Zwischen Gegebenem und Möglichem: Kritische Perspektiven auf Medien und Kommunikation [1. Aufl.] 9783839431122

The challenge to carry out Communications Studies as critical societal analysis is the thread that connects the contribu

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Zwischen Gegebenem und Möglichem: Kritische Perspektiven auf Medien und Kommunikation [1. Aufl.]
 9783839431122

Table of contents :
Inhalt
Aus gegebenem Anlass. Möglichkeiten kritischer Wissenschaft
Kritische Gesellschaftsperspektiven
Von der Analyse von Dichotomien zu einer dialektischen Kommunikationswissenschaft?. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema
»Border Thinking« Intersektionalität als kosmopolitische Intervention?
Kritische Medienkulturanalyse als Gesellschaftsanalyse. Anerkennung und Resonanz in mediatisierten Öffentlichkeiten
Nicht ohne einander. Feminismus und Medien – eine Beziehungsanalyse
Strukturen und Akteur_innen
Die 68erinnen – eine eigenständige Journalistinnengeneration?. Konturen eines kaum untersuchten Forschungsfeldes
Handeln und Zusammenwirken von MedienmanagerInnen. Zum Erklärungspotential der Akteur- Struktur- Dynamiken
Eine Pionierin, aber keine Feministin. Herta Herzogs Leben und Werk aus Sicht der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung
Analyse von Frames und Diskursen
»The power to name«. Anwendungsmöglichkeiten von Metaphernanalysen in der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung
Repräsentation, Ressourcen, Realitäten. Überlegungen zu einem alternativen Ansatz in der Analyse von Gender- Frames in der Medienberichterstattung
Journalismus in der Verantwortung
Ökologie der Mediengesellschaft. Betrachtungen des soziokulturellen und medialen Wandels im Lichte von Nachhaltigkeit
Integraler Journalismus. Mediale Anforderungen an eine Weltinnen- und Weltfriedenspolitik
Friedensjournalismus – ein Oxymoron?
Feministische Gegenöffentlichkeiten im zerfallenden Jugoslawien der 1990er Jahre
Öffentlichkeiten und Cultural Citizenship
Öffentlichkeit weiter denken
Dispositive in vernetzten Öffentlichkeiten
»Taking cultural production into our own hands«. Kulturelle Bedeutungsprozesse im Kontext zeitgenössischer Kunst
Rethinking cultural citizenship. Zur Teilhabe in der (digitalen) Mediengesellschaft
Mediale Diskurse zu Ungleichheiten
WikiLeaks in der Medienberichterstattung. Hegemoniale, antifeministische und feministische Mediendiskurse
Sprachliche Inklusion versus virtuellen Backlash. Über Antifeminismen im Internet
Die »Affäre Strauss-Kahn«. Facetten einer Debatte zu Gewalt, Macht und Geschlecht
Mediale Rezeptions-und Aneignungspraktiken
Media audiences and cultures of femininity. Meanings and pleasures revisited
Häusliche Aneignungsweisen des Internets. »Revolutioniert Multimedia die Geschlechterbeziehungen? « revisited
Wenn Teenager Mütter werden. Zur Repräsentation prekärer junger Mütter im Reality- TV
Autor_innen

Citation preview

Ricarda Drüeke, Susanne Kirchhoff, Thomas Steinmaurer, Martina Thiele (Hg.) Zwischen Gegebenem und Möglichem

Band 15

Editorial Die Reihe Critical Media Studies versammelt Arbeiten, die sich mit der Funktion und Bedeutung von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeit in ihrer Relevanz für gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse, deren Produktion, Reproduktion und Veränderung beschäftigen. Dies kann sowohl aus sozial- wie kulturwissenschaftlicher Perspektive erfolgen, wobei sich deren Verbindung als besonders inspirierend erweist. Das Spektrum der Reihe umfasst aktuelle wie historische Perspektiven, die theoretisch angelegt oder durch eine empirische Herangehensweise fundiert sind. Die Herausgeberinnen orientieren sich dabei an einer kritischen Gesellschaftsanalyse, die danach fragt, in welcher Weise symbolische und materielle Ressourcen zur Verfügung gestellt bzw. vorenthalten werden und wie soziale und kulturelle Einschluss- und Ausschlussprozesse gestaltet sind. So verstandene kritische Kommunikations- und Medienwissenschaft schließt die Analyse der sozialen Praktiken der Menschen, ihrer Kommunikations- und Alltagskulturen ein und fragt danach, wie gesellschaftliche Dominanzverhältnisse reproduziert, aber auch verschoben und unterlaufen werden können. Als relevante Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialer Positionierung werden insbesondere Geschlecht, Ethnie, soziale und kulturelle Differenz sowie deren Intersektionalität in den Blick genommen. Die Reihe wird herausgegeben von Elisabeth Klaus, Margreth Lünenborg, Jutta Röser und Ulla Wischermann.

Ricarda Drüeke, Susanne Kirchhoff, Thomas Steinmaurer, Martina Thiele (Hg.)

Zwischen Gegebenem und Möglichem Kritische Perspektiven auf Medien und Kommunikation Festschrift für Elisabeth Klaus

gefördert durch Universität Salzburg, Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg und Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Brigitte Geiger, Wien Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3112-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3112-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Aus gegebenem Anlass Möglichkeiten kritischer Wissenschaft

Ricarda Drüeke, Susanne Kirchhoff, Thomas Steinmaurer, Martina Thiele | 9

Kritische Gesellschaftsperspektiven Von der Ana­lyse von Di­cho­to­mien zu ei­ner dia­lek­ti­schen Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft? Über­le­gun­gen zu ei­nem ver­nach­läs­sig­ten The­ma

Fried­rich Krotz | 23 »Border Thin­king« In­ter­sekt­io­na­li­tät als kos­mo­po­li­ti­sche Inter­ven­tion?

Ed­gar Fors­ter | 37 Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se An­er­ken­nung und Re­so­nanz in me­dia­ti­sier­ten Öf­fent­lich­kei­ten

Tanja Tho­mas | 51 Nicht oh­ne ein­an­der Fe­mi­nis­mus und Me­dien – eine Be­zie­hungs­ana­lyse

Ulla Wi­scher­mann | 65

Strukturen und Akteur_innen Die 68e­rin­nen – eine eigen­stän­dige ­Jour­na­lis­tin­nen­ge­ne­ra­tion? Kon­tu­ren ei­nes kaum unter­such­ten For­schungs­fel­des

Su­sanne Kin­ne­brock | 75 Han­deln und Zu­sam­men­wir­ken von MedienmanagerInnen Zum Er­klä­rungs­po­ten­tial der Ak­teur-Struk­tur-Dy­na­mi­ken

Clau­dia Ries­meyer | 89

Eine Pio­nie­rin, aber keine Fe­mi­nis­tin Herta Her­zogs Le­ben und Werk aus Sicht der kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­for­schung

Mar­tina Thiele | 103

Analyse von Frames und Diskursen »The po­wer to name« An­wen­dungs­mög­lich­kei­ten von Me­ta­phern­ana­ly­sen in der kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­for­schung

Su­sanne Kirch­hoff | 119 Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten Über­le­gun­gen zu ei­nem al­ter­na­ti­ven An­satz in der Ana­lyse von Gen­der-Fra­mes in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung

Ma­ren Beau­fort und Jo­sef Seet­ha­ler | 133

Journalismus in der Verantwortung Öko­lo­gie der Me­dien­ge­sell­schaft Be­trach­tun­gen des so­zio­kul­tu­rel­len und me­dia­len Wan­dels im Lichte von Nach­hal­tig­keit

Irene Ne­verla | 153 In­te­gra­ler Jour­na­lis­mus Me­diale An­for­de­run­gen an eine Welt­in­nen- und Welt­frie­dens­po­li­tik

Claus Eu­rich | 165 Frie­dens­jour­na­lis­mus – ein Oxy­mo­ron?

In­grid A. Leh­mann | 177 Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wien der 1990er Jahre

Do­ris Gödl | 191

Öffentlichkeiten und Cultural Citizenship Öf­fent­lich­keit wei­ter den­ken

Bo­ris Rom­ahn | 209 Dis­po­si­tive in ver­netz­ten Öf­fent­lich­kei­ten

Tho­mas Stein­mau­rer | 223

»Ta­king cul­tu­ral pro­duc­tion into our own hands« Kul­tu­relle Be­deu­tungs­pro­zesse im Kon­text zeit­ge­nös­si­scher Kunst

Sig­linde Lang und Elke Zobl | 237 Ret­hin­king cul­tu­ral ci­ti­zens­hip Zur Teil­habe in der (di­gi­ta­len) Me­dien­ge­sell­schaft

Mar­greth Lü­nen­borg | 251

Mediale Diskurse zu Ungleichheiten Wi­ki­Le­aks in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung He­ge­mo­nia­le, anti­fe­mi­nis­ti­sche und fe­mi­nis­ti­sche Me­dien­dis­kurse

Jo­hanna Do­rer | 265 Sprach­li­che In­klu­sion ver­sus vir­tu­el­len Back­lash Über Anti­fe­mi­nis­men im Inter­net

Ri­carda Drüeke und Co­rinna Peil | 275 Die »Af­färe Strauss-Kahn« Fa­cet­ten ei­ner De­batte zu Ge­walt, Macht und Ge­schlecht

Bri­gitte Gei­ger | 289

Mediale Rezeptions- und Aneignungspraktiken Me­dia au­di­ences and cul­tures of fem­in ­ in­ity Mean­ings and plea­sures re­vis­ited

Bar­bara O’Con­nor | 305 Häus­li­che An­eig­nungs­wei­sen des Inter­nets »Re­vo­lu­tio­niert Mul­ti­me­dia die Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen?« re­vi­si­ted

Jutta Rö­ser und Ul­rike Roth | 319 Wenn Teen­ager Müt­ter wer­den Zur Re­prä­sen­ta­tion pre­kä­rer jun­ger Müt­ter im Rea­li­ty-TV

Irm­traud Voglm­ayr | 333 Autor_innen | 345

Aus gegebenem Anlass: Möglichkeiten kritischer Wissenschaft

Aus gegebenem Anlass Möglichkeiten kritischer Wissenschaft Ricarda Drüeke, Susanne Kirchhoff, Thomas Steinmaurer, Martina Thiele »Skepsis gegenüber Dualismen und Versuche von Grenzverschiebungen und Grenzverwischungen sind für alle emanzipatorischen Projekte geboten, da solche Entgegensetzungen Differenzen essentialisieren und soziale Prozesse als naturgegebene Phänomene erscheinen lassen. Erst das Bewußtsein über die soziale, kulturelle Konstruiertheit solcher Entgegensetzungen ermöglicht es, die Schnitt- und Bruchstellen der verschiedenen Positionierungen wie Gender, Race/Ethnie, Klasse/ Schicht in diesen Diskursen zu behandeln.« (Klaus 2005a: 25)

Dem Titel der vorliegenden Festschrift folgend, lässt sich der Horizont zwischen dem »Gegebenen und dem Möglichen« sowohl als eine Programmatik wie auch als eine Verortung des wissenschaftlichen Werkes von Elisabeth Klaus verstehen. Als eine Programmatik insofern, als er auf die Antrittsvorlesung des jungen Theodor W. Adorno als Privatdozent 1930 verweisend1 einen Möglichkeitsraum benennt, der mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Praxis verbunden ist. Für Adorno war dies in seinen frühen Schriften die Idee, auf eine »dialektische Kommunikation« zwischen Philosophie und soziologischer Forschung abzuzielen, die sich um »Schlüssel« bemüht, »vor denen die Wirklichkeit aufspringt« (Adorno 1973: 340). Für ihn liegt »die Idee der Wissenschaft (in der) Forschung« und jene der »Philosophie (in der) Deutung« (ebd.: 334). Und seine Dialektik umfasst daher auch die 1 Diese Spur verdanken wir Edgar Forster, der in seinem Beitrag Möglichkeiten der Erschließung wissenschaftlichen Wissens – bei Adorno und daran anschließend bei anderen Autor_innen – thematisiert.

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»Relation zwischen Realitätsdeutung [. . .] und der [. . .] praktischen Veränderung einer Wirklichkeit« (Müller-Doohm 2006: 91). Von einem derartigen Forschungsentwurf aus lassen sich auch Entwicklungslinien und Bezugspunkte herstellen, die sich in den Arbeiten von Elisabeth Klaus wiederfinden. Denn sowohl der Weg des dialektischen Denkens als auch die Programmatik, damit neue Denkmöglichkeiten und alternative Strukturen und Prozesse von Kommunikation in der Gesellschaft aufzuzeigen, charakterisieren – zwischen den Polen des »Gegebenen und Möglichen« – ihre Arbeiten. Mit Elisabeth Klaus’ Habilitationsschrift Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalimus (Klaus 1998a; 2005a) ist die Etablierung der Gender Media Studies auch im deutschsprachigen Raum entscheidend vorangekommen. Denn neben einer Forschungssynopse, die Daten zu Kommunikator_innen, Medieninhalten sowie Rezeptions- und Aneignungsweisen kritisch prüft, sind mit der Unterscheidung von Gleichheitsansatz, Differenzansatz und (De-)Konstruktion, der Kennzeichnung von Journalismus als zweigeschlechtlichem System sowie der Definition von Öffentlichkeit als gesellschaftlichem Verständigungsprozess und Chance zur Teilhabe theoretische Grundlagen einer feministischen Medienforschung gelegt worden. Die einzelnen Beiträge der Festschrift zu Ehren von Elisabeth Klaus knüpfen daran an. Sie loten ebenfalls die Möglichkeiten kritischer Wissenschaft zwischen Gegebenem und Möglichem aus.

Kritische Gesellschaftsperspektiven Kritische Wissenschaft zielt darauf ab, Gegebenes, den Status quo, zu hinterfragen und Handlungsspielräume aufzuzeigen. Konkret bedeutet das, die mit Kategorisierungen und Grenzziehungen verbundenen Inklusionen und Exklusionen unter Berücksichtigung der eigenen Position zu benennen und scheinbar unauflösliche Dichotomien mittels Dialektik in Zweifel zu ziehen. Friedrich Krotz stellt ausgehend von Elisabeth Klaus’ Arbeiten zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit Überlegungen zur Analyse von Dichotomien an und re-aktualisiert die Relevanz dialektischen Denkens. Es kann, so Krotz, unter Einbeziehung der Machtfrage sowohl der Reflexion als auch der Analyse dienen, mit dem Ziel, kommunikatives Handeln beschreibbar und verstehbar zu machen. Ein grenzüberschreitendes Denken fordert auch Edgar Forster in seiner Auseinandersetzung mit der Intersektionalitätsforschung und ihrem Analysepotenzial. Einen Ausgangspunkt bildet dabei die Kritik an der Fixierung auf die Verschränkung von Kategorien. Im Anschluss an die Ausführungen von Gudrun-Axeli Knapp, die die Intersektionalitätsforschung als ein »travelling concept« beschreibt, schlägt Forster »border thinking« als analytischen Rahmen vor.

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Die Notwendigkeit kritischer Medienkulturanalyse und feministischer Gesellschaftskritik steht im Mittelpunkt der Beiträge von Tanja Thomas und Ulla Wischer­mann. Ausgehend von den Begriffen der Resonanz und der Anerkennung zeigt Tanja Thomas am Beispiel der Eurovision Song Contest-Gewinnerin Conchita Wurst, wie in populärkulturellen öffentlichen Diskursen Wert- und Norm­ orientierungen ausgehandelt werden. Dabei legt sie feministische Theorien ihrem Verständnis von kritischer Medienkulturanalyse als Gesellschaftsanalyse zugrunde, die – ganz im Sinne von Elisabeth Klaus – einen Beitrag für eine emanzipatorische wie demokratische Gesellschaft leisten soll. Feministische Gesellschaftskritik, so Ulla Wischermann in ihrem Beitrag, ist eine notwendige gesellschaftliche Intervention. Unter Berücksichtigung aktueller feministischer, aber auch antifeministischer (Medien-)Diskurse arbeitet Wischermann heraus, wie diese häufig gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Kontextuierungen (wie Neoliberalismus und Globalisierung oder die Erosion der Arbeitsverhältnisse) ausblenden und weitgehend ohne Bezug zur Frauen- und Geschlechterforschung auskommen. Zen­ trale Aufgabe der Gender Studies, so Wischermann, bleibt, gesellschaftliche Entwicklungen aus der Geschlechterperspektive kritisch zu kommentieren, politisch zu intervenieren und zugleich die Erfahrungen der Subjekte wieder stärker zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen zu machen.

Strukturen

und

Akteur_innen

Elisabeth Klaus hat einerseits die Strukturen in den Blick genommen und Medienunternehmen als gendered organizations beschrieben, andererseits sich den dort Tätigen selbst zugewandt, beispielsweise den frühen Journalistinnen (vgl. Klaus 1992), Kriegsberichterstatterinnen und Friedenaktivistinnen (vgl. Klaus/ Wischermann 2010; Klaus/Gruber 2014) sowie denen, die sich nach 1945 als »Trümmerfrauen in diesem Beruf« bezeichnet haben (vgl. Klaus 1993). Gemeinsam mit Ulla Wischermann hat Elisabeth Klaus 2013 den Band Journalistinnen publiziert und damit eine Berufs- und Sozialgeschichte vorgelegt, die von 1848 bis 1990 reicht. Dabei markieren manche Jahre historische Zäsuren. So »1968« – ein Datum, das für gesellschaftlichen Wandel steht, für das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen, die auch im Journalismus Spuren hinterlassen haben. Diesen Spuren geht Susanne Kinnebrock in ihrem Beitrag zu den Journalistinnen der 68er-Generation nach. Anhand von Selbstzeugnissen arbeitet sie heraus, dass für diese Frauen bei allen Unterschieden in der beruflichen Position als Gemeinsamkeit gelten kann, dass sie ihr »Grenzgängertum«, den Spagat zwischen Familien- und Erwerbsarbeit, thematisierten, ihre Rolle als Frau im Journalismus reflektierten und damit die gesellschaftlich relevanten Aspekte des vermeintlich Privaten in den Blick rückten.

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Einer spezifischen Gruppe von Kommunikator_innen widmet sich Claudia Riesmeyer, die sich mit dem Erklärungspotential der Akteur-Struktur-Dynamiken für die Journalismusforschung auseinandersetzt. Medienmanager_innen gehören bislang, so die Autorin, zu den »Stiefkindern« der Kommunikationswissenschaft, was erstaunt, da Medienmanager_innen maßgeblich die Handlungsspielräume und Arbeitsmöglichkeiten von Journalist_innen definieren und Entscheidungen treffen, die sich auf das Medienangebot und die Medienvielfalt unmittelbar auswirken. Doch nicht nur Journalist_innen und Medienmanager_innen sollte wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwerden, sondern entsprechend der feministischen Forderung nach Reflexion auch den Kommunikationswissenschaftler_innen selbst. Für die Klassiker-Reihe der Zeitschrift Medien & Kommunikationswissen­ schaft hat Elisabeth Klaus 2008 die Frage gestellt: What do we really know about Herta Herzog? (Klaus 2008) Martina Thiele knüpft in ihrem Beitrag Eine Pionie­ rin, aber keine Feministin an diese Frage an und stellt zur Diskussion, was Herta Herzog aus kommunikationswissenschaftlicher und feministischer Sicht interessant macht. Drei Aspekte sind hier aufschlussreich: Herzogs Minderheitenposition als Wissenschaftlerin und Marktforscherin und die trotz geschlechtsspezifischer Benachteiligungen erfolgte Karriere, ihre Forschungsgegenstände, schließlich die von ihr präferierten Methoden.

Analyse von Frames und Diskursen Die Relevanz medialer Diskurse für kollektive Bedeutungskonstruktionen ist ein weiteres wiederkehrendes Thema der Forschungsarbeiten von Elisabeth Klaus – u.  a. anlässlich der Berichterstattung über den Kosovo-Krieg 1999 (vgl. Klaus/ Goldbeck/Kassel 2002), der Darstellung verschleierter Frauen nach 9/11 (vgl. Klaus/Drüeke/Kirchhoff 2012) und der Rezeption von Castingshows (vgl. Klaus 2010). Dabei geht sie u.  a. davon aus, dass einerseits das System der Zweigeschlechtlichkeit in vielfältiger Weise in Diskurse eingeschrieben ist und dass andererseits mediale Diskurse als Bausteine des »Doing Gender« genutzt werden. Zugleich müssen Analysen von Mediendiskursen den Besonderheiten der »media logic« Rechnung tragen (vgl. Klaus/Kassel 2005: 338). Methodologische Überlegungen zur Analyse von Mediendiskursen, die diese Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven aufgreifen, bilden jeweils den Ausgangspunkt der Beiträge von Susanne Kirchhoff, Josef Seethaler und Maren Beaufort. So betrachtet Susanne Kirchhoff die Prozesse des »Doing Gender« mit einem metapherntheoretischen Hintergrund. Anhand des alltäglichen metaphorischen Sprachgebrauchs und der Auseinandersetzung mit Metaphern in feministischen Blogs diskutiert sie die kognitive Funktion von Metaphern als Mittel der Strukturierung von Wirklichkeit. Zugleich betont Kirchhoff, dass Metaphern und ihre

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jeweiligen Bedeutungen diskursiv erzeugt und verbreitet werden und beleuchtet die Zusammenhänge von Metaphern und Gender. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zur Anwendung von Metaphernanalysen in der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Josef Seethaler und Maren Beaufort stellen dagegen in ihrem Beitrag Überlegungen zur Analyse von Genderframes als Mittel medialer Bedeutungskonstruktion an und fragen nach medial kodierten Zuschreibungen der Kategorie Geschlecht. Dies erfolgt mit Bezug auf ein Modell, das sich u.  a. auf den Framing-Ansatz stützt. Anhand einer exemplarischen empirischen Analyse erfolgt eine Validierung des Modells, was dann Aussagen über genderspezifische Rahmungen erlaubt.

Journalismus

in der Verantwortung

Aufgabe des Journalismus in einer demokratischen Gesellschaft ist die Herstellung und Bereitstellung von Themen zur öffentlichen Diskussion. Angesichts dessen, was in der Kommunikationswissenschaft unter »Mediatisierung« diskutiert wird und eng verbunden ist mit der Etablierung neuer Technologien, stellt sich die Frage nach der sozialen Verantwortung des Journalismus umso dringlicher. Sie stellt sich auch angesichts aktueller Kriege und Konflikte. Elisabeth Klaus hat 2005 eine Systematisierung des Forschungsbereichs Medien und Krieg vorgeschlagen und dabei u. a. journalistische und mediale Leistungen in den Blick genommen (vgl. Klaus 2005). Um diese und verantwortliches journalistisches Handeln geht es auch in den Beiträgen von Irene Neverla, Claus Eurich, Ingrid Lehmann und Doris Gödl. Ausgehend von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Verschmelzung von Mensch und digitaler Medientechnik erarbeitet Irene Neverla einen Ansatz zur Ökologie der Mediengesellschaft und damit eine kritisch-gesellschaftsanalytische Forschungsperspektive. Erfasst werden sowohl indivi­duelle Handlungsperspektiven als auch gesellschaftliche Strukturperspektiven, um so sozialen Wandel analysierbar zu machen. Einen kommunikationsökologischen Ansatz verfolgt ebenso Claus Eurich. Er fordert angesichts der negativen Folgen einer zunehmenden Kommerzialisierung des Mediensystems ein Innehalten und mehr »integrale Vernunft«. Unter »integralem Journalismus«, auch als Ziel der Journalist_innenaus- und weiterbildung, versteht Eurich ein in der Tradition des Friedensjournalismus und der gewaltfreien Kommunikation stehendes ethisches Bewusstsein, das auf Leitwerten wie Wahrhaftigkeit, Empathie, Ambiguitätstoleranz, Kontextualisierung sowie der Fähigkeit zur Reflexion basiert. Die Möglichkeiten eines auf Frieden zielenden Journalismus erörtert Ingrid Lehmann in ihrem Beitrag Medien und Frieden – ein Oxymoron? Sie sieht Gefahren, gerade auch für die Medienarbeit von Hilforganisationen, insbesondere in den durch digitale Medien vielfältiger gewordenen Kommunikationsmöglichkeiten

14  |  Ricarda Drüeke, Susanne Kirchhoff, Thomas Steinmaurer, Martina Thiele

der Konfliktparteien. Wie wichtig eine friedensorientierte Medienarbeit und das Entstehen alternativer Öffentlichkeiten in Krisen- und Konfliktregionen sind, zeigt auch der Beitrag von Doris Gödl zu feministischen Gegenöffentlichkeiten im ehemaligen Jugoslawien. Am Beispiel der heftig geführten Auseinandersetzungen um die Anerkennung von Vergewaltigungen in Kriegen als Kriegsverbrechen arbeitet Gödl heraus, wie der »ethnische Nationalismus« in hegemonialen Öffentlichkeiten durch die trans- und internationale Gegenmacht feministischer Öffentlichkeiten herausgefordert wird.

Öffentlichkeiten

und

Cultural Citizenship

Die Auseinandersetzung mit hegemonialen und feministischen Öffentlichkeiten ist ein zentrales Anliegen der Arbeiten von Elisabeth Klaus. Mit dem von ihr entwickelten Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit greift sie Nancy Frasers Kritik an einer einheitlichen bürgerlichen Öffentlichkeit auf und schlägt eine Konzeption von Öffentlichkeit als »gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozess« vor (vgl. Klaus 2006). Dies öffnet das Konzept für Kommunikationsformen und Akteur_innen außerhalb des Felds elitärer Diskursformationen. Ausgehend von Überlegungen zum Potential verschiedener Theorien und Modelle von Öffentlichkeit zeigt Boris Romahn in seinem Beitrag auf, wo und wie Elisabeth Klaus Öffentlichkeit theoretisch weiterentwickelt hat. Zentrale Idee ist, Öffentlichkeit stärker in ihrer Vielfalt als im Singular und folglich auf mehreren Ebenen angesiedelt zu betrachten. Dabei wird deutlich, dass sich Öffentlichkeiten gerade auch aus Alltagshandeln oder der Rezeption populärer Unterhaltungsmedien generieren. Durch technische Entwicklungen werden Öffentlichkeiten zunehmend komplexer, differenzierter und flexibler. So wirft Thomas Steinmaurer einen kritischen Blick auf digitale Netzwerkstrukturen und darin wirksame Dispositive. Da daraus ableitbare Einflusskräfte nicht ohne Auswirkung auf Öffentlichkeitsprozesse bleiben, sind alternative bzw. kritisch-reflexive Zugänge gefragt. Daher spielen auch zunehmend künstlerische Produktionen eine Rolle für die Konstituierung von alternativen Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten. Sie können Bedeutungskonstruktionen hinterfragen und neue Handlungsräume eröffnen (vgl. Klaus/Zobl 2012). An diese Überlegungen anschließend stellen Elke Zobl und Siglinde Lang kulturelle Produktionen als Interventionsform in das Zentrum ihrer Analyse. Dabei wird nach dem Potential künstlerischer Produktionen für die Bedeutungsverschiebung in Öffentlichkeitsprozessen gefragt. Anhand der Produktion »hunt oder der totale Februar« des Theaters am Hausruck werden Aushandlungs- sowie Partizipationsprozesse im Rahmen des Mitgestaltens von Öffentlichkeit(en) diskutiert. In engem Zusammenhang mit Fragen der Herstellung von Öffentlichkeit steht das Konzept des »Cultural Citizenship«, das Elisabeth Klaus und Margreth

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Lünenborg (2004; 2012) für die kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung und Forschung fruchtbar gemacht haben. Lünenborg widmet sich in ihrem Beitrag drei zentralen Fragen der aktuellen, disziplinenübergreifend geführten Debatte. Sie fragt, was »Cultural Citizenship« bedeutet, wenn (national)staatliche Ordnungen an Bedeutung verlieren und räumliche Strukturen dynamisiert werden, welche Relevanz Emotionen und Affekte in einem historisch als rational entworfenen Konzept von Citizenship haben, und schließlich, welche Chancen und Risiken die so genannten neuen und sozialen Medien für die Verwirklichung von »Cultural Citizenship« bieten.

Mediale Diskurse zu Ungleichheiten Elisabeth Klaus hat sich in ihren Arbeiten aus verschiedenen Perspektiven mit Ungleichheiten beschäftigt, so beispielsweise mit medialen Repräsentationen von Migrant_innen (vgl. Klaus/Drüeke 2011) oder mit der Analysekategorie Klasse (vgl. Klaus 2015) und dem sogenannten »Unterschichtenfernsehen« (Klaus/Röser 2008). Gleichzeitig gilt es für eine gesellschafstheoretische Fundierung solcher Debatten theoretische Ansätze weiterzuentwickeln, wie das etwa in der Verbindung von kritischer politischer Ökonomie und Cultural Studies vorgeschlagen (vgl. Klaus/Thiele 2007) oder im Zuge der Intersektionalitätsforschung diskutiert wurde (vgl. Klaus 2014). An diese Forschungen zu Inklusions- und Exklusionsprozesse in und durch Medien schließen die drei folgenden Beiträge an. Der diskursanalytisch orientierte Beitrag von Johanna Dorer widmet sich dem Phänomen medialer Zuschreibungen von Geschlechterdichotomien anhand der medialen Berichterstattung über WikiLeaks und dessen Sprecher Julian Assange. Die Autorin kommt dabei zu dem Schluss, dass es feministischen Bewegungen kaum gelungen ist, das Problem der sexuellen Gewalt zu thematisieren, und Mainstream-Medien vor allem antifeministische Positionen vertraten. Antifeministische Diskurse im Internet sind ebenfalls das Thema des Beitrags von Ricarda Drüeke und Corinna Peil. Anhand aktueller Debatten um die sprachliche Gleichbehandlung durch das Binnen-I und die Sichtbarmachung von Frauen in der österreichischen Bundeshymne werden die Kontroversen und Anfeindungen, die diese Ereignisse insbesondere im Internet auslösten, nachgezeichnet. Dabei zeigt sich, dass Gender-Themen derzeit umkämpft sind und dass gerade in Kommentaren in den Online-Ausgaben österreichischer Tageszeitungen, Blogs und Foren offen antifeministische Positionen vertreten werden. Die Affäre Strauss-Kahn, die Brigitte Geiger in ihrem Beitrag diskursanalytisch untersucht, wurde zu einer internationalen Angelegenheit und berührte verschiedene Ebenen von Öffentlichkeit, schließlich war Dominique Strauss-Kahn Chef des IWF und bis zu der Anklage, die schwarze Hotel-Angestellte Nafissatou

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Diallo vergewaltigt zu haben, aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialist_innen. Geiger legt dar, wie die Verhaftung Strauss-Kahns international den medialen Diskurs zu Geschlecht, Gewalt und Ungleichheit aktualisierte. Während jedoch die Geschlechterfrage einen relativ breiten Raum einnahm, wurden race und globale ökonomische Ungleichheit im dominanten (deutschsprachigen) Mediendiskurs nur selten explizit thematisiert.

Mediale Rezeptions- und Aneignungspraktiken Die Cultural Studies haben den Blick der Wissenschaft auf die alltäglichen Prozesse der Medienrezeption und -aneignung gelenkt, auf die Relevanz populärer Medienformate als symbolische Ressourcen der Gesellschaft und auf die Dynamik des Prozesses der Bedeutungskonstruktion zwischen Produzent_innen und Rezipient_innen. Ganz im Sinne dieser Tradition hat Elisabeth Klaus in ihrer Auseinandersetzung mit Genres für die Auflösung des Dualismus von Informa­ tion und Unterhaltung zugunsten einer prozessorientierten Analyse plädiert, die die Aneignungspraktiken der Rezipient_innen mit einbezieht (vgl. u. a. Klaus 2002 und Klaus/Lünenborg 2002). Die Orientierung an den Bedeutungszuschreibungen und Handlungsweisen der Rezipient_innen zeigt sich auch in ihren Arbeiten zur Einführung neuer Medientechnologien, in denen sie u. a. herausarbeitet, wie im häuslichen Kontext Geschlecht die Aneignungspraktiken bestimmt und zugleich durch sie hergestellt wird (vgl. Klaus 2007). Die Relevanz der sozialen Kategorie Geschlecht für Medienrezeption und -aneignung hat sie jedoch vor allem in vielfältiger Weise in ihrer Auseinandersetzung mit dem Vergnügen an populären Medienformaten und der Bedeutung des Medienkonsums für die Lebensbewältigung herausgearbeitet (vgl. z. B. Klaus/Röser 1996; Klaus 1998b; Klaus 2009; Klaus/O’Connor 2010; Klaus 2012). Ausgehend von gemeinsamen Arbeiten mit Elisabeth Klaus (2000) zu Gender und Rezeption von Soap Operas diskutiert Barbara O’Connor die Entwicklung der Rezeptionsforschung. Sie fragt, ob die Veränderungen in den Medien und in der Beziehung von Produzent_innen und Rezipient_innen – bis hin zur Auflösung der Dichotomie in den sogenannten »Produsern« – auch Einfluss auf Vergnügen und Bedeutungskonstruktion haben und plädiert dafür, dass die feministische Rezep­ tionsforschung die Veränderungen im Gefüge der Medien und im Zusammenspiel zwischen Medien und Publikum stärker wahrnehmen müsse. Mit eben solchen Veränderungen beschäftigen sich auch Jutta Röser und Ulrike Roth, die in ihren Untersuchungsergebnissen die besondere Relevanz des häuslichen Kontextes für die Aushandlung der Geschlechterverhältnisse rund um die Aneignung des Internets zeigen. Der häusliche Kontext stellt sich dabei für die Autorinnen als ambivalent dar, weil er zwar einerseits internetferneren Frauen einen Zugang ermöglicht,

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aber andererseits auch dazu angetan ist, geschlechtsbezogene Differenzen in den Handhabungsweisen von Technologie zu bestärken und die geschlechtsstereotype Aufteilung von Reproduktionsaufgaben zu unterstützen. Nach Medieninhalten, ihrem Potenzial, einerseits Wissen zu vermitteln, andererseits zur Stigmatisierung sozialer Gruppen beizutragen, sowie möglichen Lesarten und Aneignungen fragt Irmtraud Voglmayr in ihrem Beitrag Wenn Teenager Mütter werden – Prekäre Lebenswelten in den Medien. Anknüpfend an die Studien zu Reality TV (vgl. Klaus 2012) und sozialer Ungleichheit in den Medien– speziell dem sogenannten »Unterschichtenfernsehens« (Klaus/Röser 2008) – zeigt Voglmayr, wie von Folge zu Folge Wissensvermittlung in den Hintergrund gerät und stattdessen ein klassenspezifischer Habitus des »schwangeren Unterschichtenmädchens« behauptet wird. Prekäre junge Mütter erfahren daher weniger eine »anerkennende Sichtbarkeit« (Schaffer 2008), als dass durch ein solches TV-Format erneut Klassengrenzen gezogen werden. Elisabeth Klaus hat sich in ihren Arbeiten aus verschiedenen Perspektiven mit Medien und Kommunikation beschäftigt und dabei stets eine kritische Position eingenommen. Die Differenz zwischen Gegebenem und Möglichem macht für sie Wissenschaft zu einer »spannenden« und im positiven Sinne herausfordernden Angelegenheit. Immer auf der Suche nach neuen Wegen und anderen Blickrichtungen hat sie die Kommunikationswissenschaft durch ihre Forschungen zu Öffentlichkeiten und zu Inklusionen und Exklusionen in und durch Medien »ein Stück weit« verändert. Mit der vorliegenden Festschrift möchten wir uns als Herausgeber_innen und Kolleg_innen bei Elisabeth Klaus für jegliche Art der intellektuellen Inspiration bedanken – außerdem bei allen Autor_innen, die mit ihren Beiträgen das Spannungsfeld zwischen Gegebenem und Möglichem betreten haben. Ganz herzlich bedanken möchten wir uns auch bei der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg, dem Rektorat und dem Fachbereich Kommunikationswissenschaft, die durch großzügige finanzielle Unterstützung den Druck dieses Bandes ermöglicht haben.

Literatur Adorno, Theodor W. (1973): Die Aktualität der Philosophie. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitarbeit von Gretel Adorno. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 325–345. Gruber, Laura/Klaus, Elisabeth (2014): »Die Waffen nieder« – Bertha von Suttners Leben gegen den Krieg. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeit­ schrift für Politik und Geschichte 1, S. 40–51.

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Kritische Gesellschaftsperspektiven

Von der Ana­lyse von Di­cho­to­mien . . .

Von der Ana­lyse von Di­cho­to­mien zu ei­ner dia­lek­ti­schen Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft? Über­le­gun­gen zu ei­nem ver­nach­läs­sig­ten The­ma Fried­rich Krotz

Vor­ha­ben Dua­lis­mus, Bi­nari­tät, Di­cho­to­mie, Du­pli­zi­tät, Op­po­si­tion, Wi­der­spruch, Gegen­ über­stel­lung, Am­bi­va­lenz, dua­les Para­dox, Aus­ein­an­der­set­zung von Gegen­sät­zen und so wei­ter – es sind viele Be­grif­fe, die sprach­lich zur Ver­fü­gung ste­hen, um zwei Din­ge, zwei Ge­dan­ken, zwei Ent­wick­lungs­rich­tun­gen ei­nes Sach­ver­halts, zwei As­pekte oder zwei »was auch im­mer« ein­an­der gegen­über­zu­stel­len. Sie alle fin­den auch in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft in ar­gu­men­ta­ti­ven Tex­ten An­ wen­dung. Aus­gangs­punkt da­für sind je­weils zwei in­halt­lich auf­ein­an­der be­zo­ge­ ne, etwa als kon­fli­gie­rend ver­stan­dene Kon­zepte wie Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit oder In­for­ma­tion und Unter­hal­tung, die sich im Wan­del von Me­dien und Kul­tur in sich ver­än­dern, und die ins­be­son­dere in ihrer auf­ein­an­der be­zo­ge­nen Ent­wick­lung im­mer neu ver­stan­den wer­den müs­sen. Dies wirft die Frage da­nach auf, warum in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft mit der Dia­lek­tik eine Art des Den­kens, die sich be­son­ders um sol­che Ver­hält­nisse ge­küm­mert hat, und mit der sich etwa die Phi­ lo­so­phie über zwei Jahr­tau­sende hin­weg im­mer wie­der neu be­schäf­tigt hat, völ­lig aus­ge­blen­det ist. Wie im­mer man Dia­lek­tik de­fi­niert – dass es da­bei um reale oder be­griff­lich ge­fasste Gegen­sätze geht, aus de­ren vor­ge­stell­ter oder tat­säch­li­cher Op­po­si­tion sich dann jen­seits von Idea­lis­mus oder Ma­te­ria­lis­mus et­was Neues ent­wi­ckelt, be­ schreibt ein all­ge­mein be­kann­tes Mus­ter so­zia­len Ge­sche­hens, das eigent­lich jede und je­der als dia­lek­tisch iden­ti­fi­zie­ren wird. In der Phi­lo­so­phie, in der Geis­tes­ge­ schich­te, in der So­zio­lo­gie, aber auch in den für die Ent­wick­lung der Kom­mu­ni­ ka­tions- und Me­dien­wis­sen­schaft grund­le­gen­den Schrif­ten der Frank­fur­ter Schule spielte und spielt Dia­lek­tik eine große Rol­le, wird aber als Kon­zept heute weit­ge­ hend igno­riert und nicht ziel­füh­rend ein­ge­setzt. Diese feh­lende Be­schäf­ti­gung der Kom­mu­ni­ka­tions- und Me­dien­wis­sen­schaft mit ei­nem Kon­zept von Ent­wick­lung

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und Er­kennt­nis er­scheint ge­rade heute als De­fiz­ it, weil sich die Me­dien im der­zei­ti­ gen Me­dia­ti­sie­rungs­schub (vgl. z. B. Krotz/Des­pot­ovic/Kruse 2014) im­mer wei­ter ent­wi­ckeln, im­mer wei­tere Me­dien­dienste her­vor­brin­gen und im­mer ein­dring­li­ cher Teil des so­zia­len Le­bens und der han­deln­den Sub­jekte wer­den, die um­ge­kehrt die Me­dien auch zu ei­nem Teil ihres Le­bens­raums ma­chen, in­dem sie sich dort hin­ ein pro­ji­zie­ren. Und diese Ent­wick­lung ist be­reits der­art nach­hal­tig, dass sich die In­for­ma­tik be­kannt­lich schon wie­der alle Mühe gibt, die Me­dien­tech­nik und de­ren Ein­flüsse auf mensch­li­che Kom­mu­ni­ka­tion mög­lichst un­sicht­bar zu ma­chen – dies ist Teil des Pro­zes­ses: sie ver­schwin­den da­mit zwar aus der Sicht der Men­schen, aber blei­ben hoch re­le­vant. Hier sol­len nun also Über­le­gun­gen zur Dia­lek­tik in den Kom­mu­ni­ka­tions­wis­ sen­schaf­ten ent­wi­ckelt wer­den. Da­bei soll ins­be­son­dere auf die da­für brauch­ba­ren Arbei­ten von Eli­sa­beth Klaus bei­spiel­haft Be­zug ge­nom­men wer­den. Eli­sa­beth Klaus hat sich im­mer wie­der mit Di­cho­to­mien be­schäf­tigt und aus ih­nen neue Ein­ sich­ten über die Funk­tions­weise und die so­ziale Be­deu­tung und Ent­wick­lung der Me­dien für die In­di­vi­duen und ihre For­men von All­tag und Zu­sam­men­le­ben ab­ge­ lei­tet. Da­bei hat sie – und dies macht eine Be­son­der­heit ihrer Arbeit aus – sol­che Di­cho­to­mien als kom­plexe Wirk­lich­keits­be­schrei­bun­gen ver­stan­den und sie nicht etwa auf no­mi­nale Be­griffe mit gra­du­el­len Unter­schie­den oder bloß ver­schie­dene Sicht­wei­sen re­du­ziert, sie aber auch nicht ver­ab­so­lu­tiert. Sie hat sie viel­mehr im­ mer wie­der in den Kon­text an­de­rer re­le­van­ter Di­cho­to­mien, etwa Gen­der­ka­te­go­ rien ge­rückt und in Be­zug dar­auf ana­ly­siert, aus den be­ob­acht­ba­ren Gegen­sät­zen auf die Ent­wick­lung der Me­dien in All­tag und Ge­sell­schaft ge­schlos­sen und da­ bei auch die Rolle und die Tra­di­tio­nen der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft re­flek­ tiert. In­so­fern ist Klaus’ Vor­ge­hen nicht nur we­gen der je­wei­li­gen Er­geb­nisse und Schluss­fol­ge­run­gen in­ter­es­sant, son­dern auch als ein Bei­spiel für kom­plexe Ana­ly­ sen, die ei­ner­seits der Sa­che selbst in ihrer Ent­wick­lung in ei­ner dif­fe­ren­zier­ten und um­fas­sen­den Weise ge­recht wer­den, an­de­rer­seits aber auch nicht völ­lig frei­hän­dig und re­gel­los statt­fin­den. Klaus orien­tiert sich in ihrem Vor­ge­hen viel­mehr im­pli­zit, so die hier ver­tre­tene The­se, an dia­lek­ti­schen Über­le­gun­gen, ein Vorgehen, das sich für sol­che Über­le­gun­gen an­bie­tet. Kon­kret soll also im nächs­ten Ab­schnitt zu­nächst die Ar­gu­men­ta­tion von Klaus im Hin­blick auf die Di­cho­to­mie Öf­fent­lich­keit/Pri­vat­heit skiz­ziert und ge­zeigt wer­den, dass es sich hier um ei­nen Ent­wurf han­delt, der über die Ana­lyse ei­ner Di­cho­to­mie deut­lich hin­aus­geht, dia­lek­tisch struk­tu­riert ist und durch eine ex­pli­ zite Kon­zep­tion – viel­leicht, dies ist nicht Teil des vor­lie­gen­den Auf­sat­zes – noch wei­ter ent­wi­ckelt wer­den kann. Im drit­ten Ab­schnitt sol­len dann ei­nige all­ge­meine Über­le­gun­gen zur Dia­lek­tik vor­ge­stellt wer­den, die aber gleich­zei­tig den An­spruch des vor­lie­gen­den Tex­tes auf das re­du­zie­ren, was in dem hier vor­lie­gen­den Kon­text mög­lich ist. Denn es wäre die Auf­gabe ei­ner gan­zen Horde von PhilosophInnen, SoziologInnen und Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­le­rin­nen, die Rolle der Dia­lek­tik

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im Hin­blick auf Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft zu ana­ly­sie­ren und her­aus­zu­arbei­ ten. Hier kann es nur darum ge­hen, die Idee und Mög­lich­keit ei­ner Art »klei­ner kom­mu­ni­ka­tions­be­zo­ge­ner Dia­lek­tik« zu ent­wi­ckeln, die sich bei der Ana­lyse kom­mu­ni­ka­ti­ven und me­dien­be­zo­ge­nen Han­delns be­wäh­ren kann. Dies wird im vier­ten Ab­schnitt um­ge­setzt.

Die Ana­lyse der Di­cho­to­mie Öf­fent­lich­keit/Pri­vat­heit von Elis ­ ab ­ eth Klaus Zu den Di­cho­to­mie­ana­ly­sen von Klaus zäh­len Stu­dien über den Gegen­satz von Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit (vgl. Klaus 2001) so­wie von Unter­hal­tung und In­for­ ma­tion als Genres der Me­dien (vgl. Klaus 1996; Klaus/Lü­nen­borg 2002). Zu­dem fin­den sich in ihren Arbei­ten im­mer wie­der Hin­weise auf re­le­vante sol­che dua­len Ver­hält­nis­se. Wie geht Klaus bei der­ar­ti­gen Unter­su­chun­gen vor? – dies soll hier am Bei­spiel der Ana­lyse des Gegen­sat­zes von Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit (vgl. Klaus 2001; hier­auf be­zie­hen sich auch die in die­sem Ab­schnitt an­ge­ge­be­nen Sei­ ten­zah­len) kurz um­ris­sen wer­den. Da­bei steht vor al­lem die Kom­ple­xi­tät, Reich­ hal­tig­keit und die Rea­li­täts­be­zo­gen­heit der Ana­lyse von Klaus im Vor­der­grund. Aus­gangs­punkt von Klaus ist »die Dis­kus­sion um das Ein­drin­gen des Pri­va­ten in den öf­fent­li­chen Raum« (ebd.: 15) und kom­ple­men­tär dazu die In­sze­nie­rung von Pri­ vat­heit in der Öf­fent­lich­keit – bei­des kann im Zu­sam­men­hang mit der Fern­seh­sen­dung BIG BRO­THER so­wie dem Genre Rea­lity TV dis­ku­tiert wer­den. Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit wer­den dazu als so­ziale »Grund­ka­te­go­rien« des Le­bens in der De­mo­kra­tie be­zeich­net. Ihr Vor­ha­ben be­grün­det Klaus mit der Ab­sicht, da­für zu sor­gen, dass zwei Ge­fah­ren, die mit die­ser Dis­kus­sion ver­bun­den sind, pro­phy­lak­tisch ver­hin­dert wer­den: Die Selbst­ver­si­che­rung der bür­ger­li­chen Eli­te, dass ihr eige­ner kul­tu­rel­ler Ge­schmack wich­tig und re­le­vant ist, und die Be­stä­ti­gung der Kri­ti­ker, dass »Me­dien­frauen und Zu­schaue­rin­nen« eigent­lich nichts an­de­res hin­be­kom­men und wün­schen, als dass sie jetzt bei Fern­seh­trash gleich­be­rech­tigt mit­wir­ken kön­nen. Ihr Ziel ist es dem­ent­ spre­chend, die Hin­ter­gründe des his­to­risch so fest­ge­leg­ten Gegen­sat­zes zwi­schen Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit her­aus­zu­arbei­ten und dies mit der ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung zu ver­bin­den – dazu führt sie dann auch gleich eine Reihe von wei­te­rer Di­cho­to­mien ein – Mann/Frau, Be­ruf/Fa­mi­lie, Haus­halt als Reich der Not­wen­dig­kei­ ten/Öf­fent­lich­keit als Reich der Frei­heit u. a. Öf­fent­lich­keit de­fin­ iert sich dann als der ra­tio­nale und von par­ti­ku­la­ren In­ter­es­sen freie Dis­kurs der Staats­bür­ger, in dem sich das All­ge­mein­in­ter­esse ma­ni­fes­tiert und der alle Le­bens­be­rei­che be­trifft und so zum zen­tra­len Be­griff der Auf­klä­rung wird: als Dis­kurs­sphäre des Staats­bür­gers, über die das Zusammenleben der Menschen geregelt wirtd und die von der pri­va­ten Sphäre ab­ge­grenzt ist, in der sich das Fa­mi­lien­le­ben ent­wi­ckelt. Die­ses Öffentlichkeitsideal im­pli­ziert da­mit zu­gleich auch, dass die Skla­ven und Unter­ge­be­nen im Haus­halt von

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die­sem Reich der Frei­heit ebenso aus­ge­schlos­sen sind wie die Frau­en, de­ren Reich ja ge­rade der dazu kom­ple­men­täre Haus­halt sein soll. In Be­zug dar­auf be­schreibt Klaus also die his­to­ri­sche Ent­ste­hung und Ent­wick­ lung von Öf­fent­lich­keit und be­tont da­bei ins­be­son­dere die Be­deu­tung der Schrif­ ten von Han­nah Arendt (2007), die auch die Frank­fur­ter Schule und ins­be­son­dere Ha­ber­mas’ be­kannte Ha­bi­li­ta­tions­schrift (vgl. Ha­ber­mas 1990) be­ein­flusst ha­ben. Sie ver­weist zu­dem auf die fe­mi­nis­ti­sche Kri­tik und not­wen­dige Er­gän­zung der zu­ge­hö­ri­gen Unter­su­chun­gen (vgl. Klaus 2001: 17). Ins­ge­samt macht Klaus da­mit deut­lich, dass Öf­fent­lich­keit als Reich der Frei­heit prin­zi­piell an die Un­gleich­heit der Ge­schlech­ter und Klas­sen ge­bun­den ist, und be­zieht zu­dem da­bei auch die Re­fle­xion der Leis­tung der So­zial­wis­sen­schaf­ten und ins­be­son­dere der Kom­mu­ni­ ka­tions­wis­sen­schaft mit ein. In ei­ner dia­lek­ti­schen Sprech­weise macht sie da­mit deut­lich, dass der von ihr be­han­delte Gegen­satz als in­te­gra­les Mo­ment im Sinne He­gels und Mar­xens auf die To­ta­li­tät der de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft und zudem auf den All­tag der Men­schen ver­weist, zu­gleich aber auch die Klas­sen­ge­sell­schaft und die Gen­de­rung­leich­heit per­pe­tu­iert. In dem dar­auf fol­gen­den Ab­schnitt ver­weist Klaus auf das da­bei be­reits er­ kenn­bare Para­dox, dass Frauen ei­ner­seits von ei­ner Teil­habe aus­ge­schlos­sen sind, an­de­rer­seits aber auch ei­ner kri­ti­schen und sen­sib­len Ge­schichts­schrei­bung im­ mer wie­der als Trä­ger die­ser Ent­wick­lung auf­fal­len, was eigent­lich nicht igno­riert wer­den kann. Und den­noch – dass die Idee ei­ner sol­chen Öf­fent­lich­keit Ideo­lo­gie bleibt, stellt sich nach Klaus spä­tes­tens im 19. Jahr­hun­dert her­aus, als die so­zia­len Eman­zi­pa­tions­be­we­gun­gen in ihren Be­mü­hun­gen um Par­ti­zi­pa­tion an der Macht der bür­ger­li­chen Klasse schei­tern: Der Dua­lis­mus Öf­fent­lich­keit/Pri­vat­heit wird so zu ei­nem eigent­lich un­halt­ba­ren Ver­spre­chen und ei­nem blo­ßen le­gi­ti­ma­to­ri­schen My­thos und re­pro­du­ziert sich, dia­lek­tisch ge­se­hen, nun auf ei­ner hö­he­ren Stu­fe. In der Kon­se­quenz kann man sa­gen, dass das Den­ken in als un­ver­än­der­lich ge­dach­ ten Gegen­sät­zen ein Ele­ment der eu­ro­päi­schen Phi­lo­so­phie, aber auch ei­ner pa­ triar­cha­li­schen Lo­gik ist, mit­tels de­rer die bür­ger­li­chen Eli­ten ihre öko­no­mi­schen Pri­vi­le­gien si­chern wol­len (vgl. Klaus 2001: 17). Dies hat dann die Frau­en­be­we­ gung in der zwei­ten Hälfte des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts ent­hüllt, als Teil ei­ner Ge­sell­schaft, in der der bruch­lose Über­gang von der Durch­set­zung bür­ger­li­cher Öf­fent­lich­keit in eine post­de­mo­kra­ti­sche Ge­sell­schaft unter der Prä­misse ei­ner Ko­ lo­nia­li­sie­rung der Le­bens­wel­ten statt­ge­fun­den hat, sich also die Gegen­sätze neu aus­ge­prägt ha­ben. An die­ser Stelle nimmt Klaus’ Ana­lyse nun eine an­dere Wen­dung, in­so­fern sie sich von dem Ent­wick­lungs­pro­zess ab­wen­det und in ei­ner kom­mu­ni­ka­tions­ wis­sen­schaft­lich aus­ge­rich­te­ten kon­zep­tio­nel­len Ab­sicht zwi­schen ver­schie­de­nen Öf­fent­lich­kei­ten dif­fe­ren­ziert: sie unter­schei­det kom­ple­xe, also pro­fes­sio­nelle und in­di­rekte mas­sen­me­diale Öf­fent­lich­keit, wie sie die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft

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unter­sucht, von ein­fa­cher, also be­grün­de­ter und gleich­be­rech­tigt an­ge­leg­ter Öf­ fent­lich­keit, zu der auch ge­heime par­ti­ku­la­ri­sierte Öf­fent­lich­kei­ten wie Frau­en­öf­ fent­lich­kei­ten ge­hö­ren, und setzt da­zwi­schen noch mitt­lere Öf­fent­lich­kei­ten, die als sta­tua­risch ge­re­gelt und über Sach­kom­pe­tenz ent­ste­hend zu­stande kom­men. Gleich­zei­tig ver­bin­det Klaus den Gegen­satz von Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit mit zahl­rei­chen an­de­ren Dualis­men, die für die spe­zi­fi­sche Aus­for­mung von Öf­fent­ lich­keit und Pri­vat­heit von Re­le­vanz sind und da­mit in Zu­sam­men­hang ste­hen oder da­mit ge­stärkt und ge­si­chert wer­den: Po­li­ti­sches und Per­sön­li­ches, In­for­ma­tion und Unter­hal­tung, Ver­stand und Emo­tion; da­hin­ter fin­den sich dann die be­reits ge­ nann­ten Dualis­men wie Mann/Frau, Be­ruf/Fa­mi­lie, die so zu­gleich als für die Ge­ sell­schaft struk­tur­bil­dende Re­la­tio­nen deut­lich wer­den. Ins­ge­samt be­greift Klaus die­ses Sys­tem von Öf­fent­lich­kei­ten als ver­netz­tes hier­ar­chi­sches Sys­tem und zieht dar­aus kom­plexe Schluss­fol­ge­run­gen. Der an­fäng­lich kon­sta­tierte Dua­lis­mus zwi­ schen Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit, der der Aus­gangs­punkt der Ana­lyse war, be­ steht dann auch heute wei­ter, aber in ei­ner neuen Form, in­so­fern Pri­vat­heit jetzt in Tei­len zu ei­ner Vor­aus­set­zung für spe­zi­fi­sche Öf­fent­lich­keits­for­men wird, die sich erst dar­über kons­ti­tu­ie­ren kön­nen. Auch die di­rek­ten Fol­gen die­ser so be­schrie­be­ nen Struk­tur von Öf­fent­lich­keit las­sen sich nach Klaus dann wie­der als Dualis­men dar­stel­len, hin­ter denen die Si­che­rung ge­sell­schaft­li­cher Macht­ver­tei­lun­gen steht. Dies wird deut­lich über die da­mit ver­bun­de­nen Wert­ur­tei­le, die ideo­lo­gisch Unter­ schei­dun­gen si­chern wie zwi­schen Hoch- und Po­pu­lär­kul­tur oder ela­bo­rierte und re­strin­gierte Sprach­codes. Of­fen­sicht­lich kann man sa­gen, dass diese Ana­lyse nicht so sehr von Di­cho­to­ mien als un­ver­än­der­li­chen Kon­zep­ten und Gegen­über­stel­lun­gen ge­prägt ist, son­ dern von de­ren fort­schrei­ten­der Ent­wick­lung; sie wer­den als eigent­lich dia­lek­ti­sche Gegen­sätze be­han­delt. Eine zen­tra­le, da­hin­ter ste­hende Ka­te­go­rie ist Macht. Der Text selbst ist je­doch nicht dia­lek­tisch struk­tu­riert, und auch die üb­li­chen dia­lek­ti­ schen Be­grif­fe, wie sie seit He­gel und Marx be­kannt sind, wer­den nicht ver­wen­det. Gleich­wohl sind An­satz und Vor­ge­hen dia­lek­tisch: Wir zi­tie­ren hier Pla­ton: »Wer Gegen­sätz­li­ches zu­sam­men schauen kann, ist ein Dia­lek­ti­ker; wer es nicht kann, ist es nicht.« (Zit. nach Mül­ler 1974: 10) Jede kon­krete Wirk­lich­keit ist da­ nach da­durch be­grenzt, dass es et­was gibt, was sie nicht ist (vgl. ebd.: 11). So ein Ab­gren­zen­des exis­tiert so­wohl in der Zeit, weil al­les ver­gäng­lich ist, als auch in syn­chro­ner Hin­sicht, weil jede Be­nen­nung von et­was im­mer für et­was Spe­zi­fi­ sches steht, was erst da­durch iden­ti­fiz­ iert wer­den kann, dass es et­was gibt, was es nicht ist. Und »In­dem wir diese Kreise [ge­meint ist eine Vi­sua­li­sie­rung von Mo­men­ten ei­nes Sach­ver­hal­tes, F. K.] ver­glei­chend unter­schei­den und durch ihre Unter­schiede ver­bin­den, den­ken wir dia­lek­tisch, den­ken wir phi­lo­so­phisch kon­ kret« (Mül­ler 1974: 27, Her­vor­hebung im Ori­gi­nal). Er­gän­zend und im Vor­griff auf die Über­le­gun­gen im nächs­ten Ka­pi­tel ist zu­ dem fest­zu­hal­ten, dass der Kon­flikt zwi­schen den Gegen­sät­zen Pri­vat­heit und Öf­

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fent­lich­keit auch bei Klaus nicht durch die Ent­wick­lung ge­löst wird. Aber was ge­schieht, ist, dass die vor­her äu­ßer­lich ein­an­der gegen­über ge­stell­ten Gegen­sätze Pri­vat­heit und Öf­fent­lich­keit, die his­to­risch ja ge­rade in unter­schied­li­chen Le­bens­ be­rei­chen ent­ste­hen bzw. sich dort ab­spie­len, als Re­sul­tat der Ent­wick­lung als in­ terne Re­la­tio­nen ei­nes ge­mein­sa­men me­dien­be­zo­ge­nen All­tags ver­stan­den wer­den, in dem die alte Gegen­über­stel­lung ihre Be­deu­tung ver­liert, aber neue Gegen­über­ stel­lun­gen re­le­vant wer­den: die alte, mas­sen­me­dial ge­prägte Öf­fent­lich­keit ent­wi­ ckelt sich zu einem Kon­vo­lut von Mas­sen­me­dien, die vor al­lem ver­kauft wer­den sol­len bzw. de­ren Ein­schalt­quo­ten er­höht wer­den sol­len, in­so­fern sie den Gegen­ satz zwi­schen Privat und Öffentlich auf­he­ben, und die durch das alte Grund­recht auf die Kon­trolle der ei­ge­nen Daten ge­schützte Pri­vat­heit (z. B. durch das im­mer wie­der durch­ge­setzte Brief­ge­heim­nis) wird durch die wahn­wit­zige Daten­sam­me­lei im Netz aus­ge­he­belt, in­so­fern die im Grunde er­zwun­ge­nen Ein­ver­ständ­nis­er­klä­ run­gen der User be­lang­los wer­den. Als neue, po­li­tisch re­le­vante Gegen­sätze ent­ ste­hen Fra­gen da­nach, was über wen für wen trans­pa­rent wer­den darf und soll, und wes­sen Re­le­van­zen bei Ver­öf­fent­li­chungs­pro­zes­sen be­rück­sich­tigt wer­den sol­len – das alte, der De­batte um Öf­fent­lich­keit/Pri­vat­heit im­pli­zit unter­lie­gende Zen­tral­ thema ist auch das Zen­tral­thema der neuen Fra­ge­stel­lun­gen.

Kri­tik der Dia­lek­tik heu­te: phil ­ os ­ op ­ hisch überh ­ öht, prak­tisch ent­mün­digt und machtp ­ ol­ it­ isch eing ­ em ­ eind ­ et Soweit also dia­lek­ti­sche Orien­tie­run­gen und Vor­ge­hens­wei­sen in der Ar­gu­men­ ta­tion von Klaus. Wir soll­ten uns in der Kon­se­quenz nun eigent­lich der Frage zu­ wen­den, was ge­nau Dia­lek­tik ist und was wir von ihr er­war­ten kön­nen. Als So­ zial­wis­sen­schaft­le­rin­nen und So­zial­wis­sen­schaft­ler sind wir da­bei aber an ei­ner prak­tisch in der Wis­sen­schaft an­wend­ba­ren Dia­lek­tik in­ter­es­siert, wäh­rend die rie­si­gen Men­gen an Li­te­ra­tur, die dar­über vor­lie­gen, im wesentlichen auf an­dere Fra­ge­stel­lun­gen hin aus­ge­rich­tet sind. Der Dis­kurs um die Dia­lek­tik ist so ge­se­hen phi­lo­so­phisch über­höht und Nicht­phi­lo­so­phen schon fast he­ge­mo­nial ver­sperrt, weil jene sich in der Folge da­für in­kom­pe­tent füh­len. Die Dia­lek­tik bleibt so weit­ ge­hend un­frucht­bar für kon­krete prak­ti­sche Fra­gen, auch wenn sie sich aus wis­ sen­schaft­li­chen Über­le­gun­gen ab­lei­ten las­sen, und sie ist oben­drein macht­po­li­tisch ein­ge­mein­det, so die im Fol­gen­den be­grün­dete The­se. Dies schließt aber nicht aus, wie ich eben­falls hoffe deut­lich ma­chen zu kön­nen, dass man ei­nen Neu­start ver­ sucht und eine so­zu­sa­gen »klei­ne, auf kon­krete so­zial­wis­sen­schaft­li­che Fra­gen be­ zo­gene« Dia­lek­tik ent­wi­ckelt. Das Kon­zept »Dia­lek­tik« geht wie vie­les auf Pla­ton zu­rück und be­zeich­net bei ihm Den­ken und Spre­chen als Aus­ein­an­der­set­zung, um Wahr­heit zu fin­den,

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um also zu er­ken­nen. Hier­aus ent­wi­ckelte und recht­fer­tigte sich die ty­pi­sche Sub­ jekt-Ob­jekt-Dia­lek­tik, die das er­ken­nende Sub­jekt und das zu er­ken­nende Ob­jekt be­trach­tete und bis hin zu He­gel und Marx und ihren Fol­lo­wern da­für dia­lek­ti­sche Re­geln auf­stell­te: reale Wi­der­sprü­che, die be­rühmte Auf­he­bung der Gegen­sätze auf ei­ner neuen Ebene als Er­geb­nis von de­ren Kampf, zu­gleich auch als Inter­ na­li­sie­rung de­ren ur­sprüng­lich ex­ter­ner Gegen­sätz­lich­keit, und ver­bun­den da­mit eine Pro­zess­orien­tie­rung und Be­griffe und Kon­zepte wie To­ta­li­tät, Um­schlag vom Quan­ti­ta­ti­ven ins Qua­li­ta­tive und der­glei­chen. Wich­tig ist auch die in der Dia­lek­tik an­ge­legte The­se, dass die for­male Lo­gik als Re­gel­sys­tem (auch zu­sam­men mit der aus­schließ­lich auf for­male Lo­gik re­kur­rie­ren­den Ma­the­ma­tik) al­leine nicht aus­ reicht, um die Wirk­lich­keit an­ge­mes­sen zu be­schrei­ben – hier­auf wird wei­ter un­ten noch ein­ge­gan­gen. Das al­les ist nicht falsch; es han­delt sich da­bei ja um Kon­zep­te, die durch­ aus zur Be­schrei­bung und zum Ver­ständ­nis rea­ler Wirk­lich­keit ein­ge­setzt wer­den kön­nen und wei­ter­hel­fen – sug­ges­tiv sind sie al­le­mal, wie ihre Be­kannt­heit auch bei je­nen be­stä­tigt, die von Dia­lek­tik nichts ge­nau­eres wis­sen und sie gleich­wohl ab­leh­nen. Aber auf die­sen Grund­la­gen hat sich seit Pla­ton und ins­be­son­dere seit He­gel be­kannt­lich eine ei­ner­seits en­ge, an­de­rer­seits über­bor­dende kom­plexe und un­ein­heit­li­che Theo­rie nie­der­ge­las­sen, die ganz unter­schied­li­che An­wen­dungs­be­ rei­che unter­sucht und dort of kaum ver­gleich­bare Kon­zepte von Dia­lek­tik ver­folgt. Häu­fig wird das Ver­hält­nis von for­ma­ler Lo­gik und Dia­lek­tik auch so miss­ver­stan­ den, dass ebenso wie die Lo­gik die Dia­lek­tik aus ei­ner Reihe von Re­geln be­steht, die ord­nungs­ge­mäß an­ge­wandt wer­den müs­sen; es wurde und wird bis heute ver­ sucht, ent­spre­chende Grund­la­gen und Re­geln zu ent­wi­ckeln. Das al­les ge­schieht auch in ei­ner spe­zi­fi­schen phi­lo­so­phisch ge­präg­ten Spra­che, die – ähn­lich wie die Sys­tem­theo­rie – ein eige­nes, gleich­zei­tig aber kei­nes­wegs im­mer gleich­ar­tig ver­ wen­de­tes Vo­ka­bu­lar be­sitzt. Hinzu kommt der Ver­such, der Na­tur eine Dia­lek­tik zu unter­stel­len – was ja sein kann, aber bis­her eben­falls nicht zu ei­nem Kon­sens ge­führt hat und oben­drein die Dinge wei­ter kom­pli­ziert. Und der sogenannte reale So­zia­lis­mus in der eu­ro­päi­schen Nach­kriegs­zeit hat im­mer auch ver­sucht, seine ei­gene Sicht­weise der Dia­lek­tik durch­zu­set­zen, was dann auch kei­nes­wegs im­mer auf der Ebene des bes­ten Ar­gu­ments ge­schah, son­dern sich auf Macht­ver­hält­nisse be­rief. Auf der an­de­ren Seite hat der in den Na­tur­wis­sen­schaf­ten so be­liebte lo­ gi­sche Po­si­ti­vis­mus in der Pop­per­schen Ver­sion Dia­lek­tik auf eine Art Trial-andEr­ror-Ver­fah­ren re­du­ziert und sie für letzt­lich über­flüs­sig er­klärt – mal ab­ge­se­hen da­von, dass sich die meis­ten Na­tur­wis­sen­schaft­ler für sol­che Fra­gen oh­ne­hin nicht in­ter­es­sie­ren. Dia­lek­tik kann auch als blo­ßes Re­gel­sys­tem, das sich von au­ßen be­ schrei­ben lässt, nicht über­le­ben, weil sie dann nicht mehr re­fle­xiv vor­ge­hen kann und so an ihren ei­ge­nen Gren­zen ver­küm­mert. All die­ses zu­sam­men recht­fer­tigt unse­res Er­ach­tens die oben for­mu­lierte ­These, dass die Dia­lek­tik zu ei­nem weit­ge­hend ver­stei­ner­ten Fach­ge­biet ge­wor­den ist, um

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das sich man­gels Po­ten­zial kaum mehr je­mand küm­mert. Be­lege da­für lie­fert auch das Buch von Röd (1974), auf das ich im Fol­gen­den ein­gehe und das die kom­plexe Ge­schichte der Wis­sen­schaft von der Dia­lek­tik sach­kun­dig, aber auch in ge­wis­ser Weise kri­tisch, in zwei Bän­den dar­stellt. Trotz die­ser kri­ti­schen Grund­po­si­tion ist aber fest­zu­hal­ten, dass man aus Röds Arbeit nicht ohne Weiteres eine Ab­leh­nung der Dia­lek­tik ab­lei­ten kann; auch Röd macht schon vor vier Jahr­zehn­ten deut­lich, dass es sich gleich­wohl lohnt, sich mit Dia­lek­tik auseinanderzusetzen, wo­bei al­ler­ dings viel Bal­last ab­ge­wor­fen wer­den muss. Röd de­fi­niert »dia­lek­tisch« als Thema sei­ner zwei­bän­di­gen phi­lo­so­phi­schen An­nä­he­rung als ein Ver­hält­nis, »das zwi­schen zwei ein­an­der wech­sel­sei­tig be­din­ gen­den Mo­men­ten ei­nes Gan­zen be­steht, wo­bei das Ganze durch die Be­zie­hung zwi­schen den Mo­men­ten be­stimmt wird und gleich­zei­tig die Mo­mente vom Gan­ zen be­dingt sind. Es han­delt sich also um zwei Ar­ten wech­sel­sei­ti­ger Be­din­gun­ gen: ein­mal zwi­schen den Mo­men­ten, zum an­de­ren zwi­schen den Mo­men­ten auf der ei­nen und dem Gan­zen, dem die Mo­mente an­ge­hö­ren und das sie konstituieren, auf der an­de­ren Seite.« (Röd 1974a: 13) Dies ist zwei­fels­ohne eine ein­en­gende De­fi­ni­tion, in­so­fern sie etwa den klas­si­schen Be­griff der To­ta­li­tät um­geht, aber in sei­ner Dar­stel­lung ver­sucht Röd im wei­te­ren Ver­lauf sei­ner Ana­ly­se, die ver­schie­ de­nen Theo­rien zur Dia­lek­tik auf­zu­be­rei­ten und sach­lich zu er­läu­tern. Hilf­reich ist sein An­satz ins­be­son­dere des­we­gen, weil er in sei­ner knap­pen Ein­ lei­tung auf Ba­sis der ge­ne­rel­len Aus­sage »die Dia­lek­tik gibt es nicht« (ebd.: 9) drei Fel­der be­nennt, für die ver­schie­dene Ty­pen von Dia­lek­tik ent­wi­ckelt und dis­ku­tiert wor­den sind: 1) Dia­lek­tik als On­to­lo­gie, die also nach der Be­stim­mung des Seien­den fragt. Von ei­nem idea­lis­ti­schen Stand­punkt aus ist dann das Kon­zept der Be­griff­lich­keit re­le­vant, weil je­der Be­griff durch das be­stimmt ist, was er nicht be­greift – die sich wei­ter ent­wi­ckelnde Wirk­lich­keit wi­der­spricht dann der Set­zung, die im Be­griff an­ge­legt ist. Von ei­nem ma­te­ria­lis­ti­schen Stand­punkt aus ist es die Wirk­lich­keit als Be­we­gung, die sich durch Wi­der­sprü­che ent­wi­ckelt. Im Sinne ei­nes aris­to­te­li­schen Kon­zepts von Wirk­lich­keit als Wan­del und Be­griff­lich­keit müs­sen für ein sol­ches Ver­ständ­nis von Dia­lek­tik dann also auch die Be­griffe ver­flüs­sigt wer­den, um in Be­zug zu ei­ner sich wan­deln­den Wirk­lich­keit ste­hen zu kön­nen. 2) Dia­lek­tik als Me­tho­do­lo­gie: Hier muss sich Dia­lek­tik an den Re­geln des lo­ gi­schen Den­kens orien­tie­ren und sie re­gel­kon­form über­schrei­ten. Dia­lek­tik bleibt dann aber auf die sogenannten lo­gi­schen vier Grund­ge­setze be­zo­gen – näm­lich den Aus­sa­gen, a ist a, a und non a kön­nen nicht gleich­zei­tig gel­ten, a ist nicht non an, und Leib­niz’ Satz vom zu­rei­chen­den Grund (vgl. Mül­ler 1974: 61  ff.). Dies im­pli­ziert zwar, dass die for­male Lo­gik Gren­zen in der Er­fas­sung von Wirk­lich­keit be­in­hal­tet, die nur au­ßer­lo­gisch auf­ge­ho­ben wer­den kön­nen (vgl. Mül­ler 1974: 65  ff.), legt aber die Dia­lek­tik im­pli­zit doch auf ein star­res und un­dia­lek­ti­sches Ver­hält­nis zu die­sen Grund­ge­set­zen fest. Dem­ent­spre­chend kann der Ver­such, kon­

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sis­tente und hand­hab­bare Re­geln ei­ner dia­lek­ti­schen Lo­gik zu ge­ne­rie­ren, wie dies etwa im real exis­tie­ren­den So­zia­lis­mus der UdSSR oder der DDR ver­sucht wur­de, nicht er­folg­reich sein (vgl. hier­zu: Röd 1974b: 75 ff.). 3) Schließ­lich Dia­lek­tik als Er­fah­rungs­struk­tur. Dies ist nach Röd (1974b) das Feld, auf dem sich in der neu­zeit­li­chen Phi­lo­so­phie dia­lek­ti­sche Struk­tu­ren ge­ fun­den ha­ben. Da­bei stand und steht das Er­kennt­nis­pro­blem im Vor­der­grund, also das Ver­hält­nis von er­ken­nen­dem Sub­jekt und zu er­ken­nen­dem Ob­jekt, die sich in dia­lek­ti­scher Per­spek­tive gegen­sei­tig be­din­gen. Diese im Rah­men klas­si­scher Phi­lo­so­phie ent­wi­ckelte Dar­stel­lung von Röd eig­net sich aus zwei Grün­den für eine wei­tere Be­rück­sich­ti­gung auch durch an­dere Wis­sen­ schaf­ten. Ein­mal, weil sie im Rah­men ihrer Vor­aus­set­zun­gen ganz unter­schied­li­che Ver­ständ­nis­wei­sen von Dia­lek­tik re­fe­riert und dis­ku­tiert, und zum zweiten, weil sie ei­ner re­gel­ge­lei­te­ten Dia­lek­tik wel­cher Art auch im­mer eine klare Ab­sage er­teilt. Bei­des mag hilf­reich sein, ei­nen Neu­start ei­ner Dia­lek­tik zu ent­wi­ckeln. Dies vor al­lem auch des­we­gen, weil Röd die Kern­ar­gu­mente der ver­schie­de­ nen Dia­lek­tik­be­für­wor­ter her­aus­arbei­tet, und da­bei keine ei­ge­nen Po­si­tio­nen zu ver­tei­di­gen hat, auf die er dann seine Arbeit kon­zen­triert. Ins­be­son­dere ver­weist er in­ter­es­san­ter Weise dar­auf, dass Jean Paul Sar­tre, sonst eigent­lich nicht Ex­perte für mar­xis­ti­sche oder he­ge­lia­ni­sche Ge­dan­ken, in Ab­gren­zung zu sei­nen gro­ßen Vor­gän­gern eine Sub­jekt-Sub­jekt-Dia­lek­tik ent­wi­ckelt und da­mit ein Thema der vor­he­ge­lia­ni­schen Dia­lek­tik wie­der auf­ge­nom­men hat, die sich ins­be­son­dere für eine kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che Ver­wen­dung eig­net, wie ich im nächs­ten Ab­schnitt ar­gu­men­tie­ren wer­de. In eine ähn­li­che Rich­tung weist die Stu­die von Bar­bara Kuch­ler (2005), die dem Ver­schwin­den der Dia­lek­tik aus der So­zio­lo­gie nach­geht. Es han­delt sich bei ihrem le­sens­wer­ten Band um eine nicht dia­lek­ti­sche Unter­su­chung der Dia­lek­tik, die sich in ihrer Struk­tur an den drei Luh­mann­schen Sinn­di­men­sio­nen Sach-, So­zial- und Zeit­di­men­sion orien­tiert (vgl. Kuch­ler 2005: 7). Ihrem Ver­ständ­nis nach »ist es der zen­trale theo­re­ti­sche Im­puls der Dia­lek­tik, Ver­hält­nisse als Selbst­ver­hält­nisse zu den­ ken, d. h. die Rea­li­tät nicht als das Ver­hält­nis des ei­nen Dings (oder auch des ei­nen Sub­jekts) zum an­de­ren zu ver­ste­hen, die ein­fach neben­ein­an­der ste­hen und nach­träg­ lich ir­gend­wel­che Re­la­tio­nen zu­ein­an­der ein­ge­hen, son­dern als ein Ver­hält­nis zu sich selbst.« (Ebd.: 14) Kuch­ler will also den Be­zug auf das ver­meint­li­che An­dere in das Selbst­ver­hält­nis des Ei­nen ein­be­zie­hen, und dies er­zeugt die Be­we­gung, um die es geht. Dies nimmt, wie oben be­reits an­ge­merkt, den An­satz von Klaus auf, näm­lich so­zial­wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­sen mit Di­cho­to­mien zu be­gin­nen. Mit die­sem Vor­ha­ben dis­ku­tiert Kuch­ler dann die Rolle der Dia­lek­tik in der So­zio­lo­gie als Theo­rie ge­sell­schaft­li­cher Dif­fe­ren­zie­rung, als So­zial­theo­rie und als Pro­zess­theo­rie. Dies ge­schieht auf der Ba­sis ei­ner dif­fe­ren­zier­ten Kennt­nis dia­lek­ ti­scher Ar­gu­men­ta­tio­nen vor al­lem bei He­gel, Marx und Sar­tre, die vom Selbst­ver­ ständ­nis der So­zio­lo­gie aus be­ur­teilt wer­den.

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Wäh­rend nach Kuch­ler vor al­lem die Pro­zess­theo­rie dia­lek­ti­sche Über­le­gun­gen be­in­hal­tet – bei­spiels­weise Ul­rich Becks re­fle­xive Mo­der­ni­sie­rung – sieht sie die meis­ten Pro­bleme in dem un­ge­klär­ten Be­zug der So­zial- und Ge­sell­schafts­theo­rie auf die Dia­lek­tik. Da­bei hebt sie her­vor, dass die gän­gi­gen Dia­lek­tik­mo­delle von He­gel und Marx, so­weit sie sie be­han­delt, da­für nichts her­ge­ben, wäh­rend das von Sar­tre ent­wi­ckelte Mo­dell ei­ner Sub­jekt-Sub­jekt-Dia­lek­tik, in der also nicht das Ver­hält­nis des Ein­zel­nen zum All­ge­mei­nen, son­dern das Ver­hält­nis gleich­be­rech­ tig­ter Sub­jekte zueinander im Vor­der­grund steht, zwar prin­zi­piell eine in­ter­es­sante Al­ter­na­tive an­bie­tet, die aber nicht hin­rei­chend aus­ge­arbei­tet ist. Zu­sam­men­fas­send las­sen sich die Er­geb­nisse von Röd und Kuch­ler nun in dem Sinn als hilf­reich ver­ste­hen, als dass beide nach We­gen su­chen, wie dia­lek­ti­sche Über­ le­gun­gen in den So­zial­wis­sen­schaf­ten sinn­voll ver­wen­det wer­den kön­nen. Beide se­hen auch keine prin­zi­piel­len Hin­der­nisse da­für und mei­nen, dass die Dia­lek­tik spä­tes­tens seit He­gel und dann Marx im Grunde ein­fach eine an­dere Rich­tung ge­nom­men hat. Wir be­haup­ten daran an­schlie­ßend, dass das ein Grund da­für ist, sich mit der Dia­ lek­tik auseinanderzusetzen. Nicht als uni­ver­sel­les Werk­zeug, aber doch im­mer­hin als In­stru­ment, das sich in­ner­halb so­zial­wis­sen­schaft­li­cher Dis­zi­pli­nen auf ver­schie­de­ nen Fel­dern und wie jede gute Theo­rie für unter­schied­li­che Zwe­cke ein­set­zen lässt. Wir be­zie­hen uns da­bei auf ein Ver­ständ­nis von Dia­lek­tik als In­stru­ment, mit des­sen Hilfe et­was be­schrie­ben und ana­ly­siert wer­den kann. Es muss al­so, wenn man eine dia­lek­ti­sche Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft an­den­ken will, ein eigen­stän­di­ges Mo­ dell ent­wi­ckelt wer­den. Dies kann auf der Ba­sis von Kuch­ler so­wie des Sartreschen Dia­lek­tik­ver­ständ­nis­ses und in Ab­gren­zung zu den sys­te­ma­ti­schen und in­sti­tu­tio­na­ li­sier­ten Dia­lek­tik­theo­rien He­gels, Mar­xens und des Mar­xis­mus ge­sche­hen, ver­langt aber um­ge­kehrt auch ein spe­zi­fis­ ches und brauch­ba­res Theo­rie­ver­ständ­nis.

Dia­lek­tik als Struk­tur mensch­li­cher Er­fah­rung, soz ­ ial­ er Entw ­ ickl­ ung und zwis ­ chenm ­ enschl­ ic ­ her Komm ­ un ­ ik ­ at­ ion Auf der Ba­sis der obi­gen Über­le­gun­gen for­mu­lie­ren wir nun ab­schlie­ßend drei The­sen. 1. Dia­lek­tik kann als Sub­jekt-Ob­jekt-Dia­lek­tik in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­ schaft als Re­fle­xions­in­stru­ment für Er­kennt­nis­pro­zesse die­nen. 2. Dia­lek­tik kann in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft als In­stru­ment ei­ner Ana­ lyse von Pro­zes­sen und ein­an­der gegen­über­ste­hen­der Gegen­sätze die­nen. 3. Dia­lek­tik kann als In­stru­ment dazu die­nen, be­stimmte zen­trale Prozess­phä­no­ mene der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft, bei­spiels­weise kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­ deln, zu be­schrei­ben und zu ana­ly­sie­ren.

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Zu 1. Diese These er­gibt sich aus der bis­he­ri­gen Pra­xis der Dia­lek­tik als Sub­jekt-Ob­ jekt-Dia­lek­tik. Prin­zi­piell wäre es hier­für je­doch not­wen­dig, den hin­ter den heu­ ti­gen Dia­lek­tik­theo­rien ste­hen­den phi­lo­so­phi­schen Ap­pa­rat zu ver­ste­hen. Dies ist je­doch im Sinne ei­ner »klei­nen« Dia­lek­tik nicht not­wen­dig, wenn ein ent­spre­chen­ des Theo­rie­ver­ständ­nis zu­grunde ge­legt wird. Die da­für ge­eig­nete Po­si­tion hat Stuart Hall for­mu­liert. Den Cul­tu­ral Stu­dies (vgl. Krotz 2015) ging und geht es da­nach al­ler Em­pi­rie zum Trotz nicht um den Auf­bau ei­nes festgefügten theo­re­ti­schen Ge­bäu­des, des­sen Pflege den Ex­ege­ten über­las­sen bleibt, son­dern um Theo­re­ti­sie­rung – also um Theo­rie­ent­wick­lung längs des his­to­ri­schen und po­li­ti­schen Ge­sche­hens wie auch um­ge­kehrt um eine Re­kon­ struk­tion die­ses Ge­sche­hens mit Hilfe der vor­han­de­nen theo­re­ti­schen Über­le­gun­ gen und In­stru­men­te. Da­mit also um die theo­re­ti­sche Be­glei­tung der Ent­wick­lung, die aber auch die da­mit ver­bun­de­nen prak­ti­schen und po­li­ti­schen Fra­gen be­rück­ sich­ti­gen soll und im­mer auch auf ei­nen Bei­trag zur wei­te­ren Ent­wick­lung mit dem Ziel von mehr so­zia­ler Ge­rech­tig­keit ge­rich­tet ist. In Wor­ten Stuart Halls: »Ich bin nicht an Theo­rie, son­dern am fort­wäh­ren­den Theo­re­ti­sie­ren in­ter­es­siert.« (Zit. n. Lut­ter/Rei­sen­lei­ter 1998: 49) Theo­rie ist dem­ent­spre­chend in der Per­spek­tive der Cul­tu­ral Stu­dies sich ent­wi­ckelnde Theo­rie, die im­mer wie­der neu am rea­len Ge­ sche­hen und des­sen Kri­tik an­knüpft, und im­mer wie­der neu das mit ein­be­zieht, was in der Wis­sen­schaft kri­tisch ge­dacht und ent­wi­ckelt wird. Hier könnte dem­ent­ spre­chend ein un­dog­ma­ti­sches Kon­zept von Dia­lek­tik als kol­lek­ti­ver, manch­mal auch in­di­vi­du­el­ler, im Den­ken sich ent­wi­ckeln­der Er­kennt­nis­pro­zess an­knüp­fen – es würde Wi­der­sprü­che und Kon­texte als To­ta­li­tät be­rück­sich­ti­gen, ebenso wie die Re­geln for­ma­ler Lo­gik und abs­trak­ten Den­kens – an den je ge­eig­ne­ten Stel­len. Auch He­gel hat so be­gon­nen, was man sehr deut­lich sieht, wenn man seine frühe Schrift »Wer denkt abs­trakt« liest (Baum/Meist 1998). Zu 2. Hier ver­wei­sen wir auf die Ar­gu­men­ta­tio­nen von Klaus (2001) wie oben dar­ge­ stellt, so­wie auf Kuch­ler (2005) und auch auf die Er­geb­nisse der pro­zess­orien­tier­ ten Me­dia­ti­sie­rungs­for­schung (vgl. Krotz/Des­pot­ovic/Kruse 2014), die sich frei­ lich auch kei­ner dia­lek­ti­schen Struk­tur oder Aus­drucks­weise be­dient. Zu 3. Ein neues Ver­ständ­nis von kom­mu­ni­ka­ti­vem Han­deln durch des­sen dia­lek­ti­sche Ana­lyse er­scheint dar­über hin­aus als et­was Neu­es, was die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­ sen­schaft durch die Dia­lek­tik ge­win­nen kann. Hier ist die Fra­ge, in­wie­fern man von ei­ner sol­chen Dia­lek­tik spre­chen kann. So­weit ich diese Sach­ver­halte ver­ste­he, kann man das im Sinne ei­ner dia­lek­ti­schen Lo­gik nicht. Im­mer­hin be­schäf­tigt sich aber z.  B. Joa­chim Is­rael im Zu­sam­men­hang mit Hand­lun­gen mit der Dia­lek­tik

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von Ab­sicht und Re­geln (vgl. Is­rael 1979: 217 ff.); dies sollte sich er­wei­tern las­sen zu ei­nem Kon­zept der Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen zwei Sub­jek­ten, die je ei­ner­seits den an­de­ren als ei­nen ex­ter­nen an­de­ren be­trach­ten, aber, in­so­fern sie mit­ein­an­der si­tua­tiv kom­mu­ni­zie­ren und auf Ver­stän­di­gung zie­len, den an­de­ren als Sub­jekt an­ er­ken­nen und re­spek­tie­ren müs­sen. Hier lässt sich in der Be­schrei­bung ver­mut­lich auch am Al­fred Schütz’schen Pro­zess des Ty­pi­sie­rens ei­ner­seits und der An­er­ken­ nung der Ein­zig­ar­tig­keit des je­weils an­de­ren in ei­nem jen­seits von Ty­pi­sie­run­gen statt­fin­den­den Ge­spräch andererseits an­knüp­fen. Das da­für ge­eig­nete Kon­zept von Dia­lek­tik hat Sar­tre an­ge­dacht und sich da­bei ex­pli­zit auf so­ziale Sach­ver­halte und So­ziali­tät be­zo­gen. Seine Sub­jekt-Sub­jektDia­lek­tik geht nicht, wie in der klas­si­schen Sub­jekt-Ob­jekt-Dia­lek­tik des Er­ken­ nens, von ei­nem Sub­jekt und ei­nem Ob­jekt aus, die von­ein­an­der un­ab­hän­gig und nur ex­tern über den Er­kennt­nis­pro­zess mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Statt­des­sen wer­den die bei­den Sub­jekte als Teil ei­nes ge­mein­sa­men Gan­zen, ei­ner To­ta­li­tät ge­dacht, zwi­schen denen da­durch eine in die­ser Sicht­weise in­ter­iore Be­zie­hung be­steht, die auch nur von denen er­kannt, er­lebt und – wohl unter den ge­ge­be­nen Be­din­gun­gen – ge­stal­tet wer­den kann, die die­sem ge­mein­sa­men Gan­zen an­ge­hö­ ren. Es ist mit­hin die auf­ein­an­der be­zo­gene Pra­xis, in der dia­lek­ti­sche Be­we­gun­gen ent­ste­hen – Sar­tre legt da­mit ei­nen auf das So­ziale kon­zen­trier­ten Dia­lek­tik­be­griff vor, der auch So­li­da­ri­tät zu er­fas­sen in der Lage sein soll, an­ge­bun­den an eine Dia­ lek­tik der Ak­tion, die den An­spruch er­hebt, Den­ken und Sein jen­seits des Se­riel­len zu ver­bin­den (vgl. Röd 1974: 147 ff.). Chris­tian De­champs spricht in­so­fern von ei­ner al­ler­dings kaum ver­mit­tel­ten Dia­lek­tik der Gruppe (vgl. De­champs 1975: 208 ff.), ist da­mit aber im­mer­hin in ei­ner so­zio­lo­gisch wie kom­mu­ni­ka­tions­wis­ sen­schaft­lich be­deut­sa­men Ka­te­go­rie an­ge­kom­men. Zwar hat, wie Kuch­ler (2005: 92 ff.) her­aus­arbei­tet, Sar­tre da­bei das Ver­hält­nis zwi­ schen zwei Sub­jek­ten als durch Ma­te­rie be­stimmt ver­stan­den, an der im Ka­pi­ta­lis­mus im­mer ein Man­gel be­steht und die des­halb als Res­source um­kämpft ist – die be­tei­lig­ten Sub­jekte tre­ten mit­hin als Kon­kur­ren­ten um Res­sour­cen auf, wor­aus dann ent­we­der eine ant­ago­nis­ti­sche Feind­schaft oder aber eine um­fas­sende Inter­es­sens­kon­gru­enz ent­ste­hen muss. Dies braucht man für die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft aber nicht zu über­neh­men, weil ver­stän­di­gungs­orien­tierte Kom­mu­ni­ka­tion schon qua De­fi­ni­tion im­mer wech­sel­sei­tig statt­fin­den muss und in­so­fern auf Ant­wor­ten an­ge­wie­sen ist, um Inter­sub­jek­ti­vi­tät her­stel­len zu kön­nen. In­so­fern gibt es kei­nen Grund, zwangs­läu­fig ei­nen Kampf auf Le­ben und Tod oder eine wort­lose Inter­es­sens­kon­gru­enz an­zu­neh­ men, wie es Sar­tre tut, es ent­steht viel­mehr ein­fach ein rea­li­täts­stif­ten­der Dia­log, der prin­zi­piell von zweien ge­führt wer­den muss. In ei­ner sol­chen Per­spek­tive lässt sich ver­mut­lich Dia­lek­tik als hilf­rei­ches Ana­ly­se­in­stru­ment ver­wen­den. So­weit eine Reihe von Über­le­gun­gen, die an der Ana­lyse von Di­cho­to­mien in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft von Eli­sa­beth Klaus an­set­zen. Ohne Zwei­fel: Hier ist noch viel Arbeit zu leis­ten. Aber es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass sie sich lohnt.

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»Border Thin­king« – In­ter­sekt­io­na­li­tät als kos­mo­po­li­ti­sche Inter­ven­tion?

»Border Thin­king« In­ter­sekt­io­na­li­tät als kos­mo­po­li­ti­sche Inter­ven­tion?1 Ed­gar Fors­ter »Er­in­ne­rungs­lo­sig­keit wird zur Ver­ant­wor­tungs­ lo­sig­keit, wenn die Gegen­wart an bei­den En­den ab­ge­schnit­ten, aus der Ge­schichte her­aus­ge­löst und zum Er­eig­nis ohne Ver­gan­gen­heit und ohne Fol­gen wird.« (Chris­tina Thür­mer-Rohr, Am Thema blei­ben) »[. . .] na­ture re­mains a cru­cial­ly im­portant and deep­ly con­tested myth and re­al­ity.« (Donna Ha­ra­way, Pri­mate Vi­si­ons) »Was man die Wahr­heit ei­ner Ge­sell­schaft nen­nen kann, ist ihre Wahr­heit in der Ge­schichte [. . .].« (Cor­ne­lius Cas­to­ria­dis, Ge­sell­schaft als ima­gi­näre In­sti­tu­tion)

Ein­lei­tung Es ist be­lang­los, ob In­ter­sekt­io­na­li­tät ein neues so­zial­wis­sen­schaft­li­ches Kon­zept ist, das uns In­stru­mente an die Hand gibt, mit denen wir die Über­schnei­dung von Struk­tur­ka­te­go­rien ana­ly­sie­ren kön­nen oder ob wir es mit ei­nem al­ten Hut zu tun ha­ben, weil kri­ti­sche ForscherInnen oh­ne­hin nie et­was an­de­res ge­macht ha­ben. Be­deut­sa­mer scheint mir die Be­ob­ach­tung zu sein, dass die Vor­züge von In­ter­ sekt­io­na­li­tät eine pro­ble­ma­ti­sche Kehr­seite ha­ben, die zwar kein ori­gi­nä­res Pro­ blem der In­ter­sekt­io­na­li­täts­for­schung ist, hier aber be­son­ders deut­lich her­vor­tritt: 1 Ich danke den KollegInnen der For­schungs­platt­form Gen­der Stu­dies an der Uni­ver­si­ tät Salz­burg für ei­nen an­re­gen­den Dis­kus­sions­abend und für wert­volle Kom­men­tare zu ­ei­ner frü­he­ren Fas­sung die­ses Tex­tes.

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Die Ka­te­go­rien der Über­kreu­zung dro­hen zu sta­bi­len, schein­bar un­ver­rück­ba­ren ahis­to­ri­schen Ele­men­ten zu er­star­ren. Zwar würde sie nie­mand für ›na­tür­li­che‹ Ge­ge­ben­hei­ten oder gar Es­sen­zen hal­ten, aber der bloße Hin­weis auf ihre so­ziale Kon­stru­iert­heit hat keine sub­stan­tiel­len Aus­wir­kun­gen auf so­zial­wis­sen­schaft­li­che For­schun­gen. Be­griffe wie ra­ce, class oder gen­der sind leere Wör­ter, wenn wir die Prak­ti­ken, Er­fah­run­gen, das Wis­sen und die Ima­gi­na­tio­nen aus­blen­den, die die Ge­ schichte des­sen bil­den, was sich in Be­grif­fen nie­der­schlägt und ih­nen not­wen­dig auch ent­ge­hen muss. Wir kom­men um diese Be­griffe und Ka­te­go­rien nicht her­um, aber sie bil­den im Den­ken nicht viel mehr als den Aus­gangs­punkt ei­ner theo­re­ti­ schen Be­we­gung der Dif­fun­dierung und De­zen­trie­rung. An die Stelle von Be­grif­ fen tre­ten Kon­stel­la­tio­nen oder Fi­gu­ra­tio­nen. Wenn man es bei die­ser Kri­tik be­lässt, über­sieht man al­ler­dings, dass das Kon­ zept In­ter­sekt­io­na­li­tät aus der po­li­ti­schen Er­fah­rung re­sul­tiert. ­Wo­men of color wa­ ren und sind im Rechts­sys­tem und in der Po­li­tik nicht re­prä­sen­tiert, und In­ter­sek­ tio­na­li­tät ist auch eine po­li­ti­sche Inter­ven­tion, die eine po­li­ti­sche Zu­ge­hö­rig­keit und Iden­ti­tät ar­ti­ku­liert (vgl. Klaus 2014). Die fol­gende Arbeit am Be­griff ist der Ver­such, ex­em­pla­risch zu zei­gen, was ich unter Dif­fun­dierung und De­zen­trie­rung von Ka­te­go­rien ver­ste­he. Von der klas­ si­schen Be­griffs­trias ra­ce, class und gen­der in der In­ter­sekt­io­na­li­täts­for­schung be­ handle ich nur den Be­griff race aus­führ­li­cher. Gegen­über class und gen­der räume ich race aber kei­nen epis­te­mo­lo­gi­schen oder po­li­ti­schen Son­der­sta­tus2 ein; das ›Be­son­dere‹ die­ser Ka­te­go­rie be­steht im Unter­schied zu den an­de­ren bei­den Struk­ tur­ka­te­go­rien aber dar­in, dass sich race gegen eine ein­fa­che Über­set­zung ins Deut­ sche sperrt. Die ras­sis­ti­sche Ver­nich­tungs­po­li­tik des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus macht den Be­griff zu ei­ner um­strit­te­nen Ka­te­go­rie so­zial­wis­sen­schaft­li­cher Ana­ly­sen. Würde man den Ras­sis­mus klein­re­den, wenn man auf den Be­griff ›Rasse‹ ver­zich­ tet? Oder trägt man um­ge­kehrt zu ei­ner Rei­fi­zierung ei­ner abs­tru­sen An­thro­po­lo­gie bei, wenn man sich auf den Be­griff ›Rasse‹ stützt? Ge­nügt es nicht, von Ras­sis­ mus zu spre­chen, der auch die – wis­sen­schaft­li­che – Kon­struk­tion von ›Rasse‹ ein­schließt? Die Schwie­rig­kei­ten las­sen sich auch nicht be­sei­ti­gen, wenn man auf einen an­de­ren Be­griff wie Eth­nie aus­weicht. Deut­li­cher als an an­de­ren Struk­tur­ka­ te­go­rien tre­ten am Be­griff race Pro­bleme be­griff­li­cher Arbeit her­vor. Das zwingt uns, Fra­gen nach dem theo­re­ti­schen Sta­tus von Ka­te­go­rien und Be­grif­fen grund­le­ gen­der zu stel­len (vgl. Klaus 2008a, b). Ich werde in ei­nem ers­ten Schritt die Kri­tik von Crens­haw und an­de­ren an ei­ ner In­ter­sekt­io­na­li­täts­for­schung auf­neh­men, die die Ka­te­go­rien der Ver­schrän­kung 2 Ich muss hier auf eine ver­glei­chende Ana­lyse des epis­te­mo­lo­gi­schen Sta­tus der Ka­te­go­rien ra­ce, class und gen­der ver­zich­ten. Rend­torff (vgl. 2012) ver­tritt die The­se, dass Ge­schlecht gegen­über an­de­ren Struk­tur­ka­te­go­rien et­was »Be­son­de­res« sei, und zwar in dem Sin­ne, dass Ge­schlecht eine spe­zi­fi­sche Be­deu­tungs­zu­schrei­bung sys­te­ma­tisch auf­rufe.

»Border Thin­king« – In­ter­sekt­io­na­li­tät als kos­mo­po­li­ti­sche Inter­ven­tion?  |  39

fi­xiert, und da­nach zei­gen, wel­che Schlüsse Gud­run-Axeli Knapp aus die­sem tra­ve­ ling concept zieht (Kap. 2). In der Folge wird ex­em­pla­risch am Be­griff race die Dif­ fun­dierung von Ka­te­go­rien er­probt und race als Kon­stel­la­tion ge­dacht (Kap. 3). Der theo­re­ti­sche Rah­men für race als Ge­schichte ihrer Prak­ti­ken, Deu­tungs­mus­ter und ihres Wis­sens ist das Kon­zept der ko­lo­nia­len Dif­fe­renz (Kap. 4). Die Be­we­gung der Dif­fun­dierung ver­weist auf die Lo­gik kri­ti­scher So­zial­wis­sen­schaf­ten: Sie ver­hält sich re­fle­xiv gegen­über ihrer ei­ge­nen Po­si­tio­na­li­tät und der per­for­ma­ti­ven Kraft ihrer Er­kennt­nis. »Border thin­king« könnte dar­auf eine Ant­wort sein (Kap. 5).

Kri­tik der In­ter­sekt­io­na­li­tät Gemessen an der Ver­brei­tung des Kon­zepts und der aus­ge­dehn­ten For­schung in unter­schied­li­chen Wis­sen­schaf­ten kan­n die In­ter­sekt­io­na­li­täts­for­schung als Er­ folgs­ge­schichte gel­ten. Sie hat da­bei al­ler­dings ei­nen Pro­zess der ›Rei­ni­gung‹ und ›Ver­här­tung‹ ihrer Ka­te­go­rien durch­lau­fen. Das ist für Kim­berlé W. Crens­haw, die Er­fin­de­rin des Kon­zepts, und ei­nige ihrer Weg­ge­fähr­tin­nen An­lass, die Ent­wick­ lung der For­schung im 2013 er­schie­ne­nen The­men­schwer­punkt In­ter­sec­tio­na­li­ty: Theo­ri­zing Po­wer, Em­­powe­ring Theory der Zeit­schrift Signs ei­ner Kri­tik zu unter­ zie­hen: »In­ter­sec­tio­na­li­ty has, since the be­gin­ning, been posed more as a nodal point than as a closed sys­tem – a gath­er­ing place for open-ended in­ves­ti­ga­tions of the over­lap­ping and con­flict­ing dy­nam­ics of race, gen­der, class, sex­u­al­ity, na­tion, and other in­equal­ities [. . .]. This seems to us to be a more apt de­scrip­tion of in­ter­sec­tio­na­li­ty’s start­ing point than one that frames in­ter­sec­tio­na­li­ty as on­ly cat­e­gor­i­cal­ly, spa­tial­ly, or tem­po­ral­ly ­rooted in spe­cific re­la­tions or su­per­fi­cial­ly pre­oc­cu­pied with ›dif­fer­ence‹« (Cho/Cren­shaw/McCall 2013: 797).

Ra­ce, class . . . »und an­dere Un­gleich­hei­ten« – die­ser Zu­satz ist an­ge­sichts ei­ ner neu­tra­li­sie­ren­den Un­gleich­heits­for­schung, die Un­gleich­heit dem Kon­zept der Dif­fe­renz sub­su­miert, wich­tig. Wäh­rend die Her­vor­hebung von Re­la­tio­nali­tät und Dif­fe­renz auf epis­te­mo­lo­gi­sche Fra­gen der Iden­ti­tät ant­wor­tet, zielt Un­gleich­heits­ for­schung auf die Ver­tei­lung der unter­schied­li­chen Ka­pi­tal­sor­ten, auf die Pro­duk­ tion von Wis­sen, auf Herr­schafts- und Aus­beu­tungs­for­men so­wie auf ima­gi­näre Be­deu­tun­gen, die Ge­sell­schaf­ten pro­du­zie­ren und in­sti­tu­tio­nelle Prak­ti­ken wie die Recht­spre­chung rah­men. Die Ge­schichte der Prak­ti­ken und des fra­ming die­ser Prak­ti­ken ist eine Ge­schichte von Macht und Herr­schaft, von Un­gleich­heit und Dis­kri­mi­nie­rung, aber auch eine Ge­schichte von Kämp­fen und Wi­der­stän­den. An­ drea Bram­ber­ger (2014) schlägt vor, die unter­schied­li­chen For­men von Macht und Herr­schaft im­mer auf der Ebene der Prak­ti­ken, der in­sti­tu­tio­nel­len Ver­hält­nisse und auf der Ebene des fra­ming zu­gleich zu ana­ly­sie­ren. Der Vor­zug der In­ter­sekt­

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io­na­li­täts­for­schung in der Ana­lyse von Un­gleich­heit be­steht dar­in, dass sie po­li­ti­ sche und wis­sen­schaft­li­che Pro­zesse und Prak­ti­ken der Tren­nung, Rei­ni­gung und Säu­be­rung in den Blick nimmt, die Herr­schaft und Macht (re-)pro­du­zie­ren.

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Räum­li­che Tren­nun­gen: Nähe und Dis­tanz bil­den re­gu­lie­rende In­stan­zen der Ana­ly­se. Wie weit wird ein Ver­ant­wor­tungs­be­reich aus­ge­dehnt? Was wird wis­ sen­schaft­lich zu­sam­men­ge­dacht und was soll ge­trennt be­trach­tet wer­den? Zeit­li­che Tren­nun­gen: Durch die His­to­ri­sie­rung von his­to­ri­schen Er­eig­nis­sen und Ent­wick­lun­gen wer­den Zu­sam­men­hänge her­ge­stellt oder auf­ge­löst. Wel­ che Rolle spielt der Er­war­tungs­ho­ri­zont in wis­sen­schaft­li­chen Ana­ly­sen? Mit wel­chem Recht greift man auf den Er­fah­rungs­raum zu­rück, um gegen­wär­tige Er­eig­nisse zu unter­su­chen, aber be­zieht nicht in glei­cher Weise den Er­war­ tungs­ho­ri­zont ein? Wie be­grün­det sich der Vor­rang des ›Ge­we­se­nen‹ gegen­ über dem ›Mög­li­chen‹? An­thro­po­lo­gi­sche Tren­nungen: Ka­te­go­ri­sie­run­gen und Klas­si­fi­ka­tio­nen füh­ren zu Tren­nun­gen und Ab­son­de­run­gen, zur Ent­wick­lung von Son­der­an­thro­po­lo­gien. Sie zie­hen eine Grenze zwi­schen dem Hu­ma­nen und dem Nicht-Hu­ma­nen.

Nicht nur Grenz­zie­hun­gen und Tren­nun­gen re­pro­du­zie­ren Herr­schafts- und Macht­ver­ hält­nis­se, son­dern auch die Kon­struk­tion von Zu­sam­men­hän­gen und Re­la­tio­nen.3 Man könnte In­ter­sekt­io­na­li­täts­for­schung als Pra­xis der Re­ar­ti­ku­la­tion be­ schrei­ben: Sie kri­ti­siert und de­kon­stru­iert Pro­zesse der Tren­nung, der Rei­ni­gung, aber auch Prak­ti­ken der Ver­knüp­fung von Ele­men­ten, die nicht ›na­tür­lich‹ zu­sam­ men­ge­hö­ren, und von Ka­te­go­rien, auf denen diese Ope­ra­tio­nen be­ru­hen (vgl. Cho/ Crens­haw/McCall 2013: 797). Gud­run-Axeli Knapp (2005) er­in­nert dar­an, dass die deutsch­spra­chige In­ter­ sekt­io­na­li­täts­for­schung im Laufe der wei­ten Reise über den Ozean in man­chen Studien ihre ge­sell­schafts­kri­ti­sche Di­men­sion ver­lo­ren hat und mit He­te­ro­ge­ni­ tät und Di­versi­tät ein dif­fu­ses Den­ken der Dif­fe­renz pro­pa­giert. Sie unter­schei­det zwei, wenn auch nicht trenn­scharfe Ver­wen­dungs­wei­sen von In­ter­sekt­io­na­li­tät: Die erste Verwendungsweise geht auf den Ein­fluss des Kon­zepts in der po­li­tik­ na­hen For­schung zu­rück und um­fasst haupt­säch­lich mi­kro- und me­so-ana­ly­ti­sche Stu­dien, um For­men mul­tip­ler Dis­kri­mi­nie­rung und Be­nach­tei­li­gung im Zu­gang 3 An der Ge­schichte der Wir­kungs­weise des Be­griffs gen­der lässt sich zei­gen, wie die wis­ sen­schaft­li­che und po­li­ti­sche Pro­duk­tion von Re­la­tio­nali­tät in der Ge­schlech­ter­ord­nung zu ei­nem ref­ra­ming des Fel­des ge­führt hat. Ge­ne­ral­aus­sa­gen über ›Frauen‹ und ›Män­ ner‹ wa­ren, so Chris­tina Thür­mer-Rohr (vgl. 2008) in ei­ner Rück­schau, eine be­wusst ge­ wählte Abs­trak­tion, um eine un­aus­ge­spro­chene Norm an­zu­kla­gen, von der man an­nahm, dass sie sich auf al­les Den­ken und alle kul­tu­rel­len Gü­ter gelegt ha­be: die Uni­ver­sa­li­tät männ­li­cher Herr­schaft.

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zu Res­sour­cen und Chan­cen in Be­ruf und All­tag ana­ly­sie­ren zu kön­nen. Dem­ gegen­über bün­deln in­ter­sec­tio­nal studies in der zwei­ten Verwendungsweise ge­ sell­schafts­kri­ti­sche For­schun­gen. Die sys­te­ma­ti­sche Be­deu­tung die­ses An­sat­zes hat Cor­ne­lia Klinger her­vor­ge­ho­ben: »Es ist sinn­los, auf die sich über­la­gern­den oder durch­kreu­zen­den As­pekte von Klas­se, Rasse und Ge­schlecht in den in­di­vi­du­ el­len Er­fah­rungs­wel­ten hin­zu­wei­sen, ohne an­ge­ben zu kön­nen, wie und wo­durch Klas­se, Rasse und Ge­schlecht als ge­sell­schaft­li­che Ka­te­go­rien kons­ti­tu­iert sind« (zit. nach Knapp 2005: 419). Ge­sell­schaft­li­che Herr­schafts- und Macht­ver­hält­nisse wer­den ana­ly­tisch mit der Pro­duk­tion »sym­bo­li­scher Pro­zesse der Re­prä­sen­ta­tion, Le­gi­ti­ma­tion und Sinn­ge­bung« (ebd.: 413), kurz, mit der Pro­duk­tion von ge­sell­ schaft­li­chem Wis­sen ver­knüpft. Durch die Wie­der­auf­nahme in an­de­ren kul­tu­rel­len Kon­tex­ten kommt es zu Über­ set­zun­gen und zu Be­deu­tungs­ver­schie­bun­gen von Be­grif­fen, Ka­te­go­rien und Theo­ rien, zur Kon­kur­renz mit an­de­ren Theo­rien, zur Bil­dung neuer com­mu­ni­ties und zu neuen Sprach­re­ge­lun­gen. Es han­delt sich da­bei nicht nur um aka­de­mi­sche, son­dern im­mer auch um po­li­ti­sche Kämp­fe. Ich möchte diese Über­set­zung und Ver­schie­bung an der Ka­te­go­rie race demons­trie­ren. Für Knapp ist die An­kunft der Ka­te­go­rie race im deutsch­spra­chi­gen Raum noch kom­pli­zier­ter als die Ka­te­go­rie class. »Die Gän­se­füß­chen und Klam­mern, die re­gel­mä­ßig den Be­griff der Rasse rah­men, sind Zei­ chen ei­ner tie­fen Ir­ri­ta­tion. [. . .] Es liegt auf der Hand, dass die Un­mög­lich­keit ei­ner Ver­ wen­dung des Ras­sen­be­griffs zu­rück­geht auf die Ge­schichte ras­sis­ti­scher Iden­ti­täts­po­li­tik im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, die auf Ver­nich­tung und Er­obe­rung aus­ge­rich­tet war« (Knapp 2005: 416 f.).

Der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Er­obe­rungs- und Ver­nich­tungs­krieg hat nicht nur den eu­ ro­päi­schen Kon­ti­nent ver­än­dert, son­dern auch zu ei­nem re-wri­ting der Ge­schichte ge­führt. Darin taucht der Be­griff race aus­schließ­lich als ne­ga­tive Ka­te­go­rie auf, »aber es ist ge­nau das Un­pas­sen­de, oder mehr noch: das Un­mög­li­che die­ses Be­griffs, mit dem eine Her­aus­for­de­rung ver­bun­den ist. [. . .] Im dis­kur­si­ven Schat­ten die­ser Ta­bus gibt es eine unter­schwel­lige und un­heim­li­che Kon­ti­nui­tät in der Selbst­ima­gi­na­tion als eth­nisch homo­ge­ner Na­tion. Die so­zial­psy­cho­lo­gisch-dis­kurs­po­li­ti­sche Kon­stel­la­tion, in der die Nicht-The­ma­ti­sie­rung ta­bu­ier­ter Vor­stel­lun­gen von Dif­fe­renz die Kon­ti­nu­ierung der Il­lu­sion eth­ni­scher Homo­ge­ni­tät er­mög­licht, ist Sym­ptom un­ge­lös­ter Kon­flikte« (ebd.).

Weder kann man auf den Be­griff race ver­zich­ten, noch kann man ihn als Ana­ly­ se­ka­te­go­rie ver­wen­den, ohne die Ge­schichte ras­sis­ti­scher Ver­nich­tungs­prak­ti­ken und der ko­lo­nia­len Dif­fe­renz zu the­ma­ti­sie­ren. ›Rasse‹ ver­weist auf eine lange Ge­schichte wis­sen­schaft­li­cher Ord­nungs­po­li­tik, die die Dia­lek­tik der Auf­klä­rung zum Vor­schein bringt.

