es damit zu etwas anderem macht: »Das war doch mal Tradition, dass man von der Bühne abgeht und dann war man in der Wirklichkeit.« Bezüglich der Intermedialitäts-Konzepte ist oftmals fraglich, ob denn überhaupt die Relation Medien oder von »Kunstgattungen« oder »Formen« verhandelt werden, so etwa Sontag, Susan: »Theater und Film«, in dies.: Kunst und Antikunst, München: Hanser 1980, S. 177-195, hier insb. 191-93. 73 Pollesch, René: JFK [Skript], Reinbek: Rowohlt Theater Verlag 2009, S. 2f.

238 | B ETTINE M ENKE meine Freundin ist ja da. Sie findet es nicht gut, wenn ich Frauen auf der Bühne küsse, da gibt es nachher wieder eine Szene zuhause.«74

Vorgegeben wird auch hier, es handle sich um eine Live-Übertragung von jetzt, gleichzeitig, aber anderswo agierenden und sprechenden Körpern. Aber JFK lässt wie Schmeiß dein Ego weg! unentscheidbar, ob das, was wir hören, jetzt, wenn auch nicht hier (jedenfalls nicht hier: vor Ort) statthat: in jenem Jetzt, das an der Grenze, im Abstand von Zuschauenden und Darstellenden geteilt wird. Was wir sehen und hören, könnte nicht nur überall statthaben, sondern auch in jeder vorausliegenden Zeit aufgezeichnet und gespeichert worden sein. Hier, auf der Bühne, die wir noch durchscheinen sehen, ist weder jetzt (noch zuvor) ein Wort verlautet, keinesfalls kann ein ›Stichwort‹ (schon) gefallen sein, sie ist leer. Wenn dann, irgendwann jetzt, wie es sich gehört, die Tür zur Bühne geöffnet und der Akteur (F) die Schwelle zum Bühnenraum überschreitet, wird die als Screen fungierende Membran hochgerollt, fällt der Blick auf die Bühne: in dem Moment, in dem der Bühnen-Auftritt (vor Ort) aus- und aufgeführt wird. Abbildung 4: ›JFK‹, Minute 6:34

Quelle: Mitschnitt JFK, Deutsches Theater Berlin, R: René Pollesch.

Ist das/hier/jetzt ein Auftritt gewesen? Oder wird vielmehr einer zitiert? Denn aufgetreten wird hier im Rahmen, ins Bühnenbild des innerhalb von JFK aufge-

74 R. Pollesch: JFK, S. 4; das ergibt einen Rückbezug zu Lulu, die sich auch nicht nur als dramatische Person exponieren würde.

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führten Stücks, offenbar irgendeine boulevardeske Klamotte, nicht in den Rahmen und die Szene von JFK – wo immer diese auch wären, wenn es denn einen Rahmen für JFK überhaupt gäbe. Als Analogon zur in Schmeiß dein Ego weg! realisierten (fiktiven) vierten Wand fungiert bei JFK die Bühnen-Rückwand, die einmal den Bühnenraum begrenzte und die Bühne als Schauraum abscheidend negativ bestimmte, gegen den Rückraum, das Off abschirmte und zugleich die Stelle der Schwelle, des Zuund Auftritts (als Ein- und Übertritt) angibt. Wie die hölzern realisierte fiktive vierte Wand stellt sie den Bezug her auf einen anderen Raum anderswo, der durch die Teichoskopie (im anderen Medium) angeschlossen und zugleich als Off gesetzt wird. So verweist Schmeiß dein Ego weg!, indem die fiktive vierte Wand die jeweilige Darstellung als Verstellung kenntlich machend als hölzerne Zustellung des theatralen Schauplatzes realisiert wird, damit umgekehrt zugleich auf unbestimmte Reserve-Räume überall, hinter allen Wandpanelen: latente Ons lauern im Off. Eingespielt wird als die Randzone jeder vermeintlich gegenwärtig gezeigten sichtbaren Darstellung eine virtuelle unerschöpfliche Reserve.75 Der verpasste Auftritt ist der Vorbehalt der Potentialität (des Off). Wenn die Suspense des Auftritts im Verbleiben vor der Schwelle die Etablierung eines etwas oder jemand verpasst (»Ich hab’s verpasst«76), so muss umgekehrt das durch den nicht-verpassten Auftritt Verpasste vermerkt werden: »[W]arum ist der denn nicht hier? [sondern irgendwo anders, im off] [...] Warum verpass ich das jetzt? Warum keiner bereut, dass er etwas verpasst hat. Das war doch mal so, aber jetzt können alle dafür geradestehn, dass er etwas verpasst hat [...]. Dass das in der Logik der Sache liegt, dass man eben nicht alles sehen kann. Doch das geht. Und nicht alles zu sehn ist das Verhängnis!«77