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Kon­stel­la­tion Welche Schluss­fol­ge­run­gen müs­sen wir mit die­sem Wis­sen aus den Ana­ly­sen von Cho, Crens­haw, McCall und Knapp zie­hen? Die erste Schluss­fol­ge­rung lau­tet, dass race keine sta­bile Struk­tur­ka­te­go­rie ist. Auf race trifft zu, was Marx (1857/1961) in der Ein­lei­tung zur Kri­tik der Po­li­ti­schen Öko­no­mie für den Be­griff »Klasse« ge­sagt hat: Es han­delt sich um ein »lee­res Wort«, so lange man die Ele­mente nicht kennt, aus denen sich eine Klasse zu­sam­men­setzt. Klasse sei eine »To­ta­li­tät von vie­len Be­stim­mun­gen und Be­zie­hun­gen« (ebd.: 631), und die­ses Man­nig­fal­tige bleibe zer­streut und von­ein­an­der iso­liert, so­lange keine Ver­bin­dung – po­li­tisch – her­ge­stellt wer­de. Men­schen bil­den zwar durch ge­mein­same öko­no­mi­sche Exis­ tenz­be­din­gun­gen eine Klas­se, aber erst durch ihre po­li­ti­sche Or­ga­ni­sa­tion kons­ ti­tu­ie­ren sie sich als Klasse für sich. Der Über­gang von ei­nem Be­griff der Klasse zum an­de­ren ist an ein Tun ge­kop­pelt, an eine Er­fah­rung, die sich in Prak­ti­ken rea­li­siert und die An­eig­nung von et­was ist, was be­reits da ist. Die Ein­heit des Man­ nig­fal­ti­gen ist tat­säch­lich die Pra­xis der To­ta­li­sie­rung des Man­nig­fal­ti­gen. Das ist ein schöp­fe­ri­scher Akt, der hinz­ukommt und sich nicht aus den Be­din­gun­gen al­ lein er­klärt. E. P. Thom­pson (vgl. 1963: 9; zur Kri­tik vgl. Wal­ser Smith 1996) sieht class ge­rade nicht als eine Struk­tur oder Ka­te­go­rie, son­dern als ein his­to­ri­sches Phä­no­men, das rea­li­ter durch die Ver­ei­ni­gung und Ver­ein­heit­li­chung ei­ner An­zahl dis­pa­ra­ter Er­eig­nisse her­ge­stellt werde und in so­zia­len Be­zie­hun­gen ihren Aus­ druck fin­de. Klasse wäre dem­zu­folge ein ge­schicht­lich-ge­sell­schaft­li­cher Pro­zess, durch den Er­fah­run­gen ma­te­ria­li­siert wer­den, die durch Pro­duk­tions­ver­hält­nisse be­stimmt sind, aber auch durch ein Tun, das et­was an­de­res ist als der Aus­druck von Pro­duk­tions­ver­hält­nis­sen. Die Pra­xis ist kon­tin­gent, das heißt, sie ist we­der be­lie­ big noch völ­lig de­ter­mi­niert. Die Bil­dung von Kon­stel­la­tio­nen ist eine po­li­ti­sche und eine wis­sen­schaft­li­che Pra­xis. Ihre Wahr­heit ver­dankt sie nach der Auf­fas­sung der kri­ti­schen Theo­rien der frü­hen Frank­fur­ter Schule der Kon­fron­ta­tion des Ge­ ge­be­nen mit dem Mög­li­chen (Adorno 1931/1973; Be­cker-Schmidt 2007: 59; vgl. Fors­ter 2009). Was heißt das für race? Kon­stel­la­tion ist die Ge­schichte der ras­sis­ti­schen Prak­ ti­ken, die sich mit wis­sen­schaft­li­chen Klas­si­fi­zie­rungs­ver­su­chen und an­thro­po­lo­ gi­schen Vor­stel­lun­gen über­la­gern und ver­knüp­fen. Race ist die Ge­schichte der Ver­knüp­fun­gen, der Über­la­ge­run­gen, aber auch der Tren­nun­gen und Rei­ni­gun­gen (z. B. von wis­sen­schaft­li­chem Er­kennt­nis­drang und po­li­ti­scher Ord­nungs­vor­stel­ lung). Kon­stel­la­tio­nen sind so­wohl po­li­ti­sche als auch wis­sen­schaft­li­che Inter­ven­ tio­nen, und eine zweite Schluss­fol­ge­rung lau­tet da­her, dass So­zial- und Kul­tur­ wis­sen­schaf­ten keine neu­tra­len Be­ob­ach­te­rin­nen, son­dern Pro­du­zen­tin­nen die­ser Wis­sens­pro­duk­tio­nen sind. Das lässt sich an der lan­gen und zä­hen ExpertInnendiskussion über den Be­griff race zei­gen, die die UNESCO unter dem Ein­druck der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ras­sen­po­li­tik 1949 in­iti­iert hat (vgl. UNESCO 1969;

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Brat­tain 2007). Ash­ley Mon­tagu hat als Be­richt­er­stat­ter des ers­ten State­ments von 1950 emp­foh­len, auf den Be­griff race völ­lig zu ver­zich­ten. Er unter­schei­det zwi­ schen ei­nem en­gen Ord­nungs­be­griff von race, der auf bio­lo­gi­sche Fak­ten re­kur­ riert, und ei­nem »myth of ›race‹«. Diese For­de­rung stieß in­ner­halb der scien­ti­fic com­mu­nity auf gro­ßen Wi­der­stand. Aber selbst die Ge­schichte der Klas­si­fi­zie­rung war nie frei von Kri­tik. We­der wa­ren sich An­thro­po­lo­gen und Ana­to­men dar­über ei­nig, wel­che Unter­schiede die Wahr­heit von race oder sex be­zeu­gen, noch wa­ren sie sich si­cher, ob die Unter­schiede bloß eph­emer oder tat­säch­lich ty­po­lo­gisch be­ deut­sam seien (vgl. Schie­bin­ger 1990). Klas­si­fik­ a­tio­nen, so stellt Hier­naux (vgl. 1969) für den UNESCO-Be­richt fest, seien ar­bi­trär und las­sen sich nur in Be­zug auf eine kon­krete Frage oder ein Pro­blem er­stel­len. Das habe dazu ge­führt, dass viele AnthropologInnen jede Form des Klas­si­fi­zie­rens der Be­völ­ke­rung auf­ge­ge­ ben ha­ben. Je­der Ver­such, race wis­sen­schaft­lich zu fun­die­ren und ei­nen ma­te­ria­len Kern zu iden­ti­fiz­ ie­ren, ist ge­schei­tert. Es sind viel­mehr ras­sis­ti­sche Prak­ti­ken und wis­ sen­schaft­lich sich ge­bende Ord­nungs­fan­ta­sien, die race pro­du­zie­ren. Kri­ti­sche So­zial­wis­sen­schaf­ten zei­gen, dass race  das Er­geb­nis se­lek­ti­ver Ver­knüp­fun­gen ist, die als Es­senz des ›Hu­ma­nen‹ und ›So­zia­len‹ ge­deu­tet wer­den. So­zial­wis­sen­ schaft­li­che Re­kon­fi­gu­ra­tio­nen knüp­fen dem­gegen­über an Ador­nos (1966/2003: 166) Er­kennt­nis an: »Tat­säch­lich ist der Be­griff in­so­weit der zu­rei­chende Grund der Sa­che, als die Er­for­schung zu­min­dest ei­nes so­zia­len Gegen­stands falsch wird, wo sie sich auf Ab­hän­gig­keit in­ner­halb sei­nes Be­reichs be­grenzt, die den Gegen­stand be­grün­de­ten, und des­sen De­ter­mi­na­tion durch die To­ta­li­tät igno­riert« (­Adorno 1966/2003: 166). To­ta­li­tät heißt diese Form der ana­ly­ti­schen Prak­tik, weil sie keine äu­ßere Be­gren­zung kennt. Sie be­zieht sich ers­tens auf die Nicht­be­grenz­ bar­keit von Ver­ket­tun­gen und zwei­tens auf den Um­stand, dass die Ele­men­te, die mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den, ihre Qua­li­tät durch die Ar­ti­ku­la­tion ver­än­dern. Die wis­sen­schaft­li­chen Prak­ti­ken der Re­ar­ti­ku­la­tion neh­men Be­zug auf ge­sell­schaft­ li­che Pro­blem­la­gen, die sie durch Re­ar­ti­ku­la­tio­nen unter­su­chen, pro­ble­ma­ti­sie­ren und ver­än­dern. Kon­stel­la­tio­nen sind Ar­ti­ku­la­tio­nen his­to­ri­scher Prak­ti­ken, zu denen auch Er­ war­tun­gen ge­hö­ren, und Ge­schichts­schei­bung ist selbst eine ar­ti­ku­la­to­ri­sche. Die Schwie­rig­keit mit dem deut­schen Wort ›Rasse‹ macht dar­auf auf­merk­sam. Die Ge­schichte des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus struk­tu­riert die Ge­schichte und Ge­schichts­ schrei­bung von race und ge­stal­tet den Zu­gang zu ei­ner Ge­schichte der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung und The Dar­ker Side of Wes­tern Mo­der­nity (Mig­nolo 2011), die das Erbe des eu­ro­päi­schen Ko­lo­nia­lis­mus in so­zial­wis­sen­schaft­li­che For­schung über­set­zen, kom­pli­ziert. Das Den­ken der ko­lo­nia­len Dif­fe­renz bil­det aber eine zen­ trale Grund­lage für das Ver­ständ­nis von race.

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Ko­lo­niale Dif­fe­renz Statt sich also auf die Su­che nach ei­nem Be­griff von race zu ma­chen, der von jedem Ras­sis­mus ge­rei­nigt ist, scheint mir der Weg, den Gud­run-Axeli Knapp in ihrer Be­ur­tei­lung des In­ter­sekt­io­na­li­täts­be­griffs ein­schlägt, ziel­füh­ren­der und frucht­ba­rer zu sein: »Liest man es als Spie­gel der Neuen Welt für das alte Eu­ro­pa, so birgt das Para­digma der In­ ter­sekt­io­na­li­tät ein be­mer­kens­wer­tes Po­ten­tial, über die eu­ro­päi­sche Mo­derne in ei­ner neuen ka­te­go­ria­len Kon­stel­la­tion nach­zu­den­ken. Als sys­te­ma­ti­sche Ana­ly­se­per­spek­tive be­trach­tet, for­dert die Triade von ra­ce, class, gen­der dazu auf, die eu­ro­päi­sche Mo­derne in ihrem his­to­ ri­schen Zu­sam­men­hang zur Ent­fal­tung ei­ner ka­pi­ta­lis­ti­schen Öko­no­mie, ein­schließ­lich spe­ zi­fisch bür­ger­lich-an­dro­zen­tri­scher For­men von Herr­schaft, ge­sell­schaft­li­cher Ra­tio­na­li­tät und Ra­tio­na­li­sie­rung, die sie vor­aus­setzt und ver­schärft, neu­er­lich zu in­spi­zie­ren« (Knapp 2005: 420).

Im Folgenden soll es darum ge­hen, da­nach zu fra­gen, wie sich ein sol­ches Po­ten­ tial in ein For­schungs­pro­gramm über­set­zen lässt. Dazu müsste man den Fort­schritt der eu­ro­päi­schen Mo­derne in ei­ner ko­lo­nia­len Dif­fe­renz su­chen, die das Ver­hält­nis zum ›An­de­ren‹ nach au­ßen und in­nen struk­tu­riert. Meine vor­läu­fige These lau­ tet, dass ge­sell­schafts­kri­ti­sche In­ter­sekt­io­na­li­täts­for­schung zu ei­ner Ge­schichte der Ko­lo­ni­alität führt: zu ei­ner Ge­schichte der Geo- und Kör­per­po­li­tik, die auf Tren­ nung, Be­son­de­rung und In­klu­sion ba­siert. Ich ent­lehne den Be­griff der ko­lo­nia­len Dif­fe­renz den Arbei­ten der Gruppe Mo­der­ni­tät/Ko­lo­niali­tät. Ihr de­ko­lo­nia­les Den­ ken be­ruht im Kern auf der The­se, dass die Ko­lo­niali­tät eine we­sent­li­che Kons­ti­ tu­tions­be­din­gung der ok­zi­den­ta­len Mo­derne ist und das struk­tu­relle Fort­wir­ken ko­lo­nia­lis­ti­scher Herr­schaft be­zeich­net (vgl. Kast­ner/Wai­bel 2012: 11). Von An­ íbal Qui­jano über­nimmt Wal­ter Mig­nolo (2011: 9) das Schema für die »ko­lo­niale Ma­trix der Macht«:

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Die ko­lo­niale Ma­trix der Macht bil­det den Rah­men für Ana­ly­sen, die mit den bio­ gra­phi­schen und geo-his­to­ri­schen Po­si­tio­nen der ForscherInnen ver­knüpft sind: »It is from the body, not the mind, that ques­ti­ons arise and answers are ex­plo­red« (Mig­nolo 2011: xxiv). So­wohl Pro­jekte der De­ko­lo­nia­li­tät als auch post­co­lo­nial studies zie­len dar­auf ab, »to un­veil co­lo­nial stra­te­gies pro­mo­ting the re­pro­duc­tion of sub­jects whose aims and goals are to con­trol and pos­sess« (ebd.): Kon­trolle über die Öko­no­mie; Kon­trolle und Le­gi­ti­ma­tion der Herr­schafts­aus­übung; Kon­ trolle des Wis­sens und der Be­deu­tung von Sub­jek­ti­vi­tät; Kon­trolle über die Ge­ schlech­ter­ord­nung, über Se­xua­li­tät und die Ent­wick­lung der Völ­ker. In jüngs­ter Zeit hat Mig­nolo der »co­lo­nial matrix of po­wer« die Kon­trolle über die Na­tur hin­zu­ge­fügt. Kon­trolle über die Geo- und Kör­per­po­li­tik rea­li­siert sich in Er­obe­ run­gen, der Unter­wer­fung und/oder Aus­rot­tung in­di­ge­ner Völ­ker, im Skla­ven­han­ del, aber auch in der Kon­trolle der Re­pro­duk­tion, der Ge­schlech­ter­ord­nung und der Er­zie­hung. Geo- und Kör­per­po­li­tik wird zu­erst durch die christ­li­che Theo­ lo­gie, dann durch die Phi­lo­so­phie der Auf­klä­rung und die neuen Wis­sen­schaf­ten le­gi­ti­miert. Die ko­lo­niale Struk­tur der Macht pro­du­ziert nach Qui­ja­no (2007: 168) eine spe­zi­fische so­ziale Di­skri­mi­nie­rung »which later were cod­ified as ›ra­ cial‹, ›eth­nic‹, ›an­thro­po­log­i­cal‹ or ›na­tional‹, ac­cord­ing to the times, agents, and pop­u­la­tions in­volved«. Die Klas­si­fi­ka­tion der Welt­be­völ­ke­rung war für Qui­jano der Schlüs­sel für die Or­ga­ni­sa­tion ka­pi­ta­lis­ti­scher Herr­schaft. »Sie wirkt dem­ nach auf all de­ren Ebe­nen, in al­len Be­rei­chen und ma­te­riel­len wie sub­jek­ti­ven Di­men­sio­nen der all­täg­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen so­zia­len Exis­tenz« (Kast­ner/ Wai­bel 2012: 11 f.). Nach Qui­jano wird die ko­lo­niale Struk­tur der Macht durch stän­dige Pro­zesse der so­zia­len Klas­si­fik­ a­tion, der De-Klas­si­fi­ka­tion und Re-Klas­ si­fi­ka­tion be­glei­tet. So­ziale Klas­si­fi­ka­tio­nen sind aber we­der ab­ge­schlos­sen noch sta­bil, son­dern sie wer­den im Mo­dus des Kon­flikts ge­macht und re­pro­du­ziert (vgl. ebd.: 12 f.). Ko­lo­niali­tät der Macht war von An­fang an mit der Pro­duk­tion von Wis­sen über den An­de­ren, über Zi­vi­li­sie­rung und Kul­tur ver­knüpft. Die­ses Wis­sen le­gi­ti­mierte die Über­le­gen­heit des Wes­tens und der eu­ro­päi­schen Kul­tur, Aus­beu­tung und Aus­rot­tung und die Recht­fer­ti­gung der Ver­knüp­fung von Herr­ schaft, Mo­derne und Auf­klä­rung: »Du­ring the same period as Eu­ro­pean co­lo­nial do­mi­na­tion was con­so­li­da­ting it­self, the cul­tu­ral complex known as Eu­ro­pean mo­der­ni­ty/ra­tio­na­lity was being cons­ti­tu­ted« (Qui­jano 2007: 171). Das Wis­sen über den An­de­ren wirkte nach au­ßen und nach in­nen. »Vor al­lem er­fasst der Ver­gleich [. . .] nicht nur den Moh­ren im Ver­gleich zum Eu­ro­pä­er, die Sit­ten der Wil­den im Ver­gleich zu den Sit­ten der Ur­zeit, die pri­mi­tive Welt im Ver­gleich zur mo­der­nen Welt, son­dern in spe­zi­fi­scher Wen­dung auch die Frau im Ver­gleich zum Mann« (Ho­neg­ger 1991: 108). Der Kör­per wird zum be­vor­zug­ten Gegen­ stand die­ser Wis­sen­schaft, er of­fen­bart die Wahr­heit über seine Her­kunft und über die Unter­schiede der ›Ras­sen‹ und Ge­schlech­ter. Diese For­schun­gen sind eng mit Vor­stel­lun­gen der Zi­vi­li­sie­rung, der Kul­ti­vie­rung und der Bil­dung des Men­

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schen ver­knüpft. Des­we­gen gilt ein be­son­de­res Au­gen­merk dem ›Pri­mi­ti­ven‹, dem ›Wil­den‹, dem ›Na­tur­men­schen‹: »Der Be­griff des ›Na­tur­men­schen‹ trans­por­tierte eine ge­rade auch für die weib­li­che Son­ der­an­thro­po­lo­gie zen­tral wer­dende Vor­stel­lung, dass näm­lich ei­nige Men­schen der Na­tur näherstünden als an­de­re, noch un­mit­tel­ba­rer ihren Ge­set­zen ge­horch­ten als etwa die durch Zi­vi­li­sie­rung aus dem Gleich­ge­wicht ge­wor­fe­nen Eu­ro­päer« (ebd.: 112).

Ho­neg­ger er­klärt die Her­aus­bil­dung der neuen An­thro­po­lo­gie mit dem Um­stand, dass sich im Über­gang zur Mo­derne gegen die Do­mi­nanz der Pra­xis und des Stan­ des eine em­pi­risch er­probte Theo­rie und (da­mit ein­her­ge­hend) eine ›na­tür­li­che‹ Funk­tions­tei­lung durch­setzt. Londa Schie­bin­ger (1990) unter­sucht die Fas­zi­na­tion für Dif­fe­renz im 18. Jahr­hun­dert und zeigt in ihrer Stu­die The ana­tomy of dif­fe­ rence: race and sex in eight­eenth-cen­tury science, dass Ana­to­men, die sich für ra­cial dif­fe­ren­ces in­ter­es­sier­ten, auch se­xual dif­fe­ren­ces unter­such­ten. »For Eu­ro­pean an­at­om­ists blacks were ex­otic. But, as we shall see, to men of the acad­emy Eu­ro­pean women were in many ways just as ex­otic. Soem­mer­ring, for ex­ample, some years aft­er his book com­par­ing the Ne­gro to the Eu­ro­pean turned his at­ten­tion to fe­male anat­omy, seek­ing to dis­cov­er how the anat­omy of the (Eu­ro­pean) wom­an dif­fered from that of the (Euro­pean) man. He was not alone in his fas­ci­na­tion with dif­fer­ence« (Schie­bing­er 1990: 388).

Auch Schie­bin­ger ge­langt zur Auf­fas­sung, dass die Ka­te­go­rien und Ka­te­go­ri­sie­run­ gen nicht ein­deu­tig, son­dern Schau­platz hef­ti­ger wis­sen­schaft­li­cher und po­li­ti­scher Kämpfe wa­ren. Die Ver­tre­ter der Um­welt­theo­rie wa­ren sich al­ler­dings mit ihren Geg­nern ei­nig »in­so­far as Eu­ro­pean phy­si­og­nomy was ta­ken as the prim­or­dial norm« (ebd.: 394). Wenn man die Im­pli­ka­tio­nen der Su­che nach se­xual and ra­cial dif­fe­rence im 18.  Jahr­hun­dert ver­ste­hen wol­le, dann müsse man die Mus­ter der da­ma­li­gen Wis­sens­pro­duk­tion be­grei­fen. Eu­ro­päi­sche männ­li­che weiße Wissenschaftler ver­all­ge­mei­ner­ten ihren ei­ge­nen Stand­punkt als nor­ma­ti­ven Ver­gleichs­ maß­stab. Auf der Grund­lage des eu­ro­päi­schen, wei­ßen Man­nes konn­ten an­dere ana­to­mi­sche Be­funde nur als Ab­wei­chung, als nicht voll­aus­ge­bil­dete For­men oder De­ge­ne­ra­tio­nen wahr­ge­nom­men wer­den. Gegen­über mo­ra­li­schen Aus­sa­gen über die Men­schen galt die Ana­to­mie aber als eine Wis­sen­schaft, die ihre Er­kennt­nisse auf Evi­denz al­lein grün­det (ebd.: 404).

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Schluss: Kri­ti­scher Kosmp­oli­tis­mus Der Kosmp­oli­tis­mus ist im­mer Teil der Ent­wick­lung von glo­bal designs ge­we­ sen, die dar­auf ab­ziel­ten, die Welt zu homo­ge­ni­sie­ren und zu kon­trol­lie­ren. Da­von unter­schei­det sich der kri­ti­sche Kos­mo­po­li­tis­mus; er be­greift Ko­lo­niali­tät als es­ sen­tiel­les Ele­ment der Mo­der­ne. Mig­no­lo (2000a, b) be­haup­tet, dass in der post­ na­tio­na­len Kon­stel­la­tion Fra­gen des Rechts, der Ge­rech­tig­keit und Gleich­heit über Lösun­gsansätze der Ink­lu­sion be­han­delt wer­den, wie dies be­reits un­ter Vi­to­ria und der Sa­la­manca Schule ge­sche­hen sei. »But in­clu­sion doesn’t seem to be the so­ lu­tion to cos­mo­po­li­ta­nism any long­er, in­so­far as it pre­sup­poses that the agency that es­tab­lishes the in­clu­sion is it­self be­yond in­clu­sion: ›he‹ be­ing al­ready with­in the frame from which it is pos­sible to think ›in­clu­sion‹« (Mig­no­lo 2000b: 736). Heute brin­gen sich mar­gi­na­li­sierte Grup­pen bei kos­mo­po­li­ti­schen Pro­jek­ten selbst ins Ge­spräch und trans­for­mie­ren diese in Re­form­pro­jek­te. »Border thin­king then be­co­mes a ›tool‹ of the project of cri­ti­cal cos­mo­po­li­ta­nism« (ebd.: 737). Ein kri­ ti­scher und dia­lo­gi­scher Kos­mo­po­li­tis­mus führe zu dem, was Mig­nolo di­ver­sa­lity nennt, die Uni­ver­sa­li­sie­rung von Di­versi­tät. »Di­vers­a­li­ty as the ho­ri­zon of crit­i­cal and di­a­logic cos­mo­po­li­ta­nism pre­sup­poses bor­der think­ing or bor­der epis­te­mol­ogy grounded on the cri­tique of all pos­sible fun­da­men­tal­ism (West­ern and non-West­ern, na­tional and re­li­gi­ous, neo­lib­eral and neo­so­cia­list) and on the faith in ac­cu­mu­la­tion at any cost that sus­tains cap­i­tal­ist or­ga­ni­za­tions of the econ­omy« (ebd.: 743).

Ein solches Pro­jekt wäre gleich­zei­tig ethisch, po­li­tisch und phi­lo­so­phisch. Bei En­ rique Dus­sel (2013) die­nen west­li­che Kon­zepte wie Men­schen­rech­te, De­mo­kra­tie, Kos­mo­po­li­tis­mus als con­nec­tors: Sie be­wah­ren die zwie­späl­tige Ge­schichte ei­nes Den­kens und ei­ner Po­li­tik. Als Bin­de­glied bzw. An­schluss­stelle für an­dere Tra­di­ tio­nen und Er­fah­run­gen durch­lau­fen sie viel­fäl­tige Über­set­zun­gen, ohne neu­er­lich to­ta­li­tär zu wer­den.

Li­te­ra­tur Ador­no, Theo­dor W. (1931/1973): Ak­tua­li­tät der Phi­lo­so­phie. Ge­sam­melte Schrif­ ten, Band  1: Phi­lo­so­phi­sche Früh­schrif­ten. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, S. 325–344. Ador­no, Theo­dor W. (1966/2003): Ne­ga­tive Dia­lek­tik. Ge­sam­melte Schrif­ten, Band 6. Frank­furt am Main: Suhr­kamp, S. 8–212. Be­cker-Schmidt, Re­gina (2007): ›Class‹, ›gen­der‹, ›ethni­city‹, ›race‹: Lo­gi­ken der Dif­fe­renz­set­zung, Ver­schrän­kun­gen von Un­gleich­heits­la­gen und ge­sell­schaft­

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»Border Thin­king« – In­ter­sekt­io­na­li­tät als kos­mo­po­li­ti­sche Inter­ven­tion?  |  49

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Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se

Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se An­er­ken­nung und Re­so­nanz in me­dia­ti­sier­ten Öf­fent­lich­kei­ten Tanja Tho­mas

»Rise like a Phoenix«? – Irr ­ i­ta­tio­nen in me­dia­ti­sier­ten Öf­fent­lich­kei­ten Im Mai des Jah­res 2014 wur­den die Auf­merk­sam­keit von 11 000 Men­schen in ei­ ner Halle in Ko­pen­ha­gen und zu­gleich das In­ter­esse von 180 Mil­lio­nen Zu­schaue­ rin­nen und Zu­schau­ern ge­weckt. Sie ver­folg­ten an je­nem Abend je­nes Me­dien­er­ eig­nis, das von kon­ser­va­ti­ven Po­li­ti­kern und Kir­chen­krei­sen als »Pro­pa­ganda und geist­li­che Ver­derb­nis«1 ge­fürch­tet, am Fol­ge­tag aus Russ­land gar als das »Ende Eu­ro­pas«2 be­zeich­net wur­de. Im Mit­tel­punkt stand ›Con­chita Wurst‹, die im Rah­ men des Eu­ro­pean Song Con­test für Ös­ter­reich an­trat und schließ­lich den Wett­be­ werb mit dem Lied »Rise like a Phoenix« ge­win­nen konn­te. Rein äu­ßer­lich, so ver­suchte die Wo­chen­zei­tung Die Zeit die Fi­gur Con­chita Wurst mit­tels allzu be­kann­ter Ste­reo­type aus der Kin­der­spiel­zeug­kiste zu be­grei­ fen, habe man eine »Mi­schung aus Bar­bie und Pi­rat«3 vor sich und diese Fi­gur mit Bart er­regte und er­regt of­fen­bar die Ge­mü­ter. Die Künst­le­rin selbst rich­tete sich schon vor ihrem Auf­tritt an den rus­si­schen Prä­si­den­ten Wla­di­mir Pu­tin, der Ho­mo­ pho­bie mit sei­ner Ge­setz­ge­bung vor­an­treibt: »Ich weiß nicht, ob er zu­guckt. Aber falls ja, sage ich ganz klar: Wir sind un­auf­halt­bar.«4 Da­mit be­grün­dete Con­chita 1

http://www.ta­ges­spiegel.de/welts­ piegel/eu­ro­vi­si­on-song-con­test-russ­lands-vi­ze-re­gie rungs­chef-at­ta­ckiert-con­chi­ta-wurst/9874830.html (27.12.2014) 2 http://www.eu­ro­vi­si­on.de/news/Rus­si­sche-Po­li­ti­ker-gegen-ESC-Sie­ge­rin-Con­chi­taWurst,russ­land560.html (27.12.2014) 3 Küm­mel, Pe­ter (2014): Eu­ro­pas bär­tige Kö­ni­gin. Wie ver­tei­digt der Wes­ten seine Wer­te? In­dem er die un­ver­gleich­li­che Kunst­fi­gur Con­chita Wurst den Eu­ro­vi­sion Song Con­test ge­win­nen lässt. Zeit on­line, 15.05.2014 (23.12.2014) 4 vgl. u.  a. http://www.fo­cus.de/kul­tur/mu­sik/eu­ro­vi­si­on-song-con­test/esc-sie­ge­rin-hiergibt-wurst-ihren-senf-ab_id_3834961.html (23.12.2014)

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Wurst den neuen So­li­da­ri­täts-Hash­tag #un­stopp­able und lud durch diese Er­wei­te­ rung der Kom­mu­ni­ka­tions­for­men Ein­zelne dazu ein, in­di­vi­du­elle Er­leb­nisse und die ei­gene Stimme in ei­ner ad-hoc-Öffentlichkeit zu er­he­ben. Wie und auf wel­che Wei­sen Men­schen ihre Stimme er­he­ben, spre­chen und ge­hört wer­den kön­nen, wie und auf wel­che Wei­sen der Ge­brauch von Me­dien für die Her­stel­lung von Öf­fent­lich­kei­ten und da­mit auch für den Ent­wurf und die Rea­li­sie­run­gen de­mo­kra­tisch ver­fass­ter Ge­sell­schaf­ten eine Rolle spie­len, spie­len könn­ten und soll­ten – dies sind Fra­gen, die Eli­sa­beth Klaus an die Kom­mu­ni­ka­ tions­wis­sen­schaft adres­siert und ent­lang de­rer sie ihre An­sätze u. a. unter Be­zug­ nahme auf An­sätze der fe­mi­nis­ti­schen Theo­rie, der Gen­der und Cul­tu­ral (Me­dia) Stu­dies wei­ter­ent­wi­ckelt hat. Aus die­sen For­schungs­an­sät­zen her­aus ar­gu­men­tiert auch der vor­lie­gende Text; er schlägt ein­gangs an­hand des Bei­spiels vor, ein po­ pu­lär­kul­tu­rel­les Er­eig­nis zum Gegen­stand ei­ner kri­ti­schen Me­dien­kul­tur­ana­lyse zu ma­chen, die sich als ins­be­son­dere fe­mi­nis­tisch in­spi­rierte Ge­sell­schafts­ana­lyse ver­steht. Da­mit plä­diert der Text auch im Ein­klang mit dem in fe­mi­nis­ti­schen Öf­ fent­lich­keits­theo­rien (vgl. Klaus/Drüeke 2012) for­mu­lier­ten An­spruch, Öf­fent­lich­ keit als Ort der Aus­ein­an­der­set­zung zu fas­sen und hin­sicht­lich der Fest­le­gung sei­ ner Gegen­stand­be­rei­che Gegen­über­stel­lun­gen und Aus­schlie­ßun­gen von Pri­vat­heit und Öf­fent­lich­keit, aber auch von Emo­tio­na­li­tät vs. ei­ner häu­fig macht­un­kri­tisch ent­wor­fe­nen Ra­tio­na­li­tät zur Dis­kus­sion zu stel­len und ei­nen wei­ten Po­li­tik­be­griff zu­grunde zu le­gen, um den seit ei­ni­gen Jah­ren auch mit der These von ei­nem er­ neu­ten ›Struk­tur­wan­del der Öf­fent­lich­keit‹ (ak­tu­ell vgl. Ha­se­brink/Hö­lig 2014) ver­se­he­nen Ver­än­de­run­gen an­ge­sichts von Di­gi­ta­li­sie­rung und Me­dien­kon­ver­ genz, Öko­no­mi­sie­rung und Glo­ba­li­sie­rung Rech­nung zu tra­gen. Ein Ver­ständ­nis von kri­ti­scher Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­lyse wird in die­sem Bei­trag we­sent­lich über ein An­knüp­fen an An­sätze fe­mi­nis­ti­scher Theo­rien for­mu­liert (2). Im An­schluss wird im Ein­klang mit Über­le­gun­gen von Ver­tre­ter*in­nen der Cul­tu­ral Stu­dies und unter Be­zug auf Arbei­ten von Mi­chel Fou­cault eine Per­spek­tive auf Po­pu­lär­kul­tur als Ver­ge­sell­schaf­tungs­mo­dus vor­ ge­schla­gen, die auch ihre Öf­fent­lich­kei­ten kons­ti­tu­ie­rende Her­vor­brin­gung the­ ma­ti­siert (3). An Po­pu­lär­kul­tur an­schlie­ßende öf­fent­li­che Dis­kur­se, in denen Wert- und Norm­orien­tie­run­gen aus­ge­han­delt wer­den, wer­den als wich­ti­ger Ana­ ly­se­gegen­stand ei­ner Me­dien­kul­tur­ana­lyse vor­ge­stellt: Kon­kre­ti­sie­rend wird der ge­sell­schafts­theo­re­tisch und auch me­dien- und kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­lich be­reits ein­ge­führte Be­griff der An­er­ken­nung von Men­schen und Le­bens­wei­sen auf­ge­grif­fen und zu­dem der Vor­schlag unter­brei­tet, die Po­ten­tiale des Be­grif­fes der Re­so­nanz für eine kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse aus­zu­leuch­ten (4). So­mit wer­ den Auf­ga­ben für eine Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft for­mu­liert, die ih­ren Bei­trag in ei­ner eman­zi­pa­to­ri­schen wie de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft leis­ten will (5).

Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se  |  53

An­sätze ei­ner kri­ti­schen Me­dien­kul­tur­ana­lyse Im Ein­klang mit der Mehr­heit der Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter ei­ner kul­tur­wis­sen­ schaft­li­chen Neu­orien­tie­rung ha­ben sich neuere Arbei­ten viel­fach auf die Ent­wick­lung ei­nes trag­fä­hi­gen Be­griffs von ›Me­dien­kul­tur(en)‹ kon­zen­triert, der nicht von ei­ner Gegen­über­stel­lung von Me­dien auf der ei­nen und Kul­tur und Ge­sell­schaft auf der an­ de­ren Sei­te, son­dern von ei­nem in­te­gra­len Ver­ständ­nis von Me­dien und Me­dien­han­deln als Ele­menten im Kul­tu­rel­len aus­geht (vgl. Tho­mas/Krotz 2008). Damit wird auch die Produktivität der Kultur und zugleich die Prozess- und Konflikthaftigkeit ihrer Aushandlung berücksichtigt. Zu­sam­men­ge­fasst wird eine Per­spek­tive ein­ge­nom­men, die nicht nur nach Be­deu­tungs- und Sinn­struk­tu­ren, son­dern auch nach in Struk­tu­ren und Macht­ver­hält­nis­sen ver­an­ker­ten Prak­ti­ken fragt und (Me­dien-)Kul­tur- und Ge­ sell­schafts­ana­lyse mit­ein­an­der ver­bin­det: So wie ›das So­ziale‹ los­ge­löst von sei­ner (me­dien-)kul­tu­rel­len An­eig­nung nicht vor­stell­bar ist, so er­gibt auch eine Theo­re­ti­ sie­rung ›des (Me­dien-)Kul­tu­rel­len‹ nur im Rah­men des So­zia­len Sinn. Da­mit stellt sich je­doch er­neut die (al­te) Frage nach dem ›Wie‹ der Ver­mitt­lung des Ma­te­riel­len mit dem Sym­bo­li­schen, das nicht als Ab­lei­tungs­ver­hält­nis oder Gegen­über­stel­lung ge­dacht wer­den kann, aber auch nicht im Dis­kur­si­ven auf­geht. Zur Ent­wick­lung ei­ner kri­ti­schen, d. h. ge­sell­schafts­theo­re­tisch fun­dier­ten, re­ fle­xiv an­ge­leg­ten Me­dien­kul­tur­ana­lyse ha­ben sich me­dien- und kom­mu­ni­ka­tions­ wis­sen­schaft­li­che For­scher*in­nen in der Ver­gan­gen­heit mit ver­schie­de­nen kri­ti­ schen Theo­rien ver­bün­det – mit mar­xis­ti­schen und ma­te­ria­lis­ti­schen Theo­rien, der Kritischen Theorie der Frank­fur­ter Schu­le, fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie, den Cul­tu­ral Stu­dies, dem struk­tu­ra­lis­ti­schen Kon­struk­ti­vis­mus, post­struk­tu­ra­lis­ti­schen und de­ kon­struk­ti­vis­ti­schen An­sät­zen, post­ko­lo­nia­len und quee­ren Theo­rien. Ver­bun­den sind sol­che An­sätze bei al­len Unter­schie­den durch eine Ab­leh­nung von Wer­te­frei­ heit als Ma­xime der So­zial­wis­sen­schaft, eine Ab­leh­nung li­nea­rer Wir­kungs­vor­stel­ lun­gen, so­wie eine Be­vor­zu­gung nicht stan­dar­di­sier­ter, qua­li­ta­ti­ver Ver­fah­ren5 und ein grund­le­gend kri­ti­sches Ge­sell­schafts­ver­ständ­nis. Um die Kon­tu­ren des mei­ner ei­ge­nen Po­si­tion zu­grunde lie­gen­den kri­ti­schen ge­sell­schafts­theoretischen Ver­ständ­nisses zu be­stim­men, nehme ich im Fol­gen­ den fe­mi­nis­ti­sche Über­le­gun­gen auf, die sich eben­falls durch ver­schie­denste Be­ zug­nahmen auf Ge­sell­schafts- und Kri­tik­ver­ständ­nisse aus­zeich­nen (vgl. Tho­mas 2013). Sie sol­len auch nicht in Ein­klang ge­bracht, son­dern in pro­duk­ti­ver Kon­tro­ verse be­trach­tet den Er­kennt­nis­ge­winn be­för­dern. Die­ser Idee ver­pflich­tet knüpfe ich zu­nächst an Cor­ne­lia Klinger und Gud­run-Axeli Knapp (2007: 29 f.) an, die im Sinne ei­ner ge­sell­schafts­theo­re­ti­schen Rah­mung ihrer fe­mi­nis­ti­schen Ge­schlech­ ter­for­schung nicht ohne Re­vi­sio­nen an die auch in der Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­ 5 Ähn­li­che Merk­male er­kennt Jä­ckel (1999) als ver­bin­dende Ele­mente ei­ner kri­ti­schen Kom­mu­ni­ka­tions­for­schung.

54  |  Tanja Tho­mas

tions­wis­sen­schaft teil­weise ein­fluss­rei­che Kritische Theorie der Frank­fur­ter Schule an­schlie­ßen, ihr aber fol­gen, in­so­fern diese auf Eman­zi­pa­tion aus un­mensch­li­chen und un­wür­di­gen Be­din­gun­gen zielt, sie we­der den Men­schen noch eine Ge­schichte im Sin­gu­lar des Uni­ver­sa­lis­mus denkt und eine Kri­tik der he­ge­mo­nia­len Stel­lung der Öko­no­mie be­in­hal­tet. Für Klinger und Knapp ist zu­dem wich­tig, dass der Ho­ ri­zont der ei­ge­nen For­schung ein ex­pli­zit uto­pi­sches Mo­ment ent­hält, das für die Zu­kunft nicht nur Wachs­tum und In­no­va­tion von Pro­duk­ten er­war­tet, son­dern auf die Er­fül­lung des Ver­spre­chens mo­der­ner Ge­sell­schaf­ten zielt, die Ideen von Frei­ heit, Gleich­heit und So­li­da­ri­tät zu den Prin­zi­pien ihrer Ver­fas­sung ge­macht hat. Diese Grund­po­si­tion kann pro­duk­tiv in Be­zie­hung ge­setzt wer­den mit ei­ner post­struk­tu­ra­lis­ti­schen bzw. de­kon­struk­ti­vis­ti­schen Per­spek­ti­ve, die auch in me­ dien- und kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­cher For­schung auf­ge­grif­fen wird (für ei­nen Über­blick vgl. Tho­mas 2013, em­pi­risch vgl. Tho­mas et al. 2011). Sol­che An­sätze le­gen hin­sicht­lich ihres Ver­ständ­nis­ses von kri­ti­scher Ge­sell­schafts­ana­lyse deut­lich ein an­de­res Ge­wicht. Trotz al­ler He­te­ro­ge­ni­tät las­sen sich Grund­cha­rak­ te­ris­tika her­aus­arbei­ten: Ein ge­mein­sa­mes Ele­ment be­steht dar­in, Kri­tik nicht mit Urtei­len, son­dern mit der ste­ten In­fra­ge­stel­lung des Han­delns auf Grund­lage von Ka­te­go­rien in Ver­bin­dung zu brin­gen. Ein sol­ches Ver­ständ­nis von Kri­tik zielt nicht dar­auf zu be­wer­ten, wel­che Be­din­gun­gen, Prak­ti­ken, Wis­sens­for­men, Dis­kurse gut oder schlecht sind, son­dern dar­auf, das spe­zi­fis­ che Sys­tem der Be­wer­tung of­fen zu le­gen (vgl. But­ler 2009: 225) und zu zei­gen, wie Wis­sen und Macht mit­ein­an­der ver­wo­ben sind, so dass Ge­wiss­hei­ten be­ste­hende Ord­nun­gen af­fir­mie­ren und al­ter­ na­tive ver­wer­fen. Kri­tik als Pra­xis hin­ter­fragt so­mit re­gel­haft un­hin­ter­fragte Denk­ wei­sen, sie wird be­schreib­bar als Pro­jekt der Ana­lyse des Zu­sam­men­hangs von Wis­sen, Macht und Seins­wei­sen (vgl. Hark 2009: 29) und zu­gleich als Pra­xis, die Re­gime der Ver­ständ­lich­keit dar­auf­hin be­fragt, wes­sen und wel­ches – mit Blick auf das ein­gangs ein­ge­führte Bei­spiel: ge­schlecht­li­che und se­xuelle – Sein und Spre­ chen er­mög­licht bzw. ver­un­mög­licht wird. Als das zen­trale Ele­ment ei­ner Ge­sell­ schafts­kri­tik aus ei­ner sol­chen Per­spek­tive kann man da­mit den Ab­bau von so­zia­len Hier­ar­chien und Normalitätsregimen be­zeich­nen. Sol­che For­de­run­gen be­in­hal­ten dann keine po­si­ti­ven Set­zun­gen oder abs­trakt ver­ein­heit­lich­ten Ziele wie ega­li­täre Par­ti­zi­pa­tion, in­di­vi­du­elle Frei­heit oder Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit (vgl. En­gel 2005: 276). Den­noch las­sen sich klare Urteils­kri­te­rien be­reit­stel­len, um kon­text­spe­zi­fisch zu fra­gen, ob kon­krete Hier­ar­chien und Nor­ma­li­täts­zwänge ab­ge­baut oder ver­stärkt wer­den. Die Fra­ge, wel­che Hier­ar­chien und Nor­mali­tä­ten als pro­ble­ma­tisch an­ge­ se­hen wer­den, kann da­bei be­wusst of­fen ge­hal­ten wer­den und po­li­tisch um­strit­ ten sein – Antke En­gel (ebd.) strebt mit den Kri­te­rien der ›De­nor­ma­li­sie­rung‹ und ›Ent­hier­ar­chi­sie­rung‹ ei­nen re­la­ti­ven nor­ma­ti­ven Ho­ri­zont an. Mit dem Ziel, das Wis­sen um die Ver­wo­ben­heit von kul­tu­rel­len und so­zio-öko­no­mi­schen Struk­tu­ren in po­li­ti­sches Han­deln zu über­set­zen, sol­len auf diese Weise zu­gleich kul­tu­rel­le, so­ ziale wie po­li­ti­sche Unter­drü­ckungs­me­cha­nis­men an­ge­grif­fen wer­den.

Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se  |  55

Dass (me­dien-)kul­tu­rel­le, so­ziale und po­li­ti­sche Unter­drü­ckungs­ver­hält­nisse mit­ein­an­der in Be­zie­hung ste­hen, be­tont auch Eli­sa­beth Klaus: Unter­hal­tung set­ze, so Klaus (1998: 341 Hervorheb. i. O.) »gegen ent­frem­dete Arbeit und die Er­schöp­ fung in der Frei­zeit [. . .] Ener­gie und Ak­tion, gegen die Knapp­heit von Res­sour­ cen den Über­fluss, gegen Mono­to­nie und Be­dürf­tig­keit die In­ten­si­tät der Ge­füh­le, gegen Fremd­be­stimmt­heit die Trans­pa­renz der Cha­rak­tere und der Hand­lun­gen, schließ­lich gegen Iso­lie­rung und Ver­ein­sa­mung die Vor­stel­lung von ei­ner Ge­mein­ schaft«. Ex­em­pla­risch mit Blick auf Genres des Rea­li­ty-TV ar­gu­men­tiert Klaus, mit sol­chen po­pu­lär­kul­tu­rel­len Deu­tungs­an­ge­bo­ten werde »über­wie­gend Dis­kurs­ ma­te­rial [ge­lie­fert], das ei­nem neo­li­be­ra­len Po­li­tik- und Arbeits­ver­ständ­nis Vor­ schub leis­tet und wert­kon­ser­va­tive Lö­sun­gen für ge­sell­schaft­li­che Pro­bleme an­ bie­tet« (Klaus 2006: 102); da­mit lie­fert Po­pu­lär­kul­tur Ver­arbei­tungs­stra­te­gien für – am­bi­va­lente und zu­gleich po­li­tisch re­le­vante – Er­fah­run­gen im All­tag.

Po­pu­lär­kul­tur als Ver­ge­sell­schaf­tungs­mo­dus Ausgehend von der von Eli­sa­beth Klaus vor­ge­leg­ten Per­spek­tive geht es mir um die Fra­ge, wie po­pu­lär­kul­tu­relle Angebote und de­ren kom­mu­ni­ka­tive und dis­kur­ sive Ver­hand­lung Sub­jek­tivi­tä­ten, so­ziale Be­zie­hun­gen und ge­sell­schaft­li­che Ver­ hält­nisse ge­stal­ten. Dass me­diale Angebote ins­be­son­dere dann eine At­trak­ti­vi­tät für Zu­schauer*in­nen ent­wi­ckeln kön­nen und an ei­ner Re­pro­duk­tion und Le­gi­ti­ mie­rung ge­sell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse maß­geb­lich be­tei­ligt sind, wenn ihre Deutungsangebote an all­täg­li­che Prak­ti­ken und Er­fah­run­gen von Men­schen an­knüp­fen und ih­nen ei­nen Sinn ge­ben, ist in­zwi­schen viel­fäl­tig ge­zeigt, theo­re­tisch be­grün­ det und em­pi­risch be­legt wor­den (vgl. Rö­ser/Tho­mas/Peil 2009). Po­pu­lär­kul­tur als Ver­ge­sell­schaf­tungs­mo­dus zu ver­ste­hen meint, diese als Ele­ment der Kons­ti­ tu­tion des So­zia­len und Po­li­ti­schen zu dis­ku­tie­ren und da­mit ihre Öf­fent­lich­kei­ten kons­ti­tu­ie­rende Her­vor­brin­gung zu the­ma­ti­sie­ren. Dem kann eine Theo­re­ti­sie­rung von ›Ge­sell­schaft‹ als ›dis­kur­siv ge­stal­te­tes Ge­mein­sa­mes‹ im Sinne Fou­caults zu­ grunde ge­legt wer­den, des­sen (je spe­zi­fis­ che) Struk­tu­ren, Nor­men, Vor­stel­lun­gen, In­sti­tu­tio­nen, Hand­lungs­an­lei­tun­gen und ähnliches über und mit­tels ei­ner ge­mein­ sa­men – dis­kur­siv ver­han­del­ten und eta­blier­ten – Ord­nung zu­sam­men ge­hal­ten, zu­ein­an­der in Be­zie­hung(en) ge­setzt und so erst mit Sinn ver­se­hen wer­den (vgl. Egg­mann 2011: 143). We­sent­lich ist, dass sich aus ei­ner sol­chen Sicht der Blick auf Po­pu­lär­kul­tur im Mo­dus der Ver­ge­sell­schaf­tung öff­nen lässt für die ver­än­der­ li­chen Kon­struk­tio­nen des Po­pu­lä­ren, für die kon­kre­ten Orte und Me­dien ihrer Öf­ fent­lich­kei­ten kons­ti­tu­ie­ren­den Her­vor­brin­gung und für »die Ef­fekte der von den (Po­pu­la­ri­täts-)Kon­struk­tio­nen an­ge­lei­te­ten und ge­ne­rier­ten dis­kur­si­ven Ver­ge­sell­ schaf­tung« (ebd.: 146). (Zu­nächst) im Po­pu­lär­kul­tu­rel­len auf die Bühne tre­tende Fi­gu­ren wie Con­chita Wurst kön­nen so­mit zum Aus­gangs­punkt ei­ner Me­dien­kul­

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tur­ana­lyse wer­den, die sich von der durch Mi­chel Fou­caults Arbei­ten in­spi­rier­ten Ein­sicht lei­ten und so­mit er­ken­nen las­sen, wie sol­che Dis­kurse Wis­sens­fel­der ar­ ti­ku­lie­ren und wie von dem dis­kur­siv her­ge­stell­ten Wis­sen Struk­tu­rie­rungs­ef­fekte der so­zia­len Wirk­lich­keit aus­ge­hen. Wie sol­che Dis­kurse be­tei­ligt sind an der Art und Wei­se, wie Wis­sen zir­ku­liert, wie sie als Teile ei­nes Wis­sens­re­gimes im Sinne Fou­caults funk­tio­nie­ren und an der (Re-)Pro­duk­tion he­ge­mo­nia­ler Vor­stel­lun­gen über ge­sell­schaft­li­che Ord­nung, Pro­zesse der An­er­ken­nung und An­er­kenn­bar­keit (im Sinne von Vor­stel­lun­gen, was als an­er­kann­tes Sub­jekt gilt) mit­wir­ken, kann eine kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse so­mit zei­gen. Zu­gleich sol­len je­doch Tex­te, so ha­ben Ver­tre­ter*in­nen der Cul­tu­ral Stu­dies im­mer wie­der be­tont, nicht als iso­lier­bare En­ti­tä­ten ver­stan­den wer­den. Sie sind stets Teil der so­zia­len Zir­ku­la­tion von Be­deu­tun­gen, die den pro­zess­haf­ten Cha­rak­ ter der Kul­tur aus­ma­chen, so­wie Teil der öko­no­mi­schen Zir­ku­la­tion in ei­ner Ge­ sell­schaft. Sie kön­nen ebenso ›ge­plün­dert‹ und als Wa­ren in kul­tu­relle Res­sour­cen ver­wan­delt wie in Über­ein­stim­mung mit he­ge­mo­nia­len Dis­kur­sen re­zi­piert und an­ge­eig­net wer­den: Stuart Halls Ver­ständ­nis von Po­pu­lär­kul­tur als dop­pelte Be­ we­gung von In­te­gra­tion und Op­po­si­tion, als eine Arena des Kamp­fes um Be­deu­ tun­gen wurde viel­fach – etwa von Law­rence Grossberg (2000: 51) – auf­ge­grif­fen, der Po­pu­lär­kul­tur als eine po­li­ti­sche ›Sphäre‹ be­greift, in der sich Men­schen mit der Wirk­lich­keit und ihrem Platz in ihr auseinandersetzen, sich in­ner­halb be­ste­ hen­der Macht­ver­hält­nisse kon­ti­nu­ier­lich an die­sen ab­arbei­ten, um ihrem Le­ben Sinn zu ge­ben und es zu ver­bes­sern. Dies be­deu­tet, dass es mit der Ana­lyse von Po­pu­lär­kul­tur nicht um die Ana­lyse von ein­zelnen Aus­sa­gen geht, son­dern »um die Ein­sicht in die über­grei­fen­den Struk­tu­ren und Pro­zes­se, die in dem um­kämpf­ten Macht­feld für die Do­mi­nanz ei­ner oder meh­re­rer Be­deu­tun­gen sor­gen« (vgl. Rade­ ma­cher 2000: 336). Um eine sol­che Ein­sicht ent­lang der dis­kur­si­ven Aus­hand­lun­ gen von Con­chita Wurst soll es im Fol­gen­den ge­hen.

An­er­ken­nung und Re­so­nanz in Me­dien­kul­tu­ren Con­chita Wurst wurde in den Ta­gen nach ihrem Sieg in den Main­stream­me­dien mal als »homo­se­xu­ell«, mal als »trans­se­xu­ell«, mal als »Drag­Queen« oder gar »Freak«6 iden­ti­fiz­ iert, sie wurde an­ge­fein­det und bei­spiels­weise auch im Deutsch­land­funk als »ir­ri­tie­ren­des Halb­we­sen«7 her­ab­ge­wür­digt, ob­schon man den­ken könn­te, der 6 Zur his­to­risch wan­del­ba­ren Fi­gur des »Freaks« als Aus­druck sym­bo­li­scher Ord­nun­gen ei­ner Kul­tur, de­ren Her­vor­brin­gung an die Pro­duk­tion von Wis­sen in ver­schie­de­nen Fel­ dern (Me­di­zin, Psy­cho­lo­gie, Me­dien) ge­bun­den ist, vgl. Stamm­ber­ger (2011). 7 http://www.deutsch­land­funk.de/eu­ro­v­test-war ision-song-con ­ um-aus­ge­rech­net-con­chi ta-wurst.691.de.html?dram:ar­tic­le_id = 285060 (22.12.2014)

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Be­griff des ›Halb­we­sens‹ sei nach der Dresd­ner Rede der Büch­ner­preis­trä­gerin Si­bylle Le­wit­scha­roff8 nun erst ein­mal des­avou­iert. Als Ursa­che für den »Auf­ merk­sam­keits­boom für das Thema Trans­se­xua­li­tät« dia­gnos­ti­zierte der Autor der ›Halb­we­sen‹-These »eine große ge­sell­schaft­li­che Ver­un­si­che­rung in Be­zug auf die Bio­lo­gie« und inter­pre­tierte den Sieg von Con­chita Wurst als Zei­chen da­für, »wie ver­kracht der mo­derne Mensch mit sei­nen Seins­grund­la­gen ist« (ebd.).9 Con­chita Wurst wurde aber auch ge­fei­ert: »Eine Ohr­feige für alle Ho­mo­pho­ ben in Eu­ropa«,10 so wollte die schwe­di­sche Zei­tung Af­ton­bla­det den Auf­tritt ge­ deu­tet wis­sen. Die Grü­nen-Po­li­ti­ke­rin Clau­dia Roth twit­terte »Con­chita ist ohne Wenn und Aber meine Kö­ni­gin der Her­zen« und diese Nach­richt wie­derum fand breit Ein­gang in den Me­dien.11 Die Zeit be­rich­tete von der Be­geis­te­rung des Her­ aus­ge­bers der Bou­le­vard-Zei­tung Ös­ter­reich, Wolf­gang Fell­ner, und re­zi­tier­ te: »12 Punkte von Is­rael (– ein Traum, 12 Punkte von Ita­lien und Grie­chen­land, 12 Punkte vom Mut­ter­land der Pop­mu­sik, Eng­land, von Ir­land und Spa­nien –) man könnte heu­len vor Freude«.12 »Al­les nur trash« kri­ti­sierte man an an­de­ren Or­ten und stellte fest, dass aus dem »na­tio­na­lis­tisch ein­ge­färb­ten Spek­ta­kel plötz­lich eine Art inter­na­tio­na­ler To­le­ranz­wett­be­werb ge­wor­den«13 sei. An die­sem Bei­spiel wird ex­em­pla­risch deut­lich: Die Are­nen, in denen die Aus­hand­lung ge­sell­schaft­li­cher Be­deu­tun­gen aus­ge­tra­gen wer­den, sind in ho­hem Maße me­dia­ti­siert und kons­ti­tu­ie­ren unter­schied­liche, teil­weise ver­netzte (Teil-) Öf­fent­lich­kei­ten. Zum Gegen­stand der öf­fent­lich aus­ge­tra­ge­nen Aus­hand­lun­gen wird ein po­pu­lär­kul­tu­rel­les Deutungsangebot, an ihm wird zu­nächst um die An­ er­kenn­bar­keit von Sub­jek­ten ge­run­gen. Con­chita Wurst er­hebt ihre Stimme und pro­du­ziert me­diale Sicht­bar­keit für eine bis­lang weit­ge­hend mar­gi­na­li­sierte Sub­ jekt­po­si­tion. Ver­ste­hen wir eine kri­ti­sche Ana­lyse wie oben ein­ge­führt als Pra­xis, 8 Nachzulesen ist diese Rede unter http://www.deutsch­land­funk.de/dres­dner-re­de-von-dermach­bar­keit-die wis­sen­schaft­li­che.1818.de.html?dram:ar­tic­le_id=279389 (27.12.2014) 9 Wie der Autor ei­nen schlich­ten Kul­tur­pes­si­mis­mus mit Pa­tho­lo­gi­sie­run­gen und Be­dro­ hungs­phan­ta­sien (aus­ge­löst durch von ihm sprach­lich als männ­lich ver­fass­ten ›Gen­ der­po­li­ti­kern‹) kom­bi­niert, zeigt auch die­ses Zi­tat: »Die Orien­tie­rungs­pro­bleme der Be­trof­fe­nen wer­den da­bei nicht nur vom voyeu­ris­ti­schen In­ter­esse der RTL-Ka­me­ras ver­grö­ßert und ver­schärft, son­dern auch von sich wie durch Ket­ten­reak­tion ver­meh­ren­ den Gen­der­po­li­ti­kern [sic], die jeden Scham­be­reich nut­zen, um Druck auf­zu­bauen und Macht zu ge­win­nen« (ebd.). 10 Zit. nach http://www.zeit.de/2014/21/conchita-wurst-esc (28.12.2014) 11 So bei­spiels­weise in der Wo­chen­presse (http://www.zeit.de/2014/21/conchita-wurstesc, 27.12.2014), aber auch in das Bou­le­vard­blatt Bild (http://www.bild.de/po­li­tik/ aus­land/russ­land/rus­s i­s che-politiker-het ­zen-gegen-esc-ge­winne ­rin-wurst-und-eu­ro pa-35930548.bild.html, 27.12.2014) 12 Vgl. http://www.zeit.de/2014/21/conchita-wurst-esc (28.12.2014) 13 https://www.frei­tag.de/au­to­ren/jo­erg-augs­burg/xxy-fac­tor (28.12.2014)

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die Re­gime der Ver­ständ­lich­keit dar­auf­hin be­fragt, wes­sen und wel­ches Sein und Spre­chen er­mög­licht bzw. ver­un­mög­licht wird, so wird of­fen­kun­dig, dass Con­ chita Wurst eine ver­kör­perte Ir­ri­ta­tion hin­sicht­lich der so­zial ak­zep­tab­len For­men re­prä­sen­tiert, eine Iden­ti­tät zu le­ben. Mit ei­nem an Nancy Fra­ser (2003) orien­tier­ ten An­er­ken­nungs­be­griff, der An­er­ken­nung nicht auf ei­ner in­di­vi­du­ell-sub­jek­ti­ven Ebene der ›Selbst­ver­wirk­li­chung‹ be­lässt, son­dern auf ei­ner struk­tu­rell de­mo­kra­ tie­po­li­ti­schen Ebene mit ei­ner Ega­li­sie­rung von Zu­gangs- und Par­ti­zi­pa­tions­be­din­ gun­gen be­greift, kann eine ge­sell­schafts­theo­re­tisch fun­dierte Me­dien­kul­tur­ana­lyse wei­ter­füh­rend da­nach fra­gen, ob Con­chita Wurst da­mit zu­gleich zum Aus­lö­ser ei­ nes Rin­gens um Ge­rech­tig­keit, ge­sell­schaft­li­che Ord­nungs­vor­stel­lun­gen und die Le­gi­ti­mi­tät po­li­ti­scher Re­gu­lie­rungs­wei­sen wer­den kann. Denn frei­lich stellt Con­chita Wurst Sicht­bar­keit her – und zu­gleich wis­sen wir aus vie­len fe­mi­nis­ti­schen und ge­schlech­tert­heo­re­tisch fun­dier­ten Stu­dien, dass Sicht­bar­keit kei­nes­wegs auto­ma­tisch mit ei­nem Zu­wachs an Macht ver­bun­den ist. Die Om­ni­prä­senz der Bil­der von Weib­lich­keit geht oft auf para­doxe Weise und gleich­sam unter der Hand ein­her mit dem Aus­schluss von Frauen aus der po­li­ti­ schen Öf­fent­lich­keit (vgl. Wenk 1996). Die­ser Be­fund hat Jo­hanna Schaf­fer (2008) den Be­griff von ei­ner ›an­er­ken­nen­den Sicht­bar­keit‹ ent­wi­ckeln las­sen, um da­mit ein Vor­han­den­sein vi­su­el­ler Re­prä­sen­ta­tion mar­gi­na­li­sier­ter Sub­jekte im Be­reich des Kul­tu­rel­len mit der Frage nach ihrer Re­prä­sen­ta­tion im Po­li­ti­schen zu kom­bi­ nie­ren – nicht zu­letzt des­halb, weil mar­gi­na­li­sierte Sub­jekte aus ihrer Sicht dort vor­wie­gend in der Ver­kör­pe­rung des Spek­ta­kels zu se­hen ge­ge­ben wer­den (vgl. ebd.: 218). Im An­schluss an Fra­ser (2003: 44 f.) wird An­er­ken­nung zu ei­ner Frage der Ge­rech­tig­keit; so wird nicht al­lein ver­hin­derte Selbst­ver­wirk­li­chung kri­ti­siert, son­dern die in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten Mus­ter kul­tu­rel­ler Wert­set­zung, die in staat­li­chen Struk­tu­ren und de­mo­kra­ti­sche Pro­zesse ein­ge­schrie­ben sind und glei­che Par­ti­zi­pa­ tion, Ar­ti­ku­la­tion und Teil­nahme an po­li­ti­schen, so­zia­len und öko­no­mi­schen Pro­ zes­sen ver­hin­dern. Nun wurde der Er­folg von Con­chita Wurst im me­dia­len Dis­kurs ver­ein­zelt durch­aus als In­diz für ge­sell­schaft­li­che Trans­for­ma­tions­pro­zesse ge­le­sen: Das Bild, dass Con­chita Wurst an­bot, so er­läu­terte etwa die Wie­ner Phi­lo­so­phin Isolde Cha­rim in der tageszeitung, sei we­der das ei­ner Ver­klei­dung noch das ei­ner Trans­ se­xu­el­len – der Bart ver­hin­dere die Her­stel­lung die­ser Ein­deu­tig­keit.14 Op­ti­mis­ tisch ar­gu­men­tierte sie kurz nach dem Eu­ro­vi­sion Song Con­test, Con­chita Wurst prä­sen­tiere ein Bild gegen jede Ein­deu­tig­keit – und das Sym­bol da­für sei aus­ge­ rech­net der Bart. Die­ses Sym­bol ei­ner in­tak­ten Männ­lich­keit werde von Con­chita Wurst um­co­diert: Von ei­nem Code für Männ­lich­keit werde der Bart zu ei­nem Zei­ chen ei­ner hier­zu­lande bis­lang ge­sell­schaft­lich weit­ge­hend nicht in­tel­ligi­blen, d. h. 14 Cha­rim, Isolde (2014): Kul­tur­kampf mit Bart. In: die tageszeitung, 10.05.2014, on­line unter http://www.taz.de/!138749/(28.12.2014)

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nicht ak­zep­tab­len Iden­ti­tät. Als Sub­jekt- und Iden­ti­täts­ent­wurf for­dere Con­chita Wurst Norm- und Wert­set­zun­gen her­aus und er­öffne eine De­batte dar­über, wes­sen Le­ben, Le­bens­weise und wel­che Bin­dun­gen zäh­len. Dies sind Fra­gen, die Ju­dith But­ler in ihrem Band »Die Macht der Ge­schlechter­nor­men und die Gren­zen des Mensch­li­chen« dis­ku­tiert und ent­lang de­rer sie dazu auf­for­dert, Re­gle­men­tie­run­ gen und Ein­schrän­kun­gen mensch­li­chen Han­delns zu re­flek­tie­ren und Mög­lich­kei­ ten zu er­for­schen, be­ste­hende Mus­ter, Re­geln und Ord­nun­gen zu de­mon­tie­ren, um neue Hand­lungs­spiel­räume zu er­schlie­ßen – und neue Mög­lich­kei­ten, die ei­gene Iden­ti­tät zu ge­stal­ten. Und ge­nau diese Fra­gen – so könnte man im Ein­klang mit den im me­dia­len Dis­kurs op­ti­mis­ti­schen Stim­men über den Aus­gang des Eu­ro­vi­ sion Song Con­test inter­pre­tie­ren – brachte Con­chita Wurst auf die po­pu­lär­kul­tu­ relle Main­stream-Büh­ne. Sehr rasch je­doch wurde die Sie­ge­rin an Ta­gen nach dem Er­folg als ›Con­chita Wurst‹ in (massen)medialen Be­rich­ten als »ge­bür­tig« und »eigent­lich« Tom Neu­ wirth und da­mit als »der Mann in den Frau­en­klei­dern« zu se­hen ge­ge­ben. Da­mit setzte um­ge­hend ein Ver­ein­deu­tigungs- und ein Nor­ma­li­sie­rungs­pro­zess ein und da­her be­ste­hen be­grün­dete Zwei­fel, ob die oben be­schrie­bene me­diale An­er­ken­ nung aus­reicht, um der Mar­gi­na­li­sie­rung und den Ent­frem­dungs­er­fah­run­gen von Sub­jek­ten zu be­geg­nen, die sich der Ein­ord­nung in eine he­te­ro­nor­ma­tive Ord­nung ent­zie­hen. Ob­schon der Ent­frem­dungs­be­griff der Kritischen Theorie der Frank­ fur­ter Schule gegen­warts­be­zo­gen zu re­for­mu­lie­ren ist, da auch eine heut­zu­tage viel­fach be­ob­acht­bare Aus­wei­tung und Stei­ge­rung von Selbst­be­stim­mungs­mög­ lich­kei­ten und die Ver­min­de­rung von Be­gren­zun­gen zu Ent­frem­dungs­er­fah­run­gen füh­ren kann, lässt sich im An­schluss an Hart­mut Rosa (2013) hier ar­gu­men­ta­tiv an­knüp­fen. Um in an­er­ken­nungs­theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen ein­zu­grei­fen, pro­ble­ ma­ti­siert Ro­sa, dass im Zuge der Ver­ab­schie­dung des Ent­frem­dungs­be­grif­fes an­ er­ken­nungs­theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen an die Stelle der Selbst­be­stim­mungs­idee tra­ten und diese Ent­frem­dung dort iden­ti­fiz­ ier­ten, wo sich Men­schen als min­der­ wer­tig, miss­ach­tet oder wert­los er­fah­ren. Rosa er­setzt da­her den An­er­ken­nungs­be­ griff da­her durch den Be­griff der ›Re­so­nanz‹ und ar­gu­men­tiert: »Wenn Per­son A von Per­son B wert­ge­schätzt oder so­gar ge­liebt wird, be­deu­tet das kei­nes­wegs, dass sich zwi­schen A und B eine Re­so­nanz­be­zie­hung ein­stellt. Diese ent­steht erst und nur da, wo A und B sich ›be­rüh­ren‹, wo sie beide in eine Be­zie­hung des sich wech­ sel­sei­ti­gen Ant­wor­tens ein­tre­ten« (ebd.: 10). Ge­lin­gende Welt­be­zie­hun­gen sind aus Ro­sas Sicht sol­che, in denen die Welt den han­deln­den Sub­jek­ten als ant­wor­ ten­des, at­men­des, im bes­ten Falle tra­gen­des Re­so­nanz­sys­tem er­scheint (vgl. ebd.: 9). In Me­dien­kul­tu­ren wie­derum ist die­ses Re­so­nanz­sys­tem viel­fach me­dia­ti­siert und dies prägt Selbst- und Welt­be­zie­hun­gen auf kom­plexe Wei­sen: Ent­spre­chend hat Ro­ger Sil­ver­stone (2007; dt.: 2008) schon vor ei­ni­gen Jah­ren me­dien­ethi­sche Über­le­gun­gen an­ge­sichts ei­ner zu­neh­men­den, me­dia­ti­sier­ten Nähe zu ›dem‹ und ›den‹ An­de­ren in die kom­mu­ni­ka­tions- und me­dien­wis­sen­schaft­li­che De­batte hin­

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ein­ge­tra­gen. Er sah eine zen­trale Ver­pflich­tung in der »An­er­ken­nung von Dif­fe­ renz« (ebd.: 183) und lei­tete da­von das Recht auf Re­prä­sen­ta­tion, auf Stimme und Ge­hör ab (ebd.: 211 ff.). Die Frage nach der (me­dia­ti­sier­ten) Re­so­nanz nehme ich auf – nicht im Sinne ei­nes Er­sat­zes von An­er­ken­nung, da An­er­ken­nung – wie mit dem Be­zug auf Fra­sers Arbei­ten ge­zeigt wurde – kei­nes­wegs auf inter­sub­jek­tive af­fek­tive und so­ziale Zu­ stim­mung ei­nes In­di­vi­du­ums oder die Er­fül­lung der Be­din­gun­gen zu ei­ner in­di­vi­du­ el­len Selbst­be­stim­mung re­du­ziert wer­den kann. Der Re­so­nanz­be­griff ist je­doch m. E. hilf­reich, da er nach den Po­ten­tia­len ei­ner Trans­for­ma­tion so­zia­ler und po­li­ti­scher Ver­hält­nisse in und durch die Her­stel­lung von Öf­fent­lich­keit(en) fra­gen lässt. Ana­ly­sen me­dia­ti­sier­ter An­er­ken­nung kön­nen durch die Unter­su­chung öf­fent­li­cher Re­so­nan­zen ge­winn­brin­gend er­gänzt wer­den: Stu­dien da­zu, wer oder was und auf wel­che Wei­sen Re­so­nanz(en) aus­zu­lö­sen im­stande ist, sind mit ei­nem Be­griff von Öf­fent­lich­keit zu ver­knüp­fen und die in Öf­fent­lich­keits­theo­rien nach­drück­lich ein­ge­for­der­ten fe­mi­ nis­ti­schen Ein­sich­ten pro­duk­tiv zu ma­chen. Eli­sa­beth Klaus und Ri­carda Drüeke (2012) ha­ben diese Ein­sich­ten sys­te­ma­ti­sie­rend zu­sam­men­ge­fasst: Sie um­fas­sen das Wis­sen um das Her­ge­stellt­sein der di­cho­to­men Tren­nun­gen von Pri­vat­heit und Öf­fent­lich­keit, die In­fra­ge­stel­lung der Gegen­über­stel­lun­gen und Aus­schlie­ßun­gen von Emo­tio­na­li­tät vs. ei­ner häu­fig macht­un­kri­tisch ent­wor­fe­nen Ra­tio­na­li­tät, das Ein­tre­ten für ei­nen wei­ten und eman­zi­pa­to­ri­schen Po­li­tik­be­griff ein­ge­denk plu­ra­ler und zu­neh­mend trans­na­tio­na­ler (und trans­kul­tu­rel­ler) Teil­öf­fent­lich­kei­ten, die For­ de­rung nach ei­ner in­ter­sekt­io­na­li­täts­theo­re­ti­schen Per­spek­tive für die Unter­su­chung von Zu­gangs- und Teil­ha­be­mög­lich­kei­ten zu Öf­fent­lich­kei­ten.

Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse für eine emanz ­ ip ­ at­ or ­ is ­ che Ges ­ ell­schaft Das Bei­spiel von Con­chita Wurst il­lus­triert ex­em­pla­risch, dass Re­prä­sen­ta­tio­nen norm­ab­wei­chen­der Sub­jek­ti­vi­tät mitt­ler­weile in Me­dien­an­ge­bo­ten15 viel­fach angeboten wer­den; auch wer­den sie be­kann­ter­ma­ßen durch Mo­de- und Wer­be­in­dus­trie auf­ge­grif­fen und ver­mark­tet, Wirt­schafts­unter­neh­men demons­trie­ren in­zwi­schen Of­fen­heit durch Pro­kla­mie­ren ihres ›Di­ver­sity Ma­na­ge­ments‹ und lo­ben Di­versi­tät 15 So meh­ren sich bei­spiels­weise die De­bat­ten auch in der Ta­ges­pres­se. Nach dem Grund für den »Trend«, dass Fi­gu­ren »zwi­schen den Ge­schlech­ter­rol­len« in ame­ri­ka­ni­schen Fern­seh­sen­dun­gen so »an­ge­sagt sind«, sucht Nina Reh­feld (2015) unter der Über­schrift »Erst sucht Va­ter sein wah­res Selbst, dann wird er eine Frau« bspw. in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung (on­line unter http://www.faz.net/ak­tu­ell/feuil­le­ton/me­dien/ama­zonse­rie-trans­pa­rent-erst-sucht-va­ter-sein-wah­res-selbst-dann-wird-er-eine-frau-13372264. html,16.02.2015)

Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se  |  61

als Be­rei­che­rung. Das im vor­lie­gen­den Text ein­ge­führte Bei­spiel und die me­dia­len Re­ak­tio­nen wer­fen je­doch zu­gleich die Frage auf, ob und wie in sol­chen Pro­zes­sen auch neue Aus­schlüsse und Hier­ar­chien im Rah­men die­ser In­te­gra­tions- und Nor­ ma­li­sie­rungs­pro­zesse ent­ste­hen. Antke En­gel (2008: 48) ver­tritt die The­se, dass »neo­li­be­rale In­di­vi­dua­li­sie­ rungs­dis­kurse eine Plu­ra­li­sie­rung se­xuel­ler Sub­jek­tivi­tä­ten und Le­bens­for­men for­cie­ren, weil da­mit eine Ideo­lo­gie der freien Ge­stalt­bar­keit des ei­ge­nen Le­bens ver­sinn­bild­licht wer­den kann«. In­so­fern diese Ge­stal­tungs­macht als »Be­freiung von re­pres­si­ven Re­gu­lie­run­gen« ge­prie­sen wer­de, diene sie da­zu, ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung in Eigen­ver­ant­wor­tung zu über­set­zen und Zu­stim­mung zum Leis­ tungs­prin­zip – so­wie zum Ab­bau so­zial-staat­li­cher Ab­si­che­rung schmack­haft zu ma­chen«. Folgt man die­ser The­se, so ist es hoch­in­ter­es­sant, öf­fent­li­che Aus­hand­ lungs­pro­zesse zu unter­su­chen, in denen ein (prak­ti­scher) Kon­sens dar­über her­ ge­stellt wird, wel­che Exis­tenz­wei­sen, die do­mi­nante ge­sell­schaft­li­che Werte und In­sti­tu­tio­nen her­aus­for­dern, in den Gren­zen des To­le­rier­ba­ren noch auf­ge­ho­ben, wel­che als Nicht-To­le­rier­bare ›kar­ne­va­li­siert‹, ver­wor­fen oder ver­schwie­gen wer­ den.16 Aus ei­nem sol­chen Fra­ge­ho­ri­zont her­aus ar­gu­men­tiert etwa Wol­ters­dorff: »Im Zuge des neo­li­be­ra­len Um­baus der Fa­mi­lie zu ei­ner Ab­si­che­rungs­ge­mein­ schaft, an die sich vor­mals so­zial­staat­li­che Funk­tio­nen de­le­gie­ren las­sen, ge­ra­ten auch homo­se­xu­elle Part­ner­schaf­ten in die Auf­merk­sam­keit [. . .]. Die ge­sell­schaft­ li­che Ent­so­li­da­ri­sie­rung ist da­mit die his­to­ri­sche Be­din­gung für die An­er­ken­nung ein­zel­ner nicht-he­te­ro­se­xu­el­ler Le­bens­wei­sen – nach der De­vi­se: du darfst so le­ ben, wie du bist, wenn du da­mit er­folg­reich bist und selbst da­für die Ver­ant­wor­tung über­nimmst« (2004: 146, zit. nach En­gel, ebd.: 29). Eine Ana­lyse der Po­ten­ziale von Con­chita Wurst, ei­nen Bei­trag zur An­er­ken­nung und Ver­schie­bung der Gren­ zen des To­le­rier­ba­ren zu leis­ten und da­mit Re­so­nan­zen aus­zu­lö­sen, muss dem­nach Fra­gen der po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Nutz­bar­ma­chung der me­dia­len In­sze­ nie­rung ein­be­zie­hen, Nor­ma­ti­vi­täts­kri­tik mit Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit in Be­zie­ hung set­zen und all dies als Frage des Po­li­ti­schen ver­ste­hen. Hier deu­tet sich an, wie der Her­aus­for­de­rung be­geg­net wer­den kann, nach Be­deu­ tungs- und Sinn­struk­tu­ren und zu­gleich nach den ebenso in Struk­tu­ren und Macht­ver­ hält­nis­sen ver­an­ker­ten Prak­ti­ken zu fra­gen und so­mit (Me­dien-)Kul­tur- und Ge­sell­ schafts­ana­lyse zu ver­bin­den: Cor­ne­lia Klinger und Gud­run Axeli Knapp fol­gend habe ich de­ren Vor­schlag für eine ge­sell­schafts­theo­re­tisch ge­rahmte kri­ti­sche For­schung auf­ge­grif­fen und mit post­struk­tu­ra­lis­ti­schen An­sät­zen kom­bi­niert, in denen Nor­men ent­uni­ver­sa­li­siert und pro­zess­haft ge­dacht wer­den: Frei­heit und Gleich­heit kann mit dem Be­griff der Ge­rech­tig­keit ver­knüpft wer­den, ohne eine allgemeingültige De­ fi­ni­tion und da­mit Fi­xie­run­gen vor­zu­neh­men. Es las­sen sich Be­grün­dungs­rah­men 16 Zur ›Kar­ne­va­li­sie­rung‹ vgl. Mes­quita (2008), zur Stra­te­gie, Dif­fe­renz als per­sön­li­che Idio­syn­kra­sie oder pri­vate Spin­ne­rei ab­zu­tun vgl. En­gel (2008).

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an­bie­ten, die uni­ver­sa­li­sie­rende Fest­le­gun­gen ver­mei­den, wohl aber er­lau­ben, spe­ zi­fi­sche Ver­hält­nisse mit der Frage nach Ge­rech­tig­keit zu kon­fron­tie­ren: Auf diese Weise kön­nen Er­fah­run­gen von Mar­gi­na­li­sie­rung, öko­no­mi­scher Aus­beu­tung, zu­ gleich von kul­tu­rel­ler Un­sicht­bar­keit und po­li­ti­scher Mar­gi­na­li­sie­rung be­greif­bar und Ana­ly­sen von Ursa­chen und Be­din­gun­gen so­wie Mög­lich­kei­ten der Ver­än­de­rung ar­ti­ku­lier­bar ge­macht wer­den (vgl. Let­tow 2006). Aus ei­ner sol­chen Sicht wird auch So­li­da­ri­tät kei­nes­wegs als eman­zi­pa­to­ri­sches Pro­jekt ver­ab­schie­det, son­dern kann als et­was kon­zep­tua­li­siert wer­den, das nicht auf iden­ti­tä­ren Bünd­nis­sen und ge­teil­ten Er­fah­run­gen auf­ruht, son­dern als par­ti­zi­pa­tive Pra­xis und (re-)po­li­ti­sier­ter Pro­zess ana­ly­sier­bar ist und le­ben­dig wer­den kann (vgl. dazu die Bei­träge des Schwer­punkt­ hef­tes ›So­li­da­ri­tä­ten‹, Tho­mas/Wi­scher­mann 2015). Da­mit sind auch schon ei­nige Auf­ga­ben für kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­ly­sen skiz­ziert, die etwa die Ent­ste­hung von sich trans­me­dial kons­ti­tu­ie­ren­den und grenz­über­schrei­ten­den, mög­li­cher­weise auch trans­kul­tu­rel­len Öf­fent­lich­keit(en) in gegen­wär­ti­gen Me­dien­kul­tu­ren unter­sucht, da­bei die Er­öff­nung, Er­wei­te­rung und Be­gren­zung in­di­vi­du­el­ler bzw. kol­lek­ti­ver Kom­mu­ni­ka­tions- und Hand­lungs­ räume so­wie Hand­lungs­fä­hig­kei­ten ana­ly­tisch auf­schlüs­selt, den da­mit ver­bun­de­ nen Po­ten­zia­len der So­li­da­ri­sie­rung im Kampf um so­ziale An­er­ken­nung und po­li­ti­ sche Rechte nach­geht und so­mit Mo­mente von Re­so­nanz­pro­duk­tion iden­ti­fi­zier­bar und wie­der­hol­bar macht. Eli­sa­beth Klaus schloss 2014 ei­nen Er­öff­nungs­vor­trag beim Jour­na­lis­tin­nen­ bund in Ber­lin mit ei­ni­gen Wor­ten zu dem, was sie als den ei­ge­nen Auf­trag ver­ steht: »[. . .] Mo­mente von Fort­schritt, Be­freiung, Eman­zi­pa­tion müs­sen wir su­ chen und für sol­che Mo­mente lohnt sich unser Ein­satz«. Zu wün­schen bleibt, dass viele sich an­schlie­ßen.

Li­te­ra­tur But­ler, Ju­dith (2009): Die Macht der Ge­schlechter­nor­men und die Gren­zen des Mensch­li­chen. Frank­furt am Main: Suhr­kamp. Egg­mann, Sa­bine (2011): Das ›Po­pu­läre‹ aus dis­kurs­ana­ly­ti­scher Sicht. Mög­lich­ kei­ten der Theo­re­ti­sie­rung. In: Chris­toph Ja­cke/Jens Ru­chatz/Mar­tin Zie­rold (Hg.): Pop, Po­pu­lä­res und Theo­rien. For­schungs­an­sätze und Per­spek­ti­ven zu ei­nem pre­kä­ren Ver­hält­nis in der Me­dien­kul­tur­ge­sell­schaft, Müns­ter: Lit Ver­ lag, S. 139–151. En­gel, Antke (2005): Ent­schie­dene Inter­ven­tio­nen in der Un­ent­scheid­bar­keit. Von quee­rer Iden­ti­täts­kri­tik zu Ver­Un­ein­deu­ti­gung als Me­tho­de. In: Cilja Har­ders/ Heike Kah­lert/De­lia Schind­ler (Hg.): For­schungs­feld Po­li­tik. Ge­schlech­ter­ ka­te­go­riale Ein­füh­rung in die So­zial­wis­sen­schaf­ten. Wies­ba­den: VS Ver­lag, S. 259–283.

Kri­ti­sche Me­dien­kul­tur­ana­lyse als Ge­sell­schafts­ana­ly­se  |  63

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Nicht oh­ne­ein­an­der: Fe­mi­nis­mus und Me­dien – eine Be­zie­hungs­ana­lyse

Nicht oh­ne ein­an­der Fe­mi­nis­mus und Me­dien – eine Be­zie­hungs­ana­lyse Ulla Wi­scher­mann Die so ge­nannte »F-Klasse« (Dorn 2006) ist in der Mitte der Ge­sell­schaft und in den Me­dien an­ge­kom­men, je­doch die fe­mi­nis­ti­sche Theo­rie nicht. In heu­ti­gen Me­dien­dis­kur­sen zei­gen sich nicht nur eine be­mer­kens­werte Igno­ranz gegen­über fe­mi­nis­ti­schen Wis­sens­be­stän­den, son­dern ver­stärkt auch un­ver­blümte Mi­so­gy­nie, Se­xis­mus und Ho­mo­pho­bie. Wenn über The­men wie se­xuel­ler Miss­brauch oder Se­xis­mus öf­fent­lich de­bat­tiert wird, spielt die Wis­sens­pro­duk­tion fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie keine Rol­le, Fe­mi­nis­tin­nen mel­den sich kaum zu Wort bzw. sind nicht als Ex­per­tin­nen von Sei­ten der Me­dien ge­fragt – au­ßer viel­leicht Alice Schwar­zer, die in kei­ner Talk­runde feh­len darf, als würde sämt­li­ches fe­mi­nis­ti­sches Be­wusst­sein sich in ihr bün­deln. Aber seit sie Pro­bleme mit der Hin­ter­zie­hung von Steu­ern hat, ist auch sie nicht mehr in den Main­stream-Me­dien prä­sent. Fe­mi­nis­ti­sche Theo­rie, oder ich be­vor­zuge den Aus­druck: fe­mi­nis­ti­sche Ge­ sell­schafts­kri­tik ist für mich als So­zio­lo­gin, Me­dien­wis­sen­schaft­le­rin und Ge­ schlech­ter­for­sche­rin eine not­wen­dige ge­sell­schaft­li­che Inter­ven­tion. Ohne ei­nem Uni­ver­sa­lis­mus ›des‹ Fe­mi­nis­mus das Wort re­den zu wol­len, gehe ich da­von aus, dass es fe­mi­nis­ti­sche Grund­an­lie­gen z. B. in Be­zug auf Arbeit, Bil­dung, Rech­te, Se­xua­li­tät, Ge­walt gibt, die spä­tes­tens seit der Ent­ste­hung von Frau­en­be­we­gun­gen im 19. Jahr­hun­dert in unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen bis heute ak­tu­ell ge­blie­ben sind. Fe­mi­nis­ti­sche Ein­mi­schun­gen in ge­sell­schaft­li­che Trans­for­ma­tions­pro­zes­se, der Gen­der-Blick auf so­zia­le, kul­tu­rel­le, po­li­ti­sche Ver­hält­nisse und Ent­wick­lun­ gen und die Ana­lyse ge­sell­schaft­li­cher Un­gleich­heit, aber auch die Kri­tik an Ka­ pi­ta­lis­mus, Neo­li­be­ra­lis­mus so­wie Pa­triar­chalis­mus und He­te­ro­nor­ma­ti­vi­tät sind un­ver­zicht­bar im Kampf um mehr Eman­zi­pa­tion und Ge­schlech­ter­ge­rech­tig­keit. In unter­schied­li­chen dis­zi­pli­nä­ren und inter­dis­zi­pli­nä­ren Are­nen der Frau­enund Ge­schlech­ter­for­schung ent­wi­ckelte fe­mi­nis­ti­sche Theo­rien stel­len im Pro­zess des ge­sell­schaft­li­chen Wan­dels eine wich­tige Res­source dar. For­schun­gen und Theo­rie­kon­zepte über­schrei­ten und ver­bin­den häu­fig ver­schie­dene Wis­sen­schafts­ dis­kur­se. Gen­der Stu­dies arbei­ten oft qua Gegen­stand an ei­ner Ver­bin­dung von Mi­kro- und Ma­kro­per­spek­ti­ven und ver­fü­gen über das Po­ten­zial, die vor­geb­lich

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ob­jek­ti­ven Grund­ka­te­go­rien des je­wei­li­gen Fa­ches als nor­ma­tive Set­zun­gen zu de­ kon­stru­ie­ren. – Und das ist nicht we­nig! Ihre Wis­sens­pro­duk­tion kann und sollte aber, daran halte ich fest, nicht ohne Be­zug zur fe­mi­nis­ti­schen Pra­xis, zum All­ tags­wis­sen und zum All­tags­han­deln, zu (Un­rechts-)Er­fah­run­gen und zu den wi­ der­stän­di­gen Prak­ti­ken von Ak­teur_in­nen statt­fin­den. Zu­gleich ver­langt eine so ver­stan­dene fe­mi­nis­ti­sche Theo­rie und Ge­sell­schafts­kri­tik Stra­te­gien der Sicht­bar­ ma­chung und ein Über­schrei­ten des aka­de­mi­schen Fe­mi­nis­mus so­wie da­mit ver­ bun­dene Trans­fer­leis­tun­gen, die Über­set­zungs- und Lern­pro­zesse be­in­hal­ten (vgl. die Bei­träge in Hark 2013). Ge­rade dies scheint im­mer wie­der, aber ins­be­son­dere in den letzten zehn Jah­ ren, gründ­lich miss­lun­gen zu sein. Neben dem aka­de­mi­schen Fe­mi­nis­mus hat sich ein ›Me­dien­fe­mi­nis­mus‹, üb­ri­gens ein Fe­mi­nis­mus ohne Frau­en­be­we­gung, eta­ bliert, der als ›Neuer Fe­mi­nis­mus‹ de­kla­riert wird. Eli­sa­beth Klaus hat be­reits 2008 in ei­nem wich­ti­gen, als po­li­ti­sche Inter­ven­tion breit wahr­ge­nom­me­nen, Auf­satz auf diese Ent­wick­lung des Fe­mi­nis­mus auf­merk­sam ge­macht. Mit ihrer In­halts­ ana­lyse von neu­eren Pu­bli­ka­tio­nen, Zeit­schrif­ten und auch von Sach­bü­chern, die zu Best­sel­lern wur­den, be­schreibt und ana­ly­siert sie ei­nen neuen Fe­mi­nis­mus, der zu­gleich Platz bie­tet für Anti­fe­mi­nis­mus, kon­ser­va­ti­ven Fe­mi­nis­mus und Eli­te­fe­ mi­nis­mus und re­kon­stru­iert die Netz­wer­ke, die diese Strö­mun­gen tra­gen und ver­ brei­ten (Klaus 2008). Auf­fäl­lig ge­mein­sam ist all die­sen Fe­mi­nis­men, dass sie ge­ sell­schaft­li­che Rah­men­be­din­gun­gen und Kon­text­uie­run­gen (wie Neo­li­be­ra­lis­mus und Glo­ba­li­sie­rung oder die Ero­sion der Arbeits­ver­hält­nis­se) aus­blen­den und dass sie weit­ge­hend ohne Be­zug zur Frau­en- und Ge­schlech­ter­for­schung, also zu gut aus­ge­arbei­te­ten fe­mi­nis­ti­schen Wis­sens­be­stän­den aus­kom­men. Gleich­zei­tig be­zie­ hen sie sich fast schon ge­bets­müh­len­ar­tig auf den so ge­nann­ten ›al­ten‹ Fe­mi­nis­ mus, der ge­ra­dezu als ein Schreck­ge­spenst in­sze­niert und ste­reo­ty­pi­siert wird, von dem sich er­folg­reich ab­ge­wen­det wur­de. Letzt­lich be­deu­tet die­ser Neue Fe­mi­nis­ mus nichts an­de­res, als dass der ge­sell­schafts­kri­ti­sche Im­pe­tus der fe­mi­nis­ti­schen Theo­rie ab­ge­spal­ten wird und es im We­sent­li­chen um die op­ti­male Ein­pas­sung von Frauen in be­ste­hende Struk­tu­ren geht. Besonders in der in Deutsch­land me­dial ver­brei­te­ten De­batte über ei­nen Neuen Fe­mi­nis­mus hat der sogenannte ›alte‹ Fe­mi­nis­mus der 1970er Jahre im­mer wie­der als Buz­zword fun­giert. Ge­ra­dezu schon sprich­wört­lich wurde der Aus­spruch von Thea Dorn: »Fe­mi­nis­mus hat ei­nen noch schlech­te­ren Ruf als die Deut­sche Bun­ des­bahn.« (Dorn 2006: 36) Für sie und an­dere an den Me­dien­dis­kur­sen Be­tei­ligte sind Fe­mi­nis­tin­nen der neuen Frau­en­be­we­gung vor al­lem lila Latz­ho­sen tra­gende kurz­haa­rige Frauen (und na­tür­lich Les­ben), die sich durch Män­ner­feind­schaft aus­ zeich­nen. Und die Au­to­rin fährt fort: »Au­ßer­dem gibt es in­halt­lich un­über­seh­bare Dif­fe­ren­zen zum klas­si­schen 70er Jahre Fe­mi­nis­mus, der [. . .] die Tren­nungs­li­nie ›Gut‹ und ›Böse‹ schlicht zwi­schen ›Frau‹ und ›Mann‹ zog und in der ›Zwangs­

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he­te­ro­se­xua­li­tät‹ die Wur­zel al­len Ge­schlech­te­rü­bels aus­ge­macht ha­ben wollte.« (ebd.: 36 f.) Kämpfe und Er­run­gen­schaf­ten der Frau­en­be­we­gun­gen, auch ihre kri­ ti­schen Ana­ly­sen der Ge­schlech­ter­ver­hält­nisse spie­len im his­to­ri­schen Ge­dächt­nis of­fen­sicht­lich kei­ner­lei Rol­le, ob­wohl eine jün­gere Frau­en­ge­ne­ra­tion längst da­von pro­fi­tiert hat. Ge­wünscht – so Dorn – sei ein Fe­mi­nis­mus, der sich nicht gegen Män­ner rich­tet, son­dern gegen dumme Män­ner (ebd.; Her­vor­hebung im Ori­gi­nal, U. W.). Of­fen­sicht­lich ist bei der Lek­türe des Bu­ches, dass der Au­to­rin grund­le­ gende De­bat­ten in der Ge­schlech­ter­for­schung, etwa zur Kon­struk­tion und De­kon­ struk­tion der Ka­te­go­rie Ge­schlecht oder die Kri­tik an der he­te­ro­se­xu­el­len Ma­trix, völ­lig fern lie­gen. Ge­rade der durch die Re­zep­tion von Ju­dith But­ler an­ge­sto­ßene lin­gu­is­tic turn in den Ge­schlechter­stu­dien und die da­mit ver­bun­de­nen Theo­re­ti­sie­run­gen, For­ schun­gen und Kri­ti­ken zu He­te­ro­nor­ma­ti­vi­tät sind bis heute über­haupt nicht in den Me­dien an­ge­kom­men: Sie wer­den, je nach dem, aus­ge­blen­det oder mehr noch: de­nun­ziert. Ein Bei­spiel für Letz­te­res bie­ten Ar­ti­kel in der Ta­ges­pres­se, etwa des FAZ-Redakteurs Vol­ker Zas­trow. Schon 2006 er­schien im Po­li­tik­teil der FAZ ein Ar­ti­kel von ihm mit der Über­schrift: »Po­li­ti­sche Ge­schlechts­um­wand­lung«. Der Unter­ti­tel ver­spricht Auf­klä­rung über das Prin­zip des Gen­der Mains­trea­ming in der Gleich­stel­lungs­po­li­tik (vgl. Zas­trow 2006a). Zum Er­schei­nungs­zeit­punkt des Ar­ti­kels steht das Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­ge­setz auf der po­li­ti­schen Agenda der Bun­ des­re­pu­blik, so dass das Thema des Ver­fas­sers glei­cher­ma­ßen ak­tu­ell, be­rech­tigt und in­ter­es­sant er­scheint. Mit gro­ßer Dreis­tig­keit und of­fen­bar ohne jede Angst, gegen Re­geln ei­ner bis dato ei­ni­ger­ma­ßen eta­blier­ten Gleich­be­rech­ti­gungs­rhe­to­rik zu ver­sto­ßen, er­klärt der Autor auf im­mer­hin ei­ner gan­zen Zei­tungs­sei­te, wie Fe­ mi­nis­mus und Frau­en­be­we­gung, die er al­len Erns­tes als les­bi­sche Ver­schwö­rung brand­markt, das Prin­zip des Gen­der Mains­trea­ming in die deut­sche und die eu­ro­ päi­sche Po­li­tik ein­ge­fä­delt ha­ben. Unter­füt­tert wird diese Ver­schwö­rungs­theo­rie mit Aus­füh­run­gen über die Do­mi­nanz von Les­ben in der Frau­en­be­we­gung und über gut funk­tio­nie­rende les­bi­sche Ak­ti­vis­tin­nen- und Po­li­ti­ke­rin­nen-Netz­werke so­wie mit Ver­wei­sen auf eine in die Irre ge­hende Gen­der­for­schung, die eben­falls von Homo­se­xu­el­len do­mi­niert wird (ver­wie­sen wird hier auf die Schrif­ten von But­ler und Fou­cault). Ei­nige Mo­nate spä­ter hakt der Autor noch ein­mal nach: Er hat auf der Web­site der »christ­de­mo­kra­ti­schen Frau­en­mi­nis­te­rin von der Leyen [ge]le­sen: daß Ge­schlechts­rol­len im Gegen­satz zum bio­lo­gi­schen Ge­schlecht nur er­lernt seien.« Und la­pi­dar kom­men­tiert er: »Die Na­tur­wis­sen­schaf­ten, etwa die Hirn­for­schung, ha­ben diese An­nahme längst wi­der­legt.« (Zas­trow 2006b) Nur die Gen­dert­heo­rie, halte – ge­speist aus zwei­fel­haf­ten For­schun­gen über Inter­se­xua­ li­tät – an ei­ner Unter­schei­dung von Sex und Gen­der fest. In Zei­ten des de­mo­ gra­phi­schen Wan­dels wird die po­lare Kon­struk­tion der Zwei­ge­schlecht­lich­keit in den Me­dien neu in­sze­niert und pseu­do-na­tur­wis­sen­schaft­lich unter­legt. Auch hier feh­len jeg­li­che Ver­mitt­lungs­pro­zesse zwi­schen Fe­mi­nis­mus und Me­dien: Statt das

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an­geb­li­che Fak­ten­wis­sen der Na­tur­wis­sen­schaf­ten zu hin­ter­fra­gen und auch die­ses als kon­stru­iert zu se­hen, sind hier un­ge­bro­chen Re-Bio­lo­gi­sie­rung und Re-Tra­di­ tio­na­li­sie­rung an­ge­sagt und wer­den weit­ge­hend un­wi­der­spro­chen in der Me­dien­ agenda ver­an­kert. Diese Rhe­to­ri­ken set­zen sich bis heute un­ge­bro­chen fort. Ins­be­son­dere die Gen­der Stu­dies wer­den in den Feuil­le­tons der Presse »als ›Ex­zess‹, als ›Ideo­lo­ gie‹ oder als ›Anti- bzw. Pseu­do­wis­sen­schaf­ten‹, die (na­tur-)wis­sen­schaft­li­che Tat­ sa­chen nicht zur Kennt­nis neh­men und uns (?) al­len ihre kru­de, rea­li­täts­fremde Ideo­lo­gie auf­zwin­gen wol­len« kri­ti­siert (Hark/Villa 2014). Warum »Gen­der« so »du­bios« ist – die­sem Phä­no­men gin­gen jüngst die Au­to­rin­nen Sa­bine Hark und Paula Villa nach und zeig­ten, dass nicht zu­letzt Sta­tus­ängste und die Ver­tei­lung von Res­sour­cen an den Uni­ver­si­tä­ten da­bei eine ge­wich­tige Rolle spie­len. Wenn es um den neuen Fe­mi­nis­mus geht, wird der ›alte‹ Fe­mi­nis­mus in Miss­ kre­dit ge­bracht. Mi­riam Geb­hardt (2012) ist eine der Vie­len, denen der ›alte‹ Fe­mi­nis­mus als eine Fo­lie für ve­he­mente Ab­gren­zung dient, etwa wenn sie den Nie­der­gang der Frau­en­be­we­gung her­auf­be­schwört. Sie kri­ti­siert die »SchwarzWeiß-Ma­le­rei des Sieb­zi­ger­jah­re-Ge­sin­nungs­fe­mi­nis­mus« (ebd.: 299) und geht da­von aus, dass en­ga­gierte Frauen heute »er­war­ten, dass eine be­stimm­te, mit den sieb­zi­ger Jah­ren iden­ti­fi­zierte Aus­prä­gung des Fe­mi­nis­mus zu den Ak­ten ge­legt wird.« (ebd.: 16) Den Grund da­für, dass die »deut­sche Frau­en­be­we­gung die Frauen ver­lor« – so der Unter­ti­tel des Bu­ches – sieht die Au­to­rin in der Fi­gur der Vor­zei­ ge-Fe­mi­nis­tin Alice Schwar­zer, die ihr als ›alte‹ Fe­mi­nis­tin, als »Pa­tri­ar­chats­fe­mi­ nis­tin« par ex­cel­lence gilt. Da­durch, dass sich die Me­dien­dis­kurse voll und ganz auf Alice Schwar­zer kon­zen­triert und sie zur Ikone der Frau­en­be­we­gung sti­li­siert ha­ben, sei die Frau­en­be­we­gung letzt­lich be­deu­tungs­los ge­wor­den. Denn junge Frauen »wol­len keine Lek­tion in Pa­tri­ar­chats­fe­mi­nis­mus mehr hö­ren, sie wün­ schen keine Be­wusst­seins­po­li­zei, son­dern Lö­sun­gen für ihre kon­kre­ten Be­lange.« (Geb­hardt 2012: 14) Und auch die Gen­der­for­schung be­kommt hier wie­der ihr Fett ab: »Heute ist die Frau­en­be­we­gung pro­gram­ma­tisch un­be­deu­tend, or­ga­ni­sa­to­risch un­sicht­bar [. . .]. In­halt­li­ches Den­ken spielt sich in aka­de­mi­schen En­kla­ven und Blogs ab [. . .]« (ebd.: 9). Und wenn neue Fe­mi­nis­tin­nen auf­ge­zählt wer­den, fin­ det sich hier keine einzige Gen­der­for­sche­rin (ebd.: 297). Da wirkt es schon fast ko­misch, wenn im Ab­schluss­ka­pi­tel des Bu­ches ge­for­dert wird: »Mehr Theo­rie wa­gen« (ebd.: 309). Trotz mei­ner Kri­tik an die­sem Buch, es wird hier ein­mal mehr deut­lich, wie groß in­zwi­schen die Kluft zwi­schen All­tags­rea­li­tä­ten und -er­fah­run­ gen und Fe­mi­nis­mus/fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie ge­wor­den ist. Ge­schlechter­dis­kurse und Me­dien­dis­kurse – das soll­ten meine Bei­spiele zei­gen – ste­hen in ei­nem stark an­ge­spann­ten Ver­hält­nis. Die Idee, fe­mi­nis­ti­sche Wis­sens­ pro­duk­tion und fe­mi­nis­ti­schen Ak­ti­vis­mus als theo­re­ti­sches Kon­zept und po­li­ ti­sche Stra­te­gie mit­ein­an­der zu ver­bin­den, scheint im Hin­blick auf die me­diale

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Öf­fent­lich­keit weit­ge­hend zu schei­tern. Die Frage ist, was schief läuft in die­ser un­glück­li­chen Li­ai­son und ob und was daran zu än­dern sein könn­te. Die De-The­ ma­ti­sie­rung fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie und Pra­xis in den Me­dien steht – das wird seit ei­ni­gen Jah­ren in der fe­mi­nis­ti­schen De­batte dis­ku­tiert (vgl. McRob­bie 2010; Fra­ ser 2009) – im Kon­text der Er­folgs­re­zepte des Neo­li­be­ra­lis­mus, die Ge­sell­schafts­ kri­tik er­schwe­ren und Fe­mi­nis­mus ge­schickt ver­ein­nah­men. Hinzu kommt auf je­ den Fall die Schwie­rig­keit, kom­plexe fe­mi­nis­ti­sche Theo­rien me­dial zu ver­mit­teln. In ei­ner Dis­kus­sion mit Jour­na­lis­tin­nen wäh­rend ei­ner von den »Fe­mi­nis­ti­schen Stu­dien« aus­ge­rich­te­ten Kon­fe­renz zum Thema ›Neuer Fe­mi­nis­mus‹ (vgl. Ca­sale et. al. 2008: 279 ff.) ging es um die Ver­mitt­lungs­kluft zwi­schen Ge­schlech­ter­for­ schung und Me­dien so­wie dar­um, fe­mi­nis­ti­sche Wis­sens­be­stände me­dial ›taug­ lich‹ zu ma­chen. Die be­tei­lig­ten Jour­na­lis­tin­nen be­ton­ten, dass es viele Frauen und ei­nige Män­ner in den Me­dien gibt, die sich für The­men der Ge­schlech­ter­ge­ rech­tig­keit en­ga­gie­ren, und sie er­mahn­ten die an­we­sen­den Wissenschaftler_innen, sich für den Trans­fer ihrer The­men und For­schun­gen stär­ker ein­zu­set­zen. Und sie for­mu­lier­ten zu­dem die kri­ti­sche Frage an die Gen­der­for­sche­rin­nen, »ob sie nicht zu sehr mit dem Auf­bau ei­nes selbst­re­fe­ren­tiel­len Sys­tems be­schäf­tigt sind, um sich in der aka­de­mi­schen Welt zu ver­or­ten, statt eine Ver­mitt­lung in an­dere ge­sell­ schaft­li­che Rea­li­tä­ten hin­zu­be­kom­men.« (Ebd.: 280) Ma­le- und Main­stream-Me­dien neh­men der­zeit nur aus­nahms­weise Im­pulse aus fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie und den Gen­der Stu­dies auf. Das ist ein Fakt. Aber der­ zeit gibt es auch ver­mehrte An­zei­chen, dass sich fe­mi­nis­ti­sche (Gegen-)Öf­fent­ lich­kei­ten neu kons­ti­tu­ie­ren. Sie or­ga­ni­sie­ren sich via Inter­net und grei­fen durch die in­ten­sive und mo­bi­li­sie­rende Nut­zung der Social Me­dia in ge­sell­schaft­li­che Dis­kus­sions­pro­zesse ein. In Blogs (z.  B. Mäd­chen­blog;1 blog fe­mi­nis­ti­sche studien2), auch in neu­eren On­line- und Print­me­dien (z. B. »Missy Ma­ga­zine«) wer­ den ak­tu­elle fe­mi­nis­ti­sche An­lie­gen for­mu­liert und ver­sucht, Ver­mitt­lungs- und Über­set­zungs­pro­zes­sen zwi­schen Theo­rie und Pra­xis Raum zu ge­ben. Das stimmt op­ti­mis­tisch. Wenn Öf­fent­lich­keit als ein Pro­zess ver­stan­den wird, in dem ein­fa­ che, mitt­lere und kom­plexe Öf­fent­lich­kei­ten inter­agie­ren, sind die mitt­le­ren, ins­ be­son­dere die (Gegen-)Öf­fent­lich­kei­ten, wich­tige Ak­teure in ge­sell­schaft­li­chen Aus­hand­lungs­pro­zes­sen (Klaus/Wi­scher­mann 2008). Me­dien kön­nen wi­der­stän­ dige und gegen­läu­fige Pro­zesse nicht völ­lig aus­blen­den, d. h. sol­che Im­pulse aus den mitt­le­ren Öf­fent­lich­kei­ten wer­den (hof­fent­lich) auch wie­der Ein­gang in die Me­dien­agenda fin­den. So kon­sta­tierte im Fe­bruar 2013 das zur ös­ter­rei­chi­schen Ta­ges­zei­tung »Der Stan­dard« ge­hö­rende On­line-Fo­rum »dieS­tan­dard«: »Die #Auf­schrei-Kam­pa­gne 1 http://ma­ed­chen­blog.blog­sport.de/ (Ab­ruf 04.02.2015) 2 http://blog.fe­mi­nis­ti­sche-stu­di­en.de/ (Ab­ruf 04.02.2015)

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[gegen Se­xis­mus; U. W.] auf Twit­ter hat ge­schafft, was her­kömm­li­chem fe­mi­nis­ ti­schen Pro­test seit Jahr­zehn­ten nicht mehr ge­lingt: frau­en­po­li­ti­sche The­men in Main­stream-Me­dien unter­zu­brin­gen. Doch ist es für die fe­mi­nis­ti­sche Sa­che über­ haupt so wich­tig, in den Me­dien vor­zu­kom­men?« Dazu be­fragt, äu­ßerte sich die Jour­na­lis­tin Si­bylle Ha­mann fol­gen­der­ma­ßen: »Alle woll­ten plötz­lich ›ganz drin­ gend‹ et­was über se­xuelle Be­läs­ti­gung. Da frage ich na­tür­lich schon erst pat­zig zu­rück: warum so drin­gend, ge­rade jetzt? Aber es war dann doch gut, dar­über zu schrei­ben, an ei­gene Er­fah­run­gen zu den­ken, dar­über zu re­den. [. . .] Wenn man ›se­xuelle Be­läs­ti­gung‹ in den letz­ten Jahr­zehn­ten als Thema vor­ge­schla­gen hat, wurde man ja eher be­lä­chelt, das ist mir auch sel­ber pas­siert. Diese Leute ha­ben ge­merkt, dass sich an All­tags­se­xis­mus nicht nur aus­ge­wie­sene Fe­mi­nis­tin­nen stö­ ren, son­dern auch ganz viele Frau­en, die sich nie­mals als sol­che be­zeich­net hät­ten. Viele Frauen sind also Fe­mi­nis­tin­nen, ohne dass sie sich so ge­nannt hät­ten.«3 Hier zeigt sich nicht zu­letzt, wie wich­tig po­li­ti­sche Ge­le­gen­heits­struk­tu­ren für fe­mi­nis­ ti­sche Inter­ven­tio­nen sind. Und wie wich­tig es ist, güns­tige Ge­le­gen­heits­struk­tu­ren ak­tiv mit­zu­ge­stal­ten! Wie kann fe­mi­nis­ti­sche Theo­rie wie­der ›pra­xis­taug­li­cher‹ wer­den? Da­bei geht es ins­be­son­dere dar­um, Gen­der­for­scher_in­nen an die Auf­gabe zu er­in­nern, die ge­sell­ schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen aus der Ge­schlechter­per­spek­tive kri­tisch zu kom­men­ tie­ren, po­li­tisch zu inter­ve­nie­ren und zu­gleich die Er­fah­run­gen der Sub­jekte wie­der stär­ker zum Aus­gangs­punkt ihrer Be­trach­tun­gen zu ma­chen. Wenn Pri­va­tes und In­ti­mes als Re­ser­voir von Er­fah­rung ge­se­hen, wenn Ir­ri­ta­tio­nen und Wi­der­spruchs­ er­fah­run­gen auf­ge­grif­fen wer­den und nach dem Un­er­war­te­ten ge­sucht wird, kann und muss, im Re­kurs auf sich ver­än­dernde Pra­xen, fe­mi­nis­ti­sches Wis­sen da­für be­reit­ge­stellt wer­den. Zu die­sem fe­mi­nis­ti­schen Pro­gramm ge­hört die Schaf­fung fe­mi­nis­ti­scher (Gegen-)Öf­fent­lich­kei­ten, die eine Brü­cke zu den me­dia­len Dis­kur­ sen bil­den und sich dem Trans­fer und der ›Über­set­zung‹ fe­mi­nis­ti­scher An­lie­gen wid­men. Eli­sa­beth Klaus, der diese Fest­schrift ge­wid­met ist, hat sich im­mer für die­ses wich­tige An­lie­gen ein­ge­setzt und es zur Mess­latte ihrer wis­sen­schaft­li­chen Arbeit ge­macht. An­mer­kung: Dieser Bei­trag stellt eine leicht über­arbei­tete und er­wei­terte Fas­sung mei­nes Auf­ sat­zes »Fe­mi­nis­mus und Me­dien – eine un­glück­li­che Li­ai­son?« (in: Fe­mi­nis­ti­sche Stu­dien 31 (1), 2013, S. 188–193) dar.

3 http://dies­tan­dard.at/1362107626641/Se­xis­mus-im-Netz-Bur­schen-es-ist-vor­bei?ref=nl (Ab­ruf 04.02.2015)

Nicht oh­ne­ein­an­der: Fe­mi­nis­mus und Me­dien – eine Be­zie­hungs­ana­lyse  |  71

Li­te­ra­tur Ca­sa­le, Ri­ta/Ger­hard, Ute/Wi­scher­mann, Ulla (Hrsg.) (2008): Neuer Fe­mi­nis­ mus? = Fe­mi­nis­ti­sche Stu­dien, 26 (2). Dorn, Thea (2006): Die neue F-Klas­se. Wie die Zu­kunft von Frauen ge­macht wird. Mün­chen: Pi­per. Fra­ser, Nancy (2009): Fe­mi­nis­mus, Ka­pi­ta­lis­mus und die List der Ge­schich­te. In: Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­nale Po­li­tik, H. 8, S. 43–57. Geb­hardt, Mi­riam (2012): Alice im Nie­mands­land. Wie die deut­sche Frau­en­be­we­ gung die Frauen ver­lor. Mün­chen: DVA. Hark, Sa­bine (Hrsg.) (2013): Was wol­len Sie noch? = Fe­mi­nis­ti­sche Stu­dien, H. 1. Hark, Sa­bine/Villa, Paula (2014): At­ta­cken auf die Ge­schlech­ter­for­schung. Das du­ biose Gen­der. On­line unter: http://www.ta­ges­spiegel.de/wis­sen/at­ta­cken-aufdie-ge­schlech­ter­for­schung-das-du­bio­se-gen­der/11128828.html (04.02.2015). Klaus, Eli­sa­beth (2008): Anti­fe­mi­nis­mus und Eli­te­fe­mi­nis­mus. Eine Inter­ven­tion. In: Fe­mi­nis­ti­sche Stu­dien 26 (2), S. 176–186. Klaus, Eli­sa­beth/Wi­scher­mann, Ulla (2008): Öf­fent­lich­keit als Mehr-Ebe­nen-Pro­ zess. Theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen und em­pi­ri­sche Be­fun­de. In: Zeit­schrift für Frau­en­for­schung und Ge­schlechter­stu­dien 26 (3–4), S. 103–116. McRob­bie, An­gela (2010): Top Girls. Fe­mi­nis­mus und der Auf­stieg des neo­li­be­ra­ len Ge­schlechter­re­gimes. Wies­ba­den: VS Ver­lag. Zas­trow, Vol­ker (2006a): »Gen­der Mains­trea­ming«. Po­li­ti­sche Ge­schlechts­um­ wand­lung. In: Frank­fur­ter All­ge­meine Zei­tung, 20.06.2006. On­line unter: http:// www.faz.net/ak­tuell/po ­li­tik/gender-mains ­trea­ming-po­li­ti­sche-ge­schlechts­um­ wand­lung-1327841.html (09.02.2015) Zas­trow, Vol­ker (2006b): »Gen­der Mains­trea­ming«. Der kleine Unter­schied. In: Frank­fur­ter All­ge­meine Zei­tung, 07.09.2006. On­line unter: http://www.faz.net/ ak­tu­ell/po­li­tik/gen­der-mains­trea­ming-der-klei­ne-unterschied-1329701.html (09.02.2015).

Strukturen und Akteur_innen

Die 68e­rin­nen – eine eigen­stän­dige Jour­na­lis­tin­nen­ge­ne­ra­tion?

Die 68e­rin­nen – eine eigen­stän­dige ­Jour­na­lis­tin­nen­ge­ne­ra­tion? Kon­tu­ren ei­nes kaum unter­such­ten For­schungs­fel­des Su­sanne Kin­ne­brock

Ein­lei­tung: 1968 – eine Ge­schichte

ohne

Frau­en?

»Ich bin eine Kämp­fe­rin und Re­bel­lin« (Klaus 2012: 113) – die­ses Dik­tum von Eli­sa­beth Klaus lässt ah­nen, dass sie den so­zia­len Be­we­gun­gen, die wir heute mit dem Jahr 1968 ver­bin­den, durch­aus nahe steht, auch wenn sie zu jung ist, um selbst der 68er-Ge­ne­ra­tion an­zu­ge­hö­ren. Diese Ge­ne­ra­tion ha­be, so liest man im­mer wie­der, viele nach­hal­tige Ver­än­de­run­gen an­ge­sto­ßen und für ei­nen Wer­ te­wan­del in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ge­sorgt. Und an­läss­lich der run­den Ju­bi­läen des Jah­res 1968 scheint sich diese Ge­ne­ra­tion im­mer aus­gie­bi­ger selbst zu fei­ern: 1968 mu­tiere all­mäh­lich »vom Er­eig­nis zum My­thos«, so der Ti­tel von In­grid Gil­cher-Hol­teys The­men­band aus dem Jahr 2008. Und auch die wis­sen­ schaft­li­che Li­te­ra­tur zum Thema 1968 ist in­zwi­schen kaum mehr zu über­bli­cken (vgl. Lau­er­mann 2009: 1). Be­zeich­nend ist al­ler­dings, dass 1968 »eine Ge­schichte ohne Frauen« (Stall­ mann 2014: 55) ge­blie­ben ist. Nur we­nige wis­sen­schaft­li­che Dar­stel­lun­gen the­ ma­ti­sie­ren ex­pli­zit den Bei­trag von Frauen zu den da­ma­li­gen Pro­tes­ten, sub­kul­ tu­rel­len Dy­na­mi­ken und dar­aus re­sul­tie­ren­den so­zia­len Be­we­gun­gen. Frei­lich, im Zu­sam­men­hang mit der Ent­wick­lung der auto­no­men Frau­en­be­we­gung, die zu Tei­len auf eine Ab­spal­tung von Frauen aus dem So­zia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­ den­ten­bund (SDS) zu­rück­geht, wer­den Frauen er­wähnt. Doch ist auch die ›neue‹ Frau­en­be­we­gung der 1970er Jahre nach wie vor un­zu­rei­chend er­forscht. Ob­gleich die Ak­ti­vis­tin­nen ihre Tä­tig­keit ver­gleichs­weise früh do­ku­men­tiert ha­ben, so dass Ma­te­rial durch­aus vor­han­den ist, fehlt es nach wie vor an quel­len­ge­sät­tig­ten und wis­sen­schaft­lich-kri­ti­schen Dar­stel­lun­gen (vgl. Zell­mer 2011: 6). Das Des­in­ter­esse am Bei­trag von Frauen zu den Er­eig­nis­sen rund um 1968 und die un­zu­rei­chende Er­for­schung der ›neuen‹ Frau­en­be­we­gung sei­tens der Ge­ schichts­wis­sen­schaft wird ge­spie­gelt von ei­ner sys­te­ma­ti­schen Aus­blen­dung von

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Frauen aus der Be­rufs­ge­schichte des Jour­na­lis­mus, zu­min­dest aus der, die die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft nor­ma­ler­weise zeich­net (vgl. kri­tisch dazu Kin­ne­ brock/Klaus 2013). Eli­sa­beth Klaus ist eine der we­ni­gen Kom­mu­ni­ka­tions­wis­ sen­schaft­le­rin­nen, die dem mit sub­stan­ziel­len Pu­bli­ka­tio­nen ent­gegen­ge­wirkt hat (vgl. z. B. Klaus 1993; Klaus 2002; Klaus/Wi­scher­mann 2013). Da­bei ist sie be­vor­zugt kol­lek­tiv­bio­gra­phisch vor­ge­gan­gen. So nä­hert sich auch ihre jüngste Mono­gra­phie, die sie 2013 mit Ulla Wi­scher­mann her­aus­ge­bracht hat, der Be­ rufs­ge­schichte der Jour­na­lis­tin­nen zu­nächst bio­gra­phisch. Be­mer­kens­wer­ter­weise wird dort nur die Ge­ne­ra­tion der 1968e­rin­nen nicht kol­lek­tiv­bio­gra­phisch, son­ dern mithilfe ei­ner Ana­lyse al­ter­na­ti­ver Frau­en­me­dien an­ge­gan­gen. Dies mag ei­ner­seits dem oben kon­sta­tier­ten Feh­len pro­fun­der wis­sen­schaft­li­cher Ab­hand­ lun­gen zu den 1968e­rin­nen und zur neuen Frau­en­be­we­gung ge­schul­det sein. Be­grün­det wird dies von Eli­sa­beth Klaus und Ulla Wi­scher­mann aber auch mit der Wich­tig­keit von (Re­dak­tions-)kol­lek­ti­ven in den 1970er Jah­ren (vgl. Klaus/ Wischer­mann 2013: 303). Ohne die Be­deu­tung der Kol­lek­tive für den (al­ter­na­ ti­ven) Jour­na­lis­mus der spä­ten 1960er, 1970er und frü­hen 1980er Jahre in­frage stel­len zu wol­len, ha­ben ei­nige der Frau­en, die in die­ser Zeit jour­na­lis­tisch ak­ tiv wur­den, in­zwi­schen be­acht­li­che Kar­rie­ren ge­macht und diese in den letz­ten Jah­ren in Me­moiren­li­te­ra­tur auf­ge­arbei­tet (z.  B. Luc Joch­im­sen oder Wiebke Bruhns). Dies möchte ich zum An­lass neh­men, Jour­na­lis­tin­nen der 68er-Ge­ne­ra­ tion nä­her zu be­trach­ten und die Frage auf­zu­wer­fen, in­wie­weit es eine Ge­ne­ra­tion der 68e­rin­nen auch im Jour­na­lis­mus gibt und wo­durch sie sich aus­zeich­net. Bei mei­ner Ana­lyse der Li­te­ra­tur- und Quel­len­lage will ich v.  a. auf Ego­do­ku­mente ein­ge­hen, de­ren Nut­zen für die his­to­ri­sche Be­rufs­for­schung jüngst her­aus­ge­stellt wurde (vgl. Kinne­brock et al. 2014).

His­to­ri­sche Hin­ter­grün­de: 1968 und die neue Frau­en­be­we­gung Die »glo­bale Ju­gend­re­volte« (Frei 2008) der aus­ge­hen­den 1960er Jahre er­reichte auch die junge Bun­des­re­pu­blik. Die Au­ßer­par­la­men­ta­ri­sche Op­po­si­tion (APO) und ihr Kern, der SDS, pro­tes­tier­ten gegen Viet­nam­krieg, Not­stands­ge­setz­ge­bung und ›Or­di­na­rien­uni­ver­si­tät‹; die Kom­mune 1 prak­ti­zierte neue Le­bens­for­men; und mit den töd­li­chen Schüs­sen auf den Demons­tran­ten Benno Oh­ne­sorg 1967 und dem At­ten­tat auf Rudi Dutschke 1968 wurde eine Phase der es­ka­lie­ren­den Ge­ walt ein­ge­lei­tet. Wäh­rend die Pro­teste der APO mit der Ver­ab­schie­dung der Not­ stands­ge­setze noch im Jahr 1968 ab­ebb­ten und der SDS sich 1970 schließ­lich ganz auf­lös­te, ra­di­ka­li­sier­ten sich Teile der 68er Be­we­gung. Die Ak­tio­nen der Baa­derMein­hof-Gruppe und die RAF-Ter­ror­an­schläge der 1970er Jahre ha­ben sich tief ins kol­lek­tive Ge­dächt­nis der Bun­des­re­pu­blik ein­ge­prägt.

Die 68e­rin­nen – eine eigen­stän­dige Jour­na­lis­tin­nen­ge­ne­ra­tion?  |  77

In der Per­son von Ul­rike Mein­hof kris­tal­li­siert sich nicht nur die Ra­di­ka­li­sie­ rung von Tei­len der 68er Be­we­gung, son­dern ebenso ihre me­diale Prä­senz: Die Ju­ gend­re­volte er­folgte zum gro­ßen Teil auf me­dia­lem We­ge. Wäh­rend Ul­rike Mein­ hof sie als Jour­na­lis­tin über­wie­gend in eta­blier­ten Me­dien be­glei­tete (vgl. Klaus/ Wi­scher­mann 2013: 289–295), ent­wi­ckel­ten die Pro­tes­tie­ren­den zahl­rei­che neue, auf Mas­sen­me­dien ge­rich­tete For­men des Pro­tests und schu­fen sich zu­neh­mend ihre ei­ge­nen Al­ter­na­tiv­me­dien (vgl. Fah­len­brach 2007; Klim­ke/Schar­loth 2007). Ein Zu­sam­men­spiel von krea­ti­ver Pro­test­in­sze­nie­rung und kri­ti­schem Jour­na­ lis­mus kenn­zeich­net auch die An­fänge der sogenannten ›neuen‹, auto­no­men oder auch zwei­ten Frau­en­be­we­gung in Deutsch­land (vgl. Ger­hard 2008). Als auf der Frank­fur­ter SDS-De­le­gier­ten­kon­fe­renz der Bei­trag der spä­te­ren Fil­me­ma­che­rin Helke San­der nicht wei­ter dis­ku­tiert wer­den sollte – sie hatte über die Ta­bui­sie­ rung der Aus­beu­tung von Frauen im Pri­vat­le­ben ge­spro­chen –, pro­tes­tierte die hoch­schwan­gere Ber­li­ner Stu­den­tin Si­grid Rüger mit dem in­zwi­schen le­gen­dä­ren To­ma­ten­wurf (vgl. Notz 2004: 124–130). Mut­maß­lich wäre die­ser Pro­test­ak­tion gar nicht so viel öf­fent­li­che Auf­merk­sam­keit ge­schenkt wor­den, hätte nicht Ul­rike Mein­hof, da­mals Star­ko­lum­nis­tin der lin­ken Zeit­schrift Kon­kret, sie auf­ge­grif­fen. Sie kom­men­tier­te: »Der Kon­flikt, der in Frank­furt nach ich weiß nicht wie vie­len Jahr­zehn­ten wie­der öf­fent­lich ge­wor­den ist – wenn er es so de­zi­diert über­haupt schon je­mals war –, ist kein er­fun­de­ner, kei­ner zu dem man sich so oder so ver­hal­ ten kann, kein an­ge­le­se­ner; den kennt, wer Fa­mi­lie hat, aus­wen­dig, nur dass diese Pri­vat­sa­che keine Pri­vat­sa­che ist.« (Mein­hof in Kon­kret 12/1968, zit. n. Notz 2004: 128). Das Dik­tum »Das Pri­vate ist po­li­tisch« stand also auch am An­fang der neuen Frau­en­be­we­gung, die sich mit der Grün­dung des »Frank­fur­ter Wei­ber­rats« im Sep­ tem­ber 1968 und vie­ler wei­te­rer Ak­tions­grup­pen all­mäh­lich ei­ge­ne, d. h. vom SDS un­ab­hän­gige (Netz­werk-)Struk­tu­ren schuf (vgl. Lenz 2010: 11 ff.). Als Blü­te­zeit der neuen Frau­en­be­we­gung gel­ten die 1970er Jah­re, in denen sie viel­fäl­tige Ak­ti­vi­tä­ten ent­fach­te. Zu­nächst schu­fen sich die Frau­en­netz­werke ei­gene teil­öf­fent­li­che Räu­me, um Be­wusst­wer­dungs­pro­zesse zu er­mög­li­chen. Die Grün­dung von Frau­en­ca­fés und Frau­en­buch­lä­den, aber auch von Frau­en­ver­la­gen und fe­mi­nis­ti­schen Zeit­schrif­ten wie Cou­rage (1976) und Emma (1977) dien­ten die­sem Ziel. Ebenso wur­den me­dien­wirk­same Kam­pa­gnen ge­star­tet, die u. a. gegen den Ab­trei­bungs­pa­ra­gra­phen 218 StGB pro­tes­tier­ten, Lohn für Haus­arbeit ver­ lang­ten und vor al­lem Ge­walt gegen Frauen skan­da­li­sier­ten. Ein­her mit die­sen In­itia­ti­ven, die pri­mär auf Be­wusst­wer­dungs­pro­zesse und die öf­fent­li­che Ar­ti­ku­ la­tion ver­meint­lich pri­va­ter An­lie­gen ziel­ten, gin­gen sol­che, die auf die Eta­blie­ rung von – frei­lich auto­nom ge­führ­ten – Ein­rich­tun­gen ab­stell­ten, seien es nun re­gel­mä­ßige Som­mer­uni­ver­si­tä­ten oder Frau­en­häu­ser. Ohne hier die Viel­falt der Rich­tun­gen und Ak­tio­nen der neuen Frau­en­be­we­gung ab­bil­den zu kön­nen (siehe dazu Notz 2004; Ger­hard 2008; Lenz 2010; Zell­mer 2011), stell­ten sie doch ei­nen Rah­men dar, in­ner­halb des­sen die Zeit­ge­nos­sin­nen und Zeit­ge­nos­sen agier­ten. Und

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diese neu­ar­tige Mo­bi­li­sie­rung grö­ßer wer­den­der Teile der Frau­en­welt ebenso wie die öf­fent­li­che The­ma­ti­sie­rung von Frau­en­an­lie­gen gin­gen auch an Jour­na­lis­tin­nen und ihrer täg­li­chen Arbeit nicht spur­los vor­bei, was sich z. B. an der Her­aus­bil­dung von Frau­en­grup­pen in Me­dien­häu­sern zeigt (vgl. Klaus 1998: 151–152).

Die 68er-Ge­ne­ra­tion im bund ­ esd ­ euts ­ chen Jour­na­lis­mus Auch der bun­des­deut­sche Jour­na­lis­mus in sei­ner Ge­samt­heit blieb von den ›Ideen von 1968‹ nicht un­be­ein­flusst, wo­bei eine ge­samt­ge­sell­schaft­li­che Po­li­ti­sie­rung so­wie Po­la­ri­sie­rungs­ten­den­zen in Me­dien und Be­völ­ke­rung schon vor dem Jahr 1968 er­kenn­bar wa­ren (vgl. Schildt 2001). Mit Ver­weis auf die (Auf­la­gen-)Er­folge »zeit­kri­ti­scher« Zeit­schrif­ten (wie bei­spiels­weise Der Spie­gel oder Die Zeit) und die Blü­te­zeit po­li­ti­scher Fern­seh­ma­ga­zine (wie bei­spiels­weise Pan­orama) re­sü­ miert Chris­tina von Ho­den­berg (2006a: 144): »Um die Mitte der Sech­zi­ger hatte sich mit­hin be­reits ein neu­ar­ti­ger, kri­ti­scher Jour­na­lis­mus durch­ge­setzt, und zwar bei der Mehr­heit der Me­dien­ma­cher wie des Pu­bli­kums.« Das be­deu­tet frei­lich auch, dass es we­ni­ger die AktivistInnen im Ge­folge des SDS oder der auf­kom­ men­den Frau­en­be­we­gung wa­ren, die die »Zeit­kri­tik« po­pu­lär ge­macht hat­ten, als viel­mehr eine Vor­gän­ger­ge­ne­ra­tion im Jour­na­lis­mus, die sich im Laufe der 1960er Jahre gegen den Kon­sens­jour­na­lis­mus der 1950er Jahre ge­wandt und sich so be­ruf­ lich pro­fil­iert hatte (siehe aus­führ­lich Ho­den­berg 2006b: 293–360). Chris­tina von Ho­den­berg hat das Ge­ne­ra­tio­nen­kon­zept auf die bun­des­deut­sche Jour­na­lis­mus­ge­schichte an­ge­wandt und da­bei zwi­schen der Vor­gän­ger­ge­ne­ra­tion der »45er« und der tat­säch­li­chen »68er-Ge­ne­ra­tion« unter­schie­den. Mit Re­kurs auf Pierre Bour­dieu, Karl Mann­heim und Hel­mut Fogt ver­steht sie unter ei­ner Ge­ne­ ra­tion we­ni­ger eine klar be­stimm­bare Ge­burts­ko­horte als viel­mehr eine po­li­ti­sche Ge­ne­ra­tion. An­ge­hö­rige ei­ner po­li­ti­schen Ge­ne­ra­tion tei­len eine tiefgreifende his­ to­risch-kul­tu­relle Er­fah­rung, die sie als Ju­gend­li­che bzw. junge Er­wach­sene ge­ macht ha­ben, und sie deu­ten diese ähn­lich. D. h. ge­mein­same Inter­pre­ta­tions­mus­ ter kenn­zeich­nen eine po­li­ti­sche Ge­ne­ra­tio­nen (vgl. Ho­den­berg 2006b: 28–29). Für die 45er-Ge­ne­ra­tion stell­ten bei­spiels­weise das Kriegs­ende und der de­mo­ kra­ti­sche Wie­der­auf­bau zen­trale Er­fah­run­gen dar. Die Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­ mus hat­ten diese in den spä­ten 1920er und frü­hen 1930er Jah­ren ge­bo­re­nen Per­so­ nen schon be­wusst, aber eben noch als Ju­gend­li­che er­lebt. Große Wert­schät­zung für die De­mo­kra­tie und Skep­sis gegen­über sol­chen Äl­te­ren, die schon zu Zei­ten des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus jour­na­lis­tisch tä­tig ge­we­sen wa­ren, kenn­zeich­ne­ten dann diese JournalistInnengeneration und lie­ßen sie auf Dis­tanz zu ei­nem un­kri­ti­schen, stets um Kon­sens be­müh­ten Jour­na­lis­mus ge­hen, der v. a. die 1950er Jahre prägte (siehe Ho­den­berg 2006b: 245–292).

Die 68e­rin­nen – eine eigen­stän­dige Jour­na­lis­tin­nen­ge­ne­ra­tion?  |  79

Die Fol­ge­ge­ne­ra­tion im Jour­na­lis­mus, die 68er-Ge­ne­ra­tion, war hin­gegen vor al­lem durch die Pro­test­jahre ge­prägt (vgl. Ho­den­berg 2006b: 362). Viele JournalistInnen die­ser Ge­ne­ra­tion hat­ten in den 1960er Jah­ren an den Uni­ver­si­tä­ten Geis­tes- und So­zial­wis­sen­schaf­ten stu­diert, also jene Fä­cher, die von der Stu­die­ ren­den­re­volte be­son­ders er­fasst wur­den. Und wäh­rend ihrer Stu­dien­zeit hat­ten sie po­li­ti­sches Sen­dungs­be­wusst­sein ent­wi­ckelt (vgl. Ho­den­berg 2006a: 145). Al­ler­ dings sollte die 68er-Ge­ne­ra­tion nicht mit der deut­lich klei­ne­ren Gruppe von pro­ test­be­weg­ten JournalistInnen im Ge­folge des SDS gleich­ge­setzt wer­den. Viel­mehr ten­dier­ten große Teile der in der zwei­ten Hälfte der 1930er und in den 1940er Jah­ren ge­bo­re­nen JournalistInnen da­zu, sich als »pro­gres­siv« und ihre Arbeit als po­li­tisch mo­ti­viert zu ver­ste­hen (vgl. Ho­den­berg 2006a: 146–147; siehe auch die ähn­li­chen Re­sul­tate zur Ge­ne­ra­tion der Jahr­gänge 1936 bis 1950 bei Eh­mig 2000: 128–162). Chris­tina von Ho­den­berg re­sü­miert das, was diese 68er-JournalistInnengeneration da­mals be­schäf­tig­te, wie folgt: »die Ab­leh­nung der Me­dien­struk­tu­ren, die Rolle als ›Arbei­ter‹ in den Me­dien, der für ein unter­drück­tes pro­le­ta­ri­sches Pu­bli­kum wir­ke; der Wi­der­spruch zur ei­ge­nen bür­ger­li­chen Her­kunft; die Su­che nach der Be­tei­li­gung des Pu­bli­kums und nach Ele­men­ten der Phan­ ta­sie und Spon­ta­nei­tät; das Miss­trauen gegen­über Bü­ro­kra­tie und Hier­ar­chie im Be­trieb.« (Hoden­berg 2006a: 150)

Der »en­ga­gierte Jour­na­lis­mus« der 68er-Ge­ne­ra­tion wid­mete sich neuen The­men mit neuen Me­tho­den der Be­richt­er­stat­tung: »Die ge­stei­gerte Be­schäf­ti­gung mit so­ zial­kri­ti­schen The­men und die (oft recht kurz­le­bi­gen) Ex­pe­ri­mente der of­fen­si­ven Po­li­ti­sie­rung unter­hal­ten­der Spar­ten gin­gen auf die ›68er‹ zu­rück.« (Ho­den­berg 2006a: 157). Al­ler­dings gibt Chris­tina von Ho­den­berg auch zu be­den­ken, dass der Wan­del in den west­deut­schen Mas­sen­me­dien v. a. dem Zu­sam­men­spiel zweier Ge­ne­ra­tio­nen ge­schul­det war: »Sol­che Vor­stöße wur­den nur pra­xis­wirk­sam, weil sich die Ziele der jun­gen Jour­na­lis­ten in vie­lem mit denen der Vor­gän­ger­ge­ne­ra­tion deck­ten. Wo­für viele ›45er‹ seit Ende der fünf­zi­ger Jahre ge­arbei­tet hat­ten – eine kri­ti­sche, brei­ten­wirk­ same Be­richt­er­stat­tung über Re­gie­rungs­po­li­tik und ge­sell­schaft­li­che Miss­stände –, wurde nun wei­ter vor­an­ge­trie­ben.« (Ho­den­berg 2006a: 157)

Die 68e­rin­nen-Ge­ne­ra­tion im bund ­ esd ­ euts ­ chen Journ ­ a­lis­mus Bei ge­nau­erer Be­trach­tung der ge­ne­ra­tio­nen­spe­zi­fi­schen Be­funde zu den ›68ern‹ von Chris­tina von Ho­den­berg, die sich in ihrer Stu­die pri­mär auf die Jahr­gänge 1936 bis 1948 be­zieht (2006a: 146), aber auch von Si­mone Eh­mig, die in ihrer JournalistInnenbefragung Er­geb­nisse für die Jahr­gänge 1936 bis 1950 se­

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pa­rat aus­ge­wie­sen hat, fällt Fol­gen­des auf: Die Er­geb­nisse wer­den nicht nach Ge­schlech­tern ge­trennt dar­ge­stellt. Das dürfte zu­nächst daran lie­gen, dass der Frau­en­an­teil in der 68er-Jour­na­lis­tIn­nen­ge­ne­ra­tion sehr ge­ring war, so dass aus den Daten bzw. Quel­len wohl kaum wei­ter­rei­chende Schlüsse ge­zo­gen wer­den konn­ten: Eh­mig (2000: 358) kommt in ihrem Sample auf acht  Pro­zent Frau­en, Ho­den­berg (2006b: 501–507) weist in ihrer his­to­risch an­ge­leg­ten Stu­die zwar keine Ge­schlech­ter­ver­hält­nisse in  Pro­zent­an­ga­ben aus, die Vor­na­men in ihrem um­fang­rei­chen Per­so­nen­ver­zeich­nis las­sen aber ebenso auf ei­nen mar­gi­na­len Frau­en­an­teil schlie­ßen. Des­halb ist die Frage durch­aus an­ge­bracht, in­wie­weit Be­fun­de, die für männ­li­ che Jour­na­lis­ten der 68er-Ge­ne­ra­tion zu­tref­fend sein mö­gen, tat­säch­lich auf Jour­ na­lis­tin­nen in ähn­li­chem Al­ter zu über­tra­gen sind? Und noch wei­ter­ge­hend kann in­frage ge­stellt wer­den, ob Frauen der in der his­to­ri­schen Be­rufs­for­schung iden­ti­ fi­zier­ten 68er-Jour­na­lis­ten­ge­ne­ra­tion über­haupt an­ge­hö­ren, schließ­lich ba­siert die Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­ner Ge­ne­ra­tion ja auf ge­mein­sa­men Er­fah­run­gen und ähn­li­chen Deu­tungs­mus­tern. Tei­len die Jour­na­lis­tin­nen der spä­te­ren 1930er, 1940er und viel­ leicht auch frü­hen 1950er Jahr­gänge tat­säch­lich die Er­fah­run­gen, die ihre männ­li­ chen Kol­le­gen in for­ma­ti­ven Le­bens­pha­sen mach­ten? Oder wa­ren für Frauen an­ dere Er­fah­run­gen und Deu­tungs­mus­ter prä­gend, so dass die 68erin­nen eine se­pa­rat zu be­trach­tende Ge­ne­ra­tion dar­stel­len? Chris­tina von Ho­den­berg hat am An­fang ihrer groß an­ge­leg­ten Stu­die auf die­ ses Pro­blem hin­ge­wie­sen, ohne ihm al­ler­dings in ihren Ana­ly­sen wei­ter nach­zu­ ge­hen. Sie stellt fest, dass po­li­ti­sche Ge­ne­ra­tio­nen sel­ten Phä­no­mene ge­samt­ge­ sell­schaft­li­cher Reich­weite dar­stel­len, son­dern sich zum ei­nen nur auf Teile ei­ner Ge­sell­schaft (wie bei­spiels­weise auf Be­rufs­grup­pen) be­zie­hen und zum an­de­ren so­zia­li­sa­tions­ge­prägt sind: »Auch da­her kön­nen die zen­tra­len Inter­pre­ta­tio­nen und Hand­lungs­mus­ter ei­ner Ge­ne­ra­tion über­wie­gend männ­lich oder weib­lich ge­prägt sein und die Al­ters­ge­nos­sen des an­de­ren Ge­schlechts eher aus- als ein­schlie­ßen.« (Ho­den­berg 2006b: 29). Auf­grund des gro­ßen Über­hangs männ­li­cher Stu­die­ren­der im SDS und des be­wuss­ten Schaf­fens rei­ner Frau­en­räume im Zuge der auto­no­ men Frau­en­be­we­gung der 1970er Jah­re, ist es durch­aus plau­si­bel, dass sich die Er­ fah­run­gen von Frauen und Män­nern die­ser Al­ters­ko­horte deut­lich unter­schie­den. Ebenso ist da­von aus­zu­ge­hen, dass sich die Er­fah­run­gen von Jour­na­lis­tin­nen je nach Be­rufs­feld stark va­ri­ier­ten. Li­te­ra­tur und Quel­len­lage Um zen­trale Er­fah­run­gen und Deu­tungs­mus­ter zu iden­ti­fi­zie­ren, bie­ten sich als Quel­len zum ei­nen zeit­ge­nös­si­sche Me­dien­bei­träge an, zum an­de­ren Ego-Do­ku­ men­te, zu denen auch Auto­bio­gra­phien zäh­len (vgl. Ho­den­berg 2006b: 29; Kin­ne­ brock et al. 2014). Ba­sie­rend auf die­sen bei­den Quel­len­ty­pen ent­ste­hen – im Ideal­

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fall – fun­dierte und um­fang­rei­che kom­mu­ni­ka­tions­his­to­ri­sche Ein­zel­bio­gra­phien (vgl. Beh­mer/Kin­ne­brock 2009). Mit Blick auf die – hier jahr­gangs­mä­ßig et­was wei­ter ge­fasste – Ge­ne­ra­tion der 68e­rin­nen im Jour­na­lis­mus ist bis­lang vor al­lem das Le­ben von Ul­rike Mein­hof (1934–1976) um­fang­reich er­forscht wor­den (vgl. z. B. Aust 1985; Röhl 2006; We­ se­mann 2007; Dit­furth 2007), was mut­maß­lich aber eher mit ihrem Sta­tus als »Ikone und Mär­ty­rer­fi­gur der Lin­ken« (Ko­enen 2002: 336) zu­sam­men­hängt als mit ihrem pu­bli­zis­ti­schen Werk. Dies mag zu­dem den Über­hang an po­pu­lär­wis­sen­schaft­li­chen oder gar ha­gio­gra­phi­schen Bio­gra­phien er­klä­ren. Und Ähn­li­ches gilt auch für Alice Schwar­zer (*1942), die ak­tu­ell von Mas­sen­me­dien gerne als »Ikone der Frau­en­ be­we­gung« be­schrie­ben wird (vgl. Wi­scher­mann in die­sem Band). Auch hier sind ver­schie­dene po­pu­läre Bio­gra­phien ent­stan­den, die aber eher der Be­wer­tung von Alice Schwarzers Rolle in Frau­en­be­we­gung und Öf­fent­lich­keit die­nen – po­si­tiv oder ne­ga­tiv – denn ei­ner pro­fun­den wis­sen­schaft­lich-bio­gra­phi­schen Auf­arbei­tung ihres Le­bens (z. B. Geb­hardt 2012; Dün­ne­bier/Pac­zensky 1998; Mika 1998). Sieht man al­ler­dings von Ul­rike Mein­hof und Alice Schwar­zer ein­mal ab, so sind die Jour­na­lis­tin­nen der 68er-Ge­ne­ra­tion ein­zel­bio­gra­phisch kaum er­forscht. Da­bei ha­ben zahl­rei­che Jour­na­lis­tin­nen die­ser Ge­ne­ra­tion in jüngs­ter Zeit ihre Me­ moiren ver­öf­fent­licht. Das gilt zu­nächst für be­kann­tere Fern­seh­jour­na­lis­tin­nen, die im öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funk Kar­riere mach­ten, wie die erste Nach­rich­ ten­spre­che­rin im bun­des­deut­schen Fern­se­hen Wiebke Bruhns (*1938), die frü­ here ARD-Kor­re­spon­den­tin in Mos­kau Ga­briele Kro­ne-Schmalz (*1949) und die ehe­ma­lige Chef­re­dak­teu­rin des Hes­si­schen Rund­funks Luc Joch­im­sen (*1936) (Bruns 2012; Kro­ne-Schmalz 2009; Joch­im­sen 2014). Me­moiren lie­gen auch vor von Print­jour­na­lis­tin­nen wie Heli Ih­le­feld (*1935) und Cor­ne­lie Sonn­tag-Wol­gast (*1942), die als Grenz­gän­ge­rinn­nen zur Po­li­tik ein­zu­ord­nen sind, weil sie im Laufe ihres ak­ti­ven Be­rufs­le­bens in die Par­tei­po­li­tik wech­sel­ten und schließ­lich den Weg durch die In­stan­zen in der SPD an­tra­ten (Ih­le­feld 2008; Sonn­tag-Wol­gast 2008). Als Ge­le­gen­heits­jour­na­lis­tin­nen sind sol­che Frauen ein­zu­stu­fen, die sich selbst pri­mär als Teil der 68er Be­we­gung bzw. ihrer ver­schie­de­nen Fol­ge­be­we­gun­ gen sa­hen, aber den­noch pu­bli­zis­tisch re­gel­mä­ßig tä­tig wa­ren. Gret­chen Dutsch­ ke-Klotz (*1942), die Ehe­frau Rudi Dutsch­kes, hat ebenso Me­moiren ver­fasst wie die ehe­ma­lige Prot­ago­nis­tin des lin­ken Flü­gels der Grü­nen Jutta Dit­furth (*1951); und von der deutsch-schwe­di­schen Schau­spie­le­rin und Pu­bli­zis­tin Peggy Par­nass (*1934) gibt es so­gar meh­rere auto­bio­gra­phi­sche Schrif­ten (Dutsch­ke-Klotz 1996; Dit­furth 2002; Par­nass 1983, 1986, 1993, 2000). Schließ­lich ha­ben auch Unter­hal­ tungs­jour­na­lis­tin­nen, die man auf den ers­ten Blick nicht in Ver­bin­dun­gen mit 1968 brin­gen wür­de, auto­bio­gra­phi­sche Schrif­ten ver­fasst, die durch­aus Spu­ren des da­ ma­li­gen Ge­dan­ken­guts auf­wei­sen – z.  B. die TV-Mo­de­ra­to­rin Pe­tra Schür­mann (1933–2010) oder die in Zü­rich tä­tige Klatsch­ko­lum­nis­tin Hil­de­gard Schwa­nin­ger (*1952) (Schür­mann 2002; Schwa­nin­ger 2012).

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Erste vor­läu­fige Be­funde Der ge­rade ge­tä­tigte Ver­such, aus der vor­han­de­nen Me­moiren­li­te­ra­tur vier Grup­ pen von 68er-Jour­na­lis­tin­nen ent­lang be­ruf­li­cher Po­si­tio­nie­run­gen ab­zu­lei­ten – ers­tens be­kann­tere Fern­seh­jour­na­lis­tin­nen, zwei­tens Grenz­gän­ge­rin­nen zur Po­li­tik, drit­tens Ge­le­gen­heits­jour­na­lis­tin­nen und vier­tens Unter­hal­tungs­jour­na­lis­tin­nen –, ist frei­lich ge­wagt. Denn er orien­tiert sich zu­nächst an ex­po­nier­ten Pu­bli­zis­tin­nen, die für ihre Le­bens­er­in­ne­run­gen auch ei­nen Ver­lag fan­den (dies dürfte we­ni­ger be­kann­ten Jour­na­lis­tin­nen sehr viel schwe­rer fal­len). Des­halb sollte ein Schluss von den Er­fah­run­gen ex­po­nier­ter Pu­bli­zis­tin­nen auf die­je­ni­gen des Main­streams kei­nes­falls vor­schnell, son­dern nur mit gro­ßer Sorg­falt und Vor­sicht er­fol­gen. Wei­ ter­hin wächst die Zahl der Auto­bio­gra­phien und Me­moiren von Jour­na­lis­tin­nen noch, so dass neue Jour­na­lis­tin­nen­grup­pen hin­zu­kom­men kön­nen. Das ak­tu­elle Ras­ter dient also pri­mär als vor­läu­fige Heu­ris­tik. Die Iden­ti­fi­ka­tion von min­des­tens vier Grup­pen deu­tet schon an, wie viel­ge­ stal­tig die jour­na­lis­ti­schen Tä­tig­kei­ten von Frauen der 68er-Ge­ne­ra­tion wa­ren. Doch so unter­schied­lich sie ihre in­di­vi­du­el­len Er­leb­nisse der 1960er und 1970er Jahre in ihren Le­bens­er­in­ne­run­gen auch schildern, so bleibt eine Be­zug­nahme auf die Chif­fre 1968 und die Frau­en­eman­zi­pa­tion doch et­was, was alle tei­len. Selbst die der Ju­gend­re­volte und der Frau­en­be­we­gung im Nach­hi­nein eher dis­tan­ziert gegen­über­ste­hende Wiebke Bruhns be­zeich­nete sich in ihren Me­moiren als »ge­ übte 68e­rin« (2012: 117) und ebenso hielt die stets als da­men­haft und kon­ser­va­tiv gel­tende Pe­tra Schür­mann fest: »Ich hatte mir per­sön­lich die Frei­hei­ten und Wün­ sche er­füllt, für die die 68er auf die Straße gin­gen.« (Schür­mann 2002: 29) Wie neh­men Auto­bio­gra­phien und Me­moiren nun kon­kret Be­zug auf 1968 und die Frau­en­eman­zi­pa­tion? Zu­nächst ein­mal wird das Motto der neuen Frau­en­be­ we­gung »Das Pri­vate ist po­li­tisch!« in­so­fern auf­ge­grif­fen, als tat­säch­lich viele pri­vate Er­leb­nisse ge­schil­dert wer­den: Ob es sich nun um Kind­heits­trau­mata han­ delt wie v. a. bei Peggy Par­nass, um Be­nach­tei­li­gungs­er­fah­run­gen als Mäd­chen, um Lieb­schaf­ten, Be­zie­hungs­pro­ble­me, Ab­trei­bun­gen, un­ehe­li­che Mut­ter­schaf­ten oder Schwie­rig­kei­ten bei der Kin­der­be­treu­ung (vgl. Dutsch­ke-Klotz 1996; Dit­furth 2002; Schür­mann 2002; Ih­le­feld 2008; Schwa­nin­ger 2012, Joch­im­sen 2014;), es wer­den sehr per­sön­li­che Er­fah­run­gen be­schrie­ben, die im­mer wie­der auf Schwie­ rig­kei­ten beim Ent­wi­ckeln neuer Ge­schlech­ter­iden­ti­tä­ten und Rol­len­ver­tei­lun­gen hin­deu­ten. Nicht ohne Grund dürfte Hil­de­gard Schwa­nin­ger ihren Er­in­ne­run­gen den Ti­tel »Ich wollt, ich wär ein Mann« ge­ge­ben ha­ben. Mit dem tra­dier­ten Frau­ en­leit­bild hat­ten die 68er-Jour­na­lis­tin­nen be­reits ge­bro­chen und sie stell­ten pri­ vat wie be­ruf­lich die klas­si­schen Rol­len­auf­tei­lun­gen in­fra­ge. Dies be­deu­tete aber auch, zahl­rei­che Kon­flikte durch­zu­ste­hen. Ob­gleich sich die Le­bens­auf­zeich­nun­gen der 68e­rin­nen hin­sicht­lich des Aus­ ma­ßes und der De­tail­liert­heit pri­va­ter Er­leb­nis- und Kon­flikt­schil­de­run­gen unter­

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schei­den (bei­spiels­weise stel­len die be­kann­ten Fern­seh­jour­na­lis­tin­nen Wiebke Bruns und Ga­briele Kro­ne-Schmalz ihren Be­rufs­weg und ihre po­li­ti­schen Be­ob­ ach­tun­gen stär­ker in den Mit­tel­punkt), so bleibt doch ei­nes be­mer­kens­wert: In der Zu­sam­men­schau unter­schei­den sich die Er­in­ne­run­gen der 68er-Jour­na­lis­tin­nen deut­lich von denen ihrer männ­li­chen Kol­le­gen, die ihre Rolle als »Zeu­gen des po­li­ti­schen Zeit­ge­sche­hens« viel stär­ker ak­zen­tu­ie­ren (vgl. Lang­en­bu­cher 2009: 232 f.; siehe auch Wilke 2011: 90 f.; Wilke 2008: 173 f.). Mit Blick auf die ver­ schie­de­nen Gat­tun­gen auto­bio­gra­phi­scher Li­te­ra­tur lässt sich fest­hal­ten, dass die 68er-Jour­na­lis­tin­nen in ihren Le­bens­auf­zeich­nun­gen stär­ker zu (per­sön­lich ge­färb­ ten) Auto­bio­gra­phien, we­ni­ger zu (Zeit­zeu­gen-)Me­moiren ten­die­ren. Pri­va­tes, al­ler­dings mit ge­sell­schaft­li­cher Re­le­vanz, durch­zieht auch die All­ tags­arbeit der Jour­na­lis­tin­nen bzw. Pu­bli­zis­tin­nen die­ser Ge­ne­ra­tion. Dies gilt vor al­lem für ihre Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit dem Thema Frau­en­eman­zi­pa­tion. Es scheint die in­tel­lek­tuel­len wie be­ruf­li­chen Wer­de­gänge der 68er-Jour­na­lis­tin­nen stark be­ein­flusst zu ha­ben. Ob aus ei­ge­nem In­ter­esse ge­wählt (wie in den meis­ten Fäl­len) oder zu­wei­len nur »als Frau« dar­auf an­ge­setzt, das Thema Eman­zi­pa­tion und Gleich­be­rech­ti­gung wurde von 68er-Jour­na­lis­tin­nen be­han­delt und trug so­mit auch zu ihrer be­ruf­li­chen Pro­fi­lie­rung bei. Zu­dem schei­nen Eman­zi­pa­tions­fra­gen Re­fle­xions­pro­zesse zur ei­ge­nen Rolle als Frau im Jour­na­lis­mus an­ge­sto­ßen zu ha­ben. Aus den Auto­bio­gra­phien geht her­ vor, dass der Ein­stieg in den Jour­na­lis­mus ver­gleichs­weise leicht ge­lang, zu­mal der Me­dien­markt in den 1960er Jah­ren wuchs. Spe­ziell die neu er­rich­te­ten drit­ten Pro­ gramme schei­nen viel­fäl­tige Ein­stiegs­mög­lich­kei­ten für Frauen ge­bo­ten zu ha­ben. Die kon­kre­ten Mo­da­li­tä­ten des Zu­sam­men­arbei­tens muss­ten aber in den Re­dak­tio­nen noch müh­sam aus­ge­han­delt wer­den. Denn Be­schrei­bun­gen, wie sich die 68er-Jour­ na­lis­tin­nen selbst als Aus­nah­me­er­schei­nun­gen wahr­nah­men (vgl. z. B. Bruhns 2012: 77), in ver­meint­lich frau­en­af­fine Be­rei­che ab­ge­scho­ben fühl­ten (vgl. Ih­le­feld 2008: 116) oder sich gar als reine »De­ko­ra­tion« miss­braucht sa­hen (Schür­mann in Herman 2001: 229), fin­den sich öf­ter. Das De­fin­ ie­ren an­ge­mes­se­ner Arbeits­auf­ga­ben und die Su­che nach For­men des ad­äqua­ten Um­gangs mit Kol­le­gen schei­nen lang­wie­rige und an­stren­gende Pro­zesse ge­we­sen zu sein (vgl. z. B. Bruhns 2012: 73). Und sie en­de­ten wohl auch nicht im­mer er­folg­reich, wor­auf das de­zi­dierte Ein­for­dern von Gleich­be­hand­lung – »Ich [. . .] bin über­haupt keine Fe­mi­nis­tin. [. . .] Ich will nur gleich be­han­delt wer­den. Also mit der glei­chen Wür­de, mit dem glei­chen Re­spekt« (Schür­mann in Herman 2001: 237 und 240) – oder auch re­si­gnie­rende Re­sü­mees hin­deu­ten: »Ich passte nicht in das männ­li­che Sys­tem, in männ­li­che Seil­schaf­ten, auf Kar­rie­re­lei­tern von öf­fent­li­chen Ein­rich­tun­gen. Netz­werke wa­ren für mich nicht vor­ge­se­hen.« (Ih­le­feld 2008: 94) Be­mer­kens­wert ist aber, dass die 68e­rin­nen ihren Är­ger the­ma­ti­sier­ten und Kon­flikte auch an­gin­gen. Da­bei schei­nen Frau­en­netz­werke eine wich­tige Rolle ge­spielt zu ha­ben, zu­min­dest fin­den sich in den Er­in­ne­run­gen viele Hin­weise auf Hilfe und Rat­schläge spe­ziell von Kol­le­gin­nen.

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Die Le­bens­auf­zeich­nun­gen ent­hal­ten al­ler­dings nicht nur zahl­rei­che Re­fle­xio­ nen zur Rolle von Frauen im Jour­na­lis­mus, son­dern auch zu den Auf­ga­ben des Jour­na­lis­mus an sich. Da­bei wer­den sehr kri­ti­sche Per­spek­ti­ven auf den Jour­na­ lis­mus deut­lich, was mut­maß­lich von ei­ner ge­wis­sen Dis­tanz zu den von Män­nern (vgl. Ih­le­feld 2008) oder auch vom Kom­merz (vgl. Joch­im­sen 2014) do­mi­nier­ten Me­dien­in­sti­tu­tio­nen ge­för­dert wur­de. Es scheint vor al­lem die Frage zen­tral ge­we­ sen zu sein, ob sich der An­spruch, ob­jek­ti­ve, der »Wahr­haf­tig­keit« (Sonn­tag-Wol­ gast 2008: 50) ver­pflich­tete Be­richt­er­stat­te­rin zu sein, mit dem Wunsch in Ein­klang brin­gen las­se, Stel­lung zu be­zie­hen oder so­gar die bun­des­deut­sche Ge­sell­schaft zu ver­än­dern. Die Grenz­gän­ge­rin­nen zur Po­li­tik wie Heli Ih­le­feld und Cor­ne­lie Sonn­tag-Wol­gast, aber auch Jutta Dit­furth, ent­schie­den sich letzt­lich, nicht nur in den Me­dien klar Stel­lung zu be­zie­hen, son­dern auch in Par­teien für ihre Ziele zu kämp­fen. Heli Ih­le­feld und Cor­ne­lie Sonn­tag-Wol­gast wech­sel­ten schließ­lich in die SPD-Öf­fent­lich­keits­arbeit, nah­men sich aber vor, auch als Par­tei­ver­tre­te­rin­ nen nicht »schön­zu­fär­ben und Kon­flikte unter den Tisch zu keh­ren.« Selbst­kri­tisch fügte Cor­ne­lie Sonn­tag-Wol­gast noch an: »Hof­fent­lich halte ich das durch  . . .« (Sonn­tag-Wol­gast 2008: 50). Aber auch die­je­ni­gen Frau­en, die im Jour­na­lis­mus blie­ben, muss­ten aus­ta­rie­ren, wie en­ga­giert Jour­na­lis­mus tat­säch­lich sein kann, und wid­me­ten die­ser Frage län­gere Ab­hand­lun­gen (z.  B. Kro­ne-Schmalz 2009: 110–115). Cum grano sa­lis lässt sich fest­hal­ten, dass die 68er-Jour­na­lis­tin­nen das The­ma­ti­sie­ren ge­sell­schaft­lich re­le­van­ter, aber letzt­lich ta­bui­sier­ter Pro­bleme zur Auf­gabe des Jour­na­lis­mus er­klär­ten, nicht aber de­ren Lö­sung – »ver­än­dern müs­ sen . . . an­dere« – so die Worte von Luc Joch­im­sen (2014). Be­mer­kens­wert, aber nicht un­ty­pisch für In­tel­lek­tuelle die­ser Zeit ist die Nähe zu lin­ken Par­tei­en, v. a. zur SPD. Die Ana­lyse der Be­rufs­ver­läufe der hier er­wähn­ten 68er-Pu­bli­zis­tin­nen macht schließ­lich deut­lich, dass sie in mehr­fa­cher Hin­sicht Grenz­gän­ge­rin­nen wa­ren. Be­ zo­gen auf ihre Be­rufs­fel­der wech­sel­ten sie nicht nur zwi­schen po­li­ti­scher Öf­fent­ lich­keits­arbeit und Jour­na­lis­mus, son­dern auch zwi­schen so­zia­len Be­we­gun­gen und Jour­na­lis­mus oder zwi­schen Schrift­stel­le­rei und Jour­na­lis­mus (vgl. wei­ter­ füh­rend die bio­gra­phi­schen Por­träts in Kät­zel 2002). Auch der Wech­sel zwi­schen Print- und Rund­funk­arbeit war durch­aus gän­gig. Deut­lich wird aber auch, dass zu­min­dest für die­je­ni­gen Frau­en, die Kin­der groß­zo­gen, die Grenz­gän­gerei zwi­ schen Fa­mi­lien- und Er­werbs­arbeit schmerz­hafte Kom­pro­misse nach sich zog. Der Zwang, Pri­vat- und Be­rufs­le­ben stän­dig aus­zu­ba­lan­cie­ren, sen­si­bi­li­sierte ins­be­ son­dere diese Pu­bli­zis­tin­nen nicht nur für Frau­en­fra­gen, son­dern zog oft auch ein hand­fes­tes En­ga­ge­ment in der Frau­en­be­we­gung nach sich.

Die 68e­rin­nen – eine eigen­stän­dige Jour­na­lis­tin­nen­ge­ne­ra­tion?  |  85

Re­sü­mee Abschließend stellt sich die Fra­ge, ob die 68er-Jour­na­lis­tin­nen tat­säch­lich eine ei­gene Ge­ne­ra­tion dar­stel­len. Denn man­che der hier ge­nann­ten As­pek­te, wie z. B. das Grenz­gän­ger­tum, sind nicht nur für diese Ge­ne­ra­tion, son­dern auch für an­ dere Ge­ne­ra­tio­nen von Jour­na­lis­ten und Jour­na­lis­tin­nen kenn­zeich­nend (vgl. Kin­ ne­brock/Klaus 2013). Be­zeich­nend für die 68er-Jour­na­lis­tin­nen ist aber, dass das Grenz­gän­ger­tum the­ma­ti­siert und pro­ble­ma­ti­siert wurde – auch und vor al­lem der Spa­gat zwi­schen Fa­mi­lien- und Er­werbs­arbeit. Es lässt sich fest­hal­ten, dass die The­ma­ti­sie­rung ge­sell­schaft­lich re­le­van­ter As­pekte des ver­meint­lich Pri­va­ ten, vor al­lem die Ein­schrän­kun­gen von Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten für Frau­en, die 68er-Jour­na­lis­tin­nen kenn­zeich­net. Sie be­trie­ben – ähn­lich wie ihre Kol­le­ gen – ei­nen »en­ga­gier­ten Jour­na­lis­mus« (Ho­den­berg 2006a: 157), aber mit et­ was an­de­rer the­ma­ti­scher Schwer­punkt­set­zung. Und sie re­flek­tier­ten ihre Rolle als Frau im Jour­na­lis­mus. Eli­sa­beth Klaus hat ihren weg­wei­sen­den Auf­satz zur Be­rufs­ge­schichte der Jour­na­lis­tin­nen mit »Auf­stieg zwi­schen Näh­kränz­chen und Män­ner­klos­ter« über­schrie­ben. Die 68er-Jour­na­lis­tin­nen unter­schie­den sich von Vor­läu­fer­ge­ne­ra­tio­nen in­so­fern, als dass sie nicht nur still­schwei­gend auf­stie­gen, son­dern ihr Un­be­ha­gen mit be­ste­hen­den Ver­hält­nis­sen – in Be­ruf wie Pri­vat­le­ ben – the­ma­ti­sier­ten und re­flek­tier­ten. Und auch wenn bis­lang noch viel zu we­nig über diese Frau­en­ge­ne­ra­tion im Jour­na­lis­mus be­kannt ist, so dürfte schon al­lein diese Be­son­der­heit die 68e­rin­nen zu ei­ner ei­ge­nen Ge­ne­ra­tion von jour­na­lis­ti­ schen Pio­nie­rin­nen ma­chen.

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Han­deln und Zu­sam­men­wir­ken von MedienmanagerInnen

Han­deln und Zu­sam­men­wir­ken von MedienmanagerInnen Zum Er­klä­rungs­po­ten­tial der Ak­teur-Struk­tur-Dy­na­mi­ken Clau­dia Ries­meyer

Ein­lei­tung »Wal­de­cki­sche Lan­des­zei­tung und Fran­ken­ber­ger Zei­tung ge­hen mit neuem Eigen­tü­mer in die Zu­kunft« (Kleine 2015). Eine Zei­tungs­über­schrift unter vie­len, die den­noch bei­spiel­haft ist. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren war die Me­dien­be­richt­ er­stat­tung ge­prägt von dem Me­dien­wan­del und der Zei­tungs­kri­se, aus­ge­löst und be­schleu­nigt unter an­de­rem durch die Di­gi­ta­li­sie­rung und Kom­mer­zia­li­sie­rung des Me­dien­sys­tems (Pi­card 2003: 128). Zei­tun­gen wur­den und wer­den ver­kauft, Ab­ tei­lun­gen nach au­ßen ver­la­gert und/oder zu­sam­men­ge­legt, An­zei­gen­kun­den wan­ der­ten ins Inter­net ab (Bohr­mann/To­ep­ser-Zie­gert 2010). Das nord­hes­si­sche Bei­ spiel ver­deut­licht, wel­che Stra­te­gie hin­ter dem Ver­kauf von Ta­ges­zei­tun­gen und de­ren Ver­la­gen steht: »Auf­grund des he­te­ro­ge­nen Zei­tungs­mark­tes ist es für uns im Bun­des­land Hes­sen nicht mög­lich, unsere Stra­te­gie als Kon­so­li­dierer kon­se­ quent um­zu­set­zen und eine si­gni­fi­kante Größe zu er­rei­chen. Da­her ha­ben wir uns ent­schlos­sen, unsere hes­si­schen Be­tei­li­gun­gen in er­fah­rene und ver­trau­ens­wür­dige Ver­le­ger­hände zu ge­ben«, er­klärt Mad­sack-Ge­schäfts­füh­rer Tho­mas Düf­fert den Ver­kauf der Wal­de­cki­schen Lan­des­zei­tung und der Fran­ken­ber­ger Zei­tung an die Me­dien Be­tei­li­gungs­ge­sell­schaft mbH (Kleine 2015). Er trifft als Ge­schäfts­füh­rer mit der Unter­neh­mens­lei­tung öko­no­mi­sche Ent­schei­dun­gen, die weitreichenden Ein­fluss auf die Me­dien­viel­falt, da­mit den In­for­ma­tions­zu­gang zu lo­ka­len und re­ gio­na­len Nach­rich­ten und die Er­fül­lung der öf­fent­li­chen Auf­gabe der Presse ha­ ben. Doch auf wel­cher Ba­sis ent­schei­det er? Wel­che Nor­men zieht er für seine Ent­schei­dun­gen her­an? Ein zwei­tes Bei­spiel: Der Spie­gel galt und gilt als Sprach­rohr in­ves­ti­ga­ti­ver Be­richt­er­stat­tung in Deutsch­land, Speer­spitze un­ab­hän­gi­ger Be­richt­er­stat­tung und Kor­rek­tiv der Mei­nungs­bil­dung. Glaubt man je­doch den Be­fun­den der Dres­de­ner KommunikationswissenschafterInnen Lutz M. Ha­gen, Anne Flä­mig und An­ne-

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Maria In der Au (2014) ist es mit der Un­ab­hän­gig­keit des Spie­gels nicht sehr weit her. Im Gegen­teil: Sie fan­den her­aus, dass auch beim Spie­gel ein Zu­sam­men­hang zwi­schen dem An­zei­gen­teil und dem In­halt der Be­richt­er­stat­tung exis­tiert, Kopp­ lungs­ge­schäfte zwi­schen bei­den Unter­neh­mens­tei­len sind nicht aus­ge­schlos­sen. RedaktionsleiterInnen und ChefredakteurInnen müs­sen täg­lich ent­schei­den, ob sie die Ko­ope­ra­tion mit An­zei­gen­kun­den ein­ge­hen – oder nicht. Oft sind ih­nen je­doch, auf­grund der fi­nan­ziel­len Rah­men­be­din­gun­gen der Me­dien­häu­ser, die Hände ge­ bun­den sind und sie müs­sen auf die Avan­cen der Wer­be­kun­den ein­ge­hen. Beide Bei­spiele ver­deut­li­chen, warum es lohnt, den Blick auf »Me­dien­ma­na­ gerin­nen und -ma­na­ger« zu rich­ten. Sie tref­fen jene Ent­schei­dun­gen, die nicht nur die öko­no­mi­sche und jour­na­lis­ti­sche Aus­rich­tung von Me­dien­unter­neh­men be­ tref­fen, son­dern auch Kon­se­quen­zen für die Mög­lich­kei­ten zur In­for­ma­tion und Mei­nungs­bil­dung von RezipientInnen ha­ben. Ge­rade in me­dia­len Um­bruch­zei­ ten ste­hen KommunikatorInnen vor der Her­aus­for­de­rung, »ihre Leis­tun­gen neu be­stim­men« zu müs­sen (Klaus 2005: 138). »Weil die Ge­sell­schaft sich neu aus­ dif­fe­ren­ziert, neue In­ter­es­sen­grup­pen und Ko­ali­tio­nen ent­ste­hen, müs­sen JournalistInnen an­dere In­for­ma­tions­grup­pen und Re­fe­renz­quel­len in die jour­na­lis­ti­sche Aus­sa­gen­pro­duk­tion ein­be­zie­hen« (Klaus 2005: 137). JournalistInnen zäh­len zu den in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft sehr häu­fig unter­such­ten Be­rufs­grup­pen, ihre Be­rufs­rol­len und Rol­len­mus­ter, ihr Arbeits­all­tag und Arbeits­zu­frie­den­heit und vie­les mehr sind be­kannt. Doch die­je­ni­gen, die Ent­ schei­dun­gen hin­ter den Ku­lis­sen tref­fen, die Hand­lungs­spiel­räume und Arbeits­ mög­lich­kei­ten ge­stal­ten und die Re­fe­renz­quel­len be­nen­nen, diese Ak­teurs­gruppe ist bis auf we­nige Aus­nah­men kaum er­forscht (Küng 2007; Bart­osova 2011; Kalten­brun­ner/Kar­ma­sin/Kraus 2013; Win­ter/Bu­schow 2014; Alt­mep­pen/Greck/ Fran­zetti 2014). Was wol­len sie in ihrem Be­ruf er­rei­chen, was kön­nen sie leis­ten und wel­che Funk­tion sol­len sie ein­hal­ten, um ihr Me­dien­pro­dukt auf dem Markt zu be­haup­ten? Kurz, wer sind MedienmanagerInnen? Diese Fra­ge­stel­lun­gen sind so­wohl eine theo­re­ti­sche als auch em­pi­ri­sche Her­ aus­for­de­rung für die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft, der sich der vor­lie­gende Auf­ satz stellt. Er nutzt dazu den An­satz der Ak­teur-Struk­tur-Dy­na­mi­ken Uwe Schi­ manks (2007), der es er­mög­licht, das Wol­len, Kön­nen und Sol­len von AkteurInnen und Ak­teurs­grup­pen (hier MedienmanagerInnen) zu unter­su­chen und theo­re­tisch ab­zu­lei­ten. Sein An­satz ist auf Hand­lun­gen und das han­delnde Zu­sam­men­wir­ken von AkteurInnen fo­kus­siert und bie­tet sich da­her an, wenn es darum geht, Hand­ lungs­spiel­räume zu be­schrei­ben, de­ren Aus­ge­stal­tung Im­pli­ka­tio­nen für die öf­fent­ li­che Mei­nungs­bil­dung ha­ben. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren ha­ben sich drei Stu­dien der Her­aus­for­de­rung, MedienmanagerInnen em­pi­risch zu unter­su­chen, ge­stellt (Kal­ten­brun­ner et al. 2013; Win­ter et al. 2014; Alt­mep­pen et al. 2014). Al­len drei Er­he­bun­gen ist ge­mein­ sam, dass sie mit­tels quan­ti­ta­ti­ver Tele­fon- oder On­line­be­fra­gung Merk­male von

Han­deln und Zu­sam­men­wir­ken von MedienmanagerInnen  |  91

MedienmanagerInnen er­ho­ben ha­ben. Aus die­sen Stu­dien sind unter an­de­rem die So­zio­de­mo­gra­phie (MedienmanagerInnen sind eher ver­hei­ra­tete Män­ner mitt­le­ren Al­ters), die ak­tu­elle Kar­rie­re­sta­tion so­wie die Be­rufs­mo­ti­va­tion be­kannt (Alt­mep­ pen et al. 2014: 24–45). Breit an­ge­leg­te, me­tho­disch qua­li­ta­tive Stu­dien, in denen die Be­frag­ten zum Re­flek­tie­ren von Ent­schei­dun­gen an­ge­regt wer­den und of­fen Ant­wor­ten for­mu­lie­ ren kön­nen, sind bis­lang je­doch Man­gel­wa­re. Diese Lü­cke, wie sie auch Alt­mep­pen et al. (2014: 46) for­mu­lie­ren, schließt der vor­lie­gende Auf­satz. Seine em­pi­ri­sche Grund­lage bil­den 71 qua­li­ta­tive Inter­views mit MedienmanagerInnen in Deutsch­ land, die seit 2012 am In­sti­tut für Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft und Me­dien­for­ schung Mün­chen ge­führt wor­den sind. Be­vor je­doch die Er­geb­nisse (Kapitel  5) vor­ge­stellt wer­den, ist es not­wen­dig, das hier ver­wen­dete Be­griffs­ver­ständ­nis Me­ dien­ma­na­ge­ment (Kapitel 2) und den theo­re­ti­schen An­satz zu klä­ren (Kapitel 3). Kapitel 4 geht auf das me­tho­di­sche Vor­ge­hen der Stu­die ein.

Arbeits­de­fi­ni­tion Me­dien­ma­na­ge­ment »The field of me­dia man­age­ment in its pre­se­ nt form is nei­ther clear­ly de­fined nor co­he­sive« (Küng 2008: 3). Der Be­griff Me­dien­ma­na­ge­ment ist bis­lang ein »Mo­ saik von Be­rufs- und Ein­satz­fel­dern. Den Me­dien­ma­na­ger gibt es nicht! Wei­ter­hin kann der Me­dien­ma­na­ger – pars pro toto – als Be­leg für die Dy­na­mik der Bran­ che ste­hen« (Hil­mer 2009: 23). Be­dingt durch den öko­no­mi­schen Um­bruch in der Me­dien- und Ver­lags­bran­che rü­cken die Pu­bli­kums­in­ter­es­sen und -auf­merk­sam­ keit und da­mit die Ab­satz­mög­lich­kei­ten von jour­na­lis­ti­schen Pro­duk­ten stär­ker in den Fo­kus (Alt­mep­pen 2006: 210; Klaus 2005; Mey­en/Ries­meyer 2009). Selbst ChefredakteurInnen auf der pu­bli­zis­ti­schen Seite der Ver­lage müs­sen sich, ebenso wie An­zei­gen- be­zie­hungs­weise ObjektleiterInnen und VerlegerInnen, im­mer mehr am Markt orien­tie­ren (Alt­mep­pen et al. 2014: 10). Sie ha­ben in­zwi­schen eine »dop­pelte Rolle« in­ne, müs­sen »die Er­war­tun­gen der jour­na­lis­ti­schen Or­ga­ ni­sa­tion gegen­über der Me­dien­or­ga­ni­sa­tion ver­tre­ten, gleich­zei­tig aber auch die Ent­schei­dun­gen des Me­dien­ma­na­ge­ments gegen­über der jour­na­lis­ti­schen Or­ga­ni­ sa­tion durch­set­zen« (Alt­mep­pen 2012: 43) und sind zu­dem »Trei­ber« des ge­sell­ schaft­li­chen Wan­dels (Alt­mep­pen et al. 2014: 11). So ver­schwim­men die Gren­zen zwi­schen pu­bli­zis­ti­scher und öko­no­mi­scher Or­ga­ni­sa­tion im­mer mehr (Ga­drin­ger/ Vieth 2012: 33). Klaus-Die­ter Alt­mep­pen (2002, 2006, 2008) trennt hin­gegen auf­grund unter­ schied­li­cher Auf­ga­ben­fel­der zwi­schen Re­dak­tions- und Me­dien­ma­na­ge­ment und rich­tet den Blick auf die Me­dien­or­ga­ni­sa­tion als In­sti­tu­tion. Im vor­lie­gen­den Auf­satz ste­hen aber alle Per­so­nen, die so­wohl öko­no­mi­sche als auch pu­bli­zis­ti­sche Ver­ant­ wor­tung in Me­dien­unter­neh­men tra­gen, ihr Hand­lungs­spiel­raum und ihre Ent­schei­

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dungs­grund­la­gen im Mit­tel­punkt. Sie wer­den als MedienmanagerInnen de­fi­niert. Diese Sicht­wiese trägt der Arbeits­pra­xis in Me­dien­unter­neh­men Rech­nung, in denen Ge­schäfts­füh­rung, An­zei­gen­mar­ke­ting und Re­dak­tion oft Hand in Hand arbei­ten, und er­mög­licht bei der Er­for­schung des Han­delns der MedienmanagerInnen ei­nen stär­ke­ ren Pra­xis­be­zug, der in der Aus­ein­an­der­set­zung mit Me­dien­ma­na­ge­ment oft für das For­schungs­feld ge­for­dert wird (Alt­mep­pen 2012; Küng 2008; Al­bar­ran 2008). Wie ein ak­teurst­heo­re­ti­scher Zu­gang zum For­schungs­feld MedienmanagerInnen unter Ein­be­zug der so­zia­len Struk­tu­ren und der Kon­stel­la­tio­nen, in denen diese Ak­teurs­ gruppe han­delt, aus­se­hen kann, zeigt das fol­gende Ka­pi­tel.

Das Er­klä­rungs­po­ten­tial der Akt ­ eur-Strukt­ ur-Dyn ­ a­mi­ken Theo­re­ti­sche Grund­lage für die hier prä­sen­tierte Fall­stu­die sind die Ak­teur-Struk­ tur-Dy­na­mi­ken Uwe Schi­manks (2010: 8). Er in­ter­es­siert sich für die wech­sel­sei­ tige Kons­ti­tu­tion von han­deln­dem Zu­sam­men­wir­ken und so­zia­len Struk­tu­ren. Mit dem han­deln­den Zu­sam­men­wir­ken stellt er die Be­zie­hung zwi­schen AkteurInnen in den Mit­tel­punkt, be­zieht gleich­zei­tig die Struk­tu­ren ein, die die­ses Han­deln be­ ein­flus­sen. Sein An­satz ist da­mit ge­eig­net, um das Zu­sam­men­han­deln und Hand­ lungs­spiel­räu­me, aber auch das ei­gene Ver­mö­gen, das das in­di­vi­du­elle Han­deln an­treibt, zu unter­su­chen. Diese in­di­vi­du­el­le, so­ziale Hand­lung je­des Ein­zel­nen ist stets Schi­manks Aus­gangs­punkt, auf des­sen Ba­sis dann das Zu­sam­men­wir­ken mit den Hand­lun­gen an­de­rer unter­sucht wer­den kann (2007: 122). Alle AkteurInnen ha­ben ei­gene Mo­ti­ve, In­ter­es­sen und Zie­le. Sie le­ben in ei­ ner so­zia­len Welt und wer­den be­ein­flusst von Ak­tio­nen an­de­rer. Es geht Schi­mank im­mer um das Han­deln meh­re­rer AkteurInnen und die Aus­ge­stal­tung die­ser Hand­ lung (bzw. des han­deln­den Zu­sam­men­wir­kens). Alle AkteurInnen ge­hen mit ihren Hand­lun­gen ei­nem be­stimm­ten Zweck – ei­ner In­ten­tion – nach, wo­bei die Aus­füh­ rung der an­ge­streb­ten Hand­lung und da­mit das Er­rei­chen der ei­ge­nen Ziele nicht ohne wei­te­res er­reicht wer­den kann, da oft die Hand­lun­gen an­dere AkteurInnen die ei­gene Hand­lungs­in­ten­tion durch­kreu­zen. Eine Ak­teurs­kons­tel­la­tion ent­steht, wenn meh­rere AkteurInnen auf­ein­an­der tref­ fen und es »Inter­fe­ren­zen zwi­schen den In­ten­tio­nen von min­des­tens zwei Ak­teu­ren gibt« (Schi­mank 2007: 127). In­dem die AkteurInnen ver­su­chen, die Inter­fe­ren­zen ab­zu­arbei­ten, kön­nen so­ziale Struk­tu­ren als dauer­hafte Be­wäl­ti­gungs­mus­ter ent­ste­ hen (Schi­mank 2010: 186 ff.). Er unter­schei­det zwi­schen der Hand­lungs­in­ten­tion (Hand­lungs­ab­sicht) und der Trans­in­ten­tion (dem, was aus der Ab­sicht im Zu­sam­ men­han­deln wird), beide sind si­tua­tions­ab­hän­gig (Schi­mank 2010: 189). Schi­mank (2005: 27) sieht in der Trans­in­ten­tion eine Mög­lich­keit, zu ana­ly­sie­ren, wel­chen Ge­stal­tungs­spiel­raum AkteurInnen ha­ben. Dies be­deu­tet, dass man das Han­deln

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von MedienmanagerInnen nicht nur über ihre In­ten­tio­nen er­klä­ren kann, son­dern auch die Ak­teurs­kons­tel­la­tio­nen be­rück­sich­ti­gen muss, in denen sie han­deln. So­ wohl die Be­zie­hun­gen der Ak­teu­rin­nen unter­ein­an­der als auch ihre Inter­ak­tio­nen sind va­ria­bel im Zeit­ver­lauf, was die dy­na­mi­sche Kom­po­nente im An­satz er­klärt. Schi­mank unter­schei­det drei For­men von Ak­teurs­kons­tel­la­tio­nen:







Be­ob­ach­tungs­kon­stel­la­tio­nen, bei denen sich min­des­tens zwei AkteurInnen be­ ob­ach­ten und durch die Be­ob­ach­tung ihr Han­deln be­stim­men las­sen. »Je­der be­ob­ach­tet, was die Gegen­über tun, und passt sich da­durch der Kon­stel­la­tion an« (Schi­mank 2007: 130). Be­ein­flus­sungs­kon­stel­la­tion, in denen es darum geht, po­si­ti­ven oder ne­ga­ti­ven Ein­fluss auf die Hand­lun­gen des Gegen­übers zu neh­men. Der In­ten­tion wird durch Ein­fluss­nahme Nach­druck ver­lie­hen, zum Bei­spiel durch Geld­zah­lung oder Ge­brauch an­de­rer Macht­mit­tel (Schi­mank 2010: 274). Ver­hand­lungs­kon­stel­la­tio­nen sind eben­falls Be­ob­ach­tungs- und Be­ein­flus­ sungs­kon­stel­la­tio­nen, ge­hen aber dar­über hin­aus. Sie zie­len auf bin­dende Ver­ ein­ba­run­gen der AkteurInnen unter­ein­an­der mit der Ver­pflich­tung, dies auch ein­zu­hal­ten (Schi­mank 2010: 305).

Auch die so­zia­len Struk­tu­ren be­din­gen das Han­deln (Schi­mank 2005: 23). »So­ ziale Struk­tu­ren wer­den durch han­deln­des Zu­sam­men­wir­ken er­schaf­fen, er­hal­ten und um- oder ab­ge­baut« (Schi­mank 2007: 125). Die Struk­tu­ren prä­gen unter­ schied­li­che Kom­po­nen­ten des Han­delns der in­di­vi­du­el­len AkteurInnen. Kon­kret unter­schei­det Schi­mank (2007: 125–127)

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Deu­tungs­struk­tu­ren: das Wol­len der AkteurInnen als eva­lua­ti­ve, ko­gni­tive Orien­tie­run­gen, Er­war­tungs­struk­tu­ren: das Sol­len der AkteurInnen als in­sti­tu­tio­na­li­sier­te, nor­ ma­tive Er­war­tun­gen und Kon­stel­la­tions­struk­tu­ren: das Kön­nen der AkteurInnen als ein­ge­spielte und ver­fes­tigte Gleich­ge­wichte von Ak­teurs­kons­tel­la­tio­nen. Sind die Struk­tu­ren ver­fes­tigt, ha­ben die AkteurInnen kaum Ver­än­de­rungs­mög­lich­kei­ten. In ei­ner po­si­tiv ge­rich­te­ten Kon­stel­la­tions­struk­tur kön­nen alle be­tei­lig­ten AkteurInnen ihre In­ten­tio­nen rea­li­sie­ren. Das Gegen­teil als dauer­hafte Be­hin­de­rung der AkteurInnen ist ebenso denk­bar (Schi­mank 2010: 206).

Im Zu­sam­men­spiel aus Wol­len, Sol­len und Kön­nen wer­den nach Schi­mank Hand­ lun­gen kons­ti­tu­iert. Das Zu­sam­men­spiel aus Ak­teurs­kons­tel­la­tio­nen und so­zia­len Struk­tu­ren er­laubt es, die Dy­na­mik von Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen nach­zu­ zeich­nen, wenn es darum geht, wie die Be­zie­hung ge­stal­tet wer­den soll, ob neue Be­zie­hun­gen ein­ge­gan­gen oder an­dere ver­än­dert wer­den.

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Me­tho­di­sche Ent­schei­dun­gen Zur Unter­su­chung von Ak­teurs­kons­tel­la­tio­nen und so­zia­len Struk­tu­ren sind qua­ li­ta­tive Me­tho­den bes­ser als quan­ti­ta­tive ge­eig­net, weil qua­li­ta­tive Me­tho­den »the con­text, the setting and the sub­jects’ frame of re­fe­rence« in den Blick neh­men (Mars­hall/Ross­man 1989: 46). Qua­li­ta­tive Me­tho­den er­mög­li­chen es den TeilnehmerInnen, of­fen (und nicht in me­tho­disch ge­schlos­se­nen Fra­gen mit Ant­wort­vor­ ga­ben) über ihren Arbeits­all­tag und die Wahr­neh­mung ihrer Hand­lungs­mög­lich­ kei­ten zu spre­chen. Im vor­lie­gen­den Auf­satz wur­den MedienmanagerInnen in Leit­fa­den­inter­views be­fragt. Diese bie­ten die Mög­lich­keit, aus der Per­spek­tive der Be­frag­ten Struk­ tu­ren und Hand­lungs­mus­ter (Ha­nitzsch 2007: 257) zu klä­ren. In der Kom­mu­ni­ ka­tions­wis­sen­schaft sind sie als Er­he­bungs­ver­fah­ren eta­bliert (Ries­meyer 2011: 232), vor al­lem dann, wenn es darum geht, keine Ver­tei­lung von Merk­ma­len in der Grund­ge­samt­heit zu er­mit­teln, son­dern ty­pi­sche Va­rian­ten zu be­schrei­ben (Meyen et al. 2011). Um den­noch ei­nen mög­lichst um­fas­sen­den Ein­blick zu er­lan­gen, wur­ den die TeilnehmerInnen nach dem Prin­zip der theo­re­ti­schen Sät­ti­gung aus­ge­wählt (Möh­ring/Schlütz 2008). Kon­kret be­deu­tet dies für den vor­lie­gen­den Auf­satz eine Aus­wahl nach dem Ge­schlecht, Al­ter, dem Arbeit­ge­ber und der Funk­tion im Me­ dien­unter­neh­men (öko­no­mi­sche und/oder in­halt­li­che Ver­ant­wor­tung). Grund­lage des Inter­view­leit­fa­dens und der Inter­view­aus­wer­tung bil­det das Ka­ te­go­rien­sys­tem, das auf Ba­sis der Ak­teur-Struk­tur-Dy­na­mik Uwe Schi­manks de­ fi­niert wur­de. Diese Ope­ra­tio­na­li­se­rung hat sich be­reits bei der Unter­su­chung des Zu­sam­men­wir­kens und -han­delns von JournalistInnen und PressesprecherInnen be­währt (Ries­meyer 2014):

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Deu­tungs­struk­tu­ren als Wol­len: (Rol­len)Selbst­ver­ständ­nis, Re­zept­wis­sen als Leit­idee Er­war­tungs­struk­tu­ren als Sol­len: for­melle und in­for­melle Re­geln und Nor­men, Be­wer­tung des Tren­nungs­grund­sat­zes zwi­schen In­halt und Wer­bung Kon­stel­la­tions­struk­tu­ren als Kön­nen: Ak­teurs­kons­tel­la­tion (Be­ob­ach­tung, Be­ ein­flus­sung, Ver­hand­lung), Vor­stel­lung über den Hand­lungs­spiel­raum

Ba­sis des Auf­sat­zes sind 71 Leit­fa­den­inter­views mit MedienmanagerInnen, die ich seit 2012 ge­mein­sam mit Stu­die­ren­den am In­sti­tut für Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­ schaft und Me­dien­for­schung Mün­chen ge­führt ha­be. Dem Prin­zip der theo­re­ti­schen Sät­ti­gung fol­gend ha­ben wir mit AkteurInnen ge­spro­chen, die ent­we­der in­halt­li­che oder öko­no­mi­sche Ver­ant­wor­tung im Me­dien­unter­neh­men tra­gen, wie ChefredakteurInnen, RedaktionsleiterInnen, GeschäftsführerInnen oder AnzeigenleiterInnen. Sie arbei­ten für klas­si­sche Me­dien­gat­tun­gen (Ta­ges­zei­tun­gen, Zeit­schrif­ten, öffentlich-rechtlichen und pri­va­ten Rund­funk), aber auch On­line-Me­dien. Je­des

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Inter­view dau­erte ca. 60 min, wurde wört­lich tran­skri­biert und an­schlie­ßend in­ halts­ana­ly­tisch auf Ba­sis des Ka­te­go­rien­sys­tems aus­ge­wer­tet. Das fol­gende Ka­pi­ tel stellt aus­ge­wählte Be­funde im Hin­blick auf das Wol­len, Sol­len und Kön­nen von MedienmanagerInnen vor.

Er­geb­nisse Kon­stel­la­tions­struk­tu­ren: Ko-Orien­tie­rung und die Macht des Pu­bli­kums Wie schät­zen MedienmanagerInnen ihren Hand­lungs­spiel­raum als Fak­tor ein, der ihr Kön­nen be­stimmt? In wel­chen Kon­stel­la­tio­nen agie­ren sie? Bis­lang gilt in der Li­te­ra­tur die Ver­mu­tung, dass sich die han­deln­den AkteurInnen im re­dak­tio­nel­ len und werb­li­chen Unter­neh­mens­teil in ihrer gegen­sei­ti­gen Wahr­neh­mung unter­ schei­den, weil sie unter­schied­li­chen Auf­ga­ben und da­mit Ver­pflich­tun­gen fol­gen (in­halt­li­che vs. öko­no­mi­sche Ver­ant­wor­tung für das Me­dien­pro­dukt, Alt­mep­pen 2002, 2006, 2008). In den ana­ly­sier­ten Inter­views fin­den sich hin­gegen Be­lege für eine Ko-Orien­tie­rung zwi­schen bei­den Tei­len, die die hier ge­wählte Vor­ge­hens­wei­ se, MedienmanagerInnen breit zu de­fi­nie­ren, em­pi­risch be­stä­ti­gen. So­wohl ChefredakteurInnen als auch GeschäftsführerInnen stim­men sich im Me­dien­all­tag ab und ha­ben ein en­ges, oft ver­trau­ens­vol­les Ver­hält­nis. »Es gibt im­mer ei­nen Punkt, an dem sie für eine Wei­ter­ent­wick­lung Ver­bün­dete oder Geld brau­chen«, er­klärte ein Chef­re­dak­teur ei­ner Zeit­schrift sei­nen Kon­takt zur Ge­schäfts­füh­rung, auch weil »man in­zwi­schen klare Etats hat, auch Be­gren­zun­gen was Geld und was Per­so­nal an­geht. Und da­mit muss man aus­kom­men.« MedienmanagerInnen nut­zen da­bei alle For­men der Kon­stel­la­tions­struk­tu­ren: Sie be­ob­ach­ten das gegen­sei­tige Han­ deln, ver­su­chen das Gegen­über zu be­ein­flus­sen und ver­han­deln mit­ein­an­der (zum Bei­spiel über Res­sour­cen, die den Re­dak­tio­nen ein­ge­räumt wer­den, oder über Zu­ ge­ständ­nisse im Hin­blick auf Kopp­lungs­ge­schäfte zwi­schen In­halt und Wer­bung). Das Pu­bli­kum fun­giert bei al­ler Ab­stim­mung als po­si­tiv kon­no­tierte Orien­tie­ rungs­grö­ße. Die Pu­bli­kums­for­schung spielt eine wich­tige Rolle (be­son­ders für den öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funk). MedienmanagerInnen in bei­den Be­rei­chen der Me­dien­unter­neh­men wol­len und müs­sen die Pu­bli­kums­wün­sche und -vor­stel­lun­ gen ken­nen. Dazu be­ob­ach­ten und ana­ly­sie­ren sie ihr Pu­bli­kum, um ent­spre­chend In­halt pro­du­zie­ren und Wer­bung ver­kau­fen zu kön­nen. Ein Pro­du­zie­ren am Pu­bli­ kum vor­bei ist nicht vor­stell­bar (und fi­nan­ziell nicht zu ver­ant­wor­ten). »Selbst­ ver­ständ­lich hö­ren wir auf die Stimme des Pu­bli­kums, es an­ders zu ma­chen, wäre kon­tra­pro­duk­tiv« (Ge­schäfts­füh­rer, Zeit­schrift). Neben der Pu­bli­kums­markt- ist die Kon­kur­renz­be­ob­ach­tung das A und O im Me­dien­ma­na­ge­ment. Zwei Bei­spiele ver­deut­li­chen diese Hand­lungs­ma­xi­me: »Gut

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ge­klaut ist im­mer noch bes­ser als schlecht er­fun­den«, sagte ein Re­dak­tions­lei­ter beim öf­fent­lich-recht­li­chen Ra­dio. Sein Pen­dant beim pri­va­ten Ra­dio (beide Sen­ der sen­den im sel­ben Ge­biet) be­stä­tigt dies: »Gibt es ir­gend­et­was, dass wir ad­ap­tie­ ren kön­nen? Da sind wir per­ma­nent dran.« Beide orien­tie­ren sich so sehr an­ein­an­ der, dass sie es in Kauf neh­men, nicht von­ein­an­der unter­scheid­bar zu sein und ein mög­li­ches Al­lein­stel­lungs­merk­mal (»Der Sen­der steht für . . .«) auf­zu­ge­ben, nur um kei­nen (mög­li­chen) Trend zu ver­pas­sen. Der fi­nan­zielle Rah­men und da­mit die GeschäftsführerInnen be­stim­men letzt­lich den Hand­lungs­spiel­raum der Re­dak­tio­nen. ChefredakteurInnen über­neh­men in­ner­ halb die­ses Rah­mens nach wie vor in­halt­li­che Ver­ant­wor­tung für das Me­dien­pro­dukt. Hier fin­det sich wie bis­lang die klas­si­sche Rol­len­tren­nung zwi­schen Re­dak­tion und Ge­schäfts­lei­tung, auch wenn sich in der unter­such­ten Stich­probe Be­lege für ein Ver­mi­ schen bei­der Arbeits­fel­der und da­mit eine noch stär­kere An­nä­he­rung bei­der Unter­neh­ mens­teile fin­den las­sen: Neben der ein­gangs er­wähn­ten Ko-Orien­tie­rung ver­schmel­zen teil­weise beide Auf­ga­ben­fel­der, was sich zum Bei­spiel an Be­rufs­be­zeich­nun­gen wie dem »ge­schäfts­füh­ren­den Re­dak­teur« zeigt, der Teil der Stich­probe war. Deu­tungs­struk­tu­ren: »Men­schen­ma­na­ger« mit Ka­ta­ly­sa­tor und Wunsch­ge­ne­ra­tor Schi­mank fol­gend sind unter den Deu­tungs­struk­tu­ren das Wol­len und da­mit das Rol­len­selbst­ver­ständ­nis, aber auch das Re­zept für ein er­folg­rei­ches Pro­dukt zu ver­ ste­hen. In den Inter­views ist ein brei­tes Spek­trum von Be­rufs­rol­len und -mus­tern zu fin­den. Ge­mein­sam ist al­len Klas­si­fiz­ ie­run­gen, dass der Kon­takt zu Men­schen im Mit­tel­punkt steht. Die Be­schrei­bun­gen rei­chen vom »Team­player« über den »Zir­kus-Domp­teur«, die »Mutti der Firma«, den »Haus­meis­ter«, den »Men­schen­ ma­na­ger« oder den »An­walt« – des Pu­bli­kums oder aber noch abs­trak­ter der Hei­ mat. Da­bei wird deut­lich, dass sich alle Inter­view­ten als MedienmanagerIn mit ei­ner Füh­rungs- und Lei­tungs­funk­tion se­hen, für die sie di­plo­ma­ti­sche Fä­hig­kei­ ten be­nö­ti­gen (»Man muss Kofi-Anan-Qualitäten ha­ben, um ei­ni­ger­ma­ßen durch­ zu­kom­men«, Re­dak­tions­lei­ter, öf­fent­lich-recht­li­ches Fern­se­hen). Sie ha­ben eine »Ka­ta­ly­sa­tor­funk­tion an der Schnitt­stelle zwi­schen Ver­lag und Re­dak­tion« (Ge­ schäfts­füh­rer, Zeit­schrift), be­to­nen da­mit ein Selbst­ver­ständ­nis, das sich von dem jour­na­lis­ti­schen Be­rufs­rol­len­ver­ständ­nis unter­schei­det (Mey­en/Ries­meyer 2009) und ver­deut­li­chen, dass es ihre Auf­gabe ist, ein Me­dien­unter­neh­men zu ver­wal­ten und so zum Er­folg zu füh­ren bzw. Ge­fah­ren von die­sem ab­zu­wen­den. Dass sie da­ für un­po­pu­läre Ent­schei­dun­gen tref­fen müs­sen, ist ih­nen be­wusst. Die­ser Er­folg hängt für die inter­view­ten MedienmanagerInnen von der Qua­ li­tät des Pro­dukts ab: Qua­li­täts­jour­na­lis­mus, ge­paart mit ei­ner an­spre­chen­den Auf­ma­chung und ei­ner Mi­schung aus »ein­zig­ar­tig und in­no­va­tiv« macht für sie ein er­folg­rei­ches Pro­dukt aus: »Qua­li­täts­jour­na­lis­mus ist in ers­ter Li­nie saube­rer

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Jour­na­lis­mus, saube­res Re­cher­chie­ren, ehr­lich, di­rekt und nicht in jedem Tüm­pel wüh­len«, sagte ein Re­dak­tions­lei­ter bei ei­nem öf­fent­lich-recht­li­chen Ra­dio­sen­der. Auch El­mar The­ve­ßen, stell­ver­tre­ten­der Chef­re­dak­teur des ZDF, be­stä­tigte die­sen An­spruch für seine Arbeit: »Die Bes­ten zu sein zu jedem The­ma. Den bes­ten Hin­ ter­grund, die Zu­sam­men­hänge am besten er­klä­ren, die kon­kre­tes­ten und ver­läss­ lichs­ten In­for­ma­tio­nen lie­fern.« Hin­sicht­lich der Wahr­neh­mung, wann ein Pro­dukt qua­li­ta­tiv wert­voll ist, exis­tie­ren Ab­stu­fun­gen und unter­schied­li­che Ein­schät­zun­gen unter den ManagerInnen. In den Inter­views dis­ku­tie­ren sie den Qua­li­täts­be­griff und kön­nen ge­nau be­nen­nen, was für sie Qua­li­tät aus­macht – oder eben nicht. Ihre Wahr­neh­mung wird stark vom ­Me­dium be­ein­flusst, für das sie arbei­ten. Ein Bei­spiel: Die­je­ni­gen MedienmanagerInnen, die für On­line­me­dien arbei­ten, mes­sen Qua­li­tät an den Klick­zah­len und da­mit der Pu­bli­ kums­auf­merk­sam­keit, die ein Text oder Bei­trag er­hält. Die übrigen ManagerInnen de­fi­nie­ren Qua­li­tät über den In­halt und den An­spruch, mög­lichst un­ab­hän­gig und plu­ral be­rich­ten zu kön­nen und ihr Pro­dukt zu ver­kau­fen. Über­ra­schen­der­weise füh­ ren die ManagerInnen in den Inter­views den Er­folg ei­nes Me­diums nicht auf die be­nö­tig­ten fi­nan­ziel­len oder per­so­nel­len Res­sour­cen zu­rück. Beide As­pek­te, die zu den Rah­men­be­din­gun­gen ei­nes er­folg­rei­chen Pro­duk­tes zäh­len, er­wäh­nen sie nicht. Mög­li­cher­weise ist dies da­mit zu er­klä­ren, dass sie die­sen Rah­men nicht (mehr) re­ flek­tie­ren, weil er für sie zu den Unter­neh­mens­grund­la­gen ge­hört. Ge­fragt um ei­nen Rat, was man leis­ten müs­se, um ein Pro­dukt zum Er­folg zu füh­ren, kom­men alle Inter­view­ten wie­derum auf das Pu­bli­kum und seine In­ter­es­ sen zu spre­chen. Sie ra­ten zu ei­ner Stra­te­gie, die dar­auf zielt, Be­dürf­nisse beim Pu­bli­kum zu kre­ie­ren, die es vor­her nicht hatte oder kann­te: »Die Kunst ist es, als Chef­re­dak­teur her­aus­zu­fin­den, wel­ches Be­dürf­nis ha­ben die Men­schen und wis­sen aber noch gar nichts da­von. Und wenn ich es her­aus­finde und denen das bie­te, dann sind sie glück­lich«, sagte ein Chef­re­dak­teur ei­ner Zeit­schrift. Der Er­folg von Land­ zeit­schrif­ten (Land­lust, Land­fee usw.) be­stä­tigt diese Ein­schät­zung: Die­ses Zeit­ schrif­ten­seg­ment ist nach Be­fun­den der Pu­bli­kums­for­schung kre­iert wor­den und ver­kauft in­zwi­schen mehr Ex­em­plare als Der Spie­gel (IVW 2015; Spie­gel Gruppe 2015). Klaus (2005: 138) ver­mu­tet, dass ge­rade in me­dia­len Um­bruch­pha­sen eine Orien­tie­rung an und eine Rück­be­sin­nung auf die Wün­sche des Pu­bli­kums er­fol­ge, um das Pro­dukt am Markt aus­zu­rich­ten. Er­war­tungs­struk­tu­ren: Pro­fes­sio­na­li­tät und Mensch­lich­keit als Nor­men Re­geln und Nor­men, die man sich selbst setzt oder denen man fol­gen muss, weil es der Arbeit­ge­ber for­dert, bil­den die Er­war­tungs­struk­tu­ren und da­mit das, was man leis­ten soll. Dazu zählt das selbstauferlegte Ziel, mensch­lich mit KollegInnen um­zu­ge­hen (»Dass ich im­mer fair mit den Men­schen um­ge­gan­gen bin«, ant­wor­

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tete ein Re­dak­tions­lei­ter ei­ner Ta­ges­zei­tung auf die Fra­ge, was von ihm blei­ben soll, wenn er in den Ru­he­stand geht). Zu­dem spra­chen die Inter­view­ten von der Ver­pflich­tung (durch den Arbeit­ge­ber) zur wahr­haf­ten und glaub­wür­di­gen Be­richt­ er­stat­tung im Sinne von Be­rufs­stan­dards (bei­spiels­weise des Pres­se­ko­de­xes). »Ich wäre wirk­lich ent­setzt, wenn meine Re­dak­teure ab­schrei­ben wür­den«, sagte ein Chef­re­dak­teur ei­ner Zeit­schrift. Für ihn und seine KollegInnen ist die Glaub­wür­ dig­keit auch des­halb zen­tral, weil sie so ein an­spre­chen­des Wer­be­um­feld für An­ zei­gen­kun­den schaf­fen. Auch bei den Er­war­tungs­struk­tu­ren zeigt sich, wel­che Be­deu­tung das Pu­bli­ kum für den Markt­er­folg hat. Un­ab­hän­gig vom Me­dien­typ spre­chen die MedienmanagerInnen vom Pro­dukt­er­folg, der an Ver­kaufs­zah­len und Reich­wei­ten ge­mes­ sen wird, die sie er­rei­chen sol­len. Die Quote zählt, auch wenn das Unter­neh­men neben Wer­bung an­dere Ein­nah­me­quel­len hat, wie der öf­fent­lich-recht­li­che Rund­ funk. »Die Quote spielt auch bei uns eine Rol­le, die ist bei uns zum Glück nicht ent­schei­dend. Aber wir sol­len na­tür­lich nicht unter eine ge­wisse Quote ge­hen, dann wird es ge­fähr­lich«, sagte ein Ge­schäfts­füh­rer ei­nes öf­fent­lich-recht­li­chen Ra­dio­ sen­ders. Wie ver­hält es sich in der Be­rufs­pra­xis mit dem Tren­nungs­grund­satz: Was gilt als le­gi­tim und was als Gren­ze, die nicht über­schrit­ten wer­den darf? Wäh­rend die Be­funde bis­her ver­deut­li­chen, dass sich MedienmanagerInnen un­ab­hän­gig von ihrer Po­si­tion oder kon­kre­ten Auf­gabe sehr ähn­lich sind, fal­len hier Dif­fe­ren­zen auf: MedienmanagerInnen mit ei­ner in­halt­li­chen Ver­ant­wor­tung be­to­nen die Un­ ab­hän­gig­keit des Me­diums (»Da darf Un­par­tei­lich­keit, Un­ab­hän­gig­keit nicht nur als Plat­ti­tüde ab­ge­druckt wer­den, sie muss sich auch wi­der­spie­geln«, Chef­re­dak­ teur Ta­ges­zei­tung). GeschäftsführerInnen hin­gegen se­hen die Vor­teile in ei­ner wirt­schaft­li­chen Zu­sam­men­arbeit und Ko­ope­ra­tio­nen und ge­ben in den Inter­views of­fen die la­tente Ver­mi­schung von In­halt und Wer­bung bei Zeit­schrif­ten zu. Diese wird aber als Mehr­wert für die LeserInnen le­gi­ti­miert. Wich­tig sei es, den Schein der Pro­fes­sio­na­li­tät als oberste Norm zu wah­ren, denn »ver­kauf­ter Jour­na­lis­mus ist keine Lö­sung, sonst ha­ben die An­zei­gen­kun­den gar kein ge­schei­tes Heft mehr, in dem sie ihre An­zei­gen plat­zie­ren kön­nen«, sagte der Ge­schäfts­füh­rer ei­ner Zeit­ schrift sehr of­fen­her­zig.

Fa­zit Eine Ta­ges­zei­tung wird ver­kauft, ein Nach­rich­ten­ma­ga­zin be­rich­tet po­si­ti­ver und öf­ter über seine Wer­be­kun­den als über an­dere Unter­neh­men, eine Zeit­schrift ­lie­fert jour­na­lis­ti­sche Be­richt­er­stat­tung, (nur) um An­zei­gen ein­zu­bet­ten. Diese Bei­spiele zei­gen die Di­men­sio­nen der Ent­schei­dun­gen auf, die MedienmanagerInnen täg­lich tan­gie­ren. Der vor­lie­gende Text ver­folgte zwei Zie­le: Ei­ner­

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seits zu zei­gen, wie man die Ak­teur-Struk­tur-Dy­na­mi­ken Uwe Schi­manks als Theo­rie­ge­rüst und Ana­ly­se­ras­ter nut­zen kann, wenn man an­de­rer­seits eine re­la­tiv un­be­kann­te, aber auf die Mög­lich­kei­ten zur öf­fent­li­chen Mei­nungs­bil­dung sehr ein­fluss­rei­chen Be­rufs­gruppe unter­su­chen will. Schi­manks Kon­zept der Ak­teurs­ kons­tel­la­tio­nen und so­zia­len Struk­tu­ren, die beide ge­mein­sam Hand­lun­gen und Hand­lungs­spiel­räume be­stim­men, bie­tet sich für diese Unter­su­chung an, weil mit sei­nem Kon­zept nicht nur die Hand­lun­gen per se, son­dern auch Mo­ti­ve, Ent­ schei­dun­gen und Pro­zesse – ope­ra­tio­na­li­siert als das Wol­len, Sol­len und Kön­nen – er­fasst wer­den kön­nen. Was ver­deut­licht die Fall­stu­die mit 71 ManagerInnen unter­schied­li­cher Me­ dien in Deutsch­land? In vie­len Fa­cet­ten sind sich die MedienmanagerInnen ähn­li­ cher als bis­lang in der Li­te­ra­tur an­ge­nom­men, un­ab­hän­gig da­von, ob sie in­halt­li­che oder öko­no­mi­sche Ver­ant­wor­tung in ei­nem Me­dium tra­gen:











Für diese Ähn­lich­keit spre­chen ers­tens die Ko-Orien­tie­rung, Ab­stim­mung und Zu­sam­men­arbeit zwi­schen je­nen, die öko­no­mi­sche und je­nen, die re­dak­tio­ nelle Ver­ant­wor­tung tra­gen, die in­ner­halb der Kon­stel­la­tions­struk­tu­ren deut­ lich ge­wor­den ist. Zwei­tens wol­len die ManagerInnen als Men­schen wahr­ge­nom­men, für die der Kon­takt zum Men­schen zählt. Das mag eine so­zial er­wünschte Ant­wort sein. Sie se­hen sich in ei­ner ver­wal­ten­den Rol­le, für die es Di­plo­ma­tie und Ver­hand­ lungs­ge­schick be­nö­tigt, um pro­fes­sio­nell mit KollegInnen um­ge­hen zu kön­ nen. Für sie zählt drit­tens der (wirt­schaft­li­che) Er­folg des Pro­dukts. Da­für zie­hen sie an »ei­nem Strang« und ver­fol­gen ge­mein­same Zie­le, be­ob­ach­ten die Kon­ kur­renz (so­wohl in­halt­lich als auch stra­te­gisch) und ad­ap­tie­ren ggf. Ver­än­de­ run­gen. Nicht al­le, aber doch ei­nige MedienmanagerInnen sind be­reit, für den Er­folg Gren­zen zwi­schen Unter­neh­mens­tei­len auf­zu­bre­chen und Kopp­lungs­ ge­schäfte ein­zu­ge­hen (umso den fi­nan­ziel­len Rah­men für die re­dak­tio­nelle Arbeit zu schaf­fen oder si­cher­zu­stel­len). Er­folg wird vier­tens stets am Pu­bli­kum ge­mes­sen. Es ist die Orien­tie­rungs­ größe für alle in­halt­li­chen und öko­no­mi­schen Ent­schei­dun­gen in den Me­dien­ unter­neh­men. In al­len so­zia­len Struk­tu­ren und Ak­teurs­kons­tel­la­tio­nen spre­ chen die MedienmanagerInnen vom Pu­bli­kum und da­mit na­tür­lich auch im­mer vom Ab­satz und Pro­dukt­er­folg auf dem Me­dien­markt, der die (un­ab­hän­gi­ge, qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge) Be­richt­er­stat­tung si­cher­stellt. Qua­li­tät wird fünf­tens an zwei In­di­ka­to­ren ge­mes­sen, die unter­schied­li­che Aus­gangs­punkte in den öko­no­mi­schen und re­dak­tio­nel­len Unter­neh­mens­tei­len ha­ben: Ent­we­der über­zeugt ein Me­dium durch sei­nen In­halt und es wird mit un­ab­hän­gi­gem, pro­fes­sio­nel­lem Jour­na­lis­mus in Ver­bin­dung ge­bracht (re­dak­ tio­nelle Per­spek­ti­ve). Oder aber das Pro­dukt ist qua­li­ta­tiv hoch­wer­tig, wenn es

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Auf­merk­sam­keit beim Pu­bli­kum er­zielt (Klick­zah­len, Auf­la­gen­zah­len, öko­no­ mi­sche Per­spek­ti­ve). Letzt­ge­nannte Qua­li­täts­de­fi­ni­tion hat ernst­zu­neh­mende Im­pli­ka­tio­nen für den Jour­na­lis­mus, weil MedienmanagerInnen den öko­no­ mi­schen Hand­lungs­spiel­raum be­stim­men, den JournalistInnen zur Ver­fü­gung ha­ben – oder nicht.

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Eine Pio­nie­rin, aber keine Fe­mi­nis­tin

Eine Pio­nie­rin, aber keine Fe­mi­nis­tin Herta Her­zogs Le­ben und Werk aus Sicht der kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­for­schung Mar­tina Thiele

Prä­mis­sen ei­ner fe­mi­nis­ti­schen Wis­sen­schafts­geschichts­schrei­bung Ein Blick zu­rück in die Ge­schich­te, bzw. auf das, was uns als Ge­schichte prä­sen­tiert wird, macht deut­lich, dass es sich da­bei um eine von Män­nern ge­prägte Meta-Er­ zäh­lung han­delt, um »his story«. Sie be­ruht auf ei­nem an­dro­zen­tri­schen Welt­bild. Das gleiche gilt für die Ge­schichte ei­nes Fa­ches wie der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­ schaft. Auch sie ist eine von Män­nern ge­prägte und er­zählte Fach­ge­schichte (vgl. Ross 2013). Nur ver­ein­zelt und am Rande tau­chen Frauen auf. Ihr Bei­trag zur Ent­wick­lung des Fa­ches, sei­ner Me­tho­den und Theo­rien er­scheint ge­ring. So ge­ ring war er aber nicht. Das zu ver­deut­li­chen und Frauen als Wis­sen­schaft­le­rin­nen sicht­bar wer­den zu las­sen, lau­tet ein wich­ti­ges An­lie­gen der kom­mu­ni­ka­tions­wis­ sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­for­schung, die in ihren An­fän­gen vor al­lem Frau­en­ for­schung war. So schreibt Lana F. Ra­kow vor mehr als zwan­zig Jah­ren: »We must make it im­pos­sible to dis­cuss the his­tory of cur­rent state of af­fairs of the field in terms that make us in­vis­ible.« (Ra­kow 1992: 15) Sicht­bar­keit al­lein schützt je­doch nicht vor Mar­gi­na­li­sie­rung. Es geht in der fe­mi­nis­ti­schen De­batte im­mer auch um po­li­ti­sche An­er­ken­nung und um Teil­habe an der Macht (vgl. Schaf­fer 2008). Ge­schlecht als Struk­tur­ka­te­go­rie und als so­zia­ les Kon­strukt zu be­grei­fen, hat zur Fol­ge, frü­here und der­zeit be­ste­hende (Macht-) struk­tu­ren zu hin­ter­fra­gen und be­zo­gen auf die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft be­ ste­hende Wis­sens­be­stände und ihre Ent­ste­hung zu über­prü­fen. Kon­kret: Kri­tik an Me­tho­den und Theo­rien so­wie der Aus­wahl der For­schungs­gegen­stände zu üben. So wur­den die zu­meist auf Dualis­men be­ru­hen­den Er­kennt­nis­lo­gi­ken der em­pi­ri­ schen So­zial­for­schung von der kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­ for­schung in ver­schie­de­nen Punk­ten – Ob­jek­ti­vi­tät vs. Sub­jek­ti­vi­tät, quan­ti­ta­tive vs. qua­li­ta­tive Me­tho­den, Es­sen­tia­lis­mus vs. (De)kon­struk­ti­vis­mus – hin­ter­fragt

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und Gegen­ent­würfe zum be­ste­hen­den theo­re­ti­schen und me­tho­di­schen Main­stream ent­wi­ckelt (vgl. Cree­don 1993; Klaus 1998; Wack­witz/Ra­kow 2004). So­wohl die Kom­mu­ni­ka­tor-, als auch die Re­zi­pien­ten- und Wir­kungs­for­schung, so­wohl die Me­dien- als auch die Me­dien­in­halts­for­schung wur­den mit den An­sprü­chen und Er­geb­nis­sen der Ge­schlech­ter­for­schung kon­fron­tiert. FeministInnen wie­sen auf Leer­stel­len, Ein­sei­tig­kei­ten und Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen der Main­stream-For­schung. Doch neben der Kri­tik am Be­ste­hen­den sol­len Mög­lich­kei­ten der Er­kennt­nis und Po­ten­ziale auf­ge­zeigt wer­den, die sich durch eine In­te­gra­tion der Ge­schlech­ter­ for­schung in die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft er­ge­ben (vgl. Klaus/Rö­ser/Wi­ scher­mann 2001; Lü­nen­borg/Maier 2013). Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che Ge­schlech­ter­for­schung ist so ge­se­hen nicht etwa ein »Teil­ge­biet« oder wie es man­ che KommunikationswissenschaftlerInnen se­hen ein »Neben­kriegs­schau­platz«, son­dern eine Per­spek­ti­ve, die unter Rück­griff auf ver­schie­dene Theo­rie­be­stände und mit Hilfe ver­schie­de­ner Me­tho­den die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft ins­ge­ samt ver­än­dern will. Die an­ge­streb­ten Ver­än­de­run­gen set­zen his­to­ri­sches Be­wusst­sein und die Be­ rück­sich­ti­gung des je­wei­li­gen ge­sell­schaft­li­chen Kon­tex­tes vor­aus, die Reflektion des ei­ge­nen Stand­punk­tes und die Be­reit­schaft, über den Tel­ler­rand der ei­ge­nen Dis­zi­plin hin­aus zu schau­en, tat­säch­lich inter­dis­zi­pli­när zu arbei­ten und die Er­ kennt­nisse aus an­de­ren Be­rei­chen zu nut­zen, um letzt­lich zur Ent­wick­lung ei­ner ge­rech­te­ren Welt bei­zu­tra­gen. Diese Grund­über­zeu­gun­gen fe­mi­nis­ti­scher und zu­gleich kri­ti­scher Wis­sen­schaft sind nor­ma­ti­ver Na­tur. Im be­ste­hen­den Wis­sen­ schafts­sys­tem ver­wei­sen sie auf das, was ist, mehr noch aber auf das, was zu­künf­ tig sein soll­te. Frau­en­ge­schichte (herstory) stehe zwar, so Clau­dia Opitz (2008: 16), in der Tra­di­tion des Dif­fe­renz­fe­mi­nis­mus, habe aber auch eine tröst­li­che uto­ pi­sche Kom­po­nen­te, weil ir­gend­wann ein­mal »Frauen«- und »Män­ner«geschichte zu ei­ner all(e)um­fas­sen­den Ge­schichte zu­sam­men­ge­führt wer­den könn­ten.

Herta Her­zog – mit­ten­drin und au­ssen vor Ausgehend von die­sen Prä­mis­sen ei­ner kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­ schlech­ter­for­schung und fe­mi­nis­ti­schen His­to­rio­gra­phie wird im Fol­gen­den Herta Her­zogs Le­ben und Werk be­trach­tet. Bis­lang fand das we­nig Be­ach­tung, wenn­ gleich im deutsch­spra­chi­gen Raum mit Eli­sa­beth Klaus’ Auf­satz What do we re­ally know ab­out Herta Her­zog (Klaus 2008) eine erste um­fas­sende und kri­ti­sche Wür­ di­gung des wis­sen­schaft­li­chen Werks Her­zogs vor­liegt und mit der Wie­ner Ta­gung 2011 eine ver­tief­te, auf inter­na­tio­na­ler Ko­ope­ra­tion ba­sie­rende Be­schäf­ti­gung mit Herta Her­zog be­gon­nen hat (vgl. Thiele 2011; Klaus/Seethaler 2015). Herta Her­zog hat sich selbst nicht als fe­mi­nis­ti­sche oder kri­ti­sche Wis­sen­ schaft­le­rin be­zeich­net hat. Da­zu be­fragt an­twor­tet sie 1994 Elis­a­beth Perse in ei­

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nem Brief: »Gen­der has nev­er played a role in my pro­fes­sional life. I am not a fe­mi­nist but I un­der­stand if others are.« (Her­zog 1994a, Let­ter to Per­se) In ei­ner Mono­gra­phie, die auf die Leis­tun­gen von Frauen in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­ schaft ab­stellt, möchte sie lie­ber nicht vor­kom­men: »If the emp­ha­sis on the book is Wo­men in capital let­ters, I’d rather not be in­clu­ded. I’d un­ders­tand the omission1.« (Ebd.) Trotz die­ser Zu­rück­hal­tung in Sa­chen Fe­mi­nis­mus und Frau­en­for­schung hat Her­zog zu­wei­len Wis­sen­schaft in ei­ner Form be­trie­ben, die als un­or­tho­dox, in­no­va­tiv oder grenz­über­schrei­tend be­zeich­net wer­den kann und das In­ter­esse von FeministInnen ge­weckt hat. Auf drei Punk­te, durch die sich Her­zog vom wis­sen­ schaft­li­chen ma­le- und mainstream ab­setzt, ist aus­führ­li­cher ein­zu­ge­hen: Ers­tens auf Her­zogs be­ruf­li­chen Wer­de­gang, ihre Min­der­hei­ten­po­si­tion als Wis­sen­schaft­ le­rin und Markt­for­sche­rin und die trotz ge­schlechts­spe­zi­fi­scher Be­nach­tei­li­gun­gen er­folgte Kar­rie­re, zwei­tens dar­auf, wen und was Her­zog er­forscht hat, drit­tens auf die von ihr prä­fe­rier­ten wis­sen­schaft­li­chen Me­tho­den. Wis­sen­schaft­le­rin und Markt­for­sche­rin Rückblickend er­scheint Her­zog ei­ner­seits als Op­fer des männ­lich ge­präg­ten Wis­ sen­schafts­be­triebs, an­de­rer­seits als über­aus er­folg­rei­che Kar­rie­re­frau, als »›gray emi­nence‹ of market research« (Her­bert Krug­man, ein Kol­lege Her­zogs, zit. nach Glad­well 2009: 94). Für beide Sicht­wei­sen gibt es Be­le­ge. So zeigt sich die Mar­gi­na­li­sie­rung und An­ni­hi­lierung im Wis­sen­schafts­be­trieb in schlech­te­rer Be­zah­lung, Kar­rie­re­brü­chen und -um­we­gen so­wie ei­ner bis heute an­hal­ten­den »Un­sicht­bar­keit« oder aber ein­ge­schränk­ten Wahr­neh­mung ihres Werks. Her­zog war ins­be­son­dere zu Be­ginn ihrer Kar­riere auf die Für­spra­che und den gu­ten Wil­len an­de­rer an­ge­wie­sen. So wurde sie Teil der Ge­halts­ver­hand­lun­ gen zwi­schen Had­ley Can­tril and Paul F. La­zars­feld, nach­dem Can­tril La­zars­feld die Lei­tung des Prince­ton Ra­dio Re­search Pro­ject an­ge­bo­ten hat­te. In ei­nem Tele­ gramm an das Paar, das seine Som­mer­fe­rien 1937 in den ös­ter­rei­chi­schen Ber­ gen ver­brach­te, schrieb Can­tril: »Would you ac­cept full time position be­gin­ning Sep­tem­ber di­rec­ting Rocke­fel­ler Ra­dio Re­search. Sal­ary seven thou­sands another thou­sand Her­ta. As­sis­tant­ship two years sure pos­sible four. [. . .] Had­ley« (Tele­ gramm von Can­tril an La­zars­feld, zit. nach Fleck 2007: 266). Freund­li­cher­weise ver­dop­pelte Can­tril am Ende so­gar das Ge­halt für die pro­mo­vierte For­sche­rin, den­ noch blieb es weit unter dem, was ein gleich­qua­li­fi­zier­ter (männ­li­cher) For­scher er­hal­ten hät­te. Neben der deut­lich ge­rin­ge­ren Be­zah­lung ihrer wis­sen­schaft­li­chen Arbeit musste Her­zog hin­neh­men, dass ihr An­teil an Pu­bli­ka­tio­nen sehr viel ge­rin­ger er­ schien als er tat­säch­lich war. So wurde sie in dem 1940 er­schie­ne­nen Band The In­ 1 Auf ein Portrait Her­zogs wurde aber nicht ver­zich­tet (vgl. Perse 1996: 202–211).

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va­sion from Mars nicht als In­itia­to­rin, Au­to­rin oder gar Mit­her­aus­ge­be­rin ge­nannt. Statt­des­sen er­schien Can­tril als der al­lei­nige Her­aus­ge­ber »with the as­sis­tance of Herta Her­zog and Ha­zel Gau­det«. Da­bei war Her­zogs und Gau­dets An­teil nicht etwa ge­rin­ger als der Can­trils. We­gen die­ser Nicht-Er­wäh­nung sei­ner Frau ver­ schlech­terte sich das Ver­hält­nis zwi­schen Can­tril und La­zars­feld (vgl. Fleck 2007: 299). La­zars­feld und Stan­ton, die Her­aus­ge­ber von Ra­dio Re­search 1942–1943, ha­ben in der Ein­lei­tung we­nigs­tens auf Her­zogs Bei­trag hin­ge­wie­sen: »This whole work of edi­to­rial co-ordination has been done by Dr. Herta Her­zog in un­ti­ring un­ders­tan­ding and con­scien­ti­ous­ness. The in­creased re­spon­si­bil­ities of the two ed­ i­tors of the se­ries dur­ing war­time were such that with­out Dr. Her­zog’s work this vol­ume could not have ap­peared.« (La­zars­feld/Stan­ton 1944: viii) Mit­her­aus­ge­be­ rin war sie aber auch hier nicht. Das gleiche gilt für die Ent­wick­lung der Me­thode »fo­cus inter­view«. Zwar hat Ro­bert K. Mer­ton in frü­hen Pu­bli­ka­tio­nen noch Her­ zogs Bei­trag er­wähnt, mit der Zeit aber unter­blie­ben diese Hin­weise und Mer­tons Name war fortan mit der Me­thode ver­bun­den. Die ne­ga­ti­ven Er­fah­run­gen im Wis­sen­schafts­be­trieb ha­ben Her­zog nicht etwa po­li­ti­siert und zur Fe­mi­nis­tin wer­den las­sen. Statt­des­sen wagte sie 1943 den Wech­sel in die Pri­vat­wirt­schaft. Fi­nan­ziell und vor al­lem, was die Selbst­ be­stimmt­heit ihres be­ruf­li­chen Han­delns an­be­lang­te, er­wies sich das als rich­tige Ent­schei­dung. Wie­derum aber hatte Her­zog es bei der füh­ren­den Agen­tur Tin­ker & Part­ners mit ei­nem männ­lich do­mi­nier­ten be­ruf­li­chen Um­feld zu tun, mit dem sie sich ar­ran­gierte und den ganz all­täg­li­chen Se­xis­mus, wie er uns heute in Se­ rien wie Mad Men2 vor Au­gen ge­führt wird, aus­blen­de­te. Wie viele an­dere er­folg­ rei­che Frauen ihrer Ge­ne­ra­tion wollte Her­zog die täg­li­che Dis­kri­mi­nie­rung nicht se­hen. Sie fühlte sich als For­sche­rin weit­ge­hend ak­zep­tiert. Die von ihr prä­fe­rier­ ten qua­li­ta­ti­ven Me­tho­den gal­ten da­mals nicht als ›wei­che‹ oder gar ›von Frauen be­vor­zugte‹ Me­tho­den, son­dern als in­no­va­tiv, und eine Mög­lich­keit, die Mo­tive der KonsumentInnen wis­sen­schaft­lich zu er­for­schen an­statt auf Spe­ku­la­tio­nen zu ver­trau­en. In ei­nem Brief an Eli­sa­beth Perse ant­wor­tet Her­zog recht la­ko­nisch auf die Frage nach den Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­sen: »That most of the division heads in the research department were men was ac­ci­den­tal. To my knowl­edge there ex­isted no gen­der-re­lated prob­lem for me or them.« (Her­zog 1994a; Let­ter to Per­se) Mög­ li­cher­weise war die Si­tua­tion in der Markt­for­schung der 1960er Jahre tat­säch­lich schon eine an­dere als in der Wis­sen­schaft der 1940er Jah­re, war »man« im think tank von Tin­ker & Part­ners of­fe­ner für neue Ideen – selbst wenn sie von ei­ner Frau stamm­ten. So oder so wollte Her­zog statt sich zu be­schwe­ren durch Pro­fes­sio­na­ li­tät über­zeu­gen.

2 In die­ser Se­rie tritt in der ers­ten Folge der ers­ten Staf­fel eine Fi­gur na­mens Greta Gutt­ man auf, die an die reale Per­son Herta Her­zog an­ge­lehnt scheint.