Die vermeintliche, stets noch aufgeschobene, auch im Falle des dramatischen Theaters stets noch sich vollendende Präsenz vor Ort wird derart verwiesen an

75 Vgl. den Beitrag von G. Brandstetter im vorliegenden Band. Auch das von ihr beschriebene Wundertheater von Cervantes ist ein virtuelles Theater hinter der hölzernen Wand. 76 R. Pollesch: JFK, S. 4. 77 R. Pollesch: JFK, S. 30. »Wenn man etwas verpasst, ist man tot, außer man hat ein Manuskript in der Hand und folgt einem Leben das nicht seins ist! Wenn wir eben nicht dem folgen, was unser Leben ist. Wir brauchen ein verfehltes Leben, um zu uns zu kommen. Damit du da jetzt zur Tür reinkommst und wir uns begegnen, brauchen wir ein verfehltes Leben.« Ebd.

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das virtuelle alles andere, das durch die jeweilig aktualisierende Darstellung ausgeschlossen und verstellt wäre. Die durch die apparative Teichoskopie sowohl als Off gesetzte wie angeschlossene Zone fügt sich nicht dem Vorhernachher binärer Brüche und nicht dem Entweder-oder binärer Scheidungen. Sie ist als Zwischenzone ungerahmt und unabgeschlossen, ein Warteraum, aber auch ein Raum, den Kräfte bestimmen und durchziehen, in dem Kräfte auch binden können, und insofern ein Raum des unbestimmten (Zwischen-)Aufenthalts,78 der in dieser Hinsicht auch mit dem Zeit-Raum von Marthalers Murx den Europäer in Kontakt steht. Dieses nicht-konturierte nicht in sich geschlossene Zwischenreich ist die Zone jener Zwiespältigkeit, die das on-stage selbst als in sich entzweit bestimmt, die dem vor-Ort-Sein des Theaters selbst eignet, das, indem es sich vom Off ab-scheidet, an dieses, an das es negativ bestimmende Außen: anderswo, gebunden ist. Zum einen ist derart die Bühne, der traditionelle Auftrittsraum selbst Zwischenzone, unentschieden zwischen Innen und Außen, nicht geschlossen, dissoziiert, verteilt, ein inhomogener Schwellenraum. Zum andern gibt es in dieser Zone ohne gesicherte Grenze, unbestimmt in sich/von sich geschieden, keinen Auftritt, nicht den einer dramatischen Person zu jener mit-sichidentischen Präsenz, die es auf dem Theater nicht gibt, die als vermeintliche Einheit vor Ort von theatralem Ort, Ereignis und dramatischer Figuration, von Körpern, Sichtbarkeit und Verständlichkeit vorgestellt wurde. Der dramatische Auftritt, jenes Konstrukt, das die dramatische Vorstellung voraussetzt und dessen Konstruktcharakter diese (gestalthaft sich abschließend) vergessen machte, ist suspendiert oder hier eher: dissoziiert, in seinen Elementen an verschiedene Orte verteilt. So ist und bleibt immer fraglich, wer hier spricht. Dies ist kein Theater ohne personae, sondern es lässt »in der Schwebe«, »ob die Schauspieler etwaigen Personen eines Dramas entsprechen«.79 Es ist das Skript, das die