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For­schungs­ob­jekte Die von Her­zog unter­such­ten Ra­dio­sen­dun­gen, so das be­rühmte Hör­spiel In­va­sion from Mars, die Ra­te­sen­dung Pro­fes­sor Quiz oder die täg­lich aus­ge­strahl­ten soap operas wa­ren aus Sicht der Kritischen Theorie von der Kul­tur­in­dus­trie pro­du­zierte Mas­sen­wa­re, ihre zahl­rei­chen HörerInnen Ver­blen­de­te, die sich in Schein­wel­ten flüch­ten. Eine Auf­fas­sung, die Her­zog an­fangs wohl teil­te, wie z. B. Ta­mar Lie­bes (2003) an Her­zogs Stu­die On Bor­ro­wed Ex­pe­rien­ces. An Ana­ly­sis of Lis­ten­ing to D­ay­time Sket­ches (1941) nach­weist, die aber in spä­te­ren Stu­dien nur noch an­satz­ weise er­kenn­bar ist. So for­mu­lierte sie zwar auf Ba­sis der Kritischen Theorie in What do we re­ally know ab­out day­time se­rial lis­ten­ers (1944) fünf An­nah­men zu den unter­schied­li­chen Grün­den von Hö­re­rin­nen und Nicht-Hö­re­rin­nen sich den radio so­aps zu­zu­wen­den, doch konn­ten diese An­nah­men weit­ge­hend nicht be­stä­tigt wer­den. Soap-Hö­re­rin­nen wa­ren we­der so­zial iso­liert, noch ein­ge­schränkt in ihren In­ter­es­sen, auch nicht we­ni­ger po­li­tik­in­ter­es­siert oder ängst­li­cher und frus­trier­ter. Sie wa­ren nur ins­ge­samt »ra­dio­af­fi­ner« (Her­zog 1944: 5 f.). Her­zog ge­langte auf­ grund ihrer Er­geb­nisse zu dem Schluss, dass das Ra­dio nicht nur in Kriegs­zei­ten zur Mei­nungs­bil­dung ein­ge­setzt wer­den kann: »We live in a world where the ul­ ti­mate cri­te­rion is no lon­ger what we like to do, but what our duty is. If ra­dio gets in­to the hab­it of tell­ing this to large num­bers of lis­teners now, it will ac­quire a tra­ di­tion which will make it an even more im­por­tant so­cial in­stru­ment aft­er the war.« (Her­zog 1944: 32 f.) Die Stu­die gilt heute als Mei­len­stein in der uses and gra­ti­fi­ca­ti­ons-For­schung und wird ins­be­son­dere dann zi­tiert, wenn es um ge­suchte und er­hal­tene Gra­ti­fi­ ka­tio­nen geht. Da­bei ge­rät zu­wei­len aus dem Blick, dass sich Her­zog ei­nem viel­ fach miss­ach­te­ten Genre und vor al­lem tat­säch­lich den Hö­re­rin­nen zu­ge­wandt hat. Schließ­lich, dass sie dazu auf­for­dert, nicht nur quan­ti­ta­tive Daten zur Zahl der NutzerInnen und Nut­zungs­dauer zu er­he­ben, son­dern die HörerInnen selbst dar­stel­len zu las­sen, warum sie das Ra­dio ein­schal­ten und wel­chen per­sön­li­chen Nut­zen sie aus die­sem und an­de­ren Me­dien­an­ge­bo­ten zie­hen (vgl. Klaus 2008: 238; Bruns­don 2000: 50). Her­zog be­tont die Ser­vice-, Rat­ge­ber- und Orien­tie­rungs­funk­tion unter­ hal­ten­der Sen­dun­gen. Sie gä­ben Ant­wor­ten auf Fra­gen des so­zia­len Mit­ein­an­ders. Ihrer Mei­nung nach eig­net sich das Ra­dio so­wohl zur Unter­hal­tung als auch zur Bil­dung (vgl. Her­zog 1944: 32). Das In­ter­esse an den RezipientInnen bzw. KonsumentInnen, ihren Ein­stel­lun­ gen und Ent­schei­dun­gen ist eine Kon­stante in Her­zogs For­sche­rin­nen­le­ben, un­ab­ hän­gig da­von, ob sie für ein pri­va­tes Markt­for­schungs­unter­neh­men tä­tig ist oder uni­ver­si­täre For­schung be­treibt, ob sie in den USA oder Eu­ropa lebt. Auch und ge­rade Unter­hal­tungss­en­dun­gen und ihr Er­folg bei den ZuschauerInnen blei­ben für sie ein The­ma, wie die vier Jahr­zehnte nach What do we re­ally know ab­out day­time se­rial lis­ten­ers vor­ge­nom­me­nen Stu­dien zu Dal­las (1986) und Dy­nasty

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(deutsch: Den­ver Clan) zei­gen (vgl. Her­zog Mas­sing 1986; 1990). Im Gegen­satz dazu schei­nen Her­zogs Anti­se­mi­tis­mus­stu­dien zu ste­hen, die sie als über 80-Jäh­ rige im Auf­trag des Je­ru­sa­le­mer Vi­dal Sas­soon Inter­na­tio­nal Cen­ter for the Study of An­ti­se­mit­ism in Ös­ter­reich durch­führte (Her­zog 1994b). Das Ver­bin­dende aber zwi­schen die­sen auf den ers­ten Blick sehr unter­schied­li­chen For­schungs­gegen­stän­ den sind die Rezi­pientInnen und ihre Mo­ti­ve, sich be­stimm­ten Me­dien­an­ge­bo­ten aus­zu­set­zen. Me­tho­den Her­zog wa­ren die unter­schied­li­chen quan­ti­ta­ti­ven und qua­li­ta­ti­ven Ver­fah­ren em­ pi­ri­scher So­zial­for­schung seit ihrer Wie­ner Zeit ge­läu­fig. In ihrer Dis­ser­ta­tion wid­ mete sie sich dem da­mals neuen Me­dium Ra­dio und er­forschte die Wir­kung männ­ li­cher und weib­li­cher Ra­dio-Stim­men auf die HörerInnen (vgl. Her­zog 1933). Dazu ent­wi­ckelte sie ei­nen Fra­ge­bo­gen, der in Wie­ner Tra­fi­ken aus­ge­legt und von mehr als 2700 HörerInnen aus­ge­füllt wur­de. Ein Er­geb­nis lau­tete, dass die ZuhörerInnen sehr ge­naue Vor­stel­lun­gen ha­ben vom Al­ter, so­zia­len Sta­tus, der äu­ße­ ren Er­schei­nung und Per­sön­lich­keit der SprecherInnen (vgl. Doug­las 2004: 102). Selbst­ver­ständ­lich kom­bi­nierte Her­zog auch in fol­gen­den Stu­dien In­halts­ana­ly­sen, Be­ob­ach­tun­gen, Be­fra­gun­gen und Ex­pe­ri­men­te, be­trieb Me­tho­den-Tri­an­gu­la­tion, um va­lide Er­geb­nisse zu er­hal­ten. An tech­ni­schen Mess­ge­rä­ten wie dem La­zars­ feld-Stan­ton Program Ana­ly­zer oder Blick­auf­zeich­nungs­ver­fah­ren (eye-track­ing) war sie ebenso in­ter­es­siert wie an tech­nisch we­ni­ger auf­wen­di­gen Me­tho­den, z. B. die ProbandInnen Zeich­nun­gen an­fer­ti­gen zu las­sen (vgl. Glad­well 2009: 95). Eine der von ihr be­vor­zug­ten und über die Jahre ver­fei­ner­ten Me­tho­den war das sogenannte Fo­kus- oder Tie­fen­in­ter­view. Da­bei han­delt es sich um eine re­la­tiv of­fe­ne, qua­li­ta­tive Me­tho­de, bei der eine Gruppe von ProbandInnen, die auf­grund so­zio­de­ mo­graphi­scher Merk­male und auf­grund des Kon­sum­ver­hal­tens zu­sam­men­ge­stellt wor­den ist, Fra­gen be­ant­wor­ten soll. Diese Fra­gen be­zie­hen sich auf Ein­stel­lun­gen, Mei­nun­gen, Über­zeu­gun­gen be­stimmte Pro­dukte und Dienst­leis­tun­gen be­tref­fend. Die InterviewerInnen kön­nen auf ei­nen Inter­view­leit­fa­den zu­rück­grei­fen, sol­len aber fle­xi­bel agie­ren und ge­ge­be­nen­falls be­stimmte As­pekte auf­grei­fen und ver­ tie­fen. In ers­ter Li­nie aber sol­len sie die Be­frag­ten zum Re­den brin­gen und ih­nen zu­hö­ren, um mehr über ihre Ein­stel­lun­gen zu er­fah­ren. Her­zog hat ihren Aus­län­ de­rin­nen­sta­tus laut Doug­las da­bei durch­aus zu nut­zen ge­wusst: »Her trick was to play dumb [. . .]. Be­cause she had an Aus­trian ac­cent and was a re­cent em­mig­rant, the re­spon­dents felt they had to ex­plain the se­miot­ics of ra­dio pro­duc­tion very care­ ful­ly to her, some­times call­ing her Dearie.« (Doug­las 2004: 139) Ro­bert K. Mer­ton und Pa­tri­cia Ken­dall stel­len die Me­thode des fo­cu­sed inter­ view 1946 in ei­nem Bei­trag für das Ame­ri­can Jour­nal of So­cio­logy vor. Im­mer­hin er­wäh­nen sie dort Her­zog, die diese Me­thode be­reits er­probt hat:

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»The fo­cused in­ter­view was ini­tial­ly de­vel­oped to meet cer­tain prob­lems grow­ing out of com­mu­ni­ca­tion re­search and pro­pa­ganda ana­ly­s­is. The out­lines of such prob­lems ap­pear in de­tailed case stud­ies by Dr. Her­zog, deal­ing with the grat­i­fi­ca­tion found by lis­teners in such ra­dio programs as day­time se­rials and quiz com­pe­ti­tions. With the sharpen­ing of ob­jec­tives, re­search in­ter­est centered on the ana­ly­s­is of re­sponses to par­tic­u­lar pam­phlets, ra­dio programs, and mo­tion pic­tures. Dur­ing the war Dr. Her­zog and the se­nior author of the pre­se­ nt pa­per were as­signed by sev­er­al war agencies to study the psy­cho­log­i­cal ef­fects of spe­cific mo­rale-build­ing de­vices. In the course of this work the fo­cused in­ter­view was pro­gres­sive­ly de­vel­oped to a rel­a­tive­ly stan­dard­ized form.« (Mer­ton/Ken­dall 1946: 542)

Nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges kam das fo­cu­sed inter­view in der Markt­for­ schung zum Ein­satz. Statt po­li­ti­sche Stim­mungs­bil­der zu er­he­ben, ging es nun um Kun­den­feed­backs auf neue Pro­dukte und Ver­kaufs­me­tho­den. Her­zog hält sich zu­ gu­te, diese Me­thode ent­wi­ckelt und ver­fei­nert zu ha­ben (vgl. Her­zog 1994a, Let­ter to E. Per­se; Glad­well 2009: 94). Dar­über hin­aus gilt Her­zog als die­je­ni­ge, die den Be­griff Image für die Markt­for­schung frucht­bar ge­macht hat. In dem Brief an Eli­ za­beth Perse be­ruft sie sich auf ihren Wie­ner Leh­rer Karl Büh­ler: »Prof. Büh­ler had tal­ked ab­out the concept of ,psychological environment‹. I was look­ing for a way how this phe­nom­en­ o­log­i­cal no­tion could be in­tro­duced in­to mar­ket re­search: the con­cept of Image seemed to do it.« (Her­zog 1994a, Letter to Perse) Psy­cho­lo­gi­sche An­sätze und der Ein­satz qua­li­ta­ti­ver Me­tho­den ha­ben die Mei­ nungs-, Markt- und Kon­sum­for­schung re­vo­lu­tio­niert. Er­forscht wurde nun nicht mehr nur, wer was kauft, son­dern auch warum be­stimmte Pro­dukte »an­kom­men«. Grundsätzlich war Her­zog fest da­von über­zeugt, dass sich mit Hilfe em­pi­ri­scher Ver­ fah­ren Ein­stel­lun­gen und Be­dürf­nisse eru­ie­ren las­sen. Es komme nur auf die rich­tige Tech­nik an. Ent­spre­chend wich­tig war ihr, KollegInnen im Füh­ren von Inter­views zu schu­len. Vor­wie­gend in­ter­es­siert an Me­tho­den und an­ge­wand­ter For­schung rück­ten wäh­rend ihrer Zeit in der Markt­for­schung theo­re­ti­sche Fra­gen in den Hin­ter­grund.

Her­zog aus fe­mi­nis­ti­scher Sicht: Ein­schät­zun­gen Zusammenfassend lässt sich sa­gen: Her­zog war zwar eine der we­ni­gen Frauen im Wis­sen­schafts­be­trieb und in der Markt­for­schung, aber sie war si­cher keine Fe­mi­ nis­tin. Auf gar kei­nen Fall sollte ihr Ge­schlecht ir­gend­wie aus­schlag­ge­bend sein. Her­zogs Dis­tanz zu fe­mi­nis­ti­schen Po­si­tio­nen schließt aber nicht aus, dass sie und ihr Werk aus fe­mi­nis­ti­scher Sicht ein in­ter­es­san­tes For­schungs­ob­jekt dar­stel­len. Ei­ner­seits be­stä­tigt Her­zogs Bei­spiel, wie schwer es Frauen im Be­rufs­le­ben hat­ten und dass sie und ihre Arbeit weit­ge­hend un­sicht­bar blie­ben, an­de­rer­seits war sie mehr als »die Ehe­frau von«. An­ders als die meis­ten Frauen ihrer Ge­ne­ra­tion war sie durch­gän­gig be­rufs­tä­tig, z. T. in lei­ten­der Po­si­tion. Sie hat Kar­riere ge­macht

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und er­scheint schon des­we­gen ihrer Zeit vor­aus. Bei Tin­ker & Part­ners, ei­ner der füh­ren­den Agen­tu­ren, war sie Teil des »think tank« und lei­tete die For­schungs­ab­ tei­lung. 1986, als sie schon wie­der in Eu­ropa lebte, wurde Her­zog »to her great sur­prise and plea­sure« »Hall of Fame Honoree« of the Market Research Coun­cil (vgl. Her­zog 1994a, Letter to Perse). Neben ihren be­ruf­li­chen Er­fol­gen zählt aus fe­mi­nis­ti­scher Sicht, dass sich Her­zog für das Me­dien­nut­zungs- und Kon­sum­ver­hal­ten auch von Frauen in­ter­es­sier­te, sie zu­min­dest als »Ziel­gruppe« ernst nahm. Das be­in­hal­te­te, zu­gleich die »Pro­dukte«, die von Frauen kon­su­miert wer­den, ob Ra­dio-Sen­dun­gen oder Kopf­schmerz­ta­blet­ten, zu unter­su­chen. Eine Tren­nung zwi­schen In­for­ma­tion und Unter­hal­tung, zwi­schen Hoch­kul­tur und Po­pu­lär­kul­tur, war so ge­se­hen, und das heißt vor al­lem: öko­no­misch ge­se­hen, ob­so­let. Auch auf­grund die­ser »Un­vor­ein­ge­nom­men­heit« hat Her­zog das In­ter­esse fe­mi­nis­ti­scher ForscherInnen ge­weckt. Al­ler­dings war wohl we­ni­ger ein eman­zi­pa­to­ri­scher An­spruch Her­zogs aus­schlag­ge­bend für die Unter­su­chung von Frauen und ihren Kon­sum­ge­wohn­hei­ten als das In­ter­esse der wer­be­trei­ben­den In­ dus­trie an den­je­ni­gen, die täg­lich Dut­zende Kauf­ent­schei­dun­gen tref­fen. Her­zogs krea­ti­ver und in­no­va­ti­ver Zu­gang zu For­schungs­me­tho­den, die mit dem La­bel »qua­li­ta­tiv« ver­se­hen wur­den, stellte ei­nen wei­te­ren Grund dar, sie für die Ge­schlech­ter­for­schung (wie­der) zu ent­de­cken. Schließ­lich ha­ben ge­rade fe­mi­ nis­ti­sche For­sche­rin­nen den Zu­sam­men­hang von Ge­schlech­ter­for­schung und qua­ li­ta­ti­ver For­schung be­tont (vgl. Mies 1978; Mül­ler 2010). Qua­li­ta­tive For­schung sei ins­ge­samt »of­fe­ner« und selbst­re­fle­xi­ver, sie er­laube die Dis­tanz der For­schen­ den zum Gegen­stand bzw. zu den Be­frag­ten/Be­forsch­ten zu ver­rin­gern, und sie ziele dar­auf ab, Phä­no­mene nicht nur zu er­klä­ren, son­dern sie zu ver­ste­hen, Theo­ rien nicht nur zu prü­fen, son­dern sie wei­ter zu ent­wi­ckeln oder gar neu zu ent­wer­ fen (vgl. Klein­ing 1995; Behn­ke/Meu­ser 1999). Al­ler­dings wurde auch kri­tisch an­ge­merkt, dass qua­li­ta­tive So­zial­for­schung nicht per se eman­zi­pa­to­risch sei (vgl. von Kar­dorff) und sich Ge­schlech­ter­for­schung ebenso quan­ti­ta­ti­ver Ver­fah­ren be­ die­nen kön­ne, ohne Ge­schlechter­di­cho­to­mien zu re­pro­du­zie­ren (vgl. z. B. Kin­ne­ brock/Dick­meis/Stom­mel 2012). Schließ­lich weckt Her­zogs Le­bens­weg des­we­gen das In­ter­esse von Ge­schlech­ ter­for­sche­rIn­nen, weil er nicht ge­rad­li­nig ist. Die po­li­ti­sche Si­tua­tion in Deutsch­ land und Ös­ter­reich Mitte der 1930er Jah­re, pri­vate wie be­ruf­li­che Ent­schei­dun­gen führ­ten Her­zog von Ös­ter­reich in die USA und wie­der zu­rück nach Eu­ro­pa, von der aka­de­mi­schen For­schung zur Markt­for­schung und wie­der zur aka­de­mi­schen For­schung (vgl. Klaus 2008). Als Eu­ro­päe­rin und Ame­ri­ka­ne­rin, Wis­sen­schaft­le­ rin und Markt­for­sche­rin, die quan­ti­ta­tive und qua­li­ta­tive Me­tho­den an­wandte und so­wohl Me­dien­an­ge­bote als auch ihre Nut­zung unter­such­te, war Her­zog im­mer in ver­schie­de­nen Wel­ten unter­wegs. Die­ses »so­wohl als auch« bzw. »dazwischenSein« wirft Fra­gen auf, die nicht ein­deu­tig zu be­ant­wor­ten sind. Eli­sa­beth Klaus kommt in ihrer um­fas­sen­den Aus­ein­an­der­set­zung mit Her­zog auf de­ren Be­schei­

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den­heit und Zu­rück­hal­tung, wenn es um be­ruf­li­che Er­folge geht, zu spre­chen. Für Klaus (2008: 247) ist nicht klar, »ob dies Aus­druck ei­ner Un­si­cher­heit gegen­über der Be­deu­tung der ei­ge­nen Arbeit ist, ein Zu­rück­schre­cken vor ei­ner kla­ren Po­ si­tio­nie­rung oder aber die Vor­weg­nahme ei­ner er­kennt­nis­theo­re­ti­schen Po­si­tion [. . .]«. Diese Un­ein­deu­tig­keit kann po­si­tiv ge­deu­tet wer­den als Fle­xi­bi­li­tät, so­ziale An­pas­sungs­fä­hig­keit und Of­fen­heit gegen­über Neu­em. An­ders wä­ren Er­fah­run­gen wie Krank­heit, Emi­gra­tion und Dis­kri­mi­nie­rung wohl kaum aus­zu­hal­ten ge­we­sen. Herta Her­zog hat sich – so­weit die vor­lie­gende Li­te­ra­tur die­sen Schluss er­laubt – nie be­klagt über Un­ge­rech­tig­kei­ten, die ihr wi­der­fah­ren sind. Sie hat auch nicht im Nach­hi­nein ihre Be­schei­den­heit als falsch be­zeich­net. Eine we­ni­ger po­si­tive Deu­tung lau­tet, dass Her­zog zu theo­rie­fern und zu un­po­ li­tisch war, um sich ein­deu­tig zu po­si­tio­nie­ren. Her­zog gilt als Mit­be­grün­de­rin des uses and gra­ti­fi­ca­ti­ons ap­pro­ach. Ta­mar Lie­bes hält diese Zu­schrei­bung aber für falsch. Her­zogs On bor­rowed ex­pe­ri­ence (1941) sei eine stark von den Prämis­sen der Kri­tis­chen Theo­rie beein­flusste Stu­die und auch in What do we real­ly know about day­time se­rial lis­teners sei dies­er Ein­fluss er­ken­nbar: »Her­zog’s work may be bet­ter un­der­stood with­in the par­a­digm of the Frank­furt school, which con­demns pop­u­lar con­sume­rist cul­ture for pro­vid­ing false grat­ifi ­ ­ca­tions to dis­em­po­wered in­di­vid­uals in mass so­ci­ety.« (Lie­bes 2003: 41) Lie­bes nennt ver­schie­de­ne, sehr nach­voll­zieh­bare Grün­de, wie es zu die­sem »mis­rea­ding as a gra­ti­fi­ca­tio­nist study« (Lie­bes 2003: 41) und »put­ting Her­zog in with the gra­ti­fi­ca­tio­nists« (Lie­bes 2003: 40) kom­men konn­te. Aber ist Her­zog de­swe­gen eine Vertrete­rin der Kri­tis­chen Theo­rie? The­o­dor W. Adorno war der Auf­fas­sung »one should not study the at­ti­ tude of lis­teners with­out con­sid­er­ing how far these at­ti­tudes re­flect broad­er so­cial behavior pat­terns and, even more, how far they are con­di­tioned by the struc­ture of so­ci­ety as a whole.« (Adorno 1945: 230) Eine ein­deu­tig ge­sell­schafts­kri­ti­sche Po­si­tio­nie­rung fin­det sich aber in Her­zogs Schrif­ten nicht. Über ihre po­li­ti­schen Ein­stel­lun­gen ist so gut wie nichts be­kannt. Zwi­schen Be­ruf und öf­fent­li­chem Wir­ ken auf der ei­nen Seite und ihrem Pri­vat­le­ben auf der an­de­ren Seite hat sie deut­lich unter­schie­den. Für sie war das Pri­va­te, jeden­falls ihr Pri­vat­le­ben, nicht auto­ma­ tisch po­li­tisch – und ver­all­ge­mei­ner­bar. Am Ende führt die Be­schäf­ti­gung mit Her­zogs Werk zu der Fra­ge, wel­che ihrer wis­sen­schaft­li­chen Pu­bli­ka­tio­nen in Zu­kunft noch eine Rolle spie­len und er­in­nert wer­den? Kön­nen ei­nige da­von zum Ka­non der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft und/oder Ge­schlech­ter­for­schung ge­zählt wer­den? Eine sol­che Frage ba­siert auf der grund­sätz­ li­chen Über­zeu­gung, dass man­che Pu­bli­ka­tio­nen bis heute so wich­tig sind, dass sie in Er­in­ne­rung blei­ben soll­ten. Die De­batte dar­über, wel­che AutorInnen und Werke den kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ka­non bil­den, ist an­hal­tend (vgl. Katz/Pe­ters/ Lie­bes/Or­loff 2003). Kri­tik kommt u. a. von fe­mi­nis­ti­scher Sei­te, denn Ka­no­ni­sie­rung be­deu­tet im­mer auch den Aus­schluss be­stimm­ter theo­re­ti­scher Per­spek­ti­ven und ihrer VertreterInnen (vgl. Ra­kow 2008; Thie­le/Klaus/Ries­meyer 2012).

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Im Falle Her­zogs be­steht das Pro­blem, dass ein Groß­teil ihrer Arbei­ten nicht pu­bli­ziert ist, auch des­we­gen, weil es sich um Auf­trags­for­schung han­del­te. Da­rauf weist sie in dem Brief an Elis­a­beth Perse hin: »The re­search be­tween the forties and end of sixties was cli­ent-spon­sored and pub­li­ca­tions not fea­sible.« (Her­zog 1994a; Let­ter to Per­se). Ihre letzte wis­sen­schaft­li­che Stu­die The Jews as Ot­hers (1994b), die die Lang­le­big­keit anti­se­mi­ti­scher Vor­ur­teile be­stä­tigt, fand bis­lang we­nig Be­ach­tung. Die Stu­die, die in­zwi­schen den Sta­tus ei­nes ka­no­ni­schen Texts und »Klas­si­kers« er­langt hat, ist What do we re­ally know ab­out day­time se­rial ­lis­ten­ers? (Her­zog 1944) Sie mar­kiert, so die prä­fe­rierte Les­art, den Über­gang von ei­ner me­dien­zen­trier­ten For­schung zu ei­ner re­zi­pien­ten­orien­tier­ten. Aus fe­mi­nis­ti­ scher Sicht ist der Text des­halb wich­tig, weil erst­mals Frauen und ihren Re­zep­tions­ ge­wohn­hei­ten wis­sen­schaft­li­che Auf­merk­sam­keit – von ei­ner Frau – ge­schenkt wurde und da­bei qua­li­ta­tive Me­tho­den zum Ein­satz ka­men. Was die­sen ei­nen Text Her­zogs an­be­langt, herrscht also in der Be­wer­tung als »ka­no­nisch« und »Schlüs­ sel­text« Ei­nig­keit, wenn auch aus unter­schied­li­chen Grün­den. Was je­doch Her­zogs Ge­samt­werk und sei­nen Stel­len­wert in­ner­halb der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft an­be­langt, unter­schei­det sich die fe­mi­nis­ti­sche Per­spek­tive von der nicht-fe­mi­nis­ ti­schen er­heb­lich. Not­wen­dig scheint im­mer noch, auf den Bei­trag von Frauen zur Ent­wick­lung der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft hin­zu­wei­sen, sie sicht­bar wer­den zu las­sen. In ei­nem zwei­ten Schritt ist der Ge­halt des wis­sen­schaft­li­chen Wer­kes, die An­stö­ße, die von ihm aus­ge­gan­gen sind, zu prü­fen. So geht Ta­mar Lie­bes der Frage nach, ob es eine Ver­bin­dung, »a ma­tri­li­neal line« (Lie­bes 2003: 44), zwi­ schen Herta Her­zogs Arbei­ten und denen von Ja­nice Rad­way und Ien Ang gibt. Und laut Su­san Doug­las war Her­zog »de­cades ahead of her time in an­tic­ip­ at­ing how post­struc­tur­al­ism, fem­in­ism, and post­mod­ern­ism would in­form me­dia crit­ i­cism and ana­ly­si­s by em­pha­siz­ing peo­ple’s am­biv­a­lent re­la­tion­ships to me­dia con­tent that was it­self filled with con­tra­dic­tions.« (Doug­las 2004: 144; 2006: 48) Das ist eine sehr weit­ge­hende Inter­pre­ta­tion. In man­cher Hin­sicht mag Her­zog tat­säch­lich fort­schritt­lich und un­kon­ven­tio­nell er­schei­nen, vor al­lem dort, wo sie die He­te­ro­ge­ni­tät der Me­dien­pu­blika be­tont. Ihr theo­re­ti­scher Bei­trag zur Kom­ mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft und zur Ge­schlech­ter­for­schung ist aber ge­rin­ger als er im Nach­hi­nein und mit dem Wis­sen um die wei­te­ren theo­re­ti­schen Ent­wick­lun­gen in­ner­halb der Gen­der Me­dia Stu­dies er­scheint. Ge­meint sind mit die­sen wei­te­ren theo­re­ti­schen Ent­wick­lun­gen vor al­lem (de-)kon­struk­ti­vis­ti­sche An­sät­ze, die Ge­ schlecht und Zwei­ge­schlecht­lich­keit als so­ziale Kon­struk­tio­nen ver­ste­hen und die Unter­schei­dung von »männ­lich« und »weib­lich« grund­sätz­lich hin­ter­fra­gen. An­ de­rer­seits ist es na­tür­lich leicht, mit dem in den letz­ten Jahr­zehn­ten an­ge­sam­mel­ten Wis­sen in Sa­chen »do­ing gen­der« Aus­las­sun­gen in Her­zogs Werk fest­zu­stel­len. Des­we­gen ist im­mer wie­der neu zu be­den­ken, wel­che wich­ti­gen An­stöße es für die kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che Ge­schlech­ter­for­schung ge­ge­ben hat.

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Eine Pio­nie­rin, aber keine Fe­mi­nis­tin  |  115

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vom Fach­be­reich Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Salz­burg und der Kom­mis­sion für ver­glei­chende Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­for­schung der Ös­ter­rei­chi­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten. Ta­gungs­be­richt. In: Me­ dien Jour­nal 35 (3), S. 63–66. Thie­le, Mar­ti­na/Klaus, Eli­sa­beth/Ries­mey­er, Clau­dia (2012): Wie Öf­fent­lich­keit für die kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Gen­der Stu­dies her­stel­len? Über­ le­gun­gen zur Ka­no­ni­sie­rung. In: Tanja Maier/Mar­tina Thie­le/Chris­tine Linke (Hg.): Me­dien, Öf­fent­lich­keit und Ge­schlecht in Be­we­gung: For­schungs­per­ spek­ti­ven der kom­mu­ni­ka­tions- und me­dien­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­ for­schung. Bie­le­feld: tran­script, S. 177–192. Wack­witz, Laura A./Ra­kow, Lana F. (2004): Fe­mi­nist communication theory. An introduction. In: Lana F. Ra­kow/Lau­ra A. Wack­witz (Hg.): Fe­mi­nist communication theory. Se­lec­tions in context. Thou­sand Oaks, Lon­don, New Del­hi: Sage, S. 1–10.

Analyse von Frames und Diskursen

»The po­wer to name«

»The po­wer to name« An­wen­dungs­mög­lich­kei­ten von Me­ta­phern­ana­ly­sen in der kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­for­schung Su­sanne Kirch­hoff

Ein­lei­tung: Die All­täg­lich­keit der Me­ta­phern Eine Frau stellt auf ihrer Fa­ce­book-Seite die fol­gende Fra­ge: »It is odd how society sees things. Let’s say if a guy sleeps with all these girls – ›He’s the man!‹ or a stud. But if a girl does, she’s a to­tal slut or who­re. Is society sexist?« Ein Mann, der ihr ver­mut­lich per­sön­lich be­kannt ist, ant­wor­tet: »Well, think ab­out it this way. If a key can open a bunch of locks, it’s vie­wed as a master key, and is awe­some to ha­ve. But if a lock is ope­ned by a lot of different keys, well, that’s a pretty shitty lock if you ask me.«1 (zit. n. Nerdy Fe­mi­nist 2013) Eine an­dere Frau schreibt für den bri­ti­schen Tele­graph ei­nen Gast­bei­trag: »The ›leaky pipeline‹ of wo­men in science – de­spite a gro­wing interest in science in school, Elea­nor Muf­fitt op­ted for hu­ma­ni­ties at university; she asks why girls let their talent fall by the way­side.« (Muf­fitt 2014) Diese bei­den Bei­spiele ste­hen hier nur stell­ver­tre­tend für viele Aus­ein­an­ der­set­zun­gen über Se­xua­li­tät, Gen­der, Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen, Fe­mi­nis­mus und Anti­fe­mi­nis­mus, die in All­tags­de­bat­ten aus­ge­han­delt wer­den. Sie ver­deut­ li­chen die All­täg­lich­keit des me­ta­pho­ri­schen Sprach­ge­brauchs ebenso wie seine Re­levanz für unser Ver­ständ­nis von Wirk­lich­keit. Eli­sa­beth Klaus hat in ihren Arbei­ten ver­schie­dent­lich die Be­deu­tung der me­dia­len All­tags­prak­ti­ken für die Her­stel­lung von Ge­schlecht her­aus­ge­arbei­tet und da­bei auch auf die Re­le­vanz dis­kur­si­ver Be­deu­tungs­kon­struk­tio­nen für die Le­bens­wirk­lich­keit von Sub­jek­ten hin­ge­wie­sen (z.  B. Klaus 2005; 2009; Klaus et al. 2012). Der vor­lie­gende Bei­ trag schließt daran an, in­dem an­hand der hier zi­tier­ten und wei­te­rer Bei­spiele die Zu­sam­men­hänge zwi­schen Me­ta­phern und der dis­kur­si­ven Kon­struk­tion von 1 Hier und in den fol­gen­den Zi­ta­ten aus die­sem Text wur­den Recht­schrei­bung und Gram­ ma­tik für eine bes­sere Les­bar­keit be­hut­sam an die gel­ten­den Re­geln an­ge­passt.

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so­zia­ler Wirk­lich­keit so­wie zwi­schen Me­ta­phern und Gen­der aus ei­ner kom­ mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­tive be­trach­tet wer­den. Das Ka­pi­tel en­det mit ei­ni­gen Über­le­gun­gen zur An­wen­dung der Ana­lyse des »Do­ing Gen­der mit Me­ta­phern«.

Me­ta­phern und Ko­gni­tion Die Blog­ge­rin Nerdy Fe­mi­nist (2013), die den zi­tier­ten Fa­ce­book-Ein­trag in ihrem Blog öf­fent­lich ver­brei­tet, bie­tet unter dem Ti­tel »The Stu­pi­dest Metaphor of all time« eine Ar­gu­men­ta­tion da­für an, warum die Schlüs­sel/Schloss-Me­ta­pher in ihren Au­gen so­wohl falsch als auch se­xis­tisch ist: »Even if the lock/key metaphor wasn’t sexist, which it is, it’s also just to­tally illogical. WHY in the world should we ex­tra­po­late a fact that is true ab­out an OB­JECT to be true ab­out our genitals? . . . Last I checked ­ my vagina and a lock have very little in common.« (Ebd.) Damit ­ tut sie et­was, das das Sprach­spiel er­heb­lich stört: Sie nimmt die Aus­sage wört­lich, um sie zu de­kon­stru­ie­ren und als falsch zu­rück­zu­wei­sen, und ver­wei­gert sich so ab­sicht­lich der Lo­gik der Me­ta­pher, denn ein me­ta­pho­ri­scher Sprach­ge­brauch ist eben ge­rade kein wört­li­cher Sprach­ge­brauch. Statt­des­sen liegt Me­ta­phern im­pli­zit eine Ver­gleichs­struk­tur zu­grun­de, die es am Bei­spiel der lock/key-Metapher er­laubt, Vor­stel­lun­gen über männ­li­che und weib­li­che Se­xua­li­tät zu ent­wi­ckeln. Die Mög­lich­keit des Ana­lo­gie­schlus­ses macht Me­ta­phern zu ei­nem wich­ti­gen Mit­tel für das Ver­ständ­nis der uns um­ge­ben­den Welt. Be­reits 1936 hatte Ivor A. Ri­chards ar­gu­men­tiert, dass Me­ta­phern ein sprach­ li­ches Phä­no­men sei­en, son­dern ein grund­le­gen­der Teil des Den­kens: »fun­da­men­ tally [metaphor] is a bor­ro­wing bet­ween an intercourse of thoughts, a transaction bet­ween con­texts. Thought is me­ta­pho­ric, and pro­ceeds by com­pa­ri­son, and the me­ta­phors of language de­rive the­ref­rom.« (Ri­chards 1950: 94) Diese ko­gni­tive Di­men­sion von Me­ta­phern ist vor al­lem seit An­fang der 80er Jahre durch die Arbei­ten von George La­koff und Mark John­son be­kannt ge­macht wor­den. Zu­grunde liegt die An­nah­me, dass Ko­gni­tio­nen ein Sys­tem von Quer­ ver­wei­sen dar­stel­len, mit denen sich Er­fah­run­gen in be­ste­hende Wis­sens­ho­ri­zonte ein­glie­dern und ef­fi­zient be­arbei­ten las­sen. La­koff und John­son (2003: 3) ver­ste­hen sprach­lich rea­li­sierte Me­ta­phern als Aus­druck von da­hin­ter lie­gen­den me­ta­pho­ri­ schen Kon­zep­ten. Ver­schie­dene me­ta­pho­ri­sche Sätze kön­nen da­her ei­nem ge­mein­ sa­men Quell- und Ziel­be­reich zu­ge­ord­net und die sys­te­ma­ti­schen Ver­bin­dun­gen zwi­schen ih­nen sicht­bar ge­macht wer­den. So las­sen sich bspw. Aus­sa­gen wie »Our nation was born out of a de­sire for free­dom.«, »His wri­tings are the product of his fer­tile imagination.«, »Your actions will only breed vio­lence« und »Uni­ver­si­ties are the in­cu­ba­tors for new ideas« ei­nem ge­mein­sa­men me­ta­pho­ri­schen Kon­zept »creation is birth« zu­ord­nen (vgl. La­koff/John­son 2003: 74).

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Ein wei­te­res zen­tra­les Merk­mal me­ta­pho­ri­scher Kon­zepte ist die par­tielle Be­ deu­tungs­über­tra­gung zwi­schen den bei­den Be­stand­tei­len der me­ta­pho­ri­schen Aus­ sa­ge. So wer­den in dem Satz »a wo­man’s genitals are a lock« nur ein­zelne Be­deu­ tungs­zu­schrei­bun­gen, die mit dem Be­griff »Schloss« ver­bun­den sind, auf ei­nen an­de­ren Be­griff – die weib­li­chen Ge­ni­ta­lien – über­tra­gen. Die­ser Pro­zess kann als »highl­ight­ing« und »hi­ding« ver­stan­den wer­den (vgl. Know­les/Moon 2006: 43 f.). In­dem Me­ta­phern ein­zelne As­pekte ei­nes Gegen­stands her­vor­he­ben und an­dere ver­ber­gen, bil­den sie Wirk­lich­keit nicht ein­fach ab, son­dern lie­fern Inter­pre­ta­tio­ nen – Kon­struk­tio­nen – von Wirk­lich­keit: »Thanks to the ubiq­uity of un­der­ly­ing con­cep­tual met­a­phors, the me­ta­phoric ex­pres­sions that de­rive from them ac­count for much of the cog­ni­tive con­struc­tion of so­cial re­la­tions. What is more, their func­tion of high­light­ing and hid­ing par­tic­u­lar se­man­tic fea­tures makes it pos­sible to trace ideo­log­ic­ al­ly vested choices in the gen­er­a­tion and us­age of com­plex met­ a­phors. Met­a­phor thus not on­ly proves to be an in­ter­face be­tween the cog­ni­tive struc­ture un­der­ly­ing a dis­course, on the one hand, and the ide­ol­ogy per­me­at­ing it, on the other hand. Met­a­phor also, as it is re­al­ized in sur­face-level me­ta­phoric ex­pres­sions, links dis­course and its man­if­ es­tion in text.« (Kol­ler 2005: 206)

Me­ta­pho­ri­sche Kon­zepte las­sen sich au­ßer­dem auf der sprach­li­chen Ebene in alle mög­li­chen Rich­tun­gen krea­tiv fort­spin­nen. So heißt es in ei­ner Dis­kus­sion über die ein­gangs eben­falls zi­tierte pipeline-Metapher unter an­de­rem: »Every time so­ meone talks ab­out the ›leaky pipeline‹, they are cal­ling me a ›drip‹.« – »It’s time to ack­now­ledge that the pipeline isn’t li­near. It’s di­ver­gent. The bran­ches are nu­ me­rous. The wo­men who choose an­ot­her path aren’t lea­king out. They’re choo­sing ot­her ad­ven­tu­res.« – »But all too of­ten I see wo­men scien­tists gi­ving up on their ca­reers and dre­ams al­to­ge­ther en­ding up in a puddle and not an­ot­her pipe.« (zit. n. Bio­chem­belle 2013) Die ko­gni­tive Funk­tion me­ta­pho­ri­scher Kon­zepte be­steht dar­in, sich in der Welt zu orien­tie­ren: Die in der Ein­lei­tung zi­tierte Ver­wen­dung der lock/key-Metapher dient dem Schrei­ber zum Ver­ständ­nis se­xuel­len Ver­hal­tens wie auch als Ar­gu­men­ta­tions­hilfe in per­sua­si­ver Funk­tion. Sie wer­tet die se­xuelle Er­fah­ren­heit he­te­ro­se­xu­el­ler Män­ner auf, die he­te­ro­se­xu­el­ler Frauen da­gegen ab und stellt zu­ gleich Hand­lungs­spiel­räume be­reit, in denen es für Män­ner wün­schens­wert ist, den se­xuel­len Kon­takt zu mög­lichst vie­len Frauen zu su­chen, Frauen dies aber um­ge­kehrt ver­wehrt wird. Mensch­li­che Ge­schlechts­or­gane und Se­xua­li­tät wer­ den mit ei­nem sprach­li­chen Tabu be­legt. Und nicht zu­letzt wird in der auf die­sen Kom­men­tar fol­gen­den Dis­kus­sion Ge­mein­schaft über Be­für­wor­tung oder Ab­leh­ nung der Me­ta­pher her­ge­stellt (vgl. Ber­tau 1996: 227  ff.). Ähn­li­ches lässt sich auch für die leaky pipeline-Metapher be­ob­ach­ten, die nicht nur das Phä­no­men des Ver­schwin­dens von Frauen aus aka­de­mi­schen Kar­rie­ren be­schrei­ben soll, son­dern

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darüber hinaus als Ar­gu­men­ta­tions­hilfe und Hand­lungs­vor­gabe für Frau­en-För­ der­pro­gramme dient2 und – wie die lock/key-Metapher – in ihren Im­pli­ka­tio­nen kon­tro­vers dis­ku­tiert wird.3 Das hier skiz­zierte Me­ta­phern­ver­ständ­nis er­laubt, Me­ta­phern nicht al­lein als ein Phä­no­men auf Text­ebene wahr­zu­neh­men, als schmü­cken­des Bei­werk, rhe­to­ ri­schen Kniff etc., son­dern als wich­ti­gen Be­stand­teil unse­res all­täg­li­chen Sprach­ ge­brauchs. Me­ta­phern sind dem­nach kein Aus­nah­me- son­dern ein Nor­mal­fall des Spre­chens. In­dem die ver­schie­de­nen sprach­li­chen Me­ta­phern ei­nem ge­mein­sa­men me­ta­pho­ri­schen Kon­zept zu­ge­ord­net wer­den, wer­den au­ßer­dem die Ver­bin­dun­gen zwi­schen ih­nen sicht­bar ge­macht, und eine all­täg­li­che Aus­sage wird als Aus­druck ei­ner be­stimm­ten Form der Wirk­lich­keits­kon­struk­tion und der durch sie er­mög­ lich­ten und be­schränk­ten Hand­lungs­spiel­räume er­kenn­bar.

Me­ta­phern und me­diale Dis­kurse La­koff und John­son be­rück­sich­ti­gen je­doch in ihrer ur­sprüng­li­chen For­mu­lie­ rung ei­ner ko­gni­ti­ven Me­ta­phern­theo­rie nur in sehr ge­rin­gem Um­fang die Kul­ tur­spe­zi­fik so­wie die Si­tua­tions­ge­bun­den­heit von me­ta­pho­ri­schen Kon­zep­ten, und kon­zen­trie­ren sich vor al­lem dar­auf, Kon­zepte auf kul­tur­über­grei­fen­de, all­ge­ mein-mensch­li­che Kör­per­er­fah­run­gen zu­rück­zu­füh­ren (vgl. La­koff/John­son 2003: 14 ff.). Diese es­sen­tia­li­sie­rende Fun­die­rung me­ta­pho­ri­schen Sprach­ge­brauchs ist ins­be­son­dere von je­nen kri­ti­siert wor­den, die die dis­kur­sive Di­men­sion der me­ta­ pho­ri­schen Be­deu­tungs­kon­struk­tion be­to­nen: Me­ta­phern seien vor al­lem ein Pro­ dukt dis­kur­si­ver Pro­zesse und zu­gleich an der dis­kur­si­ven Kon­struk­tion so­zia­ler Wirk­lich­keit be­tei­ligt (u.  a. De­ba­tin 1995: 247  ff.; Hülsse 2003; Mu­solff 2012). Der Bei­trag von Me­ta­phern zur in­di­vi­du­el­len Wirk­lich­keits­kon­struk­tion ist in die­ ser Per­spek­tive nach­ran­gig. Statt­des­sen wird nach den Re­geln des Er­schei­nens von Me­ta­phern in be­stimm­ten so­zio­his­to­ri­schen Kon­tex­ten ge­fragt, so­wie nach ihrer

2 Vgl. »A report by a NI STEM ad­vi­sory group of a few ye­ars back (http://www.del­ni.gov. uk/re­port_of_the_stem_re­view.pdf) tal­ked ab­out a STEM education ar­tery and when at the Royal So­ciety we used the term ›pool‹ to de­scribe po­ten­tial future scien­tists.« (zit. n. Bio­chem­belle 2013, vgl. Muf­fitt 2014; Kö­nig o. J.) 3 Vgl. »When a wo­man do­esn’t pur­suit [sic] the te­nure track, she ›lea­ked out‹ of the pipeline. Con­si­der that ter­min­ology for a moment and the con­no­ta­ti­ons it carries. When you have a leak in a pipe in your hou­se, you have to fix it. If you don’t fix it, that leak can cause all sorts of problems – wa­ter da­mage to sheet rock, wood rot, mold. When we say that wo­men leak out of the pipeline, it can sound as if we’re say­ing that they are ma­king the wrong de­ci­si­ons, ones that are harm­ful to science. It’s al­most as if we want wo­men to feel gu­ilty ab­out lea­ving the aca­de­mic track.« (Bio­chem­belle 2013)

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Be­deu­tung für die Pro­duk­tion von Wis­sens­be­stän­den (z. B. Kol­ler 2005; Wen­ge­ler 2006; Jä­ger/Jä­ger 2007). Da­durch ist die dis­kurs­orien­tierte Me­ta­phern­ana­lyse an eine so­zial­wis­sen­schaft­lich aus­ge­rich­tete Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­for­schung an­schluss­fä­hig. Dass Me­ta­phern in der Re­gel kein in­di­vi­du­el­les Phä­no­men sind (au­ßer im spon­ta­nen oder vor­sätz­li­chen Ge­brauch krea­ti­ver Me­ta­phern), son­dern dis­kur­siv ver­brei­tet und ak­tua­li­siert wer­den, zei­gen die Re­ak­tio­nen auf den Blog-Ein­trag von Nerdy Fe­mi­nist. Die KommentatorInnen be­stä­ti­gen nicht nur, der lock/key-Metapher be­reits mehr­fach be­geg­net zu sein, son­dern füh­ren auch an­dere Bei­spiele an, die dem­sel­ben me­ta­pho­ri­schen Kon­zept (genitals are (pairs of) in­ani­mate ob­jects) zu­zu­ord­nen sind. Eine Teil­neh­me­rin er­in­nert sich: »Ye­ars back . . . So­meone [in a TV-discussion, S. K.] ac­tu­al­ly, se­ri­ously made the argument that, be­cause lamps plug into walls, same-sex mar­riage is wrong. You know, be­cause you can’t connect two plugs to­ge­ther, or two outlets to­ge­ther.« (zit. n. Nerdy Fe­mi­nist 2013) Deut­lich wird in den Kom­men­ta­ren aber nicht nur, dass die Be­deu­tung von Me­ ta­phern und die Fä­hig­keit, sie an­zu­wen­den, durch ihre dis­kur­sive Ver­brei­tung ge­ lernt wer­den. Es zeigt sich au­ßer­dem, dass in den Dis­kur­sen kol­lek­tiv ver­bind­li­che Be­deu­tun­gen an­hand von Me­ta­phern aus­ge­han­delt wer­den. Die De­batte über die lock/key-Metapher in ei­nem fe­mi­nis­ti­schen Blog lie­fert auch hier­für ein gu­tes Bei­ spiel, weil die TeilnehmerInnen sie in die­sem Rah­men – an­ders als im ur­sprüng­li­ chen Fa­ce­book-Ein­trag – nicht ein­fach nur ver­wen­den kön­nen, son­dern die je­weils da­mit ver­bun­de­nen Be­deu­tun­gen re­flek­tie­ren müs­sen. So gibt es »BefürworterInnen« und »GegnerInnen« der Me­ta­pher, die an­hand der Frage der An­ge­mes­sen­heit des Schlüs­sel/Schloss-Bil­des ver­schie­dene Po­si­tio­nen in Be­zug auf weib­li­che und männ­li­che Se­xua­li­tät ver­han­deln. Wäh­rend der ur­sprüng­li­che Fa­ce­book-Ein­trag die Schlüs­sel/Schloss-Me­ta­pher als ver­kürzte Ar­gu­men­ta­tion für männ­li­che und gegen weib­li­che Pro­mis­kui­tät ver­wen­det, folgt ei­ner der »Be­für­wor­ter« ei­ner ganz an­de­ ren Lo­gik: »A lock re­pre­sents so­met­hing of worth in­ten­ded to be kept se­cu­re, while the key re­pre­sents the ab­ility to rea­lize that worth (birth). A lock and key is used to se­cure the worth of so­met­hing.« (Nerdy Fe­mi­nist 2013) Für ihn be­tont die Ana­lo­gie den Wert se­xuel­ler Kon­tak­te, den er in der Zeu­gung von Nach­kom­men sieht. Nach Fou­cault sind Dis­kurse der ver­macht­ete Ort, an dem kol­lek­tiv ver­bind­li­ ches, d. h. »wah­res« Wis­sen er­zeugt wird (vgl. Fou­cault 1977: 39 f.). Das Wis­sen, das der Dis­kurs her­vor­bringt, ist da­bei der je­wei­li­gen dis­kur­si­ven Pra­xis unter­ wor­fen, die u. a. steuert, wel­che Gegen­stände an wel­chem Ort, von wem und in wel­cher Weise aus­ge­spro­chen wer­den kön­nen (vgl. Fou­cault 1991). Die dis­kur­sive Pra­xis zeigt sich dem­ent­spre­chend auch im Er­schei­nen be­stimm­ter me­ta­pho­ri­scher Kon­zep­te, die mit den Gegen­stän­den des Dis­kur­ses in Ver­bin­dung ge­bracht wer­ den (vgl. Link 1984). Me­dien sind ein zen­tra­ler Trä­ger be­deu­tungs­kon­stru­ie­ren­der Dis­kur­se, die ihre ei­ge­nen Re­geln hin­sicht­lich der dort ver­han­del­ten The­men und In­halte (Gegen­

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stän­de), des Zu­gangs (Äu­ße­rungs­mo­da­li­tä­ten), der Genres (Be­grif­fe) und der Funk­tio­nen des Dis­kur­ses (Stra­te­gien) ha­ben (vgl. Kirch­hoff 2010: 86  ff.). So ge­hört es bspw. zu den Kenn­zei­chen von Social Me­dia- und On­line-Öf­fent­lich­ kei­ten, dass ihre de­zen­tra­len Netz­werke die ver­schie­de­nen Ebe­nen »gro­ßer« und »klei­ner« Öf­fent­lich­kei­ten in­te­grie­ren (vgl. Fraas et al. 2012: 36 ff.). Dies be­trifft zum ei­nen Ver­bin­dun­gen zwi­schen pro­fes­sio­nell her­ge­stell­ten und per­sön­li­chen Öf­fent­lich­kei­ten. Zum an­de­ren fin­den sich im Netz aber auch Dis­kurs­po­si­tio­nen auf Home­pages, Blogs etc., die durch Ver­lin­kun­gen und Po­si­tio­nie­run­gen in den Such­ma­schi­nen große Auf­merk­sam­kei­ten er­zie­len, neben klei­nen Dis­kurs­ge­mein­ schaf­ten, die ihre ge­mein­sa­men Be­deu­tungs­kon­struk­tio­nen über räum­li­che und zeit­li­che Be­gren­zun­gen hin­weg ent­wi­ckeln, ak­tua­li­sie­ren und sta­bi­li­sie­ren kön­ nen, wo­für so­wohl »lock/key« als auch »leaky pipeline« an­schau­li­che Bei­spiele lie­fern. Ins­be­son­dere letzteres zeigt in der über­grei­fen­den Dis­kus­sion in Blogs und Me­dien­be­rich­ten so­wie der Ver­wen­dung in po­li­ti­schen För­der­pro­gram­men, wie Öf­fent­lich­kei­ten viel­fäl­tig mit­ein­an­der ver­netzt sind und wie dis­kur­sive und nichtdis­kur­sive Prak­ti­ken in­ein­an­der grei­fen. Zu­sam­men­fas­send be­ste­hen also sys­te­ma­ti­sche Ver­bin­dun­gen zwi­schen me­ta­ pho­ri­schen Kon­zep­ten, Dis­kur­sen und nicht-dis­kur­si­ven Prak­ti­ken: Der Ge­brauch von Me­ta­phern ist an die Re­geln der (me­dia­len) Dis­kurs­pro­duk­tion ge­bun­den und Dis­kurse sind ih­rer­seits durch ihre je­weils spe­zi­fis­ che Me­ta­pho­rik und die da­mit ver­bun­de­nen Be­deu­tun­gen ge­kenn­zeich­net, die so­ziale Wirk­lich­keit kon­stru­ie­ren.

Me­ta­phern und Gen­der Die An­nahme der Ver­bin­dung von kör­per­li­chen Er­fah­run­gen und me­ta­pho­ri­schen Kon­zep­ten, z. B. für Kon­zepte wie »happy is up«, (La­koff/John­son 2003: 19 ff.), ist auch noch aus ei­ner wei­te­ren Per­spek­tive zu hin­ter­fra­gen: La­koff und John­son ver­nach­läs­si­gen, dass ei­ner­seits viele me­ta­pho­ri­sche Kon­zepte ver­ge­schlecht­lichte Kon­no­ta­tio­nen ha­ben und dass an­de­rer­seits Me­ta­phern ein Mit­tel des Do­ing Gen­ der sind (vgl. Alt­man 1990). Be­son­ders auf­fäl­lig ist dies unter an­de­rem in ihrer Dis­kus­sion des be­reits im vo­ri­gen Ka­pi­tel er­wähn­ten Kon­zep­tes »creation is birth« (La­koff/John­son: 2003: 74 f.). Die fe­mi­nis­ti­sche For­schung zeigt zum ei­nen, wie Ge­schlecht in Kör­per ein­ge­schrie­ben ist, und da­mit auch in jene Er­fah­run­gen, die La­koff und John­son als all­ge­mein-mensch­lich wer­ten. Zum an­de­ren weist sie die An­nahme ei­nes ein­fa­chen (es­sen­tia­li­sie­ren­den) Zu­sam­men­hangs zwi­schen kör­ per­li­chen Er­fah­run­gen und ko­gni­ti­ven Mus­tern zu­rück und geht statt­des­sen von der kul­tu­rel­len Kon­stru­iert­heit des Sys­tems der Zwei­ge­schlecht­lich­keit aus. Bspw. zeigt Mar­tin (1991), wie in wis­sen­schaft­li­chen Tex­ten Sper­mien i.  d.  R. als ak­ tiv bzw. ag­gres­siv, Ei­zel­len da­gegen als pas­siv be­schrie­ben wer­den. Kul­tu­rell ge­ prägte Be­deu­tun­gen wer­den auf diese Weise na­tu­ra­li­siert:

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»Fur­ther research would show us exactly what social effects are being wrought from the biological ima­gery of the egg and the sperm. At the very least, the ima­gery keeps alive some of the hoa­riest old ste­reo­ty­pes ab­out weak dam­sels in distress and their strong male re­scu­ers. That these ste­reo­ty­pes are now being writ­ten in at the level of the cell cons­ti­tu­tes a po­wer­ful move to make them seem so na­tu­ral as to be be­yond alteration.« (Ebd.: 500)

Hinzu kommt, dass auch in den phi­lo­so­phi­schen Dis­kur­sen über Me­ta­phern eine ge­schlechts­be­zo­gene Kon­no­ta­tion ent­hal­ten ist, die auf as­so­zia­ti­ven Op­po­si­tions­ ket­ten ba­siert: »literal – pro­per– ra­tio­nal – aca­de­mic language – phi­lo­so­phy – ma­ scu­line« wird im Dis­kurs »metaphor – im­pro­per – ir­ra­tio­nal – na­tu­ral language – rhe­to­ric/poe­tics – fe­mi­nine« (De­ba­tin 1997: 151) ent­gegen ge­setzt. So lässt sich bspw. bei Lo­cke und De Man ein fast drei­hun­dert Jahre über­brü­cken­der Ver­gleich von Weib­lich­keit und elo­quen­ter, bild­li­cher Spra­che fin­den, für Plato ist die Me­ta­ pher die Heb­amme phi­lo­so­phi­schen Den­kens, Nietz­sche nennt die Wahr­heit eine Frau und Ba­con ver­gleicht die Unter­wer­fung der Na­tur durch den Ver­stand mit der se­xuel­len Unter­wer­fung von Frauen durch Män­ner (vgl. Alt­man 1990: 497; De­ba­ tin 1997; Kal­ni­cká 2006: 5). Die gen­der­be­zo­ge­nen Kon­no­ta­tio­nen von Me­ta­phern sind je­doch nicht nur für die Wis­sens­ge­ne­rie­rung in aka­de­mi­schen und phi­lo­so­phi­schen Dis­kur­sen von Be­ deu­tung, sie sind auch ein Be­stand­teil der All­tags­prak­ti­ken des Do­ing Gen­der. Der Unter­schei­dung von Ang und Her­mes (1991) fol­gend, sind Me­ta­phern ers­tens ein Be­stand­teil von Ge­schlechter­de­fi­ni­tio­nen, weil sie mit Hilfe der Ver­gleichs­struk­tu­ ren nahelegen, was es heißt »wie ein Mann« oder »wie eine Frau« zu sein. So sind bspw. hart, kalt, prä­zi­se, kraft­voll u. a. den me­ta­pho­ri­schen Ge­schlechts­ste­reo­ty­ pen für Männ­lich­keit zu­zu­ord­nen, weich, warm, flie­ßend, schwach da­gegen den weib­li­chen Ste­reo­ty­pen (vgl. Mel­nick 1999, zit. n. Schmitt 2009a: o. S.). Zwei­tens kön­nen Me­ta­phern die Mög­lich­kei­ten der Hand­lungs­räume und Po­si­tio­nie­run­gen der Ge­schlech­ter mit be­ein­flus­sen, und schließ­lich drit­tens so­zia­len Sub­jek­ten als Bau­steine von Ge­schlech­ter­iden­ti­tä­ten die­nen. Wie Do­ing Gen­der mit Me­ta­phern in ei­nem kon­kre­ten Fall aus­se­hen kann, demons­triert Ru­dolf Schmitt (2009b), der zeigt, wie Män­ner in Inter­views das Trin­ken von Al­ko­hol mit »kämp­fe­ri­schen« Zu­schrei­bun­gen ver­se­hen und so den ei­ge­nen Al­ko­hol­kon­sum als Aus­weis ei­ner von ih­nen selbst so ver­stan­de­nen »har­ten« bzw. »ech­ten« Männ­lich­keit kon­zep­ tua­li­sie­ren. Auch in den Arbei­ten von Eli­sa­beth Klaus fin­den sich im­mer wie­der Hin­weise auf das Do­ing Gen­der mit Me­ta­phern. Ihre Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Be­rufs­er­fah­run­gen von Jour­na­lis­tin­nen tra­gen be­zeich­nen­der­weise die Ti­tel »Wir wa­ren ja die Trüm­mer­frauen in die­sem Be­ruf« (1993) und »Auf­stieg zwi­ schen Näh­kränz­chen und Män­ner­klos­ter« (2002), wo­bei letz­te­rer auf die Er­fah­ run­gen von Wibke Bruns Be­zug nimmt, die es ge­wagt hat­te, als Frau in die von Män­nern do­mi­nierte Nach­rich­ten­re­dak­tion, die »wie ein Evan­ge­lium mit ei­ner klös­ter­li­chen Re­gel­fin­dung« war, »ein­zu­bre­chen« (ebd.: 175; zit. n. Sit­ter 1998:

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463 f.). Eine der Jour­na­lis­tin­nen der Nach­kriegs­ge­ne­ra­tion sieht den Jour­na­lis­mus grund­sätz­lich als Frau­en­be­ruf, je­doch mit ei­ner Aus­nah­me: der »kras­sen, kal­ten Po­li­tik« (Klaus et al. 1993: 138). Klaus unter­nimmt zwar keine sprach­li­che Ana­ lyse sol­cher Äu­ße­run­gen, aber sie be­tont, dass in die­sen und an­de­ren Bei­spie­ len die »Wort­wahl ver­rät, dass der Be­wer­tung, un­ab­hän­gig von der tat­säch­li­chen Mo­de­ra­tions­leis­tung, ganz be­stimmte Ge­schlechter­de­fi­ni­tio­nen zu­grunde lie­gen« (Klaus 2002: 176). Tat­säch­lich deu­tet sich in den Inter­view­zi­ta­ten an, dass (auch) mit­tels ge­ schlecht­lich kon­no­tier­ter Me­ta­phern dis­kur­siv tra­dierte Ge­schlechter­de­fi­ni­tio­nen wirk­sam sind, die den Jour­na­lis­tin­nen als Bau­steine ihrer ei­ge­nen Iden­ti­tät die­nen und die zu­gleich so­ziale Wirk­lich­keit ge­stal­ten – bspw. in der für ein­zelne Be­rei­che wie Sport oder Life­style noch im­mer vor­han­de­nen ho­ri­zon­ta­len Se­gre­ga­tion der Res­sorts (vgl. Klaus 2005: 161). Al­ler­dings lau­fen auch Me­ta­phern­ana­ly­sen zu Ge­schlechter­re­prä­sen­ta­tio­nen und Do­ing Gen­der Ge­fahr, den Gegen­stand, den sie ana­ly­sie­ren möch­ten, selbst zu kon­stru­ie­ren. Wenn z. B. Frauen ihre Kar­rie­re­er­fah­run­gen im Jour­na­lis­mus als Weg dar­stel­len – han­delt es sich dann um eine »weib­li­che« Me­ta­pher? Wenn sie sie da­gegen als Kampf oder Sport kon­zep­tua­li­sie­ren um ein Zei­chen von An­pas­sungs­ stra­te­gien in ei­nem »männ­li­chen« Be­rufs­feld? Umso wich­ti­ger er­scheint es, dass die For­schen­den die Me­ta­phern nicht vor­ schnell als »ty­pisch weib­lich/männ­lich« de­kla­rie­ren, son­dern dass sie viel­mehr dar­auf ach­ten, wie die Unter­such­ten selbst Do­ing Gen­der be­trei­ben, wie sie ge­ schlechts­ty­pi­sche Zu­wei­sun­gen vor­neh­men, re­la­ti­vie­ren oder aus­agie­ren (vgl. Schmitt 2009a). So­wohl für die Inter­pre­ta­tion em­pi­ri­scher Daten als auch für wis­ sen­schaft­li­che Dis­kurse ist da­her eine kri­ti­sche Po­si­tion er­for­der­lich, die nicht nur die in Dis­kur­sen wirk­sa­men Ideo­lo­gien sicht­bar macht, son­dern auch die ei­gene Per­spek­tive hin­ter­fragt: »Ge­rade weil die me­ta­pho­ri­sche Kon­zep­tua­li­sie­rung von Er­fah­rung eine im­mense le­bens­welt­li­che Plau­si­bi­li­tät und Selbst­ver­ständ­lich­keit (und da­mit uni­ver­selle Gel­tung) be­sitzt, ist der ver­frem­dende und ent­schlei­ernde me­ta­phern­kri­ti­sche Blick auf diese Evi­den­zen ein theo­re­ti­sches wie prak­ti­sches Ge­bot.« (De­ba­tin 1995: 250)

Dis­kurs­orien­tierte Me­ta­phern­ana­lyse in der komm ­ un ­ ik ­ at­ ionsw ­ iss ­ ens ­ chaftl­ ic ­ hen Ges ­ chlecht­ erf­ ors ­ chung Im Rah­men der kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Ge­schlech­ter­for­schung gibt es ver­schie­dene An­wen­dungs­fel­der für die Ana­lyse von Me­ta­phern in me­dia­len Dis­ kur­sen, die hier ex­em­pla­risch an­hand ei­ni­ger Bei­spiele und vor­lie­gen­der Stu­dien skiz­ziert wer­den sol­len.

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Das viel­leicht naheliegendste An­wen­dungs­feld ist die Ver­wen­dung von Me­ ta­phern in me­dia­len Re­prä­sen­ta­tio­nen von Män­nern und Frauen. An­drea Nach­ti­ galls Dis­ser­ta­tion (2012) zeigt z. B. an­hand der Kon­struk­tion von George W. Bush als har­ter Cow­boy und Osama Bin Laden als wei­cher Orien­tale aus­führ­lich Stra­ te­gien der Hyper­mas­ku­li­ni­sie­rung, De­mas­ku­li­ni­sie­rung und Fe­mi­ni­sie­rung po­li­ti­ scher Ak­teure nach 9/11. Dar­über hin­aus könnte man ganz all­ge­mein die gen­der­be­zo­ge­nen Kon­no­ta­tio­ nen me­ta­pho­ri­scher Kon­zepte be­trach­ten, z. B. wie oben dis­ku­tiert in sprach­phi­ lo­so­phi­schen Dis­kur­sen (vgl. De­ba­tin 1997), aber auch in po­li­ti­schen Dis­kur­sen bspw. hinsichtlich der me­ta­pho­ri­schen Kon­zepte der Na­tion als Frau (die z. B. ver­ ge­wal­tigt wer­den kann) oder der po­li­ti­schen Be­zie­hun­gen als Fa­mi­lien­be­zie­hun­ gen (z. B. Pe­ter­son 1998). Au­ßer­dem las­sen sich Me­ta­phern in me­dial ver­mit­tel­ten Dis­kur­sen zu The­men ana­ly­sie­ren, an­hand de­rer Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen ex­pli­zit ver­han­delt wer­den – so etwa in Dis­kur­sen über Re­pro­duk­tion, Se­xua­li­tät, Fa­mi­lie, häus­li­che und se­ xuelle Ge­walt, die Be­rufs­welt etc. Bspw. hat Ka­rin Sar­da­var (2009) Inter­net­fo­ren und Blogs, in denen sich Frauen mit ei­nem spä­ten Kin­der­wunsch aus­tau­schen und In­for­ma­tio­nen su­chen, auf me­ta­pho­ri­sche Kon­zepte wie »bio­lo­gi­sche Uhr« und »ma­schi­nelle Pro­duk­tion« hin unter­sucht, die den Vor­stel­lun­gen über Fort­pflan­ zung, Al­ter, Ge­schlechts­or­gane usw. zu­grunde lie­gen. Ein wei­te­res mög­li­ches An­wen­dungs­feld für Me­ta­phern­ana­ly­sen ist die Kom­ mu­ni­ka­tor­for­schung. Zum ei­nen ha­ben sich für das Feh­len von Frauen auf Füh­ rungs­ebe­nen Be­griffe wie »glass cei­ling« oder die be­reits er­wähnte »leaky pipeline« eta­bliert, die je­weils be­stimmte Hand­lungs­op­tio­nen zur Lö­sung des Pro­blems nahe le­gen. Zum an­de­ren könnte es in­ter­es­sant sein, be­rufs­bio­gra­phi­sche Inter­ views mit Män­nern und Frauen auf die me­ta­pho­ri­schen Kon­zepte hin zu unter­su­ chen, mit denen bspw. Kar­rie­re, Er­folg und wei­tere Er­fah­run­gen im Jour­na­lis­mus und an­de­ren Kom­mu­ni­ka­tions­be­ru­fen kon­stru­iert wer­den (vgl. die Bei­spiele in Weish 2003: 96 ff.). Glei­ches gilt für Inter­views über die Re­zep­tions­er­fah­run­gen von Frauen und Män­nern im um­fang­rei­chen Fun­dus der Cul­tu­ral Stu­dies, der Soap Opera For­ schung etc. In Ja­nice Rad­ways klas­si­scher Stu­die »Rea­ding the Ro­mance« (1984) spre­chen die be­frag­ten Frauen bspw. von der Flucht in die Lek­türe so­wie von feu­ ri­gen Hel­din­nen und ei­ner wach­sen­der Lie­be, die ih­ren Hö­he­punkt er­reicht, als Grün­den für ihr Ver­gnü­gen. Eine Ana­lyse könnte hier zei­gen, wel­che Kon­zepte sich hin­ter den Mo­ti­ven für die Re­zep­tion, den Er­war­tun­gen an eine gute Ge­ schichte usw. ver­ber­gen, und wie sich die Frauen zu den Fi­gu­ren, zu ihrer Lek­türe und durch die Lek­türe zu ihrem Um­feld po­si­tio­nie­ren. Schließ­lich wäre auch eine Ana­lyse von Me­ta­phern spe­ziell mit Blick auf fe­mi­nis­ti­sche und anti­fe­mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen in­ter­es­sant. Re­kur­rie­ren beide Po­ si­tio­nen auf die­sel­ben oder unter­schied­li­che me­ta­pho­ri­sche Kon­zep­te? Wer­den

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unter­schied­li­che sprach­li­che Aus­prä­gun­gen der­sel­ben Kon­zepte ver­wen­det? Wel­ che Be­wer­tun­gen sind in den Me­ta­phern ent­hal­ten? Wel­che Hand­lungs­lo­gi­ken im­pli­zie­ren sie? Alt­man (1990) ver­deut­licht z.  B. die Re­le­vanz von »Mut­ter­ schafts«-Me­ta­phern für (li­be­ra­le) fe­mi­nis­ti­sche Dis­kur­se, in denen u. a. Krea­ti­vi­ tät und Ge­bä­ren gleich­ge­setzt wer­den. Klaus (2008: 177 und 178) ver­weist auf die Idee der Fa­mi­lie als ge­sell­schaft­li­cher »Keim­zelle« in anti­fe­mi­nis­ti­schen Po­ si­tio­nen, die die (re)produktiven Auf­ga­ben von Frauen in der häus­li­chen Sphäre ver­or­ten. Dar­über hin­aus kön­nen aber auch Me­ta­phern, mit denen das Selbst­ver­ständ­nis als FeministIn oder AntifeministIn be­wusst re­flek­tiert wird, unter­sucht wer­den. Als Bei­spiel die­nen hier wie­derum zwei Blogs: Dawn Hat­ha­way (2008) wen­det ihre sport­li­chen Er­fah­run­gen als Fech­te­rin auf ihren Fe­mi­nis­mus an: »The­re­fo­re, for my performance, I ana­ly­zed how one fen­cing bout was like using the prin­ci­ples of fe­mi­nism. . . . If fe­mi­nism didn’t adapt into each wa­ve, it would have been left behind, ob­so­lete like the old clunky wea­pons. If you need so­met­hing shar­per to pro­tect your­self, you need to make sure you have it (Fen­cing Facts).« In ihrer Sicht muss sich Fe­mi­nis­mus an ak­tu­elle ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen an­pas­sen und zu­gleich als Waffe ein­setz­bar sein. Da­mit be­tont sie die kämp­fe­ri­sche Seite po­li­ ti­scher Dis­kurse (und die Not­wen­dig­keit der Ver­tei­di­gung), wo­hin­ge­gen Ai­mée Mor­ri­son (2012) in ihrem Blog die Er­fah­run­gen weib­li­cher Aka­de­mi­ke­rin­nen mit denen von FahrradfahrerInnen im Stra­ßen­ver­kehr ver­gleicht und dar­aus For­de­run­ gen nach So­li­da­ri­tät, Sicht­bar­keit und Vor­bild­funk­tion ab­lei­tet. Und schließ­lich soll­ten wir die Me­ta­phern in fe­mi­nis­ti­scher Theo­rie­bil­dung und in der Ge­schichts­schrei­bung der Frau­en­be­we­gung ei­ner kri­ti­schen Be­trach­ tung unter­zie­hen (vgl. Kin­ne­brock und Wi­scher­mann in die­sem Band). Die Re­le­ vanz der Me­ta­phern in der fe­mi­nis­ti­schen – wie in je­der an­de­ren – Theo­rie­bil­dung ver­an­schau­licht ein Inter­view mit Kim­berlé Crans­haw, in dem sie nach dem Ur­ sprung des Be­griffs In­ter­sekt­io­na­li­tät ge­fragt wird: »I wan­ted to come up with a com­mon ever­yday metaphor that people could use to say: ›it’s well and good for me to un­ders­tand the kind of di­scri­mi­na­ti­ons that oc­cur along this avenue, along this axis – but what happens when it flows into an­ot­her axis, an­ot­her avenue?‹« (zit. n. Ade­wunmi 2014). Linda Ni­chol­son (2009) und an­dere dis­ku­tie­ren kon­ tro­vers, ob »se­cond« und »third wave fe­mi­nism« ge­eig­nete Me­ta­phern für die Be­schrei­bung der Ent­wick­lung der Frau­en­be­we­gung sind. Aus Per­spek­tive der Di­sa­bi­lity Stu­dies be­schäf­tigt sich Sami Schalk (2013) kri­tisch mit dem me­ta­pho­ ri­schen Sprach­ge­brauch von bell hook und Ta­nia Mod­les­ki, die mit ei­nem ne­ga­ ti­ven bias auf Me­ta­phern wie »emo­tio­nal crip­ples«, »self-mutilation« (hook) und »mute bo­dies« (Mod­les­ki) zu­rück­grei­fen, um Ver­lust, Feh­len oder Un­fä­hig­keit zu kon­zep­tua­li­sie­ren.

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Fa­zit Basierend auf der An­nah­me, dass Ko­gni­tio­nen zu ei­nem gro­ßen Teil auf ei­nem Ab­ gleich neuer Er­fah­run­gen mit be­reits vor­han­de­nen Sche­mata ba­sie­ren, und sprach­ li­che Me­ta­phern der sicht­bare Aus­weis die­ser Me­ta­pho­ri­zi­tät des Den­kens sind, bie­ten sich Me­ta­phern­ana­ly­sen für die Ana­lyse der me­dia­len Kon­struk­tion so­zia­ler Wirk­lich­keit an, weil sie eine zwei­fa­che Brü­cke schla­gen: zum ei­nen zwi­schen den ko­gni­ti­ven Be­deu­tungs­kon­struk­tio­nen, die ei­nem Dis­kurs zu­grunde lie­gen, und dem Wis­sen, das in ihm pro­du­ziert und wei­ter ge­tra­gen wird. Und zum an­de­ ren zwi­schen der dis­kur­si­ven Pra­xis und der Art und Wei­se, wie sie sich in Tex­ten aus­drückt. Aus ei­ner dis­kurs­ana­ly­ti­schen Per­spek­tive liegt der Schwer­punkt der Ana­lyse auf der Zir­ku­la­tion von Me­ta­phern in (ins­be­son­dere öf­fent­li­chen) me­dia­len Dis­ kur­sen und auf den Re­geln, nach denen diese Me­ta­phern im Rah­men von Macht­ ver­hält­nis­sen her­vor­ge­bracht, wei­ter ge­tra­gen und ver­wor­fen, ge­deu­tet und ak­tua­ li­siert wer­den. Aus der Per­spek­tive der Ana­lyse von Do­ing Gen­der liegt der Schwer­punkt au­ ßer­dem auf der Be­deu­tung von Me­ta­phern für die Kon­struk­tion von Ge­schlechter­ de­fi­ni­tio­nen, -po­si­tio­nie­run­gen und -iden­ti­tä­ten. Da­bei emp­fiehlt es sich, nicht vorab Klas­si­fiz­ ie­run­gen wie »männ­lich«/»weib­lich« kon­no­tierte Me­ta­phern vor­ zu­neh­men, son­dern auf Ge­mein­sam­kei­ten und Unter­schiede zu ach­ten und vor al­lem zu fra­gen, wie sich die Per­so­nen selbst mit­tels ihres ei­ge­nen Me­ta­phern­ge­ brauchs gegen­über Din­gen po­si­tio­nie­ren und wel­che Hand­lungs­räume sie sich und an­de­ren auf diese Weise er­öff­nen oder ver­schlie­ßen. Aus Per­spek­tive ei­ner fe­mi­nis­ti­schen Ge­sell­schafts­kri­tik und Theo­rie­bil­dung schließ­lich liegt der Schwer­punkt auf der kri­ti­schen Re­fle­xion der ideo­lo­gi­schen Di­men­sion me­ta­pho­ri­scher Be­deu­tungs­kon­struk­tion im ei­ge­nen und frem­den Sprach­ge­brauch und da­mit auch auf der Auf­for­de­rung »[to] lo­cate a feminist approach to representation in a vi­gi­lant awa­ren­ess of the po­wers and limits of metaphor, an awa­ren­ess to be achie­ved by re­lent­less attention to me­ta­phor’s his­to­ri­cal and non-uni­ver­sal dimension – to the po­wer to ex­clude that lies im­pli­cit in the po­wer to name.« (Alt­man 1990: 504)

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Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten

Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten Über­le­gun­gen zu ei­nem al­ter­na­ti­ven An­satz in der Ana­lyse von Gen­der-Fra­mes in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung Ma­ren Beau­fort und Jo­sef Seet­ha­ler

Die wich­tigs­ten theo­re­ti­schen An­nä­he­run­gen an die kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­ li­che Ge­schlech­ter­for­schung – Gleich­heits­an­satz, Dif­fe­renz­an­satz und (de-)kon­ struk­ti­vis­ti­sche Gen­der Stu­dies – lie­fern, so Eli­sa­beth Klaus (2005), zwar je­weils unter­schied­li­che For­schungs­per­spek­ti­ven für die Ana­lyse der Ver­hält­nisse von Me­ dien und Gen­der, ste­hen aber zu­ein­an­der in ei­ner pro­duk­ti­ven Ko­exis­tenz. In die­ sem Sinne geht der vor­lie­gende Bei­trag ei­ner­seits in­so­fern von der Grund­idee des Gleich­heits­an­sat­zes aus, als er die Dis­kri­mi­nie­rung der Frau durch ge­schlechts­spe­ zi­fi­sche Ty­pi­sie­rung und Tri­via­li­sie­rung in den Mas­sen­me­dien the­ma­ti­siert, sieht aber an­de­rer­seits im Po­ten­zial der Me­dien so­ziale Wirk­lich­keit zu kon­stru­ie­ren (vgl. Ado­ni/Mane 1984) ei­nen ent­schei­den­den Fak­tor in der Kon­struk­tion von »Gen­ der« als kul­tu­rel­lem Ge­schlecht, an­hand des­sen (wie das Bei­spiel des 59. Euro­ vi­sion Song Con­test in Ko­pen­ha­gen zeigt) selbst die Zwei­ge­schlecht­lich­keit als kul­tu­relle Kon­struk­tion offengelegt wer­den kann. Zen­tral geht es im Bei­trag um die Fra­ge, wie in me­dial ver­mit­tel­ten In­hal­ten die Ka­te­go­rie Ge­schlecht kon­stru­iert wird, um Per­so­nen ge­schlechts­ge­bun­dene Eti­ket­tie­run­gen, fixe Nor­men, so­ziale Rol­len, Kli­schees und Ste­reo­type zu­zu­schrei­ben, wo­durch letzt­lich Mög­lich­kei­ten der Selbst­ent­fal­tung le­gi­ti­miert oder ein­ge­schränkt wer­den. Diese weitreichende Kon­se­quenz ist darin be­grün­det, dass die Me­dien »zu den In­sti­tu­tio­nen [ge­hö­ren], wenn sie nicht so­gar die wich­tigs­ten über­haupt sind, die die Ein­stel­lun­gen zu den Ge­schlech­ter­rol­len be­ein­flus­sen und ein Be­wusst­sein für die Ge­schlechter­frage schaf­fen kön­nen« (Pantti 2007: 17). Sie kön­nen da­her bei­des sein: ein Hebel gegen die Un­gleich­heit der Ge­schlech­ter als auch de­ren Mit­ver­ur­sa­cher. Pierre Bour­dieu hat in Be­zug auf Ge­schlechter­unter­schiede auf die mit der ide­el­len Zu­schrei­bung be­stimm­ter Kom­pe­ten­zen un­mit­tel­ba­ren ver­bun­de­nen rea­len Hand­lungs­op­tio­nen auf­merk­sam ge­macht: »Nur die, denen es zu­steht, [Kom­pe­tenz] zu be­sit­zen, kön­ nen sie sich ef­fek­tiv an­eig­nen – und nur die, die er­mäch­tigt sind, sie zu be­sit­zen, füh­len sich ver­pflich­tet, sie sich an­zu­eig­nen« (Bour­dieu 1982: 640). Nicht un­be­

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rech­tigt ver­wei­sen da­her Do­rer und Klaus (2006: 84) in die­sem Zu­sam­men­hang in ihrem Auf­satz über Ge­schlechter­re­prä­sen­ta­tion auf die be­deu­tende Funk­tion der Me­dien, »die Band­breite der je­weils in ei­ner Ge­sell­schaft zu ei­nem be­stimm­ten Zeit­punkt gül­ti­gen Nor­men für Männ­lich­keit und Weib­lich­keit zu prä­sen­tie­ren«. Da aber die über Me­dien ver­mit­tel­ten Bot­schaf­ten von den han­deln­den Ak­teu­ren ab­hän­gig sind und die Zu­sam­men­set­zung der in der Me­dien­bran­che tä­ti­gen Per­so­ nen, ins­be­son­dere wenn sie Ent­schei­dungs­funk­tion in­ne­ha­ben, bei wei­tem nicht der Ge­schlechter­ver­tei­lung in der Be­völ­ke­rung ent­spricht (für Ös­ter­reich: Kal­ten­ brun­ner et al. 2007; Ko­goj 2008; Ru­dor­fer et al. 2009), sind Ana­ly­sen der me­dia­len Kom­mu­ni­ka­tions­leis­tung be­son­ders drin­gend.

Gen­der Stu­dies und Fra­ming Zum Gen­de­ring von Me­dien­in­hal­ten und Re­zep­tions­vor­gän­gen lie­gen zahl­rei­che em­pi­ri­sche Stu­dien vor, die hier nicht ein­mal an­satz­weise ge­nannt wer­den kön­nen (bspw. Kahn/Gol­den­berg 1991; Spe­ars/Sey­de­gart 2000; Holtz-Ba­cha/Kö­nig-Rei­ling 2007; Holtz-Ba­cha 2008; Po­in­dex­ter et al. 2008; Krij­nen et al. 2011; Ross 2012; Ross et al. 2013). Häu­fig lie­gen die­sen Unter­su­chun­gen dis­kurs­ana­ly­ti­sche An­sätze zu­grun­de, die durch die im Fol­gen­den vor­ge­stell­ten Über­le­gun­gen hin­sicht­lich ei­ner Ver­bin­dung der Gen­der Stu­dies mit dem Fra­ming-Kon­zept um ein eher quan­ti­ta­ti­ves bzw. qua­li­ta­tiv-quan­ti­fiz­ ie­ren­des Ver­fah­ren er­wei­tert wer­den sol­len, um da­mit eine bes­sere Ba­sis für eine Ver­bin­dung in­halts­ana­ly­ti­scher Be­funde mit Be­fra­gungs­daten in Rich­tung ei­nes letzt­lich an­zu­stre­ben­den, Wir­kungs­kom­po­nen­ten mit ein­schlie­ßen­den Mehr-Me­tho­den-De­signs be­reit­zu­stel­len. Das Fra­ming-Kon­zept kann im Sinne Bour­ dieus in­so­fern ei­nen wert­vol­len Bei­trag dazu leis­ten, als es auf der An­nahme ba­siert, dass durch Se­lek­tion (aber auch Ex­klu­sion) und Be­to­nung be­stimmte Aus­schnitte der Rea­li­tät her­vor­ge­ho­ben und da­durch bei den RezipientInnen eine be­stimmte De­fi­ni­tion, kau­sale Inter­pre­ta­tion und Be­wer­tung ei­nes Pro­blems aus­ge­löst wer­den kön­nen (vgl. Iyen­gar 1991; Ent­man 1993; Pri­ce/Tewks­bury 1997): »To frame is to se­lect some as­pects of a per­ceived re­al­ity and make them more sa­lient in a com­mu­ni­cat­ing text, in such a way as to pro­mote a par­tic­u­lar prob­lem def­i­ni­tion, caus­al in­ter­pre­ta­tion, moral eval­u­a­tion and/or treat­ment rec­om­men­da­tion for the item de­scribed.« (Ent­man 1993: 51 f.)

Fra­ming steht in Zu­sam­men­hang mit der Sche­ma-Theo­rie aus der ko­gni­ti­ven Psy­ cho­lo­gie, die be­sagt, dass vor­han­dene Sche­mata1 die Inter­pre­ta­tion je­der wahr­ge­ 1 Der von Bart­lett (1932) ein­ge­führte Be­griff Schema be­zeich­net in der psy­cho­lo­gi­schen Ge­dächt­nis­theo­rie ei­nen struk­tu­rier­ten Wis­sens­be­reich im Lang­zeit­ge­dächt­nis. Diese

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nom­me­nen neuen In­for­ma­tion und die Ak­ti­vie­rung von ver­knüpf­ten vor­han­de­nen Sche­mata steu­ern. Ei­ner­seits be­stim­men Sche­ma­ta, wie In­for­ma­tio­nen ver­stan­den und in­te­griert wer­den: »Wir se­hen die Welt durch unser Ge­dächt­nis.« (Sa­wetz 2010: 34) An­der­seits sind sie durch neue Er­fah­rungs­werte po­ten­ziell ver­än­der­bar (vgl. Sa­wetz 2004). In der gegen­wär­ti­gen Me­dien- und In­for­ma­tions­ge­sell­schaft, in der ein gro­ßer Teil der (All­tags-)Rea­li­tät me­dien­ver­mit­telt ist, ist es da­her we­nig über­ra­schend, dass das Fra­ming-Kon­zept in der Kom­mu­ni­ka­tions­for­schung große Be­deu­tung er­langt hat, da Fra­mes so­wohl auf jour­na­lis­ti­scher Seite als auch auf Pu­bli­kums­seite in der Wahr­neh­mung und Ein­ord­nung neuer Bot­schaf­ten wirk­ sam sind und dem­ent­spre­chend die in Me­dien­in­hal­ten ver­mit­tel­ten Fra­mes eine be­deu­tende Rolle spie­len (vgl. Schenk 2007) – wenn sie auch im Zu­sam­men­spiel mit den Re­zi­pien­tIn­nen-Fra­mes zu in­di­vi­du­ell po­ten­tiell unter­schied­li­chen Inter­ pre­ta­tio­nen von Bot­schaf­ten füh­ren kön­nen (vgl. Scheu­fele 1999). Den­noch sind die grund­le­gen­den Sche­ma-Eigen­schaf­ten kol­lek­tiv im mensch­li­chen Ge­hirn re­ prä­sen­tiert, zu­mal im Fra­ming-Pro­zess allgemeingültige Me­cha­nis­men wirk­sam sind. Dazu ge­hört das sog. Pri­ming, wo­nach die Be­wer­tung neuer In­for­ma­tion im Sinne des best­ver­füg­ba­ren Sche­mas er­folgt. In der Kom­mu­ni­ka­tions­for­schung hat sich hier ge­zeigt, dass In­di­vi­duen bei der Urteils­bil­dung nicht im­mer gründ­lich vor­ge­hen, son­dern vor al­lem leicht zu­gäng­li­che In­for­ma­tio­nen her­an­zie­hen, wie sie etwa durch Me­dien­bot­schaf­ten nahe ge­legt wer­den. Dies trifft ins­be­son­dere im Falle ei­ner über län­gere Zeit ge­ge­be­nen Kon­so­nanz in den Me­dien­dar­stel­lun­gen zu (vgl. u. a. Iyen­gar/Kin­der 1982; Scheu­fe­le/Tewks­bury 2007). Zu­sam­men­fas­send lässt sich fest­hal­ten, dass JournalistInnen durch Se­lek­tion und Her­vor­hebung die Auf­merk­sam­keit des Pu­bli­kums auf ganz be­stimmte As­ pekte von The­men oder Er­eig­nis­sen zu len­ken ver­mö­gen und die Art und Weise ihrer Inter­pre­ta­tion und Be­ur­tei­lung mit­be­ein­flus­sen kön­nen. Sei­tens der RezipientInnen ist der Wahr­neh­mungs- und Inter­pre­ta­tions­pro­zess eng an diese Vor­ga­ben ge­bun­den (vgl. Edel­mann 1993). Die Stärke des An­sat­zes be­steht so­mit dar­in, dass er so­wohl Nach­rich­ten­pro­duk­tion als auch Me­dien­wir­kung zu er­klä­ren ver­mag. Das im Fol­gen­den skiz­zierte Mo­dell zur Ana­lyse der Ge­schlechter­dar­stel­lung geht da­her da­von aus, dass durch be­stimmte Rah­mun­gen von Ge­schlecht Rück­schlüsse auf de­ren Be­ein­flus­sungspo­ten­zial (frei­lich nicht auf de­ren tat­säch­li­che Wir­kun­ gen) mög­lich sind.

men­ta­len Wis­sens­struk­tu­ren ent­hal­ten In­for­ma­tio­nen aus ver­schie­de­nen zu­sam­men­hän­ gen­den Er­fah­run­gen über die wich­tigs­ten Cha­rak­te­ris­tika von Ob­jek­ten, auf die sie sich be­zie­hen, in abs­trak­ter, ge­ne­ra­li­sier­ter Form. Sie sind Vor­aus­set­zung und zu­gleich Er­ geb­nis al­ler In­for­ma­tions­ver­arbeitungs­pro­zesse im mensch­li­chen Ge­hirn.

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Ein Mo­dell zur Ana­lyse von Gen­der-Fra­mes in den Med ­ ien Die Er­fas­sung von gen­der­spe­zi­fi­schen Fra­mes steht also vor der Her­aus­for­de­rung, in­halts- und wir­kungs­orien­tierte Di­men­sio­nen mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Da­für wird der Ein­satz ei­ner Me­thode vor­ge­schla­gen, die aus der Po­li­tik­ana­lyse kommt und da­her von vorn­her­ein auf eine Kom­bi­na­tion von In­put und Out­put an­ge­legt ist: die sog. »3R Me­thode«. Diese Me­thode wurde in den 1990er Jah­ren im Kon­text des JÄM­KOM-Pro­jekts ent­wi­ckelt, in dem der Schwe­di­sche Ver­band der Kom­mu­ nal­ver­wal­tun­gen prü­fen ließ, wie ein Ver­wal­tungs­rat oder -aus­schuss sys­te­ma­tisch vor­ge­hen kann, um in sei­nem ei­ge­nen Zu­stän­dig­keits­be­reich die Gleich­stel­lung von Frauen und Män­nern zu ver­wirk­li­chen (vgl. Eu­ro­päi­sche Kom­mis­sion 1999; Swe­dish Mi­nis­try of Industry, Em­ploy­ment and Com­mu­ni­ca­ti­ons 1999). »3R« steht für die drei Di­men­sio­nen »Re­prä­sen­ta­tion«, »Res­sour­cen« und »Rea­li­tä­ten«.2 »Re­prä­sen­ta­tion« be­zieht sich auf den An­teil von Frauen und Män­nern in ei­nem be­stimm­ten Be­reich, »Res­sour­cen« auf die Ver­tei­lung der Mit­tel zwi­schen den Ge­ schlech­tern und die da­mit ver­bun­de­nen Prio­ri­tä­ten­set­zun­gen und »Rea­li­tä­ten« auf die Be­din­gun­gen für die in den ers­ten bei­den Di­men­sio­nen er­fass­ten Merk­ma­le, also auf die ge­schlech­ter­be­zo­ge­nen Vor­stel­lun­gen, Nor­men, Werte und Kom­pe­ten­ zen. Mit Hilfe die­ser drei Di­men­sio­nen er­laubt es die 3R-Me­tho­de, die in ei­nem Be­reich ge­ge­be­nen Struk­tu­ren über eine bloße Be­schrei­bung der Macht­ver­tei­lung zwi­schen Frauen und Män­nern hin­aus in ihren Ursa­chen und ihren Be­wer­tun­gen bzw. Aus­wir­kun­gen dif­fe­ren­ziert zu er­fas­sen. Sie stellt da­her eine ge­eig­nete Ba­sis zur Ope­ra­tio­na­li­sie­rung von Gen­der-Fra­mes dar. Tabelle 1 fasst die Items zu­sam­ men, die zur Er­fas­sung der drei »R«-Di­men­sio­nen vor­ge­schla­gen wer­den und die sich mit den Ele­men­ten von Me­dien-Fra­mes – Pro­blem­de­fi­ni­tion, Ursa­chen­zu­ schrei­bung, Be­wer­tung und Hand­lungs­op­tion – in Ein­klang brin­gen las­sen (wo­bei durch­aus wei­tere Items denk­bar sind). Die Di­men­sio­nen »Re­prä­sen­ta­tion« und »Res­sour­cen« ent­spre­chen dem Fra­ ming-Ele­ment »Pro­blem­de­fin­ i­tion«, in­dem sie durch die Ver­tei­lung der Prä­senz und der Mit­tel eine be­stimmte Sicht­weise auf das Ver­hält­nis von Frauen und Män­ nern nahelegen; die Di­men­sion »Rea­li­tä­ten« um­fasst die bei­den an­de­ren Fra­mingEle­mente der Ursa­chen­zu­schrei­bung und Be­wer­tung sowie Hand­lungs­op­tion bzw. -kom­pe­tenz. Die Ursa­chen für eine be­stimmte Ver­tei­lung der Prä­senz und der Mit­ tel las­sen sich in den Vor­stel­lun­gen dar­über aus­ma­chen, in wel­chen ge­sell­schaft­li­ chen Be­rei­chen und wel­chen so­zio-öko­no­mi­schen Po­si­tio­nen Frauen und Män­ner 2 Spä­ter kam noch die Di­men­sion »Rechte« oder »Rea­li­sie­rung« hin­zu, sodass in die­sem Fall von der »4R-Me­thode« die Rede ist (Swe­dish Gen­der Mains­trea­ming Sup­port Com­ mit­tee 2007). Diese Di­men­sion ist aber für die hier vor­ge­schla­gene in­halts­ana­ly­ti­sche Ad­ap­tion der Me­thode nicht von Be­lang.

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Tabelle 1: Kon­zept zur Ope­ra­tio­na­li­sie­rung von Gen­der-Fra­mes in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung Fra­mingEle­ment

3R-Di­men­sion

Item

Ope­ra­tio­na­li­sie­rung

Pro­blem­ defini­tion

Re­prä­sen­ta­tion

Wie viele Bei­träge (Texte und Bil­der/Fil­me) stam­men von Frauen bzw. von Män­nern?

UrheberInnen des Tex­tes und des Bil­des/Fil­mes

In wie vie­len Bei­trä­gen sind Frauen bzw. Män­ner die HauptakteurInnen?

HauptakteurIn auf Er­eig­nis- und Dis­kurs­ebene (Röss­ler 2010*), be­zo­gen auf den ge­sam­ten Bei­trag (ein­schließ­lich vi­su­el­ler Dar­stel­lun­gen)

In wie vie­len Bei­trä­gen sind Frauen bzw. Män­ner im Bild/ Film zu se­hen?

Im Bild/Film ge­zeigte Per­so­nen

Wie viel Raum/Zeit neh­men die Texte a) von und b) über Frauen bzw. Män­ner ein?

Qua­drat­zen­ti­me­ter/ Mi­nu­ten

Wie viel Raum/Zeit neh­men die Bil­der/Film­auf­nah­men a) von und b) über Frauen bzw. Män­ner ein?

Qua­drat­zen­ti­me­ter/ Mi­nu­ten

Sind die Bei­träge in ei­ner gen­der­ge­rech­ten Spra­che ver­fasst?

Ja/nein/nicht re­le­vant

Mit wel­chen The­men wer­den Frauen bzw. Män­ner in Zu­sam­men­hang ge­bracht?

Thema des Bei­trags auf Res­sort-, Er­eig­nis-** und Dis­kurs­ebene** (Röss­ler 2010*)

Mit wel­chem so­zio­öko­no­mi­ schen Sta­tus wer­den Frau­en/ Män­ner dar­ge­stellt?

So­zio-öko­no­mi­scher Sta­tus al­ler in ei­nem Bei­trag dar­ge­stell­ten Frauen und Män­ner (nicht nur der HauptakteurIn) nach Teg­tmeyer (1976)

In wel­chen Rol­len wer­den Frauen bzw. Män­ner dar­ge­stellt?

Funk­tion al­ler in ei­nem Bei­trag dar­ge­stell­ten Frauen und Män­ner (nicht nur der HauptakteurIn)**

Wel­che Wert­schät­zung er­fah­ren Frau­en/Män­ner?

Hoch/nied­rig

Res­sour­cen

Ursa­chen­ zuschrei­bung

Rea­li­tä­ten

Be­wer­tung/ Hand­lungs­ kom­pe­tenz

* Der In­halt ei­nes Bei­trags wurde – nebst der re­dak­tio­nel­len Res­sort­zu­ord­nung – auf Er­eig­nis- und Dis­kurs­ebene er­fasst, um die gen­der­spe­zi­fi­sche Dar­stel­lung so­wohl hin­sicht­lich des kon­kre­ten Ge­sche­hens als auch der Ein­bet­tung die­ses Ge­sche­hens in den ge­sell­schaft­li­chen Dis­kurs ab­zu­bil­den. Aus Platz­grün­den wer­den diese Er­geb­nisse hier nur aus­schnitts­weise dar­ge­stellt. ** in­duk­tive Er­he­bung

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ver­or­tet wer­den. Die Be­wer­tun­gen und die da­mit letzt­lich ver­bun­de­nen Hand­lungs­ kom­pe­ten­zen drü­cken sich in der Wert­schät­zung für Frauen und Män­ner und den ih­nen zu­ge­schrie­be­nen Rol­len bzw. Funk­tio­nen aus, die sie zu ge­sell­schaft­lich re­ le­van­tem Han­deln er­mäch­ti­gen. (Das in Ent­mans Fra­ming-De­fi­ni­tion vor­ge­se­hene Ele­ment der Hand­lungs­op­tion wird hier im Sinne Bour­dieus als die mit ihr not­wen­ dig ver­bun­dene Hand­lungs­kom­pe­tenz ope­ra­tio­na­li­siert, da nur die Zu­schrei­bung von Kom­pe­tenz die Wahr­neh­mung von Hand­lungs­op­tio­nen er­laubt.) Wäh­rend die so theo­rie­ge­lei­tet de­fi­nier­ten Va­ria­blen so­wohl in den Di­men­sio­nen »Re­prä­sen­ta­ tion« und »Res­sour­cen« als auch in zwei Fäl­len (The­men­zu­ord­nung im Sinne von Res­sort und so­zio­öko­no­mi­scher Sta­tus) in der Di­men­sion »Rea­li­tä­ten« quan­ti­ta­tiv zu er­fas­sen sind, eig­net sich für die Co­die­rung der üb­ri­gen Va­ria­blen in der Di­men­ sion »Rea­li­tä­ten« ein qua­li­ta­ti­ves Ver­fah­ren mit nach­träg­li­cher Quan­ti­fi­zie­rung der Er­geb­nis­se. Aus die­sem Grund emp­fiehlt sich in die­sem Be­reich die An­wen­dung ei­nes halb­stan­dar­di­sier­ten Co­dier­leit­fa­dens, um das Ka­te­go­rien­sys­tem so­weit of­ fen und em­pi­rie­ge­lei­tet zu hal­ten, dass die de­duk­ti­ven In­di­ka­to­ren durch in­duk­tive Dif­fe­ren­zie­run­gen wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den kön­nen.

Pre­test »Kro­nen Zei­tung« Um die Eig­nung des vor­ge­schla­ge­nen Mo­dells zur Ana­lyse der Ge­schlechter­dar­ stel­lung in den Me­dien zu prü­fen, wurde an­hand ei­ner Aus­gabe der Wie­ner Kro­ nen Zei­tung (vom 27.10.2011) ein Pre­test durch­ge­führt. Alle Bei­träge die­ser Aus­ gabe wur­den in die Unter­su­chung ein­be­zo­gen; Ana­ly­se­ein­heit war der ein­zelne Bei­trag.3 Diese Voll­er­he­bung ei­ner Zei­tung be­grün­det sich in der An­nah­me, dass eine gen­der­spe­zi­fi­sche Rah­mung in al­len Tei­len ei­nes Me­diums aus­zu­ma­chen ist, un­ge­ach­tet der Res­sorts oder der Dar­stel­lungs­form. So­hin wur­den 153 Bei­träge4 ana­ly­siert. Diese 153 Bei­träge um­fas­sen alle re­dak­tio­nel­len Nach­rich­ten- und Mei­ nungs­bei­träge (auf der Ti­tel­seite und in den Res­sorts Po­li­tik, Aus­land, Ös­ter­reich, Wien, Ge­sund­heit, Kul­tur, So­cie­ty, Sport und Fern­se­hen) so­wie Le­ser­briefe und Ser­vice­an­ge­bote wie Ho­ro­skop, Kon­takt­an­zei­gen und Stel­len­an­ge­bo­te. Für die in 3 Das Ver­fah­ren orien­tiert sich an der inter­na­tio­na­len Ver­gleichs­stu­die »A Day in the News« des Global Me­dia Mo­ni­tor Pro­jects (who­ma­kest­he­news.org). 4 Ausgenommen wa­ren (weil nicht the­men­re­le­vant) das Logo der Kro­nen­zei­tung, Ver­ öf­fent­li­chung der Lot­to­zah­len, das Ki­no- und Fern­seh­pro­gramm, Ak­tien­kur­se, Fuß­ ball-To­to- und Eis­ho­ckey-Li­ga-Er­geb­nis­se, An­zei­gen hin­sicht­lich Kauf, Ver­kauf, Auto, Im­mo­bi­lien, etc., das Krone Quiz und Rät­sel. Kom­mer­zielle An­zei­gen­wer­bung und Eigen­wer­bung (mit Aus­nahme von An­zei­gen öf­fent­li­cher Ein­rich­tun­gen) wurde aus­ge­ schlos­sen, da für de­ren Ana­lyse eine Mo­di­fi­zie­rung des Ka­te­go­rien­sys­tems not­wen­dig ist, die erst nach der Prü­fung des Grund­mo­dells er­fol­gen kann.

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Tabelle 1 ge­nann­ten, qua­li­ta­tiv zu er­fas­sen­den In­di­ka­to­ren wur­den im ers­ten Ma­ te­rial­durch­lauf im Hin­blick auf das je­wei­lige Er­kennt­nis­in­ter­esse Text­stel­len (mit Hilfe der Text­struk­tu­rie­rungs­funk­tio­nen der Soft­ware MAX­QDA) bzw. vi­su­elle In­ halte aus dem Ge­samt­ma­te­rial her­aus­ge­fil­tert, die in wei­te­ren Durch­läu­fen als neue Aus­prä­gun­gen der Va­ria­blen über­nom­men wor­den sind und so lau­fend zur Über­ arbei­tung der Ka­te­go­rien ge­führt ha­ben (vgl. Meyen et al. 2011; May­ring 2000). Die Wahl der Kro­nen Zei­tung als Unter­su­chungs­gegen­stand des Pre­tests ist darin be­grün­det, dass sie mit etwa zwei­ein­halb Mil­lio­nen Le­sern bei ei­ner Be­völ­ke­ rung von rund 8 Mil­lio­nen zu den auf­la­gen­stärks­ten Zei­tun­gen Eu­ro­pas ge­hört. Mit 34,3 Pro­zent Net­to­reich­weite hat sie im ös­ter­rei­chi­schen Print­me­dien­be­reich die Nase weit vorne – auch wenn die Ten­denz rück­läu­fig ist (zwei Jahre zu­vor wa­ren es noch 38,2 Pro­zent) und sie in ihrem Stamm­bun­des­land Wien längst von der Gra­tis­ zei­tung Heute über­holt wor­den ist (vgl. www.me­dia-ana­ly­se.at). Den­noch er­reicht sie täg­lich rund zwei­ein­halb Mal so viele Le­ser wie ihre stärkste Kon­kur­renz und führt hin­sicht­lich der Reich­weite nicht nur in der Ge­samt­be­völ­ke­rung, son­dern auch bei den be­ruf­li­chen Ent­schei­dungs­trä­gern (vgl. Me­li­schek et al. 2010: 110). Nicht um­ sonst gilt »die Krone« in Ös­ter­reich als Leit­me­dium Nr. 1 – auch bei den po­li­ti­schen Eli­ten (Plas­ser/Len­gauer 2010: 93); ihr Ein­fluss auf die The­men­agen­den von Par­teien (vgl. Seet­ha­ler/Me­li­schek 2013) und auf Wahl­ent­schei­dun­gen lässt sich em­pi­risch be­le­gen (vgl. Plas­ser/Len­gauer 2010). Der quo­ten­starke Zu­spruch ist nach Bruck und Stock­ner (1996) be­dingt durch nied­ri­ges Ein­stiegs­ni­veau, in­terne Dif­fe­ren­zie­ rung des Pro­duk­tes für ver­schie­dene Bil­dungs­schich­ten und Re­zep­tions­si­tua­tio­nen, Emo­tio­na­li­sie­rung, Unter­hal­tung, hand­li­che Blatt­grö­ße, Orientierungsangebote im All­tag, so­ziale Macht durch das Emo­tio­na­li­sie­rungs­mus­ter der »Em­pö­rung«, Reiz der pu­bli­zis­ti­schen Stär­ke, Inter­es­sens­kon­ver­genz, re­du­zierte Kom­ple­xi­tät bzw. Nor­ ma­li­tät als »Welt­bild«, Ge­wohn­heit bzw. All­tags­rou­tine – und erst an letz­ter Stelle durch die Be­frie­di­gung des In­for­ma­tions­be­dürf­nis­ses. Die von der Kro­nen Zei­tung ver­mit­tel­ten In­halte und Hal­tun­gen sind zwei­fels­ohne von ge­samt­ge­sell­schaft­li­cher Re­le­vanz. Im Fol­gen­den soll da­her gen­der­spe­zi­fi­sche Rah­mung der Bei­träge in der Kro­nen Zei­tung de­kon­stru­iert und im Hin­blick auf ein mög­li­ches Ein­fluss­po­ten­zial auf die ko­gni­ti­ven Sche­mata ihrer LeserInnen ana­ly­siert wer­den.

Er­geb­nisse des Pre­tests Re­prä­sen­ta­tion Zunächst zu den Er­geb­nis­sen der Va­ria­blen, die im Sinne ei­nes Fra­ming eine be­ stimmte Sicht­weise des Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­ses und da­mit der ge­sell­schaft­li­ chen Be­deu­tung der Ge­schlech­ter ver­mit­teln. Auf re­dak­tio­nel­ler Ebene ha­ben von den mit Na­men ge­zeich­ne­ten Bei­trä­gen (= ca. 38  Pro­zent) Män­ner 43 Bei­träge

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ge­schrie­ben (10 da­von mit Au­to­ren­foto), Frauen 14 (fünf da­von mit Au­to­ren­in­ nen­foto); ei­nen Bei­trag hat ein ge­mischt­ge­schlecht­li­ches Paar ver­fasst (vgl. Abbildung 1). Das Ver­hält­nis zwi­schen den Ge­schlech­tern fällt so­mit ziem­lich ge­nau 3 : 1 zu­guns­ten der Män­ner aus; oben­drein wur­den Män­ner im Ver­gleich zu ihren weib­li­chen Kol­le­gin­nen in dop­pelt so vie­len Fäl­len mit Hilfe ei­nes Au­to­ren­fotos her­vor­ge­ho­ben. Hin­sicht­lich der UrheberInnen der Fotos fällt das Ver­hält­nis noch un­güns­ti­ger aus: Neben 30 Agen­tur­fotos stamm­ten 31 von ei­nem männ­li­chen Foto­ gra­fen, sie­ben von ei­ner weib­li­chen Foto­gra­fin (24 Fotos wa­ren ohne Her­kunfts­ nen­nung; 66 Bei­träge ka­men ohne Fotos aus). Nicht nur inNicht redaktioneller auch insicht, inhaltlicher im nur in re­dHinsicht, ak­tio­nel­ler Hin­ auch inHinsicht in­halt­li­cstanden her Hin­sMänner icht stan­ den Män­ n er im Vor­ d er­ g rund: Fasst man Er­ e ig­ n isund Dis­ k urs­ e bene zu­ s am­ m en, so und Vordergrund: Fasst man Ereignis- und Diskursebene zusammen, so stehen 117 männliche ste­hen 117 männ­li­che und 54 weib­li­chen HauptakteurInnen gegen­über (wo­bei auf 54 weiblichen HauptakteurInnen gegenüber (wobei auf Ereignisebene Männer beinahe drei Er­eig­nis­ebene Män­ner bei­nahe drei Mal so häu­fig als Frauen agier­ten und auf Dis­ Mal so kurs­ häufig als rund Frauen agierten undfig). auf15 Diskursebene doppelt häufig). 15 Beiträge ebene dop­ pelt so häu­ Bei­träge wa­rrund en hin­ sicht­lichsodes Ge­schlechts der HauptakteurIn auf der Er­eder ig­nHauptakteurIn is­ebene aus­ge­wauf o­gen, auf der Dis­kausgewogen, urs­ebe­ne. waren hinsichtlich des Geschlechts derneun Ereignisebene Auf die Zahl der Bei­ t räge be­ z o­ g en, sind Frauen in rund 30 Pro­ z ent der Bei­träge neun auf der Diskursebene. Auf die Zahl der Beiträge bezogen, sind Frauen in rund 30 eine der HauptakteurInnen, Män­ner in 70 Pro­zent. Aus­ge­wo­ge­ner scheint das Re­ Prozent der Beiträge eine der HauptakteurInnen, Männer in 70 Prozent. Ausgewogener prä­sen­ta­tions­ver­hält­nis in der vi­su­el­len Dar­stel­lung zu sein: 228 Frauen ste­hen 275 scheint ab­ das in der zugsein: ge­Repräsentationsverhältnis bil­de­ten Män­nern gegen­über. Be­visuellen zieht manDarstellung die Ab­bil­dun­ en je­d228 ochFrauen auf diestehen Zahl der da­ z u­ g e­ h ö­ r i­ g en Bei­ t rä­ g e, so sind Fotos von Frauen nur bei et­ w as mehr 275 abgebildeten Männern gegenüber. Bezieht man die Abbildungen jedoch auf die als Zahl der der Hälfte der Bei­träge zu fin­den, wäh­rend mehr als drei Vier­tel der Bei­träge Fotos dazugehörigen Beiträge, so sind Fotos von Frauen nur bei etwas mehr als der Hälfte der von Män­nern auf­wei­sen. Beiträge zu finden, während mehr als drei Viertel der Beiträge Fotos von Männern aufweisen. Ab­bil­ dung 1: Re­prä­sen­ta­von tion Frauen von Frauen Män­nern in der Kro­nen Zei­tungvom Abbildung 1: Repräsentation und und Männern in der Kronen Zeitung vom 27.10.2011 (An­teil an der Zahl der Bei­trä­ge) 27.10.2011 (Anteil an der Zahl der Beiträge) 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% AutorInnen (N = 153)

FotografInnen (N = 89) Frauen

HauptakteurIn/Beitrag (N AkteurIn im Bild/Beitrag = 153) (N = 89) Männer

Jede Variable = 100%; der jeweilige Differenzbetrag bezieht sich auf die nicht gezeichneten Beiträge/Fotos bzw. die Beiträge Jede Va­ria­ble = 100%; der je­wei­lige Dif­fe­renz­be­trag be­zieht sich auf die nicht ge­zeich­ne­ten Bei­trä­ge/ ohne AkteurInnen Fotos bzw. die Bei­träge ohne AkteurInnen

Ressourcen Aufschlussreich ist ebenfalls das Geschlechterverhältnis hinsichtlich der Ressourcenzuteilung, gemessen als Anteil am redaktionellen Raum. Insgesamt nehmen die analysierten Beiträge

Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten  |  141

Res­sour­cen Aufschlussreich ist eben­falls das Ge­schlech­ter­ver­hält­nis hin­sicht­lich der Res­sour­ cen­zu­tei­lung, ge­mes­sen als An­teil am re­dak­tio­nel­len Raum. Ins­ge­samt neh­men die ana­ly­sier­ten Bei­träge 2,77 Qua­drat­me­ter Raum ein; 1,92 Qua­drat­me­ter fal­len da­bei auf Text­dar­stel­lun­gen, 0,85 auf vi­su­elle Dar­stel­lun­gen. Zi­tate von und Texte über Frauen neh­men 17% des ge­sam­ten Text­rau­mes ein, Zi­tate von und Texte über Män­ner be­an­spru­chen 45% des ge­sam­ten Text­rau­mes (vgl. Abbildung 2). Die rest­li­chen 38% der Bei­trags­texte sind in­halt­lich ge­schlech­ter­neu­tral. Frau­en­ab­bild­un­gen neh­men 31% des ge­sam­ten Bild­rau­mes ein, Ab­bil­dun­gen von Män­nern 57%. Bei den rest­li­chen han­Ressourcen delt es sich um schlechts­neu­ Ab­bil­In dun­ gen. Hin­ ich des Text­ rau­ dreimal12% so viel zurge­ Verfügung alstrale Frauen. Bezug aufsicht­ die lvisuelle Darstellung mes ste­hen also Män­nern fast drei­mal so viel Res­sour­cen zur Ver­fü­gung als Frau­en. ist das Verhältnis immer noch rund 2:1. In Be­zug auf die vi­su­elle Dar­stel­lung ist das Ver­hält­nis im­mer noch rund 2 : 1. Abbildung 2: Res­sour­cen­zu­tei­lan ungFrauen an Frauen Män­nern in Textund undBild Bildin der Abbildung 2: Ressourcenzuteilung undund Männern in Text in der Kro­nen Zei­tung vom 27.10.2011 (An­teile an re­dak­tio­nel­lem Raum) Kronen Zeitung vom 27.10.2011 (Anteile an redaktionellem Raum) 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Textraum

Bildraum Frauen

Männer

Jede Variable =ble = 100%; 100%; der Differenzbetrag sichge­die nicht Jede Va­ria­ derjeweilige je­wei­lige Dif­ fe­renz­be­trag be­ziehtbezieht sich die nicht schlech­ ter­re­le­van­ten Teile geschlechterrelevanten der Beiträge bzw. Bilder der Bei­träge bzw. Bil­Teile der Gen­der­gformuliert e­recht for­mwurde u­liert wurde der Kro­ nen Zei­tvom ung vom 27.10.2011 na­hnahezu ezu gargar Gendergerecht in der in Kronen Zeitung 27. Oktober 2011 nicht: Von den 61 Bei­trä­gen, die dies­be­züg­lich sprach­lich re­le­vant sind, wer­den die nicht: Von den 61 Beiträgen, die diesbezüglich sprachlich relevant sind, werden die Inhalte in In­halte in 56 Fäl­len in rein männ­li­cher Aus­drucks­form trans­por­tiert und le­dig­lich 56 Fällen in rein männlicher Ausdrucksform und fünf in fünf Bei­ trä­gen ge­schlech­ ter­ge­recht, transportiert wo­bei ei­ner die­ serlediglich Bei­trägeinsar­ kas­tBeiträgen isch ge­ rahmt ist und drei Bei­ träge dieser ex­ter­nen Ur­sprungs sind (Zi­gerahmt tat des Bun­ es­prä­ si­den­ ten, geschlechtergerecht, wobei einer Beiträge sarkastisch ist dund drei Beiträge Wer­ b e­ e in­ s chal­ t un­ g en). An­ s ätze zur Ge­ s chlech­ t er­ g leich­ s tel­ l ung wer­ d en – in die­ externen Ursprungs sind (Zitat des Bundespräsidenten, Werbeeinschaltungen). Ansätze zur ser Aus­ga­be: am Bei­spiel der Dis­kus­sion um die ge­mein­same Er­wäh­nung »gro­ßer Geschlechtergleichstellung werden – in dieser der Diskussion um die Söhne und Töch­ter« in der Bun­ des­ hymneAusgabe: – ins Lä­cam her­lBeispiel i­che ge­zo­ gen. gemeinsame Erwähnung »großer Söhne und Töchter« in der Bundeshymne – ins Lächerliche

gezogen.

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Rea­li­tä­ten Mit den In­di­ka­to­ren, wel­che die Ge­schlechter­rea­li­tä­ten in­halt­lich re­flek­tie­ren – The­men­zu­schrei­bun­gen, so­zio-öko­no­mi­scher Sta­tus, Wert­schät­zung und Rol­ len­zu­schrei­bun­gen – wird ver­sucht, den (mit)ver­mit­tel­ten Ursa­chen für die in der Be­richt­er­stat­tung trans­por­tierte Sicht­weise des Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­ses und den da­mit ver­bun­de­nen hand­lungs­re­le­van­ten Be­wer­tun­gen nach­zu­ge­hen. Da es zu den zen­tra­len Funk­tio­nen der Me­dien ge­hört, für The­men Öf­fent­lich­keit her­zu­stel­len (vgl. McCombs 2004), kann in den The­men­zu­schrei­bun­gen eine der ver­mit­tel­ten Ursa­chen für die Re­prä­sen­ta­tion der Ge­schlech­ter ge­se­hen wer­den. Tat­säch­lich geht in der Kro­nen Zei­tung die hö­here Re­prä­sen­tanz von Män­nern mit einer en­gen Ver­ bin­dung mit je­nen The­men­be­rei­chen (auf Res­sort­ebe­ne) ein­her, die den so ge­nann­ ten »Hard News«, also den ge­sell­schaft­lich re­le­van­ten The­men­be­rei­chen, zu­zu­ord­ nen sind: Po­li­tik, Aus­land und Kul­tur. Wei­ters kom­men die in der Kro­nen Zei­tung brei­ten Raum ein­neh­men­den Re­gio­nal- und Lo­kal­be­richt­er­stat­tung hinzu und – we­ nig über­ra­schend – die Sport­be­richt­er­stat­tung. Frauen hin­gegen do­mi­nie­ren le­dig­ lich So­cie­ty- und Fern­seh-The­men (vgl. Abbildung 3). Dass sie auch den Bild­raum im Aus­lands- und Wie­ner Lo­kal­teil prä­gen, wirkt frei­lich nur auf den ers­ten Blick re­la­ti­vie­rend zur männ­li­chen Do­mi­nanz im Text­raum die­ser bei­den Res­sorts: Tat­ säch­lich fin­den sich hier Frauen (wie die Ana­lyse der Rol­len­zu­schrei­bun­gen noch zei­gen wird) in der Funk­tion ei­nes sexy Mo­del, das zwar im Bild zu se­hen, aber im da­zu­ge­hö­ri­gen Text nicht er­wähnt ist, oder die ei­nes blo­ßen – be­ruf­lich über­haupt nicht zu ver­or­ten­den – »hüb­schen Bei­werks«, das mit dem da­zu­ge­hö­ri­gen Ar­ti­kel (bspw. über ein So­lar­en­er­gie­haus oder eine Auto­mes­se) gar nichts zu tun hat. Ähn­li­ ches lässt sich im Ge­sund­heits­res­sort be­ob­ach­ten, wo ein gro­ßes Bild ei­ner schö­nen asia­ti­schen Frau ei­nen Bei­trag über Glut­amat in Nah­rungs­mit­teln er­gänzt, doch im Text kei­ner­lei Be­zug auf diese (oder an­de­re) Frau(en) ge­nom­men wird. Die in den The­men­zu­ord­nun­gen er­kenn­ba­ren Ge­schlechter­ste­reo­ty­pen wer­ den durch den zu­ge­schrie­be­nen so­zio­öko­no­mi­schen Sta­tus ver­schärft, in dem eine wei­tere Ursa­che für die ge­ge­bene Re­prä­sen­ta­tion der Ge­schlech­ter ge­se­hen wer­ den kann. Abbildung  4 ver­an­schau­licht in An­leh­nung an die Ka­te­go­rien der auf der be­ruf­li­chen Stel­lung – und da­mit auf der ge­sell­schaft­lich an­er­kann­ten Ba­sis der Selbst­ver­wirk­li­chung (vgl. Hör­ning 1981) – auf­bau­en­den Teg­tmey­er-Skala (vgl. Teg­tmeyer 1976; Wolf 1995) die Dif­fe­ren­zen zwi­schen Män­nern und Frau­en: Die dar­ge­stell­ten Män­ner be­klei­den un­gleich häu­fi­ger als die dar­ge­stell­ten Frauen ge­ho­bene ge­sell­schaft­li­che Po­si­tio­nen. Fragt man nach den Merk­ma­len, die auf Hand­lungs­kom­pe­tenz schlie­ßen las­sen, so sind es über­wie­gend Män­ner, die sich als Macht­ha­ber und Ent­schei­dungs­trä­ger in Füh­rungs­po­si­tio­nen be­fin­den. Sie sind ak­tiv, Kämp­fer, Tä­ter, Ret­ter, und wenn sie zum Ver­lie­rer oder Op­fer wer­den – dann als Op­fer an­de­rer Män­ner (Abbildung 5 gibt eine Über­sicht über die de­kon­ stru­ier­ten Rol­len­zu­schrei­bun­gen zu Frauen und Män­nern).

zu tun hat. Ähnliches lässt sich im Gesundheitsressort beobachten, wo ein großes Bild einer schönen asiatischen Frau einen Beitrag überRGlutamat in Nahrungsmitteln ergänzt, doch im e­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten  |  143 Text keinerlei Bezug auf diese (oder andere) Frau(en) genommen wird.