78 »Eines Tages nahm meine Nachbarin wieder den Koffer dieses netten Herrn entgegen. Und anstatt sich auf ihren Weg zu machen mit dem Script in ihrer Hand oder im Kopf, hielt sie kurz inne und sprach mit dem Feuerwehrmann, für den sie sich schon länger interessierte. – und tausend Leute da draußen vor ihrer Tür warteten auf ihren Auftritt.« R. Pollesch: Schmeiß’ dein Ego weg!, S. 3. »[F:] Und sie hier. Mit dem Feuerwehrmann! (zeigt auf K) Jetzt hat sie schon wieder den Auftritt verpasst. Sie muss sich doch nicht dauernd mit dem Drama beschäftigen, dass sie ihren Auftritt verpasst hat. Die 1000 Zuschauer können sich doch auch (mal kurz) mit was anderem beschäftigen!« Ebd., S. 25. 79 D. Diederichsen: »Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen«, S. 58. Schmeiß Dein Ego weg! hat ein Personenverzeichnis, das zugleich der Besetzungszettel der Auffüh-

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»Übung« in einem »Leben im Selbstwiderspruch« ermögliche,80 das trennt und entzweit, und derart »Erfahrungen« machen lasse.81 Daher sind fast alle Sätze hier zugleich metatheatrale,82 solche über das Theater-Spiel: »wir können ja nicht lieben«.83 Wer ist ›wir‹? Und wo?

rung an der Volksbühne ist, während für JFK keine dramatis personae verzeichnet sind, und das Skript die Reden den mit Majuskeln bezeichneten Schauspielern zuteilt. 80 R. Pollesch: JFK, S. 20. »[J:] Diese komischen Leute/ Nachbarn hier ... Was machen die denn da, frag ich mich oft. Mit ihren Manuskripten in den Händen, und wie sie sich um ihre Freundin im Publikum, und um eine Geliebte, die im Script steht, gleichzeitig kümmern, ist es, als würden sie sich in einem Leben im Selbstwiderspruch üben!« Zit. aus ebd., S. 9. »[K:] manchmal, wenn du dieses Manuskript zur Hand nimmst mit dieser konventionellen Liebesgeschichte, dann schreibst du mir so wundervolle Dinge, so als gäbe es das, die Liebe zu jemand anderem. Aber so unvermittelt ohne Manuskript begehrst du nur dich.« Zit. aus ebd., S. 10. »[K:] Wir müssen gegen unsere Leben sein, entweder mit einem Manuskript in der Hand, das uns von unserem Leben trennt, oder gegen das Manuskript, das uns von unserem Leben trennt und wir dann nichts mehr haben als einen unmittelbaren Kontakt zu dem authentischen Matsch in dem wir stehn. Aber [...] Da lieben wir uns doch. Wenn wir uns mit Sätzen anfassen, die nicht unsere sind.« Ebd., S. 20; vgl. auch S. 30. 81 »[F:] Wenn du eine Vorstellung spielst, wenn ich eine Vorstellung spiele und einer Geschichte folge, mach ich dabei doch auch Erfahrungen, die über die Vorstellung hinaus die konkrete Wirklichkeit berührt, ich bin aber nicht mehr a l l e i n mit i h r beschäftigt, sondern auch mit einem Script an das ich mich halten kann. Ich erzähle mir also eine Geschichte, wenn wir beide uns begegnen. Das ist zwar nicht unsere Geschichte, aber während wir an ihr entlang gehen, berühren sich doch auch unsere Leben.« Zit. aus ebd., S. 14. »[F:] Dem Schicksal ist nur zu begegnen mit einem anderen Manuskript. Wenn wir eben nicht dem folgen, was unser Leben ist. Damit d u da jetzt zur Tür reinkommst und wir uns begegnen, brauchen wir beide ein verfehltes Leben. Das führt uns zusammen. Und kein authentisches. Keine Leben, die die unseren sind. Das ist Liebe, Leben die nicht die unseren sind. W i r können ja nicht lieben.« Ebd., S. 24; vgl. S. 30. 82 »[F:] Ich würde so gerne mit dir reden mein,[!] Schatz. Aber ich muß immer auf die Metaebene. Warum wollen immer alle auf die Metaebene? Das muss doch einen Grund haben.« Ebd., S. 27. 83 Ebd., S. 24.