Abbildung 3: The­men­zu­schrei­bun­gen (auf Res­sort­ebe­ne) zu Frauen und Män­ ern in Text und Bild in der nen Zei­tung vom 27.10.2011 Abbildung 3:nThemenzuschreibungen (aufKro­ Ressortebene) zu Frauen und Männern in (An­teile an re­dak­tio­nel­lem Raum) Text und Bild in der Kronen Zeitung vom 27.10.2011 (Anteile an redaktionellem Raum) 100%

80%

60%

40%

20% 0% gegebene Repräsentation der Geschlechter gesehen werden kann. Abbildung 4

veranschaulicht in Anlehnung an die Kategorien der auf der beruflichen Stellung – und damit auf der gesellschaftlich anerkannten Basis der Selbstverwirklichung (Hörning 1981) – aufbauenden Tegtmeyer-Skala (TegtmeyerFrauen 1976;Männer Wolf 1995) die Differenzen zwischen Männern Frauen: Die dargestellten bekleiden häufiger Jedeund Variable = 100%; derje­ jeweilige sich aufge­ die nichtter­re­lals Jede Va­ ria­ble = 100%; der wei­lige Dif­Differenzbetrag fe­Männer renz­be­trag be­ ziehtbezieht sich aufungleich die nicht schlech­ e­van­die ten geschlechterrelevanten Teile der Bei­träge bzw. Teile Bil­der der Beiträge bzw. Bilder

dargestellten Frauen gehobene gesellschaftliche Positionen. Die in den Themenzuordnungen erkennbaren Geschlechterstereotypen werden durch den Abbildung 4:sozioökonomischen So­zio­öko­no­mi­scher Sta­tverschärft, us der dar­gine­sdem tell­ten Män­nfür er die zugeschriebenen Status eineFrauen weitereund Ursache in der Kro­ n en Zei­ t ung vom 27.10.2011 (An­ t eil an der Zahl der AkteurInnen Abbildung 4: Sozioökonomischer Status der dargestellten Frauen und Männer in der pro Ge­svom chlecht) Kronen Zeitung 27.10.2011 (Anteil an der Zahl der AkteurInnen pro Geschlecht) 40%

30%

20%

10%

0% besonders niedrig

sehr niedrig

niedrig

mittelmäßig Frauen

hoch

sehr hoch

besonders hoch

Männer

Fragt man nach den Merkmalen, die auf Handlungskompetenz schließen lassen, so sind es überwiegend Männer, die sich als Machthaber und Entscheidungsträger in

144  | Ma­ren Beau­fort und Jo­sef Seet­ha­ler

Abbildung 5: Rol­len­zu­schrei­bun­gen zu Frauen und Män­nern in der Kro­nen Zei­tung vom 27.10.2011 (An­teil an der Zahl der AkteurInnen pro Ge­schlecht) 40 30 20 10 0

Frauen (N = 128)

Männer (N = 286)

Män­ner wis­sen sich in ihrer Ver­lie­rer- oder Op­fer­rolle oft zu weh­ren, und wenn sie ver­sich lie­ren, lie­ren sie oder zu­meist mit Wür­doft e. Eine der­ar­ti­ge, aufwenn der Ebene Männer wissen indann ihrerver­ VerliererOpferrolle zu wehren, und sie verlieren, der Wert­schät­zung zum Aus­druck ge­brachte Re­la­ti­vie­rung der weib­li­chen Op­fer­ dann verlieren sie zumeist mit Würde. Eine derartige, auf der Ebene der Wertschätzung zum rolle ist in der unter­such­ten Aus­gabe der Kro­nen Zei­tung na­hezu nicht exis­tent. Ausdruck Im gebrachte Relativierung der weiblichen ist inver­ der Gegen­teil: Frauen sind nicht nur stark in Opferrolle ihrer Op­fer­rolle haf­untersuchten tet (27 Pro­zentAusgabe der Frauen sind Op­ f er, aber nur knapp 13 Pro­ z ent der Män­ n er!), sie er­snur chei­nstark en inin ihrer der Kronen Zeitung nahezu nicht existent. Im Gegenteil: Frauen sind nicht die­ser Rolle zum Teil so­gar un­glaub­wür­dig oder nicht be­mit­lei­dens­wert. Ge­ne­rell Opferrolleer­ verhaftet (27 Frauen Opfer, nurrend knapp 13als Prozent der hal­ten Män­ nerProzent häu­fig­ erder Wert­ schät­zsind ung als Frau­eaber n: Wäh­ mehr 43  Pro­ der dar­ge­stell­ Män­Rolle ner hoch ge­sTeil chätzt und unglaubwürdig dem­gegen­über nur 15 Pro­ zent Männer!),zent sie erscheinen inten dieser zum sogar oder nicht ge­ring ge­schätzt wer­den, sind bei Frauen die An­teile etwa gleich hoch: den et­was bemitleidenswert. Generell erhalten Männer häufiger Wertschätzung als Frauen: Während über 30 Pro­zent hoch ge­schätz­ten Frauen ste­hen ebenso viele gegen­über, die ge­ mehr als 43 Prozent derwer­ dargestellten Männer hoch geschätzt demgegenüber ring ge­schätzt den (vgl. Abbildung 6). Män­ ner er­fah­und ren zwar als Ver­ur­sa­cnur her 15 der Fi­geschätzt nanz­krise keine Wert­ schät­ zung, sie sind aber auch, diegleich als maß­ geb­lich Prozent gering werden, sind bei Frauen dieesAnteile etwa hoch: denanetwas ihrer Lö­sung Be­tei­ligte An­er­ken­nung er­fah­ren; ebenso gibt es keine Wert­schät­zung über 30 Prozent hoch geschätzten Frauen stehen ebenso viele gegenüber, die gering geschätzt für Män­ner, die straf­bare De­likte be­ge­hen, doch wird in ei­ni­gen Fäl­len das De­likt werden (vgl. Männer zwar Verursacher der Finanzkrise keine her­uAbbildung nter ge­spielt6). oder Schulderfahren auf äu­ßere Um­als stände ver­la­gert. Lä­ cher­ lich ge­macht wer­den Män­ner je­doch, wenn sie nicht er­folg­reich sind – und sei es als Dieb – oder Wertschätzung, sie sind es aber auch, die als maßgeblich an ihrer Lösung Beteiligte auf ein ju­gend­li­ches Äu­ße­res Wert le­gen und nicht selbst­be­wusst zu ihrem Al­ter Anerkennung erfahren; ebenso gibt es keine Wertschätzung für Männer, die strafbare Delikte ste­hen. deninFrauen nicht in ihrer rolle als Op­fgespielt er – und oder zwarSchuld aus­schließ­ begehen, dochWer­ wird einigen Fällen dasHaupt­ Delikt herunter auflich äußere als Op­fer von Män­nern – ge­zeigt, so sind sie oft nicht mehr als bloß »mit da­bei«, Umstände verlagert. Lächerlich gemacht werden Männer jedoch, wenn sie nicht erfolgreich eine Art »hüb­sches Bei­werk« der (in Text und Bild) in ihren be­ruf­li­chen Funk­tio­ sind – undnen sei prä­ es sals oder aufSelbst ein jugendliches Äußeres Wert legeninund en­tDieb ier­ten –Män­ ner. wenn, sel­ten ge­ nug, über Frauen Füh­rnicht ungs­

selbstbewusst zu ihrem Alter stehen. Abbildung 6: Wertschätzungen von Frauen und Männern in der Kronen Zeitung vom

Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten  |  145

Abbildung 6: Wert­schät­zun­gen von Frauen und Män­nern in der Kro­nen Zei­tung vom 27.10.2011 (An­teil an der Zahl der AkteurInnen pro Ge­schlecht) 50%

40%

30%

20%

10%

0% Hohe Wertschätzung Frauen (N = 128)

Geringe Wertschätzung Männer (N = 286)

Werden Frauen nicht in ihrer Hauptrolle als Opfer – und zwar ausschließlich als Opfer von Männern – si­tio­ nenoftbe­ rich­tet wird, wer­»mit den sie in dereine Re­gArt el, »hübsches an­ders als ihre männ­lder i­chen gezeigt, sopo­ sind sie nicht mehr alssobloß dabei«, Beiwerk« (in Text und Kol­le­gen, ent­we­der ten­den­ziell re­si­gnie­rend und hilf­los – wie die deut­sche Bun­ Bild) in ihren beruflichen Funktionen präsentierten Männer. Selbst wenn, selten genug, über Frauen in des­kanz­le­rin an­ge­sichts der Eu­ro­krise – oder im Zu­sam­men­hang mit Nich­tig­kei­ Führungspositionen berichtet soenwerden in So derdis­ Regel, ihre männlichen ten bzw. schwa­ chenwird, The­m dar­ge­ssie tellt: ku­tie­anders ren bei­als spiels­ weise füh­rendeKollegen, Po­li­ti­ke­rin­nresignierend en über Ba­by­ na­mhilflos en (statt po­li­die ti­sche Dis­kurse zu kom­men­tie­angesichts ren) oder der entweder tendenziell und – wie deutsche Bundeskanzlerin tre­ten le­dig­lich in der Rolle ei­nes neben­säch­li­chen Gas­tes auf (was wie­derum den Eurokrise – oder im Zusammenhang mit Nichtigkeiten bzw. schwachen Themen dargestellt: So männ­li­chen Haupt­ak­teur auf­wer­tet). Diese Dar­stel­lungs­weise re­la­ti­viert den Hand­ diskutierenlungs­ beispielsweise führende überschät­ Babynamen (statt spiel­raum ei­ ner Füh­rPolitikerinnen ungs­po­si­tion. Wert­ zung er­fah­ ren politische Frauen vorDiskurse al­lem zu kommentieren) in lie­ derbens­ Rolle eines nebensächlichen aufsind (wasoder wiederum den dann, oder wenntreten sie –lediglich schön und wert – ent­ we­der ein at­trak­Gastes ti­ver Star den Mann be­ g lei­ t en und als seine häus­ l i­ c he Ver­ s or­ g e­ r in die Kin­ d er hü­ t en. Ihre Prä­ männlichen Hauptakteur aufwertet). Diese Darstellungsweise relativiert den Handlungsspielraum einer sen­ta­tion als Sex­ob­jekt er­folgt in der Re­gel wert­frei. Führungsposition. Wertschätzung erfahren Frauen vor allem dann, wenn sie – schön und liebenswert – entweder ein attraktiver Star sind oder den Mann begleiten und als seine häusliche Versorgerin die Re­s ü­mPräsentation ee Kinder hüten. Ihre als Sexobjekt erfolgt in der Regel wertfrei. Ausgehend von Eli­sa­beth Klaus’ Über­le­gun­gen zur Re­le­vanz ge­schlech­tert­heo­ Wis­sens für die Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft und zur wech­sel­sei­tig be­fvon ruch­Elisabeth ten­den Ko­eKlaus‘ xis­tenzÜberlegungen ver­schie­de­ner An­ sät­Relevanz ze, hat dergeschlechtertheoretischen Bei­trag ein Mo­dell zur Ausgehend zur Ana­lyse der in den Me­dien ver­mit­tel­ten Ge­schlechter­kon­struk­tio­nen vor­ge­stellt. Wissens für die Kommunikationswissenschaft und zur wechselseitig befruchtenden Das Mo­dell baut auf dem aus der ko­gni­ti­ven Psy­cho­lo­gie kom­men­den Fra­mingKoexistenz Ansätze, derner Beitrag Modell der den Medien An­verschiedener satz auf und orien­ tiert sichhat in sei­ Ope­ra­tein io­na­ li­sie­rungzur an Analyse der aus der Po­in li­tik­ ana­lyse stam­men­den 3R-Me­tho­de. Die Va­li­di­tät des Mo­dells wurde im Rah­men ei­

Resümee re­ti­schen

vermittelten Geschlechterkonstruktionen vorgestellt. Das Modell baut auf dem aus der kognitiven Psychologie kommenden Framing-Ansatz auf und orientiert sich in seiner

Operationalisierung an der aus der Politikanalyse stammenden 3R-Methode. Die Validität des

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nes auf eine Aus­gabe der Kro­nen Zei­tung be­zo­ge­nen Pre­tests im Hin­blick auf seine Eig­nung zur Ana­lyse von Gen­der-Fra­mes in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung ge­prüft. Für die Aus­wer­tung wur­den die Co­die­run­gen zu­ein­an­der in Re­la­tion ge­setzt und bil­de­ten so die Ba­sis für die Ana­lyse der gen­der­spe­zi­fi­schen Rah­mung der Bei­träge hin­sicht­lich Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen und Rea­li­tä­ten. Die Be­funde sind auf meh­re­ren Ebe­nen auf­schluss­reich. Zum ersten sind Män­ner we­sent­lich prä­sen­ter als Frauen und wer­den mit hö­he­ren Res­sour­cen, also mit hö­ he­rer Auf­merk­sam­keit be­dacht: Mehr als dop­pelt so viele Män­ner als Frauen tre­ten in den Bei­trä­gen als HauptakteurInnen auf; hin­sicht­lich des Text­rau­mes nimmt die Dar­stel­lung von Män­nern drei­mal so viel Raum ein wie die von Frau­en. In Be­zug auf die vi­su­elle Dar­stel­lung ist das Ver­hält­nis 2 : 1. Die ver­mit­telte Sicht auf die ge­sell­ schaft­li­che Prä­senz der Ge­schlech­ter ist also deut­lich ver­zerrt. Eine der Ver­tei­lung in der Be­völ­ke­rung ad­äquate Prä­senz von Frauen und Män­nern in der Be­richt­er­stat­tung ge­hört je­doch zu je­nen Merk­ma­len, an­hand de­rer die Qua­li­tät von Me­dien ge­mes­sen wer­den kann (vgl. Na­poli 1999). Im Sinne des Fra­ming-An­sat­zes wird aber mit die­ser ver­zerr­ten Ver­tei­lung eine be­stimmte Sicht­weise auf die ge­sell­schaft­li­che Be­deu­tung und Macht­kon­stel­la­tion der bei­den Ge­schlech­ter ver­mit­telt. Wie an­hand der »Rea­ li­tä­ten«-Di­men­sion ge­zeigt wer­den kann, fin­det sie ihre Ursa­chen ei­ner­seits in der Zu­ord­nung zu den ge­sell­schaft­li­chen Hand­lungs­fel­dern: Män­ner sind vor­wie­gend im Kon­text der für das kol­lek­tive Zu­sam­men­le­ben re­le­van­ten The­men wie Po­li­tik, Kul­tur, Aus- und In­land, aber auch im Sport zu fin­den, Frauen im Kon­text der Unter­ hal­tung bei So­cie­ty- und Fern­seh­the­men. Die ver­zerrte Sicht des Ver­hält­nis­ses der Ge­schlech­ter zu­ein­an­der kor­re­liert an­de­rer­seits aber auch mit ei­ner in der Be­richt­ er­stat­tung zu fin­den­den be­ruf­li­chen Schich­tung, die Män­nern ei­nen im Ver­gleich zu Frauen we­sent­lich hö­he­ren so­zio­öko­no­mi­schen Sta­tus zu­kom­men lässt. Diese Images er­wei­sen sich schließ­lich als sehr sta­bil, da hin­sicht­lich der Hand­lungs­kom­pe­tenz der Ball er­neut bei Män­nern liegt: Sie wer­den so dar­ge­stellt, dass sie die da­für not­wen­ dige Wert­schät­zung ge­nie­ßen und in über­wie­gen­dem Maße jene ge­sell­schaft­li­chen Funk­tio­nen be­klei­den, die Han­deln erst er­mög­li­chen. Aus­drück­lich sei fest­ge­hal­ten, dass auf der Ba­sis ei­nes Pre­tests keine Ver­all­ge­ mei­ne­rung mög­lich ist. Viel­mehr diente der Test da­zu, die Eig­nung des vor­ge­stell­ ten Fra­ming-An­sat­zes und des da­für er­arbei­te­ten Ka­te­go­rien­sys­tems ei­ner ers­ten Prü­fung zu unter­zie­hen. In ei­nem nächs­ten Schritt soll­ten die an­hand der Ele­ mente von Ent­mans (1993) Fra­ming-De­fi­ni­tion ope­ra­tio­na­li­sier­ten Di­men­sio­nen der »3R-Me­thode« fak­to­ren­ana­ly­tisch ge­tes­tet wer­den. Auf­grund der hier nur kurz skiz­zier­ten Er­geb­nisse zeigt sich je­doch für die kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che Ge­schlech­ter­for­schung die Kopp­lung der bei­den An­sätze als viel­ver­spre­chen­der Weg, der eine mehr­di­men­sionale in­halts­ana­ly­ti­sche Er­fas­sung der in den Me­dien ver­mit­tel­ten Ge­schlech­te­ri­ma­ges und -ste­reo­ty­pen er­laubt.

Re­prä­sen­ta­tion, Res­sour­cen, Rea­li­tä­ten  |  147

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Journalismus in der Verantwortung

Öko­lo­gie der Me­dien­ge­sell­schaft

Öko­lo­gie der Me­dien­ge­sell­schaft Be­trach­tun­gen des so­zio­kul­tu­rel­len und me­dia­len Wan­dels im Lichte von Nach­hal­tig­keit Irene Ne­verla

Was zeich­net unser Le­ben in der heu­ti­gen Ge­sell­schaft gegen­über frü­he­ren Ge­ sell­schafts­forma­tio­nen aus? Ers­tens die Ver­schmel­zung von Mensch und di­gi­ta­ler Me­dien­tech­nik; zwei­tens die enorme Dy­na­mik des so­zio­kul­tu­rel­len und me­dia­len Wan­dels. Es ent­steht ein Sog, der un­ver­meid­lich er­scheint. Ob wir dem fol­gen wol­ len, sol­len, müs­sen, ist die Leit­frage die­ses Bei­tra­ges. Eine ge­dank­li­che Al­ter­na­tive bie­ten Über­le­gun­gen zur Öko­lo­gie der Me­dien­ge­sell­schaft. Der Bei­trag ver­steht sich als An­re­gung zu ei­ner kri­tisch-ge­sell­schafts­ana­ly­ti­schen For­schungs­per­spek­ ti­ve. Da­mit steht er – so hoffe ich – in gu­ter Af­fi­ni­tät zum in­tel­lek­tuel­len Wir­ken von Eli­sa­beth Klaus in ihren viel­fäl­ti­gen und hoch an­re­gen­den ge­sell­schafts­ana­ly­ ti­schen Arbei­ten.

Wo­hin geht die Rei­se? Die alte Tren­nung von Mensch gegen­über Ma­schi­ne, In­di­vi­duum gegen­über Me­ dien ist über­holt. Die Me­dien – tech­ni­sche und sym­bo­li­sche Mit­tel zur Ver­mitt­ lung von Kom­mu­ni­ka­tion – durch­drin­gen so mas­siv und per­ma­nent wie nie zu­vor unsere Sin­ne, All­tags­wel­ten, In­sti­tu­tio­nen und Sys­te­me. Die gän­gige Be­zeich­nung »Me­dien­ge­sell­schaft« klingt nüch­tern, mehr von der Wir­kungs­macht der Ent­ wick­lung ver­an­schau­li­chen Be­zeich­nun­gen wie »Me­dia­mor­pho­sis« (Ro­ger Fidler 1997); »Me­dia­tope« (Thors­ten Quandt und Tilo von Pape 2010); »Me­dia­po­lis« (Ro­ger Sil­ver­stone 2006); oder ein­fach »Me­dia­life« (Deuze 2012). Mit sol­chen Wort­schöp­fun­gen su­chen KommunikationsforscherInnen nach Bil­dern da­für, dass Me­dien und Men­schen aufs engste mit­ein­an­der ver­wach­sen sind. Me­dien sind ubi­qui­tär, über­all und ohne Pause vor­han­den, sie sind per­va­siv, sie kön­nen nicht ab­ge­stellt wer­den, sie durch­drin­gen al­les und sind Teil unse­rer Iden­ti­tät ge­wor­den.

154  | Irene Ne­verla »Who you are, what you do, and what all of this me­ans to you does not exist out­side of media. Me­dia are to us as wa­ter is to fish. This does not mean life is de­ter­mi­ned by media – it just sug­gests that whet­her we like it or not, every aspect of our li­ves takes place in media.« (Deuze 2012: X)

Die Ent­wick­lung könnte aber noch wei­ter ge­hen: Der Wan­del von Me­dien und Ge­ sell­schaft hat eine neue Qua­li­tät an­ge­nom­men, unsere Ein­bet­tung in die Me­dien­ welt ist so weit fort­ge­schrit­ten, dass wir uns wo­mög­lich auf dem Weg in eine völ­lig neue Ge­sell­schafts­forma­tion, den Transhumanismus be­fin­den. Ein zwei­tes grund­le­gen­des Merk­mal der Me­dien­ge­sell­schaft ist die enorme Dy­na­mik des so­zio­kul­tu­rel­len und me­dia­len Wan­dels. Da­mit be­fasst sich mitt­ler­ weile ein gan­zes For­schungs­feld der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft, die Me­dia­ ti­sie­rungs­for­schung (Krotz 2001; Lundby 2009; Hepp 2013). Ein auf dem Me­ dia­ti­sie­rungs­kon­zept auf­bau­en­des neu­eres Kon­zept ist das der kom­mu­ni­ka­ti­ven Fi­gu­ra­tion (Hepp 2014; Hepp/Ha­se­brink 2014). Es führt Nor­bert Eli­as’ Fi­gu­ra­ tions­kon­zept wei­ter, in­dem es nicht nur ge­ne­rell Fi­gu­ra­tio­nen als Be­zie­hungs­ge­ füge be­trach­tet, son­dern in ihrer spe­ziel­len Aus­for­mung und Be­deu­tung als kom­ mu­ni­ka­ti­ves Be­zie­hungs­ge­fü­ge. Für die Fi­gu­ra­tion als so­zio­lo­gi­sches Kon­zept wie auch für kom­mu­ni­ka­tive Fi­gu­ra­tion als kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­ches Kon­zept gilt, dass es auf Mi­kro-, Me­so- und Ma­kro­ebene an­wend­bar ist und diese Ebe­nen ver­bin­det; dass es so­wohl in­di­vi­du­elle Hand­lungs­per­spek­ti­ven wie auch ge­sell­schaft­li­che Struk­tur­per­spek­ti­ven er­fasst; und dass es sich da­mit sehr gut als ge­sell­schafts­ana­ly­ti­sches In­stru­ment und zur Ana­lyse von so­zia­lem Wan­del eig­net. Der nach­fol­gende skiz­zierte kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gi­sche Blick auf die Me­ dien­ge­sell­schaft ist ge­sell­schafts­ana­ly­tisch und kri­tisch an­ge­legt. Die­ser Blick auf die Me­dien­ge­sell­schaft ver­sucht nicht nur ihren em­pi­ri­schen Ist-Zu­stand zu er­fas­sen, son­dern auch Gegen­strö­mun­gen, Gren­zen, Leer­stel­len, Rat­lo­sig­kei­ten zu er­kun­den. Ein Leit­ge­danke be­zo­gen auf das In­di­vi­duum ist: Selbst wenn wir da­von aus­ge­hen, dass der Mensch als hoch lern­fä­hi­ges We­sen im­stande ist, jeg­ li­chen kom­mu­ni­ka­ti­ven Wan­del zu ver­arbei­ten, lässt sich fra­gen, was neben den Zu­ge­win­nen an Fä­hig­kei­ten und Hand­lungs­op­tio­nen auch die Ri­si­ken, Neben­ wir­kun­gen und Ver­luste die­ser Ent­wick­lung sein könn­ten. Und be­zo­gen auf die Ge­sell­schaft als Gan­zes: Wo ent­ste­hen Macht­kon­zen­tra­tio­nen, wie mas­siv sind die Wand­lun­gen, wie tiefgreifend ist die Ero­sion der her­kömm­li­chen Ge­sell­ schafts­forma­tion, und sind wir Zeit­zeu­gen der Emer­genz ei­ner neuen Ge­sell­ schafts­forma­tion?

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Leit­ge­dan­ken des komm ­ un ­ ik ­ a­tions­öko­lo­gi­schen An­sat­zes Solche kon­zep­tio­nel­len Über­le­gun­gen stelle ich unter die Über­schrift ei­nes kom­ mu­ni­ka­tions­öko­lo­gi­schen An­sat­zes. Der kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gi­sche An­satz stellt (vor­läu­fig) keine strin­gente Theo­rie und auch kein ge­schlos­se­nes Sys­tem em­pi­ri­ scher Be­weise dar. Er bie­tet viel­mehr eine Per­spek­ti­ve, an­hand theo­re­ti­scher Ana­ ly­sen und em­pi­ri­scher Be­funde aus­zu­lo­ten, wo wir als Ge­sell­schaft ste­hen und auf wel­cher Reise wo­hin wir uns be­fin­den. Es ist ein Kon­zept der kri­ti­schen Selbst­be­ ob­ach­tung und Selbst­ver­ge­wis­se­rung. Als Men­schen mit Ver­nunft und Ge­füh­len aus­ge­stat­tet ha­ben wir im­mer wie­der die Chan­ce: Zu be­ob­ach­ten, zu be­wer­ten, zu ent­schei­den. So­mit sind meine Aus­füh­run­gen we­der kul­tur­pes­si­mis­tisch noch fort­schritts­eu­pho­risch an­ge­legt, son­dern sie fol­gen – wenn man ein Eti­kett wünscht – der Tra­di­tion der Auf­klä­rung: Mit Ver­nunft zu be­trach­ten, was wir selbst tun, um dann auf die­ser Ba­sis so weit wie mög­lich nach Maß­gabe ethi­scher Re­geln zu ent­schei­den, wo­hin es ge­hen soll, wis­send im An­ge­sicht der Kom­ple­xi­tät, dass wir kei­nes­wegs al­les steu­ern kön­nen. Die Frage nach der kom­mu­ni­ka­ti­ven Öko­lo­gie in der Ge­samt­schau auf die Me­ dien­ge­sell­schaft ist nicht ganz neu. Sie kam schon auf in den 1980er Jah­ren, als Com­pu­te­ri­sie­rung und frühe Di­gi­ta­li­sie­rungs­ten­den­zen so­wie po­li­ti­sche Um­wäl­ zun­gen der Me­dien­sys­teme zu­sam­men­tra­fen (vgl. Mett­ler-Mei­bom 1987; Eu­rich/ Bert­rand 1992). Aber erst mit Inter­net und World­wi­de­web, Smart­pho­nes und Ta­ blets, Fa­ce­book und Twit­ter ge­wan­nen die Ent­wick­lun­gen an deut­li­che­ren Kon­tu­ ren und an Dring­lich­kei­ten. Das Kon­zept von Öko­lo­gie und Nach­hal­tig­keit hat in der zwei­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts leb­hafte Auf­merk­sam­keit er­hal­ten und zu­neh­mende Ver­brei­tung ge­fun­den. Wich­tige Sta­tio­nen wa­ren wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­sen, wie der 1962 ver­öf­fent­lichte Be­richt des Club of Rome zu den »Gren­zen des Wachs­tums«, und der UNO-Be­richt der Brund­landt-Kom­mis­sion von 1987. Darin zeigt sich ein Ver­ ständ­nis von Öko­lo­gie und Nach­hal­tig­keit als kom­ple­xen und pro­zes­sua­len Vor­ gän­gen: »Sustainable development ist not a fi­xed state of har­mo­ny, but rather a pro­cess of change in which the exploitation of resources, the direction of investments, the orien­ta­tion of technological development and institutional change are made con­sis­tent with future as well as with present needs.« (UN Documents 1987: §  30). Nach­hal­tig­keit ist die Leit­li­nie für prak­ti­sches Han­deln im Zuge so­zia­len Wan­dels. Das Kon­zept, die Welt­be­trach­tung und Le­bens­weise da­hin­ter bie­tet der Be­griff der Öko­lo­gie, ver­stan­den als »Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen den Lebe­we­sen unter­ein­an­der und mit ihrer Um­welt« (Gro­ber 2012: 151). In den Be­grif­fen der Nach­hal­tig­keit und der Öko­lo­gie las­sen sich vier tra­ gende Kom­po­nen­ten er­ken­nen: Lebe­we­sen und Um­welt, so­wie Res­sour­cen und Be­dürf­nis­se. Men­schen sind Lebe­we­sen, die lern­fä­hig, ent­wick­lungs­fä­hig und

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an­pas­sungs­fä­hig sind. Um­welt um­fasst so­wohl die äu­ßere Na­tur als auch das so­ ziale Um­feld. Mit Res­sour­cen sind ge­meint die le­bens­not­wen­di­gen Ele­mente Luft, Bo­den, Was­ser und Nah­rungs­mit­tel so­wie Roh­stoffe zur Ener­gie­ge­win­nung. Mit Be­dürf­nis­sen sind neben den phy­sio­lo­gi­schen Be­dürf­nis­sen wie Er­näh­rung und Schutz gegen Un­bil­den der Na­tur auch so­zio­kul­tu­relle Be­dürf­nisse ge­meint, wie An­sprü­che auf ein Le­ben in Re­spekt, Frie­den und in Har­mo­nie mit der Um­welt. All diese Kom­po­nen­ten von Nach­hal­tig­keit und Öko­lo­gie sind nicht ma­the­ma­tisch ex­akt de­fi­nier­bar, aber sie sind aus­rei­chend trag­fä­hig für eine an­hal­tende und auch po­li­tisch wirk­same De­bat­te. Kom­men wir auf den kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­lich re­le­van­ten Punkt: Lässt sich die Nach­hal­tig­keits- und Öko­lo­gie­de­batte auch auf Kom­mu­ni­ka­tion über­tra­ gen? Eine buch­stäb­li­che Über­tra­gung die­ses weit­ge­hend ma­te­ria­lis­tisch ba­sier­ten Kon­zepts auf das Feld der so­zia­len Kom­mu­ni­ka­tion ist si­cher nicht mög­lich. An die­ser Stelle soll je­doch dis­ku­tiert wer­den, wie weit eine sinn­ge­mäße Über­tra­gung des Grund­kon­zep­tes und sei­ner Kom­po­nen­ten trag­fä­hig und frucht­bar er­scheint. Zu­nächst lässt sich als Arbeits­de­fin­ i­tion fest­hal­ten: Kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gie ist die Ge­samt­heit der Wech­sel­be­zie­hun­gen zwi­schen den Men­schen und ihrer Um­welt in Be­zug auf Kom­mu­ni­ka­tion – und das be­deu­tet, da Men­schen zu­tiefst kom­mu­ni­ka­tive We­sen sind, in vie­len kom­ple­xen Zu­sam­men­hän­gen. Sie er­fasst die Be­din­gun­gen und Hand­lungs­wei­sen, die unser kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­deln kenn­zeich­nen. Nach­hal­tig­keit unse­rer kom­mu­ni­ka­ti­ven Um­welt ist so zu ver­ste­ hen, dass so­zia­ler Wan­del in sei­ner Kon­sis­tenz für gegen­wär­tige und zu­künf­tige Be­dürf­nisse kri­tisch be­trach­tet wird. Die we­sent­li­chen Kom­po­nen­ten sind: Ak­ teure, d. h. Men­schen als In­di­vi­duen und Kol­lek­ti­ve, und zwar gleich­ran­gig je­des Ge­sell­schafts­mit­glied, al­ler­dings durch­aus mit unter­schied­li­chen, mög­li­cher­weise di­ver­gen­ten kom­mu­ni­ka­ti­ven Be­dürf­nis­sen. Ak­teu­re, ein­zeln wie kol­lek­tiv, ver­fü­ gen über Res­sour­cen, die letzt­lich im­mer be­grenzt sind. Als Um­welt sind me­diale Set­tings zu ver­ste­hen, v.  a. in ihren tech­ni­schen und or­ga­ni­sa­to­ri­schen Aus­for­ mun­gen. All diese Kom­po­nen­ten zu ana­ly­sie­ren, würde den Rah­men ei­nes Auf­sat­zes spren­gen. An die­ser Stelle soll die kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gi­sche Per­spek­tive le­dig­ lich am Bei­spiel der Kom­po­nente Res­sour­cen knapp skiz­ziert wer­den.

Res­sour­cen der Kom­mu­ni­ka­tion und ihre Nachh ­ alt­ igk ­ eit Egal in wel­cher Form Kom­mu­ni­ka­tion statt­fin­det – face to face inter­per­so­nal, oder me­dial ver­mit­telt inter­per­so­nal, ob mas­sen­kom­mu­ni­ka­tiv in her­kömm­li­chen For­ men wie als Zei­tungs-, Ra­dio-, Fern­seh­nut­zung, oder on­line – Kom­mu­ni­ka­tion er­for­dert dreier­lei: Kom­mu­ni­ka­tion be­darf ei­nes Stoffs und the­ma­ti­schen Gegen­

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stands; sie fin­det in­ner­halb ei­ner Ma­trix von Zeit und Raum statt; und sie er­folgt mit ei­ner ge­wis­sen Auf­merk­sam­keit. Diese As­pekte las­sen sich als Res­sour­cen der Kom­mu­ni­ka­tion be­grei­fen. Zu­wachs an The­men, In­for­ma­tio­nen, Daten Alles und jedes kann zum Stoff, zum the­ma­ti­schen Gegen­stand von Kom­mu­ni­ka­ tion wer­den. Was die tech­ni­sche Ent­wick­lung im Laufe der Mensch­heits­ge­schichte und vor al­lem die Di­gi­ta­li­sie­rung der ver­gan­ge­nen Jahr­zehnte mit sich ge­bracht ha­ben, ist ein im­men­ser Zu­wachs an po­ten­ziel­len The­men bzw. In­for­ma­tions­an­ ge­bo­ten. Im­mer mehr Me­dien bie­ten im­mer mehr In­for­ma­tions­men­gen in im­mer kür­ze­ren Zeit­ein­hei­ten. Die kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gi­schen Fra­gen ge­hen hier in zweier­lei Rich­tun­gen: Was pas­siert mit den Nut­ze­rin­nen und Nut­zern die­ser In­for­ma­tio­nen? Wie viele In­for­ma­tio­nen kann der Mensch ver­arbei­ten? Hat der Über­schuss an In­for­ma­tio­ nen Rück­wir­kun­gen auf den Um­gang mit In­for­ma­tio­nen? Diese Fra­gen sind eng ver­knüpft mit den Res­sour­cen von Zeit und Raum, auf die ich spä­ter ein­ge­hen wer­de. Die an­dere Rich­tung führt zur Frage nach der Ver­fü­gungs­macht über In­for­ma­ tio­nen und Daten: Wer kann, darf, soll sie spei­chern, sich­ten, be­arbei­ten, lö­schen? Was ist tech­nisch mög­lich, was ist so­zial wün­schens­wert? Wir be­we­gen uns auf dem Kon­ti­nent von ›Big Data‹ und ›Deep Land‹. Die Di­gi­ta­li­sie­rung führt zu rie­si­ gen An­samm­lun­gen von Daten, die durch in­ter­es­sierte In­sti­tu­tio­nen ge­sam­melt und nach Eigen­in­ter­esse aus­ge­wer­tet wer­den kön­nen. Der NSA-Skan­dal hat dies noch dem letz­ten Zweif­ler deut­lich vor Au­gen ge­führt. Im Zuge der Ent­hül­lun­gen durch Ed­ward Snow­den zu den Daten­samm­lun­gen der US-ame­ri­ka­ni­schen und bri­ti­schen Ge­heim­dienste ist das Thema in der brei­ten Öf­fent­lich­keit an­ge­kom­men. Die Hal­tung Ein­zel­ner wie auch von Sta­ke­hol­dern zur Frage des Um­gangs mit Daten ist ge­teilt. Wir fin­den li­be­rale und li­be­ra­lis­ti­sche Hal­tun­gen am ei­nen En­de, wie kul­tur­kri­ti­sche und re­strik­tive Hal­tun­gen am an­de­ren Ende der Mei­nungs­ska­ la. Als Bei­spiel für eine neo­li­be­rale Hal­tung ste­hen Eric Schmidt und Ja­red Co­hen (2012), zwei hoch­ran­gige Ma­na­ger bei Google. Die Zu­kunft se­hen sie als hoch ver­netzte Welt – »Bald wer­den alle Men­schen auf die­sem Pla­ne­ten ver­netzt sein.« (ebd.: 27), wo­bei Ein­zelne eine Viel­zahl vir­tu­el­ler Iden­ti­tä­ten an­neh­men könn­ten. Die Welt von Schmidt und Co­hen weist an der ei­nen oder an­de­ren Stelle kleine Kan­ten und Schär­fen auf. Etwa der­art, dass wer sich der Trans­pa­renz ver­wei­gert ei­nen ho­hen Preis zahlt, denn »der wahre Preis für die An­ony­mi­tät ist die Be­deu­ tungs­lo­sig­keit.« (ebd.: 57). Oder der­art, dass die Viel­zahl von vir­tu­el­len Iden­ti­tä­ten in den Öf­fent­lich­kei­ten bei ei­ner staat­li­chen Kon­troll­stelle ge­mel­det wer­den soll­ ten, um sich zu le­gi­ti­mie­ren. Auch ein mas­sen­haf­ter Miss­brauch von Daten durch Ge­heim­dienste wird hier nicht aus­ge­schlos­sen. Schmidt und Co­hen ma­chen nicht

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ein­mal ei­nen Hehl aus der Macht ihres Kon­zerns, im Gegen­teil: »Wir sind über­ zeugt, dass Por­tale wie Google, Fa­ce­book, Ama­zon oder Apple weit­aus mäch­ti­ger sind, als die meis­ten Men­schen ah­nen, und dass unsere Zu­kunft durch ihre welt­ weite Nut­zung ge­prägt sein wird.« (ebd.: 22). Schmidt und Co­hen se­hen darin kein Pro­blem. Der deutsch-ko­rea­ni­sche Phi­lo­soph By­ung-Chul Han malt ein gegen­sätz­li­ches Bild unse­rer Ge­sell­schaft. Trans­pa­renz laute das Im­pe­ra­tiv der Di­gi­ta­li­sie­rung. Diese Trans­pa­renz führe in der Po­li­tik da­zu, dass nur noch kurz­fris­ti­ge, po­pu­lis­ti­ sche, ängst­li­che Ent­schei­dun­gen ge­trof­fen wer­den; in der Li­te­ra­tur da­zu, dass nur noch ober­fläch­li­che Mas­sen­li­te­ra­tur pro­du­ziert wer­de. Vor al­lem aber: »Die di­gi­tale Ver­net­zung er­leich­tert die In­for­ma­tions­be­schaf­fung der­ma­ßen, dass das Ver­trauen als so­ziale Pra­xis im­mer mehr an Be­deu­tung ver­liert. Es weicht der Kon­trol­le. So hat die Trans­pa­renz­ge­sell­schaft eine struk­tu­relle Nähe zur Über­wa­chungs­ge­sell­ schaft.« (Han 2013: II). Im Gegen­satz zu den ver­al­te­ten to­ta­li­tä­ren Kon­troll­struk­ tu­ren der Vor­mo­derne – mit dem Sinn­bild des Fou­cault’­schen Pan­op­ti­kums, in dem die Ge­fan­ge­nen sich in Zel­len auf­hal­ten und ein­an­der nicht se­hen, je­doch von den Wär­tern al­le­samt ge­se­hen und kon­trol­liert wer­den kön­nen – zeichne sich das di­ gi­tale Pan­op­ti­kum da­durch aus, dass seine Be­woh­ner sich unter­ein­an­der durch­aus ver­net­zen und mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren kön­nen (ebd.). Nicht äu­ße­rer Zwang, son­dern in­ne­res Be­dürf­nis und die Il­lu­sion der Frei­heit voll­en­det das Kon­troll­po­ ten­zial: Frei­wil­lige Selbst­aus­leuch­tung und Selbst­aus­beu­tung wird zum zen­tra­len und über­aus ef­fek­ti­ven Me­cha­nis­mus. Man muss we­der dem Eu­phe­mis­mus der Google-Ma­na­ger, noch dem me­lan­ cho­li­schen Kul­tur­pes­si­mis­mus des Phi­lo­so­phen fol­gen – man muss je­doch nüch­ tern fest­hal­ten, dass die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten des Zu­griffs auf schier un­ end­li­che Daten­men­gen von Pri­vat­per­so­nen eine neue Macht­di­men­sion er­öff­nen. Die­ses Macht­po­ten­zial liegt bei staat­li­chen In­sti­tu­tio­nen, bei glo­bal agie­ren­den Kon­zer­nen, aber auch bei kri­mi­nel­len Or­ga­ni­sa­tio­nen, und es könnte sich ex­trem zu­spit­zen wenn diese Sta­ke­hol­der zu­sam­men­wir­ken. So wie die In­dus­tria­li­sie­rung und der Ka­pi­ta­lis­mus im 19. Jahr­hun­dert neue Kräfte ge­bar, die schier un­zähm­bar er­schie­nen (und es in ge­wan­del­ter Form bis heute sind), die Zug um Zug durch staat­li­che Re­gu­la­rien ei­ni­ger­ma­ßen (und nie­mals voll­stän­dig) do­mes­ti­ziert wer­den konn­ten – so stellt auch die Di­gi­ta­li­sie­rung ei­nen Fort­schritt, aber auch eine Her­ aus­for­de­rung mit er­heb­li­chen Ri­si­ken und Neben­wir­kun­gen dar, für de­ren Be­wäl­ ti­gung noch nach­hal­tige Lö­sun­gen ge­fun­den wer­den müs­sen. Ent­räum­li­chun­gen und Be­schleu­ni­gun­gen Kom­mu­ni­ka­tion fin­det im­mer in Raum und Zeit statt und der Wan­del von Kom­mu­ ni­ka­tion steht in en­gem Ver­hält­nis zum Wan­del des Raum- und Zeit-Ver­ständ­nis­ses ei­ner Ge­sell­schaft.

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Unter den Be­din­gun­gen der Di­gi­ta­li­sie­rung geht es we­ni­ger um den geo­gra­ phi­schen Raum, viel­mehr um den so­zia­len Raum und des­sen Glie­de­rung. Dass die Welt durch das Fern­se­hen zu uns und in unsere Wohn­zim­mer kommt – diese Me­ta­pher aus der Hoch­blüte des Fern­seh­zeit­al­ters wirkt aus dem Blick­win­kel der di­gi­ta­len Ära put­zig und alt­ba­cken. Heute lö­sen sich her­kömm­li­che Räume auf; es »ver­liert der Raum in vie­len Hin­sich­ten an Be­deu­tung in unse­rer spät­mo­der­nen Welt. Ab­läufe und Pro­zesse sind nicht län­ger lo­ka­li­siert, und tat­säch­li­che Orte wie Ho­tels, Ban­ken, Uni­ver­si­tä­ten und In­dus­trie­an­la­gen ten­die­ren da­zu, ›Nicht-Or­te‹ zu wer­den, also Orte ohne Ge­schich­te, Iden­ti­tät oder Be­zie­hung [. . .]« (Rosa 2013: 21). Es lö­sen sich die im bür­ger­li­chen Zeit­al­ter gül­ti­gen Grenz­zie­hun­gen zwi­schen Pri­vat­heit und Öf­fent­lich­keit auf. Pri­vat­heit, die als freie Sphäre in Ab­gren­zung von staat­li­chen, kirch­li­chen und wirt­schaft­li­chen Mäch­ten er­kämpft wor­den war, ero­diert in der di­gi­ta­len Welt zur pri­va­ten Öf­fent­lich­keit, zu »per­so­nal pu­blics« (Schmidt 2013) unter weit­ge­hend frei­wil­li­gem und ak­ti­vem Zu­tun der Social Me­ dia Nut­ze­rin­nen und Nut­zer. Wie weit die­ser Pro­zess auch in Zu­kunft so wei­ter­ läuft, und weit­ge­hend un­re­flek­tiert er­fol­gen wird, bleibt ab­zu­war­ten. Auch die zeit­li­che Di­men­sion der Kom­mu­ni­ka­tion unter­liegt Wand­lungs­ pro­zes­sen. Die abs­trakte Zeit der Mo­derne – li­near, ma­the­ma­tisch, öko­no­misch – spitzt sich zu unter di­gi­ta­len Be­din­gun­gen: Die »La­bor­zeit« der Elek­tro­nik (No­ wotny 1989) kennt kei­nen An­fang, kein En­de, keine Unter­bre­chun­gen, nur im­mer mehr an Be­schleu­ni­gung. Sie bie­tet den Men­schen eman­zi­pa­to­ri­sche Ge­stal­tungs­ frei­hei­ten, zum Bei­spiel wann und wie Me­dien ge­nutzt wer­den kön­nen; sie setzt Men­schen aber auch unter Sog­wir­kung, Druck und Zwang durch die Er­war­tung an wech­sel­sei­tige per­ma­nente und per­va­sive Er­reich­bar­keit (Ne­verla 1999). Die al­ les be­herr­schende Ent­wick­lungs­di­men­sion stellt je­doch Be­schleu­ni­gung dar (Rosa 2013). Aus Be­schleu­ni­gung re­sul­tiert nicht nur das sub­jek­tive Ge­fühl von immerwährender Zeit­not, im All­tag und im bio­gra­phi­schen Ver­lauf. Be­schleu­ni­gung ist ein ob­jek­ti­ver Fak­tor, der in der Öko­no­mie von enor­mer Be­deu­tung ist. Das alte Sprich­wort »Zeit ist Geld« führt es uns schon lange vor Au­gen; ebenso die neu­ eren »Just-in-time« Pro­duk­tions- und Ver­triebs­li­nien; oder die Pra­xis des Hoch­fre­ quenz­han­dels, des »Speed Ban­king«, bei dem in Mi­kro­se­kun­den Ak­tien­ge­schäfte ge­dealt wer­den. Aber nicht al­les unter­liegt den di­gi­ta­len Be­schleu­ni­gungs­kräf­ten. Bio­lo­gi­ sche, phy­sio­lo­gi­sche und geo­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen be­dür­fen ei­ner je ei­ge­nen Dauer und wi­der­set­zen sich der Be­schleu­ni­gung – Schwan­ger­schaf­ten brau­chen rund neun Mo­na­te; die cir­ca­dia­nen Rhyth­men von Schla­fen und Wa­chen und Stoff­ wech­sel­ab­läufe sind fast un­ab­än­der­lich; Mi­ne­ral­stoffe brauch­ten Jahr­tau­sende um zu Kohle und Erdöl zu wer­den. Und auch im so­zia­len Le­ben gibt es gegen­läu­fig zum Be­schleu­ni­gungs­sog Strö­mun­gen der Ent­schleu­ni­gung (Rosa 2013), ma­ni­fes­ tiert in Pro­gram­men wie Slow Food oder Slow Ci­ty, Slow Re­tail und Slow Tou­ rism; und nicht zu­letzt in Slow Me­dia.

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Kurz: Ent­räum­li­chung und Be­schleu­ni­gung schrei­ten voran – und las­sen doch auch Gegen­strö­mun­gen er­ken­nen. Dahinter stehen struk­tu­relle und psy­cho­lo­gi­sche Gren­zen, emo­tio­nale Be­find­lich­kei­ten und Sehn­süchte der Men­schen, die als Wi­ der­stände im Sinne von Nach­hal­tig­keit wir­ken könn­ten. Auf­merk­sam­keit: Wäh­rung auf der Su­che nach Sinn Schon längst hat der Ka­pi­ta­lis­mus die Öko­no­mie der ma­te­riel­len Wa­ren über­schrit­ ten, wie Nah­rungs­mit­tel, Im­mo­bi­lien oder Erd­öl. Die Welt der Dienst­leis­tun­gen und des Fi­nanz­ka­pi­tals hat die Re­gent­schaft in der welt­wei­ten Öko­no­mie über­ nom­men. Und es hat die Lo­gik des Ka­pi­ta­lis­mus, der Tausch­han­del und das Ziel des Mehr­werts, die Le­bens­welt auch au­ßer­halb der Öko­no­mie durch­drun­gen. Im Zuge des­sen ha­ben sich neben dem Geld als Tausch­mit­tel auch an­dere Wäh­run­gen durch­ge­setzt. Eine die­ser gül­ti­gen Wäh­run­gen der Me­dien­ge­sell­schaft ist die Auf­ merk­sam­keit, die wir als In­di­vi­duen er­brin­gen (Franck 2007). Auf­merk­sam­keit ist eine geis­tige Res­source der In­di­vi­duen in ihren Wahr­neh­ mungs­ka­pa­zi­tä­ten, um die hef­tige Zu­griffs- und Ver­fü­gungs­kämpfe to­ben. An die­ sem Kampf sind mäch­tige Unter­neh­men und Or­ga­ni­sa­tio­nen be­tei­ligt, die etwa im Zuge von Wirt­schafts­wer­bung und von po­li­ti­schen Kom­mu­ni­ka­tions­stra­te­gien um die Auf­merk­sam­keit der KonsumentInnen und WählerInnen buh­len. Es sind aber auch ganze Bran­chen bzw. so­ziale Fel­der der Ge­sell­schaft be­tei­ligt, wenn wir an den Jour­na­lis­mus und die Me­dien­unter­neh­men den­ken. Kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gisch be­trach­tet stellt sich die Fra­ge, wie In­di­vi­duen die Ho­heit über ihre Auf­merk­sam­keit und da­mit über ihre geis­ti­gen Res­sour­cen wah­ren kön­nen in An­be­tracht der enor­men Mit­tel, die von Sta­ke­hol­dern im Ver­ tei­lungs­kampf um diese Auf­merk­sam­keit ein­ge­bracht wer­den. Und im Hin­blick auf den Jour­na­lis­mus – das Sys­tem, des­sen Auf­gabe es ist, die Ge­sell­schaft zu be­ob­ach­ten und neue, re­le­vante und fak­ten­be­zo­gene The­men aus­zu­wäh­len und für die öf­fent­li­che Auf­merk­sam­keit zu sorgen – stellt sich die kom­mu­ni­ka­tions­öko­ lo­gi­sche Fra­ge, wie stark ver­dich­tet diese Auf­merk­sam­keit sein muss oder darf. Was im Zuge von Kam­pa­gnen und ›Meu­te­jour­na­lis­mus‹ an Auf­merk­sam­keit für ein Thema auf­ge­bracht wird, geht an­de­ren, viel­leicht gleich wich­ti­gen The­men, ver­lo­ren.

Jen­seits der Me­dien­ge­sell­schaft: Trans­hu­ma­nis­mus als Zu­kunfts­sze­na­rio Kom­mu­ni­ka­tions­öko­lo­gie denkt auch über Sze­na­rien und Mög­lich­keits­räume der Zu­kunft nach. Eine der denk­ba­ren Fi­gu­ra­tio­nen der Zu­kunft ist die Wei­ter­ent­wick­ lung des Men­schen als Hu­man­hy­brid in der trans­hu­ma­nen Ge­sell­schaft.

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Schon heute ver­schmel­zen Mensch und Tech­nik sehr weit­ge­hend in­ein­an­der, wenn man me­di­zi­ni­sche Ein­griffe be­trach­tet. Pro­the­sen als Ge­lenk­er­satz, Mi­kro­ chips zur Be­hand­lung von Ge­hör- und Seh­stö­run­gen, als Kom­mu­ni­ka­tions­hilfe bei Ge­hirn- und Sprech­schä­den, bei Ge­dächt­nis­stö­run­gen von De­menz­kran­ken – all diese Maß­nah­men sind be­reits ver­brei­tet, oder be­fin­den sich in der Er­pro­bungs­pha­ se. Die ra­san­ten wis­sen­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen stel­len im­mer er­staun­li­chere Mit­tel und Wege zur Ver­fü­gung – vor al­lem in der Ver­bin­dung von Mi­kro­chips, Na­no­tech­no­lo­gie und Gen­tech­no­lo­gie, aber auch auf dem Ge­biet der Kryo­nik, der Kon­ser­vie­rung von Or­ga­nen. Kenn­zei­chen von Hu­man­hy­bri­den ist die dichte Sym­biose von ›na­tür­li­chen‹ Aus­stat­tun­gen des Kör­pers, mit ›ar­ti­fi­ziel­len‹ Gegen­stän­den. Die­ser Ge­danke mag so spe­ku­la­tiv wie man­che Scien­ce-Fic­tion-Li­te­ra­tur er­schei­nen, ab­we­gig ist er kei­nes­wegs. Der Mensch ist in sei­ner Kör­per­lich­keit und Le­bens­weise nicht un­ ab­än­der­lich fi­xiert, er folgt viel­mehr evo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lun­gen, die auch für die Zu­kunft zu er­war­ten sind. Was den Men­schen vom Tier unter­schei­det ist der Ge­brauch von Werk­zeu­gen als Fort­füh­rung und Er­wei­te­rung des mensch­li­chen Kör­pers bei der Be­wäl­ti­gung sei­ner Exis­tenz. Was den Men­schen vom Hu­man­hy­ bri­den unter­schei­det ist, dass diese Werk­zeuge nicht mehr als ge­trennte Ge­räte ge­ braucht wer­den, son­dern in Kör­per und Geist des Hu­man­hy­bri­den in­te­griert sind. Hu­man­hy­bride – auch An­dro­iden, Ava­tare oder Cy­borgs ge­nannt, ein Be­griff der von der Bio­lo­gin und Fe­mi­nis­tin Donna Ha­ra­way (1990) ge­prägt wurde – sind die mensch­li­chen Lebe­we­sen in der Ge­sell­schafts­forma­tion des Trans­hu­ma­nis­mus, wo sich die or­ga­ni­sche Syn­these zwi­schen Mensch und Tech­nik durch­ge­setzt hat. Der Trans­hu­ma­nis­mus stößt – nicht über­ra­schend – auf sehr ge­teilte Ein­schät­zun­gen (vgl. Brock­mann 2004). Wie bei jedem Wan­del fin­den wir Kon­traste zwi­schen op­ ti­mis­ti­schen und pes­si­mis­ti­schen Er­war­tun­gen und grund­sätz­li­che De­bat­ten dar­ über, was den Kern des Men­schen­we­sens und sei­ner Na­tur aus­macht, und mit wel­ cher Le­gi­ti­ma­tion eine sol­che Ge­sell­schaft aus­ge­stat­tet ist. Ein de­zi­dier­ter Kri­ti­ker ist der US-ame­ri­ka­ni­sche Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler Fran­ cis Fu­kuyama (Fu­kuyama 2004). Er ar­gu­men­tiert, dass sol­che Ver­än­de­run­gen der mensch­li­chen Na­tur ei­nem Grund­ge­dan­ken der Mo­der­ne, näm­lich dem Gleich­ heits­prin­zip, wi­der­spre­chen. Tierry Ho­quet (2011) hin­gegen sieht die Ent­wick­lung ge­las­sen, wenn­gleich mit Fall­stri­cken und Ri­si­ken ver­bun­den. Als Ge­fahr sieht er Inter­ven­tio­nen von Macht­zen­tren, wie sie auch in der gegen­wär­ti­gen alten Welt be­kannt sind. Etwa die mi­li­tär­stra­te­gi­sche Nut­zung, die das US-ame­ri­ka­ni­sche Mi­li­tär­la­bor DARPA (De­fense Ad­van­ced Re­search Pro­ject Agen­cy) be­reits voll­ zieht, oder die wirt­schaft­li­che Nut­zung der Hu­man­hy­brid-Tech­no­lo­gien. All dies kann im Er­geb­nis zu neuen oder ver­tief­ten Klas­sen­bil­dun­gen und ge­sell­schaft­ li­chen Spal­tun­gen füh­ren zwi­schen je­nen, die sich die Tech­no­lo­gien der Selbst­ op­ti­mie­rung leis­ten kön­nen und den ›Fast­men­schen‹ oder ›Unter­men­schen‹ ohne Zu­griff auf Hu­man­hy­brid-Tech­no­lo­gien (Ho­quet 2013: 44). Ho­quet plä­diert für

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die Ein­rich­tung von staat­li­chen Prüf- und Ethik­stel­len – ein be­kann­tes Inter­ven­ tions­mit­tel aus der alten Welt, be­schränkt, je­doch nicht gänz­lich un­wirk­sam in sei­ner Ef­fek­ti­vi­tät. Wo­hin geht die Reise – das war die Aus­gangs­fra­ge. Si­cher­lich fin­det in der Me­ dien­ge­sell­schaft ein ex­trem dy­na­mi­scher und tief grei­fen­der Wan­del statt. Heißt dies, wir sto­ßen an Gren­zen der Me­dien­ge­sell­schaft im Sinne ei­ner an­ste­hen­den Trans­for­ma­tion hin zu ei­ner neuen Ge­sell­schafts­forma­tion mit neuen Men­schen­ ty­pen, neuen Macht­kon­stel­la­tio­nen, neuen kom­mu­ni­ka­ti­ven Fi­gu­ra­tio­nen? In ge­ wis­sem Sinne ja: Nicht im Sinne ei­nes En­des der ›Kul­tur‹, nicht als schmale Li­nie, hin­ter der ein Ab­grund des Ver­falls al­ler Werte droht, die uns bis­her mehr oder we­ni­ger lieb wa­ren. Aber durch­aus im Sinne ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Dy­na­mik durch die bis­her gel­tende Kon­stel­la­tio­nen, Re­geln, Pro­blem­lö­sun­gen un­wirk­sam wer­den könn­ten. Wo wir lan­den wer­den, ist un­ge­wiss. Dass wir uns aber auf ei­ner ex­trem stei­len Flug­bahn be­fin­den, ist si­cher. Die­ser Ent­wick­lung mehr Be­ach­tung zu schen­ken, und da­mit auch Po­ten­ziale für die Ge­stalt­bar­keit von Ge­sell­schaft zu er­ken­nen und mög­lichst zu nut­zen – dem dient das Kon­zept der Öko­lo­gie der Me­ dien­ge­sell­schaft und die Frage nach der Nach­hal­tig­keit ihrer Kom­po­nen­ten.

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In­te­gra­ler Jour­na­lis­mus

In­te­gra­ler Jour­na­lis­mus Me­diale An­for­de­run­gen an eine Welt­in­nen- und Welt­frie­dens­po­li­tik Claus Eu­rich

Für das, was Carl Fried­rich von Weiz­säcker ein­mal Welt­in­nen­po­li­tik nannte und was da­mit mehr sein will als Di­plo­ma­tie im mehr oder we­ni­ger ab­ge­schot­te­ten Pent­house des Welt­ge­bäu­des, ist Öf­fent­lich­keit schlicht­weg kons­ti­tu­tiv. Und zwar in mehr­fa­chem Sin­ne: In­for­ma­tio­nell, mei­nungs­bil­dend, kon­trol­lie­rend/kri­tisch be­glei­tend, die Ar­ti­ku­la­tion des Unter­schied­li­chen ge­währ­leis­tend, in­te­gra­ti­ves Welt-Be­wusst­sein för­dernd. Welt­in­nen­po­li­tik be­darf also nicht nur der Öf­fent­lich­ keit, viel­mehr sind neue öf­fent­li­che Dis­kur­se, die auf das Ganze zie­len, Teil und Weise ihres Selbst­ver­ständ­nis­ses. Da­von je­doch sind wir noch weit ent­fernt. Zwar wäre es nie zu dem Eine-Welt-Be­wusst­sein, das wir heute be­reits in durch­aus Hoff­nung spen­den­der Ver­brei­tung er­le­ben dür­fen, ohne das glo­bale Netz­ werk des Me­dia­len ge­kom­men, doch lebt das glo­bal vor­herr­schende Be­wusst­sein in den Re­dak­tio­nen und PR-Zen­tra­len auf die­ser Er­de, ge­nau wie in den gro­ßen und klei­nen Zen­tra­len der Macht noch im­mer vor al­lem vom Geist der Ab­gren­ zung, der unter­schied­lichs­ten Zentris­men und an­de­rer Is­men. Aus­nah­men – und dazu rechne ich durch­aus die deutsch­spra­chige Qua­li­täts­presse und di­verse Angebote des öf­fent­lich-recht­li­chen Rund­funks – mit­be­dacht. Zu­gleich be­ob­ach­ten wir eine fort­schrei­tende Homo­ge­ni­sie­rung und Ver­en­ gung der Welt­be­richt­er­stat­tung und der dar­auf be­zo­ge­nen Dis­kurs­spiel­räu­me. Neben der von Jo­han Galtung seit Jahr­zehn­ten mar­kier­ten Orien­tie­rung an Kon­flikt ver­schär­fen­den Nach­rich­ten­wert­kri­te­rien seien hier vor al­lem auf Per­so­na­li­sie­rung und Af­fekt­be­zo­gen­heit, so­wie die Sti­li­sie­rung und emo­tio­nale Aus­beu­tung von Kon­flik­ten hin­ge­wie­sen. Wei­ter fällt auf, dass ge­rade in den Län­dern mit ei­ner ver­gleichs­weise an­ spruchs­vol­len me­dia­len und jour­na­lis­ti­schen Kul­tur, wie etwa Deutsch­land, Ös­ ter­reich und der Schweiz, vor al­lem die Aus­lands­be­richt­er­stat­tung unter Spar­ maß­nah­men zu lei­den hat. Feste Kor­re­spon­den­ten­plätze wer­den zu­guns­ten von Kri­sen­re­por­tern und brenn­punkt­fix­ ier­ten jour­na­lis­ti­schen Feuer­wehr­leu­ten ab­ge­

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baut. Das sind oft Free­lan­cer, und sie le­ben von der gu­ten Ver­käuf­lich­keit ei­ner Ge­schichte – wo­mit wir wie­der bei den Nach­rich­ten­fak­to­ren Per­so­na­li­sie­rung und Emo­tio­na­li­sie­rung wä­ren. Die Re­ser­ven für die inter­kul­tu­rell so not­wen­dige Tie­ fen­re­cher­che, vor al­lem des Un­ge­wohn­ten, schrump­fen. Für Lang­sam­keit feh­len Zeit und Geld und Ver­ständ­nis. Oder die Qua­li­tät hat eben ihren Preis! Den aber kann selbst in den Eli­te-Na­tio­nen nur die Info-Elite sel­ber zah­len. So kann der Gegen­warts­jour­na­lis­mus in sei­ner Main­stream-Aus­prä­gung als eine Form der kul­tu­rel­len Ge­walt ge­se­hen wer­den, wenn wir auch im­mer mit be­ den­ken soll­ten, dass so gut wie al­les, über das wir re­den, Wis­sen, Ein­schät­zun­gen und Ver­mu­tun­gen sind, die selbst auf Me­dien­in­for­ma­tio­nen be­ru­hen. All dies kon­sta­tie­ren wir in ei­ner öko­no­mi­schen, po­li­ti­schen und öko­lo­gi­schen Welt­si­tua­tion, die höchste An­for­de­run­gen an hoch­wer­ti­gen Jour­na­lis­mus und die Grund­er­for­der­nis der in­for­ma­tio­nel­len Grund­ver­sor­gung der Men­schen auf die­ser Erde stellt. Qua­li­ta­tiv hoch­wer­tige In­for­ma­tion und der freie Zu­gang zu ihr – dies sei er­in­nert – wird mitt­ler­weile nicht mehr nur zu den kul­tu­rel­len, son­dern den ele­ men­ta­ren Men­schen­rech­ten ge­zählt.

In­te­grale Er­kennt­nis und jour­na­lis­ti­sches Han­deln In­te­grale Er­kennt­nis im Be­reich der Ge­win­nung und Ver­brei­tung von In­for­ma­tio­ nen will ei­nen Bei­trag leis­ten, die an­ge­spro­che­nen De­fi­zite zu über­win­den. Was nun meint in­te­gral? Dass Evo­lu­tion nicht gleich­för­mig ver­läuft, gilt in­ner­halb der Gat­tun­gen auf die­ser Erde für die Mensch­heit in be­son­de­rem Ma­ße. Je­der Men­schen­geist re­prä­ sen­tiert eine ei­gene We­sen­heit, ei­nen ei­ge­nen Ent­wick­lungs­stand und eine spe­zi­fi­ sche Trä­ger­schaft bzw. Re­prä­sen­ta­tion von Kul­tur – auch wenn das Ein­ge­bun­den­ sein in kul­tu­rel­le/geis­tige Fel­der Vor­ga­ben macht und Mar­kie­rungs­punkte setzt. Für in­te­grale Er­kennt­nis ist es zen­tral, dass in sei­ner Be­wusst­seins­fä­hig­keit und sei­nen geis­ti­gen Po­ten­tia­len und da­mit sei­ner Ent­wick­lungs­fä­hig­keit der be­son­ dere Auf­trag für jeden Men­schen – und zwar be­züg­lich sei­ner selbst und in Be­zug auf das Le­ben und das Sein schlechthin liegt. An dem Er­ken­nen, der An­nahme und der Er­fül­lung die­ses Auf­tra­ges hängt die Zu­kunft unse­rer Gat­tung, wo­bei mit den selbst ver­ur­sach­ten Ge­fähr­dungs­po­ten­tia­len auf die­ser Erde die Dring­lich­keit dra­ma­tisch steigt. Wir sind zur Ent­wick­lung be­freit und ver­dammt zu­gleich. Ein wei­te­res Krei­sen in Wunsch­per­spek­ti­ven, die nur das Ich im Blick ha­ben oder eine be­stimmte Ge­mein­schaft, ei­nen ein­zel­nen Staat oder eine Kul­tur und die sich in der Ver­stei­fung auf die Gren­zen den Er­for­der­nis­sen des Le­bens­net­zes ins­ge­samt ver­wei­gern, wäre eine in den Fol­gen nicht ab­zu­se­hende Fehl­ent­wick­lung. Selbst­re­fle­xion steht in der Folge am Aus­gangs­punkt – als Per­son und als Kol­ lek­tiv. Selbst­re­fle­xion bil­det die Vor­aus­set­zung da­für, unser Ein­ge­bun­den­sein zu

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ver­ste­hen; das Ein­ge­bun­den­sein in den uni­ver­sa­len Cha­rak­ter des Le­bens und des Le­bens­wil­lens. Diese Selbst­re­fle­xion weist und führt über uns und über das Vor­ han­dene hin­aus. Sie er­schließt im Er­ken­nen neue Denk- und da­mit Hand­lungs­di­ men­sio­nen. In der Selbst­re­fle­xion nehme ich meine Le­bens­be­rech­ti­gung, mei­nen Le­bens­wil­len und meine Ent­wick­lungs­fä­hig­keit wahr. Als sich selbst er­kann­tes Le­ben kann ich sie so auch an­de­rem Le­ben zu­bil­li­gen. Aus der Selbst­re­fle­xion er­steht Selbst­re­spekt, die Vor­aus­set­zung für den Re­spekt gegen­über dem an­de­ren Le­ben, ja dem Le­bens- und Seins­vor­gang an sich. Das Den­ken und das Er­ken­nen ver­mö­gen den auf mich selbst be­zo­ge­nen Wil­len zum Le­ben und zum Han­deln, den Wil­len auch, Glück und Zu­frie­den­heit zu er­fah­ren, zu ent­gren­zen, ihn zu ei­nem kos­mi­schen Le­bens­wil­len zu ver­fei­nern. Ich ver­mag dies nicht zu­letzt da­durch, dass ich mich als Teil des an­de­ren Le­bens er­ken­ne, wie Al­bert Schweit­zer es ein­ dring­lich be­schrie­ben hat: »Und Du ver­tiefst Dich ins Le­ben, schaust mit se­hen­den Au­gen in das ge­wal­ti­ge, be­lebte Chaos die­ses Seins, dann er­greift es Dich plötz­lich wie ein Schwin­del. In al­lem fin­dest Du Dich wie­der . . . über­all wo Du Le­ben siehst – das bist Du!« (Schweit­zer 1995: 209)

Kom­men wir zu­rück zum Jour­na­lis­mus und der Fra­ge, was in­te­gra­les Be­wusst­ sein hier nun meint. Und die­ses hier scheint mir für die Idee ei­ner Welt­in­nen- und Welt­frie­dens­po­li­tik fun­da­men­tal, denn es sind die Me­dien, die un­sere Welt­bil­der stif­ten, viel­mehr als jede an­dere So­zia­li­sa­tions­in­stanz, Fa­mi­lie in­be­grif­fen. Die Nach­rich­ten­bil­der wer­den zur »pri­mä­ren po­li­ti­schen So­zia­li­sa­tion« wie der Frie­ dens­for­scher Jo­han Galtung im­mer wie­der be­tont. (Galtung 1998: 7) Vie­les ist in diese Rich­tung be­reits an­ge­dacht, und wir kön­nen vor al­lem auf den ge­sam­ten frie­dens­jour­na­lis­ti­schen Dis­kurs zu­rück­grei­fen, der im Zen­trum der Be­richt­er­stat­tung Frie­dens-, statt Kriegs­lo­gik sieht bzw. in an­de­ren Wor­ten: In­te­gra­les, statt po­la­ri­sie­ren­des und spal­ten­des Be­wusst­sein. Vor al­lem Wil­helm Kempf (2005) und Na­dine Bilke (2008) ha­ben hier die von Jo­han Galtung aus­ge­ arbei­te­ten Grund­la­gen wei­ter­ent­wi­ckelt. Auf zu­min­dest an­spruchs­vol­les, qua­li­täts­orien­tier­tes und dem Frie­den ver­pflich­te­ tes jour­na­lis­ti­sches Han­deln wei­sen zu­dem di­verse inter­na­tio­nale und na­tio­nal­staat­li­che recht­li­che Be­stim­mun­gen, jour­na­lis­ti­sche Ko­di­ces und vor al­lem die jour­na­lis­ti­sche Qua­li­täts­de­batte hin. Das dort Nie­der- und Fest­ge­schrie­bene bil­det an sich ein so­ li­des Fun­da­ment, um sich dem Ideal de­mo­kra­ti­scher Öf­fent­lich­keit, auch vor dem Ho­ri­zont ei­ner Welt­in­nen­po­li­tik pro­fes­sio­nell und rechts­staat­lich an­zu­nä­hern. Of­fen bleibt da­bei je­doch zu­meist die Fra­ge, was das auf der tie­fen­kul­tu­rel­len Ebene be­deu­ tet – und zwar so­wohl hin­sicht­lich der per­sön­li­chen Hal­tung der Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten als auch des sys­te­mi­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses selbst. Dar­auf möchte ich mich nun be­zie­hen, und ich wähle un­ge­ach­tet struk­tu­rel­ler so­wie Me­dien­sys­tem be­zo­ge­ner Not­wen­dig­kei­ten zur Ak­zen­tu­ie­rung ei­nen in­di­

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vi­dual­ethi­schen An­satz. Da­hin­ter steht die in gut drei Jahr­zehn­ten uni­ver­si­tä­rer Jour­na­lis­ten­aus­bil­dung ge­sam­melte Er­fah­rung, dass etwa die so über­fäl­lige Ver­ än­de­rung der Nach­rich­ten­fak­to­ren zu­nächst der Arbeit an der in­ne­ren Hal­tung und der Ent­wick­lung ei­ner in­te­gra­len Ver­nunft der jour­na­lis­ti­schen Hand­lungs­trä­ger be­darf. Durch­ge­wun­kene Ko­di­ces blei­ben fol­gen­los, wenn sie nicht das Herz und die Tie­fen­schich­ten des Be­wusst­seins er­rei­chen. Un­ab­hän­gig da­von schei­nen mir mehr denn je die Zu­kunft des Jour­na­lis­mus und das des de­mo­kra­ti­schen Me­dien­sys­tems am Fak­tor der Qua­li­tät und der ethi­ schen Fun­die­rung zu hän­gen. Dies folgt, neben­bei ge­sagt, auch der öko­no­mi­schen Ver­nunft. Denn da­mit Wirt­schaft – ge­rade auch Me­dien­wirt­schaft – funk­tio­niert, be­darf es neben ge­sun­den Märk­ten und sie stüt­zen­den In­sti­tu­tio­nen im­mer auch des ethi­schen Fun­da­ments. Fehlt die­ses, bre­chen über kurz oder lang auch die an­ de­ren Fak­to­ren als Folge ei­ner tie­fen Glaub­wür­dig­keits­krise weg. Das ge­nau ha­ben die letz­ten Wirt­schafts­kri­sen ge­zeigt. Jour­na­lis­mus, der die­sen Na­men ver­dient, ist in­for­ma­tio­nel­ler Dienst an der Kul­tur, der Ge­sell­schaft, der Welt­ge­mein­schaft und der Erde mit ihren (noch) un­ zäh­li­gen Le­bens­for­men. Die­ser Dienst ist exis­ten­tiell. Er muss als hoch­qua­li­ta­ti­ves Angebot er­bracht wer­den, selbst wenn in der Wel­len­be­we­gung der pu­bli­zis­ti­schen Mo­den die Nach­frage sinkt bzw. sich auf ein Kern-Fun­da­ment zu­rück­be­wegt. Un­ ab­hän­gig von der Nach­frage also be­darf Welt­öf­fent­lich­keit des An­ge­bots, sich de­ mo­kra­tisch in­for­mie­ren und da­mit par­ti­zi­pie­ren zu kön­nen. Als An­stoß für den Dis­kurs möchte ich ei­nige Grund­ele­mente ei­nes in­te­gra­len Jour­na­lis­mus an­spre­chen, der von den Er­for­der­nis­sen der Gegen­wart her Qua­li­tät und Pro­fes­sio­na­li­tät et­was wei­ter fasst als in den be­kann­ten Zu­gän­gen. Ich möchte da­bei das Kon­zept der Acht­sam­keit, das Orien­tie­run­gen bie­ten kann, ins Zen­trum rü­cken. Die fol­gen­den Leit­werte grei­fen Über­le­gun­gen auf, die ih­ren Ur­sprung in Kon­zep­ten der ge­walt­freien Kom­mu­ni­ka­tion, vor al­lem bei Ro­sen­berg, so­wie dis­kurs­theo­re­ti­schen An­sät­zen fin­den, füh­ren diese wei­ter, er­gän­zen und in­te­ grie­ren sie. Wahr­haf­tig­keit Jour­na­lis­mus in sei­nem Grund­auf­trag wird ge­tra­gen von der Wahr­heits­liebe und der wahr­haf­ti­gen Aus­sage in Text, Ton und Bild. Die For­de­rung nach ei­ner Wahr­ heit an sich mit dem sie prä­gen­den inter­kul­tu­rel­len und inter­sub­jek­ti­ven Ab­so­ lut­heits­an­spruch kann da­bei selbst­re­dend nie ein­ge­löst wer­den. Eine in so­zia­len Kon­tex­ten ste­hende und in kul­tu­rel­len Kon­tex­ten so­zia­li­sierte und wahr­neh­mende Per­son be­ob­ach­tet, er­klärt und urteilt im­mer stand­ort­ge­bun­den. Um Wahr­heit als ein ab­so­lu­tes Gut also kann es in der Kom­mu­ni­ka­tion so­wie vor al­lem in ei­nem glo­ba­len Jour­na­lis­mus nicht ge­hen. Was mög­lich ist, ist das Stre­ben nach Wahr­

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haf­tig­keit und den immerwährenden Ver­such des Rin­gens um eine teil­bare »Wahr­ heit« als Ver­stän­di­gung. Zur jour­na­lis­ti­schen Pro­fes­sio­na­li­tät und Kom­pe­tenz ge­hört in die­sem Kon­ text, sich der Prä­gung der ei­ge­nen Spra­che durch die bio­grafi­schen, kul­tu­rel­len und pro­fes­sio­nel­len Be­zü­ge, in denen ich ste­he, be­wusst zu wer­den. Die Reflektion die­ser Be­züge schwächt die all­seits prä­sente Ver­su­chung, sich in so ge­nann­ten kul­ tu­rel­len und/oder po­li­ti­schen Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten, Selbst­täu­schun­gen, be­que­ men Falsch­hei­ten und tröst­li­chen Il­lu­sio­nen ein­zu­rich­ten. Sie weist den Weg zu der mir mög­li­chen Au­then­ti­zi­tät und Auf­rich­tig­keit. Es wird oft über­se­hen, dass auch bei so ge­nann­ten sach­li­chen oder sach­be­zo­ge­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Klä­rungs­pro­zes­sen es als ge­ra­dezu exis­ten­tiell an­zu­se­hen ist, seine doch im­mer prä­sen­ten Ge­füh­le, Er­war­tun­gen, Hoff­nun­gen und Ängste im Be­wusst­sein zu hal­ ten und sie ggf. zu kom­mu­ni­zie­ren, ge­nau wie die Selbst- und Fremd­bil­der, die ich in mir tra­ge. Erst die Of­fen­heit hin­sicht­lich der To­po­gra­phie mei­ner In­nen­wel­ten und ihre Trans­pa­renz – so­weit dies dem jour­na­lis­ti­schen Ver­mitt­lungs­auf­trag dient – macht das ge­spro­chene und wie auch im­mer ver­mit­telte »Wort« auf­rich­tig und wahr­haf­tig. Geist des Nicht­ver­let­zens Auf der Kehr­seite der Wahr­haf­tig­keit lie­gen die Lüge und ihre Vor­stu­fen: Hohle Phra­sen, Ge­rüch­te, Ge­rede um des Ge­re­des, Worte um der Wor­te, Bil­der um der Bil­der wil­len. Es sind Bot­schaf­ten und In­for­ma­tio­nen ohne Wur­zeln. Und sie hin­ ter­las­sen, wenn auch ge­le­gent­lich nicht so­fort spür­bar und er­sicht­lich, eine Wunde auf bei­den Sei­ten, der des Re­zi­pien­ten und der des Ver­ur­sa­chers. Wahr­haf­tig­keit ist des­halb, trotz der Klar­heits­schmer­zen, die auch sie be­rei­ten kann, der Schlüs­sel für jede nicht­ver­let­zende Kom­mu­ni­ka­tion und jeden nicht­ver­let­zen­den, de­es­ka­lie­ ren­den Jour­na­lis­mus. Zur Kunst die­ses Jour­na­lis­mus ge­hört al­ler­dings auch, keine neuen Wun­den im Na­men der Wahr­haf­tig­keit zu rei­ßen. Zwi­schen dem ver­meint­li­ chen Er­ken­nen der Wahr­heit, der Ver­hin­de­rung ihrer Beu­gung und der Not­wen­dig­ keit, sie tat­säch­lich aus­zu­spre­chen, lie­gen er­heb­li­che Spiel­räu­me. Es gibt al­ler­dings auch ein miss­ver­stan­de­nes Nicht­ver­let­zen durch Kom­mu­ ni­ka­tion. Das Be­mü­hen, sol­che Men­schen, Men­schen­grup­pen, aber auch grö­ßere Kol­lek­tive wie Re­li­gions­ge­mein­schaf­ten oder selbst Staa­ten ja nicht be­wusst zu ver­let­zen, die stän­dig eine er­höhte Ver­letz­bar­keit, Über­emp­find­lich­keit und Kränk­ bar­keit si­gna­li­sie­ren, ge­steht die­sen eine spe­zi­fi­sche Macht­po­si­tion zu. In der Psy­ cho­the­ra­pie spre­chen wir von Ohn­macht als Pres­sion. Es führt zu chro­ni­schen und oft unter­schwel­li­gen Kon­flikt­si­tua­tio­nen. Die In­stru­men­ta­li­sie­rung von Schwä­che und Ohn­macht ist weit ver­brei­tet. Zum Nicht­ver­let­zen in ei­nem wei­te­ren Sinne ge­ hört des­halb die The­ma­ti­sie­rung der miss­brauch­ten »Schwä­che«.

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Em­pa­thie Em­pa­thie hebt als spe­zi­fis­ cher Wahr­neh­mungs­akt in das Be­wusst­sein, was Men­ schen be­wegt und ver­bin­det. Sie be­wegt sich vor­sich­tig tas­tend zwi­schen Nähe und Dis­tanz, Fremd- und Selbst­wahr­neh­mung, Ich- und Wir-Ver­ständ­nis. Als jour­na­lis­ti­sche Tu­gend um­schrei­ben lässt sich diese be­hut­same Be­we­gung als Zeu­gen­schaft, die be­müht ist, Ver­glei­che zu ver­mei­den. Als Zeuge bin ich zu­ nächst nicht an ei­ner sach­lich, zeit­lich oder auf Per­so­nen/Kol­lek­tive ge­rich­te­ten Pro­blem­lö­sung be­tei­ligt. Viel­mehr su­che ich die Be­geg­nung mit dem, was das jour­na­lis­ti­sche »Du« als Per­son, Kol­lek­tiv oder Sach­zu­sam­men­hang be­wegt. Für den em­pa­thi­schen Zu­gang zu ein­zel­nen Men­schen, Kol­lek­ti­ven, Staa­ten und Kul­ tu­ren ist da­bei die Re­duk­tion auf den Akt der Be­geg­nung grund­le­gend. Sie macht die Em­pa­thie unter­scheid­bar von Mit­leid, Sym­pa­thie oder Anti­pa­thie, ver­hin­dert, sich mit Per­so­nen oder Din­gen ge­mein zu ma­chen. Die fremde Be­find­lich­keit, die in der jour­na­lis­ti­schen Be­geg­nung ein­fühl­sam wahr­ge­nom­men wird, darf nicht zur ei­ge­nen des Jour­na­lis­ten wer­den, wenn er eine Si­tua­tion und die An­teile an­de­rer Men­schen daran ver­ste­hen und sie in der Folge an­ge­mes­sen ver­mit­teln will. Wer­den fremde zu ei­ge­nen Ge­füh­len, löst sich die für die Zeu­gen­schaft un­ ver­zicht­bare Be­ob­ach­ter­per­spek­tive auf. Die Kunst der Em­pa­thie be­steht je­doch dar­in, zu ver­ste­hen, ohne das Ver­stan­dene zu recht­fer­ti­gen oder zu ent­schul­di­ gen; zu ver­ste­hen, ohne sich in Ab­scheu ab­zu­wen­den; zu ver­ste­hen, ohne die Unter­schei­dung in Op­fer und Tä­ter, wenn sol­che Rol­len be­ste­hen, zu ni­vel­lie­ren. Das ein­füh­lende Ver­ste­hen, das wir Em­pa­thie nen­nen, setzt die Be­reit­schaft zur Aus­rich­tung auf das Gegen­über und es setzt Emp­fäng­lich­keit vor­aus. Es lebt von der in­trin­si­schen Be­reit­schaft, das zu­nächst mög­li­cher­weise Frem­de, Un­ge­ wohnte und auch Un­ver­ständ­li­che trotz­dem ver­ste­hen zu wol­len. Es er­for­dert die Fä­hig­keit, zwi­schen Füh­len, Den­ken und Ana­ly­sie­ren per­ma­nent zu wech­seln, da­mit im Wech­sel der Be­zie­hungs­fak­to­ren Be­deu­tungs- und Ver­hal­tens­mus­ter trans­pa­ren­ter wer­den. Er­schwert wird die­ser hoch­kom­plexe Ver­ste­hen­spro­zess noch da­durch, dass die Per­so­nen oder Sach­ver­hal­te, denen wir uns ver­ste­hend zu­ wen­den, kon­tex­tu­ell und ge­schicht­lich ein­ge­bun­den sind. Das zu Ver­ste­hende lebt im­mer zu­gleich in unter­schied­lichs­ten kul­tu­rel­len, ge­sell­schaft­li­chen und so­zia­len Be­zugs­sys­te­men und ent­spre­chen­den prä­gen­den Mus­tern. Auch diese Fak­to­ren gilt es mit zu er­fas­sen und mit zu be­den­ken. Dass sie nicht sel­ten zu­sätz­lich in di­rek­ter Kon­fron­ta­tion zu denen des jour­na­lis­ti­schen Be­ob­ach­ters ste­hen, weist auf ein Fol­ge­pro­blem hin. Be­vor ich in der Lage bin, den An­de­ren oder das Andere zu ver­ste­hen, muss ich mich als jour­na­lis­ti­scher Ak­teur selbst er­kannt und ver­stan­den ha­ben, um Über­la­ge­run­gen, Pro­jek­tio­nen und blin­den Fle­cken so weit wie mög­lich vor­zu­beu­gen, aber auch, um die Gründe zu ver­ste­hen, wenn ei­gene Emo­tio­nen das Fremd­ver­ste­hen blo­ckie­ren. Die Reflektion der ei­ge­nen Wahr­neh­ mungs­ko­or­di­na­ten ge­hört zu die­sem Vor­gang des Selbst­ver­ste­hens.

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Hö­ren Zur Ver­bes­se­rung der jour­na­lis­ti­schen und der kom­mu­ni­ka­ti­ven Kom­pe­tenz an sich gibt es unter­schied­lichste Aus- und Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bo­te, die hel­fen, sich in Spra­che, Mi­mik und Ges­tik an­ge­mes­sen aus­zu­drü­cken. Sel­ten aber wer­den sie mit der im­mer zu­nächst er­for­der­li­chen An­for­de­rung kon­fron­tiert, sich im rech­ten Hö­ren zu üben. Hö­ren ist in unse­rer Kul­tur zu ei­nem na­hezu ver­ges­se­nen Kul­tur­ gut ge­wor­den. Ge­sam­mel­tes Hö­ren be­ruht auf ge­sam­mel­tem, tie­fem Schwei­gen. Es schweigt das in­nere Mit­spre­chen, es schweigt das in­nere Ar­gu­men­tie­ren, noch wäh­rend das Gegen­über spricht. Es gibt der Rede Sinn und er­mög­licht dem Wort des An­de­ren, etwa in Inter­view­si­tua­tio­nen, das Ge­wicht, das ihm zu­steht. Wahr­haft zu­hö­ren, ge­rade auch in der Si­tua­tion ei­nes Inter­views oder ei­ner me­dia­len Ge­sprächs­runde ent­fal­tet schöp­fe­ri­sche Ener­gie. Es er­mög­licht den, dem ich zu­hö­re, und es er­mög­licht mich – als Per­son und in mei­ner pro­fes­sio­ nel­len Rol­le. In der Tiefe des Hö­rens ent­steht der Raum, der ins Wer­den bringt, was an­sons­ten blo­ckiert blie­be. Zu­hö­ren kann als Kor­re­spon­denz­be­griff für Re­ spekt und für die An­nahme des An­de­ren ge­se­hen wer­den. Die im Hö­ren er­weckte schöp­fe­ri­sche Ener­gie kann sich dann un­ein­ge­schränkt aus­deh­nen, wenn der Hö­ rende lernt los­zu­las­sen: Hoff­nun­gen, Wün­sche, Ängs­te, Er­war­tun­gen, Er­in­ne­ run­gen, Urtei­le, Be­wer­tungs­mus­ter, bloße Ver­mu­tun­gen und vor­ei­lige Schlüs­se. Dann kom­men auch die an­sons­ten schnell über­hör­ten und für das jour­na­lis­ti­sche Ge­bot der Wahr­haf­tig­keit so ent­schei­den­den Nu­an­cen in das Feld der Wahr­neh­ mung. In der Tiefe Hö­ren dient der Ent­schleu­ni­gung der Kom­mu­ni­ka­tion, und es er­ leich­tert Prä­senz, also das Sein im Hier und Jetzt, in der Un­mit­tel­bar­keit der Si­tua­ tion mit ihren An­for­de­run­gen. Sie schafft den Raum für die not­wen­dige Tiefe der Wahr­neh­mung und wird so zur Vor­aus­set­zung für eine an­ge­mes­sene Reflektion. Am­bi­gui­täts­to­le­ranz Wirk­lich­keit ist kon­tin­gent, un­si­cher, un­ein­deu­tig und wi­der­sprüch­lich. Der Wi­ der­spruch be­wegt als Mo­tor die geis­tige und kul­tu­relle Evo­lu­tion. Wie viel mehr gilt dies für glo­bale Kon­texte und Er­eig­nis­fel­der. Je­des be­wusste Ge­spräch, je­der tiefe Dia­log, jede Aus­ein­an­der­set­zung mit po­li­ti­schen oder welt­an­schau­li­chen Fra­gen füh­ren in die Er­fah­rung, dass es keine Aus­sa­ge, kei­nen Satz gibt, der nicht sein Gegen­teil schon im­mer in sich trü­ge. Wenn wir also in der Wahr­haf­tig­keit nach Wahr­heit stre­ben, so er­for­dert dies zu ler­nen, mit Wi­der­sprü­chen nicht nur zu le­ben, son­dern sie als Teil und auf­ge­ho­ben in ei­ner Wirk­lich­keit zu se­hen, die grö­ßer ist als die der ei­ge­nen Welt­bild­kon­struk­tion. An­ders ge­sagt: Das ei­ lige Stre­ben nach Ein­deu­tig­keit, ge­rade in der jour­na­lis­ti­schen Ver­mitt­lung und

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hier wie­derum be­son­ders in den Nach­rich­ten­for­ma­ten, führt an Ver­ein­fa­chun­ gen, Blind­hei­ten und scha­blo­nen­haf­tem Den­ken vor­bei. Am­bi­gui­täts­to­le­ranz hält dem­gegen­über aus. Sie er­trägt den Wi­der­spruch, the­ma­ti­siert ihn, hält ihn im Spiel. In ihr re­spek­tiert der Kom­mu­ni­ka­tor, dass es be­zo­gen auf die­selbe Frage Anti­no­mien, also un­ver­ein­bare und doch je­weils in sich stim­mige Wahr­hei­ten ge­ben kann. Am­bi­gui­täts­to­le­ranz heißt mehr als pas­si­ves To­le­rie­ren. Nicht vor­ei­lig Ge­wiss­ hei­ten zu kon­sta­tie­ren, schließt die ak­tive Aus­ein­an­der­set­zung mit Unter­schie­den und Dif­fe­ren­zen ja nicht aus. Im Gegen­teil. Wahr­haf­tig­keit for­dert dies un­miss­ ver­ständ­lich ein. Es geht um die Weise des Rin­gens und des Klä­rens; es geht um meine Be­reit­schaft, Stand­punkte zu ris­kie­ren; es geht um die Selbst­si­cher­heit, die sich im Los­las­sen fin­det und be­stä­tigt; es geht um ei­nen sich ste­tig er­neu­ern­den und wei­ter­füh­ren­den Lern­pro­zess, ge­rade auch mit dem Blick auf Öf­fent­lich­keit im Feld der Welt­in­nen­po­li­tik. Kon­tex­tua­li­tät Grund­aus­sage kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­tive und Er­kennt­nis ist die Ein­ sicht, dass es kei­nen Text ohne Kon­text gibt. Wie viel mehr kann dies als Axiom für jour­na­lis­ti­sches Han­deln ge­se­hen wer­den. Erst durch die Ein­bet­tung in den ak­ tu­el­len, ge­sell­schaft­li­chen und his­to­ri­schen Kon­text wer­den Nach­richt und Be­richt zur In­for­ma­tion, die bei den Re­zi­pien­ten le­bens­welt­lich und be­wusst­seins­mä­ßig an­do­cken kann. Es gibt aus­ge­spro­chene und un­aus­ge­spro­chene For­men von Kon­tex­tua­li­tät. Oft wer­den die not­wen­di­gen Be­zie­hun­gen und Be­züge durch the­ma­ti­sche Kon­ti­nui­tät und eine dar­auf be­zo­gene Zeit­nähe hin­rei­chend ge­währ­leis­tet. Acht­sa­mer Jour­na­ lis­mus wird sich dann um eine Wort­wahl be­mü­hen, die so­wohl dem In­halts- und Sprach­as­pekt des auf den Re­zi­pien­ten be­zo­ge­nen Ver­ste­hens ge­recht wird wie auch der dia­chro­ni­schen Tie­fen­schär­fe. Bei an­de­ren The­men wird es zur Her­aus­ for­de­rung, für den unter Ak­tua­li­täts­ge­sichts­punk­ten aus­ge­wähl­ten In­halt den Kon­ text sach­lich, zeit­lich und so­zial erst her­zu­stel­len. Da­bei spielt die Reflektion des (ver­mu­te­ten) Vor­wis­sens der Re­zi­pien­ten die ent­schei­dende Rol­le, was auch die Not­wen­dig­keit ent­spre­chen­der For­schung und de­ren re­dak­tio­nel­ler Re­zep­tion und Dis­kus­sion deut­lich macht. Kon­tex­tua­li­tät und Ver­ständ­lich­keit lie­gen auf ei­ner Ebe­ne. Jour­na­lis­ti­sche Selbst­re­fle­xion hin­sicht­lich des ei­ge­nen kul­tu­rel­len Hin­ter­grunds und der ei­ge­nen Sprach­codes kom­men dem ge­nauso ent­gegen, wie die Be­reit­schaft, Spra­che als Pro­zess zu se­hen und an an­ge­mes­se­nen Sprach­schöp­fun­gen zu arbei­ten. Kon­tex­tua­li­tät er­schließt schließ­lich die Tiefe ei­nes Sach­ver­halts und leis­tet den ent­schei­den­den Bei­trag hin­sicht­lich der For­de­run­gen nach Rich­tig­keit und Voll­stän­dig­keit.

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Diese sechs Leit­mo­tive für ei­nen acht­sa­men Jour­na­lis­mus ent­sprin­gen ei­ner Le­bens­hal­tung, die auf dem Geist des Nicht­ver­let­zens gegen­über al­lem Le­ben, der Ver­bun­den­heit mit dem Le­ben in sei­ner Viel­fäl­tig­keit an sich und ei­ner dar­auf be­ zo­ge­nen pro­zess­orien­tier­ten Selbst­re­fle­xion be­ruht. Selbst­re­fle­xion als jour­na­lis­ ti­sche Ba­sis­tu­gend setzt da­bei vor­aus, zu mir selbst als Be­ob­ach­ter in Dis­tanz zu tre­ten und mich in eine Meta­per­spek­ti­ve, also Zeu­gen­schaft zu be­we­gen. Acht­sam­keit dient als Ver­stän­di­gungs­grund­lage der Welt­ge­sell­schaft über sich selbst und er­mög­licht die Tie­fen­wahr­neh­mung ge­sell­schaft­lich/kul­tu­rel­ler Pro­zes­ se. Sie ver­mag Ver­trauen in In­for­ma­tion und Dis­kurs­qua­li­tät da wie­der her­zu­stel­ len, wo diese der Quo­ten hei­schen­den Zu­spit­zung und Skan­da­li­sie­rung und der öf­fent­lich­keits­wirk­sa­men In­sze­nie­rung von Po­li­tik zum Op­fer ge­fal­len sind. Acht­ sam­keit rich­tet sich schließ­lich aus auf qua­li­ta­tive Tie­fen­schärfe statt ein mehr und mehr an In­for­ma­tion um ihrer selbst wil­len, und sie möchte da­mit ei­ner Be­schleu­ ni­gung hin zu ei­nem Zu­stand vor­beu­gen, der mit Jean Bau­dril­lard als struk­tu­relle Am­ne­sie be­zeich­net wer­den kann.

In­te­grale Ver­nunft Eine so um­schrie­bene jour­na­lis­ti­sche Grund­hal­tung be­darf zu ihrer Ver­wirk­li­chung ent­spre­chen­der Aus­bil­dungs­an­ge­bo­te. Ein brei­tes ge­sell­schaft­li­ches und kul­tu­rel­ les Grund­wis­sen, Bil­dung im klas­si­schen Sinne al­so, ist da­für ge­nauso Vor­aus­set­ zung wie eine Schu­lung der Wahr­neh­mung und die Orien­tie­rung an ei­nem in­te­gra­ len Er­kennt­nis- und Ver­nunft­be­griff. Ein sol­ches Ver­ständ­nis von Er­kennt­nis und Ver­nunft ba­siert nach mei­ner Auf­fas­sung auf fünf Säu­len: I. Welt­zu­gang durch Ana­ly­se, lo­gi­sches Schlie­ßen und wis­sen­schaft­lich be­grün­dete Er­kennt­nis­zu­gänge Hier sind Inter­sub­jek­ti­vi­tät, Nach­voll­zieh­bar­keit, Über­prüf­bar­keit und Ver­all­ge­ mei­ner­bar­keit zen­trale Kri­te­rien. Es ist das, wor­auf sich der Blick der »ra­tio­na­len« Welt nor­ma­ler­weise be­schränkt. II. Sinn­li­cher und er­fah­rungs­be­zo­ge­ner Welt­zu­gang Hier spie­len die re­flek­tier­ten Er­fah­run­gen, mit denen Men­schen im Le­ben ste­hen, die zen­trale Rol­le. Diese Er­fah­run­gen wer­den von den Sin­nen ge­steu­ert, und sie sind im­mer mit Ge­füh­len, aber auch mit Hoff­nun­gen und Er­war­tun­gen und in der Folge Be­wer­tun­gen ver­bun­den. Um diese zu er­ken­nen, ist die Reflektion ent­schei­ dend – als Selbst­re­flek­tion, aber auch durch Be­glei­tung/Be­ra­tung und Su­per­vi­sion, die im Sys­tem Jour­na­lis­mus noch im­mer ein Schat­ten­da­sein fris­ten.

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III. In­tui­tion In­tui­tion bie­tet Zu­gang zu ei­nem Wis­sen, das nor­ma­ler­weise vor uns ver­bor­gen ist. Ver­dräng­tes, auf­grund not­wen­di­ger Se­lek­tion nicht Wahr­ge­nom­me­nes, Un­be­wuss­ tes, kol­lek­tiv Un­be­wuss­tes, aber auch das, was Henri Berg­son als »meta­phy­sisch ge­ge­bene Er­leb­nis­zeit« be­zeich­net, ge­hö­ren dazu – nicht zu ver­ges­sen das »Bauch­ ge­fühl« in Klä­rungs- und Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen. In­tui­tion lässt sich schu­len, wir kön­nen die Sinne da­für ver­fei­nern. Und es lässt sich daran arbei­ten, sol­chen nicht in­tui­ti­ven Täu­schun­gen zu er­lie­gen, die durch Pro­jek­tio­nen etc. zu­stande kom­men. IV.  Weis­heit Die gro­ßen Weis­heits­leh­ren und Weis­heits­schu­len auf die­ser Erde hal­ten ei­nen un­ er­schöpf­li­chen Schatz an Le­bens- und Orien­tie­rungs­wis­sen be­reit. Die­ses Wis­sen ist von sei­nem Cha­rak­ter her über­zeit­lich, was etwa in den ethi­schen Tra­di­tio­nen der Welt­re­li­gio­nen zum Aus­druck kommt. Weis­heit stellt im­mer wie­der die not­ wen­dige Dis­tanz zu der Ver­fan­gen­heit im Mo­ment und der Wahr­neh­mungs­be­gren­ zung in der Si­tua­tion her. Sie wei­tet den Blick über uns hin­aus und stellt uns in Be­zie­hung mit dem Gan­zen. V.  Kon­tem­pla­tion Dies ist der Weg und zu­gleich die in­nere Hal­tung da­zu. Der kon­tem­pla­tive Welt­zu­ gang er­rich­tet ei­nen in­ne­ren Raum der Ge­las­sen­heit. Hier ent­ste­hen Kraft, Klar­heit und das Ver­trauen zu um­sich­ti­gem Er­ken­nen und Han­deln. Hier fin­det aber auch die über den Tag hin­aus­wei­sende Er­kennt­nis ihren Platz und ihren Raum zur Ent­ fal­tung. Kon­tem­pla­tion und die in­nere Hal­tung der Acht­sam­keit ge­ben den ers­ten vier Säu­len ihre Tie­fe. Immer wie­der wird in der All­tags­welt und in pro­fes­sio­nel­len Kon­tex­ten die eine oder an­dere Säule zur mo­ment­haft tra­gen­den Säule wer­den. Doch ge­rade dann ist es wich­tig, die je­weils an­de­ren im Ho­ri­zont und in der Hin­ter­grund­strah­lung des Be­ wusst­seins zu hal­ten. Qua­li­täts­jour­na­lis­mus be­darf die­ses in­te­gra­len Welt­zu­gangs – im Sinne des Selbst­wer­tes der jour­na­lis­tisch Han­deln­den, im Sinne der Ge­sell­schaft und der Kul­tur, in die Jour­na­lis­mus ein­ge­bet­tet ist und da­mit im Sinne des Gan­zen. Dies al­les ist kein Kurz­zeit­pro­gramm, son­dern viel­mehr ei­ner Ge­ne­ra­tio­nen­per­ spek­tive ge­schul­det, und es ist da­mit eine enorme Her­aus­for­de­rung für die aka­de­mi­sche Jour­na­lis­ten­aus- und weiterbildung. Es er­for­dert die Auf­gabe so man­cher kul­tu­rel­ler, aber auch pro­fes­sio­nel­ler Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten und Be­quem­hei­ten. So ge­se­hen ist es im­mer auch ein Wag­nis mit uns selbst – wenn­gleich ohne ernst­hafte Al­ter­na­ti­ve.

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Li­te­ra­tur Bil­ke, Na­dine (2008): Qua­li­tät in der Kri­sen- und Kriegs­be­richt­er­stat­tung. Ein Mo­ dell für ei­nen kon­flikt­sen­si­ti­ven Jour­na­lis­mus. Wies­ba­den: VS Ver­lag. Deut­scher Bun­des­tag (2002): Schluss­be­richt der En­quete-Kom­mis­sion. Glo­ba­li­ sie­rung der Welt­wirt­schaft – Her­aus­for­de­run­gen und Ant­wor­ten. Ber­lin, Kapitel 5.2.1 Di­gi­tale Spal­tung, S. 262–277. Eu­rich, Claus (2013): Mensch Wer­den. Ein Ap­pell an unsere Eli­ten in Wirt­schaft und Ge­sell­schaft. Wies­ba­den: Sprin­ger/Gab­ler. Eu­rich, Claus (2008): Wege der Acht­sam­keit. Über die Ethik der ge­walt­freien Kom­mu­ni­ka­tion. Pe­ters­berg: Via No­va. Galtung, Jo­han (1998): Frie­den mit fried­li­chen Mit­teln. Frie­den und Kon­flikt, Ent­ wick­lung und Kul­tur. Op­la­den: Leske + Bu­drich. Kempf, Wil­helm (2005): Mo­delle des Frie­dens­jour­na­lis­mus. In: Pro­jekt­gruppe Frie­dens­for­schung Kon­stanz (Hrsg.): Nach­rich­ten­me­dien als Me­dia­to­ren von Pea­ce-Build­ing, De­mo­kra­ti­sie­rung und Ver­söh­nung in Nach­kriegs­ge­sell­schaf­ ten. Ber­lin: Re­gener, S. 13–35. Ro­sen­berg, Mar­shall B. (2007): Ge­walt­freie Kom­mu­ni­ka­tion: Eine Spra­che des Le­bens. Pa­der­born: Jun­fer­mann. Schweit­zer, Al­bert (1995): Al­bert Schweit­zer Le­se­buch. Mün­chen: Pi­per. van Dijk, J. (2005): The deepening divide: In­equal­ity in the information so­ci­ety. Thou­sand Oaks: Sa­ge.

Frie­dens­jour­na­lis­mus – ein Oxy­mo­ron?

Frie­dens­jour­na­lis­mus – ein Oxy­mo­ron? In­grid A. Leh­mann

Frie­dens­jour­na­lis­mus in Zei­ten des Krie­ges scheint ein Wi­der­spruch in sich. Viele Au­to­ren, die das Be­zie­hungs­ge­flecht zwi­schen Me­dien und Po­li­tik er­for­schen, se­ hen Kriegs­jour­na­lis­mus als die vor­herr­schende Form der Be­richt­er­stat­tung über inter­na­tio­nale Kon­flikte und Krie­ge. Phil­lip Knight­ley stellt in sei­nem Klas­si­ker »The First Ca­su­alty – The War Cor­re­spon­dent as Hero and Myth-Ma­ker from the Cri­mea to Ko­sovo« (2002) an­schau­lich dar, wie das be­rühmte Wort von Hi­ram John­son von 1917, »The first ca­su­alty when war comes, is truth«, in den Krie­gen von 1854 bis heute seine An­wen­dung fand. Der Be­griff »Frie­dens­jour­na­lis­mus« ent­wi­ckelte sich Ende des 20. Jahr­hun­derts als eine der For­de­run­gen der eu­ro­päi­schen Frie­dens­be­we­gung. In den Schrif­ten von Jo­han Galtung und sei­nen MitstreiterInnen wie Mari Ruge wurde zu­neh­mend auch die Rolle der Me­dien in der Frie­dens­pra­xis dis­ku­tiert. Als Stan­dard­werke des Frie­ dens­jour­na­lis­mus gel­ten im eng­lisch­spra­chi­gen Raum das Buch von Jake Lynch und An­na­bel McGol­drick »Peace Jour­na­lism« (2005) und im deutsch­spra­chi­gen Raum die Schrif­ten von Na­dine Bilke (2002; 2008), Wil­helm Kempf (2007; 2008) und Claus Eu­rich (2008; in die­sem Band). Frie­dens­jour­na­lis­mus wird von sei­nen VerfechterInnen im Gegen­satz zum vor­herr­schen­den »Kriegs­jour­na­lis­mus« ge­se­ hen. Wäh­rend Kriegs­be­richt­er­stat­tung vor­wie­gend mi­li­tä­ri­sche Er­eig­nisse im Fo­ kus hat, will »Frie­dens­jour­na­lis­mus« die Op­fer krie­ge­ri­scher Hand­lun­gen auf al­len Sei­ten in den Vor­der­grund stel­len, will Lö­sungs­mög­lich­kei­ten für Kon­flikte auf­zei­ gen und weist der Be­richt­er­stat­tung ge­ne­rell eine de­es­ka­lie­rende Funk­tion zu. Der stän­dig wach­sende Ein­fluss von di­gi­ta­len Me­dien im Inter­net­zeit­al­ter hat das Au­gen­merk von KommunikationswissenschaftlerInnen auf die Zu­sam­men­hänge von Me­dien, Krieg und Frie­den ge­lenkt (Ze­li­zer/Al­len 2001, Bütt­ner/von Gott­berg/Met­ ze-Man­gold 2004; McQuail 2006; Ben­nett/Law­ren­ce/Li­vings­ton 2007). Eli­sa­beth Klaus sprach be­reits 2002 die Hoff­nung aus, »dass die Ideen ei­nes Pu­blic Jour­na­lism wie auch die Vor­stel­lun­gen von ei­nem Frie­dens­jour­na­lis­mus nicht dauer­haft über­hört wer­den« (Klaus 2002: 302) und rich­tete in ihrer Auf­arbei­tung des For­schungs­fel­des »Me­dien und Krieg« 2005 den Fo­kus auf Kom­mu­ni­ka­tions­pro­zes­se, Me­dien­sys­te­me, me­dien­ver­mit­telte Dis­kurse und Frie­dens­be­richt­er­stat­tung (Klaus 2005).

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Kriegs­jour­na­lis­mus, »pa­trio­ti­scher« Jour­na­lis­mus und neue Medien als In­stru­mente von Kriegsp ­ rop ­ ag ­ anda Mit dem Ko­so­vo-Krieg 1999 fand der »Kriegs­jour­na­lis­mus « ei­nen neuen Hö­he­ punkt. 2700 JournalistInnen be­glei­te­ten die 50.000 Na­to-Trup­pen, die nach den Luft­at­ta­cken auf Ser­bien im Ko­sovo lan­de­ten. Laut Henry Por­ter, dem Ko­lum­ nis­ten des bri­ti­schen Ob­ser­ver, teilte sich die Me­dien­bran­che in die Mehr­heit, die ein »gul­li­ble playt­hing« der Nato war, und die Min­der­heit der Kor­re­spon­den­ten in Belgrad, die durch zu enge Be­zie­hun­gen mit den Ser­ben kom­pro­mit­tiert wur­ den (Por­ter 1999, zit. n. Knight­ley 2002: 505). Eli­sa­beth Klaus, Kers­tin Gold­beck und Su­sanne Kas­sel unter­such­ten 2002 den In­for­ma­tions­krieg um das Ko­sovo und fan­den in ihrer Ana­lyse der Be­richt­er­stat­tung der ein­fluss­reichs­ten deut­schen po­li­ti­schen Wo­chen­zeit­schrift Der Spie­gel zwei in­ter­es­sante Phä­no­me­ne. Zum ei­ nen trug de­ren Be­richt­er­stat­tung schon 1999 zu ei­ner in­ten­si­vier­ten Kri­tik an den USA bei, wo­durch »die ame­ri­ka­ni­sche Welt­macht zu ei­nem Gegen­bild Eu­ro­pas sti­li­siert« wurde und sich so­mit Eu­ropa zu­neh­mend als le­gi­time Ver­tre­te­rin des »Wes­tens« se­hen konnte (Klaus/Gold­beck/Kas­sel 2002: 300). Zum an­de­ren stel­ len die Au­to­rin­nen fest, dass die Spie­gel-Be­richt­er­stat­tung aus dem Jahre 1999 »eine po­li­tisch und mi­li­tä­risch höchst kom­plexe Si­tua­tion mit zahl­lo­sen Ak­teu­ren [. . .] auf eine Weise re­du­ziert, die ins­ge­samt den Na­to-Ein­satz und die Be­tei­li­ gung der Bun­des­re­pu­blik le­gi­ti­miert, ja als zwin­gend er­schei­nen lässt.« (ebd.: 301) Nach den Ter­ror­an­schlä­gen des 11. Sep­tem­ber 2001 auf New York und Wa­ shing­ton be­merk­ten po­li­ti­sche BeobachterInnen er­schreckt, wie in den USA der jour­na­lis­ti­sche Schul­ter­schluss mit der Bush-Re­gie­rung zu ei­ner wich­ti­gen Trieb­ fe­der öf­fent­li­cher Unter­stüt­zung für die be­vor­ste­hen­den Kriege in Af­gha­nis­tan und spä­ter Irak wur­de. Es kam, wie Paul Krug­man 2003 kon­sta­tier­te, zu ei­nem Bruch zwi­schen den USA und Eu­ro­pa, so­wohl in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung als auch in der öf­fent­li­chen Mei­nung. Krug­man nannte die­ses Phä­no­men den »great trans­at­lan­tic media di­vide« (Krug­man 2003), der die Ent­frem­dung der trans­at­lan­ti­schen Öf­fent­lich­kei­ten im Vor­feld des Irak-Krieg ver­tiefte (vgl. Leh­ mann 2004). Der frap­pie­rende po­li­ti­sche An­pas­sungs­pro­zess vie­ler ame­ri­ka­ni­scher Me­ dien1 mün­dete in ei­nen re­gie­rungs­hö­ri­gen »pa­trio­ti­schen Jour­na­lis­mus« (Wais­ bord 2002; Sche­rer 2002). Ihm konn­ten sich selbst an­ge­se­hene Leit­me­dien wie die New York Times nicht ent­zie­hen. Auch die NYT hin­ter­fragte kaum die ir­re­ füh­ren­den Be­haup­tun­gen der Bush-Re­gie­rung, die den Sturz Sad­dam Hus­sein 1 Aus­nah­men wa­ren das At­lan­tic Month­ly, Harper’s, The Nation, The New Yorker und der New York Re­view of Books.

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le­gi­ti­mie­ren soll­ten (vgl. Leh­mann 2005), und be­kannte erst spät ihre ei­ge­nen Ver­feh­lun­gen.2 Als je­doch den Ter­ror­at­ta­cken vom 11. Sep­tem­ber 2001 wei­tere in Eu­ropa – die An­schläge in Ma­drid am 11. März 2004 und da­nach in Lon­don am 7. Juli 2005 – folg­ten, be­gann eine So­li­da­ri­sie­rung der eu­ro­päi­schen Öf­fent­lich­keit. West­li­che Me­dien fo­kus­sier­ten sich zu­neh­mend auf Al Qaida und Osama Bin Laden und folg­ten der ame­ri­ka­ni­schen Li­nie des »Kriegs gegen den Ter­ror«. Nach wei­te­ren Bom­ben­an­schlä­gen in Mum­bai vom No­vem­ber 2008 wuchs die Über­zeu­gung, dass eine welt­weite is­la­mis­ti­sche Ter­ror­kam­pa­gne eine neue glo­bale Be­dro­hung dar­stell­te. Osama Bin Laden selbst be­nutzte vor­wie­gend in­terne Kom­mu­ni­ka­tions­ ka­näle und simple Vi­deo­bot­schaf­ten, um sei­nen Kampf zu ver­mit­teln. Anwar AlAw­la­ki, der in den USA ge­bo­ren war, sti­li­sierte sich zum »Osama des Inter­nets«, der re­gel­mä­ßig auf You­Tube er­schien und auf Fa­ce­book und sei­nem Blog pos­te­te. Der selbst­de­kla­rierte »Is­la­mi­sche Staat« (IS) in Irak und Sy­rien be­nutzt di­gi­tale Me­dien und stellt sich zu Pro­pa­gan­ga­zwe­cken zu­neh­mend in so­zia­len Netz­wer­ken dar. Scott Shane und Ben Hub­bard be­schrie­ben die ISIS-Kom­mu­ni­ka­tions­tech­ni­ ken 2014 in der New York Times: »ISIS is on­line ji­had 3.0. Dozens of Twitter ac­counts spread its mes­sage, and it has posted some ma­jor speech­es in seven lan­guages. Its vid­eos bor­row from Mad­is­ on Av­e­nue and Hol­ly­wood, from com­bat vid­eo games and cable tele­vi­sion dramas, and its sen­sa­tional dis­ patches are echoed and am­plified on so­cial me­dia. When its ac­counts are blocked, new ones ap­pear im­me­di­ate­ly. It also uses ser­vices like Just­Paste to pub­lish bat­tle sum­maries, Sound­ Cloud to re­lease au­dio re­ports, In­sta­gram to share im­ages and What­sApp to spread graph­ics and vid­eos.« (Sha­ne/Hub­bard 2014)

Darüber hinaus will ISIS 2015 zehn Fern­seh­ka­näle in­klu­sive »Ka­li­fat Live« star­ ten, um neue Kämp­fer zu re­kru­tie­ren und Sym­pa­thi­san­tInnen zu wer­ben (vgl. Kastler 2015). In den letz­ten Jah­ren fan­den meh­rere krie­ge­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen in Ga­za, der Ukrai­ne, Sy­rien, Li­by­en, Mali und Su­dan statt, in denen sub­tile Pro­pa­ gan­da­kam­pa­gnen ein­ge­setzt wur­den. Im jüngs­ten Ga­za-Krieg be­nutz­ten so­wohl Is­rael als auch die Pa­läs­ti­nen­ser Fotos, Vi­deos und so­ziale Netz­wer­ke, um ihre je­ wei­lige Per­spek­tive der Welt­öf­fent­lich­keit zu ver­kau­fen. Der frag­wür­dige Um­gang mit Fak­ten beim is­rae­li­schen An­griff auf Gaza wurde in ver­schie­de­nen Me­dien, u. a. der Zeit, kri­ti­siert: »Das Lei­den der Men­schen in Gaza an­zu­er­ken­nen war in den ver­gan­ge­nen Wo­chen in Is­rael fast ein Ding der Un­mög­lich­keit. Ko­lum­nis­ten, 2 Die NYT hat sich am 26. Mai 2004 von ihrer ei­ge­nen Irak-Be­richt­er­stat­tung dis­tan­ziert und öf­fent­lich da­für in ei­nem Leit­ar­ti­kel ent­schul­digt (vgl. »The Times and Iraq«, http:// www.ny­ti­mes.com/2004/05/26/in­ter­na­tio­nal/midd­lee­ast/26FTE_NO­TE.html ).

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die über die hohe Zahl zi­vi­ler Op­fer er­schra­ken, ern­te­ten im Inter­net ei­nen Shit­ storm son­der­glei­chen . . .« (Böhm 2014) Gud­run Do­rin­ger (2014) kon­sta­tierte hin­ sicht­lich der Ga­za-Be­richt­er­stat­tung mit Be­zug auf Knight­leys The­se: »Die Wahr­ heit ist unter­be­lich­tet.« Im Som­mer 2014 wurde auch die rus­si­sche Be­richt­er­stat­tung zu ihrem Kon­flikt mit der Ukraine wäh­rend der Krim-Kam­pa­gne zu ei­nem Top-Thema west­li­cher Me­dien. So stellte die vor­ma­lige CNN-Kor­re­spon­den­tin Jill Doug­herty (2014) ihre im Joan Sho­rens­tein-Cen­ter der Har­vard Uni­ver­sity er­stellte Stu­die unter den Ti­tel »Ever­yone Lies«. Diese Bei­spiele zei­gen, dass die wach­sen­den Her­aus­for­de­run­gen durch di­gi­tale Me­dien, die den Kon­flikt­par­teien grö­ße­ren Ein­fluss auf die Mei­nungs­bil­dung von stra­ te­gisch wich­ti­gen Öf­fent­lich­kei­ten ge­ben denn je zu­vor und die mit der Ver­knap­pung von Res­sour­cen ein­her­ge­hen, für die tra­di­tio­nelle Be­richt­er­stat­tung durch Zei­tun­gen und Fern­se­hen in den west­li­chen Län­dern, zu ei­ner wei­te­ren Pro­pa­gan­di­sie­rung der viel­fäl­ti­gen Me­dien in den Kriegs­ge­bie­ten füh­ren wer­den.

Frie­dens­jour­na­lis­mus, Jour­na­lism of Attach­ment und konf ­ likts ­ ens ­ it­ iv ­ er Journ ­ al­ ism ­ us Frie­dens­jour­na­lis­mus ent­stand, wie oben er­wähnt, be­reits in den 1970er Jah­ren als eine Idee von FriedensforscherInnen um Jo­han Galtung. Das Kon­zept wurde an­ge­sichts der sich ver­fes­ti­gen­den Ten­denz zu Pro­pa­ganda und Kriegs­jour­na­lis­ mus wäh­rend der Ju­go­sla­wien-Kriege (Thom­pson 1999; Kurs­pa­hic 2003) und dem Mas­sen­mord in Ruanda (Mel­vern 2004) von Jour­na­lis­tInnen wie­der auf­ge­grif­fen, die un­be­tei­ligte »neu­trale« Be­richt­er­stat­tung an­ge­sichts von eth­ni­schen Säu­be­run­ gen, Ver­trei­bun­gen und Mas­sen­mord für un­mo­ra­lisch und un­pro­fes­sio­nell hiel­ten. JournalistInnen wie Mar­tin Bell (1995), Phi­lip Gou­re­vitch (1999) und Ma­rie Col­vin (2013) und for­der­ten ei­nen »Jour­na­lism of attachment« im Bos­nien-Krieg und in Ruan­da, ei­nen Jour­na­lis­mus, der über die Lei­den der Zi­vil­be­völ­ke­rung und die Frie­dens­be­mü­hun­gen der inter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft be­rich­te­te. Viele ihrer KollegInnen sa­hen aber Ge­fah­ren in ei­nem emo­tio­na­len, anteilnehmenden Jour­na­ lis­mus. So schrieb Bren­dan O’Neill (2014) nach dem Tod von Ma­rie Col­vin in Sy­ rien über die Kor­re­spon­den­tin, die aus zahl­rei­chen Kriegs­ge­bie­ten be­rich­tet hat­te: »The jour­nal­ism of at­tach­ment rep­re­sented a not un­con­tro­ver­sial turn­ing point in the his­ tory of war re­port­ing. In em­pha­siz­ing at­tach­ment over neu­tral­ity, and emo­tion­al­ism over ob­jec­tiv­ity, the new breed of at­tached re­porter be­came more like an ac­tiv­ist, an in­ter­na­tion­al cam­paigner, ra­ther than a dis­pas­sion­ate re­corder of fact and truth.«

Eine in­ten­sive De­batte des Kon­zepts »Peace Jour­na­lism« fand 2006 und 2007 in dem Ma­ga­zin conflict and communication on­line statt. Prak­ti­ker des Jour­na­

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lis­mus wie der BBC-Kor­re­spon­dent Da­vid Loyn be­ur­teil­ten darin Peace Jour­ na­lism über­aus kri­tisch und be­stan­den dar­auf, dass JournalistInnen stets nach Ob­jek­ti­vi­tät su­chen müs­sen. Loyn (2003; 2007) hält »good jour­na­lism and peace jour­na­lism« für un­ver­ein­bar und sieht die Haupt­auf­gabe für JournalistInnen im »Wit­nes­sing the Truth«. Der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­ler Tho­mas Ha­nitzsch kri­ti­sier­te, dass »Frie­dens­jour­na­lis­mus keine Frage der per­sön­li­chen Frei­heit ist« und »die struk­tu­rel­len Be­din­gun­gen im Jour­na­lis­mus be­rück­sich­ti­gen« muss, die der or­ga­ni­sier­ten Nach­rich­ten­pro­duk­tion auf­er­legt sind (Ha­nitzsch 2007). Diese leb­hafte Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen den Ver­fech­tern des Frie­dens­jour­na­lis­mus Lynch und Pe­leg und den Kri­ti­kern Loyn und Ha­nitzsch stellte die Pro­ble­ma­tik von ide­el­len Wer­ten im »Qua­li­täts­jour­na­lis­mus« in den Raum und the­ma­ti­sierte die prak­ti­schen Rea­li­tä­ten, denen sich JournalistInnen in der Kon­flikt­be­richt­er­ stat­tung aus­ge­setzt se­hen. Wil­helm Kempf (2007) brachte die De­batte in sei­nem be­deu­ten­den Bei­trag »Peace Jour­na­lism – a tight­rope walk bet­ween ad­vo­cacy jour­na­lism and cons­truc­ tive conflict co­ver­age« auf den Punkt: »What peace jour­nal­ism crit­i­cizes about the me­dia is, to be sure, that spe­cific facts are sys­ tem­atic­ally con­cealed. But even here the cri­tique is not pri­mar­i­ly of the facts them­selves, but ra­ther of the es­ca­la­tion po­ten­tial that un­folds from as­crib­ing mean­ings that trans­late the mix of re­ported and sup­pres­sed facts in­to a com­pre­hen­sible nar­ra­tive. Con­flict is an inter­ac­tive pro­cess, and like all hu­man ac­tions it in­volves (at least) three dif­fer­ent kinds of re­al­ity. There is one party’s sub­jec­tive re­al­ity and the sub­jec­tive re­al­ity of an op­po­nent. While both these re­al­ities can on­ly be as­sessed from with­in the re­spec­tive party’s per­spec­tive, the third kind of re­al­ity can on­ly be as­sessed from an ex­ter­nal per­spec­tive and shows how sub­jec­tive re­al­ities in­ter­act with each other. In or­der to eval­u­ate the es­ca­la­tion or de-es­ca­la­tion po­ten­tial of the con­flict parties’ re­al­ity con­struc­tions, an ex­ter­nal per­spec­tive is needed. And from this ex­ter­ nal per­spec­tive, we may well crit­i­cize some re­al­ity con­struc­tions as bi­ased to­ward pro­mot­ing con­flict and ap­pre­ci­ate others as more bal­anced and open-minded.«

Blei­bende Zwei­fel an Kon­zept und Prak­ti­ka­bi­li­tät des Frie­dens­jour­na­lis­mus führ­ ten zu sei­ner Ver­fei­ne­rung durch VertreterInnen des »kon­flikt­sen­si­ti­ven Jour­na­ lis­mus« wie Ho­ward (2003), Bilke (2008) und Betz (2013). Die­ses Kon­zept ist ge­tra­gen von dem Be­dürf­nis nach bes­se­rer jour­na­lis­ti­scher Kon­flikt­ana­lyse und prak­ti­schen Kom­pe­ten­zen in der Kri­sen- und Kriegs­be­richt­er­stat­tung, die in den zu­neh­mend asym­me­tri­schen Kon­flik­ten nach dem 11. Sep­tem­ber 2001 ReporterInnen, RedakteurInnen und KommentatorInnen stän­dig vor neue Her­aus­for­de­run­ gen stell­ten. Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen und Trai­nings­in­sti­tute be­gan­nen sich mehr und mehr auf die prak­ti­sche Unter­stüt­zung jour­na­lis­ti­scher Arbeit zu kon­ zen­trie­ren. Ross Ho­ward ver­öf­fent­lichte 2003 im Auf­trag des IMS (Inter­na­tio­nal Me­dia Sup­port) in Dä­ne­mark und dem In­sti­tute for Me­dia, Po­licy and Civil War

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in Van­cou­ver, Ka­nada ein »Hand­book of Conflict Sen­si­tive Jour­na­lism«, wel­ches die Unter­schiede zwi­schen tra­di­tio­nel­lem und kon­flikt­sen­si­ti­vem Jour­na­lis­mus an vie­len Bei­spie­len her­aus­arbei­tete und JournalistInnen die Mög­lich­keit gab, Ursa­ chen und Kon­se­quen­zen von inter­na­tio­na­len Kon­flik­ten bes­ser zu ver­ste­hen und zu ver­arbei­ten. Er schrieb: »A con­flict sen­si­tive jour­nal­ist ap­plies con­flict ana­ly­s­is and searches for new voices and new ideas about the con­flict. He or she re­ports on who is try­ing to re­solve the con­flict, looks close­ly at all sides, and re­ports on how other con­flicts were re­solved. A con­flict sen­si­tive jour­nal­ist takes no sides, but is en­gaged in the search for so­lu­tions. Conflict sen­si­tive jour­na­ lists choose their words ca­re­fully.« (Ho­ward 2003: 15)

Ho­wards Hand­buch wurde in meh­re­ren von Krie­gen ge­schüt­tel­ten Län­dern wie Af­ gha­nis­tan, Bu­run­di, Ke­nia, Ne­pal, Ruanda und Su­dan zum Stan­dard­werk für jour­ na­lis­ti­sche Aus­bil­dung und wurde 2009 als Trai­nings­ma­te­rial von der UNESCO her­aus­ge­ge­ben. Zehn Jahre spä­ter ana­ly­sierte Mi­chelle Betz in ei­nem Auf­satz für das IMS, wie sich das Kon­zept des kon­flikt­sen­si­ti­ven Jour­na­lis­mus wei­ter­ent­wi­ ckelt hatte und be­ton­te, dass das jour­na­lis­ti­sche Um­feld, die stän­dig wach­sen­den Ge­fah­ren für ReporterInnen in den Kriegs­zo­nen, so­wie neue tech­no­lo­gi­sche Kom­ mu­ni­ka­tions­mit­tel und der Ein­fluss der Zi­vil­ge­sell­schaft auf die Be­richt­er­stat­tung (»ci­ti­zen jour­na­lism«) die prak­ti­sche Arbeit von KorrespondentInnen ver­än­dert und die Not­wen­dig­keit von wei­te­rer Sen­si­bi­li­sie­rung von JournalistInnen ver­stärkt ha­ben (Betz 2012). Ju­lia Hoff­mann hat 2013 eine Stu­die für die Uni­ver­sity of Peace in Costa ­Ri­ca, unter dem Ti­tel »Com­mui­ca­tion for Peace« ver­fasst, in der sie den Me­dien nur eine, wenn auch be­deu­tende, Rolle in der Kom­mu­ni­ka­tion zu Frie­den und Kriegs­ the­ma­tik zu­spricht. Hoff­mann (2013: 11)3 stellt fest: »There are a broad va­riety of ac­tors en­gaged in a wide range of ac­tiv­ities when it comes to com­mu­ni­ca­tion for peace. Lo­cal gov­ern­ments, me­dia or­ga­ni­za­tions and NGOs, some­times sup­ported by or along­side of in­ter­na­tion­al news me­dia, train­ing or­ga­ni­za­tions, in­ter­na­tion­al or­ga­ni­za­tions en­gaged in peace op­er­a­tions, UN agencies (such as UNDP, UNESCO) as well as bi­lat­er­al do­nors (such as USAID, DFID) and ING­OS (such as Hi­ron­del­le, USIP, OSI).«

Wie An­dreas Herr­mann von der In­itia­tive zur För­de­rung des Frie­dens­jour­na­lis­mus e. V. (pe­co­jon.de) auf dem Global Me­dia Fo­rum 2014 in Bonn fest­stell­te, hat der Frie­dens­jour­na­lis­mus viele Ge­sich­ter (Herr­mann 2014). Ein Jour­na­list wie Rous­ 3 Eine um­fas­sende Ana­lyse ver­schie­de­ner Kom­mu­ni­ka­tions­for­men im Sinne ei­ner »Commu­ nication for Peace« (C4P) bie­tet der von Ju­lia Hoff­mann und Vir­gil Haw­kins (2015) her­ aus­ge­ge­bene Sam­mel­band »Communication and Pea­ce. Map­ping an Emer­ging Field«.

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beh Le­ga­tis, der für die Nach­rich­ten­agen­tur In­ter Press Ser­vice (IPS) arbei­tet, sieht ReporterInnen in Kon­flikt­zo­nen als »un­ent­behr­lich« an (Le­ga­tis 2012). Wei­ter­hin gibt es das inter­na­tio­nale Netz­werk Pres­sen­za, das für Frie­den, Ge­walt­lo­sig­keit und Hu­ma­nis­mus in den Me­dien ein­tritt. Auch das ge­mein­sam von der Huf­fing­ton Post und dem Berggruen In­sti­tute for Global Go­ver­nance An­fang 2014 ge­grün­dete In­ter­net-New­spor­tal The World­Post be­müht sich, ein brei­te­res, lö­sungs­orien­tier­tes Spek­trum von inter­na­tio­na­len Nach­rich­ten zu ver­mit­teln.

Internationale Organisationen

und

Frie­dens­me­dien

Die Rolle von Kom­mu­ni­ka­tion bei den Frie­dens­be­mü­hun­gen von inter­na­tio­na­len Or­ga­ni­sa­tio­nen wurde nach den ne­ga­ti­ven Er­fah­run­gen der UNO in den Krie­gen der 1990er Jahre in Bos­nien, So­ma­lia und Ruanda (Leh­mann 1999) stär­ker the­ma­ ti­siert. Unter der Füh­rung von Ge­ne­ral­se­kre­tär Kofi An­nan wurde die Kom­mu­ni­ka­ tion der UNO-Frie­dens­mis­sio­nen mit den Öf­fent­lich­kei­ten in den Kon­flikt­ge­bie­ten ver­bes­sert (vgl. Lind­ley 2007; Leh­mann 2009). Eine ak­ti­vere In­for­ma­tions­po­li­tik sollte der Kom­mu­ni­ka­tion mit den Kon­flikt­par­teien hel­fen und so­mit die Durch­set­ zung des Frie­dens­pro­zes­ses unter­stüt­zen. Da die po­li­ti­schen An­for­de­run­gen an die inter­na­tio­nale Ge­mein­schaft durch neue Bür­ger­kriege und asym­me­tri­sche Kon­flikte nach 2000 stän­dig wuch­sen und neue Medien ver­stärkt auch in Kri­sen­ge­bie­ten eine wich­tige Rolle spiel­ten, wurde die Kom­mu­ni­ka­tion in und aus den Kriegs­ge­bie­ten eher noch schwie­ri­ger. Auch wenn ei­nige schwe­lende Kon­flikte so z.  B. auf dem Bal­kan oder im süd­li­chen Afrika unter der Ägide inter­na­tio­na­ler Or­ga­ni­sa­tio­nen durch sogenannte »media development«-Pro­gramme eine neue of­fe­nere Me­dien­kul­tur ent­wi­ckel­ten (vgl. Betz 2015), gab es in an­de­ren Re­gio­nen, vor al­lem in Nah­ost nach Ab­klin­gen des Ara­bi­schen Früh­lings, ei­nige Rück­schlä­ge. Inter­na­tio­nale Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen wie UNHCR oder UNICEF se­hen sich mit an­schwel­len­den Flücht­lings­strö­men und ka­ta­stro­pha­len ge­sund­heit­li­chen Pro­ ble­men der Men­schen in den Kri­sen­ge­bie­ten kon­fron­tiert, die ihre Auf­ga­ben ins schier Un­end­li­che wach­sen las­sen. Die Be­tei­li­gung von re­gio­na­len Or­ga­ni­sa­tio­nen wie der EU, der AU, der OSZE und der NATO an der Frie­dens­schaf­fung er­mög­ licht zwar eine bes­sere Arbeits­tei­lung, hat aber die An­zahl von Han­deln­den und die In­ten­si­tät ihrer Be­mü­hun­gen der­art ver­stärkt, dass durch die Auf­fä­che­rung der Zu­stän­dig­keits­be­rei­che neue Kom­mu­ni­ka­tions­pro­bleme ent­stan­den sind. Gleich­ zei­tig hat sich auch die An­zahl der in Kon­flikt­ge­bie­ten tä­ti­gen Nicht­re­gie­rungs­or­ ga­ni­sa­tio­nen mul­ti­pli­ziert, was die Ko­or­di­na­tion unter­ein­an­der und da­mit auch die Kom­mu­ni­ka­tion mit der Au­ßen­welt wei­ter er­schwert. Diese Her­aus­for­de­run­gen wur­den 2012 von Ju­lia Eg­le­der in ihrer ver­glei­chen­ den Stu­die »Peace through Peace Me­dia?« am Fall Ko­sovo ana­ly­siert. Eg­le­der hat

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in akri­bi­scher Arbeit die Kom­mu­ni­ka­tions­er­fah­run­gen von UNO und NATO in Ko­sovo von 1999 bis 2008 nach den Stan­dard-Kri­te­rien des Frie­dens­jour­na­lis­mus unter­sucht. Sie ver­sucht Gal­tungs Kon­zept auf die Öf­fent­lich­keits­arbeit von zwei inter­na­tio­na­len Or­ga­ni­sa­tion an­zu­wen­den und kommt zu dem Schluss, dass die UN-Frie­dens­mis­sion UN­MIK über­zeu­gen­der für den Frie­dens­pro­zess agier­te, ob­ wohl die NA­TO-Ope­ra­tion KFOR mehr Res­sour­cen zur Ver­fü­gung hat­te: »While KFOR was less suc­cess­ful in pro­du­cing cre­di­ble peace jour­na­lism, the force was more suc­cess­ful in the con­duct of a stra­te­gi­cally led media pro­duc­tion pro­cess than UN­MIK was.« (Eg­le­der 2012: 275). Lei­der war die UN-Mis­sion im Ko­sovo da­mit nicht wirk­lich er­folg­reich, da UN­MIK ein sehr viel schlech­te­res Image im Land hatte als die NA­TO. UN­MIK wurde von vie­len Men­schen als im­po­tent und we­ gen ihrer Be­mü­hun­gen um inter­eth­ni­sche Ko­ope­ra­tion von der al­ba­ni­schen Mehr­ heit als zu ser­ben­freund­lich an­ge­se­hen. Die Frie­den­skom­mu­ni­ka­tion der UN­MIK schlug dah­er fehl, was Egle­der so in­ter­pre­tierte: »Mes­sages trans­mit­ted through the me­dia have on­ly a lim­ited ef­fect on the for­ma­tion of at­ti­tudes in a tar­get au­di­ ence.« (Ebd.: 271) Eg­le­ders Stu­die re­la­ti­viert so­mit die Be­deu­tung von Me­dien­arbeit durch inter­na­tio­nale Or­ga­ni­sa­tio­nen. Wie Kurs­pa­hic (2003), Mel­vern (2004), Arbuckle (2006) und Gil­boa ( 2007) ge­zeigt ha­ben, sind lo­ka­le, eth­nisch iso­lierte oder durch War­lords ma­ni­pu­lierte Me­dien in aku­ten Kon­flikt­ge­bie­ten häu­fig be­deu­ten­der für die Mei­nungs­bil­dung der lo­ka­len Be­völ­ke­rung als inter­na­tio­nale Or­ga­ni­sa­tio­nen und glo­bale Me­dien. So stellte der New York Times-Ko­lum­nist Thomas Fried­man jüngst mit Be­zug auf die vom »Isla­mis­chen Staat« be­nutz­ten neuen Me­di­en fest: »In­deed, ISIS is tell­ing us what it wants us to know through Twitter and Face­ book, and keep­ing us from any­thing it doesn’t want us to know.« (Fried­man 2014) Für PraktikerInnen der Kom­mu­ni­ka­tion für den Frie­den ist die Arbeit da­her noch schwie­ri­ger ge­wor­den.

Zu­sam­men­fas­sung und Ein­schät­zung Die For­de­rung, dem Frie­dens­jour­na­lis­mus eine Chance zu ge­ben, hat neue An­sätze für eine sen­sib­lere Be­richt­er­stat­tung zu inter­na­tio­na­len Kon­flik­ten auf­ge­zeigt. Die leb­hafte De­batte um den Be­griff selbst hat das jour­na­lis­ti­sche Selbst­ver­ständ­nis her­aus­ge­for­dert und die abs­trakte Dis­kus­sion um Kriegs- oder Frie­dens­jour­na­lis­ mus in­ten­si­viert. Die »reine« Kriegs­be­richt­er­stat­tung wurde zwar schon frü­her durch Knight­ley und an­dere kri­ti­siert, doch hat sich die Her­aus­for­de­rung der tra­di­tio­nel­len west­li­ chen Me­dien durch neue Medien, die sehr viel stär­ker von Kon­flikt­par­teien in den asym­me­tri­schen Kon­flik­ten des neuen Jahr­tau­sends ein­ge­setzt wer­den, ver­schärft. Wie Vir­gil Haw­kins (2015) in sei­ner neu­esten Stu­die be­tont, ist eine Me­dien­kri­tik

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schon al­lein des­halb wich­tig, weil west­li­che Me­dien nach wie vor nur über eine Min­der­heit von ak­tu­el­len inter­na­tio­na­len Kon­flik­ten be­rich­ten, wäh­rend die Mehr­ zahl mar­gi­na­li­siert und von der Be­richt­er­stat­tung aus­ge­schlos­sen ist. So er­scheint die Idee ei­ner glo­ba­li­sier­ten Me­dien­welt, in der alle über al­les be­rich­ten, als il­lu­ sio­när. Bis­her hat sich die For­de­rung nach Frie­dens­jour­na­lis­mus für die meis­ten Me­ dien nicht als ef­fek­tive und prak­ti­kable Arbeits­weise durch­set­zen kön­nen. Hin­ gegen hat seine Wei­ter­ent­wick­lung zum kon­flikt­sen­si­ti­ven Jour­na­lis­mus prak­ti­sche An­wen­dung in der Jour­na­lis­ten­aus­bil­dung in ver­schie­den Re­gio­nen der Welt ge­ fun­den. Jour­na­lis­ti­sche Re­por­ta­ge-Tech­ni­ken wur­den ver­fei­nert, die ein brei­te­res Spek­trum von BeobachterInnen und AkteurInnen in Kon­flikt­re­gio­nen hör­bar und sicht­bar ma­chen. BeobachterInnen vor Ort (»ci­ti­zen observer«), die mit Lap­top, Vi­deo­ka­mera und Smart­phone ihre Ver­sion des Ge­sche­hens kom­mu­ni­zie­ren, wer­ den ver­mehrt in die Be­richt­er­stat­tung der tra­di­tio­nel­len Me­dien ein­be­zo­gen. Wir alle ha­ben da­durch Zu­gang zu ei­ner grö­ße­ren Viel­falt von ZeugInnen des Kriegs­ ge­sche­hens, die die Er­fah­run­gen von ein­fa­chen Men­schen, die unter den Kämp­fen lei­den, sicht­bar ma­chen. Aber auch PropagandistInnen der ei­nen oder an­de­ren Seite be­nut­zen ver­ mehrt die neuen Medien. Die ISIS-Wer­be­kam­pa­gnen im Inter­net sind zwar für uns schwer zu ver­ste­hen, müs­sen je­doch in Frage ge­stellt wer­den, um sie zu ent­kräf­ten. So zei­gen uns Jake Lynch und An­na­bel McGol­drick in ihrem Buch »Peace Jour­na­ lism « eine Reihe von Stra­te­gien auf (Lynch/McGol­drick 2005: 107), wel­che die ak­tu­elle Be­richt­er­stat­tung auf kriegs­pro­pa­gan­dis­ti­sche Ent­stel­lun­gen über­prü­fen hel­fen. Dazu zäh­len die Be­nut­zung meh­re­rer jour­na­lis­ti­scher Quel­len mit unter­ schied­li­cher Sicht­wei­se, die Ver­mei­dung von Wie­der­ho­lun­gen nicht be­stä­tig­ter Be­haup­tun­gen der Kriegs­par­tei­en, Vor­sicht bei dem Ge­brauch dä­mo­ni­sie­ren­der Ter­mi­no­lo­gie, Er­in­ne­rung an his­to­ri­sche Er­fah­run­gen mit Kriegs­hetze und Pro­pa­ ganda und de­ren Kon­se­quen­zen u. ä. Wäh­rend sich das ur­sprüng­li­che Kon­zept des Frie­dens­jour­na­lis­mus von Galtung nicht durch­ge­setzt hat, sind in sei­ner Fort­ent­wick­lung wich­tige An­sätze aus der Kon­flikt­for­schung, der Kri­sen­kom­mu­ni­ka­tion und der Sen­si­bi­li­sie­rung von ReporterInnen auf­ge­nom­men wor­den. Frie­dens­jour­na­lis­mus scheint an­ge­sichts der Ver­schär­fung von Kon­flik­ten in Nah­ost, in Tei­len Afri­kas und der Ukraine schwie­ ri­ger denn je, doch wird inter­na­tio­nale Kom­mu­ni­ka­tion über Gren­zen hin­weg durch neue Medien er­leich­tert. Kom­mu­ni­ka­tion und Frie­den sind, wie Hoff­mann, Haw­kins und ihre KoautorInnen im Sam­mel­werk »Communication and Peace« (2015) dar­stel­len, eng mit­ein­an­der ver­knüpft und ihre po­si­tive Inter­ak­tion sollte in Zu­kunft wei­ter er­forscht und an­ge­wen­det wer­den.

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Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wien

Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wien der 1990er Jahre Do­ris Gödl

Ideo­lo­gi­sche Trans­for­ma­tions­pro­zesse Der eng­li­sche His­to­ri­ker Eric Hobs­bawm hat das ver­gan­gene Jahr­hun­dert als ›Jahr­ hun­dert der Ex­treme‹ be­schrie­ben: »The world, or large parts of it, is being chan­ ged by vio­lence« (Hobs­bawm 1995: 570). Am Bei­spiel des po­li­ti­schen Zer­falls des ehe­ma­li­gen Ju­go­sla­wien soll ge­zeigt wer­den, wie po­li­ti­sche Trans­for­ma­tions­pro­ zesse unter Druck ge­ra­ten und ge­walt­tä­tig im­plo­die­ren. Das Ju­go­sla­wien nach Ti­tos Tod im Jahr 1980 ist von zwei sich über­lappen­den Ent­wick­lun­gen ge­kenn­zeich­net. Wäh­rend An­fang der 1980er Jahre das kom­mu­nis­ ti­sche Sys­tem auf­grund so­zia­ler, wirt­schaft­li­cher und po­li­ti­scher Fak­to­ren im­mer mehr in Be­dräng­nis kommt, und sich Un­ge­wiss­heit und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit in den Men­schen breit macht, be­nüt­zen na­tio­na­lis­ti­sche Ideo­lo­gen und Ideo­lo­gin­nen das ent­stan­dene Va­ku­um, um ihre Ideo­lo­gien als ret­tende In­sel an­zu­bie­ten. Dies be­deu­tet im We­sent­li­chen keine ra­di­kale Än­de­rung, son­dern es wird eine au­to­ri­täre gegen eine na­tio­na­lis­ti­sche Ideo­lo­gie aus­ge­tauscht. Die Be­völ­ke­rung, die sich an diese Art und Weise des po­li­ti­schen Ma­nö­vrie­rens an­ge­passt hat, ist wie ein Spiel­ball in den po­li­tisch-ideo­lo­gi­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, wo­bei das Na­ tio­nale bzw. Pro­gramme zur Schaf­fung von na­tio­na­len Wahr­hei­ten im Mit­tel­punkt ste­hen. Da­mit zeich­net sich die po­li­ti­sche Ka­ta­stro­phe be­reits ab: An die Stelle ei­ ner So­li­da­ri­sie­rung der de­mo­kra­ti­schen Kräfte tritt eine Ent­so­li­da­ri­sie­rung ent­lang na­tio­na­ler Li­nien. Auf diese Weise kommt es statt ei­ner Ab­löse des kom­mu­nis­ti­ schen Sys­tems zu ei­ner Zer­schla­gung der Viel­völ­ker­staa­tes. »Das war die Stunde der al­ten und neuen Macht­eli­ten, die den na­tio­na­lis­ti­schen Zug kräf­tig in Schwung brach­ten, die Kon­trolle über die Me­dien an sich ris­sen und ihren je­wei­li­gen Völ­ kern die Angst vor den an­de­ren im­plan­tier­ten.« (Be­ham 1994: 125) Die Po­li­tik wird ›ethni­siert‹, in­dem die ei­gene eth­ni­sche Gruppe adres­siert wird. Die Folge ist eine Po­li­ti­sie­rung, in die Frage der eth­ni­schen Zu­ge­hö­rig­keit zum zen­tra­len Iden­ ti­fi­ka­tions­merk­mal wird (vgl. Wie­land 2000). Die nach dem zweiten Weltkrieg ge­

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bil­dete ›ju­go­sla­wi­sche Iden­ti­tät‹ er­weist sich als in­sta­bil und zer­fällt in ser­bi­sche, kroa­ti­sche und bos­ni­sche Iden­ti­tä­ten, die pri­mär über die Re­li­gion und Ter­ri­to­rium kon­stru­iert wer­den. Es ent­wi­ckelt sich eine Dy­na­mik zwi­schen Re­li­gion, Ter­ri­to­ rium und ei­ner ›Blut und Bo­den‹ Ideo­lo­gie, die nicht nur zum Zer­fall des Lan­des, son­dern zu ei­ner nach­hal­ti­gen Zer­stö­rung des ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­halts führt (vgl. Gödl 2007). Heu­te, fast 20 Jahre nach Kriegs­en­de, le­ben die Men­schen in eth­nisch homo­ge­nen Na­tio­nal­staa­ten, oder, wie im Fall der bos­ni­schen Fö­de­ ra­tion, in eth­nisch se­gre­gier­ten Ge­sell­schaf­ten, de­ren Tren­nungs­li­nien durch den Krieg ge­zo­gen und im Frie­dens­ab­kom­men von Day­ton 1995 fest­ge­schrie­ben wur­ den. Na­tio­na­lis­mus, Krieg und Ge­walt ha­ben den Grund­stein für die ter­ri­to­riale und po­li­ti­sche Neu­ord­nung im ehe­ma­li­gen Ju­go­sla­wien ge­legt. In Bos­nien, wo die ge­lebte Viel­falt auf­grund der eth­ni­schen Zu­sam­men­set­zung der Be­völ­ke­rung vor dem Krieg All­tag war, hat der ge­walt­tä­tige Na­tio­na­lis­mus ein be­son­de­res Aus­maß an­ge­nom­men: der Ver­such eine eth­ni­sche Gruppe zu zer­stö­ren und aus­zu­lö­schen. Die von ser­bi­schen (para)militärischen Trup­pen durch­ge­führ­ten Mas­sen­ver­ge­wal­ ti­gun­gen an mus­li­mi­schen Frauen und die Er­mor­dung von mus­li­mi­schen Män­nern im Juli 1995 in Sre­be­nica sind Bei­spiele für den eth­ni­schen Na­tio­na­lis­mus, der Ver­nich­tung und Zer­stö­rung zum Ziel hat. In die­sem Bei­trag be­schreibe ich Rolle und Funk­tion von Öf­fent­lich­keit in ge­ walt­tä­tig zer­fal­len­den Ge­sell­schaf­ten. Die Ana­lyse der na­tio­na­lis­ti­schen Ideo­lo­gie, die als zen­trale Weg­be­rei­te­rin von Krieg und Ge­walt iden­ti­fi­ziert wur­de, wird aus ei­ner Gen­der Per­spek­tive vor­ge­nom­men, da sie auf die sym­bo­li­sche Re­prä­sen­tanz von Frauen ab­zielt und diese po­li­tisch in den Dienst nimmt. In mei­nen Ana­ly­ sen folge ich dem kom­mu­ni­ka­tions­theo­re­ti­schen An­satz von Eli­sa­beth Klaus, die Öf­fent­lich­keit als ge­sell­schaft­li­chen Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zess be­schreibt (vgl. Klaus 2001). Diese Selbst­ver­stän­di­gung, so meine Ar­gu­men­ta­tion, wird im Falle des ehe­ma­li­gen Ju­go­sla­wien zu ei­nem po­li­tisch um­strit­te­nen Pro­zess, in dem die he­ge­mo­nial ge­wor­dene na­tio­nale Öf­fent­lich­keit durch fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­ lich­kei­ten her­aus­ge­for­dert wird. Am Bei­spiel des in Ser­bien und Kroa­tien am Be­ ginn der 1990er Jahre ent­ste­hen­den ›eth­ni­schen Na­tio­na­lis­mus‹ zeichne ich die öf­fent­lich ge­führ­ten Kon­tro­ver­sen zwi­schen he­ge­mo­nia­ler Macht und trans- und inter­na­tio­na­ler Gegen­macht am Bei­spiel der hef­tig ge­führ­ten Aus­ein­an­der­set­zun­ gen um die An­er­ken­nung der Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen als Kriegs­ver­bre­chen nach. Im Ab­schnitt ›Öf­fent­lich­keit als ge­sell­schaft­li­cher Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­ zess‹ be­schäf­tige ich mich mit der ideo­lo­gi­schen und po­li­ti­schen Ver­ein­nah­mung von Frauen durch eine na­tio­na­lis­ti­sche und ethni­sierte Po­li­tik (vgl. Klaus 2001). Da­bei fo­kus­siere ich zu­nächst auf die Ana­lyse des sym­bo­li­schen Trans­for­ma­tions­ pro­zes­ses aus ei­ner Gen­der Per­spek­ti­ve, um den eth­ni­schen Na­tio­na­lis­mus als po­ li­ti­schen Mo­tor für ei­nen ge­sell­schaft­li­chen Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zess dar­zu­ stel­len, in dem der Kör­per der Frauen zum ideo­lo­gi­schen und rea­len Schlacht­feld wird.

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Der kom­mu­ni­ka­tions­theo­re­ti­sche An­satz von Eli­sa­beth Klaus dient mei­ner Ana­lyse als theo­re­ti­sche Fo­lie, um die Dy­na­mik zwi­schen der ›Ethni­sie­rung von Po­li­tik‹ und der ›Po­li­ti­sie­rung der Eth­nien‹ als zen­tra­len Gegen­stand ge­sell­schaft­ li­cher und po­li­ti­scher Kon­tro­ver­sen im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wien zu be­schrei­ben. Im Ver­lauf der po­li­ti­schen Er­eig­nisse zwi­schen Mitte der 1980er und An­fang der 1990er Jahre wird in Ju­go­sla­wien ein ›eth­ni­scher Na­tio­na­lis­mus‹ he­ge­mo­nial, der Frauen po­li­tisch und mi­li­tä­risch in­stru­men­ta­li­siert. Sie wer­den als Sym­bol der Na­ tion, als Be­wah­re­rin der na­tio­na­len Tra­di­tion und als Hü­te­rin der eth­ni­schen Gren­ zen öf­fent­lich in­sze­niert (vgl. An­thi­as/Yu­val-Da­vis 1989). Da­mit rü­cken sie in den Fo­kus ei­ner ethni­sier­ten Po­li­tik, für wel­che die eth­ni­sche Homo­ge­ni­tät der Na­tion po­li­tisch und mi­li­tä­risch zum obers­ten Ziel wird. Die Ana­lyse des ›eth­ni­schen Na­ tio­na­lis­mus‹ aus ei­ner Gen­der­per­spek­tive macht deut­lich, dass die na­tio­na­lis­ti­sche Rhe­to­rik und Pro­pa­ganda als öf­fent­li­che Vor­bo­ten für Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen an­ ge­se­hen wer­den kön­nen.

Öf­fent­li­che ge­sell­schaft­li­che ­Selbstver­stän­di­gungs­pro­zesse Der wäh­rend der Tito Ära be­frie­dete Na­tio­na­lis­mus der ›Ein­heit und Brü­der­lich­ keit‹, wird nach sei­nem Tod durch eine Po­li­tik der Ethni­sie­rung er­setzt. War die Frage der eth­ni­schen Zu­ge­hö­rig­keit im so­zia­lis­ti­schen Ju­go­sla­wien der ›ju­go­sla­ wi­schen Iden­ti­tät‹ unter­ge­ord­net, wird sie ab Mitte der 1980er Jahre zum be­deu­ ten­den ideo­lo­gi­schen und po­li­ti­schen Fak­tor. Im Pro­zess der Homo­ge­ni­sie­rung be­ginnt die Ge­sell­schaft sich in ein ›Wir‹ und ein ›Sie‹ zu spal­ten. Da­bei wird der an sich neu­trale Unter­schied zwi­schen den eth­ni­schen Grup­pen po­li­tisch und ideo­lo­gisch in­stru­men­ta­li­siert und in ein ›Freund-Feind‹ Ver­hält­nis ver­wan­delt. Frauen wer­den in die­sem Trans­for­ma­tions­pro­zess zur be­son­de­ren Ziel­scheibe na­ tio­na­lis­ti­scher Ver­ein­nah­mung. Am Bei­spiel der me­dia­len Dar­stel­lung von Frauen am Be­ginn des Krie­ges in Kroa­tien wird die ideo­lo­gi­sche In­stru­men­ta­li­sie­rung der Frauen dar­ge­stellt und ana­ly­siert. Als der Krieg im Jahr 1991 aus­bricht, wird die im Ent­ste­hen be­grif­fene Na­ tion me­dial durch he­roi­sche Bil­der jun­ger Frau­en, die be­reit wa­ren für die junge Na­tion zu ster­ben, re­prä­sen­tiert (vgl. Kesić 2000). Nach der Un­ab­hän­gig­keit Kroa­ tiens, die 1992 er­folg­te, ist die ›junge Na­tion‹ da­bei, den Krieg zu ver­lie­ren. Nun ist es nicht mehr die he­roi­sche, son­dern die ›ge­fal­lene Frau‹ die ›Hure‹, wel­che die Na­tion sym­bo­li­siert. Denn, so der Jour­na­list Iv­ko­sic Mi­lan, ›nur Frauen er­ge­ ben sich ihrem Schick­sal kampf­los‹ (vgl. Iv­ko­sic 1992). Auf ei­ner sym­bo­li­schen Ebene wird da­mit die Ver­ant­wor­tung für die mi­li­tä­ri­sche Nie­der­lage auf die Frauen ver­scho­ben, die auf diese Weise ei­nem na­tio­na­len Ste­reo­typ unter­wor­fen und öf­fent­lich at­ta­ckiert wer­den. »Wo­men,s bo­dies be­came first sym­bo­lic, than real

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batt­le­fields, on which all kinds of wounds, di­scri­mi­na­tion and vio­lence can be in­ flic­ted.« (Kesić 2000:21) In die­sem Kon­text wer­den Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen als ›na­tio­na­lis­tic of­fense‹, und nicht als Ge­walt von Män­nern gegen­über Frau­en, ver­ stan­den. (vgl. Ja­lu­sic 1994) Diese Ver­ge­wal­ti­gungs­me­ta­pher spielt in Folge eine wich­tige Rolle in der Mi­li­ta­ri­sie­rung der Ge­sell­schaf­ten, denn mit dem Bild der ›ver­ge­wal­tig­ten Na­tion‹ wer­den in Folge Krieg, Ge­walt und Ge­walt­ex­zesse le­gi­ti­ miert. (vgl. Ja­lu­sic 1994) Die me­diale Öf­fent­lich­keit leis­tet ei­nen wich­ti­gen Bei­trag zur Ver­brei­tung die­ ser Me­ta­pher. Sie zeich­net ein Bild vom Krieg, in dem Freund und Feind klar unter­schie­den und für die Kriegs­ver­bre­chen die je­weils an­dere Gruppe ver­ant­wort­ lich ge­macht wird. So wer­den die Be­richte über Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen auf der ei­nen Seite ta­bui­siert, die Stim­men der Op­fer zum Schwei­gen ge­bracht. Auf der an­de­ren Seite macht eine fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­keit dar­auf auf­merk­sam, dass das Bild der ver­ge­wal­tig­ten Frau zum »me­dium for every sort and kind of po­ li­ti­cal ab­use and an un­thin­ka­ble por­no­gra­phic de­sire of a (num­ber) of scrib­blers« wird. (Kašić in Kesić et al. 2003: 13) Der wei­bliche Körper, so die Jour­nal­is­tin Ves­na Kesić, wird zum ideo­lo­gis­chen und re­al­en Schlacht­feld in dies­em Krieg. »Their bodies have been turned in­to a sym­bolic war front on which war­rior men prove their two­fold su­prem­acy: as mem­bers of a war­ring side and as the sex that sends a mes­sage to the en­emy that it is ca­pable of de­feat­ing and hu­mil­ia­ t­ing him on the body of his wife, the re­pro­duc­tive nu­cle­us and sym­bolic prop­erty that has to be de­stroyed in or­der to show who is the strong­er.« (Kesić et al. 2003: 42) Die­ ser fe­mi­nis­ti­sche Gegen­dis­kurs führt in der mitt­ler­weile ›na­tio­na­lis­tisch-kon­di­tio­ nier­ten‹ Ge­sell­schaft der 1990er Jahre zum Kon­flikt, der öf­fent­lich aus­ge­tra­gen Teil ei­nes ›Ver­stän­di­gungs­pro­zes­ses der Ge­sell­schaft über sich selbst‹ wird (vgl. Klaus 2001). Am Be­ginn der 1990er Jahre be­stimmt in Ju­go­sla­wien vor­ran­gig eine na­tio­na­lis­tisch aus­ge­rich­tete Po­li­tik auf wel­che Art und Weise po­li­tisch re­le­vante The­men öf­fent­lich dar­ge­stellt und ver­han­delt wer­den. Eli­sa­beth Klaus ver­weist in ihrer Be­schrei­bung von Teil­öf­fent­lich­kei­ten auf die Be­deu­tung und das In­ein­an­ der­wir­ken unter­schied­li­cher ge­sell­schaft­li­cher Kräf­te. »Die do­mi­nan­ten In­sti­tu­tio­ nen des bür­ger­li­chen Staa­tes wie Re­gie­run­gen, Par­la­mente und Ge­richte be­stim­ men ebenso wie auch die Mas­sen­me­dien ge­sell­schaft­li­che The­ma­ti­sie­rungs- und Ver­stän­di­gungs­pro­zesse massgeblich mit.« (Klaus 2001: 22) Vor die­sem Hin­ter­ grund iden­ti­fi­ziert Klaus ›Teil­öf­fent­lich­kei­ten‹, die sich auf ›Ba­sis ge­mein­sa­mer so­zia­ler Er­fah­run­gen‹ kons­ti­tu­ie­ren. »Teil­öf­fent­lich­kei­ten [. . .] sind unter an­de­ rem schicht-, ge­ne­ra­tio­nen-, ge­schlechts- und kul­tur­spe­zi­fisch. Teil­öf­fent­lich­kei­ten zeich­nen sich durch ihre je­wei­li­gen spe­zi­fis­ chen Dis­kus­sions­wei­sen und Kom­mu­ ni­ka­tions­for­men aus.« (Klaus 2001: 23) Die­ses Kon­zept der Teil­öf­fent­lich­kei­ten dient als Vor­lage für die Be­schrei­bung von fe­mi­nis­ti­schen Gegen­öf­fent­lich­kei­ten im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wien.

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Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten 1 Als sich die krie­ge­ri­sche Ge­walt am Be­ginn der 1990er Jahre in Ju­go­sla­wien ab­ zeich­net, be­gin­nen Men­schen gegen Krieg und Na­tio­na­lis­mus zu demons­trie­ren. Die größ­ten Mas­sen­demons­tra­tio­nen fin­den 1991 in Belgrad statt. Als die Re­gie­ rung die Pres­se­frei­heit ein­schränkt und un­ab­hän­gige Me­dien star­ken Re­pres­sio­nen aus­setzt, ge­hen mehr als hun­dert tau­send Men­schen auf die Straße um zu pro­tes­tie­ ren. Die Pro­teste wer­den von der Po­li­zei und der Ar­mee mit Ge­walt auf­ge­löst. In mei­nem Bei­trag kon­zen­triere ich mich auf den Wi­der­stand der Frau­en, da sie von der Ge­walt mehr­fach be­trof­fen sind. Sie wer­den auf der sym­bo­li­schen Ebene die Frauen zu ›Hü­te­rin­nen der Na­tion‹ um­ge­deu­tet und da­mit zur rea­len Ziel­ scheibe ei­nes ge­walt­tä­tig es­ka­lie­ren­den Na­tio­na­lis­mus ge­macht. Der weib­li­chen Kör­per wird zum ›rea­len Schlacht­feld‹ se­xua­li­sier­ter Ge­walt (vgl. Kesić 2000). Da­gegen leis­ten Frauen Wi­der­stand. Sie grei­fen mit ›wi­der­spens­ti­gen Prak­ti­ken‹ in das po­li­ti­sche Ge­sche­hen ein (vgl. Fra­ser 1994). In­tel­lek­tuel­le, Ak­ti­vis­tin­nen oder Frau­en­grup­pen stel­len mit ihren Ak­ti­vi­tä­ten den ge­sell­schaft­li­chen Kon­sens in Frage und for­dern die po­li­ti­sche Macht Deu­tungs­macht her­aus. Zwei For­men von ›wi­der­spens­ti­gen Prak­ti­ken‹ werde ich in mei­nem Bei­trag be­schrei­ben. Die Form des in­di­vi­du­el­len Pro­tests, des sich Ein­mi­schens auf­grund ei­nes kri­ti­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses werde ich an­hand der be­rühmt ge­wor­de­nen ›Fünf Hexen‹ aus Za­greb be­schrei­ben. Es ist das Bei­spiel von Zi­vil­cou­ra­ge, in dem diese fünf Frauen (Jour­na­lis­tin­nen, Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Schrift­stel­le­rin­nen) sich mit kri­ti­schen Bei­trä­gen in den öf­fent­li­chen Dis­kurs ein­schal­ten und da­mit zum na­tio­na­len Feind­bild wer­den. Die kol­lek­tive Form des Wi­der­stands, wird am Bei­spiel des ›Cen­ter for Wo­men War Vic­tims‹ be­schrie­ben. Das Zen­trum wird 1993 in Za­greb von ei­ner Handvoll Ak­ti­vis­tin­nen mit dem Ziel ge­grün­det, be­trof­fe­nen Frauen zu hel­fen und eine kri­ti­ sche Öf­fent­lich­keit her­zu­stel­len. Beide For­men kön­nen mit Eli­sa­beth Klaus als ›mitt­lere Öf­fent­lich­kei­ten‹ an­ge­ se­hen wer­den. Wie noch zu zei­gen ist, nut­zen die be­schrie­be­nen Öf­fent­lich­kei­ten die Ver­bin­dun­gen zu an­de­ren Teil­öf­fent­lich­kei­ten, um ihre An­lie­gen po­li­tisch zu pro­pa­gie­ren (vgl. Klaus 2001). Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten wer­den so­ mit Teil ei­ner ›kom­ple­xen Öf­fent­lich­keit‹, de­ren he­ge­mo­niale Deu­tungs­macht sie je­doch nicht bre­chen kön­nen. »Im kul­tu­rel­len Kampf um ge­sell­schaft­li­che Deu­ tungs­macht ha­ben kom­plexe Öf­fent­lich­kei­ten weit mehr Ge­wicht als mitt­lere Öf­ fent­lich­kei­ten und diese wie­derum kön­nen ihren In­ter­es­sen eher Aus­druck ver­lei­ hen als ein­fa­che Öf­fent­lich­kei­ten.« (Klaus 2001: 26)

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Der Kampf der Frauen gegen die na­tio­na­lis­ti­sche Zu­rich­tung Na­tio­na­lis­mus, so die An­thro­po­lo­gin Svet­lana Slapšak (1997), ist der größte Feind der Frau­en­be­we­gung. Und doch hat der ag­gres­sive Na­tio­na­lis­mus in Ju­go­sla­wien am Be­ginn der neun­zi­ger Jahre des letz­ten Jahr­hun­derts we­sent­lich zur so­zia­len und po­li­ti­schen Mo­bi­li­sie­rung von Frauen bei­ge­tra­gen. Wäh­rend na­tio­na­lis­ti­sche Füh­rer sich ei­ner Hass­spra­che be­die­nen, um ihr na­tio­na­les Pro­jekt mit Ge­walt durch­zu­set­zen, mo­bi­li­sie­ren Frauen gegen das na­tio­nale Pro­jekt. Un­ab­hän­gig von eth­ni­scher, po­li­ti­scher oder so­zia­len Zu­ge­hö­rig­keit leis­ten Frauen schon am Be­ ginn der neun­zi­ger Jahre in Belgrad, Za­greb, Sa­ra­jevo oder Ljubl­jana Wi­der­stand gegen Ras­sis­mus, Na­tio­na­lis­mus und Kriegs­het­ze. Als die po­li­ti­sche Füh­rung in Belgrad und Za­greb die Frauen zur na­tio­na­len ›Pflicht­er­fül­lung – Kin­der zu ge­ bä­ren und ihre Söhne dem Land zu op­fern‹ – auf­ruft, wird der Wi­der­stand grö­ßer. Nicht nur be­kannte In­tel­lek­tuelle wie die Schrift­stel­le­rin­nen Sla­venka Dra­ku­lic oder Du­bravka Ugrešić tre­ten gegen diese na­tio­na­lis­ti­schen Ver­ein­nah­mungs­ver­ su­che der Frauen auf, auch fe­mi­nis­ti­sche Ak­ti­vis­tin­nen und un­zäh­lige Frau­en­grup­ pen mo­bi­li­sie­ren gegen diese ex­treme Form ei­ner pa­triar­cha­len Po­li­tik. So for­dern unter­schied­li­che Frau­en­grup­pen, etwa die ›Wo­men in Black‹ (Belgrad), ›Wo­men to Wo­men Sa­ra­jevo‹ oder das ›Cen­ter for Wo­men War Vic­tims‹ (Za­greb), die po­ li­ti­sche Macht her­aus und ver­su­chen mit viel­fäl­ti­gen Ak­tio­nen die inter­na­tio­nale Ge­mein­schaft auf die Si­tua­tion im Land auf­merk­sam zu ma­chen. »We wanted our pres­ence to be VIS­IBLE, not to be seen as some­thing ›nat­u­ral‹, as part of a wom­an’s role. We wanted it to be clear­ly un­der­stood that what we were do­ing was our po­lit­i­cal choice, a rad­i­cal crit­i­cism of the pa­tri­archal, mi­li­tar­ist re­gime and non-vi­o­lent act of re­sis­tance to pol­icies that de­stroy cities, kill peo­ple, and an­ni­hi­late hu­man re­la­tions.« (­Mlad­je­no­vic/Hug­hes 1999: 5)

Als die sys­te­ma­ti­schen Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen in Bos­nien an die Öf­fent­lich­keit drin­gen, ver­stärkt sich der Wi­der­stand der Frau­en. Ob es die ›Wo­men in Black‹, die ›An­ti­war Cam­paign Croa­tia‹ oder das ›Cen­ter for Wo­men War Vic­tims‹ sind, sie alle pro­tes­tie­ren gegen die sys­te­ma­ti­sche Ver­ge­wal­ti­gung mus­li­mi­scher Frauen durch ser­bi­sche Streit­kräf­te. Paul Salz­man (1998) hat die sys­te­ma­ti­sche Ver­ ge­wal­ti­gung mus­li­mi­scher Frauen als mi­li­tä­ri­sche Stra­te­gie be­schrie­ben, die be­ reits vor Aus­bruch des Krie­ges ge­plant war und die ›Be­freiung‹ des ser­bi­schen Ter­ri­to­riums von der mus­li­mi­schen Be­völ­ke­rung zum Ziel hat­te. Alle am Krieg be­tei­lig­ten Par­teien ha­ben se­xuelle Ge­walt gegen Frauen aus­ge­übt. Die Mas­sen­ ver­ge­wal­ti­gun­gen an mus­li­mi­schen Frauen sind je­doch pri­mär von ser­bi­schen Trup­pen durch­ge­führt wor­den. Die Kri­tik der Frauen rich­tet sich gegen se­xuel­len Ge­walt als Stra­te­gie des ›ethnic cle­an­sing‹ und ver­weist in ihren Ana­ly­sen dar­auf, dass die Ver­ge­wal­ti­gun­gen nicht vom ›all­ge­mei­nen Ser­ben‹, son­dern vom ›all­ge­

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mei­nen Sol­da­ten‹ be­gan­gen wer­den (vgl. Kesić et al. 2003). Wenn die Grün­de­rin der Bel­gra­der Frau­en­gruppe ›Wo­men in Black‹, Lepa Mlad­je­no­vic, die An­er­ken­ nung al­ler Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fer for­dert, dann stellt sie gleich­zei­tig fest, dass die meis­ten Ver­ge­wal­ti­gun­gen durch ser­bi­sche Sol­da­ten be­gan­gen wur­den. (vgl. Mlad­je­no­vic 1999) Mit die­ser Aus­sage bricht die Ak­ti­vis­tin mit ei­nem na­tio­na­len Tabu und wird in Folge in der ser­bi­schen Öf­fent­lich­keit zur ›Lan­des­ver­rä­te­rin‹ er­klärt. Frau­en­grup­pen in Za­greb, Sa­ra­jevo oder Ljubl­jana so­li­da­ri­sie­ren sich mit Mlad­je­no­vic und ver­stär­ken ihre Zu­sam­men­arbeit. Diese Form des trans­ na­tio­na­len Pro­tests wird in der me­dia­len Öf­fent­lich­keit als ›un­pa­trio­tisch‹ und als ›Ver­rat am Va­ter­land‹ ge­brand­markt, da er zu­gleich die he­ge­mo­niale Macht der ›po­li­ti­sier­ten Eth­nien‹ in Frage stellt. Der Druck auf die Ak­ti­vis­tin­nen ver­ stärkt sich, als ihre Ak­ti­vi­tä­ten, ins­be­son­dere der Kampf um die An­er­ken­nung der Ver­ge­wal­ti­gun­gen als Kriegs­ver­bre­chen, inter­na­tio­nale Auf­merk­sam­keit er­hal­ten. Unter dem Ti­tel ›Rape as Wea­pon‹ hat die Frau­en­lobby Za­greb im De­zem­ber 1992 ein Auf­ruf ver­fasst, um die Inter­na­tio­nale Ge­mein­schaft auf die Si­tua­tion der mus­li­mi­schen Frauen in Bos­nien auf­merk­sam zu ma­chen. »The information, go­ing around at present, says that Ser­bian military and paramilitary forces on the oc­cu­pied ter­ri­to­ries of Bos­nia have women’s camps in which rape and vio­lence against wo­men are the regular prac­tice.« (Kesić et al. 2003: 181) Die­sem Auf­ruf schlie­ßen sich In­tel­lek­tuelle an, sie so­li­da­ri­sie­ren sich mit den An­lie­gen, wo­für sie öf­fent­lich ge­brand­markt wer­den. »They were re­vi­led or ma­king their home nation vul­ne­ra­ble to the cri­ti­cism of ot­her countries.« (Pav­lo­vic 1999: 136) Mit die­sem State­ment wer­den im De­zem­ber 1992 fünf Fe­mi­nis­tin­nen in der na­tio­ na­lis­tisch aus­ge­rich­te­ten Wo­chen­zei­tung Glo­bus für ihr po­li­ti­sches En­ga­ge­ment öf­fent­lich at­ta­ckiert. Unter dem Ti­tel ›Croa­tia’s Fe­mi­nists Rape Croa­tia‹ sind Sla­ venka Dra­ku­lic und Du­bravka Ug­re­sic (Schrift­stel­le­rin­nen), Rada Ive­ko­vic (Phi­ lo­so­phin), Vesna Kesić und Je­lena Lov­ric (Jour­na­lis­tin­nen) für ihr fe­mi­nis­ti­sches En­ga­ge­ment an­ge­grif­fen wor­den. Den Frauen wird vor­ge­wor­fen, dass sie Kriegs­ ver­ge­wal­ti­gun­gen als Ge­walt von Män­nern gegen­über Frauen dar­stel­len, wo es sich doch um na­tio­nale Ver­bre­chen von ser­bi­schen Män­nern an mus­li­mi­schen und kroa­ti­schen Frauen handle (vgl. Mlad­je­no­vic 1999). Der Ti­tel des Bei­tra­ges sollte nicht nur zu ei­ner Dä­mo­ni­sie­rung der Ak­ti­vis­tin­nen bei­tra­gen, son­dern diese auch als na­tio­nale Ver­rä­te­rin­nen ab­bil­den. Die­ser öf­fent­li­che An­griff wird mit An­ga­ben per­sön­li­cher Daten, etwa der Na­tio­na­li­tät, dem Fa­mi­lien­stand, po­ li­ti­sche Zu­ge­hö­rig­keit, dem Al­ter, der Wohnadresse (!) oder den Rei­se­ak­ti­vi­tä­ten ins Aus­land unter­legt, um das na­tio­nale Feind­bild der Ver­rä­te­rin zu kon­stru­ie­ren. In per­sön­li­chen Ge­sprä­chen mit Vesna Kesić und Sla­venka Dra­ku­lic konnte die Au­to­rin die­ses Bei­trags er­fah­ren, dass diese in Folge ihrer Ak­ti­vi­tä­ten phy­sisch at­ta­ckiert, ver­bal be­droht und öf­fent­lich wie­der­holt als die ›Fünf Hexen‹ dar­ge­ stellt wur­den. Ei­nige der Ak­ti­vis­tin­nen ver­las­sen das Land, was zu ei­ner er­neu­ten Stig­ma­ti­sie­rung als ›Lan­des­ver­rä­te­rin­nen‹ führt.

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Die Jour­na­lis­tin Vesna Kesić bleibt in Kroa­tien und grün­det mit ei­ner Gruppe an­de­rer Frauen 1992 das ›Cen­ter for Wo­men War Vic­tims‹ in Za­greb. Das Zen­trum wird zu ei­ner psy­cho­so­zia­len Ver­sor­gungs­ein­rich­tung für kriegs­trau­ma­ti­sierte Frau­ en, und setzt sich po­li­tisch für die An­lie­gen der Frauen ein. Sie ver­ste­hen Trauma in ei­nem po­li­ti­schen Kon­text, wo­durch die in­di­vi­du­elle Er­fah­rung in ei­nen kol­lek­ti­ ven Zu­sam­men­hang ein­ge­bet­tet wer­den kann. Die ›Rücküber­set­zung‹ in­di­vid­u­ell­er Er­fah­rung­en in eine pol­i­tische Bots­chaft bil­det den Fo­kus der Ar­beit des Zen­trums. »We want the ra­pists to be pun­ished as war crim­in­ als and we want rape to fi­nal­ ly be­come a clear­ly de­fined crime against hu­man­ity, hu­mane­ness, and the fe­male sex.« (Kesić et al. 2003: 43) Der Kampf um die An­er­ken­nung von Kriegs­ver­ge­wal­ ti­gun­gen als Kriegs­ver­bre­chen wird auf brei­ter Ba­sis wei­ter­ge­führt und rich­tet sich ver­stärkt an die inter­na­tio­nale Ge­mein­schaft. Ak­ti­vis­tin­nen und Re­prä­sen­tan­tin­nen inter­na­tio­na­ler Or­ga­ni­sa­tio­nen, etwa Rhonda Co­pe­lon, eine der Mit­be­grün­de­rin­nen des ›Wo­men Cau­cus for Gen­der Jus­tice‹, neh­men die For­de­rung auf und be­gin­nen mit der po­li­ti­schen Lob­by­arbeit auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne. Artikel 5 der Sta­tu­ten des ›Inter­na­tio­nal Criminal Court for the former Yu­gos­la­via‹ (ICTY), in dem die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen in Bos­nien als Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit an­ er­kannt wer­den, ist unter an­de­rem Aus­druck ei­nes na­tio­nal und inter­na­tio­nal ge­ führ­ten Kamp­fes von Fe­mi­nis­tin­nen, Frau­en­grup­pen und Frau­en­netz­wer­ken. Das ›In­ter­na­tion­al Criminal Tribunal for the Former Yu­go­sla­via‹ Im Ok­to­ber 1992 wird vom ›Uni­ted Na­ti­ons Se­cu­rity Coun­cil‹ eine Ex­per­ten­kom­ mis­sion ein­ge­setzt, um In­for­ma­tio­nen über Kriegs­ver­bre­chen im ehe­ma­li­gen Ju­go­ sla­wien zu er­hal­ten. Im Fe­bruar 1993 stellt die Kom­mis­sion in ihrem Be­richt fest, dass es auf dem Ter­ri­to­rium des ehe­ma­li­gen Ju­go­sla­wien zu Mas­sen­ver­ge­wal­ti­ gun­gen ge­kom­men ist. »The Commission [. . .] iden­ti­fied 1,100 ca­ses of rape with close to 800 iden­ti­fia­ble vic­tims who gave spe­ci­fic information as to either the pla­ ce, ti­me, or na­mes of per­pe­tra­tors.« (me­dica mon­diale 2009: 14) In ihrem Be­richt schlägt die Kom­mis­sion vor, die sys­te­ma­ti­schen Ver­ge­wal­ti­gun­gen als Me­thode des ›ethnic cle­an­sing‹, und als Ver­let­zung inter­na­tio­nal gül­ti­gen Rechts zu be­han­ deln. Noch be­vor der Be­richt ab­ge­schlos­sen und 1994 ver­öf­fent­licht ist, rich­tet der UN Se­cu­rity Coun­cil im Mai 1993 den ›Inter­na­tio­nal Criminal Court for the former Yu­gos­la­via‹ (IC­TY) mit Sitz in Den Haag ein, um die be­gan­ge­nen Kriegs­ ver­bre­chen recht­lich zu ahn­den. Die Ver­hand­lung und Ver­ur­tei­lung von Kriegs­ ver­ge­wal­ti­gun­gen bil­det ei­nen zen­tra­len Schwer­punkt der Arbeit des Tri­bu­nals. So stan­den im Juli 2009 von den ins­ge­samt 167 ver­han­del­ten Fäl­len, al­leine 67 we­gen Ver­ge­wal­ti­gung oder se­xua­li­sierte Ge­walt gegen Frauen und Män­ner vor Ge­richt. (vgl. me­dica mon­diale 2009) Da­mit ist auch ein zen­tra­les Pro­blem des Tri­bu­nals an­ge­spro­chen, das als Span­nungs­ver­hält­nis von ›ausserhalb und in­ner­halb‹ des ge­ sell­schaft­li­chen Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zes­ses zu ver­ste­hen ist. (vgl. Sto­ver 2007)

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Die Wahr­heits­fin­dung und Recht­spre­chung über be­gan­gene Ver­bre­chen fin­det im Aus­land statt, was dazu bei­trägt, den Streit um die Frage nach Schuld und Ver­ant­ wor­tung nach au­ßen zu ver­la­gern und auf die inter­na­tio­nale Ge­mein­schaft zu pro­ ji­zie­ren. In die­sem Span­nungs­ver­hält­nis wer­den in den Nach­kriegs­ge­sell­schaf­ten ver­ur­teilte Tä­ter als ›na­tio­nale Hel­den‹ ge­fei­ert, Zeu­gin­nen da­gegen als ›Ver­rä­te­ rin­nen‹ be­zeich­net und be­droht (vgl. Dra­ku­lic 2003).

Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten 2 Die zweite Form fe­mi­nis­ti­scher Gegen­öf­fent­lich­keit stellt die Grün­dung des ›Wo­ men’s In­itia­ti­ves for Gen­der Jus­tice‹ in­ner­halb des Inter­na­tio­nal Criminal Court dar. Diese In­itia­ti­ve, die von Ak­ti­vis­tin­nen und Re­prä­sen­tan­tin­nen inter­na­tio­na­ler, po­li­ti­scher Or­ga­ni­sa­tio­nen zur Durch­set­zung von Frau­en­rech­ten ge­grün­det wird, hat ab Be­ginn der 1990er Jahre auf die recht­li­che An­er­ken­nung von Kriegs­ver­ge­ wal­ti­gun­gen hin­ge­arbei­tet. Dar­über hin­aus setzt sich der Aus­schuss für die Durch­ set­zung gen­der­sen­si­bler Ge­richts­ver­fah­ren ein, die im Hin­blick auf die Ein­ver­ nahme kriegs­trau­ma­ti­sier­ter Zeu­gin­nen zen­trale Be­deu­tung ha­ben. So geht etwa die Im­ple­men­tie­rung psy­cho­so­zia­ler Be­gleit­pro­gramme für die Zeu­gin­nen wäh­ rend des ge­sam­ten Pro­zess­ver­laufs auf die Arbeit die­ses Aus­schus­ses zu­rück. In Folge wer­den die Zeu­gin­nen, die vor dem ›Inter­na­tio­nal Criminal Tri­bu­nal for the For­mer Yu­gos­la­via‹ (IC­TY) aus­ge­sagt ha­ben, als be­son­dere Form ei­ner fe­mi­nis­ti­schen Gegen­öf­fent­lich­keit be­schrie­ben. Aus Per­spek­tive ei­nes kom­mu­ni­ ka­tions­theo­re­ti­schen An­sat­zes wird der Gerichtsaal zu dem Ort, an dem in­di­vi­du­ elle Er­fah­run­gen öf­fent­lich, und da­mit Teil des ge­sell­schaft­li­chen Selbst­ver­stän­di­ gungs­pro­zes­ses wer­den. Ak­ti­vis­tin­nen aus Belgrad und Za­greb ver­su­chen mit Hilfe des Aus­schus­ses ihren po­li­ti­schen For­de­run­gen Nach­druck zu ver­lei­hen. Die Arbeit der ›Wo­men’s In­itia­tive for Gen­der Jus­tice‹ hat we­sent­lich dazu bei­ge­tra­gen, dass die Kriegs­ver­ ge­wal­ti­gun­gen im ehe­ma­li­gen Ju­go­sla­wien im inter­na­tio­na­len Kon­text dis­ku­tiert wer­den. Die For­de­rung nach gen­der­ge­rech­ten Ge­richts­ver­fah­ren im Falle von Ver­ ge­wal­ti­gungs­ver­fah­ren wird vom Tri­bu­nal auf­ge­nom­men und ein spe­ziel­les Pro­ gramm zum Schutz der Zeu­gin­nen aus­ge­arbei­tet. Viele der Frauen spre­chen vor dem Tri­bu­nal zum ers­ten Mal öf­fent­lich über ihre Er­fah­run­gen, was für sie eine ex­treme Be­las­tungs­si­tua­tion dar­stellt. »Tes­ti­fy­ing in pu­blic ab­out such de­li­cate and sen­si­tive mat­ters, even with cer­tain mea­su­res of pro­tec­ti­on, in the opinion of the Court, al­ways re­pre­sents a risk for pri­vate and per­so­nal li­ves of the wit­nes­ses-vic­tims.« (med­ica mon­diale 2003: 79) »In this re­gard, IC­TY vic­tim-wit­nesses [. . .] usual­ly bring with them in­ter­twined man­i­fes­ta­ tions of in­di­vid­ual and col­lec­tive vic­tim­hood.« (Sto­ver 2007: 5)

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Der Ge­richts­saal wird so zu ei­nem ge­schütz­ten Raum, der sich durch ein be­son­ de­res Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen in­di­vi­du­el­ler Er­fah­rung und öf­fent­li­cher Ver­ hand­lung aus­zeich­net. Die Zeu­gin­nen ver­öf­fent­li­chen nicht nur ihre trau­ma­ti­schen Er­fah­run­gen, sie wei­sen mit ihrem Han­deln die ih­nen zu­ge­wie­sene Iden­ti­tät als Op­fer zu­rück. »I tes­ti­fied be­cause I sur­vi­ved three or four ra­pes; and I said then: ›If I leave this place alive I will speak ab­out ever­yt­hing I sur­vi­ved.‹« (me­dica mon­diale 2003: 56) Die­ser An­spruch ist in­so­fern be­deut­sam, als mit der Zeug­in­ nen­schaft die stän­dige Ge­fahr der Re-traumatisierung ein­her­geht. »No mat­ter how strong you are, no mat­ter how much you are mo­ti­va­ted to tes­tify – of course it is al­ways very hard, stress­ful and trau­ma­ti­zing.« (me­dica mon­diale 2003: 57) Im po­ li­ti­schen Kampf um die An­er­ken­nung die­ser Er­fah­run­gen neh­men die Zeu­gin­nen vor dem Tri­bu­nal eine be­son­dere Rolle ein. In ihrem Auf­tre­ten vor Ge­richt tre­ten sie ak­tiv aus der in ih­nen zu­ge­wie­se­nen Rolle als ›stumme Op­fer‹ her­aus und ver­wan­deln sich in Ak­teu­rin­nen ihrer Ge­schich­te, »as ac­tive agents of change who kno­wingly chose to use inter­na­tio­nal ad­vo­cacy as a per­ so­nal and po­li­ti­cal tool«. (Sen 1999: 189) Mit ihrem Auf­tre­ten vor dem Ge­richt wol­len die Zeu­gin­nen ein öf­fent­li­ches State­ment ab­ge­ben, nicht nur für sich selbst, son­dern auch um ihrem Land zu hel­fen, ei­nen Weg für die Zu­kunft zu öff­nen. »Yet wit­nes­ses long for the op­por­tu­nity to fi­nish their story – to speak of their suf­fe­ring pu­blicly and in their own terms so it may be pu­blicly ack­now­led­ged.« (Mer­tus 2010: 113) Folgt man die­ser An­sicht von Ju­lie Mer­tus, dann wird deut­lich, dass Zeug­in­nen­schaft nicht als individueller Akt ge­deu­tet, son­dern, im Sinne von Re­gina Be­cker-Schmidt, als ›so­zia­les Ler­nen‹ ver­stan­den wer­den kann. »They be­ha­ved as po­li­ti­cally mo­bi­li­zed sur­vi­vors who, through their actions, would in­flu­ence inter­na­tio­nal opinion and help shape the con­tent of inter­na­tio­nal norms.« (Mer­tus 2010: 111) Nach Schät­zun­gen der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion ›me­dica mon­diale‹ ha­ben un­ge­fähr 120 bis 150 Frauen vor dem Tri­bu­nal als Zeu­gin­nen aus­ge­sagt. Diese Frauen ha­ben mit ihrem Auf­tre­ten vor Ge­richt ei­nen wich­ti­gen Bei­trag zur Ent­ste­ hung ei­ner Gegen­öf­fent­lich­keit bei­ge­tra­gen. Zeug­in­nen­schaft be­deu­tet, dass die Tä­ter ver­ur­teilt wer­den. So deu­tet etwa eine Zeu­gin die Be­stra­fung der Tä­ter als eine An­er­ken­nung ihrer leid­vol­len Er­fah­run­gen. »If the court pu­nis­hed them, it would be re­cog­ni­tion of my suf­fe­ring«. (me­dica mon­diale 2003: 52) Auch wenn das Straf­aus­maß von den Zeu­gin­nen manch­mal als zu ge­ring er­ach­tet wird, liegt in der Ver­ur­tei­lung der Tä­ter die An­er­ken­nung des Leids der Frauen und dies hat Aus­wir­kun­gen auf das ge­sell­schaft­li­che Zu­sam­men­le­ben. »It is im­port­ant that there is no ha­tred in us, no ha­tred to­wards an­yo­ne. It is bet­ter to put 10 of them to­day in prison then to have them walk around free­ly, say­ing, here you are, I did this and this and no one said noth­ing to me. Then others will think why couldn’t I do the same to him. [. . .] We are all the same – when you look at Cro­a­tian women, Bos­niak women, and Serb women – we all have same eyes and noses. We are one people.« (me­dica mon­diale 2003: 54)

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Diese Aus­sage ei­ner Zeu­gin ist ge­sell­schafts­po­li­tisch von gro­ßer Re­le­vanz, als sie eine klare Zu­rück­wei­sung der Vor­stel­lung ei­nes ›eth­nisch mo­ti­vier­ten Has­ ses‹ auf Sei­ten der Op­fer dar­stellt. Dies ist umso be­deut­sa­mer, als ver­ur­teilte Tä­ ter in ihren Hei­mat­län­dern als na­tio­nale Hel­den ge­fei­ert wur­den. Als sich etwa der kroa­ti­sche Ge­ne­ral Mirko No­rac im Jahr 2001 vor ei­nem lo­ka­len Ge­richt für be­gan­gene Kriegs­ver­bre­chen ver­ant­wor­ten muss­te, or­ga­ni­sier­ten Kriegs­ve­te­ra­nen Pro­test­ver­an­stal­tun­gen an denen 75.000 Men­schen teil­nah­men. »Es kam zu ei­ner Re­gie­rungs­kri­se, und das ganze Land war für min­des­tens eine Wo­che para­ly­siert.« (Dra­cu­lic 2003: 16) Ein Jahr spä­ter, im April 2002, er­hal­ten Mirko No­rac und an­ dere vom Tri­bu­nal ge­suchte Ge­ne­räle die Eh­ren­bür­ger­schaft der Stadt Split. Diese Bei­spiele zei­gen, dass um die Deu­tung der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit ein ge­sell­schaft­li­cher Streit aus­bricht. Die Kon­flikt­li­nien sind ähn­lich ge­zeich­net wie vor dem Krieg: auf der ei­nen Seite die ›Hel­den des Krie­ges‹, die sich für ihre Ta­ ten ge­sell­schaft­lich fei­ern las­sen und sich für die Wie­der­her­stel­lung ei­ner na­tio­ nal-kon­ser­va­ti­ven Ge­sell­schafts­ord­nung stark ma­chen. Auf der an­de­ren Seite die Op­fer des Krie­ges, die im ge­sell­schaft­li­chen Dis­kurs ver­schwie­gen wer­den. Ihre Er­fah­run­gen und Ge­schich­ten wer­den nicht Gegen­stand ei­nes ge­sell­schaft­li­chen Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zes­ses, da sie aus­ge­blen­det und zum Schwei­gen ge­bracht wer­den. »You return from the camp and then you see in their eyes that ques­ti­on, ›what hap­pe­ned to her?‹ No one asked me, but I see that ques­tion in their eyes.« (me­dica mon­diale 2003: 55) Zeu­gin­nen ha­ben auch den An­spruch aus dem halb-öf­fent­li­chen Raum des Ge­ richts hin­aus­zu­tre­ten und Teil ei­ner ›kom­ple­xen Öf­fent­lich­keit‹ (vgl. Klaus 2001) zu wer­den, in­dem sie ak­tiv gegen die Ta­bui­sie­rung der Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen auf­tre­ten. Die­sen Ak­ti­vie­rungs­pro­zess habe ich als ›vic­tim-ac­ti­vist-tan­dem‹ be­ schrie­ben (vgl. Gödl 2009). In die­sem Pro­zess wer­den die Er­fah­run­gen der Op­fer zu ›Er­fah­run­gen mit Brenn­punkt­cha­rak­ter‹, da ich sie im Sinne von Be­cker-Schmidt und Knapp »als spe­zi­fi­sche Pro­duk­tions­form der Ver­arbei­tung von Rea­li­tät und der ak­ti­ven Re­ak­tion auf diese Rea­li­tät« ver­stehe (Be­cker-Schmidt/Knapp 1987: 68). Die­ser An­satz fo­kus­siert auf die Dy­na­mik zwi­schen agen­cy, Struk­tur und Öf­ fent­lich­keit, wo­bei der Öf­fent­lich­keit in die­sem Bei­trag eine zen­trale Be­deu­tung zu­kommt.

Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten als ­Pol ­ it­ is ­ ier ­ ungsp ­ roz­ esse Die Ent­wick­lung fe­mi­nis­ti­scher Gegen­öf­fent­lich­kei­ten im zer­fal­len­den Ju­go­sla­ wien der 1990er Jahre ver­stehe ich im Sinne von Os­kar Negt und Ale­xan­der Kluge als ›kol­lek­ti­ves Mo­ment‹ so­zia­ler Er­fah­run­gen (vgl. Negt/Kluge 1982). Vor dem Hin­ter­grund des Öf­fent­lich­keits­mo­dells von Eli­sa­beth Klaus werde ich die Be­deu­

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tung die­ses ›kol­lek­tive Mo­ments‹ für Po­li­ti­sie­rungs- und De­mo­kra­ti­sie­rungs­pro­ zesse her­aus­arbei­ten. Mit der Be­schrei­bung fe­mi­nis­ti­scher Gegen­öf­fent­lich­kei­ten habe ich Ak­teu­ rin­nen die­ser Pro­zesse iden­ti­fiz­ iert und Kon­struk­tio­nen ›mitt­le­rer und kom­ple­ xer‹ Öf­fent­lich­kei­ten unter­sucht. Das dy­na­mi­sche Wech­sel­spiel zwi­schen agen­cy, Struk­tur und Öf­fent­lich­keit bil­det den Fo­kus mei­ner Arbeit, da es, so meine The­se, we­sent­lich zur Kon­struk­tion von Gegen­öf­fent­lich­kei­ten bei­trägt und als Aus­druck von Po­li­ti­sie­rungs- und De­mo­kra­ti­sie­rungs­pro­zes­sen ge­deu­tet wer­den. Mit ihren Ak­ti­vi­tä­ten le­gen Ak­ti­vis­tin­nen, Frau­en­grup­pen und Zeu­gin­nen ei­nen ge­sell­schaft­li­chen Kon­flikt of­fen, der zu ei­nem »Kampf zwi­schen un­ver­ein­ba­ren he­ge­mo­nia­len Pro­jek­ten, die nie­mals ra­tio­nal mit­ein­an­der ver­söhnt wer­den kön­ nen« (Mouffe 2007: 31). Im Sinne von Mouf­fe, hat diese Un­ver­söhn­bar­keit de­mo­ kra­tie­po­li­ti­sche Be­deu­tung. Es geht nicht um die Über­win­dung die­ser Gegen­sät­ze, son­dern um eine ›Form der Wir-Sie-Unter­schei­dung, die mit der An­er­ken­nung‹ der Gegen­sätze ein­her­geht (vgl. Mouffe 2007). Diese Wir-Sie-Unter­schei­dun­gen sind ge­sell­schaft­li­che Kon­struk­tio­nen und spie­len eine zen­trale Rolle Po­li­tik und Ge­sell­schaft. Chan­tal Mouffe ruft in ihrem Text dazu auf, diese Gegen­sätze nicht kon­sen­sual zu über­win­den, son­dern sol­che Kon­struk­tio­nen zu ent­wi­ckeln, »dass die de­mo­kra­ti­sche Kon­fron­ta­tion dar­aus Ener­gie zieht« (Mouffe 2007:12). Der im zer­fal­len­den Ju­go­sla­wien der 1990er Jahre ge­führte lei­den­schaft­li­che Kampf der Frauen für die An­er­ken­nung der Kriegs­ver­ge­wal­ti­gun­gen als Kriegs­ ver­bre­chen, ist nicht nur Aus­druck die­ser de­mo­kra­ti­schen Ener­gie, son­dern stellt auch die Grund­lage für in­di­vi­du­elle Po­li­ti­sie­rungs­pro­zesse dar. »Um po­li­tisch zu han­deln, müs­sen Men­schen sich mit ei­ner kol­lek­ti­ven Iden­ti­tät iden­ti­fi­ zie­ren kön­nen die ih­nen eine auf­wer­tende Vor­stel­lung ihrer selbst an­bie­tet. Der po­li­ti­sche Dis­kurs muss au­ßer Pro­gram­men auch Iden­ti­tä­ten an­bie­ten, die der Er­fah­rung der Men­schen ei­nen Sinn ver­lei­hen und die ih­nen Hoff­nung für die Zu­kunft ge­ben.« (Mouffe 2007: 36)

Fe­mi­nis­tin­nen, Ak­ti­vis­tin­nen und Frau­en­grup­pen schaf­fen mit ihren Ak­ti­vi­tä­ten ei­nen öf­fent­li­chen Raum, in dem die he­ge­mo­nia­len weib­li­chen Iden­ti­täts­kon­struk­ tio­nen in Frage ge­stellt wer­den kön­nen. Fe­mi­nis­ti­sche Gegen­öf­fent­lich­kei­ten er­ mög­li­chen ›auf­wer­tende Vor­stel­lun­gen‹ der je­weils ei­ge­nen Iden­ti­tät und ge­ben da­mit den weib­li­chen Er­fah­run­gen ›Sinn und Hoff­nung für die Zu­kunft‹. »Nur wenn ich mehr bin als die plas­ti­sche Per­so­ni­fi­ka­tion ei­ner so­zia­len Rol­le, kann ich er­fah­ren, was so­ziale Zwänge und Zu­mu­tun­gen sind. Nur so kann ich auch Gründe und Fä­hig­kei­ten zum Wi­der­stand ent­de­cken.« (Be­cker-Schmidt/Knapp 1987: 150) Eine so ver­stan­dene Po­li­ti­sie­rung, kann an­hand der Zeu­gin­nen vor dem Tri­bu­nal nach­ge­zeich­net wer­den. Ih­nen ist ge­mein­sam, dass sie ihre Aus­sa­gen nicht nur als Su­che nach in­di­vi­du­el­ler Ge­rech­tig­keit ver­ste­hen, son­dern ge­ne­rell zu ei­ner ge­ rech­te­ren Ge­sell­schaft bei­tra­gen möch­ten.

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Schuss­fol­gernd sehe ich in der Her­aus­bil­dung fe­mi­nis­ti­scher Gegen­öf­fent­lich­ kei­ten wäh­rend der ers­ten Hälfte der 1990er Jahre eine er­folg­rei­che Stra­te­gie zur Mo­bi­li­sie­rung von Frau­en. Das po­li­ti­sche Ziel der An­er­ken­nung von Kriegs­ver­ge­ wal­ti­gun­gen als Kriegs­ver­bre­chen ist mit der Ein­rich­tung des ICTY er­reicht wor­ den. So zeigt etwa die Sta­tis­tik von 2009, dass von den 167 vor dem Tri­bu­nal An­ ge­klag­ten, 67 Män­ner für Ver­ge­wal­ti­gung oder se­xua­li­sierte Ge­walt gegen Frauen und Män­ner an­ge­klagt wa­ren (vgl. me­dica mon­diale 2009). Die Be­reit­schaft der Frau­en, als Zeu­gin­nen gegen diese Män­ner aus­zu­sa­gen, hat we­sent­lich zu de­ren Ver­ur­tei­lun­gen bei­ge­tra­gen. In die­sem Sinne ver­stehe ich die Ge­samt­heit der fe­mi­nis­ti­schen Ak­ti­vi­tä­ten als ›kol­lek­ti­ves Mo­ment‹, wel­ches im Sinne von Chan­tal Mouffe als de­mo­kra­ti­sches Mo­ment zu ver­ste­hen ist. Die be­schrie­be­nen fe­mi­nis­ti­schen Gegen­öf­fent­lich­kei­ten ha­ben we­sent­lich zur Ent­ste­hung die­ses de­mo­kra­ti­schen Au­gen­blicks bei­ge­tra­gen, in­dem sie ei­nen ge­sell­schaft­li­chen Kon­flikt öf­fent­lich ge­macht ha­ben. Dies ist in ei­ner Ge­sell­schaft, die von ei­nem eth­ni­schen Na­tio­na­lis­mus und se­xua­li­sier­ter Ge­ walt ge­prägt ist, schon ziem­lich viel.

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Öffentlichkeiten und Cultural Citizenship

Öf­fent­lich­keit wei­ter den­ken

Öf­fent­lich­keit wei­ter den­ken Bo­ris Rom­ahn

Öf­fent­lich­keit – es gibt kaum ei­nen an­de­ren Schlüs­sel­be­griff der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­ sen­schaft, der neben sei­ner be­harr­li­chen Ver­wei­ge­rung ei­ner kon­sen­sua­len De­fi­ni­tion für sich in An­spruch neh­men dürf­te, mehr Fra­gen als Ant­wor­ten auf­zu­wer­fen. »Zu­ gleich teilt er da­mit das Schick­sal an­de­rer zen­tra­ler Be­griffe des Fa­ches: Er zeich­net sich durch er­heb­li­che Dif­fusi­tät aus«, schreibt Mer­ten (1999: 49), um dann je nach Per­spek­tive (ins­be­son­dere der Pu­blic Re­la­tions) zwi­schen knapp 80 bis 500 De­fi­ni­ tio­nen zu zäh­len. Sys­te­ma­ti­sche Ana­ly­sen gebe es in­des so gut wie gar nicht, mei­nen Pe­ters, Schultz und Wimmel (2007: 205), da­für biete die Li­te­ra­tur aber aus­rei­chend »Hin­weise für die For­mu­lie­rung von Fra­gen und Ver­mu­tun­gen«. Zu­dem kann ge­ rade bei der Be­schäf­ti­gung mit Öf­fent­lich­keit gel­ten: je län­ger diese Be­schäf­ti­gung, desto mehr Fra­gen als Ant­wor­ten er­ge­ben sich. Und: Die Fra­gen­den spre­chen zwar von der Öf­fent­lich­keit, be­ru­fen sich da­bei aber nicht sel­ten auf ganz unter­schied­li­che und zum Teil auch wi­der­sprüch­li­che Kon­zep­te, Mo­delle und Theo­rien. Ge­schick­ter und le­gi­ti­mer wäre es dem­nach, nicht allzu selbst­ver­ständ­lich von der Öf­fent­lich­ keit, son­dern ex­ak­ter »nur« der ei­ge­nen Idee von Öf­fent­lich­keit zu spre­chen, denn: »Dif­fe­rent sets of people who emp­loy these concepts mean very dif­fe­rent things by them – and so­me­ti­mes wit­hout quite rea­li­zing it, mean se­ve­ral things at once.« (Wein­traub 1997: 1 f.) Das be­ginnt be­reits bei der, wie u. a. Eli­sa­beth Klaus be­tont, ent­schei­den­den Fra­ge, ob an­ge­sichts ei­ner lan­gen Ge­schichte öf­fent­li­cher Ex­klu­sion an­geb­ba­rer Grup­pen nicht bes­ser ge­ne­rell von Öf­fent­lich­kei­ten im Plu­ral als der ei­ nen Öf­fent­lich­keit zu spre­chen sei (Klaus 2006: 94). Und es setzt sich fort über teils recht unter­schied­li­che nor­ma­tive Vor­stel­lun­gen da­von, wer an die­ser Öf­fent­lich­keit teil­hat (vgl. Fra­ser 2005), wer ge­mäß wel­cher Modi wel­che Rol­le(n) wahr­nimmt und wel­che Er­geb­nisse da­bei er­zielt wer­den (sol­len), und en­det heute nicht zu­fäl­lig dort, wo viele AutorInnen gleich­sam den An­fang von Öf­fent­lich­keit ver­or­ten: im, auch vir­tu­ell, Pri­va­ten und je nach Per­spek­tive sei­nem be­dro­hen­den oder för­der­li­chen Cha­rak­ter für das Öf­fent­li­che und für Öf­fent­lich­keit(en). Der fol­gende Bei­trag kann si­cher nicht alle die­ser Fra­ge­kom­plexe und Lö­ sungs­ver­su­che ab­bil­den. Viel­mehr soll an­hand dreier zen­tra­ler Ideen und Mo­delle von Öf­fent­lich­keit, die Eli­sa­beth Klaus ent­wor­fen und for­mu­liert hat, dar­ge­stellt

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wer­den, wo sie Öf­fent­lich­keit wei­ter bzw. an­ders denkt (als an­de­re). Um den Pro­ zess des Nach- und Wei­ter­den­kens in Gang zu hal­ten, wer­den ab­schlie­ßend er­gän­ zende Fra­gen an diese Ideen for­mu­liert.

Mehr als eine Öf­fent­lich­keit Joa­chim West­er­bar­key (1991: 13 f.) wies dar­auf hin, dass ge­rade die Viel­falt der Öf­fent­lich­keits­be­griffe ei­nen In­di­ka­tor für den »ekla­tan­ten Man­gel an Theo­rie« in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft dar­stel­le. Das könnte auch daran lie­gen, dass, wie unter 3. noch er­ör­tert wer­den wird, Sys­te­ma­ti­sie­run­gen des Öf­fent­lich­keits­be­ grif­fes zu­meist von ei­ner tra­di­tio­nell di­cho­to­men Ab­gren­zung zur Pri­vat­heit aus­ ge­hen (vgl. Schmitt/Von­de­rau 2014: 8). Dass es sehr wohl, wenn­gleich v. a. fach­ fremde, Viel­falt und nicht etwa ei­nen Man­gel an Öf­fent­lich­keits­theo­rie(n) gibt, er­grün­de­ten Eli­sa­beth Klaus und ich, als wir uns 2004 in Vor­be­rei­tung auf die 10. Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­chen Tage (KWT) in Wien zum Thema Me­dia­ ler Wan­del und Eu­ro­päi­sche Öf­fent­li­chen ge­mein­sam auf die Su­che nach vor­han­ de­nen Theo­rie­be­stän­den zu Öf­fent­lich­keit be­ga­ben. In ei­ner Zu­sam­men­stel­lung (vgl. Klaus 2006: 101) frag­ten wir nach dem even­tu­ell vor­han­de­nen Po­ten­tial der in der Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft vor­han­de­nen Theo­rien für die Kons­ti­tu­tion bzw. Er­klä­rung ei­ner eu­ro­päi­schen Öf­fent­lich­keit. Dem Pro­blem der Klas­si­fi­zie­ rung ver­such­ten wir da­mals grafisch ent­lang zweier Ach­sen zu be­geg­nen.

Teilöffentlichkeiten

Abbildung 1: Theorien vonÖf­ Öffentlichkeit Abbildung 1: Theo­ rien von fent­lich­keit

Kultursoziolog. Ansätze (Milieu)

PR-/BWLAnsätze Vortheorie

Mouffe Agonistische Öffentlichkeit

Ronneberger / Rühl Krippendorf

eine Öffentlichkeit

Bourdieu

ArenaModell Gerhards/ Neidhardt Gerhards Politische Öffentlichkeit

medienbezogen Darstellung Quel­le: Quelle: Ei­geneEigene Dar­stel­ lung

Habermas Public Sphere

raumbezogen

Klaus 3-EbenenModell

Negt/Kluge Proletarische Öffentlichkeit

Habermas bürgerliche Öffentlichkeit

akteursbezogen

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Die erste Achse ord­nete die Theo­rien da­nach ein, ob de­ren AutorInnen von ei­ ner Öf­fent­lich­keit (im Sin­gu­lar) oder meh­re­ren (Teil-)Öf­fent­lich­kei­ten (im Plu­ral) spra­chen. Die zweite Achse legte die zen­trale Va­ria­ble fest, die die je­wei­lige Vor­ stel­lung von Öf­fent­lich­keit kons­ti­tu­ier­te, und fragte da­mit nach dem Ak­teurs-, dem Raum- und dem Me­dien­be­zug. Als ein Er­geb­nis die­ses Ka­te­go­ri­sie­rungs­ver­su­ches zeigte sich, dass Öf­fent­lich­keits­mo­del­le, die Ra­tio­na­li­tät als modus operandi der Kons­ti­tu­tion von Öf­fent­lich­keit emp­feh­len, stär­ker dazu ten­die­ren, von Öf­fent­lich­ keit im Sin­gu­lar und auch als ei­nem Raum (meist des Po­li­ti­schen) zu spre­chen, wäh­rend jene Mo­del­le, die auch an­dere Ver­fah­ren der Ent­ste­hung von Öf­fent­lich­ keit ein­be­zie­hen oder fa­vo­ri­sie­ren, dazu nei­gen, Öf­fent­lich­keit ge­ne­rell als Plu­ ral-Phä­no­men zu fas­sen, das dem­ent­spre­chend in Räu­men, die von AkteurInnen be­spielt wer­den, erst ent­ste­hen kann. Klaus’ Vor­stel­lung selbst scheint da­bei, ähn­lich wie bei Nancy Fra­ser, ge­prägt von ei­ner Sym­biose aus durch­aus »klas­si­schen« Öf­fent­lich­keits­mo­men­ten, wie sie so auch par­al­lel bei Han­nah Arendt oder Jür­gen Ha­ber­mas zu fin­den sind, und ei­ ner gleich­zei­ti­gen Ent­zau­be­rung bzw. Auf­lö­sung der nor­ma­ti­ven Aura der polis oder der Are­na. Denn dem »nur« ei­nen (T-)Raum des Po­li­ti­schen, in dem Be­lange der All­ge­mein­heit unter glei­cher Teil­habe und dem herr­schafts­freien Prin­zip der Ra­tio­na­li­tät ver­pflich­tet statt­fin­den, miss­traut sie aus gu­ten Grün­den. Da wä­ren zu­ nächst ein­mal his­to­ri­sche Fak­ten, die bis in die Jetzt-Zeit wir­ken: wenn Ha­ber­mas schreibt, eine Öf­fent­lich­keit, »von der an­geb­bare Grup­pen eo ipso aus­ge­schlos­sen wä­ren, ist nicht etwa nur un­voll­stän­dig, sie ist viel­mehr gar keine Öf­fent­lich­keit« (Ha­ber­mas 1990: 156), ar­gu­men­tiert er letzt­lich und wie er mitt­ler­weile auch sel­ ber ein­räumt gegen sein eige­nes Ana­ly­se-Mo­dell bür­ger­li­cher Öf­fent­lich­keit. Denn un­über­seh­bar wa­ren hier alle Nicht-Bür­ger und da­mit die Mehr­heit – also nicht nur mar­gi­na­li­sierte Grup­pen – der Be­völ­ke­rung von der Öf­fent­lich­keit aus­ge­schlos­sen. Dies trifft ins­be­son­dere auf jene zu, die, wie u. a. Wi­scher­mann, Negt/Kluge und Mouffe fest stel­len, (zu) lange Zeit nicht an Öf­fent­lich­keit als po­li­ti­schem Prozeß teil­ha­ben konn­ten und auf­grund von Sta­tus und Ge­schlecht (vgl. Fra­ser 1992: 118; Fra­ser 2001: 116; Kla­peer 2014; Mee­han 1995) be­wusst aus­ge­schlos­sen wur­den. Die­ses De­fi­zit an Par­ti­zi­pa­tions­op­tio­nen ist aber zu vor­derst ein lo­gisch-struk­tu­ rel­les: eine ein­zige Öf­fent­lich­keit wird selbst bei gu­tem Wil­len kaum die Viel­falt an Grup­pen und Mei­nun­gen ab­bil­den kön­nen, wie es der Blick auf Öf­fent­lich­kei­ ten ver­mag. Wie Fra­ser ar­gu­men­tiert, gab und gibt es im­mer schon »par­al­lele dis­ kur­sive Räume« (Fra­ser 1996: 163). Sie schreibt von »par­al­lel dis­cour­sive arenas where mem­bers of groups in­vent and cir­cu­late coun­ter­dis­coures« (Fra­ser 1990: 67). Hier kön­nen die von der ei­nen Öf­fent­lich­keit Aus­ge­schlos­se­nen op­po­si­tio­nelle Öf­fent­lich­kei­ten bil­den, um im ge­mein­sa­men Dis­kurs In­ter­es­sen und Be­dürf­nisse zu for­mu­lie­ren, ei­gene Iden­ti­tät(en) aus­zu­bil­den und Op­tio­nen der Ein­fluss­nahme auf die he­ge­mo­niale Öf­fent­lich­keits­agenda zu ent­wi­ckeln. Für die Frage der Öf­ fent­lich­keit im Sin­gu­lar oder Plu­ral wird die Be­rück­sich­ti­gung sol­cher Par­al­lel­öf­

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fent­lich­kei­ten im Sinne von sub­al­ter­nen, Be­we­gungs- oder Gegen­öf­fent­lich­kei­ten (vgl. Rom­ahn 2008: 18) in­so­fern re­le­vant, als dass sich da­mit nicht nur die An­zahl der Räume von Öf­fent­lich­keit ver­viel­facht, son­dern auch der Raum des Po­li­ti­schen selbst ge­wei­tet wird. Das er­for­dert neben ei­nem er­wei­ter­ten Öf­fent­lich­keits­be­griff ein ver­än­der­tes Den­ken von Öf­fent­lich­kei­ten als in mul­ti­pel ver­or­te­ten Räu­men ver­dich­tete Hand­lung und Kom­mu­ni­ka­tion (vgl. Ong/Col­lier 2005: 15), in denen AkteurInnen und In­ter­es­sen auf­ein­an­der tref­fen kön­nen, um Lö­sun­gen für so­ziale Pro­bleme zu ver­han­deln.

Mehr als eine Ebene Wenn also Öf­fent­lich­keit nicht mehr als der eine Raum ge­dacht wer­den kann, son­ dern als viele Räume des Öf­fent­lich-Seins, -Wer­dens und -Ma­chens, er­gibt sich die Fra­ge, wie und wo sol­che Räume des Aus- und Ver­han­delns exis­tie­ren. Klaus ent­wirft hierzu ein in ty­pi­scher Mi­kro-Me­so-Ma­kro-Tra­di­tion ste­hen­des, py­ra­ mi­den­för­mi­ges Drei­ebe­nen­mo­dell (vgl. Klaus 1995; 1998; 2001; seit 2013 auch »Mehr­ebe­nen­mo­dell« von ihr ge­nannt), das aber be­wusst die Wei­tung des po­li­ti­ schen Raums mit ein­be­zieht. An­ders als die Ent­würfe vie­ler an­de­rer TheoretikerInnen, be­ginnt ihr Mo­dell ganz be­wusst auf der Ebene der ein­fa­chen Öf­fent­lich­kei­ten als quan­ti­ta­tiv größ­tem Ele­ment von Öf­fent­lich­keit. Po­li­tik werde eben nicht al­leine in par­la­men­ta­ri­schen Ge­bäu­den aus­ge­tra­gen, son­dern ziehe sich auch durch unsere All­tags­prak­ti­ken und -er­fah­run­gen. Modus operandi die­ser ein­fa­chen Öf­fent­lich­kei­ten ist zu­nächst die spon­tane Kom­mu­ni­ka­tion, in der man sich v. a. dar­über aus­tauscht, wel­che Fol­gen po­li­ti­sches Han­deln auf das pri­vate ha­ben könnte et vice ver­sa. Wie Klaus be­tont, sollte die Wirk­macht die­ser ein­fa­chen Öf­fent­lich­kei­ten trotz feh­len­der Macht- oder Ent­schei­dungs­be­fug­nisse der AkteurInnen nicht ge­ring ge­schätzt wer­den; ge­rade hier ent­wi­ckel­ten sich, wie die Pro­test- oder WutbürgerInnen ex­em­pla­risch zei­gen (vgl. Wim­mer 2014: 285), erste Fun­ken von Wi­der­stand gegen eine »bot­tom-downÖf­fent­lich­keit«, die dann auf ei­ner Ebene mitt­le­rer Öf­fent­lich­kei­ten als wi­der­stän­ dige In­ter­es­sen or­ga­ni­siert wer­den. Die­ser Or­ga­ni­sa­tions­grad sei neben ei­nem Set »gut fi­xier­ter Re­geln« (Klaus 2006: 96) das Haupt­merk­mal mitt­le­rer Öf­fent­lich­ kei­ten. In ih­nen sieht Klaus vor al­lem so­ziale Be­we­gun­gen ver­or­tet (vgl. hierzu auch Dow­ney/Fen­ton 2003:187), die quasi als Brü­cken­ebene und »Ad­vo­ka­ten al­ ter­na­ti­ver Lö­sungs­vor­schläge« (Rom­ahn 2007: 32) zwi­schen den ein­fa­chen und den kom­ple­xen Öf­fent­lich­kei­ten fun­gie­ren. Zen­tra­les Mo­ment des Aus­han­delns mitt­le­rer Öf­fent­lich­kei­ten sei die Ver­samm­lung, in der nach fest­ge­leg­ten Sta­tu­ten bzw. den Rol­len Vor­tra­gen­de/Pu­blika we­nige sprä­chen und viele zu­hör­ten. »Die Be­zie­hung zwi­schen Kom­mu­ni­ka­torin­nen und Pu­bli­kum ist zwar in der Re­gel di­ rekt, aber nicht in je­dem Fall um­kehr­bar.« (Klaus 2006: 96)

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Die dritte Ebe­ne, jene der kom­ple­xen Öf­fent­lich­kei­ten, be­in­hal­tet die eta­blier­ ten AkteurInnen, also Mas­sen­me­dien, Par­tei­en, Unter­neh­men. Durch »tech­ni­sche Ver­mitt­lung« könn­ten hier »Mei­nun­gen schnell und groß­flä­chig ver­brei­tet wer­ den«. (Klaus 2006: 95 f.) Wenn sich auch hier die kleinste Zahl an AkteurInnen fin­ det, so sind in­ner­halb die­ser Ebene kom­ple­xer Öf­fent­lich­kei­ten die weitreichendsten Ent­schei­dungs­be­fug­nisse ge­bün­delt. Eine ganz ähn­lich struk­tu­relle Unter­tei­lung von Öf­fent­lich­keit fin­det sich bei Ha­ber­mas (1992: 452) in Fak­ti­zi­tät und Gel­tung. Er geht aus »von der epi­so­ di­schen Knei­pen-, Kaf­fee­haus- oder Stra­ßen­öf­fent­lich­keit über die ver­an­stal­tete Prä­senz­öf­fent­lich­keit von Thea­ter­auf­füh­run­gen, El­tern­aben­den, Rock­kon­zer­ten, Par­tei­ver­samm­lun­gen oder Kir­chen­ta­gen bis zur abs­trak­ten, über Mas­sen­me­dien her­ge­stell­ten Öf­fent­lich­keit von ver­ein­zel­ten und glo­bal ver­streu­ten Le­sern, Zu­ hö­rern und Zu­schau­ern.« Klaus be­rück­sich­tigt in ihrem Mo­dell von Öf­fent­lich­keit neben dem Kom­ple­xi­täts­grad der Ebe­nen auch die Zahl der Kom­mu­ni­ka­tions­fo­ ren pro Ebene so­wie die unter­schied­li­che Ver­tei­lung von Macht­be­fug­nis­sen. Fin­ den sich auf der ein­fa­chen Ebene von Öf­fent­lich­keit eine Viel­zahl an Kom­mu­ni­ ka­tions­fo­ren und -op­tio­nen, so kom­men den AkteurInnen die­ser Räume nur sehr ein­ge­schränkte Ent­schei­dungs­be­fug­nisse zu, wäh­rend in der kom­ple­xen Ebene von Öf­fent­lich­keit weit rei­chende Macht- und Ent­schei­dungs­be­fug­nisse auf we­ nige AkteurInnen ver­teilt in ei­ner ein­ge­schränk­ten Zahl an Kom­mu­ni­ka­tions­fo­ren ge­bün­delt wer­den. Die mitt­lere Ebene kann als eine Art Laut­spre­cher oder Mitt­ler­ in­stanz zwi­schen den ein­fa­chen und den kom­ple­xen Öf­fent­lich­kei­ten ver­stan­den wer­den. Die drei Ebe­nen von Öf­fent­lich­keit ste­hen in Be­zie­hung zu­ein­an­der und sind mehr oder min­der durch­läs­sig, so dass Op­tio­nen des Trans­fers der An­lie­gen und In­for­ma­tio­nen von der ei­nen zu der an­de­ren/zu den an­de­ren Ebe­nen (idea­li­ter) mög­lich wer­den. Die Vor­stel­lung von Öf­fent­lich­keit als zwi­schen die­sen drei Ebe­ nen von Öf­fent­lich­kei­ten flo­tie­rende (vgl. Dahl­gren 2006: 274) ge­sell­schaft­li­che Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zesse (vgl. Klaus 1998; 2006; 2009) stellt gleich­sam eine er­wei­terte Vor­stel­lung von Öf­fent­lich­keit als po­li­ti­schem Raum dar, der mar­gi­na­li­ sierte Grup­pen und Gegen­öf­fent­lich­kei­ten nicht aus dem Su­cher zu ver­lie­ren droht, son­dern diese als wich­ti­ges movens von Öf­fent­lich­keit ge­sell­schafts- und macht­ theo­re­tisch zu ver­or­ten sucht. »An­statt sta­tisch ist Öf­fent­lich­keit da­her folge­rich­ tig im Sinne ei­nes dy­na­mi­schen, kom­ple­xen und da­bei mul­ti­di­men­sio­na­len Kom­ mu­ni­ka­tions­pro­zes­ses zu kon­zep­tio­na­li­sie­ren. Die­ser Pro­zess be­zieht sich da­bei gleich­zei­tig auf die ver­schie­de­nen Kom­ple­xi­täts­ebe­nen öf­fent­li­cher Kom­mu­ni­ka­ tion.« (Wim­mer 2011: 164, Hvh. i. O.)

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Mehr als (nur) das Öf­fent­lich-Sicht­bare »Ge­mein­hin wer­den das Öf­fent­li­che und das Pri­vate als zwei es­sen­tialis­tisch be­ stimm­ba­re, ge­trennte Be­rei­che der mo­der­nen Ge­sell­schaft be­grif­fen.« (De­mi­ro­vic 2004: 143) Öf­fent­lich­keit kann aber, wie Klaus in ihrem Drei­ebe­nen­mo­dell er­klärt, heute nicht mehr oder zu­min­dest nicht mehr nur auf den po­li­ti­schen Kern­be­reich und auch nicht auf »media re­pre­sen­ta­ti­ons« (Dahl­gren 1995: 18) re­du­ziert wer­den, son­dern de­ren Her­stel­lung be­ginnt be­reits in den ein­fa­chen Öf­fent­lich­kei­ten und so­ mit unse­rem all­täg­li­chen Spre­chen und Han­deln: im Rah­men der »Kom­mu­ni­ka­tion au trottoir« (Luh­mann 1986: 75). Klaus be­greift Öf­fent­lich­keit »als ge­sell­schaft­li­ chen Selbstverständigungsprozess . . ., der von vie­len Men­schen mit­ge­tra­gen wird« (Klaus 2013: 2). Das Set­zen öf­fent­li­cher Agen­den er­fasst dem­nach aber nicht mehr nur po­li­ti­sche The­men, son­dern durch­zieht sämt­li­che ge­sell­schaft­li­che Be­rei­che. So fun­giert Öf­fent­lich­keit stets auch als eine kul­tu­relle und nicht al­leine po­li­ti­sche In­sti­tu­tion, die zur sub­kul­tu­rel­len Iden­ti­täts­bil­dung bei­trage (vgl. Klaus 2001: 20). In An­leh­nung an Watz­la­wicks meta­kom­mu­ni­ka­ti­ves Axiom (1967: 51) ließe sich dem­nach be­haup­ten: Man kann nicht nicht öf­fent­lich agie­ren. Das Pri­vate wird im Öf­fent­li­chen und das Öf­fent­li­che im Pri­va­ten wirk­sam (vgl. Wi­scher­mann 2003: 32). Öf­fent­lich­keit setzt die Exis­tenz von Pri­vat­heit vor­aus (vgl. Arendt 1996: 63) und be­zieht we­sent­li­che »Im­pulse aus der pri­va­ten Ver­arbei­tung le­bens­ge­schicht­ lich rä­so­nie­ren­der ge­sell­schaft­li­cher Pro­blem­la­gen« (Ha­ber­mas 1998: 442 f.). Nor­ men und Werte des ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­le­bens wer­den auch und ge­rade in den ver­meint­lich nicht-öf­fent­li­chen Fo­ren der ein­fa­chen, pri­va­ten Öf­fent­lich­kei­ ten ver­han­delt und er­lan­gen Rea­li­tät und Exis­tenz erst in de­ren Kom­mu­ni­ka­tion. »We hear a story on the news and then we talk about it with friends; we ex­change ideas in email groups, down the pub, at the hair­dresser . . . These hu­man in­ter­ac­ tions are all part of the pub­lic sphere.« (McKee 2005: 5 f.) Klaus er­grün­det die­ses Wur­zeln des Öf­fent­li­chen im Pri­va­ten in ihrem Bei­trag »Heim­li­che Öf­fent­lich­keit« (1992) etwa am Bei­spiel der Dis­kurse in Krab­bel­grup­pen, bei Kin­der­gar­ten­tref­fen und Tup­per­wa­re­par­ties. Die im All­tag be­deu­ten­den Öf­fent­lich­kei­ten als Räume des All­tags­han­delns blei­ben im Drei­ebe­nen­mo­dell also nicht un­sicht­bar und tra­gen zu ei­nem brei­te­ren Ver­ständ­nis der po­li­ti­schen Kons­ti­tu­ie­rung ei­ner Ge­sell­schaft we­ sent­lich bei. Diese in­ten­si­vere Be­rück­sich­ti­gung in­di­vi­du­el­ler All­tags­pra­xen führt gleich­sam zu ei­ner struk­tu­rell er­wei­ter­ten Per­spek­tive auf Öf­fent­lich­keit als so­ zia­lem Kon­strukt, »das in ganz ver­schie­de­nen, for­mel­len und in­for­mel­len Are­nen und Kon­tex­ten rea­li­siert wird und schluss­end­lich be­zie­hungs­weise über­haupt nur in den kom­mu­ni­ka­ti­ven Prak­ti­ken der Men­schen emer­giert und exis­tiert« (Lin­gen­ berg 2010: 29). Nun set­zen sich die für Öf­fent­lich­keit(en) kons­ti­tu­ti­ven so­zia­len Prak­ti­ken nicht al­leine aus kom­mu­ni­ka­ti­ven Inter­ak­tio­nen der Men­schen unter­ein­an­der zu­ sam­men, son­dern auch aus Me­dien­re­zep­tion als »com­mu­ni­ca­tive pro­ces­ses of ma­

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king sen­se, in­ter­pre­ting and using the output« (Dahl­gren 2005: 149). In die­sem Zu­sam­men­hang setzt sich Klaus in der Tra­di­tion der gen­de­ro­rien­tier­ten Cul­tu­ral Stu­dies für eine we­ni­ger me­dien­zen­trierte und stär­ker re­zi­pien­tin­nen­orien­tierte kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che For­schung so­wie für die stär­kere Be­rück­sich­ti­ gung von Bou­le­vard­me­dien und Bou­le­vard­jour­na­lis­mus so­wie Unter­hal­tungs­for­ ma­ten und po­pu­lä­ren Genres ein, die sehr wohl öf­fent­lich­keits­wirk­sam sind und ih­rer­seits auch ge­sell­schaft­li­che Macht­ver­hält­nisse kons­ti­tu­ie­ren. Neue For­mate der Unter­hal­tungs­kom­mu­ni­ka­tion wie Do­ku­soaps (vgl. Lü­nen­borg 2005), Talk­ shows (vgl. Scheer 2002), Rea­lity TV (Klaus/Lü­cke 2003), etc. und die öf­fent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit die­sen ge­hö­ren für sie zu ei­nem »kul­tu­rel­len Dis­kurs, der das ge­sell­schaft­li­che Zeit­ge­spräch in­iti­iert und or­ga­ni­siert und zur Selbst­ver­stän­di­ gung der Ge­sell­schaft bei­trägt« (Klaus 2005: 26). Dar­aus (vgl. Wim­mer 2014: 308) ab­zu­lei­ten, Klaus pos­tu­lie­re, dass diese neuen For­mate der Unter­hal­tungs­kom­mu­ ni­ka­tion stets mehr zur Öf­fent­lich­keit bei­zu­tra­gen hät­ten als die mas­sen­me­diale bzw. jour­na­lis­ti­sche Be­richt­er­stat­tung, lässt sich nur be­dingt nach­voll­zie­hen. Ihr An­lie­gen ist eher, diese unter­hal­ten­den For­mate bei der Er­for­schung und Mo­del­ lie­rung von Öf­fent­lich­keit stär­ker mit­zu­den­ken. Der Wan­del des Me­dien­an­ge­bots sollte auch als Her­aus­for­de­rung an das Nach­den­ken über Öf­fent­lich­keit be­grif­fen wer­den. Nicht al­leine »Ra­tio­na­li­tät«, son­dern auch »Plea­sure« (Klaus/O’Con­nor 2000: 369; O’Con­nor 2015 in die­sem Band) könnte als das Re­zep­tions­er­leb­nis gro­ßer Pu­blika ei­nen »mea­ning­ful discourse« her­stel­len, aus dem sich Öf­fent­lich­ keit(en) nähr­t(en).