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L ITERATUR Balme, Christopher: »Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung«, in ders./Moninger (Hg.), Crossing Media, S. 13-31. Bazin, André: Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag 2004, darin: »Theater und Film«, S. 162-216. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. S. 471-508. Benjamin, Walter: »Einbahnstraße«, in: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe, Band 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg.v. Rolf Tiedemann/Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, Band 1, S. 203-430. Brandl-Risi, Bettina: »›Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir‹. Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch«, in: Jens Roselt/Christel Weiler (Hg.), Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld: transcript 2011, S. 137-155. Briegleb, Till: »Hamlet, Superstar«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2.12.2012. Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York & London: Routledge, 1997. De Man, Paul: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 31-51. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Derrida, Jacques: »Tympanon«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Verlag 1999. Diderot, Denis: De la poésie dramatique (= Oeuvres de théatre de M. Diderot, avec un discours sur la poésie dramatique, Band 2), Paris 1771. Diderot, Denis: Ästhetische Schriften, hg.v. Friedrich Bassenge, Berlin (Ost) 1967ff, Band 1, S. 239-333. Diederichsen, Diedrich: »Maggies Agentur«, in: Pollesch, René: Prater-Saga, hg.v. Aenne Quiñones, Berlin: Alexander Verlag 2007, S. 7-19.

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Autorinnen und Autoren

Brandstetter, Gabriele; Prof. Dr., Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ästhetik von Tanz, Theater und Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart; Virtuosität in Kunst und Kultur; Körper – Bild – Bewegung. Seit 2007 Forschungsprojekt Berühren und Rühren. ›Movere‹ im Tanz« im Rahmen des Exzellenz-Clusters »Languages of Emotion«; seit 2007 Mitdirektorin des Internationalen Kollegs Verflechtungen von Theater-Kulturen. Publikationen (Auswahl): Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde (Frankfurt a. M. 1995; um einen dritten Teil erweiterte Auflage: 2013); Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien (Berlin 2005); Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs ›Sacre du Printemps ‹ (hg. zus. mit Gabriele Klein, Bielefeld 2007); Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse (hg. zus. mit Bettina Brandl-Risi und Kai van Eikels, Freiburg i. Br. 2007); Tanz als Anthropologie (hg. zus. mit Christoph Wulf, Paderborn 2007); Prognosen über Bewegungen (hg. zus. mit Sybille Peters und Kai van Eikels, Berlin 2009); Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis (hg. zus. mit HansFriedrich Bormann und Annemarie Matzke, Bielefeld 2010); Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenografie und Choreografie im zeitgenössischen Theater (hg. zus. mit Birgit Wiens, Berlin 2010); Dance [And] Theory (hg. zus. mit Gabriele Klein, Bielefeld 2013). Diekmann, Stefanie; Dr. phil., Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Stiftung Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: intermediale Konstellationen, dokumentarische Formate, Medienreflexion im Film, Theoriegeschichte des Kinos. Publikationen (Auswahl): Backstage – Konstellationen von Theater und Kino (Berlin 2013), Die andere Szene. Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm (Hg., Berlin 2014), Six Feet Under, Reihe booklet

246 | A UFTRITTE IN Z EIT UND R AUM

(Berlin 2014); regelmäßige Beiträge für die Zeitschriften Cargo und Texte zur Kunst. Kappeler, Annette; Dr. des., Literaturwissenschaftlerin und Musikerin, Postdoc am Nationalen Forschungsschwerpunkt eikones des Schweizer Nationalfonds. Forschungsschwerpunkte: Opernforschung, Übersetzungswissenschaft. Publikationen (Auswahl): Schweizer Opern en voyage (hg. zus. mit Claudio Bacciagaluppi, Lausanne 2011); »Körperlose Stimmen. Herrschaftsdiskurse in Rameaus Zoroastre«, in: Nicola Gess u. Tina Hartmann (Hg.): Barocktheater als Spektakel (München 2015). Krankenhagen, Stefan; Prof. Dr., Kulturwissenschaftler, Professor für Kulturwissenschaft und Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Publikationen (Auswahl): Collecting Europe: On the museal construction of European objects, in: Kjerstin Aukrust (Hg.): Assigning Cultural Values (Frankfurt a. M. 2013, S. 253-269); Das relationale Objekt. Überlegungen anhand transnationaler Sammlungsstrategien der Gegenwart, in: Reinhard Johler et al. (Hg.): Kultur_Kultur. Denken, Forschen, Darstellen. (Münster, New York, München, Berlin 2013, S. 352-361); Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung (zus. mit Wolfram Kaiser und Kerstin Poehls, Köln, Weimar, Wien 2012); Figuren des Dazwischen. Naivität in Kunst, Pop- und Populärkultur (hg. zus. mit Hans-Otto Hügel, München 2009). Matzke, Annemarie; Prof. Dr., Theaterwissenschaftlerin und PerformanceKünstlerin, Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheater an der Stiftung Universität Hildesheim und Mitglied des Performancekollektivs She She Pop. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Praxis des Gegenwartstheaters, Schauspielkonzepte, Theorie und Geschichte der Theaterprobe. Publikationen (Auswahl): Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen der Selbst-Inszenierung im zeitgenössischen Theater (Hildesheim 2005); Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren (hg. zus. mit Gabriele Brandstetter und Hans-Friedrich Bormann, Bielefeld 2011); Arbeit am Theater (Bielefeld 2012); Das Buch der Angewandten Theaterwissenschaft (hg. mit Christel Weiler und Isa Wortelkamp, Berlin 2012). Menke, Bettine; Prof. Dr., Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Literaturund Texttheorie, Dekonstruktion, Gender, Rhetorik und Gedächtnis, poetische und sakrale Zeichenordnungen, zu Allegorie, zum Witz und den Medien Schrift,

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Schall, Theater. Publikationen (Auswahl): Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin (München 1991; Neuaufl. 2001); Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka (München 2000); Literatur als Philosophie. Philosophie als Literatur (hg. zus. mit Eva Horn, Christoph Menke, München 2006); Tragödie. Trauerspiel. Spektakel (hg. zus. mit Christoph Menke, Berlin 2007); Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen (Bielefeld 2010); Das Melodram: ein Medienbastard (hg. zus. mit Armin Schäfer und Daniel Eschkötter, Berlin 2013). Otto, Ulf; Dr. phil., Theater- und Kulturwissenschaftler, Dilthey-Fellow am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Stiftung Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Konvergenzen von Theater- und Technikgeschichte, Gesten und Genealogien des Reenactments, Theatralität der digitalen Medien, mediale Versuchsanordnungen im zeitgenössischen Theater. Publikationen (Auswahl): Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments (hg. zus. mit Jens Roselt, Bielefeld 2012); Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien (Bielefeld 2013). Das aktuelle Habilitationsprojekt beschäftigt sich mit der Elektrifizierung des Theaters und der Theatralisierung der Elektrizität im ausgehenden 19. Jahrhundert. Roselt, Jens; Prof. Dr., Theaterwissenschaftler, Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Stiftung Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik des zeitgenössischen Theaters und der Performancekunst, Geschichte und Theorie der Schauspielkunst, Aufführungsanalyse, Regie im Theater. Publikationen (Auswahl): Seelen mit Methode – Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater (hg. und mit einer Einführung von Jens Roselt, Berlin 2005); Phänomenologie des Theaters. (München 2008); Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater (hg. zus. mit Melanie Hinz, Berlin 2011); Theater als Zeitmaschine – Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (hg. zus. mit Ulf Otto, Bielefeld 2012); Regie-Theorien (hg. und mit einer Einführung von Jens Roselt, Berlin 2014). Siegmund, Gerald; Prof. Dr., Theaterwissenschaftler, Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Theatertheorie, Ästhetik, Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im postdramatischen Theater im Übergang zur Performance und zur bildenden Kunst. Publikationen (Auswahl): Theater als Gedächtnis (Tübingen