Wei­tere Fra­gen Wie zu Be­ginn an­ge­kün­digt, wer­den ab­schlie­ßend er­gän­zende Fra­gen an Öf­fent­ lich­kei­ten, wie Klaus sie ent­wirft, ge­stellt. Sie kön­nen hier nur in al­ler Kürze und nicht als ein­zelne Dis­kurs­stränge im grö­ße­ren Öf­fent­lich­keits­dis­kurs dar­ge­stellt wer­den. Frage 1: Das bis­he­rige Mo­dell sieht die Rolle der (Mas­sen-)Me­dien erst bzw. vor­ran­gig auf der Ebene der kom­ple­xen Öf­fent­lich­kei­ten. In Zei­ten ei­ner viel be­ schwo­re­nen Me­dien­ge­sell­schaft, in der jede und je­der über­all und zu je­der Zeit Me­dien nicht nur nut­zen, son­dern im Sinne ei­nes »Pro­du­sers« me­diale In­halte selbst her­stel­len kann, schei­nen Me­dien und For­men di­gi­ta­ler Ver­net­zung auf al­len drei Ebe­nen von Öf­fent­lich­kei­ten om­ni­prä­sent. Wäre es hier nicht sinn­vol­ler da­von aus­zu­ge­hen, dass das ge­samte Mo­dell in ei­nen me­dia­len Raum ein­ge­bet­tet ist, in dem Me­dien als Mitt­ler zwi­schen al­len drei Ebe­nen agie­ren? Frage 2: An­dere Mo­delle von Öf­fent­lich­keit wür­den die AkteurInnen der kom­ ple­xen Öf­fent­lich­kei­ten auf der mitt­le­ren Ebene an­sie­deln und in der obers­ten Ebene eine Meta-Ebene von Öf­fent­lich­keit ver­or­ten, in der so et­was wie Uto­pien

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von Öf­fent­lich­keit in ei­nem meta­to­pi­schen Raum ent­wor­fen wer­den. Klaus’ Drei­ ebenen­mo­dell zeigt Öf­fent­lich­keit als Pro­zess, der sich zu­nächst li­near von un­ten nach oben bzw. vice versa dar­stellt. Wäre es nicht sinn­vol­ler, dann Öf­fent­lich­keit als Er­geb­nis aus der Inter­ak­tion zwi­schen al­len drei Ebe­nen dar­zu­stel­len, um si­cher zu ge­hen, dass Öf­fent­lich­keit mehr bleibt als die Summe ei­nes Pro­zes­ses, der es von den ein­fa­chen zu den kom­ple­xen Öf­fent­lich­kei­ten schafft? Frage 3: Das Drei­ebe­nen­mo­dell räumt Be­we­gun­gen, Pro­test- und Gegen­öf­ fent­lich­kei­ten ei­nen pro­mi­nen­ten Stel­len­wert ein. Wie will es aber um­ge­hen mit Be­we­gun­gen wie Pe­gi­da, anti­de­mo­kra­ti­schen Be­we­gun­gen, mas­ku­li­nis­ti­schen Be­ we­gun­gen (vgl. Gru­ber 2014) und all je­nen, die be­wusst gegen ver­ein­barte Grund­ werte der Ge­sell­schaft agie­ren? Diese Op­tion scheint ja ge­ge­ben, wenn das Haupt­ ziel so­zia­ler Be­we­gun­gen (Rucht 2002: 4) ist, »so­zia­len Wan­del mit Mit­teln des Pro­tests her­bei­füh­ren, ver­hin­dern oder rück­gän­gig ma­chen« zu wol­len. Frage 4: Das Mo­dell geht da­von aus, dass (spä­tes­tens ab der mitt­le­ren Ebe­ ne) AkteurInnen frei­wil­lig gut fi­xierte Spiel­re­geln be­fol­gen, da­mit die kom­plexe Ebene mit aus­ge­han­del­ten Ent­schei­dungs­the­men ver­sorgt wer­den kann. Neben den Kom­mu­ni­ka­ti­ons­modi geht es ergo im­mer auch um Macht, die sich nur be­ dingt im Kom­ple­xi­täts­grad der Ebe­nen wi­der­spie­gelt. Hal­ten sich die SpielerInnen der Öf­fent­lich­kei­ten an Re­geln? Nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann in die­sem Zu­sam­men­hang, dass AkteurInnen Ebe­nen be­wusst um­ge­hen. Neue For­men der Di­rekt­de­mo­kra­tie, Ab­stim­mungs­pro­zesse via On­line-Me­dien, etc. sind hier ebenso denk­bar wie ein­zelne (nicht nur, aber v. a. mit öko­no­mi­scher Macht un­gleich hö­her aus­ge­stat­te­te) AkteurInnen, die die Ebe­nen ein­mal in der ei­nen, ein­mal in der an­de­ren Rolle be­spie­len. Und das ver­mut­lich auch gleich­zei­tig und an unter­ schied­li­chen Or­ten. Als Pri­va­tier, der PolitikerInnen rein zu­fäl­lig und pri­vat als Freun­derl aus ers­ter Hand in­for­miert und In­for­ma­tio­nen von die­sen er­hält, als EntscheiderIn, als LobbyistIn, als In­dus­triel­ler, der sich neben sei­nem Kern­ge­schäft ein Sport- und Me­dien­im­pe­rium hält, u. v. m. Da­bei öf­fent­lich sicht­bar in Er­schei­ nung zu tre­ten bzw. sich Dis­kur­sen stel­len zu müs­sen, scheint gar nicht zwin­gend not­wen­dig, zu­mal sich ei­gene Er­satz-Schau­plätze von Öf­fent­lich­keit neben den drei be­kann­ten Ebe­nen in­stal­lie­ren las­sen. Wie sol­len solch mäch­tige AkteurInnen mo­ti­viert wer­den, sich an »gut fi­xierte Re­geln« zu hal­ten, wenn sie alle Ebe­nen als Pri­vat­be­sitz se­hen? Oder wie ist ga­ran­tiert, dass all­fäl­lige Spiel­re­geln für alle auch im­mer trans­pa­rent sind? Frage 5 schließt den Kreis zu Frage 1: Vor­stel­lun­gen und All­tags­pra­xen der Men­schen dar­über, was pri­vat und was öf­fent­lich sei, ha­ben sich grund­le­gend ge­ än­dert (vgl. Krotz 2009: 12). Men­schen, die sich ei­ner­seits gegen staat­li­che Über­ wa­chung di­gi­ta­ler Kom­mu­ni­ka­tion weh­ren wol­len, ha­ben an­de­rer­seits kein Pro­ blem da­mit, alle zehn Mi­nu­ten eine welt­weite Öf­fent­lich­keit via fa­ce­book an ihrem Le­ben teil­ha­ben zu las­sen: Wann bin ich heute auf­ge­stan­den? Was habe ich ge­ früh­stückt? Wo bin ich ge­ra­de? Was ge­fällt mir? Wie viele und wel­che »Freunde«

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habe ich? Was habe ich mir ge­rade wo, wann, wozu ge­kauft und wem ge­fällt das? Al­les gut do­ku­men­tiert in Text und Bild. Die­ser wach­sen­de, frei­wil­lige Ver­zicht auf Pri­vat­heit, den Se­nett als »Ty­ran­nei der In­ti­mi­tät« be­zeich­ne­te, führt zu der Fra­ge, was auf der Ebene der ein­fa­chen Öf­fent­lich­kei­ten da­von nun im Sinne ei­nes Aus­han­delns ge­sell­schaft­li­cher Selbst­ver­stän­di­gung tat­säch­lich wich­tig ist? Müs­ sen wir die Öf­fent­lich­keit vor ihren AkteurInnen schüt­zen, da­mit wir nicht fortan nur noch Mo­delle von Pri­vat­heit ver­han­deln kön­nen? Um den An­fang des Bei­tra­ges wie­der auf­zu­grei­fen: Es kommt dar­auf an, nicht nur die ver­meint­lich rich­ti­gen, son­dern ge­rade auch im­mer neue, kri­ti­sche Fra­gen zu stel­len, da­mit nicht der un­ge­recht­fer­tigte Ein­druck ent­steht, jede und je­der wisse schon, was mit Öf­fent­lich­keit ge­meint sei. Denn das würde künf­ti­gem Nach­den­ken über und Wei­ter­den­ken von Öf­fent­lich­keit die not­wen­dige Sub­stanz und Re­so­nanz ent­zie­hen. Ihrer neu auf­ge­leg­ten Ha­bi­li­ta­tions­schrift hat Eli­sa­beth Klaus (2005) ein Zi­tat von San­dra Har­ding vor­an­ge­stellt: »Wir müs­sen da­mit be­gin­nen, diese wis­ sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen nicht län­ger als ei­nen Prozeß zu ver­ste­hen, in dem Pro­bleme be­nannt wer­den, um sie aus der Welt zu schaf­fen, son­dern sie statt­des­sen als Ge­le­gen­hei­ten zu be­grei­fen, um bes­sere Fra­gen zu stel­len als die, von denen wir ur­sprüng­lich aus­ge­gan­gen sind.« Das heißt aber gleich­sam, dass das Sich-Aus­ein­an­der­set­zen mit und über Öf­ fent­lich­keit – und erst recht mit den über sie nach­den­ken­den KollegInnen – eine dank­bare Si­sy­phos-Auf­gabe mit höchst-al­pi­nen An­sprü­chen bleibt. Geht es doch um nicht we­ni­ger als dar­um, wie wir ge­sell­schaft­lich le­ben wol­len. Han­nah Arendt hat die­ses end­lo­se, weil selbst im ste­ten Pro­zess der Aus­hand­lung be­find­li­che Unter­fan­gen Öf­fent­lich­keit in Vita Ac­tiva (2002: 68) ein­mal so be­schrie­ben: »Eine Welt, die Platz für die Öf­fent­lich­keit ha­ben soll, kann nicht nur für eine Ge­ne­ra­tion er­rich­tet oder nur für die Le­ben­den ge­plant sein; sie muss die Le­bens­spanne sterb­ li­cher Men­schen über­stei­gen.«

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Öf­fent­lich­keit wei­ter den­ken  |  221

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Dis­po­si­tive in ver­netz­ten Öf­fent­lich­kei­ten

Dis­po­si­tive in ver­netz­ten Öf­fent­lich­kei­ten Tho­mas Stein­mau­rer

Im Zeit­al­ter der di­gi­ta­len Ver­net­zung ha­ben wir es mit weitreichenden Trans­for­ma­ tions­pro­zes­sen zu tun, die auch Aus­wir­kun­gen auf das Kon­zept von Öf­fent­lich­keit ha­ben. Wie Eli­sa­beth Klaus auf­zeig­te, soll­ten wir uns Öf­fent­lich­keit heute nicht mehr als ein sta­ti­sches Kon­strukt, son­dern viel­mehr als ein pro­zess­haf­tes Ge­sche­ hen vor­stel­len. Zu­dem müsste ihre Struk­tu­rie­rung grund­sätz­lich bes­ser im Plu­ral er­fol­gen, da wir heute längst nicht mehr nur von »ei­ner« Öf­fent­lich­keit aus­ge­hen kön­nen, son­dern unter­schied­li­che For­men zu be­rück­sich­ti­gen ha­ben (vgl. Klaus 2006). So gilt es etwa, neue For­ma­tio­nen von Öf­fent­lich­kei­ten als kon­fli­gie­rende Dis­kurs­fel­der in »ago­nis­ti­schen Öf­fent­lich­kei­ten« (Mouffe 2005) – auch im Sinne ei­nes Gegen­kon­zepts zu ei­ner ho­lis­tisch an­ge­nom­me­nen, ein­heit­li­chen »pu­blic sphere« – ernst zu neh­men (vgl. Fra­ser 1992). Die Ma­ni­fes­ta­tio­nen des­sen, was wir als Öf­fent­lich­keit be­zeich­nen, ten­die­ren zu­dem unter di­gi­tal ver­netz­ten Rah­ men­be­din­gun­gen dazu, zeit­lich in­sta­bi­ler bzw. flüch­ti­ger zu wer­den und sich hin­ sicht­lich ihrer räum­li­chen Ver­or­tung zu­neh­mend zu ent­gren­zen. So kommt es – wie an an­de­rer Stelle be­tont – auf den Ach­sen der räum­li­chen und zeit­li­chen Aus­deh­ nung von Öf­fent­lich­kei­ten zu deut­li­chen Struk­tur­ver­än­de­run­gen (vgl. Stein­mau­ rer 2015). Ver­su­che, eine Ka­te­go­ri­sie­rung unter­schied­li­cher Ag­gre­gat­zu­stände von Öf­fent­lich­keit oder Sche­mata ihrer Cha­rak­te­ri­sie­rung zu ent­wer­fen, ge­stal­ten sich als zu­neh­mend schwie­rig und mul­ti­di­men­sio­nal. Dies umso mehr, als auch bis­ lang klas­si­sche Grenz­zie­hun­gen zwi­schen Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit struk­tu­rell ero­die­ren und wir es mit neuen Phä­no­me­nen wie etwa »per­sön­li­chen Öf­fent­lich­ kei­ten« oder »Netz­werk­öf­fent­lich­kei­ten« zu tun ha­ben. (Vgl. Schmidt 2011) Be­ zug­neh­mend auf die von Bo­ris Rom­ahn in die­sem Band her­an­ge­zo­gene Über­sicht ver­deut­licht dar­über hin­aus die ak­tu­elle Dis­kus­sion um die Aus­ge­stal­tung von Öf­ fent­lich­kei­ten die Ent­wick­lung hin zu ak­teurs­be­zo­ge­nen An­sät­zen, bei der eher Kon­fi­gu­ra­tio­nen von Teil­öf­fent­lich­kei­ten, als vor­mals al­lein auf klas­si­sche Mas­ sen­me­dien auf­bau­ende ho­li­s­ti­sche Kon­zepte die Struk­tu­rie­rung be­stim­men. Ins­be­son­dere im Fo­kus der sich durch­set­zen­den Ver­net­zungs­dy­na­mi­ken und den da­mit ver­bun­de­nen Me­dia­ti­sie­rungs­pro­zes­sen rü­cken neue Öf­fent­lich­keits­ struk­tu­rie­run­gen ver­mehrt han­delnde In­di­vi­duem oder im wei­tes­ten Sinn po­li­tisch

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agie­rende Grup­pen bzw. Be­we­gun­gen in den Fokus des In­ter­es­ses, die sich über­ wie­gend auch neuer Ar­ti­ku­la­tions­for­men be­die­nen. Ge­rade unter den Be­din­gun­gen der der­zeit sich durch­set­zen­den di­gi­ta­len Dau­er­ver­net­zung des Men­schen erwachsen Me­dia­ti­sie­rungs­po­ten­zia­li­tä­ten zu­neh­mend auf der Ebene von Einzelakteuren. Es ist nun­mehr für das mo­bil ver­netzte In­di­vi­du­um, das unter den Be­din­gun­gen ei­nes »net­wor­ked in­di­vi­dua­lism« (Rai­nie/Well­man 2012) zum Kom­mu­ni­ka­tions­ kno­ten im Netz der Ver­bin­dun­gen wird, zu­neh­mend ein­facher mög­lich, sich an Ver­net­zungs­ak­ti­vi­tä­ten zu be­tei­li­gen. Ge­rade neue Ver­ge­mein­schaf­tungs- und Ak­ ti­vi­täts­for­men wie Smart Mobs (vgl. Rhein­gold 2008) und über mo­bile Ver­net­ zungs­for­men or­ga­ni­sierte (Gegen)- bzw. Be­we­gungs­öf­fent­lich­kei­ten zeu­gen von die­sen neuen Po­ten­zia­li­tä­ten. Im Rah­men die­ser Ver­än­de­run­gen gilt es al­ler­dings auch zu be­den­ken, dass die neuen, sich im Kon­text di­gi­ta­ler Ver­net­zungs­for­men er­öff­nen­den For­men zu­meist auch unter Be­din­gun­gen statt­fin­den, in denen die digitalen Platt­for­men, über die zu­neh­mend Ver­net­zungs­ak­ti­vi­tä­ten ver­lau­fen, die Re­ geln des Han­delns nicht un­we­sent­lich mit­be­stim­men. Es gilt da­her ei­nen kri­ti­schen Blick auf jene Struk­tu­ren zu rich­ten, die über neue Ver­net­zungs­for­men sich voll­zie­hen­de me­dia­ti­sier­te Hand­lungs­pro­zesse cha­rak­ te­ri­sie­ren und da­mit auch die Struk­tu­rie­run­gen von (neuen) Öf­fent­lich­kei­ten we­ sent­lich be­ein­flus­sen. Ziel des vor­lie­gen­den Bei­trags ist es da­her, zu­nächst ei­nen Blick auf die neuen Be­din­gun­gen tech­no­öko­no­mi­scher Me­dia­ti­sie­rungs­pro­zesse und darin wirk­sa­mer Dis­po­si­tive zu rich­ten. Dar­auf auf­bau­end wer­den die durch­ aus am­bi­va­len­ten Be­funde zu den Öf­fent­lich­keits­pro­zes­sen unter di­gi­tal ver­netz­ten Be­din­gun­gen dis­ku­tiert und die darin auch wirk­sa­men dis­po­si­ti­ven Struk­tu­ren the­ ma­ti­siert. Ab­schlie­ßend gilt es auf Per­spek­ti­ven hin­zu­wei­sen, mit wel­chen neuen An­sät­zen auf der­art ent­ste­hende Pro­blem­la­gen rea­giert wer­den könn­te.

Zum Dispositiv

me­dia­ti­sier­ter

Kon­nek­ti­vi­tät

Mit dem Fort­schrei­ten von Pro­zes­sen tech­ni­scher Me­dia­ti­sie­rungs­for­men setzt sich ak­tu­ell in der Ge­sell­schaft eine Ver­net­zungs­lo­gik durch, die das mo­bile und ubi­qui­tär tech­no­lo­gisch ver­bun­dene In­di­vi­duum zum Kno­ten­punkt (s)ei­ner Dau­ er­ver­net­zung macht. Die Me­dia­ti­sie­rungs­theo­rie spricht in die­sem Zu­sam­men­ hang von ei­ner Ten­denz in die »kom­mu­ni­ka­tive Mo­bi­li­tät« (Hepp 2006: 19), die neben der Mo­bi­li­sie­rungs­dy­na­mik von Meta­pro­zes­sen der In­di­vi­dua­li­sie­rung und der Kom­mer­zia­li­sie­rung do­mi­niert sind (vgl. Krotz 2001, 2007). Her­vor­ge­gan­ gen aus his­to­ri­schen Ent­wick­lungs­li­nien, die auf tech­no­kul­tu­rell inter­de­pen­den­ten Struk­tur­ver­läu­fen von Mo­bi­li­tät, Trans­port, Kom­mu­ni­ka­tion und de­ren je­wei­li­gen kul­tur­in­dus­triel­len Rah­men­be­din­gun­gen fu­ßen, wird nun­mehr das In­di­vi­duum zu ei­nem kom­mu­ni­ka­ti­ven Kno­ten­punkt in den Netz­werk­sys­te­men. Ge­tra­gen von Pro­zes­sen ei­ner – in An­schluss an Wil­liams – »mo­bi­len In­di­vi­dua­li­sie­rung« (vgl.

Dis­po­si­tive in ver­netz­ten Öf­fent­lich­kei­ten  |  225

Stein­mau­rer 2013), ha­ben sich ins­be­son­dere auf Ebene des Nut­zungs­ha­bi­tus der Dau­er­ver­net­zung neue Me­dia­ti­sie­rungs­for­men eta­bliert. Ins­be­son­dere aus der Kopp­lung tech­no­lo­gi­scher Im­pe­ra­tive mit öko­no­mi­schen Stra­te­gien ge­hen Do­mi­ nanz­struk­tu­ren her­vor, die im Mo­dus ei­ner in­di­vi­dua­li­sier­ten Dau­er­ver­net­zung des Men­schen als Dis­po­si­tive ei­ner »me­dia­ti­sier­ten Kon­nek­ti­vi­tät« ver­stan­den wer­den kön­nen. (Vgl. Stein­mau­rer 2013) Die Theo­rie des Den­kens in Dis­po­si­ti­ven geht auf die Arbei­ten des fran­zö­si­ schen Post­struk­tu­ra­lis­mus zu­rück und be­stand – wie an an­de­rer Stelle aus­ge­führt (vgl. Stein­mau­rer 2013) – für Mi­chel Fou­cault in der Auf­arbei­tung und theo­re­ti­ schen Ana­lyse der Ent­wick­lung von Epis­te­men und Wis­sens­for­ma­tio­nen in der Ge­ sell­schaft. Da­bei ging es ins­be­son­dere um die Frei­le­gung darin ein­ge­schrie­be­ner Struk­tu­ren von Macht und do­mi­nie­ren­der Dis­kur­se (vgl. Fou­cault 1978). Mit dem Mo­dell des Dis­po­si­tivs be­schrieb er jene Be­zie­hun­gen und Netz­wer­ke, aus de­ren Zu­sam­men­wir­ken do­mi­nante Struk­tu­ren in der Ge­sell­schaft her­vor­ge­hen und sich in ge­sell­schaft­li­chen Hand­lungs­prak­ti­ken fest­set­zen. Ad­ap­tiert für die Ana­lyse von Phä­no­me­nen und Struk­tu­ren in der Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­for­schung – ex­ em­pla­risch er­arbei­tet im Kon­text der Film- und Fern­seh­theo­rie von Bau­dry (1993) bzw. Hi­cket­hier (1992) – er­öff­net die Be­zug­nahme dar­auf die Mög­lich­keit, die nun­mehr auch in me­dien­tech­no­lo­gi­schen Kon­fi­gu­ra­tio­nen ein­ge­schrie­be­nen Do­ mi­nanz­struk­tu­ren und de­ren Ein­fluss auf Phä­no­mene der Me­dia­ti­sie­rung frei­zu­le­ gen. Nach Hi­cket­hier er­klä­ren sich »Me­dien­dis­po­si­tive [. . .] aus dem Zu­sam­men­ wir­ken von tech­ni­schen Be­din­gun­gen, ge­sell­schaft­li­chen Ord­nungs­vor­stel­lun­gen, nor­ma­tiv-kul­tu­rel­len Fak­to­ren und men­ta­len Ent­spre­chun­gen auf der Seite der Zu­ schau­er, die aus dem Ak­zep­tie­ren sol­cher macht- und ord­nungs­po­li­ti­schen, den kul­tu­rel­len Kon­ven­tio­nen und psy­chi­schen Ge­stimmt­hei­ten und Er­war­tun­gen« hervorgehen (Hi­cket­hier 1993: 21). Um­ge­legt auf die Kon­stel­la­tion der di­gi­ta­len Dau­er­ver­net­zung und das Dispositiv ei­ner »me­dia­ti­sier­ten Kon­nek­ti­vi­tät« adres­ siert dies so­wohl die tech­ni­schen Kon­fi­gu­ra­tio­nen, die da­mit zu­sam­men­hän­gen­den Netzwerkangebote und Ap­pli­ka­tio­nen so­wie da­hin­ter lie­gende öko­no­mi­sche Mo­ delle als auch da­für ty­pi­sche Nut­zungs­mus­ter und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­di. Die­ser Ana­ly­se­zu­gang zeich­net sich nicht nur durch eine Fo­kus­sie­rung auf die his­to­ri­sche Ge­wach­sen­heit der­ar­ti­ger Kon­stel­la­tio­nen aus, son­dern ver­sucht auch, die Inter­ de­pen­den­zen zwi­schen den Ein­zel­as­pek­ten zu erfassen und fragt da­bei ins­be­son­ dere nach Kon­stel­la­tio­nen von Macht. Das Den­ken in Dis­po­si­ti­ven bie­tet so­mit ein theo­re­ti­sches Ana­ly­se­ras­ter der vor­dring­lich kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit Di­men­sio­nen, die auf do­mi­nie­rende Struk­tu­ren hin­wei­sen und diese für wei­tere The­men­fel­der kon­text­ua­li­sier­bar ma­chen. Für Bühr­mann/Schnei­der (2013: 22 f.) zielt der Dis­po­si­tiv­be­griff im Kon­text von Me­dien »auf das kom­plexe Zu­sam­men­ spiel von tech­ni­scher Ap­pa­ra­tur, Me­dien­in­hal­ten so­wie in­sti­tu­tio­nel­len Prak­ti­ken ihrer Pro­duk­tion und vor al­lem ihrer Re­zep­tion bzw. Nut­zung«, mit dem Ziel, »ge­ sell­schaft­li­che Macht- und Herr­schafts­ver­hält­nisse auf­zu­de­cken und nach Ver­än­

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de­rungs­mög­lich­kei­ten zu su­chen«. Für die in di­gi­ta­len Netz­wer­ken sich durch­set­ zen­den Kom­mu­ni­ka­tions­stile be­deu­tet dies, dass auch in der­ar­tige Hand­lungs- und Ver­net­zungs­struk­tu­ren do­mi­nie­rende Lo­gi­ken ein­ge­schrie­ben sind, die zu­meist aus den tech­ni­schen und öko­no­mi­schen Stra­te­gien von Platt­form- und/oder Hard­ ware­an­bie­tern her­vor­ge­hen. Im Fall der gro­ßen Netz­werk­play­er, wie Fa­ce­book, Google und Co., ge­hor­chen diese den Im­pe­ra­ti­ven ei­ner se­kun­dä­ren Ver­mark­tung von Daten­spu­ren und ei­ner da­mit zu­sam­men­hän­gen­den Öko­no­mi­ni­sie­rung kom­ mu­ni­ka­ti­ver Hand­lungs­pro­zes­se. In Ver­bin­dung da­mit ste­hen neue Aus­hand­lungs­ pro­zesse zwi­schen den Zonen des Pri­va­ten und Öf­fent­li­chen, die zu Ef­fek­ten ei­ner zu­neh­men­den Of­fen­le­gung pri­va­ter Hand­lungs- und Le­bens­wel­ten in den Sphä­ren öf­fent­li­cher und für je­der­mann zu­gäng­li­cher Netz­werke füh­ren. Zu­dem spie­len in den neuen Netz­wer­ken Spiel­ar­ten der Über­wa­chung eine große Rol­le, die nicht (mehr) nur von ei­nem zen­tra­lis­ti­schen »di­gi­ta­len Pan­op­ti­con« aus­ge­hen, son­dern auch auf der Ebene in­di­vi­du­el­ler Netz­werk­teil­neh­mer/in­nen die Sicht­bar­keit des Kom­mu­ni­ka­tions­ver­hal­tens deut­lich er­hö­hen und da­mit auch For­men gegenseitiger Über­wa­chung er­öff­nen. Diese hier nur bei­spiel­haft ge­nann­ten Ent­wick­lun­gen ste­hen für jene Ein­fluss­kräf­te, die den dis­po­si­ti­ven Cha­rak­ter me­dia­ti­sier­ter Kon­ nek­ti­vi­täts­for­men cha­rak­te­ri­sie­ren. Bei der­ar­ti­gen Pro­zes­sen tech­ni­scher Me­dia­ti­sie­rung han­delt es sich um Kom­ mu­ni­ka­tions- und Ver­net­zungs­for­men, die sich in­zwi­schen mit gro­ßer Brei­ten­wir­ kung in der Ge­sell­schaft eta­bliert ha­ben. In der kon­kre­ten Nut­zungs­wirk­lich­keit sto­ßen wir auf die Tat­sa­che, dass Pro­ble­ma­ti­ken über die tat­säch­li­chen Wir­kungs­ me­cha­nis­men hin­ter den schö­nen Ober­flä­chen der Inter­faces nur be­dingt re­flek­tiert wer­den. Oder wir fin­den – wie in Form des »Pri­va­cy-Pa­ra­dox« – Be­fun­de, wo­nach zwar Fra­gen des Schut­zes von Pri­vat­heit als sol­che er­kannt und kri­tisch hin­ter­ fragt, im Zuge der All­tags­nut­zung aber viel­fach ver­wor­fen oder als kom­mu­ni­ka­tive Kol­la­te­ral­schä­den hin­ge­nom­men wer­den. In der Folge gilt es zu be­den­ken, wel­che Kon­se­quen­zen sich aus dis­po­si­ti­ven Struk­tu­ren di­gi­ta­ler Netz­werke und ins­be­son­ dere aus Hand­lungs­prak­ti­ken in der di­gi­ta­len (Dau­er)Ver­net­zung er­ge­ben und in wel­cher Weise sie auch für die Ent­wick­lungs­pro­zesse von Öf­fent­lich­kei­ten eine Rolle spie­len. Da­für ist zu­nächst auf jene Struk­tur­ver­än­de­run­gen hin­zu­wei­sen, die mit neuen Ver­ge­mein­schaf­tungs- und Öf­fent­lich­keits­pro­zes­sen über di­gi­tale Netz­ werke zu ver­bin­den sind und wel­che ge­sell­schaft­li­che Re­le­vanz ih­nen zu­ge­schrie­ ben wer­den kann.

Öf­fent­lich­kei­ten unter neuen Rah­men­be­din­gun­gen Wenn sich durch For­men der di­gi­ta­len Ver­net­zung die Mög­lich­kei­ten neuer di­rek­ te­rer Par­ti­zi­pa­tions­for­men auf der Ebene der In­di­vi­duen die Zahl von Öf­fent­lich­ keits­räu­men deut­lich er­wei­tert (vgl. Rom­ahn in die­sem Band) und gleich­zei­tig auf

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der Ma­kro­ebene die Aus­bil­dungs­for­men von sta­bi­len um­fas­sen­den Öf­fent­lich­keits­ struk­tu­ren ero­die­ren, stel­len sich Fra­gen nach der Struk­tu­rie­rung von Öf­fent­lich­ keits­pro­zes­sen noch ein­mal neu. Denn ge­rade unter den veränderten Be­din­gun­gen ei­ner fort­schrei­ten­den di­gi­ta­len Ver­net­zung stel­len wir – nicht zu­letzt durch den Meta­pro­zess der In­di­vi­dua­li­sie­rung be­för­dert – zu­neh­mende Frag­men­tie­rungs­ten­ den­zen in der Ge­sell­schaft fest, denen aus den Po­ten­zia­li­tä­ten di­gi­ta­ler Netz­werk­ struk­tu­ren her­aus neue Mög­lich­kei­ten ge­sell­schaft­li­cher Re-In­te­gra­tions­ten­den­zen gegen­über­ste­hen. Ak­tu­ell sto­ßen wir auf eine Reihe sehr am­bi­va­len­ter Be­funde über das Po­ten­zial netz­werk­ba­sier­ter Ver­ge­mein­schaf­tungs­for­men, die nicht im­ mer zu ein­deu­ti­gen Schlüs­sen kom­men, wenn es um die Frage der Öf­fent­lich­kei­ten geht. So zählt etwa Ha­ber­mas zu je­nen kri­ti­schen Stim­men, die da­von aus­ge­hen, dass »vor­erst [. . .] im vir­tu­el­len Raum die funk­tio­na­len Äqui­va­lente für die Öf­ fent­lich­keits­struk­tu­ren [feh­len], die die de­zen­tra­len Bot­schaf­ten wie­der auf­fan­gen, se­le­gie­ren und in re­di­gier­ter Form syn­the­ti­sie­ren«. (Ha­ber­mas 2008: 162) Auch Dahl­berg äu­ßert sich skep­tisch über die De­li­be­ra­tions­qua­li­tä­ten, die wir im Inter­ net vor­fän­den. Dem gegen­über ar­gu­men­tiert Münker, der – ge­rade mit Ver­weis auf die Dy­na­mik des Web 2.0 – einer »De­zen­trali­tät der tech­ni­schen Ba­sis des Inter­ nets [. . .] zen­tra­li­sie­rende Wir­kun­gen sei­ner me­dia­len Nut­zung« (Münker 2009: 111 f.) zu­schreibt. Und er hält dazu wei­ter fest, dass »die di­gi­ta­len Öf­fent­lich­kei­ten [. . .] schließ­lich ein­zig durch die kol­la­bo­ra­tive Par­ti­zi­pa­tion der Nut­zer im In­ne­ren der Zi­vil­ge­sell­schaft, nicht neben ihr« ent­stün­den. Des­halb wür­den die »so­zia­len Me­dien des Net­zes [. . .] nicht zwi­schen ge­trenn­ten Sphä­ren« ver­mit­teln, son­dern sie so­gar »ver­mi­schen«. (Münker 2009: 113) Zu­dem sei nach Neu­ber­ger die »frag­ men­tierte« Öf­fent­lich­keit im Netz in­so­fern als eine »op­ti­sche Täu­schung« zu se­ hen, da im »Inter­net [. . .] nun al­les ver­sam­melt [ist], was vor­her ge­trennt war«. (Neu­ber­ger/von Ho­fe/Nu­ern­bergk 2010: 14) Wei­ters hat etwa Kat­zen­bach (2010) auf die Be­deu­tung von We­blogs als Mög­lich­keit der Über­brü­ckung und Durch­drin­ gung unter­schied­li­cher Sphä­ren von Öf­fent­lich­kei­ten hin­ge­wie­sen. Tech­no­lo­gisch ver­netzte Kom­mu­ni­ka­tions­in­fra­struk­tu­ren sind also ge­ra­dezu prä­des­ti­niert, Ebe­nen von Öf­fent­lich­kei­ten zu durch­drin­gen, Durch­läs­sig­keit zu schaf­fen und Ver­bin­dun­ gen her­zu­stel­len. Und dies mit der Be­son­der­heit, dass me­diale Ver­brei­tungs­lo­gi­ken da­mit um­gan­gen wer­den, ein hö­he­rer Be­zug zu den An­lie­gen der darin agie­ren­den Au­to­rin­nen und Au­to­ren her­ge­stellt ist und die »Mög­lich­kei­ten zur An­schluss­kom­ mu­ni­ka­tion« deut­lich er­höht wer­den. (Vgl. Kat­zen­bach 2010: 206) Da­mit ge­ra­ten – wie von Eli­sa­beth Klaus in unter­schied­li­che Ebe­nen von ein­ fa­chen, mitt­le­ren und kom­ple­xen ka­te­go­ri­sier­ten – Öf­fent­lich­kei­ten in Be­we­gung, neue Misch­ver­hält­nisse ent­ste­hen und ver­ti­kale wie ho­ri­zon­tale Kräf­te­ver­hält­nisse ent­fal­ten durch die Wech­sel­be­zie­hun­gen der di­gi­ta­len Ver­net­zung ihre Wir­kung. Heute sind es vermutlich eher die »di­gi­ta­len zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Sa­lons« und Gegen­öf­fent­lich­kei­ten bzw. »sub­al­ter­nen Öf­fent­lich­kei­ten« (vgl. Fra­ser 1992), die

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das Feld ent­schei­dend er­wei­tern. An­ders als die bür­ger­li­chen Sa­lons des 18. Jahr­ hun­derts sind die di­gi­ta­len Orte von ei­ner De­li­be­ra­tion von räum­li­chen und zeit­ li­chen Be­schrän­kun­gen weit­ge­hend be­freit, sie wir­ken de­ter­ri­to­ria­li­siert, nun­mehr trans­na­tio­nal und ver­net­zen bis­lang von­ein­an­der ge­trennte Orte und Räu­me. Dazu ge­hö­ren glo­bal agie­ren­den Fo­ren des zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Pro­tests (von Green­peace bis Oc­cupy) ebenso wie über die Blog­ger/in­nen-Sphäre in­iti­ierte neue Kom­mu­ni­ka­tions­fo­ren. Ent­gegen der kri­ti­schen Be­fürch­tung, Teil­öf­fent­lich­kei­ten wür­den zu ei­ner Ver­in­se­lung von Kom­mu­ni­ka­tions­strö­men füh­ren, brachte – wor­ auf Eli­sa­beth Klaus und Ri­carda Drüeke hin­ge­wie­sen ha­ben – v. a. auch die fe­ mi­nis­ti­sche Me­dien­for­schung al­ter­na­tive Kon­zepte ein. So zeigte Nancy Fra­ser, »dass das de­mo­kra­ti­sche Ideal der gleich­be­rech­tig­ten Par­ti­zi­pa­tion (ge­ra­de) durch eine Viel­zahl von Öf­fent­lich­kei­ten bes­ser zu ver­wirk­li­chen sei«. (Klaus/Drüeke 2012: 61) Dahl­berg (2007) for­dert so­gar eine Re-Ra­di­ka­li­sie­rung der im Inter­ net sich for­mie­ren­den Dis­kurs­wel­ten als pro­duk­tive Grund­vor­aus­set­zung für den Wi­der­streit von Po­si­tio­nen. Eine Viel­falt und ein Aus­bau unter­schied­li­cher – wie Suns­tein sie nennt – »de­li­be­ra­ti­ver En­kla­ven« sei nach ei­nem ra­di­kal­de­mo­kra­ti­ schen (oder »coun­ter-po­li­tics«-) An­satz – nach Dahl­berg (2011) im Sinne ei­ner pro­duk­tive Frag­men­tie­rung zwi­schen do­mi­nan­ten und mar­gi­na­li­sier­ten Dis­kur­sen so­gar an­zu­stre­ben. Al­ler­dings muss es auch ge­lin­gen, Platt­for­men der Ver­bin­dun­ gen zwi­schen ih­nen her­zu­stel­len. Zu den­ken ist in die­sem Zu­sam­men­hang nicht an klas­si­sche Me­dien, son­dern an un­ab­hän­gige de­mo­kra­ti­sche On­line-In­itia­ti­ven (wie die bri­ti­sche In­itia­tive Open­De­mo­cra­cy), die als Inter­me­diäre derartige Funk­ tionen leis­ten können. In die­sem Zu­sam­men­hang gilt es aber auch die Kon­zep­tion von Netz­wer­ken, wie Ge­ert Lo­vink sie be­greift, zu be­den­ken. Er cha­rak­te­ri­siert Netz­werke als post-re­prä­sen­ta­tiv, da sie – an­ders als in gän­gi­gen de­mo­kra­ti­ schen Me­cha­nis­men – nicht be­an­spru­chen, für je­mand an­de­ren zu spre­chen. (Vgl. Lo­vink 2012: 212) Im gegen­wär­ti­gen Sta­dium der Trans­for­ma­tion sto­ßen wir zudem noch auf das Phä­no­men, dass ge­rade aus der Inter­ak­tion zwi­schen Netz­öf­fent­lich­kei­ten und klas­si­schen – ebenso im Netz agie­ren­den – Me­dien eine neue Ba­sis der Ag­glo­me­ ra­tion und Inter­ak­tion von Kom­mu­ni­ka­tions­pro­zes­sen ent­steht. Auf ex­pli­zit po­li­ti­ scher Ebene zeigte sich die mo­bi­li­sie­rende Kraft der di­gi­ta­len Ver­net­zung u. a. im sogenannten »Ara­bi­schen Früh­ling« oder schon zu­vor in den Pro­test­be­we­gun­gen gegen die Re­gie­rung Estrada auf den Phil­ip­pi­nen. Ge­rade die über mo­bile Tech­ no­lo­gien or­ga­ni­sierte Be­we­gung »Peo­ple Po­wer II« gegen den phil­ip­pi­ni­schen Prä­si­den­ten stand bei­spiel­haft für die große Mo­bi­li­sie­rungs­kraft ver­netz­ter Kom­ mu­ni­ka­tions­tech­no­lo­gien. Cas­tells ar­gu­men­tiert in die­sem Zu­sam­men­hang »that the mo­bile phone – as a me­dium that is portable, per­so­nal, and pre­pa­red to re­ceive and de­li­ver messages an­yti­me, an­yw­here – can per­form the mo­bi­li­za­tion function much more ef­fi­ciently than ot­her communication chan­nels at the tip­ping point of a po­li­ti­cal movement«. (Cas­tells 2007: 192) Im Fall des »Ara­bi­schen Früh­lings«

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tra­ten er­neut die Mo­bi­li­sie­rungs­po­ten­ziale neuer Tech­no­lo­gien au­gen­schein­lich zu Ta­ge, stie­ßen dann al­ler­dings auch an ihre Gren­zen, als es um Maß­nah­men der kon­kre­ten Um­set­zung von po­li­ti­schen For­de­run­gen auf der Ebene von Ge­set­zen ging. Die neuen mo­bi­len Kom­mu­ni­ka­tions­tech­no­lo­gien dürf­ten aber wenn nicht als Aus­lö­ser, so doch im­mer­hin als Ka­ta­ly­sa­to­ren (vgl. Höf­lich 2011: 36) ge­wirkt ha­ben, denn sie ka­na­li­sier­ten und dy­na­mi­sier­ten In­for­ma­tions­ströme und ver­fügten über das Po­ten­zial, unter­schied­li­che Öf­fent­lich­kei­ten – reale wie vir­tu­elle Wel­ten oder glo­bale mit lo­ka­len – mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Eine eher skep­ti­sche Ein­ schät­zung zur Wir­kung mo­bi­ler Kom­mu­ni­ka­tions­tech­no­lo­gien der Ver­net­zung fin­ den wir wie­derum bei Ger­gen, der von der Ge­fahr der Ent­ste­hung »mo­na­di­scher« Clus­ter spricht, die – ver­wei­send auf Sennet oder Put­nam – zu ei­ner Ab­schot­tung der In­di­vi­duen von ihren zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Ver­net­zungs­mög­lich­kei­ten füh­ ren wür­den, da sich darin nur zir­ku­läre Selbst­be­stä­ti­gungs­pro­zesse ma­ni­fes­tie­ren. »Es­sen­ti­ally we are wit­nes­sing a shift from ci­vil society to mo­na­dic clusters of close relationships. Cell pho­nes technology fa­vors with­dra­wal from participation in face-to-face com­mu­nal participation.« (Ger­gen 2008: 302) Diese Ten­den­zen könn­ten ins­be­son­dere für die lo­kale Ebene gel­ten. Auf na­tio­na­ler Ebene sieht Ger­ gen aber durch­aus Po­ten­ziale für brei­ten­wirk­same Ak­tions­be­we­gun­gen, die über mo­bile Tech­no­lo­gien der Kom­mu­ni­ka­tion ge­stärkt wer­den. Auch Ling (2004: 192) spricht von der Ge­fahr von »wal­led com­mu­ni­ties«, in denen ri­tua­li­sierte Selbst­be­ züg­lich­kei­ten zwi­schen ähn­lich ge­la­ger­ten In­ter­es­sen ab­lau­fen und die eine »Bal­ ka­ni­sie­rung« so­zia­ler Inter­ak­tio­nen zur Folge ha­ben könn­ten. Da­mit ste­hen ins­ge­samt Po­ten­ziale ei­ner stär­ke­ren zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Ver­ an­ke­rung und ei­ner Ver­brei­te­rung wi­der­strei­ten­der Dis­kurs­wel­ten Ge­fah­ren ei­ner Frag­men­tie­rung oder auch Iso­lie­rung gegen­über. Im der­zei­ti­gen Sta­dium der Trans­ for­ma­tion schei­nen ge­rade aus der Inter­ak­tion me­dia­ler und ver­netz­ter Kom­mu­ni­ ka­tions­platt­for­men dy­na­mi­sche Po­ten­ziale her­vor­zu­ge­hen, aus denen heraus sich neue Öf­fent­lich­keits­for­men aus­bil­den. Es ist jeden­falls ins­ge­samt von ei­ner Trans­ for­ma­tion kom­mu­ni­ka­ti­ver Be­din­gun­gen aus­zu­ge­hen, in der sich vor dem Hin­ter­ grund ei­ner Zu­nahme von Me­dia­ti­sie­rungs­ef­fek­ten auf Ba­sis ei­ner hoch­gra­dig in­ di­vi­dua­li­sier­ten und auch im Zu­stand der Mo­bi­li­tät je­der­zeit mög­li­chen Ver­net­zung grund­le­gende Ver­schie­bun­gen er­ge­ben. Faßler (2008: 203) spricht etwa »ge­stützt und be­kräf­tigt durch eine fort­schrei­tende Öko­no­mi­sie­rung und so­zie­täre Or­ga­ni­ sa­tion der In­for­ma­tions­flüsse« von »Über­gän­gen von Mas­sen­in­di­vi­dual­me­dien zu glo­ba­len Grup­pen­me­dien«, die das »Ent­ste­hen völ­lig neu­ar­ti­ger Grup­pen­struk­tu­ ren« mit sich brin­gen. Und die neuen glo­bal agie­ren­den An­bie­ter und Kom­mu­ni­ka­ tions­platt­for­men er­gän­zen nicht nur klas­si­sche For­men me­dia­ler Kom­mu­ni­ka­tion, son­dern do­mi­nie­ren mitt­ler­weile in Teil­be­rei­chen kom­mu­ni­ka­tive In­fra­struk­tu­ren der Ge­sell­schaft und sor­gen eben da­mit auch für eine Dy­na­mi­sie­rung und Neu­ aus­rich­tung der Rah­men­be­din­gun­gen von und für Kom­mu­ni­ka­tion. Wei­ters be­ ein­flus­sen sie – wie oben an­ge­spro­chen – in ei­nem nicht un­be­trächt­li­chen Aus­maß

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die Rah­men­be­din­gun­gen kom­mu­ni­ka­ti­ver Hand­lungs­for­men. Ins­ge­samt sei nach Shel­ler/Urry mit ei­ner Ver­än­de­rung der öf­fent­li­chen Sphäre zu rech­nen, wenn die Durch­drin­gung mit neuen mo­bi­len Kom­mu­ni­ka­tions­tech­no­lo­gien wei­ter zu­nimmt. »In many ways, then, the re­con­fig­ u­ra­tion of complex mo­bi­lity and communication systems is not sim­ply ab­out in­fras­truc­tu­res but the re­fi­gu­ring of the pu­blic it­self – its mea­nings, its sca­pes, its ca­pa­ci­ties for self-organization and po­li­ti­cal mo­bi­li­ za­ti­on, and its mul­tiple and fluid forms.« (Shel­ler/Urry 2006: 8)

Dis­po­si­tive in den Öf­fent­lich­kei­ten Wenn wir nun die oben an­ge­spro­che­nen Am­bi­va­len­zen im Über­gang in die ver­ netz­ten Wel­ten der Kom­mu­ni­ka­tion als jene neuen Be­din­gun­gen ernst nehmen, in de­ren Rah­men auch neue For­men und For­ma­tio­nen von (po­li­ti­schen) Öf­fent­ lich­kei­ten ent­ste­hen, gilt es – wie an­ge­spro­chen – zu be­den­ken, dass wir in je­nen Netz­wer­ken, die ver­mehrt große Nut­zer­ströme an­zie­hen, eben auch mit dis­po­si­ti­ ven Do­mi­nan­zen und he­ge­mo­nia­len Struk­tu­ren zu rech­nen ha­ben, die das Spiel der Kräfte deut­lich be­ein­flus­sen. Wie u. a. schon Dahl­berg (2001) oder Dahl­gren (2005) fest­ge­stellt ha­ben, fin­den wir heute das Inter­net weit­ge­hend von kom­mer­ziel­len In­ ter­es­sen ko­lo­nia­li­siert und do­mi­niert. In die­sem Zu­sam­men­hang gilt es zu­nächst zu be­den­ken, dass die Nut­ze­rin­nen und Nut­zer in den mas­sen­at­trak­ti­ven Platt­for­men nicht so sehr als Bür­ge­rin­nen und Bür­ger adres­siert wer­den, son­dern ver­mehrt als Kun­din­nen und Kun­den glo­ba­ler Player Stra­te­gien ei­ner Kommodifizierung unter­ lie­gen. Es sind die »User/in­nen« selbst, die qua ihres Kom­mu­ni­ka­tions­ver­hal­tens und durch die Zu­wen­dung ihrer Auf­merk­sam­keit und Daten­spu­ren jene Pro­dukte her­stel­len, de­ren Ver­mark­tung große Play­er wie Fa­ce­book oder Google erfolgreich be­trei­ben. Die­ser Transfer fin­det nicht sel­ten als ein Tausch der Frei­gabe per­sön­li­ cher Daten gegen den Gewinn ei­ner so­zia­len Ein­bin­dung und Ver­net­zung statt. Mit dem Ein­ge­hen der­ar­ti­ger Be­zie­hun­gen unter­wirft man sich aber – mehr oder we­ni­ ger be­wusst – ei­nem Set von Spiel­re­geln, die die me­dia­ti­sier­ten Hand­lungs­for­men der on­line agie­ren­den und kom­mu­ni­zie­ren­den Netz­werk­teil­neh­mer/in­nen nur in ge­wis­sen vordefinierten Bah­nen agie­ren las­sen. Al­ter­na­tive oder gar wi­der­stän­dige Kom­mu­ni­ka­tions- und Hand­lungs­for­men wer­den nicht sel­ten aus­ge­schlos­sen bzw. blei­ben stark ein­ge­schränkt. Vor dem Hin­ter­grund die­ser Rah­men­be­din­gun­gen gilt es die Hand­lungs- und Prä­sen­ta­tions­ebe­nen der ein­zel­nen User/in­nen zu be­den­ken, wenn sie in kom­mer­ zia­li­sier­ten Netz­wer­ken öf­fent­lich­keits­re­le­vant agie­ren. Denn Platt­for­men wie Fa­ce­book drän­gen die darin kom­mu­ni­ka­tiv han­deln­den In­di­vi­duen nicht nur zu Ent­äu­ße­run­gen ihrer pri­va­ten Le­bens­wel­ten, son­dern nicht sel­ten auch in ei­nen Prä­sen­ta­tions­mo­dus ihrer Hand­lungs­for­men, die auf eine Po­si­ti­vie­rung und Per­ fek­tio­nie­rung ihrer Per­sön­lich­keits­dar­stel­lun­gen hin­aus­lau­fen. Brö­ckling (52013)

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spricht in die­sem Zu­sam­men­hang von ei­nem »unter­neh­me­ri­sches Selbst«, das auf eine »öko­no­mi­sche Mo­del­lie­rung des Sub­jekts« (Reck­witz 2006: 599) ab­zielt und ihm eine Iden­ti­täts­arbeit ab­ver­langt, die eine dau­ernde Selbst­ak­tua­li­sie­rung als er­folg­rei­ches In­di­vi­duum er­for­dert. Das In­di­vi­duum ist – mit Fou­cault – da­mit zu For­men der Selbst­mo­del­lie­rung auf­ge­ru­fen und wird zu ei­nem per­ma­nen­ten Selbst­ma­na­ge­ment ge­führt. Ten­den­ziell wird es da­mit zu ei­nem »homo oe­co­no­ mi­cus« bzw. ei­ner Unter­neh­me­rin/ei­nem Unter­neh­mer ihrer/sei­ner selbst, zu ei­ner »Ich-AG«. Schließ­lich fin­den wir in Fa­ce­book nur den Mo­dus der »Li­kes« als Ver­net­zungs­prin­zip vor­ge­ge­ben und die Op­tion von »Dis­li­kes« ver­geb­lich in den Me­nü­leis­ten mög­li­cher Inter­ak­tions­for­men. Eine der­art unter­stützte Ten­denz in eine »Po­si­tiv­ge­sell­schaft mei­det jede Spiel­art der Ne­ga­ti­vi­tät, denn diese bringt die Kom­mu­ni­ka­tion ins Sto­cken«. (Han 2012: 16 f.) Zu­dem stel­len wir im­mer wie­der Be­we­gun­gen hin zu ei­nem ge­wis­sen Hyper-Ex­hi­bi­tio­nis­mus fest, der wie­derum zu ei­nem »Hyper-Kon­for­mis­mus« füh­ren kann, wie das Deuze be­stä­tigt »[. . .] The pro­cess and prac­tice of self-iden­ti­fi­ca­ti­on, self-brand­ing and sub­se­quent self-creation in media in­evi­ta­bly ends up with so­meone be­co­ming the person ever­ybody else ex­pects them to be.« (Deuze 2012: 242) Für Bühr­mann/Schnei­der set­zen sich im Kon­text der Dis­po­si­tiv-Ana­ly­sen da­mit und mit der Ent­wick­lung von »SelbstPrak­ti­ken« bzw. der von Fou­cault ein­ge­brach­ten »Tech­no­lo­gien des Selbst« Pro­ zesse in Gang, »bei denen vor­mals ex­ter­ne, also etwa in­sti­tu­tio­na­li­sierte Dis­zi­pli­ nie­rungs­pra­xen in die In­di­vi­duen hin­ein ver­la­gert« (Bühr­mann/Schnei­der 2008: 70) wer­den. By­ung-Chul Han (2014: 44 f.) spricht so­gar von ei­ner »neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie der Selbst­op­ti­mie­rung«, die »re­li­giö­se, ja fa­na­ti­sche Züge« ent­wickle und das »Sub­jekt des neo­li­be­ra­len Re­gimes« zu­grunde ge­hen las­se. Wenn wir nun da­von aus­ge­hen, dass For­ma­tio­nen von Öf­fent­lich­kei­ten auch über Platt­for­men wie Fa­ce­book zu­neh­mend ge­bil­det wer­den, gilt es sich dar­über im Klaren zu sein, dass auch der­ar­tige Struk­tur­prin­zi­pien die Aus­prä­gung von Ver­net­zungs­in­itia­ti­ven (zu­min­dest par­tiell) mit­be­stim­men und be­ein­flus­sen kön­nen. So fin­den wir etwa nicht zu­letzt unter dem Druck sich durch­set­zen­der In­di­vi­dua­li­sie­rungs­ten­den­zen kri­ti­sche Be­fun­de, die für die Frage von Be­tei­li­gungs­for­men eher von Frag­men­ tie­rungs- als von In­te­gra­tions­ef­fek­ten aus­ge­hen. By­un-Chul Hans Aus­ein­an­der­set­ zung mit dem (an Buber an­ge­lehn­ten) dia­log­orien­tier­ten Netz­werk­den­ken Flussers ver­deut­licht, dass die da­mit ver­bun­de­nen Hoff­nun­gen auf eine Über­win­dung al­ter In­for­ma­tions­re­gime und ei­nen ge­wis­sen »Mes­sia­nis­mus der Ver­net­zung« viel­fach nicht Er­fül­lung ge­hen wür­den. »Die di­gi­tale Kom­mu­ni­ka­tion lässt die Ge­mein­ schaft, das Wir, viel­mehr stark ero­die­ren. Sie zer­stört den öf­fent­li­chen Raum und ver­schärft die Ver­ein­ze­lung des Men­schen.« (Han 2013: 65) Dar­über hin­aus gilt es für da­mit auch an­ge­spro­chene For­men po­li­ti­scher Par­ ti­zi­pa­tions­leis­tun­gen wei­ter­hin zu be­den­ken, dass wir es – ge­rade unter den Be­ din­gun­gen ei­ner di­gi­ta­len Dau­er­ver­net­zung des In­di­vi­du­ums und aus ei­ner da­mit ver­bun­de­nen ge­wis­sen Ver­ein­ze­lung her­aus – auch mit For­men der Teil­habe zu

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tun ha­ben, die oft nur schein­bar zu real­po­li­ti­schen Par­ti­zi­pa­tions­for­men füh­ren, wenn näm­lich nur über »Li­kes« oder ra­sche Zu­stim­mungs­be­kun­dun­gen im Netz dem In­di­vi­duum das Ge­fühl ver­mit­telt wird, dar­über auch kon­kret po­li­tisch ak­tiv zu sein. Diese For­men des »Slack­ti­vism« – also des »fau­len« oder »be­que­men« Ak­ti­vis­mus – sind nicht sel­ten ty­pisch für di­gi­tale Par­ti­zi­pa­tions­for­men und kön­ nen da­her für real-ak­tive For­men po­li­ti­scher Be­tei­li­gung durch­aus kon­tra­pro­duk­ tiv sein. Zu­dem gilt es in den di­gi­ta­len Netz­wer­ken und in darin sich for­mie­ren­den Öf­ fent­lich­keits­for­men jene Am­bi­va­len­zen zu verfolgen, die am Um­schlag­punkt zwi­ schen Trans­pa­renz und Über­wa­chung zu ver­or­ten sind. By­ung-Chul Han (2014: 20) nennt es das »Transparenz-Dispositiv«, da die »To­tal­ver­net­zung [. . .] ei­nen Ef­fekt der Kon­for­mi­tät (er­zeugt), als würde je­der jeden über­wa­chen, und zwar vor je­der Über­wa­chung und Steue­rung durch Ge­heim­dienste«. Wenn sich der­ar­tige dis­po­si­tive Ef­fekte des Kon­for­mi­täts­drucks auch in netz­werk­ba­sier­ten Öf­fent­lich­ keits­be­we­gun­gen ma­ni­fes­tie­ren, wird es die Ver­spre­chen über die Ef­fek­ti­vi­tät di­gi­ ta­ler Kam­pa­gnen und Par­ti­zi­pa­tions­be­we­gun­gen kritisch zu beobachten gel­ten.

Jen­seits der Dis­po­si­ti­ve? Re­sü­miert man mit Blick auf die in di­gi­ta­len Netz­wer­ken wirk­sa­men Dis­po­si­tiv­ struk­tu­ren sich für die For­mie­rung von Öf­fent­lich­keits­struk­tu­ren er­ge­ben­den Kon­ se­quen­zen, for­dert uns dies zu ei­nem Nach­den­ken über Al­ter­na­ti­ven auf. Denn will man den oben an­ge­spro­che­nen Ten­den­zen, die mit den Netz­werk­ak­ti­vi­tä­ten gro­ßer kom­mer­ziel­ler Player ver­bun­den sind, ent­ge­hen, wird es neuer Platt­for­men der Ver­net­zung und der qua­li­fi­zier­ten Mo­de­ra­tion von Öf­fent­lich­kei­ten be­dür­fen, um digitale Vernetzungsprozesse de­mo­kra­tie­fä­hig zu hal­ten. Da­bei gilt es so­wohl auf der Ebene des Wis­sens und der Fä­hig­kei­ten der ein­zel­nen Nut­ze­rin­nen und Nut­zer an­zu­set­zen als auch über Netz­werk­for­men nach­zu­den­ken, die jen­seits und au­ßer­ halb kom­mer­ziel­ler Zwänge De­li­be­ra­tions­leis­tun­gen für die Ge­sell­schaft wie auch ago­nis­tisch orien­tierte Dis­kurs­ver­hand­lun­gen mög­lich ma­chen bzw. er­brin­gen kön­ nen. Nick Coul­dry spricht sich etwa da­für aus, dass es nicht nur an den han­deln­den Ak­teu­rin­nen/Ak­teu­ren im Rück­griff auf ihre Kom­pe­ten­zen lie­gen kann, Netz­wer­ ken zu ver­trau­en, son­dern es v. a. ver­trau­ens­wür­dige Netz­werke braucht, wie sie etwa für Pro­zesse der po­li­ti­schen De­li­be­ra­tion ge­sell­schaft­lich re­le­vant sind. (vgl. Coul­dry 2012) Da­hin­ge­hend läge es etwa na­he, ver­stärkt auf Po­ten­ziale der Digital Com­mons zu set­zen, die – mit­un­ter auf­bau­end auf der Idee der Crea­tive Com­mons und der Free Soft­ware-Be­we­gung – auf freie Zu­gangs- und Nut­zungs­for­men set­ zen und auf nicht­kom­mer­ziel­len Netz­werk­lo­gi­ken zur Er­zie­lung ge­mein­wohl­för­ der­li­cher Mehr­werte auf­bau­en. Mur­dock (2012) ver­steht Digital Com­mons als »a site in which the con­tra­dic­ti­ons, relations and values of pu­blic life may be freely

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di­scus­sed [. . .] as a web of social relations, ethos of sha­red access, [. . .] joint re­spon­si­bi­lity rather than in­di­vi­dual advantage«. Ge­rade Digital Com­mons adres­ sie­ren die Nut­ze­rin­nen und Nut­zer nicht als Kon­su­men­tin­nen und Kon­su­men­ten, son­dern als Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, de­ren Par­ti­zi­pa­tions­po­ten­ziale und -be­dürf­ nisse im Rah­men ei­nes De­mo­cra­tic Ci­ti­zens­hip gestärkt wer­den. Und Co­le­man/ Blum­ler (2009: 183) ent­war­fen das Kon­zept für Ci­vic Com­mons, »(as they) see a pressing de­mo­cra­tic need for a ci­vic com­mon and for a go­ver­ment-fun­ded agency that will be char­ged with pro­mo­ting, pu­bli­cing and fa­ci­li­ta­ting pu­blic deliberation bet­ween go­ver­ment at ist va­ri­ous levels and the ­di­sper­sed networks which cons­ti­ tute the con­tem­po­rary com­mu­ni­ca­tive land­scape«. Zu­gänge wie diese er­öff­nen uns jeden­falls neue Per­spek­ti­ven, wie in Zu­kunft öf­fent­li­che De­li­be­ra­tions­for­men in den di­gi­ta­len Netz­wer­ken or­ga­ni­sier­bar wä­ren, die jen­seits dis­po­si­ti­ver Do­mi­nanz­ ein­flüsse neue Räume für öf­fent­li­che Dis­kurs­aus­hand­lun­gen er­öff­nen. Auch die Wahl al­ter­na­ti­ver Netz­werk­platt­for­men, die ihre Ak­ti­vi­tä­ten nach stren­gen Re­geln des Re­spekts von Pri­vat­heit und Daten­dis­kre­tion aus­rich­ten, stellt in die­sem Zu­ sam­men­hang Op­tionem bereit. Dar­über hin­aus wird es aber auch An­stren­gun­gen be­dür­fen, über do­mi­nie­rende Netz­werk­player – und nicht sel­ten in Kom­bi­na­tion mit klas­si­schen Me­dien und de­ren On­line­ab­le­gern – sich voll­zie­hen­den Öf­fent­ lich­keits­pro­zes­sen ver­stärkt mit ei­nem kri­tisch-krea­ti­ven Zu­gang zu be­geg­nen und im Rah­men der Nut­zung auf Netz­werk­kom­pe­ten­zen zu set­zen, die auf ei­nem re­ flek­tier­ten Ver­ständ­nis auf­bau­end um die Wir­kung darin wirksamer dis­po­si­ti­ver Netz­werk­struk­tu­ren wis­sen.

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»Tak­ing cul­tu­ral pro­duc­tion in­to our own hands«

»Ta­king cul­tu­ral pro­duc­tion into our own hands« Kul­tu­relle Be­deu­tungs­pro­zesse im Kon­text zeit­ge­nös­si­scher Kunst Sig­linde Lang und Elke Zobl

Kul­tur ak­tiv ge­stal­ten »Cul­tu­ral pro­duc­tion [. . .] can be un­der­stood as an in­ter­ven­tion in the pro­cess of pro­duc­ing mean­ing.« (Klaus 2012: o. S.) Die­sem Zi­tat und dem theo­re­ti­schen An­ satz von Eli­sa­beth Klaus fol­gend fas­sen wir kul­tu­relle Pro­duk­tion als ei­nen Pro­zess auf, in dem Sicht­wei­sen und Ein­stel­lun­gen er­zeugt, auf­ge­nom­men und in ei­nem öf­fent­li­chen Zir­ku­la­tions­pro­zess dis­tri­bu­iert, da­bei aber auch kon­ti­nu­ier­lich re­pro­ du­ziert und in der Ge­sell­schaft neu ver­han­delt wer­den1. An die­sen Pro­zes­sen der kul­tu­rel­len Pro­duk­tion sind ver­schie­dene Öf­fent­lich­kei­ten kon­ti­nu­ier­lich be­tei­ligt, wo­bei vor al­lem he­ge­mo­niale In­ter­es­sen be­zie­hungs­weise po­li­ti­sche, wirt­schaft­li­ 1 Aus­gangs­punkt die­ses Bei­trags bil­den unse­ren bis­he­ri­gen Arbei­ten im Kon­text des Pro­ jek­tes »P/ART/ICI­PATE – The Ma­trix of Cul­tu­ral Pro­duc­tion« (Lang/Zobl 2013; Lang 2013; Lang 2014a; Zobl/Lang 2012, Zobl 2012) und des eJour­nals «P/ART/ICI­PATE – Kul­tur ak­tiv ge­stal­ten« (http://www.p-art-ici­pa­te.net) am Pro­gramm­be­reich Zeit­ge­nös­ si­sche Kunst und Kul­tur­pro­duk­tion, Schwer­punkt Wis­sen­schaft & Kunst, ei­ner Ko­ope­ ra­tion der Uni­ver­si­tät Salz­burg mit der Uni­ver­si­tät Mo­zar­teum, so­wie die Zu­sam­men­ arbeit und der in­halt­li­che Aus­tausch mit Eli­sa­beth Klaus. Diese Zu­sam­men­arbeit be­trifft vor al­lem die Ent­wick­lung und Um­set­zung ei­nes inter­na­tio­na­len Mas­ter­pro­gramms in Cul­tu­ral Pro­duc­tion (vgl. Klaus 2012) so­wie Ko­ope­ra­tio­nen in der For­schung am Pro­ gramm­be­reich (http://www.w-k.sbg.ac.at/co­nart). Seit 2014 arbei­ten wir ge­mein­sam mit Eli­sa­beth Klaus und ei­nem inter­dis­zi­pli­nä­ren Team an ei­nem ge­mein­sa­men For­schungs­ pro­jekt zu »Cul­tu­ral Pro­duc­tion im Kon­text zeit­ge­nös­si­scher Kunst«. Es flie­ßen da­her in die­sem Bei­trag Er­geb­nisse und Wis­sens­stände aus dem bis­he­ri­gen und ak­tu­el­len Pro­jekt zu­sam­men und wir nen­nen die Be­tei­lig­ten spe­zi­fisch, wenn es im Text di­rekte Be­züge gibt. An die­ser Stelle möch­ten wir uns nicht nur bei Eli­sa­beth Klaus für die stets gute und frucht­bare Zu­sam­men­arbeit be­dan­ken, son­dern auch bei Ros­wi­tha Ga­briel und Di­lara Akar­cesme für die Unter­stüt­zung bei der Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels.

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che und recht­li­che An­sprü­che eine do­mi­nie­rende Rolle ein­neh­men. Wird Pro­duk­ tion von Kul­tur je­doch als ein Pro­zess ver­stan­den, der vor al­lem die In­ter­es­sen je­ner ar­ti­ku­liert – oder ar­ti­ku­lie­ren sollte –, die Kul­tur im All­tag le­ben, ist es die zi­vil­ge­sell­schaft­li­che Mit­be­stim­mung, die kul­tu­relle Pro­duk­tions­pro­zesse prä­gen soll­te. Wir be­zie­hen uns auf theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen über den Kreis­lauf kul­tu­rel­ler Be­deu­tungs­pro­duk­tion, die von Eli­sa­beth Klaus und Mar­greth Lü­nen­borg (2004a, 2004b, 2012) mit Be­zug auf den circuit of culture (du Gay et al. 1997; John­son 1985) und das Kon­zept der cul­tu­ral ci­ti­zens­hip (Hart­ley 1999; Her­mes 1998; Ro­ saldo 1994; Ste­ven­son 2001) wei­ter­ent­wi­ckelt wur­den. Folg­lich ar­gu­men­tie­ren wir für ein Ver­ständ­nis von kul­tu­rel­ler Pro­duk­tion als Inter­ven­tion in den Pro­zess der Be­deu­tungs­pro­duk­tion, wo­bei die­ses Ein­grei­fen auf zi­vil­ge­sell­schaft­li­cher Teil­ habe fußt. Kon­kret in­ter­es­siert uns, in­wie­fern durch zeit­ge­nös­si­sche künst­le­ri­sche Pro­duk­tio­nen kul­tu­relle Be­deu­tun­gen ver­scho­ben oder ver­än­dert wer­den, sodass neue Ideen, Per­spek­ti­ven und Hand­lungs­op­tio­nen ent­ste­hen (kön­nen). Künst­le­ri­ sche Pra­xen als kri­ti­sche kul­tu­relle Pra­xen, die ak­tiv Mit­spra­che an kul­tu­rel­len Pro­duk­tions­pro­zes­sen ein­for­dern, bil­den da­bei das kon­krete Be­zugs­feld unse­rer Aus­ein­an­der­set­zung. Das da­mit ver­bun­dene kul­tu­relle Inter­ve­nie­ren in und die ak­ tive Mit­ge­stal­tung von Öf­fent­lich­kei­ten er­ör­tern wir in die­sem Bei­trag ex­em­pla­ risch an dem Fall­bei­spiel »hunt oder der to­tale Fe­bruar« des Thea­ter Haus­ruck. Wir skiz­zie­ren, wie sich bei die­sem par­ti­zi­pa­ti­ven Kunst­pro­jekt in der Re­gion Haus­ ruck in Ober­ös­ter­reich der Pro­zess von ei­ner künst­le­ri­schen Pro­duk­tion zu ei­ner kul­tu­rel­len Pro­duk­tion ge­stal­tet hat, wo­bei wir vor al­lem auf drei As­pekte ein­ge­hen wer­den: Ers­tens, wel­che Rolle nimmt die zeit­ge­nös­si­sche Kunst im Kon­text des Kreis­laufs der kul­tu­rel­len Be­deu­tungs­pro­duk­tion ein (bzw. kann sie ein­neh­men)? Zwei­tens, wie fin­den zi­vil­ge­sell­schaft­li­che und kol­la­bo­ra­tive Aus­ver­hand­lungsund Mit­be­stim­mungs­pro­zesse statt? Und wie kann, drit­tens, Par­ti­zi­pa­tion als dis­ sens­orien­tier­tes Mit­ge­stal­ten von Öf­fent­lich­keit(en) im Kon­text ei­nes par­ti­zi­pa­ti­ ven Kunst­pro­jek­tes ge­fasst wer­den? Diese Über­le­gun­gen ba­sie­ren auf Kon­zep­ten und wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­ an­der­set­zun­gen von und mit Eli­sa­beth Klaus vor al­lem in Be­zug auf kul­tu­relle Pro­duk­tion (vgl. Klaus 2012) und Öf­fent­lich­kei­ten (vgl. Klaus 2001, 2006, 2013; Klaus/Lünen­borg 2012) so­wie auf unsere ge­mein­same Arbeit am Pro­gramm­be­ reich Zeit­ge­nös­si­sche Kunst und Kul­tur­pro­duk­tion am Schwer­punkt Wis­sen­schaft und Kunst, ei­ner Ko­ope­ra­tion der Uni­ver­si­tät Salz­burg mit der Uni­ver­si­tät Mo­zar­ teum.

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Zeit­ge­nös­si­sche Kunst im Kon­text des Kreis­laufs von Kult ­ ur »An sich selbst glau­ben, an die Men­schen glau­ben und dar­an, dass Kunst wirk­lich et­was be­wir­ken kann.« (Chris Mül­ler)2

Auf Ba­sis ei­nes Kul­tur­ver­ständ­nis­ses, das Ray­mond Wil­liams und sei­ner viel­fach zi­tier­ten For­mu­lie­rung Kul­tur als »whole way of life« bzw. »ei­ner gan­zen Le­ bens­wei­se, ma­te­riell, in­tel­lek­tuell und geis­tig« (Wil­liams 1972: 17, zit. n. Gött­ lich 2006: 97) folgt, kann Kul­tur – im Sinne der Cul­tu­ral Stu­dies – als ge­lebte All­ tags­pra­xis auf­ge­fasst wer­den. ›Kul­tur‹ wird so­mit vor al­lem in unse­ren all­täg­li­chen Wahr­neh­mungs­struk­tu­ren, Ges­ten und Hand­lun­gen evi­dent. Die ak­tive Mit­be­stim­mung und Mit­ge­stal­tung von Kul­tur steht folg­lich im Vor­ der­grund bzw. muss im Vor­der­grund ste­hen, wenn Kul­tur als ein dy­na­mi­sches Na­ vi­ga­tions­sys­tem durch unse­ren All­tag ver­stan­den wird. Denn diese Orien­tie­rungs­ hilfe ist durch lau­fende Ad­ap­tio­nen, Ver­schie­bun­gen und Ver­än­de­run­gen ge­prägt und folg­lich ver­han­del­bar (vgl. Klaus 2012; Zobl/Lang 2012 so­wie Lang 2013). Kul­tur ist in ihrem weitreichenden Be­zugs­sys­tem da­bei je­doch stets mit so­zia­ len, po­li­ti­schen, recht­li­chen, wirt­schaft­li­chen so­wie tech­ni­schen be­zie­hungs­weise me­dia­len Kon­tex­ten und In­ter­es­sen ver­bun­den (vgl. du Gay et al. 1997; John­son 1996), sodass der Kreis­lauf der Kul­tur als ein kom­mu­ni­ka­ti­ver Pro­zess ver­stan­den wer­den kann, der von di­ver­sen Macht­an­sprü­chen und In­ter­es­sen ge­prägt ist. Das ak­tive Mit­ge­stal­ten unse­rer Le­bens­wel­ten ist folg­lich als Prä­misse kul­tu­rel­ler Pro­ duk­tions­pro­zesse zu be­grei­fen und um­fasst die Re­fle­xion der ei­ge­nen Stand­punk­te, kol­lek­tive Hal­tun­gen oder das kri­ti­sche Hin­ter­fra­gen he­ge­mo­nia­ler Struk­tu­ren und Me­cha­nis­men. In ei­nem Bei­trag über den Uni­ver­si­täts­lehr­gang MA in Cul­tu­ral Pro­duc­tion be­schreibt Eli­sa­beth Klaus die­sen An­satz fol­gen­der­ma­ßen: »When ›do­ing‹ cul­ture con­scious­ly, we try to think about the con­texts and con­di­tions that gov­ern our cul­tu­ral ac­tiv­ities and to re­flect on the ef­fects these have. Pro­duc­ing cul­ture ac­ tive­ly, thus, en­tails to think about the stance, the point of de­par­ture from which we act. It re­quires to think of the val­ues, col­lec­tive norms and in­vis­ible rules that guide our be­hav­iour and to re­flect on the so­cial and cul­tu­ral po­si­tion­ing of our ac­tiv­ities. Fi­nal­ly, it en­com­passes a claim to par­tic­i­pate in the for­mu­la­tion of the norms and val­ues that gov­ern so­ci­ety, to take part in its de­ci­sion-mak­ing pro­cess about who or what counts as im­por­tant or un­im­por­tant, as good or bad and to change the rules by which so­cial and cul­tu­ral re­la­tions are re­in­forced.« (Klaus 2012: o. S.) 2 Dieses und fol­gende Zi­tate stam­men aus ei­nem un­ver­öf­fent­lich­ten Inter­view von Sig­ linde Lang mit Chris Mül­ler (vgl. Lang 2012), dem In­ten­dan­ten des Thea­ter Haus­ruck von 2005 bis 2011. Die Fall­stu­die zum Thea­ter Haus­ruck ist in der Dis­ser­ta­tion von Sig­ linde Lang (2014a, 2015) aus­führ­lich be­schrie­ben.

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Doch wie kön­nen sol­che ver­in­ner­lich­ten Re­geln und Ver­hal­tens­wei­sen Im­pulse für eine mög­li­che Um­orien­tie­rung er­hal­ten oder ver­än­dert wer­den? Wir ge­hen da­von aus, dass spe­ziell die Kunst die Mög­lich­keit hat, in den Kreis­lauf der Be­deu­tungs­ pro­duk­tion be­wusst ein­zu­grei­fen und Aus­hand­lungs­pro­zesse an­zu­sto­ßen. Zahl­rei­ che zeit­ge­nös­si­sche künst­le­ri­sche Pro­duk­tio­nen grei­fen ak­tiv in das ein, was wir als Kul­tur le­ben: Sie set­zen sich mit unse­rem all­täg­li­chen Be­deu­tungs­ras­ter kri­ tisch aus­ein­an­der, hin­ter­fra­gen Ver­trau­tes, Ge­wohn­tes, Gän­gi­ges und ent­wer­fen dif­fe­ren­zierte Wahr­neh­mungs­per­spek­ti­ven – und hin­ter­fra­gen künst­le­ri­sche wie auch kul­tu­relle Be­din­gun­gen, die durch recht­li­che, öko­no­mi­sche und po­li­ti­sche Kon­texte und Re­gle­ment­arien mit­be­stimmt sind (vgl. Lang 2014b). So re­fe­ren­zie­ ren künst­le­ri­sche Pro­duk­tio­nen Phä­no­mene je­ner Welt, die uns um­gibt, das heißt sie re­flek­tie­ren ei­nen kul­tu­rel­len Sta­tus quo und be­zie­hen sich da­mit auf das, was in All­tags­pra­xen als gän­gige kul­tu­relle Be­deu­tungs­zu­schrei­bun­gen sicht­bar wird. Sie inter­ve­nie­ren – oft ex­pli­zit, zu­wei­len nur im­pli­zit – in das, was ak­tu­ell als Kul­ tur ver­stan­den und ge­lebt wird: »Works of art, DIY cul­tu­ral forms, etc [. . .] ir­ri­tate and challenge the way we ›nor­mally‹ see and do things. Today a host of con­tem­po­ rary art pro­duc­tions ex­ist that aim to re­flect on and in­ter­pret our cul­tu­ral con­texts and the un­der­pin­nings of our dai­ly rou­tines.« (Klaus 2012: o. S.) Kunst wird so­mit auch im­mer mehr zu ei­ner kul­tur­kri­ti­schen Stimme be­zie­hungs­weise zu ei­nem ge­ sell­schafts­kri­ti­schen Sprach­rohr (vgl. Lang 2014b). Denn im Gegen­satz zu an­de­ren kul­tu­rel­len For­men (und Pra­xen) – wie der Wis­ sen­schaft, der Re­li­gion oder auch der Spra­che – weist die Kunst ein Spe­zi­fi­kum auf (vgl. Cas­si­rer 1990): Wäh­rend an­dere kul­tu­relle Sym­bole die »Wirk­lich­keit struk­ tu­rell zu er­klä­ren« su­chen, »evo­ziert der Sym­bo­lis­mus der Kunst im Be­trach­ter äs­the­ti­sche Er­leb­nis­se, die rei­cher und kom­ple­xer sind als die Sin­nes­er­fah­run­gen des All­tags« (Pa­et­zold 2008: 92). In die­ser Mög­lich­keit, sich mit ›Wirk­lich­keit‹ (bzw. For­men die­ser) ab­seits der »ge­wöhn­li­chen Sin­nes­er­fah­rung« (Cas­si­rer 1990: 145) auseinanderzusetzen, liegt die Eigen­art von Kunst. Ge­rade da­durch, dass künst­le­ri­sche Pra­xen als kul­tu­relle Pra­xen nicht – pri­mär – den An­spruch er­he­ben, Lö­sun­gen, Er­klä­rungs- oder auch Hand­lungs­mo­del­le, son­dern sinn­li­che Er­fah­ rungs­räume zu ge­ne­rie­ren, kön­nen die zeit­ge­nös­si­sche Kunst und ihre Prak­ti­ken Per­spek­ti­ven (auch) ab­seits kon­ven­tio­nel­ler und gän­gi­ger Er­fah­rungs- und Wahr­ neh­mungs­struk­tu­ren er­öff­nen und folg­lich als In­itia­tor von kom­mu­ni­ka­ti­ven und da­mit ver­bun­de­nen kul­tu­rel­len Pro­zes­sen an­ge­se­hen wer­den. Doch wie wird mit­tels künst­le­ri­scher Pro­duk­tio­nen in den Kreis­lauf der Kul­ tur inter­ve­niert? Wie wer­den ge­sell­schaft­li­che Phä­no­mene auf­ge­grif­fen und wie wird eine Neu­ver­hand­lung über die da­mit ver­bun­de­nen kul­tu­rel­len Be­deu­tungs­ zu­schrei­bun­gen evo­ziert? Als ein Re­fe­renz­bei­spiel für zahl­rei­che zeit­ge­nös­si­sche Kunst­pro­duk­tio­nen, die ak­tiv in ei­nen kul­tu­rel­len Sta­tus quo zu inter­ve­nie­ren su­ chen, möch­ten wir das mehr­fach aus­ge­zeich­nete Thea­ter­stück »hunt oder der to­tale Fe­bruar« des Thea­ter Haus­ruck auf­grei­fen, das im Jahr 2005 erst­mals auf­ge­führt

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wurde: Diese Thea­ter­pro­duk­tion ent­stand aus ei­ner In­itia­tive von en­ga­gier­ten BürgerInnen und Kunst­schaf­fen­den der Re­gion Haus­ruck in Ober­ös­ter­reich, die fest­ ge­stellt hat­ten, dass 1934 ein Bür­ger­krieg in den Hei­mat­ge­mein­den statt­ge­fun­den hat­te. Die­ses Er­eig­nis war bis­her we­der do­ku­men­tiert noch re­flek­tiert oder in der Re­gion the­ma­ti­siert wor­den. Po­si­tio­niert als »Thea­ter gegen das Ver­ges­sen« wur­ den die aus­ge­blen­de­ten Vor­fälle an­hand der Ge­schichte von lo­ka­len Gru­ben­arbei­ tern als bild- und sprach­ge­wal­ti­ges Thea­ter­stück in­sze­niert. Tem­po­räre Bühne bil­ dete ein ehe­ma­li­ger Koh­le­bre­cher, der als au­then­ti­scher Schau­platz Raum für die Aus­ein­an­der­set­zung mit ei­nem ge­sell­schaft­lich bri­san­ten3 Thema er­öff­ne­te. Die spe­zi­fis­ chen Vor­gänge und Ge­scheh­nisse aus der Re­gion stell­ten da­bei die we­sent­ li­chen Bau­steine der thea­tra­len In­sze­nie­rung, die sich auf »dem schma­len Grat von Rea­li­tät und Fik­tion« (Thea­ter Haus­ruck o. J.: o. S.) ver­or­tet sieht. Auf das Po­ten­tial der Kunst, »Men­schen auf der af­fek­ti­ven Ebene an­zu­spre­ chen«, ver­weist auch Chan­tal Mouffe (2014: 148) wenn sie die zen­trale Rolle von (kri­ti­scher) Kunst im Kon­text ge­sell­schaft­li­cher Mit­be­stim­mungs­pro­zesse fol­gen­ der­ma­ßen be­schreibt: »Hierin liegt die große Kraft der Kunst – in ihrer Fä­hig­keit, uns Dinge in ei­nem an­de­ren Licht se­hen und uns neue Mög­lich­kei­ten er­ken­nen zu las­sen.« (Ebd.) In ihrem Re­fle­xions­ver­mö­gen als kri­ti­sche kul­tu­relle Prak­ti­ken ge­fasst, er­mög­li­chen zeit­ge­nös­si­sche künst­le­ri­sche Prak­ti­ken so­mit tra­dierte Be­ deu­tun­gen nicht nur zu re­pro­du­zie­ren, son­dern diese of­fen zu le­gen, und da­mit ei­ner Um­deu­tung be­zie­hungs­weise Neu­ver­hand­lung zu­gäng­lich zu ma­chen, zu ver­än­dern und da­mit ak­tiv in den Kreis­lauf kul­tu­rel­ler Be­deu­tungs­pro­duk­tion ein­ zu­grei­fen.

Zi­vil­ge­sell­schaft­li­che Mit­be­stim­mung und koll ­ ab ­ or ­ at­ ive Aush ­ andl­ ungsp ­ roz­ esse »Dem Pu­bli­kum die Hand ge­ben und ge­mein­sam dort hin­ge­hen, wo noch kei­ner vor­her war.« (Chris Mül­ler)

Unter kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­tive fas­sen wir künst­le­ri­sche Prak­ti­ken folg­lich als ak­ti­ven Pro­zess der ge­sell­schaft­li­chen Re­fle­xion, der Ar­ti­ ku­la­tion neuer Sicht­wei­sen und des Ein­grei­fens in Öf­fent­lich­keit(en) auf. Da­mit rückt auch die Mög­lich­keit in den Vor­der­grund, dass ver­schie­dene Teil­öf­fent­lich­ kei­ten selbst Kunst und Kul­tur (co-)pro­du­zie­ren und da­mit in der Öf­fent­lich­keit ihre ei­ge­ne(n) Stim­me(n) ein­brin­gen.

3 Denn die Auf­arbei­tung der ei­ge­nen NS-Ver­gan­gen­heit ist nach wie vor ein heik­ler, da­her im­mer oft noch aus­ge­blen­de­ter Teil der ös­ter­rei­chi­schen Ge­schichte.

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So zeich­net auch das Thea­ter Haus­ruck als ein Spe­zi­fi­kum sei­ner Pro­duk­tions­ weise aus, dass Thea­ter für die Re­gion aus und vor al­lem auch mit der Re­gion ent­ wi­ckelt und rea­li­siert wird: BäckerInnen, LehrerInnen, PensionistInnen, UnternehmerInnen und viele an­dere lo­kale Per­so­nen­grup­pen sind als LaiendarstellerInnen, SponsorInnen, ZeitzeugInnen oder unter­stüt­zende Kräfte im Hin­ter­grund maß­ geb­li­cher Teil der Pro­duk­tion: »Denn das Fun­da­ment des Thea­ter Haus­ruck bil­ det das Zu­sam­men­wir­ken vie­ler Men­schen, die mit dem Haus­ruck in ir­gend­ei­ner Form ver­bun­den sind. Die Men­schen der Re­gion wer­den als Zeit­zeu­gen Teil der Ge­schich­te, zäh­len zum gro­ßen Dar­stel­ler­team aus Laien und Thea­ter­pro­fis oder unter­stüt­zen die Thea­ter­pro­duk­tio­nen bei den zahl­rei­chen Or­ga­ni­sa­tions­arbei­ten.« (Thea­ter Haus­ruck o. J.: o. S.) So wurde bei »hunt oder der to­tale Fe­bruar« die Be­ völ­ke­rung be­reits im Vor­feld der kon­kre­ten Dreh­buch­pro­duk­tion ein­ge­la­den, ihre Er­leb­nis­se, Er­in­ne­run­gen oder Ge­schich­ten von Ver­stor­be­nen auf Ver­samm­lun­gen zu er­zäh­len oder auch an­onym zu ver­schrift­li­chen. Diese per­sön­li­chen Er­fah­rungs­ be­stände flos­sen dann in die Thea­ter­pro­duk­tion ein. Das Lei­tungs­team, be­ste­hend aus Re­gis­seur, In­ten­dant und kauf­män­ni­schem Ge­schäfts­füh­rer, ver­stand die ei­ gene Auf­gabe vor al­lem dar­in, eine – künst­le­ri­sche – Platt­form für eine in­ten­si­ve, durch­aus auch emo­tio­nale Aus­ein­an­der­set­zung mit der (ei­ge­nen) re­gio­na­len Ge­ schichte zu schaf­fen. Es sind ex­akt diese ak­ti­ven As­pekte zi­vil­ge­sell­schaft­li­cher Mit­spra­che, die wir für die Mit­ge­stal­tung kul­tu­rel­ler Be­deu­tungs­pro­zesse für grund­le­gend hal­ten. Aus­ ge­hend von dem eng­li­schen Be­griff des Cul­tu­ral Pro­du­cer, der die ak­tive Mit­ be­stim­mung und Mit­ge­stal­tung kul­tu­rel­ler Pro­duk­tion sicht­bar zu ma­chen sucht, kann aus unse­rer Sicht eine Ein­zel­per­son kaum iso­liert als Cul­tu­ral Pro­du­cer wir­ ken, da dem Pro­zess kul­tu­rel­ler Be­deu­tungs­pro­duk­tion der kol­la­bo­ra­tive Cha­rak­ter im­ma­nent ist. Das heißt, wir be­trach­ten Cul­tu­ral Pro­du­cer als oft in­iti­ie­ren­des und maß­geb­lich be­tei­lig­tes In­di­vi­duum ei­nes kol­la­bo­ra­ti­ven Pro­zes­ses kul­tu­rel­ler Be­ deu­tungs­pro­duk­tion. Dass in kul­tu­rel­len Pro­zes­sen im Kon­text von Kunst eine ak­tive Mit­ge­stal­tung zen­tra­les Merk­mal von Selbst­er­mäch­ti­gung und de­mo­kra­ti­scher Mit­spra­che ist, hat u. a. auch der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Ja­ques Ran­cière in sei­nem Plä­do­yer »Der eman­zi­pierte Zu­schauer« (2009) be­tont, in dem er auf die Not­wen­dig­keit ver­weist, hier­ar­chi­sie­rende Gren­zen zu über­schrei­ten und selbst ak­tiv »Ge­schichte« zu inter­ pre­tie­ren und mit­zu­be­stim­men: »Es gibt über­all Aus­gangs­punk­te, Kreu­zun­gen und Kno­ten, die uns et­was Neues zu ler­nen er­lau­ben, wenn wir ers­tens die ra­di­kale Dis­tanz, zwei­tens die Ver­tei­lung der Rol­len und drit­tens die Gren­zen zwi­schen den Ge­bie­ten ab­leh­nen.« (Ebd.: 28) Ak­tiv »Ge­schichte« mit­zu­be­stim­men, eine Ver­ än­de­rung ei­nes ge­sell­schaft­li­chen bzw. kul­tu­rel­len Sta­tus quo zu in­iti­ie­ren, sollte folg­lich In­ten­tion je­ner kul­tu­rel­len Pro­duk­tions­pro­zesse sein, die die Re­fle­xion und Dis­kurse über (als sol­che emp­fun­de­ne) kul­tu­rel­le, so­ziale oder ge­sell­schaft­li­che Miss­stände in Gang zu set­zen su­chen.

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»hunt oder der to­tale Fe­bruar« als par­ti­zi­pa­ti­ves Kunst­pro­jekt setzt ex­akt bei die­ser Wahr­neh­mung ei­nes Miss­stan­des an und zielt dar­auf ab, eine kol­la­bo­ra­tive Neu­ver­hand­lung be­ste­hen­der Be­deu­tungs­zu­schrei­bun­gen zu evo­zie­ren. Ein spe­zi­ fi­scher kul­tu­rel­ler oder so­zia­ler Ist-Stand wird in ei­nem (zu­meist) lo­ka­len Kon­text auf­ge­grif­fen und unter zi­vi­ler Be­tei­li­gung kol­la­bo­ra­tiv ver­han­delt. So ver­wei­sen par­ti­zi­pa­tive Kunst­pra­xen ge­ne­rell auf den An­spruch, ge­sell­schaft­li­che Fra­ge­ stel­lun­gen und Be­züge un­mit­tel­bar in das Blick­feld des künst­le­ri­schen Schaf­fens zu rü­cken. Sie lö­sen da­bei ei­nen Inter­ak­tions­pro­zess aus, der nicht nur zwi­schen Kunst und Ge­sell­schaft als den Le­bens­wel­ten von In­di­vi­duen statt­fin­det, son­dern in ei­ner kul­tur­po­li­ti­schen Di­men­sion so­mit auch die Aus­hand­lung von he­ge­mo­ nia­len kul­tu­rel­len Be­deu­tungs­zu­schrei­bun­gen, die oft mit eta­blier­ten Macht­ver­ hält­nis­sen in Ver­bin­dung ste­hen, und al­ter­na­ti­ven be­zie­hungs­weise di­ver­gie­ren­den Kon­no­ta­tio­nen um­fasst. In die­sem Sinne inter­ve­nie­ren sie in be­ste­hende kul­tu­relle Be­deu­tungs­zu­schrei­bun­gen. Das zen­trale Ziel des Thea­ter Haus­ruck be­schreibt Chris Mül­ler mit »ei­nen Fin­ger auf die Wunde le­gen«. Pro­zesse der (Selbst-)Re­fle­xion sol­len aus­ge­löst wer­den, Dis­kus­sio­nen an­ge­regt und eine Neu­inter­pre­ta­tion ei­nes be­ste­hen­den kul­ tu­rel­len Sta­tus quo evo­ziert wer­den, wo­bei ge­rade »das Kon­zen­trat aus Rea­li­tät und Fik­tion« ei­nen Raum er­öff­net, der ab­seits all­täg­li­cher Er­fah­run­gen Zu­gang zu ei­nem per­spek­ti­vischen Um­den­ken er­mög­licht. In »hunt oder der to­tale Fe­bruar« wur­den da­bei auch jene Struk­tur­me­cha­nis­men, die ein Aus­blen­den, ja Ne­gie­ren der ei­ge­nen Ge­schichte for­ciert hat­ten, auf der Bühne the­ma­ti­siert – und so­mit auch die Ver­säum­nisse von po­li­ti­schen EntscheidungsträgerInnen, lo­ka­len MeinungsbildnerInnen, aber auch die ei­gene in­di­vi­du­elle Ver­ant­wor­tung. So ar­gu­men­tiert auch Chan­tal Mouffe (2008: 6 ff.), dass ge­rade kri­ti­sche künst­ le­ri­sche Prak­ti­ken (»cri­ti­cal art«) in der Hin­ter­fra­gung und De­sta­bi­li­sie­rung der neo­li­be­ra­len He­ge­mo­nie, also vor­herr­schen­der, oft durch ein­sei­tige Macht­in­ter­ es­sen ge­präg­ter Ord­nun­gen, eine wich­tige Rolle spie­len, da sie vi­sua­li­sie­ren, was aus­ge­blen­det, ne­giert und durch den Kon­sens der post-po­li­ti­schen De­mo­kra­tie zer­ stört wird. Sie wer­fen ein »Schlag­licht dar­auf [. . .], dass es Al­ter­na­ti­ven zur gegen­ wär­ti­gen post­po­li­ti­schen Ord­nung gibt« (Mouffe 2014: 143). In die­sem Aus­hand­lungs­pro­zess ist je­doch we­ni­ger – da­für ana­log zur Kunst als sym­bo­li­sche Form – die Ent­wick­lung oder Ar­gu­men­ta­tion ei­ner Sicht­weise In­ ten­tion, son­dern ist der Kom­mu­ni­ka­tions­pro­zess selbst als Ziel­set­zung des künst­le­ risch-kul­tu­rel­len Pro­duk­tions­pro­zes­ses zu be­grei­fen. So sieht auch Chan­tal Mouffe (2014: 139) die Haupt­auf­gabe künst­le­ri­scher Prak­ti­ken in der »Pro­duk­tion neuer Sub­jek­tivi­tä­ten und die Aus­arbei­tung neuer Wel­ten«, um den »Com­mon Sense« – im Ver­ständ­nis von An­to­nio Gram­sci »als Er­geb­nis ei­ner dis­kur­si­ven Ar­ti­ku­la­tion« (ebd.) zu ver­än­dern – und folg­lich Öf­fent­lich­keit mit­zu­be­stim­men.

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Par­ti­zi­pa­tion als Mit­ge­stal­ten ei­ner diss ­ enso ­ rient­ iert­ en Öff­ entl­ ichk ­ eit »Zwie­späl­tige Po­si­tio­nen hät­ten das Stück fast zum Schei­tern ge­bracht.« (Chris Mül­ler)

Wenn ver­schie­dene Teil­öf­fent­lich­kei­ten Ge­sell­schaft mit­ge­stal­ten, wer­den As­pekte des Kon­flik­tes in Be­zug auf Par­ti­zi­pa­tion zen­tral. Für Mouffe (2014: 141) ist der öf­fent­li­che Raum – ver­stan­den als eine »Viel­zahl dis­kur­si­ver Platt­for­men und öf­ fent­li­cher Räume« – ein Kampf­platz der Kon­fron­ta­tion ver­schie­de­ner he­ge­mo­nia­ ler Pro­jek­te: Es ist der »Ort, an dem kon­fli­gie­rende Sicht­wei­sen aufeinandertreffen, ohne dass die ge­ringste Chance be­stün­de, sie ein für alle Mal mit­ein­an­der zu ver­söh­nen« (ebd.: 142). Das »Rin­gen um die He­ge­mo­nie«, so Mouf­fe, be­steht auch »in dem Ver­such [. . .] in den öf­fent­li­chen Räu­men eine an­dere Ar­ti­ku­la­tions­ form zu eta­blie­ren« (ebd.: 141). So wurde auch auf­grund der po­li­ti­schen Bri­sanz des The­mas von »hunt oder der to­tale Fe­bruar« be­reits im Vor­feld der Pre­miere sei­tens re­gio­na­ler und na­tio­ na­ler Me­dien, je nach po­li­ti­scher Orien­tie­rung, aber auch von den be­tei­lig­ten Zi­ vil­per­so­nen oft sehr emo­tio­nal Po­si­tion be­zo­gen. Doch als Kunst­pro­jekt, als jene Stät­te, die sich zwi­schen »Rea­li­tät und Fik­tion« ver­or­tet, ist es diese spie­le­ri­sche, ja künst­le­ri­sche Di­men­sion, die ei­nen weit­läu­fi­gen Ar­ti­ku­la­tions­raum schafft, der Hür­den und Bar­rie­ren kon­ven­tio­nel­ler, von All­tags­nor­men ge­präg­ter Räume unter­ lau­fen kann. Und – so Mül­ler im Inter­view – ge­rade die da­durch zum Aus­druck ge­ brach­ten wi­der­sprüch­li­chen, gegen­läu­fi­gen Mei­nun­gen und Dis­kurse unter­stüt­zen den ge­sam­ten Pro­zess der Re­fle­xion und Aus­ver­hand­lung: »Grund­sätz­lich ist sehr viel dis­ku­tiert wor­den und dann hat sich auch was ge­än­dert, und das war die große Kraft.« (Lang 2012: o. S.) Mar­kus Mies­sen (2007, 2012) hat auf ex­akt diese Pro­ble­ma­tik des Be­griffs Par­ti­zi­pa­tion hin­ge­wie­sen, wenn er für ei­nen Be­griff von »kon­flikt­haf­ter Par­ti­zi­pa­ tion« als Art »un­er­wünschte Ir­ri­ta­tion« (2007: 2) ar­gu­men­tiert, da­bei je­doch auf die Not­wen­dig­keit der Selbst­re­fle­xion ver­weist: »Ein Vek­tor im Kräf­te­feld der Kon­ flikte zu wer­den, wirft die Frage auf, wie man par­ti­zi­piert, ohne be­reits be­ste­hende Be­dürf­nisse oder Auf­ga­ben zu be­die­nen [. . .].« (Ebd.: 3) Denn Re­fle­xion und Pro­ zesse ei­nes per­spek­ti­vi­schen Um­den­kens er­for­dern von al­len Be­tei­lig­ten den Mut, ei­gene In­ter­es­sen, Hal­tun­gen und Er­war­tun­gen zu über­den­ken und kon­fli­gie­ren­ de, op­po­si­tio­nelle Hal­tun­gen als in­te­gra­len Be­stand­teil der Aus­ein­an­der­set­zung zu be­grei­fen. Wird Kon­flikt »als eine mi­kro­po­li­ti­sche Pra­xis [ver­stan­den], durch die die Par­ti­zi­pie­ren­den zu ak­tiv Han­deln­den wer­den, die dar­auf be­ste­hen, in dem Kräf­te­feld, mit dem sie sich kon­fron­tiert se­hen, zu AkteurInnen zu wer­den [. . .] wird Par­ti­zi­pa­tion eine Form der kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung« (ebd.: 3). Da­mit könnte das Kon­zept Kon­flikt »als Er­mög­li­chung, als Her­stel­lung ei­ner pro­duk­ti­ven Um­ge­bung« (ebd.: 4) ge­se­hen wer­den. Die­ser »am­bi­va­lente Pro­zess« kons­ti­tu­iert

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sich  »durch eine Gruppe para­do­xer Be­zie­hun­gen zwi­schen KoproduzentInnen [. . .], die sich gegen­sei­tig be­ein­flus­sen.« (Schnei­der 2006, zit. n. Mies­sen 2007: 1) Ziel die­ses Pro­zes­ses ist es – ana­log zur Eigen­art der Kunst – ei­nen mul­ti­per­spek­ti­ vi­schen Dis­kurs zu in­iti­ie­ren, der auch be­zie­hungs­weise ex­pli­zit gegen­läu­fige Sicht­wei­sen und kon­fli­gie­rende In­ter­es­sen als in­te­gra­ti­ven Be­stand­teil er­fasst.

Von künst­le­ri­schen zu kul­tu­rel­len Pro­duk­tio­nen: Ein öf­fent­li­cher Aus­ver­hand­lungs­pro­zess »Ich will mit dem Thea­ter Haus­ruck et­was Neues ma­chen – aus po­li­ti­schen Grün­den, weil ich die Welt ver­bes­sern will.« (Chris Mül­ler)

Dieses Kon­flikt­po­ten­tial ist da­bei ge­ne­rell als zen­tra­les Ele­ment von Öf­fent­lich­keit zu ver­ste­hen. Denn Öf­fent­lich­keit – im Sinne von Eli­sa­beth Klaus – ist nicht als homo­ge­nes Ge­bilde auf­zu­fas­sen: Öf­fent­lich­keit ist viel­mehr als je­ner ge­sell­schaft­ li­cher Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zess zu ver­ste­hen, in dem auf ver­schie­de­nen Ebe­nen Wirk­lich­keits­kon­struk­tio­nen, Nor­men und Werte ei­ner Ge­sell­schaft und folg­lich kul­tu­relle Be­deu­tun­gen ver­han­delt wer­den (vgl. Klaus 2001, 2006, 2013; Klaus/ Wi­scher­mann 2008). Klaus nimmt da­mit Be­zug auf theo­re­ti­sche An­sät­ze, die die Viel­falt der Öf­fent­lich­kei­ten unter ei­nem (weit ge­fass­ten) po­li­ti­schen Kon­text wei­ ter­ent­wi­ckelt ha­ben: So geht auch Nancy Fra­ser (2001) da­von aus, dass es nicht nur eine he­ge­mo­niale Öf­fent­lich­keit gibt, son­dern zahl­rei­che (nicht-bür­ger­li­che) Gegen­öf­fent­lich­kei­ten, und führt das Kon­zept der sub­al­ter­nen Gegen­öf­fent­lich­ kei­ten ein. Die An­lie­gen unter­schied­li­cher und mar­gi­na­li­sier­ter ge­sell­schaft­li­cher Grup­pen, die in he­ge­mo­nia­len Öf­fent­lich­kei­ten aus­ge­schlos­sen sind, fin­den nun in der öf­fent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung und Aus­ver­hand­lung Platz. Öf­fent­lich­kei­ten ha­ben da­mit das Po­ten­zial der Er­mäch­ti­gung (vgl. Fra­ser 2001), sind je­doch nicht kon­flikt­frei, son­dern um­kämpft. Chan­tal Mouffe (2007) weist ins­be­son­dere auf die­sen ago­nis­ti­schen Cha­rak­ter von Öf­fent­lich­kei­ten hin, in denen – im Gegen­ satz zu kon­sens­orien­tier­ter Po­li­tik – auch Kon­flikte aus­ge­han­delt wer­den. In den Brü­chen und Ver­schie­bun­gen des Ant­ago­nis­mus ent­wi­ckelt sich, nach Mouf­fe, das Po­li­ti­sche, wäh­rend Po­li­tik der Er­rich­tung ei­ner ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung und Struk­tur dient (vgl. Drüeke 2013: 95). So wa­ren es bei »hunt oder der to­tale Fe­bruar« sogenannte »Ver­samm­lun­gen«, die spe­ziell im Vor­feld der Thea­ter­pro­duk­tion Öf­fent­lich­keit für die Pro­jekt­idee und die The­ma­tik ge­schaf­fen ha­ben, wie etwa Stamm­tisch­aben­de, Tref­fen mit der Feuer­wehr oder Ver­eins­ver­samm­lun­gen. Bei die­sen in­sze­nier­ten Ver­an­stal­tun­gen – als Ball, Ge­schichts­taxi oder Zeit­reise – wurde das Pro­jekt vor­ge­stellt und ver­sucht, Be­geis­te­rung für das Pro­jekt zu er­zeu­gen und sowohl In­di­vi­duen als auch be­ste­ hende lo­kale Teil­öf­fent­lich­kei­ten zu ei­ner Be­tei­li­gung zu mo­ti­vie­ren. Im Inter­view

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spricht Mül­ler in die­sem Zu­sam­men­hang von »Po­li­tik«, um zu ver­deut­li­chen, wie KooperationspartnerInnen und InteressentInnen für das Pro­jekt ge­won­nen wer­den. Gleich­zei­tig ha­ben diese »Ver­samm­lun­gen« auch jene me­diale Auf­merk­sam­keit ge­schaf­fen, die Vor­aus­set­zung war, um ei­nen über eine re­gio­nale De­batte hin­aus­ ge­hen­den Dis­kurs­raum zu er­öff­nen. Ein Ein­grei­fen in den Kreis­lauf der Kul­tur und da­mit ak­ti­ves Mit­ge­stal­ten von Pro­zes­sen kul­tu­rel­ler Be­deu­tungs­pro­duk­tion ist folg­lich stets mit dem Her­stel­len von Öf­fent­lich­keit, ja viel­mehr Öf­fent­lich­kei­ten be­zie­hungs­weise ei­ner dif­fe­ren­ zier­ten Form von Öf­fent­lich­keit ver­bun­den. Es gilt ei­nen öf­fent­li­chen Raum zu schaf­fen, in dem ab­seits der Do­mi­nanz ge­läu­fi­ger und he­ge­mo­nia­ler Zu­schrei­bun­ gen an­de­re, zum Teil auch ir­ri­tie­ren­de, kon­tro­ver­se, para­doxe oder un­kon­ven­tio­nelle Be­deu­tungs­al­ter­na­ti­ven ar­ti­ku­liert wer­den kön­nen. Denn ge­rade diese Kon­fron­ta­ tion be­ste­hen­der Sicht­wei­sen mit al­ter­na­ti­ven Per­spek­ti­ven meint »Selbst­ver­stän­ di­gung« im Sinne ei­nes de­mo­kra­ti­schen Ver­ständ­nis­ses von Öf­fent­lich­keit. In der Mög­lich­keit, mit­tels ei­ner sym­bo­li­schen, den­noch rea­li­täts­be­zo­ge­nen Di­men­sion die­sen kom­mu­ni­ka­ti­ven Raum zu er­öff­nen, zeigt sich das Po­ten­tial, wie zeit­ge­nös­si­sche Kunst­pro­duk­tion Pro­zesse kul­tu­rel­ler Mit­spra­che in­iti­ie­ren und Pro­zesse ei­ner Neu­ver­hand­lung kul­tu­rel­ler Be­deu­tungs­zu­schrei­bun­gen er­ mög­li­chen kann. Als Vor­aus­set­zung, dass künst­le­ri­sche Pro­duk­tio­nen sich zu sol­ chen (kri­ti­schen) kul­tu­rel­len Pro­duk­tio­nen ent­wi­ckeln, se­hen wir, dass eine bis da­hin kaum oder »so« nicht wahr­ge­nom­mene kul­tu­relle Per­spek­tive nach­hal­tig ein Sprach­rohr fin­det, ein of­fe­ner Pro­zess des öf­fent­li­chen Dis­kur­ses in­iti­iert wird, die Be­deu­tung in der Öf­fent­lich­keit zir­ku­lie­ren kann, sodass ein neues Be­wusst­sein (für eine ge­sell­schaft­li­che Teil­grup­pe) evo­ziert wer­den kann. Und ge­nau die­sen Schritt zur kul­tu­rel­len Selbst­er­mäch­ti­gung meint die al­ter­na­tive Me­dien­pro­du­zen­ tin Me­la­nie Mad­di­son in ihrem ti­tel­ge­ben­den Zine (2010): »Ta­king cul­tu­ral pro­ duc­tion into our hands«!

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»Tak­ing cul­tu­ral pro­duc­tion in­to our own hands«  |  247

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Ret­hin­king cul­tu­ral ci­ti­zens­hip

Ret­hin­king cul­tu­ral ci­ti­zens­hip Zur Teil­habe in der (di­gi­ta­len) Me­dien­ge­sell­schaft Mar­greth Lü­nen­borg

Das Kon­zept cul­tu­ral ci­ti­zens­hip wurde in der Rechts- und Po­li­tik­wis­sen­schaft, der Kul­tur-, Kom­mu­ni­ka­tions- und Me­dien­wis­sen­schaft ent­wi­ckelt und viel­fäl­tig dis­ku­tiert, um den Be­deu­tungs­wan­del und Be­deu­tungs­zu­ge­winn von Me­dien für die Her­stel­lung von Zu­ge­hö­rig­keit zu Ge­mein­schaft und Ge­sell­schaft zu be­schrei­ ben (vgl. u. a. Her­mes 1998; Kym­li­cka/Nor­man 2000; Ro­saldo 1999; Ong 1999). Als Er­wei­te­rung des klas­si­schen Staats­bür­ger­schafts­mo­dells von Tho­mas Mar­shall (1992, i. O. 1949) ver­weist es auf die Re­le­vanz kul­tu­rel­ler und da­mit sym­bo­li­scher Res­sour­cen, die eine Teil­habe an (na­tio­na­ler) Ge­mein­schaft er­mög­li­chen, er­schwe­ ren oder ver­weh­ren. Eli­sa­beth Klaus und ich ha­ben diese Dis­kus­sio­nen auf­ge­grif­fen und cul­tu­ral ci­ti­zens­hip als »we­sent­liche Di­men­sion von ›Staats­bür­ger­schaft‹ in der Me­dien­ge­sell­schaft« ent­wor­fen. »Sie um­fasst all jene kul­tu­rel­len Prak­ti­ken, die sich vor dem Hin­ter­grund un­glei­cher Macht­ver­hält­nisse ent­fal­ten und die kom­pe­ tente Teil­habe an den sym­bo­li­schen Res­sour­cen der Ge­sell­schaft er­mög­li­chen. Mas­ sen­me­dien sind da­bei Mo­tor und Ak­teur der selbst- und zu­gleich fremd­be­stimm­ten Her­stel­lung von in­di­vi­du­el­len, grup­pen­spe­zi­fis­ chen und ge­sell­schaft­li­chen Iden­ti­ tä­ten.« (Klaus/Lü­nen­borg 2004: 200; wei­ter­ge­hend Klaus/Lü­nen­borg 2012) Wäh­rend im eng­lisch­spra­chi­gen Raum wei­ter­hin in­ten­siv über die Trag­fä­ hig­keit und Wei­ter­ent­wick­lung des Kon­zep­tes de­bat­tiert wird, ja so­gar Fach­zeit­ schrif­ten ganz die­ser The­ma­tik ge­wid­met sind1, ist die Re­so­nanz in der deutsch­ spra­chi­gen Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft eher ver­hal­ten. Am in­ten­sivs­ten wird im For­schungs­feld Me­dien und Mi­gra­tion auf das Kon­zept Be­zug ge­nom­men (vgl. Dietze 2008; Hahn 2008). Zu­gleich be­fasst sich kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che For­schung in­ten­siv mit For­men der Par­ti­zi­pa­tion und Teil­habe mit und durch Me­ dien ins­be­son­dere im Kon­text von Di­gi­ta­li­sie­rung und social web (vgl. Di­mit­rova 1 Die Fach­zeit­schrif­ten Ci­ti­zens­hip Stu­dies so­wie Ci­ti­zens­hip Tea­ching & Le­ar­ning be­ arbei­ten Fra­gen der zeit­ge­nös­si­schen Aus­hand­lung und Kons­ti­tu­ie­rung von ›Staats­bür­ ger­schaft‹ und be­rück­sich­ti­gen da­bei po­li­tik- und er­zie­hungs­wis­sen­schaft­li­che Per­spek­ti­ ven ebenso wie an­thro­po­lo­gi­sche oder me­dien- und kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­che.

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et al. 2014). Diese Fra­gen wer­den vor­wie­gend in stark tech­nisch und tech­no­lo­gisch orien­tier­ter Per­spek­tive be­arbei­tet und las­sen da­bei bis­lang Be­züge zu Kon­zep­ten von ci­ti­zens­hip wei­test­ge­hend ver­mis­sen. Vor die­sem Hin­ter­grund re­flek­tiert der vor­lie­gende Bei­trag ak­tu­elle De­bat­ten zu Kon­zep­ten von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip, ins­be­son­dere mit Blick auf drei zen­trale Fra­ge­stel­lun­gen: (1) Wie lässt sich ci­ti­zens­hip unter Be­din­gun­gen von Glo­ba­li­ sie­rung ver­ste­hen, wenn (na­tio­nal)staat­li­che Ord­nung an Be­deu­tung ver­liert und räum­li­che Struk­tu­ren dy­na­mi­siert wer­den? (2) Wel­che Re­le­vanz ha­ben Emo­tio­nen und Af­fekte in ei­nem his­to­risch als ra­tio­nal ent­wor­fe­nen Kon­zept von ci­ti­zens­hip? Und (3) Wie las­sen sich unter Be­din­gun­gen di­gi­ta­ler Kom­mu­ni­ka­tion Fra­gen der Teil­habe und Par­ti­zi­pa­tion mit Kon­zep­ten von ci­ti­zens­hip zu­sam­men den­ken? Alle drei Fra­gen ha­ben für die Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft zen­trale Be­ deu­tung. Sie re­flek­tie­ren spe­zi­fi­sche Er­war­tun­gen an me­diale Kom­mu­ni­ka­tion für die Kons­ti­tu­ie­rung von Ge­mein­schaft und Ge­sell­schaft: In­te­gra­tion, Teil­habe und agency be­nen­nen schlag­wort­ar­tig sol­che Leis­tun­gen, die Me­dien für Ge­sell­schaft er­brin­gen soll­ten. Da­mit sind nor­ma­tive Di­men­sio­nen be­nannt, die als er­for­der­lich für das Funk­tio­nie­ren von Ge­mein­we­sen gel­ten. Zu­gleich er­öff­nen sich mit die­sen Fra­gen em­pi­ri­sche Sicht­wei­sen auf das Ver­ständ­nis von ci­ti­zens­hip. So lässt sich da­nach fra­gen, wie mit­tels Me­dien und me­dia­ti­sier­ter Kom­mu­ni­ka­tion be­lon­ging, also Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­ner Ge­mein­schaft her­ge­stellt wird oder die­ses miss­lingt.