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1996); William Forsythe – Denken in Bewegung (Berlin 2004); Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes – William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart (Bielefeld 2006); Theater des Fragments (hg. zus. u.a. mit Anton Bierl, Bielefeld 2009); Subjekt : Theater. Beiträge zur analytischen Theatralität (hg. zus. mit Petra Bolte-Picker, Frankfurt a. M. 2011); Dance, Politics, and Co-Immunity (hg. zus. mit Stefan Hölscher, Berlin/Zürich 2013). Vogel, Juliane; Prof. Dr., Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Gastprofessuren an der Ludwig Maximilian Universität München, der Princeton University und der University of Chicago. Forschungsscherpunkte: Literatur der Jahrhundertwende, zur österreichischen Literatur, zu den experimentellen Schreibweisen der Moderne und zu den Grundlagen und Grundbegriffen europäischer Dramaturgie. Gemeinsam mit Christopher Wild Forschungsprojekt im Rahmen des ExzellenzClusters »Poetik des Auftretens«. 2002/03 IFK-Research Fellow. 2010/2011 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz. Publikationen (Auswahl): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. (hg. zus. mit Thomas Eder, München 2010); verschiedene sätze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion. (hg. zus. mit Thomas Eder, Wien 2008); Weiß. Ein Grundkurs (hg. zus. mit Wolfgang Ullrich, Frankfurt a. M. 2003); Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der »großen Szene« in der Tragödie des 19. Jahrhunderts (Freiburg/Br. 2002); Elisabeth von Österreich. Momente aus dem Leben einer Kunstfigur (Frankfurt a. M. 1992/1998). Im Erscheinen: Auftreten. Wege auf die Bühne (hg. zus. mit Christopher Wild, Berlin 2014). Wartemann, Geesche; Dr., Theaterwissenschaftlerin, Professur für Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters an der Stiftung Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Theaters für junge Zuschauer, Inszenierungen der Interaktion in Probenprozessen und Aufführungen zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters, Konzepte der Theatervermittlung. Publikationen (Auswahl): Theatre for Young Audiences and Perceptions of the Contemporary Child (hg. zus. mit Mary McAvoy und Tulin Saglam, Hildesheim 2015); Theater probieren. Politik entdecken (hg. zus. mit Ole Hruschka und Doris Post, Bonn 2011); Szenische Orte – Mediale Räume (hg. zus. mit David Roesner und Volker Wortmann, Hildesheim 2005); Theater der Erfahrung. Authentizität als Forderung und als Darstellungsform (Hildesheim 2002). Wild, Christopher; Ph.D., Germanist und Theaterwissenschaftler, Associate Professor of Germanic Studies & Theater and Performance Studies an der Uni-

A UTORINNEN UND A UTOREN | 249

versity of Chicago. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des europäischen Theaters im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt der Theaterfeindlichkeit, Ästhetik und Rhetorik des Auftritts, Theorie und Praxis der geistigen Übung in der Frühen Neuzeit, Mediengeschichte der Reformation. Publikationen (Auswahl): Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zur Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist (Freiburg i.Br. 2003); Theaterfeinlichkeit und Antitheatralität (hg. zus. mit Stefanie Diekmann, München 2011); Kleists unsichtbares Theater (Sonderheft der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87/4 (2013), hg. zus. mit David Wellbery); Auftreten. Wege auf die Bühne (hg. zus. mit Juliane Vogel, Berlin 2014).

Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Februar 2016, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Februar 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1

Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig,, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

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Theater Anu Allas Spiel der Unsicherheit / Unsicherheit des Spiels Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre März 2015, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2966-8

Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater 2014, 416 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2467-0

Stefanie Husel Grenzwerte im Spiel Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie »Forced Entertainment«. Eine Ethnografie 2014, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2745-9

Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst 2014, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2805-0

Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane Juli 2015, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2913-2

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt »JUMP & RUN« Mai 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Julia H. Schröder (Hg.) Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller März 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2908-8

Beatrice Schuchardt, Urs Urban (Hg.) Handel, Handlung, Verhandlung Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien 2014, 314 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2840-1

Nina Tecklenburg Performing Stories Erzählen in Theater und Performance 2014, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2431-1

Rafael Ugarte Chacón Theater und Taubheit Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst Mai 2015, 346 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2962-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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