Cit­i­zen­ship jen­seits des Na­tion­al­staats »If the West­ern cit­i­zen of the nine­teenth cen­tury was a mem­ber of a con­sol­i­dat­ing na­tion, the con­tem­po­rary cit­i­zen of the twenty-first cen­tury is a mem­ber of a de­ter­ri­to­ria­liz­ing state.« (Mit­chell 2003: 387)

Die So­zial­geo­gra­phin Kat­ha­ryne Mit­chell be­nennt die An­for­de­rung, Zu­ge­hö­rig­ keit zu ei­ner staat­li­chen Ge­mein­schaft her­zu­stel­len, wenn Ter­ri­to­ria­li­tät – his­to­risch kons­ti­tu­tiv für die Ent­ste­hung von Na­tio­nal­staa­ten – nicht län­ger als frag­lose En­ti­tät Gül­tig­keit hat. Sie fragt da­nach, wie Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ler­nen Mit­glie­der ei­ner Ge­mein­schaft zu sein, und be­nennt da­mit Her­aus­for­de­run­gen, die nicht al­lein für die Po­li­tik­wis­sen­schaft, So­zial­geo­gra­phie oder Päd­ago­gik re­le­vant sind, son­dern in be­son­de­rer Weise auch für die Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft. Unter Be­din­gun­gen von Glo­ba­li­sie­rung und glo­ba­len Mo­bili­tä­ten von Men­schen, Gü­tern, Sym­bo­len, Nar­ra­ti­ven und Prak­ti­ken ver­liert eine pri­mär­räum­lich struk­tu­rierte Ord­ nung an Be­deu­tung (Adey 2010; Cress­well 2006; Urry 2007). Pro­zesse von Mi­gra­tion und Trans-Mi­gra­tion er­zeu­gen Dy­na­mi­ken im Zu­sam­men­spiel von ›Ent­or­tun­gen‹ (Gid­dens) ei­ner­seits und mul­tip­len, trans­kul­tu­rel­len Zu­ge­hö­rig­kei­ten an­de­rer­seits. »Wir neuen Deut­schen« – so be­zeich­nen sich drei Jour­na­lis­tin­nen der Wo­chen­zei­tung

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Die Zeit und be­schrei­ben ein­drück­lich »unsere ge­misch­ten Iden­ti­tä­ten, unsere Ge­fühle von Hei­mat­lo­sig­keit und Ent­frem­dung« ver­bun­den mit der ener­gisch for­mu­lier­ten For­de­rung, re­le­van­ter Teil ei­ner sich neu for­mie­ren­den deut­schen Iden­ti­tät zu sein: »Es herrscht der­selbe Me­cha­nis­mus von Wir-Wer­dung und Ihr-Wer­dung wie über­all: Die Span­nun­gen zwi­schen Neu­zu­ge­zo­ge­nen, Län­ge­rhier­ge­we­se­nen und Scho­ne­wig­ hier­le­ben­den wird es im­mer wie­der ge­ben. Und im­mer wird darum ge­run­gen, was sich auf kei­nen Fall än­dern darf.« (Top­çu/Bo­ta/Pham 2012: 169) Deut­lich wird hier, wie kom­plex sich Pro­zesse der Her­stel­lung von Zu­ge­hö­rig­keit ge­stal­ten. Da­bei stel­len mit und durch Me­dien her­ge­stellte und zir­ku­lie­rende Bil­der des ›Ei­ge­nen‹ und des ›An­de­ren‹ we­sent­li­che Ele­mente in die­sem Pro­zess dar. Me­dien und me­dien­ba­sierte Kom­mu­ni­ka­tion ha­ben schon im­mer dazu bei­ge­ tra­gen, räum­li­che Gren­zen zu über­win­den. Sie lie­fern Bil­der, Ein­drü­cke und Wis­ sens­be­stände jen­seits des ei­ge­nen Ho­ri­zon­tes. In die­ser Weise sind Me­dien zen­trale Vor­aus­set­zung für Pro­zesse der Glo­ba­li­sie­rung und trei­ben diese zu­gleich nach­hal­ tig vor­an. Toby Mil­ler (2007) weist in sei­ner kri­ti­schen Re­fle­xion von cul­tu­ral ci­ti­ zens­hip dar­auf hin, dass diese Mo­mente me­dia­ti­sier­ter Teil­habe an Welt­ge­sell­schaft unter Be­din­gun­gen neo­li­be­ra­ler He­ge­mo­nie statt­fin­den. Wäh­rend im tra­di­tio­nel­ len po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Staats­ver­ständ­nis die­ser Staat sei­nen Bür­gern ein Mi­ni­mum an Le­bens­stan­dard durch die Si­che­rung öko­no­mi­scher und so­zia­ler Rechte zu­ge­bil­ligt hat, zeich­net sich das post­mo­der­ne, kul­tu­relle Ver­spre­chen durch Zu­gang zu den Tech­no­lo­gien der Kom­mu­ni­ka­tion aus. Mil­ler ver­weist dar­auf, dass cul­tu­ral ci­ti­zens­hip we­der ein neues Phä­no­men, noch ein per se eman­zi­pa­to­ri­sches sei. Der Ein­satz kul­tu­rel­ler Prak­ti­ken, Sym­bole und Ideen zu Her­stel­lung na­tio­na­ler Iden­ti­tät werde po­li­tisch wie öko­no­misch in­stru­men­tell ein­ge­setzt: »Global­ly, cul­tu­ral cit­i­zen­ship is a re­sponse to an in­creas­ing­ly mo­bile middle-class, cul­ture in­dus­try work­force [. . .], which favors the North over the South and cap­i­tal over labor. Do­ mes­tic­ally, cul­tu­ral cit­i­zen­ship and me­dia de­reg­u­la­tion are co­ef­fi­cients of glob­al­i­za­tion, of­ fer­ing both raw ma­te­rial for for­eign sales, and a means of lo­cal con­trol.« (Mil­ler 2007: 55)

Pro­ble­ma­ti­siert wird da­mit der nor­ma­tive Ge­halt von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip. Der Rück­griff auf sym­bo­li­sche Re­per­toires, die Sicht­bar­keit viel­fäl­ti­ger Iden­ti­tä­ten in ver­schie­de­nen Spra­chen, kul­tu­rel­len Prak­ti­ken und me­dia­len Ar­ti­ku­la­tio­nen hat nicht aus sich her­aus den Cha­rak­ter von Eman­zi­pa­tion oder Gleich­stel­lung. Sie las­sen sich glei­cher­ma­ßen öko­no­misch be­grün­den als Er­schlie­ßung von Ni­ schen­märk­ten und Aus­dif­fe­ren­zie­rung von Ziel­grup­pen. Die Kon­struk­tion von Zu­ ge­hö­rig­keit fin­det maß­geb­lich durch For­men des Kon­sums statt. Hier ar­ti­ku­liert sich Glo­ba­li­sie­rung in ihrer aus­ge­präg­tes­ten Form, in­dem Bür­ger_in­nen als Kon­ su­ment_in­nen teil­ha­ben am glo­ba­len Han­del von Arbeits­kraft, Gü­tern, Unter­hal­ tungs­an­ge­bo­ten und In­for­ma­tio­nen. Das Ideal des ›ak­ti­ven Staats­bür­gers‹ ti­tu­liert Mil­ler vor die­sem Hin­ter­grund »the la­test fe­tish of neo-li­be­ra­lism lite« (ebd.: 33).

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An diese kri­ti­sche Be­wer­tung wird mit der Dis­kus­sion um Kos­mo­po­li­tis­mus an­ge­knüpft. Lässt sich kon­sta­tie­ren, dass Zu­ge­hö­rig­keit und go­ver­nance nicht al­ lein auf na­tio­nal­staat­li­cher Ebene zu fas­sen sind, son­dern in ei­ner Ver­schrän­kung von lo­ka­ler, re­gio­na­ler, na­tio­na­ler und trans­na­tio­na­ler Ebe­nen statt­fin­den, so müs­ sen For­men von ci­ti­zens­hip dies spie­geln. »A cos­mo­po­li­tan po­li­ti­cal com­mu­nity would be ba­sed upon over­lap­ping or mul­tiple ci­ti­zens­hips con­nec­ting the po­pu­lace into local, na­tio­nal, re­gio­nal and glo­bal forms of go­ver­nance.« (Ste­ven­son 2003: 333) Doch kos­mo­po­li­ti­sche Iden­ti­tä­ten kons­ti­tu­ie­ren sich nicht al­lein oder vor­ran­ gig aus po­li­ti­schen Ent­schei­dungs­struk­tu­ren, son­dern aus ge­leb­ten so­zia­len und kul­tu­rel­len Prak­ti­ken, in denen all­täg­li­che Re­per­toires, ak­tu­el­les Wis­sen, For­men des Kon­sums und der Unter­hal­tung ar­ti­ku­liert und an­ge­eig­net wer­den. Mit dem Kon­zept von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip las­sen sich Di­men­sio­nen des Kos­mo­po­li­ta­nis­mus be­schrei­ben, die auf die Not­wen­dig­keit der Ver­hand­lung von Iden­ti­tä­ten ba­sie­rend auf Dif­fe­renz ver­wei­sen. Ge­fragt wird da­mit nach For­men des »do­ing ci­ti­zen­ship« (Dahl­gren 2006) oder der »prac­ti­ces of ci­ti­zens­hip« (Coul­dry 2006: 323), also nach so­zia­len und kul­tu­rel­len Prak­ti­ken, mit­tels de­rer Teil­habe an Ge­mein­schaft aus­ge­übt wird. Be­reits Tur­ner (2002: 42) hat dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sich bei der Kons­ti­tu­ie­rung von ci­ti­zens­hip Ele­mente der öf­fent­li­chen und der pri­va­ten Sphäre ver­schrän­ken. Neben den in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten For­men po­li­ti­scher Teil­habe durch Wahl­akte wer­den hier all­tags­ge­bun­dene Prak­ti­ken mit und durch Me­dien in den Blick ge­nom­men, die eine dis­kur­sive Ver­stän­di­gung um Ge­mein­sam­keit und Dif­ fe­renz ge­ne­rie­ren. Sie bil­den die Grund­lage für das, was Dahl­gren (2003; 2009) als »circuit of ci­vic culture« be­schreibt. Er ent­wirft das Zu­sam­men­wir­ken von sechs Di­men­sio­nen als ei­nen Kreis­lauf: Wer­te, Ver­trau­en, Wis­sen, Prak­ti­ken, Iden­ti­tä­ten und Räume (spaces) – sie be­schrei­ben wech­sel­sei­tig ab­hän­gige Di­men­sio­nen zur Ent­ste­hung ei­ner sta­bi­len ci­vic culture.

Ci­ti­zens­hip und Af­fek­ti­vi­tät Das vor­ran­gig auf die po­li­ti­sche Di­men­sion be­schränkte Kon­zept von ci­ti­zens­hip fo­kus­siert den ra­tio­na­len Dis­kurs als zen­trale Form der Inter­ak­tion zwi­schen den Mit­glie­dern ei­ner Ge­mein­schaft. In der Kon­tras­tie­rung des ver­nünf­ti­gen, ra­tio­na­ len Dis­kur­ses gegen­über dem Emo­tio­nal-Af­fek­ti­ven schwingt eine Ab­wer­tung des Letz­te­ren mit, dem Le­gi­ti­mi­tät für die Her­stel­lung von Ver­stän­di­gung ab­ge­spro­ chen wird. Doch zwei­fel­los spie­len Emo­tio­nen und Af­fekte eine we­sent­li­che Rolle im öf­fent­li­chen Dis­kurs, die al­lei­nige Fo­kus­sie­rung auf ra­tio­nale Di­men­sio­nen der Ver­stän­di­gung ver­schlei­ert die Be­deu­tung von Ge­füh­len, macht diese je­doch nicht un­wirk­sam (vgl. Mouffe 1992, 1993). Mit ei­ner ver­stärk­ten The­ma­ti­sie­rung des Emo­tio­na­len im Kon­text kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher af­fect studies (Baier et al. 2014; Seig­worth/Gregg 2010), die zu­neh­mend Re­le­vanz auch in den So­zial­wis­sen­schaf­

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ten ge­win­nen (Ah­med 2004; Hipfl 2012), rü­cken in der Aus­ein­an­der­set­zung um Di­men­sio­nen von ci­ti­zens­hip Emo­tio­nen und Af­fekte in den Fo­kus. Aus me­dienund kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft­li­cher Per­spek­tive er­scheint dies be­deut­sam, um po­pu­läre Me­dien­for­men und -for­mate in ihrer Be­deu­tung für die Ge­ne­rie­rung von Ge­mein­schaft und die Her­stel­lung von be­lon­ging an­ge­mes­sen zu be­rück­sich­ti­gen. Ins­be­son­dere Cul­tu­ral Stu­dies-Per­spek­ti­ven er­schei­nen da­bei ge­eig­net, dem emo­ tio­na­len Ge­halt po­pu­lä­rer For­men nach­zu­ge­hen. Ver­schie­dent­lich wer­den Ge­fühle gar als kons­ti­tu­tiv für die Her­stel­lung von Ge­sell­schaft in Form von emo­tio­nal ci­ti­ zens­hip oder af­fec­tive ci­ti­zens­hip ge­se­hen (Wahl-Jor­gen­sen 2008; Zem­by­las 2014; John­son 2010; For­rier 2010; Dietze 2008; vgl. auch An­dre­je­vic 2011). Bene­dict An­der­sons (1991) Kon­zept der Na­tion als »ima­gi­ned com­mu­nity« hat auf die fort­wäh­rende Not­wen­dig­keit des Her­stel­lens von Ge­mein­schafts­ge­füh­ len (›love for the nation‹) deut­lich ge­macht. An die­ses Kon­zept an­knüp­fend ver­ weist die emo­tio­nale Di­men­sion von ci­ti­zens­hip auf spe­zi­fi­sche Er­war­tun­gen, die an Mit­glie­der der Ge­mein­schaft ge­stellt wer­den: »(C)iti­zens are ex­pected to dem­on­strate, that they feel loyal, pa­tri­otic and in­te­grated. Those cit­i­zens are wel­come. Peo­ple who are sus­pected of not hav­ing the cor­rect feel­ings, in­clud­ing those ac­cused of mak­ing a point of their dif­fer­ence (for ex­ample, by wear­ing a veil, or even pre­fer­ring to speak a for­eign lan­guage), are pro­ble­ma­tized and iden­tified as le­git­i­mate sub­ jects for cri­tique, fear or sus­pi­cion.« (John­son 2010: 519)

Emo­tio­nale Zu­ge­hö­rig­keit wird da­mit nicht nur als eine Er­wei­te­rung der Re­per­ toires so­zia­ler und kul­tu­rel­ler Inter­ak­tion be­grif­fen, son­dern zu­gleich als ein Mo­ dus ver­stärk­ter Kon­trol­le. Die ›rich­ti­gen‹ Ge­fühle zu ent­wi­ckeln und zu zei­gen, er­ weist sich hier als not­wen­dige Vor­aus­set­zung, um Mit­glied der Ge­mein­schaft sein zu kön­nen. Ge­fühls­arbeit im Sinne Ar­lie Hoch­schilds (1983) ist zu er­brin­gen und glaub­wür­dig zu per­for­mie­ren, um als gleich­wer­ti­ge_r Bür­ger_in ak­zep­tiert zu wer­ den. Als »go­ver­ning through af­fect« be­zeich­net Fort­ier (2010) das Re­gime, in dem sich Men­schen durch Af­fekte wech­sel­sei­tig re­gu­lie­ren und da­bei zu­gleich die Re­gu­ la­tion ihrer selbst er­ler­nen. So en­twirft Zem­by­las (2014: 6): »Af­fec­tive cit­iz­ en­ship, then, is a con­cept that iden­tifies which emo­tional re­la­tion­ships be­tween cit­i­zens are rec­og­nized and en­dorsed or re­jected, and how cit­i­zens are en­cour­aged to feel about them­selves and others.« An der Her­stel­lung solch ›an­ge­mes­se­ner‹ Ge­fühle sind po­pu­läre Me­dien­an­ge­bote of­fen­kun­dig maß­geb­lich be­tei­ligt: In der aus­ge­las­se­nen Be­geis­te­rung auf der Fan-Meile beim Pu­blic Vie­wing des Spiels der deut­schen Fuß­ball-Na­tio­nal­mann­schaft, in der Em­pö­rung über ras­sis­ti­sche Be­mer­kun­gen beim Cas­ting von Ger­ma­ny’s Next Top Mo­del oder der (ver­spä­te­ten) öf­fent­li­chen Trauer über die Op­fer der NSU-Morde – in Me­dien­for­ma­ten wer­den an­ge­mes­sene Emo­tio­nen zur Her­stel­lung (na­tio­na­ler) Ge­mein­schaft ein­ge­übt, per­for­miert und so­mit wirk­sam. Als Gegen­stück dazu be­zeich­net Ber­lant (2004) die »pri­vat­iza­tion

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of ci­ti­zens­hip« als den Ver­such, die Ge­füh­le, Ein­stel­lun­gen und das Ver­hal­ten von Bür­ger_in­nen da­hin­ge­hend zu be­ein­flus­sen, dass der Status Quo er­hal­ten bleibt. Es wird ge­lernt, dass Dif­fe­renz und Ab­wei­chung un­an­ge­nehm ist und dass Zu­sam­ men­halt in der Gruppe am besten durch Orien­tie­rung an der Mehr­heit her­ge­stellt wird. Er­kenn­bar wird in je­dem Fall, welch in­ten­sive Be­deu­tung af­fek­tive Re­so­nan­ zen für die Her­stel­lung von Zu­ge­hö­rig­keit (oder Aus­ge­schlos­sen­sein) ha­ben. Mit der Be­schrei­bung von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip als Form der Staats­bür­ger­schaft, die die Teil­habe an sym­bo­li­schen Res­sour­cen ei­ner Ge­mein­schaft ins Zen­trum rückt, wer­ den auch emo­tio­nale und af­fek­tive Di­men­sio­nen der Teil­habe be­schreib­bar. So­ zia­len Prak­ti­ken als For­men des ›do­ing ci­ti­zens­hip‹ sind stets emo­tio­nale Di­men­ sio­nen ein­ge­schrie­ben. Sie wer­den nur in we­ni­gen Fäl­len ex­pli­zit und blei­ben so oft­mals ver­bor­gen. Las­sen sich so­mit emo­tio­nale und af­fek­tive Di­men­sio­nen von (Nicht)Zu­ge­hö­rig­keit als be­deut­sa­mes Ele­ment von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip fas­sen, so er­scheint es frag­lich, ob eine ex­pli­zite Be­zeich­nung von emo­tio­nal oder af­fec­tive ci­ti­zens­hip ge­winn­brin­gend ist. Diese Be­griff­lich­keit führt die di­cho­tome Unter­ schei­dung von Emo­tio­na­li­tät ver­sus Ra­tio­na­li­tät selbst fort und le­gi­ti­miert da­mit die Fort­schrei­bung je­ner eta­blier­ten Di­men­sio­nen von ci­ti­zens­hip, die kri­tisch be­ fragt wer­den sol­len. Emo­tio­nale und af­fek­tive Di­men­sio­nen von Zu­ge­hö­rig­keit zu Ge­sell­schaft und Ge­mein­schaft las­sen sich nicht als ›add on‹ be­grei­fen, die po­li­ ti­schen oder so­zia­len Rech­ten und Ver­pflich­tun­gen hin­zu­zu­fü­gen sind. Viel­mehr sind Emo­tio­nen in­te­grale Be­stand­teile jeg­li­cher so­zia­ler und kul­tu­rel­ler Prak­ti­ken: Ge­fühle der Ver­bun­den­heit oder Aus­ge­schlos­sen­heit, Zu­ge­hö­rig­keit und Loya­li­tät, Scham, Stolz oder Ge­ring­schät­zung. Unter wel­chen Be­din­gun­gen ent­ste­hen diese Ge­fühle bei der Ver­hand­lung von Zu­ge­hö­rig­keit zu Grup­pen, Ge­mein­schaf­ten oder (na­tio­na­len) Ge­sell­schaf­ten? Wann wer­den Er­war­tun­gen for­mu­liert, die Ge­fühle sicht­bar zu ma­chen oder aber sie zu ver­ber­gen? Wann wer­den sie als kon­form und an­ge­mes­sen, wann als ab­wei­chend und stö­rend ge­kenn­zeich­net? In wel­cher Weise sind die­sen Ge­füh­len und ihrem öf­fent­li­chen Aus­druck Ge­schlechter­skripte in­hä­ rent? Wie wird da­mit af­fek­tiv die Unter­schei­dung von ›wir‹ und ›den An­de­ren‹ her­ge­stellt? Wie wer­den diese Emo­tio­nen mit und durch Me­dien(dis­kur­se) per­for­ ma­tiv her­ge­stellt, the­ma­ti­siert oder stig­ma­ti­siert? Diese Fra­gen be­rüh­ren zen­trale As­pekte von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip und er­öff­nen neue For­schungs­per­spek­ti­ven für das Ver­ständ­nis po­pu­lär­kul­tu­rel­ler Me­dien­an­ge­bo­te.

Ci­ti­zens­hip und Di­gi­tale Prak­ti­ken Unter Be­din­gun­gen di­gi­ta­ler Kom­mu­ni­ka­tion wer­den For­men der ge­sell­schaft­li­ chen Teil­ha­be, der Par­ti­zi­pa­tion und agency in der Kom­mu­ni­ka­tions- und Me­dien­ wis­sen­schaft ebenso wie der Po­li­tik­wis­sen­schaft in­ten­siv dis­ku­tiert. Geht es um ver­än­derte For­men der po­li­ti­schen Teil­habe und kol­lek­ti­ven Ent­schei­dungs­fin­dung

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(For­men der ›li­quid de­mo­cracy‹, e-de­mo­cracy oder e-go­ver­nan­ce), so sind di­gi­tale Me­dien hier ei­ner­seits Mit­tel öf­fent­li­cher Ver­stän­di­gungs­pro­zesse so­wie an­de­rer­ seits Me­dium der Par­ti­zi­pa­tion in Fort­schrei­bung be­ste­hen­der Macht­ver­hält­nis­se. Zu­gleich of­fe­rie­ren di­gi­tale Kom­mu­ni­ka­ti­ons­modi neu­ar­tige Mög­lich­kei­ten der The­ma­ti­sie­rung und bot­tom up-Mobilisierung. So ge­lang es mit #aufschrei im Jahr 2013 erst­ma­lig in Deutsch­land, durch so­ziale Netz­werk­me­dien ein Thema auf die öf­fent­li­che Agenda zu heben und da­mit zum Thema All­tags­se­xis­mus agency zu er­lan­gen (vgl. Mai­re­der/Schlö­gel 2014; Drüe­ke/Klaus 2014). Als »con­nec­tive action« be­zeich­nen Ben­nett/Se­ger­berg (2013) For­men des po­li­ti­schen Pro­tests und der Par­ti­zi­pa­tion durch di­gi­tale Netz­wer­ke, die un­ab­hän­gig von der lo­ka­len Ver­or­ tung der Ak­teur_in­nen Mo­bi­li­sie­rung und kol­lek­ti­ves Han­deln er­mög­li­chen. Zwei­fel­los wer­den da­mit di­gi­tale Kom­mu­ni­ka­tions­prak­ti­ken re­le­vant für For­ men des ›do­ing ci­ti­zens­hip‹. In die­sem Zu­sam­men­hang taucht in kom­mu­ni­ka­tions­ wis­sen­schaft­li­cher Li­te­ra­tur zu­neh­mend der Ter­mi­nus di­gi­tal ci­ti­zens­hip auf. Es gilt je­doch ge­nauer zu be­trach­ten, wel­cher Stel­len­wert da­bei di­gi­ta­len Tech­no­lo­ gien zu­ge­schrie­ben wird und wo es sich um spe­zi­fis­ che so­ziale Prak­ti­ken han­delt, die mit­tels di­gi­ta­li­sier­ter Kom­mu­ni­ka­tion rea­li­siert wer­den.2 Moss­ber­ger/Tol­bert/ McNeal (2008) ver­ste­hen di­gi­tal ci­ti­zens­hip als das Ver­mö­gen, durch online-Kommunikation an Ge­sell­schaft teil­zu­ha­ben. In ei­ner Be­schrän­kung auf die tech­ni­schen und tech­no­lo­gi­schen Vor­aus­set­zun­gen ei­nes Zu­gangs (access) wer­den als di­gi­tal ci­ ti­zens all jene ge­fasst, die täg­lich on­line ge­hen. Auch Coul­dry et al. be­schrän­ken sich in ihrem Bei­trag auf die Frage »what di­gi­tal in­fras­truc­tu­res can con­tri­bute to a ci­vic culture« (2014: 627) und ver­fol­gen da­mit eine pri­mär in­stru­men­telle Per­spek­ti­ve: di­gi­tale Kom­mu­ni­ka­tions­prak­ti­ken wer­den be­trach­tet als Mit­tel zur Er­rei­chung von Teil­ha­be. Aus ei­ner Per­spek­tive der Inter­pre­ta­tion so­zia­ler und kul­tu­rel­ler Prak­ti­ken als Mit­tel der Kons­ti­tu­ie­rung von Sinn kann ein sol­ches Vor­ge­hen nicht be­frie­di­gen. Di­gi­tale Prak­ti­ken sind da­mit nicht per se sinn­haft, par­ti­zi­pa­tiv oder de­mo­kra­tisch, sie wer­den viel­mehr in ge­sell­schaft­li­chen Kon­tex­ten an­ge­eig­net, ver­wen­det und mit Be­deu­tung ver­se­hen. Hin­weise dar­auf bie­tet bspw. Wu (2013), die sich da­für in­ter­es­siert, wie in China in der Ver­schrän­kung von Fern­se­hen und Inter­net-Kom­ mu­ni­ka­tion po­li­ti­sche Ar­ti­ku­la­tions­räume ge­schaf­fen wer­den. Sie be­trach­tet da­für For­men der dis­kur­si­ven An­eig­nung von Su­per Girl, der chi­ne­si­schen Ver­sion von Top Mo­del. In online-Diskussionen um Fair­ness, Wett­streit und Er­folg zu die­sem ex­pli­zit nicht-po­li­ti­schen Thema iden­ti­fi­ziert Wu kom­plexe Ver­hand­lun­gen um an­ge­mes­sene Werte und Kon­zepte von Ge­mein­schaft. Sie be­greift es als »central argument of cul­tu­ral ci­ti­zens­hip that people do not just en­ter pu­blic discourses to solve im­me­dia­te, rand social is­sues but also search for the core values that de­fine 2 Nicht sys­te­ma­tisch kann an die­ser Stelle be­rück­sich­tigt wer­den, in wel­chem Maße die mit di­gi­ta­ler Daten­pro­duk­tion ein­her­ge­hen­den Pro­bleme der Über­wa­chung und Kon­ trolle so­zia­len All­tags Di­men­sio­nen von Staats­bür­ger­schaft tan­gie­ren.

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the po­li­ti­cal system« (Wu 2013: 416). Unter den Be­din­gun­gen ri­gi­der po­li­ti­scher Re­gu­la­tion des Me­dien­sys­tems in China bie­ten po­pu­lä­re, nicht ex­pli­zit po­li­ti­sche Me­dien­an­ge­bote die Mög­lich­keit zur Ver­stän­di­gung über ge­sell­schaft­li­che Wer­te. For­men der di­gi­ta­len Kom­mu­ni­ka­tion wer­den hier ge­wählt, um Les­ar­ten des po­pu­ lä­ren Me­dien­an­ge­bots zu ar­ti­ku­lie­ren und dis­kur­siv zu ver­han­deln. Im Mit­tel­punkt der Ana­lyse ste­hen dann nicht die di­gi­ta­len Tech­no­lo­gien, son­dern so­ziale Prak­ti­ ken, die mit­tels di­gi­ta­ler Tech­nik rea­li­siert wer­den. Ähn­lich ar­gu­men­tiert Goode (2010), wenn er die Rolle von Netz­kom­mu­ni­ka­tion für das Ver­ständ­nis von cul­ tu­ral ci­ti­zens­hip nä­her be­stimmt. Zwei Per­spek­ti­ven ers­chei­nen hier bed­eut­sam: »why ac­cess to dig­it­al net­works is sig­nif­i­cant for par­tic­u­lar cul­tu­ral groups and how dig­it­al net­works con­trib­ute to the con­sti­tu­tion of cit­i­zen­ship« (Goode 2010: 539). Fo­kus­siert wird da­mit nicht auf Zu­gang zu di­gi­ta­ler In­fra­struk­tur und Häu­fig­keit ihrer Nut­zung, son­dern auf die kons­ti­tu­tive Di­men­sion der Be­deu­tungs­pro­duk­tion mit und durch di­gi­tale Kom­mu­ni­ka­tion. Da­mit wer­den for­mal-äs­the­ti­sche so­wie in­ halt­lich-so­ziale Fra­gen auf­ge­wor­fen. Auf diese Weise las­sen sich mi­kro-per­spek­ti­ vi­sche Fra­gen nach dem kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­deln und der Be­deu­tungs­pro­duk­tion Ein­zel­ner ver­bin­den mit der Ma­kro-Ebe­ne, bei der das Ver­hält­nis von ge­sell­schaft­ li­cher Macht, kul­tu­rel­ler Pra­xis und di­gi­ta­ler In­fra­struk­tur in den Blick ge­rät.

Cul­tu­ral ci­ti­zens­hip re­loa­ded Aktuell zir­ku­lie­ren di­verse Kon­zep­te, An­sätze und Ver­ständ­nisse von ci­ti­zens­hip. Eine ge­ra­dezu in­fla­tio­näre Ver­wen­dung von At­tri­bu­ten macht es schwer, die Über­ sicht zu be­hal­ten: mul­ti­cul­tu­ral, cri­ti­cal, me­dia­ted, DIY, fle­xible ci­ti­zens­hip – diese Kon­zepte tau­chen neben­ein­an­der in der Li­te­ra­tur auf, er­gän­zend zu den zu­vor im Bei­trag er­ör­ter­ten For­men von af­fec­ti­ve, emo­tio­nal und di­gi­tal ci­ti­zens­hip. Kein Zwei­fel – eine sol­che Viel­zahl und da­mit ver­bun­dene Be­lie­big­keit an Be­zeich­nun­ gen, Be­wer­tun­gen und Er­klä­run­gen bringt we­nig ana­ly­ti­schen Er­trag. Des­halb kurz zu­rück zum Aus­gangs­punkt: Ge­fragt ist eine kon­zep­tu­elle Rah­ mung, die es er­mög­licht, For­men der Teil­habe an sym­bo­li­schen Res­sour­cen von Ge­mein­schaft und Ge­sell­schaft zu er­fas­sen. Not­wen­dig er­scheint dies aus meh­re­ren Grün­den: Die mit tra­di­tio­nel­len staats­bür­ger­li­chen Rech­ten und Pflich­ten ge­fass­ten For­men po­li­ti­scher, so­zia­ler und öko­no­mi­scher Teil­habe rei­chen nicht aus, um Zu­ ge­hö­rig­keit zu ei­ner (vor­ge­stell­ten) Ge­mein­schaft und Ge­sell­schaft zu be­schrei­ben. Die Teil­habe an den kul­tu­rel­len Re­per­toires von Ge­mein­schaf­ten er­scheint in postmo­der­nen, me­dia­ti­sier­ten Ge­sell­schaf­ten un­ver­zicht­bar. Unter Be­din­gun­gen glo­ba­ler Zir­ku­la­tion von In­for­ma­tio­nen, Gü­tern und Men­schen ver­lie­ren räum­lich ge­bun­dene For­men der Zu­ge­hö­rig­keit an Be­deu­tung. Zu­gleich bie­ten kul­tu­relle und me­dia­ti­sierte Re­per­toires die Mög­lich­keit, Ge­mein­schaft trans­lo­kal, grenz­über­schrei­tend und mo­bil zu kons­ti­tu­ie­ren. Da­mit wer­den sym­bo­li­sche Res­sour­cen und ihre Ver­füg­bar­keit für

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Mit­glie­der von Ge­mein­schaf­ten zu ei­nem kons­ti­tu­ti­ven Bau­stein. Mit dem Kon­zept von cul­tu­ral ci­ti­zens­hip las­sen sich für die Me­dien- und Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft in­struk­tiv jene Pro­zesse be­trach­ten, in denen mit und durch Me­dien und (di­gi­ta­le) Kom­mu­ni­ka­tion Aus­hand­lun­gen von Zu­ge­hö­rig­keit statt­fin­den. Das Kon­zept bie­tet da­bei ei­ner­seits ei­nen nor­ma­ti­ven Rah­men, in­dem An­for­de­run­gen an sym­bo­li­sche Re­prä­sen­ta­tion und Teil­habe for­mu­liert wer­den, An­for­de­run­gen, an denen sich Leis­tun­ gen und Fehl­leis­tun­gen öf­fent­li­cher Me­dien­kom­mu­ni­ka­tion mes­sen las­sen. Zu­gleich lässt es sich als ana­ly­ti­sche Fo­lie für die em­pi­ri­sche Unter­su­chung von For­men der Teil­ha­be, Sicht­bar­keit und agency nut­zen. Me­dien­han­deln als so­ziale Pra­xis wird da­mit zu ei­ner zen­tra­len Di­men­sion von ›do­ing ci­ti­zens­hip‹.

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Mediale Diskurse zu Ungleichheiten

Wi­ki­Le­aks in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung

Wi­ki­Le­aks in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung He­ge­mo­nia­le, anti­fe­mi­nis­ti­sche und fe­mi­nis­ti­sche Me­dien­dis­kurse Jo­hanna Do­rer

Main­stream-Me­dien und Gen­der Main­stream-Me­dien sind In­sti­tu­tio­nen der Wahr­heits­pro­duk­tion und In­sti­tu­tio­nen je­nes po­pu­lä­ren Wis­sens, das in ei­ner Ge­sell­schaft zir­ku­liert. Sie pro­du­zie­ren und ver­mit­teln je­nes ge­sell­schaft­li­che Wis­sen, das für eine be­stimmte Zeit als ge­sell­ schaft­li­che Wahr­heit gilt. Da­mit neh­men sie eine zen­trale Rolle in der Sta­bi­li­sie­ rung do­mi­nan­ter Dis­kurse und in der Auf­recht­er­hal­tung he­ge­mo­nia­ler Struk­tu­ren ein. Dies gilt auch für den he­ge­mo­nia­len Ge­schlechter­dis­kurs. Als »Tech­no­lo­gien des Ge­schlechts« (de Lau­re­tis 1987) sind sie Co-Pro­du­zen­ten ei­nes bi­nä­ren Ge­ schlechter­dis­kur­ses. Me­dial re­prä­sen­tierte Kon­zep­tio­nen von Männ­lich­keit und Weib­lich­keit sind so be­trach­tet eine Ver­dich­tung und Nor­mie­rung ge­sell­schaft­li­ cher Ge­schlech­ter­bil­der. Der Bei­trag geht der Frage nach, wie in der me­dia­len De­batte über Wi­ki­Le­aks die hier­ar­chi­sche Ge­schlechter­di­cho­to­mie re/pro­du­ziert wird. Die ge­schlecht­li­che Co­die­rung er­folgte be­reits ab Be­ginn der Main­stream-Be­richt­er­stat­tung, in­dem eine sym­bo­li­sche Ver­bin­dung tra­dier­ter ge­sell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen von Mas­ ku­lini­tät und Wi­ki­Le­aks her­ge­stellt wur­de. Am Hö­he­punkt der Be­richt­er­stat­tung im De­zem­ber 2010 dient die ge­schlecht­lich co­dierte Di­cho­to­mie von Öf­fent­lich­ keit und Pri­vat­heit mit ihrer hier­ar­chi­schen ge­sell­schaft­li­chen Zu­schrei­bung als Fo­lie der Be­richt­er­stat­tung. Ein anti­fe­mi­nis­ti­scher me­dia­ler Dis­kurs kon­ter­ka­rierte da­bei die fe­mi­nis­ti­schen Dis­kurse ab­seits des Main­streams.

ICT und Gen­der Cy­ber­fe­mi­nis­tin­nen ent­wi­ckel­ten in den 1980er Jah­ren die Uto­pie ei­nes herr­ schafts­freien und ge­schlechts­lo­sen Raums des Cy­ber­space. Donna Ha­ra­way

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(1985) gilt als eine der wich­tigs­ten Ver­tre­te­rin­nen die­ses de/kon­struk­ti­vis­ti­schen An­sat­zes. Die Cy­borg – als hy­bride Denk­fi­gur – ist als eine Ver­schmel­zung von Frau und Com­pu­ter kon­zi­piert, die im­stande ist, vor­herr­schende duale Kon­zep­tion von Männ­lich­keit und Weib­lich­keit, Or­ga­nis­mus und Tech­nik, Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit etc. zu unter­lau­fen und auf­zu­lö­sen. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert spä­ter se­hen wir nicht nur, wie mit dem Inter­net diese Uto­pien in weite Ferne ge­rückt sind, son­dern auch wie Main­stream-Me­dien daran be­tei­ligt sind, dass duale Ge­schlechter­hier­ar­chien be­züg­lich des Inter­nets aufrecht erhalten wer­den. Schon mit der zu­neh­men­den Kom­mer­zia­li­sie­rung des Inter­nets be­stä­tigte sich das, was im Zuge der Ent­wick­lung frü­he­rer Tech­no­lo­gien wie Tele­ fon, Ra­dio, Fern­se­hen, Vi­deo etc. be­kannt ist. Mit der Her­aus­bil­dung des Kom­mu­ ni­ka­tions­dis­po­si­tivs, des­sen vor­läu­fig­ er Hö­he­punkt das Inter­net dar­stellt, wur­den die An­rei­zungs-, Wis­sens-, und Kon­troll­mächte zu je­nen Re­gu­la­ti­va, die mit­tels Nor­mie­rung und (Selbst-)Dis­zi­pli­nie­rung die neu ge­won­nen Kom­mu­ni­ka­tions­frei­ hei­ten kon­ter­ka­rier­ten. Be­reits in der An­fangs­phase des Inter­nets kon­stru­ier­ten die Main­stream-Me­dien das Inter­net als Tech­nik­sphä­re, sodass durch die sym­bo­li­sche Ver­bin­dung von Männ­lich­keit und Tech­nik ein Er­klä­rungs­mus­ter für den ge­rin­gen Frau­en­an­teil im Netz ge­fun­den war. Der öf­fent­li­che Dis­kurs, ins­be­son­dere der do­ mi­nante Me­dien­dis­kurs zum Inter­net, der da­mals The­men wie Por­no­gra­fie im Netz, Ha­cker­tum, Pro­gram­mier­spra­chen und tech­ni­sche Kom­pe­tenz dis­ku­tier­te, be­güns­ tigte die Nut­zung durch männ­li­che User und ver­stärkte die sym­bo­li­sche Ver­bin­ dung von Inter­net und Tech­nik. Ge­rahmt wurde die männ­li­che Co­die­rung durch po­li­tisch in­iti­ierte Frau­en­för­der­pro­gramme (wie etwa »Frauen ans Netz«), die ab­ seits der sym­bo­li­schen Re­pro­duk­tion der Ge­schlechter­hier­ar­chie die ver­meint­li­che Tech­nik­ferne von Frauen für de­ren ge­rin­gen Netz­an­teil iden­ti­fi­zier­ten und mit­tels Inter­net­kur­sen die­ses ver­meint­li­che De­fiz­ it zu be­he­ben trach­te­ten. Mit die­ser Maß­ nahme wur­den aber auch die so­zio-öko­no­mi­schen, zeit­ab­hän­gi­gen, pro­gramm- und jar­gon-spe­zi­fis­ chen Be­din­gun­gen der ge­rin­gen Be­tei­li­gung von Frauen aus­ge­blen­ det und Frauen als zu »för­dernde Com­pu­ter-An­alpha­be­ten« be­trach­tet. Neben die­sem he­ge­mo­nia­len Dis­kurs zum Inter­net ha­ben sich fe­mi­nis­ti­sche Gegen­dis­kurse eta­bliert, die den do­mi­nan­ten Tech­nik­dis­kurs durch­kreu­zen, von den Main­stream-Me­dien al­ler­dings kaum auf­ge­grif­fen wur­den. Sa­die Plant (1997) of­fe­rierte eine al­ter­na­ti­ve, fe­mi­nis­ti­sche Be­schrei­bung der di­gi­ta­len Tech­no­lo­gie und er­in­nerte an In­for­ma­ti­ke­rin­nen, die we­sent­li­chen An­teil an Ent­wick­lung der Hard- und Soft­ware hat­ten. Mit ihrem his­to­ri­schen Rück­blick und der Sym­bo­lik des Ver­net­zens und We­bens po­si­tio­nierte sie den Cy­ber­space als weib­lich co­dier­ ten Raum, der des­halb für Frauen ganz neue Mög­lich­kei­ten er­öff­nen wür­de. Mit die­sem An­satz ge­lang es Plant nicht nur, den My­thos des Inter­nets als Tech­nik zu ent­lar­ven, son­dern auch Weib­lich­keit aus der hier­ar­chisch unter­ge­ord­ne­ten Po­ si­tion zu be­freien. Ha­ra­way (1985) wie­derum sah in der neuen Tech­no­lo­gie die Chan­ce, Grenz­ver­schie­bun­gen lust­voll vor­an­zu­trei­ben, was schluss­end­lich zur

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Auf­lö­sung der Ge­schlech­ter füh­ren wür­de. Ha­ra­ways An­satz ei­ner de/kon­struk­ ti­vis­ti­schen Vor­stel­lung der Auf­he­bung der Ge­schlechter­gren­zen hat in der Folge zu fe­mi­nis­tisch in­spi­rier­ten Inter­net­ak­ti­vi­tä­ten wie etwa gen­der swapping (das be­ deu­tet die An­nahme ei­nes an­de­ren so­zia­len Ge­schlechts) ge­führt. Zu Be­ginn der Kom­mer­zia­li­sie­rung des Inter­nets und sei­ner text­ba­sier­ten Struk­tur wa­ren diese Vor­stel­lun­gen nicht not­wen­dig nur uto­pi­sche, wie Turkle (1995) in ihrer Stu­die auf­zeigt. (Vgl. da­zu: Do­rer 1997a; 1997b; 2001, Klaus 1997) Die heu­tige De­batte über das Inter­net ist viel­fäl­ti­ger ge­wor­den. Der Tech­nik­ dis­kurs zum Inter­net hat aber des­halb noch kei­nes­wegs aus­ge­dient, wie das nach­ fol­gende Bei­spiel Wi­ki­Le­aks zeigt. Ebenso sind die fe­mi­nis­ti­schen Dis­kurse nach wie vor ak­tu­ell, wenn auch mi­no­ri­tär, wie zahl­rei­che fe­mi­nis­ti­sche Netz­ak­ti­vi­tä­ten wie Blogs, fe­mi­nis­ti­sche Platt­for­men u. a. be­le­gen.

Wi­ki­Le­aks in den Main­stream-Me­dien Im Jahr 2010 hat die Ent­hül­lungs­platt­form Wi­ki­Le­aks die inter­na­tio­nale Öf­fent­ lich­keit in Atem ge­hal­ten. Kein Main­stream-Me­dium konnte sich der Dis­kus­sion über die von Wi­ki­Le­aks auf eine Inter­net-Platt­form ge­stell­ten Do­ku­mente ent­zie­ hen. Die erste von den Me­dien wahr­ge­nom­mene Ver­öf­fent­li­chung er­folgte be­reits im Jahr 2007. Ab die­sem Zeit­punkt schaffte es Wi­ki­Le­aks, eine stän­dige Stei­ge­ rung der Wirk­sam­keit zu er­rei­chen. Diese ful­mi­nante Ent­wick­lung nahm eine ab­ rupte Wen­dung ab Herbst/Win­ter 2010, als nicht mehr die ge­hei­men Do­ku­men­te, die Wi­ki­Le­aks ver­öf­fent­lich­te, das In­ter­esse der Main­stream-Me­dien auf sich lenk­ ten, son­dern die Pri­vat­sphäre des Wi­ki­Le­aks-Spre­chers Ju­lian As­san­ge. Der Hö­he­punkt des Er­folgs von Wi­ki­Le­aks ist gleich­sam auch der Kul­mi­na­ tions­punkt, an dem sich die unter­schied­lichs­ten Dis­kurse kreu­zen und in ihrer »Ge­ schwät­zig­keit« (Fou­cault 1977) Trans­pa­renz er­zeu­gen. Im Fol­gen­den wer­den die Me­dien­dis­kurse zu Wi­ki­Le­aks, wie sie sich zum Hö­ he­punkt der öf­fent­li­chen Auf­merk­sam­keit zei­gen, dar­ge­stellt.1 Schon lange be­vor die öf­fent­li­che De­batte über Wi­ki­Le­aks die­sen Kul­mi­na­tions­ punkt mit sei­ner the­ma­ti­schen Wende er­reich­te, hat­ten die Main­stream-Me­dien die Wei­chen in Rich­tung Kon­struk­tion kon­ser­va­ti­ver Ge­schlechter­ste­reo­ty­pen ge­stellt. Wi­ki­Le­aks wird als ein Ort aus­schließ­li­cher Mas­ku­lini­tät kon­stru­iert. Die Main­stream-Me­dien grei­fen da­bei auf tra­dierte Ge­schlechter­ste­reo­ty­pen zu­rück. 1 Grund­lage ist eine in­ten­sive Me­dien­be­ob­ach­tung füh­ren­der deut­scher und ös­ter­rei­chi­ scher Zei­tun­gen und Ma­ga­zi­ne, wie Der Spie­gel, Die Zeit, FAZ, Süd­deut­sche Zei­tung, taz, der Stan­dard, Emma so­wie Blogs und Inter­net­fo­ren zwi­schen 2009 und 2011. Ziel war es, mit­tels dis­kurs­ana­ly­ti­schen Ver­fah­rens die ver­schie­de­nen Ar­gu­men­ta­tions­li­nien her­aus­zu­fil­tern.

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Die Kon­struk­tion von Mas­ku­lini­tät re­kur­riert auf jene kon­ser­va­ti­ven Ge­schlechter­ zu­schrei­bun­gen, die das Männ­li­che mit Tech­nik, Ha­cker­tum, Mi­li­tär, In­tel­li­genz, Macht und Kampf ver­bin­den. So etwa er­folgt durch die Main­stream-Me­dien eine Ver­or­tung von Wi­ki­Le­aks im Rah­men des männ­lich co­dier­ten Ha­cker­tums, das ei­ ner Re-Ar­ti­ku­la­tion (in der Be­deu­tung von Lac­lau/Mouffe 1985; Hall 1996) je­nes Tech­nik­dis­kur­ses gleich­kommt, der be­reits im Früh­sta­dium von den Main­streamMe­dien mit dem Inter­net ge­kop­pelt wur­de. Auch die wei­te­ren Ver­bin­dun­gen, die Main­stream-Me­dien her­stel­len, ver­wei­ sen auf eine fast ra­di­kale Ge­schlechter­se­gre­ga­tion, die nur den Ort der Mas­ku­lini­tät kennt und Weib­lich­keit aus­schließt. Die Ak­ti­vis­ten von Wi­ki­Le­aks sind »Wahr­heitsHa­cker«, wie »Zeit Online« (2009) ti­telt, sie sind »tech­nisch ver­siert«, »ein­same Kämp­fer gegen das Un­recht der Welt«, sie stel­len sich dem »Kampf gegen den mi­li­tä­risch-in­dus­triel­len Kom­plex«, wie bei­spiels­weise die Au­to­ren des deut­schen Nach­rich­ten­ma­ga­zins Der Spie­gel for­mu­lie­ren (vgl. Rosbach/Stark 2011). Wi­ki­Le­aks wird von den Main­stream-Me­dien vor­erst nicht in den Kon­text an­de­rer gegen­he­ge­mo­nia­ler so­zia­ler Be­we­gung ge­stellt. Der po­li­ti­sche Ak­ti­vis­mus von Wi­ki­ Le­aks wird iso­liert und kann so eine Wir­kung ent­fal­ten, die es so aus­se­hen lässt, als ob Wi­ki­Le­aks gänz­lich ohne Frauen funk­tio­nie­ren wür­de. Diese Aus­las­sung er­mög­licht den Main­stream-Me­dien die Ver­stär­kung der Kon­struk­tion von Wi­ki­Le­aks als Ort der Männ­lich­keit. Auch die Ex­per­ten, die zu Wi­ki­Le­aks von den Me­dien inter­viewt wer­den, sind vor­wie­gend männ­lich. Diese me­diale Kon­struk­tion gibt eine gute Vor­aus­set­zung da­für ab, kri­ti­sche so­ziale Be­we­gun­gen – wie etwa die fe­mi­nis­ti­sche Be­we­gung und Trans­pa­renz­be­we­gung – kon­flikt­haft auf­ein­an­der tref­fen zu las­sen. Wi­ki­Le­aks, als Teil der Trans­pa­renz­be­we­gung, hat mit sei­nem na­hezu un­kon­trol­lier­ba­ren An­griff auf die mäch­tigs­ten Re­gie­run­gen und Kon­zerne der Welt diese her­aus­ge­for­dert. Zum Schwei­gen ge­bracht kann die Be­we­gung nur wer­den, wenn die Main­stream-Me­dien auf jene Nach­rich­ten­fak­to­ren wie Ent­po­li­ti­sie­rung, Skan­da­li­sie­rung, Se­xua­li­sie­rung, Kri­mi­na­li­sie­rung und Spal­tung ei­ner gegen­he­ge­mo­nia­len po­li­ti­schen Be­we­gung zu­ rück­grei­fen, wie es bei Bou­le­vard­me­dien üb­lich ist. Der Main-Dis­kurs in der Me­dien­be­richt­er­stat­tung zu Wi­ki­Le­aks kon­zen­trierte sich an­fäng­lich auf die Ver­brei­tung der von Wi­ki­Le­aks ver­öf­fent­lich­ten ge­hei­men Do­ku­men­te. The­men wa­ren unter an­de­rem die Kor­rup­tion von Re­gie­rungs­chefs, Do­ku­mente über ver­schie­dene Bank­häu­ser, ein ge­hei­mes USA-EU-Ab­kom­men zur Wei­ter­gabe von Bank­daten, die Scien­to­lo­gy-Kir­che, Emails von Wissenschaftlern der Cli­ma­tic Re­search Unit der Uni­ver­sity of East An­glia, Do­ku­mente des ame­ri­ka­ni­schen Ge­heim­diens­tes so­wie Do­ku­mente des US-Mi­li­tärs.2 Die Me­dien­be­richt­er­stat­tung ver­folgte da­bei zwei Haupt­li­nien: Zum ei­nen gab es eine Zu­spit­zung auf den »Kampf von Wi­ki­Le­aks gegen das ame­ri­ka­ni­sche Em­pire« 2 Ei­nen gu­ten und kur­zen Über­blick über die Ak­ti­vi­tä­ten von Wi­ki­Le­aks gibt es bei Wi­ki­ pe­dia (2014a).

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(Žižek 2014), zum an­de­ren eine Ent­po­li­ti­sie­rung und Bou­le­var­di­sie­rung durch die Ver­öf­fent­li­chung von Klatsch und Tratsch der Bot­schafts­an­ge­hö­ri­gen. Durch diese Di­cho­to­mi­sie­rung »Kampf gegen das Em­pire« ei­ner­seits und Klatsch und Tratsch an­de­rer­seits wird die ur­sprüng­li­che Ver­bin­dung von Wi­ki­Le­aks und Mas­ku­lini­tät in Frage ge­stellt. Die im ge­sell­schaft­li­chen Dis­kurs fest ver­an­kerte »Ar­ti­ku­la­tion« (im Sinne von Lac­lau) von Weib­lich­keit und Klatsch und Tratsch at­ta­ckiert di­rekt den My­thos der sub­ver­si­ven Männ­lich­keit von Wi­ki­Le­aks. An die­ser Ab­wer­tung, die über die Kon­struk­tion der hier­ar­chi­sie­ren­den Ge­schlechter­di­cho­to­mie wirkt, be­tei­ li­gen sich selbst­ver­ständ­lich auch die so ge­nann­ten Qua­li­täts­me­dien. In glei­chem Maße wie die »Ent­hül­lun­gen« auf Klatsch-Tratsch-Ni­veau ver­ brei­tet wer­den, wird aber auch der »Kampf gegen das Em­pire« mit zahl­rei­chen Fa­cet­ten an­ge­rei­chert: Recht, Öko­no­mie und Cy­ber­at­ta­cken sind da­bei die wich­ tigs­ten Hilfs­mit­tel: Die Su­che nach ge­setz­li­chen Grund­la­gen für eine An­klage we­ gen Ver­ge­hens wie Staats­ver­rat oder Ter­ror­akte wird be­glei­tet durch öko­no­mi­sche An­griffe und An­griffe auf die Platt­form selbst. Die Kampf-Me­ta­pher er­streckt sich nicht nur auf den Kampf gegen das Em­pire, son­dern wird in sei­ner Be­deu­tung noch um­fas­sen­der und geht in Rich­tung Mehr-Fron­ten-Kampf. Neben­dis­kurse wie etwa eine öf­fent­li­che Dis­kus­sion dar­über, wel­che Be­deu­tung Wi­ki­Le­aks für die Zu­kunft des Jour­na­lis­mus habe oder wel­che Aus­wir­kun­gen die Ver­öf­fent­li­chung von ge­hei­ men Do­ku­men­ten für die Wei­ter­ent­wick­lung ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schafts­ ord­nung ha­ben könn­ten, blei­ben mi­no­ri­tär. Den Wen­de­punkt in der Be­richt­er­stat­tung der Main­stream-Me­dien mar­kiert der 6. De­zem­ber 2010. Ju­lian As­sange sieht sich dem Vor­wurf der Ver­ge­wal­ti­gung, vor­ ge­bracht von zwei Schwe­din­nen, kon­fron­tiert. Mit die­ser un­er­war­te­ten Wende kommt es nun in der Be­richt­er­stat­tung zu ei­ner Ent­po­li­ti­sie­rung und Per­so­na­li­sie­rung so­wie zu ei­ner Re­duk­tion der Per­son As­sange auf den pri­va­ten und in­ti­men Be­reich. Auch der Kampf wird nun per­so­na­li­siert. Nicht mehr der Kampf der Platt­form Wi­ki­Le­aks gegen ei­nen ge­sell­schaft­li­chen Macht­dis­kurs und die Fra­ge, wie in ei­ner Welt­ge­sell­ schaft Macht und Kräf­te­ver­hält­nisse wir­ken, steht im Vor­der­grund, son­dern der Kampf ei­nes Ein­zel­nen be­züg­lich ei­ner per­sön­li­chen, in­ti­men An­ge­le­gen­heit. Der Main-Dis­kurs der Be­richt­er­stat­tung die­ser Phase funk­tio­niert auf Ba­sis der Di­cho­to­mie von Öf­fent­lich­keit/Po­li­tik ver­sus Pri­vat­heit/In­ti­mi­tät und sei­nen tra­di­ tio­nel­len, hier­ar­chi­schen Zu­schrei­bun­gen zur Männ­lich­keit und Weib­lich­keit. Mit der Ver­schie­bung auf die Sphäre der in­ti­men Häus­lich­keit und der Ak­ti­vie­rung der Tä­ter-Op­fer-Sym­bo­lik er­hält auch die Kampf-Me­ta­pher eine ganz neue Be­deu­tung und ist nicht mehr auf der Ebene der inter­na­tio­na­len Po­li­tik, son­dern in der Ba­na­ li­tät des All­tags­dis­kur­ses an­ge­sie­delt. Zwei we­sent­li­che As­pekte las­sen sich seit dem Wen­de­punkt in der Be­richt­er­ stat­tung in den Main­stream-Me­dien be­ob­ach­ten: Ers­tens: Es gibt keine Tren­nung zwi­schen der Platt­form Wi­ki­Le­aks und der Per­son, der die An­schul­di­gun­gen der se­xuel­len Ge­walt gel­ten. Diese bei­den Ebe­nen wer­den nicht, wie es etwa Wi­ki­pe­dia

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(2014a, 2014b) prak­ti­ziert, aus­ein­an­der ge­hal­ten. Im Gegen­teil: Die Main­streamMe­dien for­cie­ren durch die Ver­mi­schung der Ebe­nen ei­nen Be­deu­tungs­trans­fer des Ne­ga­tiv-Images ei­nes »Tä­ters« (der zu die­sem Zeit­punkt erst An­ge­klag­ter ist) auf Wi­ki­Le­aks. Der be­deu­tendste Ef­fekt die­ses Dis­kur­ses ist, dass die Be­richt­er­stat­tung über die Platt­form Wi­ki­Le­aks und da­mit die erst be­gin­nende Dis­kus­sion der Be­deu­tung von Wi­ki­Le­aks für eine De­mo­kra­tie fast gänz­lich ab­ge­würgt wer­den konn­te. Auch die da­nach auf der Platt­form ver­öf­fent­lich­ten Do­ku­mente er­rei­chen in den inter­na­tio­na­ len Me­dien keine ver­gleich­bare Auf­merk­sam­keit und Ver­brei­tung mehr. Zwei­tens: Der Tä­ter-Op­fer-Dis­kurs in der Be­richt­er­stat­tung (Wel­che straf­ba­ren Hand­lun­gen hat As­sange ge­setzt? Wer sind die Op­fer? Was ist In­halt der An­klage? . . .) mu­tiert rasch in ei­nen anti­fe­mi­nis­ti­schen Dis­kurs. Die­ser äu­ßert sich dar­in, dass an­ge­sichts der welt­wei­ten Be­kannt­heit des »Kämp­fers gegen das Em­pire«, der­ar­tige Vor­würfe der Ver­ge­wal­ti­gung und se­xuel­len Ge­walt be­lang­los wä­ren, oder »Pri­vat­an­ge­le­gen­ hei­ten« wä­ren und nicht öf­fent­lich aus­ge­tra­gen wer­den soll­ten, die An­klä­ge­rin­nen »ra­di­kale Fe­mi­nis­tin­nen« wä­ren etc. In die­sem Dis­kurs wird noch ein­mal die be­reits »be­schä­digte« Mas­ku­lini­tät gegen die ab­ge­wer­tete Weib­lich­keit, ins­be­son­dere gegen den Fe­mi­nis­mus, in Stel­lung ge­bracht. An­ge­heizt wird der anti­fe­mi­nis­ti­sche Dis­kurs vor al­lem auch durch die Süd­deut­sche Zei­tung (22.12.2010), die As­sange mit den Wor­ten »er­bärm­li­che, ra­di­kale Fe­mi­nis­tin« zi­tiert, was zu ei­ner ra­schen Ver­brei­tung in den Main­stream-Me­dien und der Blog­ger-Sphäre führ­te. Der anti­fe­mi­nis­ti­sche Dis­kurs kon­stru­iert As­sange als Op­fer ei­nes fe­mi­nis­ti­schen Kom­plotts. So­wohl An­ klä­ge­rin­nen als auch die Staats­an­wäl­tin wer­den als ra­di­kale Fe­mi­nis­tin­nen ti­tu­liert. Die­ser anti­fe­mi­nis­ti­sche Me­dien-Dis­kurs war auch der Be­ginn ei­ner brei­ten Dis­kus­ sion in­ner­halb der fe­mi­nis­ti­schen Be­we­gung. In­ter­es­sant ist auch, dass es in die­sem Kon­flikt ja nur vor­der­grün­dig um Fe­mi­ nis­mus und Anti­fe­mi­nis­mus geht (vgl. aus­führ­lich zu den Be­grif­fen Fe­mi­nis­mus und Anti­fe­mi­nis­mus Klaus 2008, Klaus/Lü­nen­borg 2013). Diese sind quasi der Sub­text in der Aus­ein­an­der­set­zung um Wi­ki­Le­aks. Die eigent­li­che Wir­kung die­ser me­dia­len Dis­kus­sion be­steht dar­in, dass so­ziale Be­we­gun­gen ge­spal­ten und gegen­ein­an­der aus­ ge­spielt wer­den. Dies zeigt sich nicht nur an­hand des anti­fe­mi­nis­ti­schen Dis­kur­ses der Main­stream-Me­dien, son­dern auch in den fe­mi­nis­ti­schen Dis­kur­sen selbst.

Fe­mi­nis­ti­sche Me­dien­dis­kurse zu Wi­ki­Le­aks Die Dis­kus­sion zu Wi­ki­Le­aks und As­sange in der fe­mi­nis­ti­schen Be­we­gung ver­ läuft kon­tro­vers. Sie wird vor al­lem in fe­mi­nis­ti­schen Ma­ga­zi­nen und Blogs ge­ führt, er­reicht aber auch die Main­stream-Me­dien. Die fe­mi­nis­ti­schen Dis­kurse las­ sen sich – ver­dich­tet und abs­tra­hiert – wie folgt zu­sam­men­fas­sen: Ers­tens: Der Dis­kurs der Ver­harm­lo­sung se­xuel­ler Ge­walt be­nützt den Vor­ wurf der In­stru­men­ta­li­sie­rung als Haupt­ar­gu­men­ta­tions­li­nie. Pro­mi­nente Für­spre­

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cher und Für­spre­che­rin­nen (u. a. Mi­chael Moor, Noami Klein und Noami Wolf) von As­sange wer­den mit dem Ar­gu­ment zi­tiert, dass es sich hier um eine Ana­lo­gie zur In­stru­men­ta­li­sie­rung von ver­schlei­er­ten Frauen in Af­gha­nis­tan han­deln wür­de. Zur Le­gi­ti­ma­tion des Krie­ges der USA gegen Af­gha­nis­tan wur­den Frau­en­rechte als zu ver­tei­di­gende Men­schen­rechte be­nutzt (vgl. Klaus/Kas­sel 2008). Ver­gleich­ bar dazu wird der Vor­wurf der se­xuel­len Ge­walt in­stru­men­ta­li­siert, um eine ge­ richt­li­che Ver­fol­gung le­gi­ti­mie­ren zu kön­nen. Für die Main­stream-Me­dien ist diese Ar­gu­men­ta­tion des­halb at­trak­tiv, weil ei­ner der frü­hes­ten The­men­schwer­punkte der Frau­en­be­we­gung – die se­xuel­le, häus­li­che Ge­walt – nicht the­ma­ti­siert wer­den muss, son­dern in­stru­men­ta­li­siert und da­mit ver­harm­lost wer­den kann. Die­ser Dis­ kurs ist in­so­fern auch at­trak­tiv, weil mit die­ser Ar­gu­men­ta­tion ein anti­fe­mi­nis­ti­ scher Sub­text (As­sange nicht nur Op­fer po­li­ti­scher Ver­fol­gung, son­dern auch ei­nes fe­mi­nis­ti­schen Kom­plotts) mit­ge­lie­fert wird. Zwei­tens: Der Dis­kurs der The­ma­ti­sie­rung se­xuel­ler Ge­walt nimmt das Thema selbst ernst und abs­tra­hiert vom An­lass­fall. Die öf­fent­li­che Dis­kus­sion um die Per­ son As­sange wird nur als Aus­gangs­punkt ver­wen­det, um fe­mi­nis­ti­sche Be­wusst­ seins­arbeit zu leis­ten und da­mit in der Öf­fent­lich­keit Auf­merk­sam­keit zu er­lan­gen. Das ak­tu­elle Auf­merk­sam­keits­po­ten­tial für die­ses Thema wird mit­tels ei­ner »Stra­ te­gie des ›Joi­ning‹« ge­nutzt, um sich an ein öf­fent­li­ches Thema an­zu­hän­gen und das fe­mi­nis­ti­sche An­lie­gen se­xuel­ler Ge­walt brei­ter zu the­ma­ti­sie­ren. Es geht da­ bei vor al­lem um die Sen­si­bi­li­sie­rung für se­xuelle Ge­walt und die Fra­ge, wann ein se­xuel­les Ver­hal­ten eine Ver­ge­wal­ti­gung ist. Bei­spiele für ein ge­lun­ge­nes Joi­ning fin­den wir etwa von Jac­lyn Fried­mann in De­mo­cracy Now (2014) und in der On­ line­aus­gabe diesStan­dard.at. Dazu ge­hört auch die ge­naue Ana­lyse der Ge­setz­ge­ bun­gen be­züg­lich Ver­ge­wal­ti­gung und se­xuel­ler Ge­walt in ver­schie­de­nen Län­dern, so­wie der Ver­gleich von Sta­tis­ti­ken zu Straf­ver­fah­ren be­züg­lich die­ser De­lik­te, wie dies etwa in der fe­mi­nis­ti­schen Zeit­schrift Emma (14.01.2011) er­folgt ist. Die­ser fe­mi­nis­ti­sche Dis­kurs ist ganz im Sinne der zwei­ten Frau­en­be­we­gung zu se­hen, der den Slo­gan aus­ge­ge­ben hat­te: »Das Pri­vate ist po­li­tisch«. Drit­tens: Meta­dis­kurs zum An­lass­fall in Be­zug zur glo­ba­len Ge­walt: Neben die­sen bei­den fe­mi­nis­ti­schen Dis­kur­sen fin­den sich ver­schie­dene Va­rian­ten, die als Misch­for­men zu be­zeich­nen sind. Sie ar­gu­men­tie­ren, der Fall As­sange wäre von ge­rin­ge­rem In­ter­es­se. Was al­ler­dings der An­lass­fall zeigt ist, dass De­likte der se­xuel­len Ge­walt mit unter­schied­li­chen Maß­stä­ben ge­mes­sen wer­den. Mas­sen­ ver­ge­wal­ti­gun­gen im Krieg und schwere For­men se­xuel­ler De­likte soll­ten eine ge­nauso große me­diale Auf­merk­sam­keit er­hal­ten. Au­ßer­dem soll­ten sol­che De­ likte eine ge­nauso ra­sche und kon­se­quente inter­na­tio­nale recht­li­che Ver­fol­gung nach sich zie­hen wie der An­lass­fall. Diese Dis­kurse sind mit den po­li­ti­schen For­de­run­gen ver­knüpft, dass sämt­li­che in Krie­gen und Auf­stän­den statt­ge­fun­de­ nen Ver­ge­wal­ti­gun­gen mit eben­sol­cher Deut­lich­keit, Schnel­lig­keit und inter­na­tio­ na­lem En­ga­ge­ment recht­lich als auch me­dial ver­folgt wer­den müs­sen.

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Re­sü­mee Die fe­mi­nis­ti­sche Be­we­gung ist wie die Trans­pa­renz-Be­we­gung um Wi­ki­Le­aks eine so­ziale Be­we­gung, die für eine Ver­än­de­rung der er­starr­ten un/demokratischen Struk­tu­ren unse­rer Ge­sell­schaft ein­tritt. Of­fen­sicht­lich spie­len Main­stream-Me­ dien eine ent­schei­dende Rolle da­bei, durch ex­zes­sive The­ma­ti­sie­rung und mit­tels klas­si­scher Nach­rich­ten­fak­to­ren wie Per­so­na­li­sie­rung, Skan­da­li­sie­rung, Se­xua­ li­sie­rung in Ver­bin­dung mit An­dro­zen­tris­mus und der Kon­struk­tion ste­reo­ty­per Ge­schlechter­hier­ar­chien so­ziale Be­we­gun­gen zu spal­ten und zu schwä­chen. Au­ ßer­dem ge­lingt es den Main­stream-Me­dien of­fen­sicht­lich sehr gut, jede noch so kon­tro­ver­siell ge­führte Dis­kus­sion in mi­no­ri­tä­ren Dis­kur­sen reich­wei­ten­stark auf eine tra­di­tio­nelle Ge­schlechter­di­cho­to­mie hin zu nor­mie­ren. Was auch in den fe­ mi­nis­ti­schen Dis­kur­sen nicht vor­kommt, ist die Dis­kus­sion über diese ver­deck­ten Ef­fekte der Me­dien­be­richt­er­stat­tung, die se­xuelle Ge­walt und die Spal­tung so­zia­ler Be­we­gun­gen. Es ge­lingt der fe­mi­nis­ti­schen Be­we­gung kaum, das Thema se­xuelle Ge­walt, ab­seits von ste­reo­ty­pen und weit­ge­hend anti­fe­mi­nis­ti­schen Äu­ße­run­gen, auf die Ta­ges­ord­nung der Main­stream-Me­dien zu set­zen. Anti­fe­mi­nis­mus er­hielt eine inter­na­tio­nale Me­dien­bühne und gegen­he­ge­mo­niale Be­we­gun­gen, wie die Trans­pa­renz- und Frau­en­be­we­gung, muss­ten er­fah­ren, wie rasch sie gegen­ein­an­ der aus­ge­spielt wer­den kön­nen.

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Sprach­li­che In­klu­sion ver­sus vir­tu­el­len Back­lash

Sprach­li­che In­klu­sion ver­sus vir­tu­el­len Back­lash Über Anti­fe­mi­nis­men im Inter­net Ri­carda Drüeke und Co­rinna Peil

Ein­lei­tung Der Schla­ger­star An­dreas Ga­ba­lier wei­gert sich die in der ös­ter­rei­chi­schen Na­tio­ nal­hymne per Par­la­ments­be­schluss von 2012 ver­an­ker­ten »gro­ßen Töch­ter« sei­ner Hei­mat Ös­ter­reich zu be­sin­gen. Nach­dem Bun­des­mi­nis­te­rin Hei­nisch-Ho­sek ihn im An­schluss an sei­nen Auf­tritt auf ihrer Fa­ce­book-Seite öf­fent­lich auf den er­ gänz­ten Pas­sus hin­weist, wer­den ihr Ac­count, aber auch wei­tere Web­sei­ten dazu ge­nutzt, gegen den ›Gen­der-Wahn‹ zu agi­tie­ren und Gleich­be­hand­lungs­grund­ sätze in Frage zu stel­len. Ähn­li­ches zeigt sich beim Vor­schlag des ös­ter­rei­chi­schen Nor­mungs­in­sti­tut, den »ein­ge­schlecht­li­chen For­mu­lie­run­gen den Vor­zug« (vgl. ÖNORM A 1080) zu ge­ben. In ei­nem of­fe­nen Brief wird die Ab­schaf­fung sprach­li­ cher Gleich­be­hand­lung unter­stützt und die ge­schlechts­neu­trale Sprach­re­ge­lung als »von oben her ver­ord­net«, als das Dik­tat ei­ner »aka­de­mi­schen Min­der­heit kämp­ fe­ri­scher Sprach­fe­mi­nis­tin­nen« kri­ti­siert (Glan­der et al. 2014). Von El­tern­ver­tre­ ter_in­nen wird die ge­schlech­ter­ge­rechte Spra­che in ös­ter­rei­chi­schen Schul­bü­chern als »Gen­der­wahn­sinn« (Bayr­ham­mer 2015) be­zeich­net, in den On­line-Fo­ren und -Kom­men­tar­spal­ten der Ta­ges­zei­tun­gen er­hal­ten sie hier­für gro­ßen Zu­spruch. Diese Bei­spiele zei­gen, dass in Ös­ter­reich wie auch in an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­dern in den letz­ten Jah­ren ver­stärkt An­griffe auf The­men aus dem Be­reich Gen­der und Fe­mi­nis­mus zu be­ob­ach­ten sind. Zu­neh­mend wer­den da­für das Inter­net und Social Me­dia zur Ver­net­zung und als Platt­for­men der Dis­kus­sion und Ver­öf­fent­li­chung von Po­si­tio­nen ge­nutzt. Das Inter­net bie­tet da­bei zwar ei­ner­seits die Mög­lich­kei­ ten fe­mi­nis­ti­scher Pro­test­ar­ti­ku­la­tio­nen, wie das Jahr 2014 als »year of feminist hash­tags« (Port­wood-Sta­cer/Ber­ridge 2014) zeig­te, doch sind an­de­rer­seits ge­rade on­line zahl­rei­che Äu­ße­run­gen zu fin­den, die fe­mi­nis­ti­sche und gleich­stel­lungs­po­ li­ti­sche For­de­run­gen in Frage stel­len so­wie von Zen­sur und Be­vor­mun­dung durch ge­setz­li­che Re­ge­lun­gen, die Gen­der Stu­dies oder Gen­der Mains­trea­ming-Ini­tia­ti­

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ven aus­ge­hen. Diese anti­fe­mi­nis­ti­schen An­fein­dun­gen rich­ten sich häu­fig pau­schal gegen ei­nen als ein­heit­lich wahr­ge­nom­me­nen Fe­mi­nis­mus, unter den jeg­li­che gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Maß­nah­men un­dif­fe­ren­ziert sub­su­miert wer­den. In unse­rem Bei­trag zeich­nen wir an­hand dreier ak­tu­el­ler Er­eig­nisse aus den Jah­ren 2014 und 2015 – den Dis­kus­sio­nen um den Ein­be­zug der ›Töch­ter-Pas­sage‹ in die Bun­des­hym­ne, um die ÖNORM zur ge­schlech­ter­ge­rech­ten Spra­che so­wie um die Ver­wen­dung ge­schlech­ter­ge­rech­ter For­mu­lie­run­gen in Schul­bü­chern – die durch sie aus­ge­lös­ten Kon­tro­ver­sen über eine sprach­li­che Gleich­be­hand­lung und Sicht­bar­ma­ chung von Frauen nach. Mit Hilfe ei­ner Dis­kurs­ana­lyse wur­den re­le­vante anti­fe­mi­ nis­ti­sche Dis­kurss­tränge und Ar­gu­men­ta­tions­mus­ter er­fasst. Unser Bei­trag glie­dert sich da­bei wie folgt: Den theo­re­ti­schen Rah­men bil­det das Kon­zept von Öf­fent­lich­keit als »ge­sell­schaft­li­cher Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zess«, der sich auf ver­schie­de­nen Öf­fent­lich­keits­ebe­nen kons­ti­tu­iert (vgl. Klaus 2006). Daran an­schlie­ßend stel­len wir den deutsch­spra­chi­gen For­schungs­stand zu anti­fe­mi­nis­ti­schen Ak­ti­vi­tä­ten und Po­si­tio­nen dar und dis­ku­tie­ren unsere Fall­stu­dien vor die­sem Hin­ter­grund. Im Fa­zit re­flek­tie­ren wir ab­schlie­ßend die Ri­si­ken von Öf­fent­lich­kei­ten im Inter­net, die anti­ fe­mi­nis­ti­sche Ar­ti­ku­la­tio­nen ver­stärkt sicht­bar ma­chen kön­nen.

Öf­fent­lich­kei­ten im Inter­net Unter Be­zug­nahme auf das Öf­fent­lich­keits­mo­dell von Eli­sa­beth Klaus (2006) fas­ sen wir Öf­fent­lich­keit nicht als homo­ge­nes Ge­bil­de, son­dern als plu­ra­lis­ti­sches Kon­strukt auf. Ähn­lich hat auch Nancy Fra­ser (2001) die Re­le­vanz von sub­al­ter­nen Öf­fent­lich­kei­ten be­tont, die neben ei­ner he­ge­mo­nia­len Öf­fent­lich­keit die öf­fent­li­che Sphäre prä­gen. Nach Klaus ist Öf­fent­lich­keit ein Pro­zess, in dem ge­sell­schaft­li­che Über­ein­künfte er­zielt wer­den. Die­ser Pro­zess fin­det auf drei Ebe­nen statt, die sie als ein­fach, mit­tel und kom­plex be­zeich­net und die sich hin­sicht­lich ihrer Ak­teur_in­nen so­wie der Kom­mu­ni­ka­tions­for­men und -fo­ren unter­schei­den. Die Ebene der ein­fa­ chen Öf­fent­lich­keit wird durch spon­tane Be­geg­nun­gen her­ge­stellt und zeich­net sich durch di­rekte und ega­li­täre Kom­mu­ni­ka­tions­for­men aus. Auf der mitt­le­ren Ebene von Öf­fent­lich­keit ist wei­ter­hin die inter­per­so­nelle Kom­mu­ni­ka­tion be­deu­tend, es fin­det aber eine erste Rol­len­dif­fe­ren­zie­rung in Spre­cher_in­nen und Zu­hö­rer_in­nen, in be­deu­tende und ein­fa­che Mit­glie­der, statt, wie dies bei­spiels­weise in so­zia­len und zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen Be­we­gun­gen der Fall ist. Auf der kom­ple­xen Ebene von Öf­fent­lich­keit, die sich durch in­sti­tu­tio­na­li­sierte Ak­teur_in­nen wie Re­gie­rung und Ver­wal­tung so­wie tra­di­tio­nelle Me­dien bil­det, wird die Kom­mu­ni­ka­tion wei­ter­ge­ hend pro­fes­sio­na­li­siert und die Rol­len zwi­schen Kom­mu­ni­ka­tor_in­nen und ihrem Pu­bli­kum sind un­um­kehr­bar fest­ge­legt. Im Inter­net fin­den sich mit Social-Me­diaAn­wen­dun­gen wie Twit­ter und Blogs For­men ins­be­son­dere ein­fa­cher Öf­fent­lich­ kei­ten. In die­sen fin­det eine Ver­stän­di­gung über ak­zep­tierte und ak­zep­table Ver­

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hal­tens­mus­ter statt, tra­di­tio­nelle Hal­tun­gen wer­den ge­fes­tigt oder ge­lo­ckert und Hand­lungs­wei­sen be­stärkt oder ver­wor­fen. Die Ver­hand­lun­gen fe­mi­nis­ti­scher In­ halte sind auf die­ser Öf­fent­lich­keits­ebene im Inter­net am­bi­va­lent: Ei­ner­seits schaf­ fen sie für fe­mi­nis­ti­sche Pro­test­ar­ti­ku­la­tio­nen die Mög­lich­keit, wei­tere Öf­fent­lich­ keits­ebe­nen zu er­rei­chen. An­de­rer­seits zei­gen sich on­line auch An­greif­bar­kei­ten und Ver­letz­lich­kei­ten. So macht Jane (2014) eine zu­neh­mende mi­so­gyne Hal­tung in Social-Me­dia-An­wen­dun­gen fest, die sich in ab­wer­ten­den Kom­men­ta­ren gegen­ über Frauen äu­ßert und die die Dis­kurse häu­fig do­mi­niert. Die Kam­pa­gne »Wo­men against Fe­mi­nism« sam­melt etwa auf Tumblr, Twit­ter, You­Tube und Fa­ce­book seit Jah­ren zahl­rei­che State­ments von Frau­en, die sich gegen fe­mi­nis­ti­sche In­halte und For­de­run­gen aus­spre­chen. Im Hash­tag #men­call­met­hings wer­den An­fein­dun­gen und Be­läs­ti­gun­gen von Frauen in On­line-Me­dien dis­ku­tiert (vgl. Me­garry 2014). Da­bei wer­den auch zahl­rei­che anti­fe­mi­nis­ti­sche Äu­ße­run­gen sicht­bar; selbst in fe­mi­nis­ti­schen Hash­tags wie #aufschrei, der eigent­lich dazu dient, se­xis­ti­sche Er­ leb­nisse zu ver­öf­fent­li­chen, fin­den sich zahl­rei­che anti­fe­mi­nis­ti­sche Tweets (vgl. Drüe­ke/Klaus 2014). Diese An­fein­dun­gen sind kein neues Phä­no­men, so the­ma­ ti­sierte Su­san Her­ring schon 1999 eine »rhe­to­ric of on­line gen­der-ha­rass­ment« in Chats und die zu­neh­mende An­zahl von Trolls in fe­mi­nis­ti­schen On­line-Fo­ren. Ein­fa­che Öf­fent­lich­kei­ten im Inter­net bie­ten also ei­ner­seits Mög­lich­kei­ten der Inter­ven­tion für fe­mi­nis­ti­sche Ak­teur_in­nen und ein Emp­ower­ment im eman­zi­pa­ to­ri­schen Sin­ne; gleich­zei­tig zeigt sich auf die­ser Öf­fent­lich­keits­ebene aber auch, wie um­kämpft ge­rade The­men sind, die Fe­mi­nis­mus bzw. Ge­schlech­ter­ver­hält­ nisse be­tref­fen. In die­sen ein­fa­chen Öf­fent­lich­kei­ten wer­den so­mit vor al­lem auf ei­ner all­tags­prak­ti­schen Ebene Werte und Nor­men ver­han­delt, die glei­cher­ma­ßen In­klu­sio­nen wie Ex­klu­sio­nen be­in­hal­ten.

Zur Einordung und Ent­ste­hung anti­fe­mi­nis­ti­scher Po­si­tio­nen und Dis­kurse Anti­fe­mi­nis­ti­sche Ar­ti­ku­la­tio­nen und Po­si­tio­nie­run­gen wer­den heute auf viel­fäl­ tige Wei­se, unter va­ri­ie­ren­den Be­zeich­nun­gen1 und mit unter­schied­li­chen Schwer­ punkt­set­zun­gen zum Aus­druck ge­bracht. Sie eint die Über­zeu­gung, dass männ­li­ 1 In der wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung und bei den Ak­teur_in­nen selbst ha­ben sich neben Anti­fe­mi­nis­mus ver­schie­dene Be­zeich­nun­gen wie Mas­ku­lis­mus, Mas­ku­linis­ mus, Män­ner- oder Vä­ter­rechts­be­we­gung eta­bliert – eine Be­griffs­viel­falt, die in­halt­lich nicht wei­ter be­grün­det ist (vgl. Claus 2014: 18; Ro­sen­brock 2012: 25 ff.). Da Be­zeich­ nun­gen wie Män­ner­rechts­be­we­gung und Mas­ku­lis­mus As­so­zia­tio­nen mit eman­zi­pa­to­ri­ schen, auf Frei­heit und Ge­rech­tig­keit zie­len­den Be­we­gun­gen zu­las­sen, wird in die­sem Bei­trag von anti­fe­mi­nis­ti­schen Po­si­tio­nen und Ak­teur_in­nen die Rede sein, um auf die-

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che In­ter­es­sen in der heu­ti­gen Ge­sell­schaft zu we­nig Be­rück­sich­ti­gung fin­den und Män­ner als Op­fer fe­mi­nis­ti­scher Gleich­stel­lungs­po­li­tik be­nach­tei­ligt wer­den. Zu den wich­tigs­ten An­lie­gen anti­fe­mi­nis­ti­scher Ak­teur_in­nen ge­hö­ren die Ab­kehr von ei­nem als dog­ma­tisch wahr­ge­nom­me­nen Fe­mi­nis­mus, die Be­en­di­gung und De­le­ gi­ti­ma­tion von Frau­en­för­der­maß­nah­men so­wie der Er­halt bzw. die Rück­er­obe­rung ei­ner ›na­tür­li­chen‹ Ge­schlechter­hier­ar­chie. Neben der The­ma­ti­sie­rung ei­ner ver­meint­li­chen Unter­drü­ckung von Män­nern und der Ver­brei­tung ei­ner männ­li­chen Op­fer­ideo­lo­gie zie­len anti­fe­mi­nis­ti­sche Ar­ ti­ku­la­tio­nen dar­auf, ein an tra­di­tio­nel­len Vor­stel­lun­gen orien­tier­tes Män­ner­bild zu trans­por­tie­ren. Bio­lo­gis­ti­sche Er­klä­rungs­an­sätze wer­den her­an­ge­zo­gen, um die hier­ar­chi­sche Macht­ver­tei­lung zwi­schen Män­nern und Frauen zu le­gi­ti­mie­ ren (vgl. Klaus 2014). Der Fe­mi­nis­mus – ver­stan­den als homo­ge­nes Ein­heits­ge­ bilde – gilt als Feind­bild und wird ab­ge­lehnt oder als män­ner­has­sende Ideo­lo­gie fehl­inter­pre­tiert (vgl. Ro­sen­brock 2012: 14). Teil­weise mi­schen sich ras­sis­ti­sche, ho­mo­phobe und anti­se­mi­ti­sche Dis­kurse in die anti­fe­mi­nis­ti­schen Po­si­tio­nen, die häu­fig von Po­la­ri­sie­run­gen, Dif­fa­mie­run­gen und Dro­hun­gen do­mi­niert sind (vgl. Goetz 2013). Der ak­tu­ell wahr­zu­neh­mende Auf­schwung anti­fe­mi­nis­ti­scher Äu­ße­run­gen scheint zum Teil in ei­nem Dis­kurs be­grün­det, der in be­son­de­rem Maße die Kar­ rie­re­chan­cen und Er­run­gen­schaf­ten gut aus­ge­bil­de­ter Frauen her­aus­stellt, mit der Fol­ge, dass de­ren Sicht­bar­keit ge­schlech­ter­po­li­ti­sche Maß­nah­men im Sinne des Gleich­heits­an­sat­zes ob­so­let wir­ken lässt (vgl. Klaus/Lü­nen­borg 2013: 88). Die­ser Dis­kurs wird, wie Klaus (2008) über­zeu­gend dar­ge­legt hat, durch eine Plu­ra­li­sie­ rung von Fe­mi­nis­men an­ge­facht, in denen sich vor al­lem kon­ser­va­tive Stim­men und Ver­tre­te­rin­nen ei­nes sogenannten »Eli­te­fe­mi­nis­mus« Fa­cet­ten des Fe­mi­nis­ mus an­eig­nen, zu­gleich aber viele Po­si­tio­nen frü­he­rer fe­mi­nis­ti­scher Be­we­gun­gen ver­leug­nen oder als nicht mehr zeit­ge­mäß er­klä­ren. Er­folg und Re­prä­sen­tanz von Frauen wer­den da­bei an die Leis­tung und Selbst­ver­ant­wor­tung des In­di­vi­du­ums zu­rück­ge­bun­den und fü­gen sich naht­los in eine neo­li­be­rale Ge­sell­schafts­ord­nung ein. Ob­gleich in die­ser Per­spek­tive struk­tu­relle Un­gleich­hei­ten ebenso wie in­ter­ sekt­io­nale Dis­kri­mi­nie­run­gen aus­ge­blen­det wer­den, so ist zu ver­mu­ten, dass ein Ur­sprung ak­tu­el­ler anti­fe­mi­nis­ti­scher Agi­ta­tion auch in die­sem durch den Post­ fe­mi­nis­mus her­vor­ge­brach­ten me­dia­len Bild der selbst­be­stimm­ten, er­folg­rei­chen Frau zu se­hen ist (vgl. McRob­bie 2004). Wäh­rend in Deutsch­land mit Stu­dien von Ge­ster­kamp (2010; 2012), Ro­sen­ brock (2012), Kem­per (2011) und Claus (2014) be­reits erste um­fas­sende Unter­su­ chun­gen zum Thema Anti­fe­mi­nis­mus vor­lie­gen, gibt es in Ös­ter­reich noch keine sys­te­ma­ti­sche Er­he­bung. Neben ver­ein­zel­ten In­itia­ti­ven und Ver­an­stal­tun­gen (z. B. se Weise die anti­de­mo­kra­ti­schen Ten­den­zen des Anti­fe­mi­nis­mus auch auf be­griff­li­cher Ebene zu unter­strei­chen.

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Senk 2013 oder die Frau­en­en­quete »Mas­ku­li­nis­mus.An­ti.Fe­mi­nis­mus« des Ös­ter­ rei­chi­schen Bun­des­mi­nis­te­riums für Bil­dung und Frauen 2013) liegt mit dem Be­ richt des In­sti­tuts für Män­ner- und Ge­schlech­ter­for­schung zu den »ge­schlech­ter­po­ li­ti­schen Zu­gän­gen in der Män­ner­arbeit« seit Ja­nuar 2015 eine aus­führ­li­che Stu­die zur Män­ner­arbeit in Ös­ter­reich vor (Scam­bor/Kir­chen­gast 2015). Deut­lich wer­den in der Ana­lyse der Ar­gu­men­ta­tions­li­nien auf den Inter­net­sei­ten der Män­ner- und Vä­ter­rechts­ini­tia­ti­ven (vgl. ebd.: 44–53) die unter­schied­li­chen ge­schlech­ter­po­ li­ti­schen Stand­punkte von in­sti­tu­tio­na­li­sier­ter Män­ner­arbeit so­wie Män­ner- und Vä­ter­rechts­ak­ti­vis­ten, wo­bei Letz­tere mit der Po­si­tion, dass Män­ner »Op­fer des ge­sell­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Sys­tems, der Frauen und der Recht­spre­chung« sei­en, stär­ker an anti­fe­mi­nis­ti­sche Dis­kurse an­knüp­fen (vgl. ebd.: 76). Anti­fe­mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen pro­fi­tie­ren des Wei­te­ren ge­rade in Ös­ter­reich von den po­li­tisch-in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten Rah­men­be­din­gun­gen. Auf Be­trei­ben der FPÖ rich­tete etwa das ös­ter­rei­chi­sche So­zial­mi­nis­te­rium 2001eine män­ner­po­li­ti­ sche Grund­satz­ab­tei­lung ein, die ei­ner als ein­sei­tig emp­fun­de­nen För­de­rung von Frauen und Mäd­chen ent­gegen wir­ken sollte und in de­ren Pu­bli­ka­tio­nen sich auch anti­fe­mi­nis­ti­sche Bei­träge fin­den (vgl. Ge­ster­kamp 2014: 23). Von ei­ner en­ge­ren Ver­bin­dung mit der Par­tei­po­li­tik zeugt zu­dem die Web­site un­zen­su­riert.at, die von dem FPÖ-Po­li­ti­ker Mar­tin Graf be­reits wäh­rend sei­ner Amts­zeit als drit­ter Na­tio­ nal­rats­prä­si­dent be­trie­ben wurde und die zahl­rei­che anti­fe­mi­nis­ti­sche und rechts­ po­pu­lis­ti­sche Bei­träge be­in­hal­tet. Zu­letzt zeigte die durch die Kul­tur­ab­tei­lung der Stadt Wien und dem Club of Vienna ge­för­derte Stu­die zur »Teil­habe von Frauen und Män­nern am Ge­schlechter­dis­kurs« (Mei­ners/Bau­er-Je­li­nek 2015), wie ein­ deu­tig anti­fe­mi­nis­tisch in­spi­rierte Schrif­ten Pu­bli­zi­tät und Auf­merk­sam­keit durch öf­fent­lich be­reit­ge­stellte Gel­der er­hal­ten. Diese Ver­flech­tun­gen er­leich­tern es anti­ fe­mi­nis­ti­schen Stim­men Ein­gang in die jour­na­lis­ti­sche Be­richt­er­stat­tung zu fin­den und in öf­fent­li­chen De­bat­ten an Ge­wicht zu ge­win­nen. Drüeke und Klaus (2014: 65) wei­sen dar­auf hin, dass der Anti­fe­mi­nis­mus durch die Kom­mu­ni­ka­tions­mög­lich­kei­ten des Inter­nets »neue Agi­ta­tions-, Ver­brei­ tungs- und Ver­net­zungs­for­men ge­fun­den« ha­be, vor al­lem über Blogs, Home­pages, Fo­ren und Social-Me­dia-Platt­for­men. Hier wird deut­lich, dass sich nicht nur der Me­dien­zu­gang mit sei­nen Fol­gen für die Ent­ste­hung von neuen Öf­fent­lich­kei­ten ge­wan­delt hat, son­dern dass sich auch ver­än­derte kom­mu­ni­ka­tive Kon­ven­tio­nen her­aus­ge­bil­det ha­ben (vgl. Klaus/Lü­nen­borg 2013: 85). Als Ge­sprächs­stra­te­gie kommt z. B. häu­fig ›hate speech‹ zum Ein­satz, also Be­schimp­fun­gen, Ab­wer­tun­ gen, Dro­hun­gen, Ein­schüch­te­run­gen und Ge­walt­fan­ta­sien, die sich gegen Ein­zelne (z. B. Blog­ger_in­nen oder fe­mi­nis­ti­sche Män­ner), Grup­pen oder auch gegen fe­mi­ nis­ti­sche In­halte rich­ten (vgl. Ro­sen­brock 2012; Kem­per 2012). Diese Ar­ti­ku­la­ tio­nen stam­men ei­ner­seits von Ein­zel­per­so­nen, zu­neh­mend zei­gen sich aber auch Zu­sam­men­schlüsse ver­schie­de­ner Ak­teur_in­nen, die mit ein­schlä­gi­gen anti­fe­mi­ nis­ti­schen Web­sites ver­bun­den sind.

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Anti­fe­mi­nis­men im Inter­net in den On­line-De­bat­ten um den sprachl ­ ic ­ hen Einb ­ ez­ ug von Frauen Im Folgenden stel­len wir an­hand von Fall­stu­dien, die An­griffe auf fe­mi­nis­ti­sche und gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche For­de­run­gen und Maß­nah­men aus­ge­löst ha­ben, vor, wie durch ver­schie­dene auch mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­den Dis­kurse on­line der Dis­kurs­raum zu Anti­fe­mi­nis­mus ge­bil­det wird. Gegen­stand der Ana­lyse sind Blog­ ein­trä­ge, Web­sei­ten so­wie Kom­men­tare in den On­line-Aus­ga­ben ös­ter­rei­chi­scher Ta­ges­zei­tun­gen, die sich im Rah­men der ge­nann­ten De­bat­ten gegen ge­schlech­ ter­ge­rechte For­mu­lie­run­gen aus­spre­chen. Die Äu­ße­run­gen of­fen­ba­ren eine Breite und Kom­ple­xi­tät in ihren gegen gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Maß­nah­men ge­rich­te­ten Aus­sa­gen, al­ler­dings ist eine zah­len­mä­ßige und ideo­lo­gi­sche Do­mi­nanz anti­fe­mi­ nis­ti­scher Äu­ße­run­gen er­kenn­bar. Deut­lich wer­den neben in­di­vi­du­el­len vor al­lem kol­lek­tive Deu­tungs­mus­ter und Inter­pre­ta­tions­rah­men, die durch auf die­ses Er­eig­ nis be­zo­gene Deu­tungs­pro­zesse ak­tua­li­siert wer­den. Im Fol­gen­den stel­len wir eine ex­em­pla­ri­sche Aus­wahl der Dis­kurs­stränge vor, die eine erste Struk­tu­rie­rung des Dis­kurs­fel­des be­deu­ten und ver­schie­dene Dis­kurs­po­si­tio­nen of­fen­ba­ren. »Gen­der­wahn« und »Eman­zin­nen«: Zur De­batte um die »Töch­ter« in der Bun­des­hymne Im Jahr 2012 wurde die ös­ter­rei­chi­sche Bun­des­hymne da­hin­ge­hend ge­än­dert, dass auf­grund ei­nes Be­schlus­ses des Na­tio­nal­rats zum 1. 1. 2012 die Text­zeile »Hei­mat bist du gro­ßer Söhne« durch »Hei­mat gro­ßer Töch­ter und Söhne« er­setzt wurde (vgl. Wi­ki­pe­dia 2015). Nach­dem Schla­ger­star An­dreas Ga­ba­lier im Som­mer 2014 die Hymne in ihrer al­ten Form beim For­mel 1 Grand Prix von Ös­ter­reich ge­sun­gen hatte und er von zahl­rei­chen Po­li­ti­ker_in­nen auf­ge­for­dert wur­de, die neue Va­riante zu ver­wen­den, fand on­line eine in­ten­sive De­batte statt, die in Shits­torms gegen ein­zelne Po­li­ti­ker_in­nen, ins­be­son­dere gegen Bil­dungs- und Frau­en­mi­nis­te­rin Ga­ briele Hei­nisch-Ho­sek, gip­felte (vgl. Der Stan­dard 2014a). Wel­chen An­fein­dun­gen diese sprach­li­che Ver­än­de­rung aus­ge­setzt ist und wel­che Sym­bol­kraft ihr da­mit zu­kommt, zei­gen die zahl­rei­chen ne­ga­tive Äu­ße­run­gen in Blogs, auf Web­sei­ten und in den Kom­men­ta­ren der On­line-Aus­ga­ben ös­ter­rei­chi­scher Ta­ges­zei­tun­gen, die sich vor al­lem durch Mi­so­gy­nie und ei­nen mehr oder we­ni­ger of­fen­sicht­li­chen Anti­fe­mi­nis­mus kenn­zeich­nen. Vor­herr­schend ist ein Dis­kurs­strang, der sich in der Tri­via­li­sie­rung fe­mi­nis­ti­scher For­de­run­gen äu­ßert. Fe­mi­nis­mus sei ob­so­let, da schließ­lich Män­ner und Frauen in west­li­chen Ge­sell­schaf­ten gleich­ge­stellt seien und es da­mit nicht mehr not­wen­dig sei, »sich in der heu­ti­gen Zeit mit so ei­nem Quatsch« her­um­zu­schla­gen (Kom­men­tar 584 in Kro­nen Zei­tung 2014). In die­ser Tri­via­li­sie­rung fe­mi­nis­ti­scher Po­li­tik ver­mi­schen sich ver­schie­dene Dis­kurs­frag­ men­te. So zei­gen sich neben ei­ner Ver­harm­lo­sung und Ne­gie­rung ge­sell­schaft­li­cher

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Struk­tu­ren An­sätze ei­ner neo­li­be­ra­len Ver­ein­nah­mung fe­mi­nis­ti­scher For­de­run­gen und gleich­sam ein post­fe­mi­nis­ti­scher Dis­kurs. Die­ser kenn­zeich­net sich nach An­gela McRob­bie (2004) durch Ar­gu­men­te, in denen her­vor­ge­ho­ben wird, dass Frauen al­lein durch ihr in­di­vi­du­el­les Ver­mö­gen und Kön­nen zum Er­folg ge­lan­gen, un­ab­hän­gig von so­zio­öko­no­mi­schen Um­stän­den so­wie re­li­giö­ser und se­xuel­ler Zu­ge­hö­rig­keit, Al­ter oder Ab­ili­ty. Die­ser Dis­kurs zeigt sich in Äu­ße­run­gen wie »ich bin eine leis­tungs­ star­ke, selbstbewußte Frau, und mein Ego ver­langt nicht da­nach, in Lie­der­tex­ten vor­zu­kom­men« (Kom­men­tar 65 in Kro­nen Zei­tung 2014b), die so oder ähn­lich vor al­lem in Kom­men­ta­ren zu On­line-Aus­ga­ben der Kro­nen Zei­tung und dem Ku­rier vor­kom­men, und weist Par­al­le­len auf zur Me­dien­be­richt­er­stat­tung über fe­mi­nis­ti­sche Po­li­tik (vgl. Dean 2010). Vor­herr­schend ist da­bei die Auf­fas­sung, dass sich Frauen jetzt selbst­ver­wirk­li­chen kön­nen, ohne Fe­mi­nis­tin­nen zu sein, denn »Frauen sind nicht pau­schal und im Ge­sam­ten unter­drückt oder be­nach­tei­ligt. Sie le­ben ein­fach mehr­heit­lich, aus freier Ent­schei­dung, ein an­de­res Mo­dell« (Män­ner­par­tei 2014a). Diese Auf­fas­sung hat al­ler­dings nur be­stimmte Frau­en­grup­pen im Blick, denn nicht be­rück­sich­tigt wer­den Frau­en, die – dar­auf weist Klaus (2008) hin – unter­pri­vi­le­giert sind, nicht der ›Norm‹ ent­spre­chen oder sich in pre­kä­ren Arbeits­ver­hält­nis­sen be­fin­den. Die­ser Dis­kurs­strang hängt eng mit ei­nem wei­te­ren Dis­kurs­strang zu­sam­men, der eine Dis­tan­zie­rung von fe­mi­nis­ti­schen Po­si­tio­nen be­in­hal­tet. Als »un­wich­ti­ges Thema« (Män­ner­par­tei 2014b) bis hin zu »Gen­der-Kla­mauk« (FPÖ 2011) und »Gen­der­wahn­ an­ge­le­gen­heit« (Kom­men­tar 4 in Kro­nen Zei­tung 2014b) wird die For­de­rung nach dem Ein­be­zug der ›Töch­ter-Pas­sage‹ auf den Web­prä­sen­zen von Män­ner­par­tei, FPÖ und in Kom­men­ta­ren zu den On­line-Aus­ga­ben ös­ter­rei­chi­scher Ta­ges­zei­tun­gen be­ zeich­net. In die­sen Äu­ße­run­gen wer­den zu­meist Kli­schees und Ste­reo­type re­pro­du­ziert und struk­tu­relle Di­men­sio­nen ge­sell­schaft­li­cher Un­gleich­hei­ten au­ßer Acht ge­las­sen. Da­durch zei­gen sich Ent­wick­lun­gen, wie sie auch Scharff (2014) und Mendes (2012) fest­ge­stellt ha­ben: Fe­mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen wer­den we­ni­ger als so­ziale Be­we­gung wahr­ge­nom­men, son­dern als Ag­gre­ga­tion von For­de­run­gen ein­zel­ner Frau­en. Dies zeigt sich ins­be­son­dere durch den Fo­kus auf Bil­dungs- und Frau­en­mi­nis­te­rin Ga­briele Hei­nisch-Ho­sek, die als »lä­cher­lich« (Män­ner­par­tei 2014b) oder »Eman­zin« (vgl. Kom­men­tar v. »Christa Haas« in Ku­rier 2015b) be­schimpft wird. Fe­mi­nist_in­nen seien dar­über hin­aus keine (rich­ti­gen) Frau­en, wie die Kom­men­tare in der Kro­nen Zei­tung und dem Ku­rier nahelegen: »das sind Wei­ber die sich wie Män­ner ge­bär­den« (ebd.) bzw. »eine Da­me, also eine rich­tige (!!) Dame wird we­der dar­auf Wert le­gen, dass die Frauen in der Bun­des­hymne vor­kom­men oder die Män­ner per De­kret zum Ab­wasch ver­pflich­tet wer­den« (Kom­men­tar 57 in Kro­nen Zei­tung 2014b). Ins­ge­samt wird deut­lich, dass in die­ser On­line-De­batte Na­tio­nen­be­züge keine Rolle spie­len, son­dern die Ver­hand­lun­gen über die Bun­des­hymne rein auf die Frage der Be­nen­nung von Frau­en, in Form der »gro­ßen Töch­ter«, fo­kus­sie­ren. In der Aus­ein­an­der­set­zung wer­den da­bei ver­schie­dene anti­fe­mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen deut­lich, die vor al­lem For­de­run­gen nach der Be­en­di­gung von Frau­en­för­de­run­gen

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und die Ab­leh­nung ei­nes als ein­heit­lich wahr­ge­nom­me­nen Fe­mi­nis­mus be­in­hal­ten. Ähn­li­che Po­si­tio­nen zei­gen sich auch in der im Fol­gen­den vor­ge­stell­ten De­batte um das Bin­nen-I. In der »Hölle des Gutgemeinten«: Zur Ver­hand­lung des Bin­nen-I in Schul­bü­chern und an­de­ren Tex­ten Die De­batte um die Ab­schaf­fung des Bin­nen-I wurde in Ös­ter­reich im letz­ten Jahr gleich zwei­mal neu ent­facht. Im Früh­jahr 2014 gab es zu­nächst den Vor­stoß des Nor­mungs­in­sti­tuts Aus­trian Stan­dards, im Schrift­ver­kehr künf­tig auf die Ver­wen­ dung von Bin­nen-I und Kom­bi­na­tions­for­men zu ver­zich­ten. In ei­nem durch das Ko­mi­tee »Bü­ro­or­ga­ni­sa­tion und schrift­li­che Kom­mu­ni­ka­tion« vor­ge­leg­ten Ent­ wurf für die Über­arbei­tung der ÖNORM A 1080, die diese Text­ge­stal­tung re­gelt, wurde im ent­spre­chen­den Pas­sus zur ge­schlech­ter­ge­rech­ten Spra­che dazu ge­ra­ten, die Ge­schlech­ter ge­trennt auf­zu­füh­ren oder von ge­ne­ra­li­sie­ren­den ein­ge­schlecht­ li­chen For­men Ge­brauch zu ma­chen (vgl. Seidl 2014b). Der Ent­wurf rief kon­tro­ verse Re­ak­tio­nen und rund 1.400 Stel­lung­nah­men her­vor, er­fuhr u. a. aber auch öf­fent­lich­keits­wirk­same Unter­stüt­zung durch ei­nen of­fe­nen Brief an Bil­dungsund Frau­en­mi­nis­te­rin Ga­briele Hei­nisch-Ho­sek (SPÖ) und Wis­sen­schafts­mi­nis­ter Rein­hold Mit­ter­leh­ner (ÖVP), in dem rund 800 Unter­zeich­ner_in­nen die »Rück­ kehr zur sprach­li­chen Nor­ma­li­tät« for­der­ten (Glan­der et al. 2014). Wäh­rend be­reits im Ok­to­ber 2014 durch Aus­trian Stan­dards ent­schie­den wur­de, dass die geschlechterneutrale Spra­che auf­grund des nicht her­stell­ba­ren Kon­sen­ses auch in Zu­kunft nicht per ÖNORM ge­re­gelt wird und das ent­spre­chende Ko­mi­tee auf­ge­löst wurde (vgl. Seidl 2014a), gab es im Ja­nuar 2015 er­neut eine In­itia­tive für die Auf­he­bung ge­schlech­ter­ge­rech­ter For­mu­lie­run­gen. An­ge­regt wurde diese durch den Bun­des­ ver­band der El­tern­ver­eine an mitt­le­ren und hö­he­ren Schu­len, der sich in ei­ner Pres­ se­kon­fe­renz gegen gegenderte Schul­bü­cher aus­sprach. Beide Er­eig­nisse wur­den on­line breit the­ma­ti­siert und reg­ten auf unter­schied­li­chen Ebe­nen eine kon­tro­vers und teil­weise höchst emo­tio­nal ge­führte De­batte an, in die sich nicht sel­ten anti­fe­ mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen misch­ten. Zu­nächst fin­den sich auch hier die be­kann­ten und er­wart­ba­ren Mo­tive der Tri­ via­li­sie­rung und Über­spit­zung, die in Äu­ße­run­gen wie »gäs­tin­nen, menschinnen, computerinnen hat­ten wir schon. [. . .] gutes cabaret ist so sel­ten.« (Kom­men­tar v. »mit_bin­nen_i_ge­nier_i_mi« in Der Stan­dard 2014b) au­gen­schein­lich wer­den. Eng da­mit ver­bun­den ist die viel­fach ge­äu­ßerte Kri­tik an ei­ner Ver­kom­pli­zie­rung von Schrift und Spra­che (z. B. »be­wirkt nicht nur schlech­tere Les­bar­keit, son­dern auch fal­sche Gram­ma­tik, oder för­dert zu­min­dest Tipp­feh­ler« (Kom­men­tar v. »Dip­ pel­päd« in Der Stan­dard 2015)) so­wie an der Un­ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Maß­ nahme (»Ein auf­wen­di­ger, teu­rer und in vie­len Be­rei­chen kaum noch ver­ständ­li­ cher Buch­sta­ben­sa­lat« (Grotte 2014)). Auch wenn diese Dis­kurs­stränge noch nicht

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als anti­fe­mi­nis­tisch an­zu­se­hen sind, so eint sie doch eine unter­schwel­lige De­le­gi­ ti­ma­tion fe­mi­nis­ti­scher An­lie­gen, in­dem sie die For­de­rung nach ge­schlech­ter­ge­ rech­ten For­mu­lie­run­gen ba­na­li­sie­ren, ins Lä­cher­li­che zie­hen oder ei­nen ver­meint­ li­chen Scha­den am All­ge­mein­gut Spra­che in den Vor­der­grund rü­cken. Eine wei­te­re häu­fig an­ge­führte Po­si­tion ist die ei­ner Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung des Sprach­ge­brauchs. Die Geg­ner_in­nen der ge­schlech­ter­sen­si­blen Schreib­weise grei­fen hier auf ei­nen Dis­kurs zu­rück, in dem sie sich als Op­fer ei­ner »Be­vor­mun­dungs­ge­sell­schaft, Vor­ schrifts­ge­sell­schaft, Ver­bots­ge­sell­schaft« (Gstätt­ner 2015) se­hen, in der eine nicht mehr­heits­fä­hige Ideo­lo­gie der Po­li­ti­cal Cor­rect­ness durch­ge­setzt wird (»warum muss sich eine mehrheit von ei­ner minderheit der­ar­tig auf den kopf ga­cken las­ sen?« (Kom­men­tar v. »Miss Ver­ständ­nis« in Ku­rier 2015a)). Der Ein­griff in die Spra­che sei dem­nach nicht Aus­druck ge­sell­schaft­lich vor­an­ge­trie­be­ner Wand­ lungs­pro­zes­se, son­dern ›von oben herab‹ ver­ord­net und so­mit un­de­mo­kra­tisch. Das Mo­tiv des Op­fers bzw. der Tä­ter-Op­fer-Um­kehr wird auch in­ner­halb ei­ nes wei­te­ren Dis­kurs­strangs be­müht, der deut­li­cher anti­fe­mi­nis­ti­sche Ten­den­zen er­ken­nen lässt. Hier wird vor al­lem mo­niert, dass geschlechterneutrale Sprach­ for­men zwar mit ei­ner ver­mehr­ten Sicht­bar­keit von Frau­en, je­doch zu­gleich ei­ nem sprach­li­chen Aus­schluss von Män­nern ein­her­ge­hen, wie etwa in fol­gen­der Äu­ße­rung deut­lich wird: »Män­ner müs­sen ja nicht sicht­bar sein. Haupt­sa­che, sie brin­gen den Groß­teil der Steuer­leis­tun­gen, von denen dann u. a. Gen­der­pro­jekte be­zahlt wer­den« (Kom­men­tar v. »bax« in Der Stan­dard 2014b). Hier zei­gen sich die be­reits in den ein­schlä­gi­gen Stu­dien zum Anti­fe­mi­nis­mus her­aus­ge­arbei­te­ten For­men ei­ner emp­fun­de­nen Be­nach­tei­li­gung von Män­nern so­wie ei­ner Ak­zen­tu­ie­ rung der männ­li­chen Op­fer­ideo­lo­gie. Auf­fäl­lig ist die häu­fige Ver­wen­dung ei­ner der Kriegs­rhe­to­rik ent­lehn­ten Spra­ che, durch die fe­mi­nis­ti­sche For­de­run­gen mit den Ideo­lo­gien und Durch­set­zungs­ stra­te­gien mi­li­tan­ter Re­gime gleich­ge­setzt wer­den. Diese Form der Ab­wer­tung und letzt­lich Kri­mi­na­li­sie­rung gleich­stel­lungs­po­li­ti­scher Maß­nah­men, die in­ner­halb ei­nes zwei­fel­haf­ten po­li­ti­schen Pro­gramms ver­or­tet wer­den, kommt in Kom­men­ta­ ren wie »Der Gen­der-Ter­ror nä­hert sich sei­nem Ende« (Kom­men­tar v. »oli­va3« in Muhr 2014) oder »Das hat anzeichen von übels­ten Dik­ta­tu­ren [. . .]« (Kom­men­tar v. »du­del­sack3.0« in Muhr 2014) deut­lich zum Aus­druck. Vor al­lem in den Kom­men­ ta­ren zu ein­zel­nen on­line ver­öf­fent­lich­ten Zei­tungs­ar­ti­keln wird das Bin­nen-I im­ mer wie­der als Auf­hän­ger für eine all­ge­meine Kri­tik an Gen­der Stu­dies und Gen­der Mains­trea­ming ge­nutzt. Die­ser Dis­kurs­strang tritt häu­fig in Kom­bi­na­tion mit dem Dis­kurs­strang der Tri­via­li­sie­rung auf, sodass auf diese Weise ei­ner grund­le­gen­den In­fra­ge­stel­lung gen­der­po­li­ti­scher Maß­nah­men und In­stru­mente Aus­druck ver­lie­ hen wird (»Ir­gendwo müssn ja die gan­zen Gen­ders­tu­dier­ten usw. unter­kom­men« (Kom­men­tar v. »Aus­ge­flipp­ter Lo­den­freak« in Ku­rier 2015a)), die sich an­schluss­ fä­hig an anti­fe­mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen er­weist. Ins­ge­samt zeigt sich so­mit auch in den on­line ge­führ­ten De­bat­ten um eine ge­schlech­ter­sen­si­ble Spra­che, ins­be­son­dere

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in den Kom­men­ta­ren zu im Inter­net ver­öf­fent­lich­ten Ar­ti­keln ös­ter­rei­chi­scher Ta­ ges­zei­tun­gen, dass diese viel­fach von anti­fe­mi­nis­ti­schen Dis­kur­sen ver­ein­nahmt wer­den. Das eigent­li­che Dis­kurs­er­eig­nis und der dar­auf be­zo­gene Aus­tausch von Mei­nun­gen und Ar­gu­men­ten tre­ten da­bei in den Hin­ter­grund, bie­ten anti­fe­mi­nis­ti­ schen Stim­men aber ei­nen An­lass, um im Inter­net gegen gen­der­po­li­ti­sche Maß­nah­ men und Gleich­stel­lungs­po­li­tik im All­ge­mei­nen zu agi­tie­ren.

Fa­zit Die ak­tu­el­len On­line-De­bat­ten um die sprach­li­che In­klu­sion von Frauen zei­gen, dass Gen­der-The­men der­zeit hart um­kämpft sind. Teil­weise wer­den in den Kom­ men­ta­ren, Blogs und Fo­ren zu den drei dar­ge­stell­ten Dis­kurs­er­eig­nis­sen of­fen anti­ fe­mi­nis­ti­sche Po­si­tio­nen ver­tre­ten. Diese for­dern auf ei­ner ein­fa­chen Öf­fent­lich­ keits­ebene fe­mi­nis­ti­sche In­halte und Ak­ti­vist_in­nen her­aus und of­fen­ba­ren de­ren Ver­letz­lich­keit und An­greif­bar­keit. Da­von aus­ge­hend kön­nen Dy­na­mi­ken ent­ste­ hen, die auch in mitt­lere und kom­plexe Öf­fent­lich­keits­ebe­nen hin­ein­wir­ken, wenn diese Dis­kurse etwa Ein­gang in Qua­li­täts­zei­tun­gen und Fern­seh­sen­dun­gen fin­den. Me­diale Kon­tro­ver­sen zu ein­zel­nen gen­der­po­li­ti­schen Maß­nah­men bie­ten anti­fe­ mi­nis­ti­schen Dis­kur­sen so­mit die Mög­lich­keit, auf ver­schie­de­nen Öf­fent­lich­keits­ ebe­nen sicht­bar zu wer­den. Wäh­rend bis­lang vor al­lem der de­mo­kra­tie­för­dernde Nut­zen des Inter­nets und das eman­zi­pa­to­ri­sche Po­ten­zial ein­fa­cher Öf­fent­lich­kei­ten im Inter­net im Vor­der­ grund stan­den und da­mit die Mög­lich­kei­ten be­tont wur­den, Wis­sen und Er­fah­rung aus­zu­tau­schen so­wie lo­kale und trans­na­tio­nale Netz­wer­ke zu schaf­fen, sind anti­fe­ mi­nis­ti­sche bzw. anti­de­mo­kra­ti­sche Öf­fent­lich­kei­ten im Inter­net bis­her noch nicht sys­te­ma­tisch unter­sucht wor­den. In­wie­weit diese die ge­samte Band­breite on­line ver­füg­ba­rer Kom­mu­ni­ka­tions­for­men für die Ar­ti­ku­la­tion und Durch­set­zung ihrer In­ter­es­sen nut­zen, wird künf­tig noch wei­ter zu er­for­schen sein.

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Die »Af­färe Strauss-Kahn«

Die »Af­färe Strauss-Kahn« Fa­cet­ten ei­ner De­batte zu Ge­walt, Macht und Ge­schlecht Bri­gitte Gei­ger

Als Do­mi­ni­que Strauss-Kahn (kurz DSK) im Mai 2011 in New York we­gen se­ xuel­ler Ge­walt gegen die Zim­mer­frau des Lu­xus­ho­tels, in dem er re­si­dier­te, ver­ haf­tet wird, löst dies über Wo­chen ein enor­mes inter­na­tio­na­les Me­dien­echo aus. In Ver­bin­dung mit an­de­ren Ver­fah­ren mit pro­mi­nen­ten Be­tei­lig­ten vom deut­schen Wet­ter­mo­de­ra­tor Jörg Ka­chel­mann über Wi­ki­le­aks-Grün­der Ju­lian As­sange bis Ita­liens (Ex-)Pre­mier Sil­vio Ber­lu­sconi wer­den da­durch De­bat­ten um den Zu­sam­ men­hang von Ge­schlecht, Macht und Ge­walt ak­tua­li­siert. Be­son­dere Re­so­nanz auch in fe­mi­nis­ti­schen Dis­kus­sio­nen fin­det die »Af­färe DSK« nicht zu­letzt we­gen ihrer glo­ba­len Di­men­sion und der in­ter­sekt­io­na­len Ver­schrän­kung von Un­gleich­ heits­di­men­sio­nen, die hier so­zu­sa­gen pro­to­ty­pisch per­so­ni­fi­ziert sind: auf der ei­ nen Seite DSK, der rei­che, äl­te­re, weiße Mann, Ver­tre­ter der glo­ba­len Wirt­schaftsund Po­li­tik­eli­te, und auf der an­de­ren Seite Na­fis­sa­tou Di­al­lo, die jun­ge, schwarze Im­mi­gran­tin aus Gui­nea, Ho­tel­be­diens­te­te, alleinerziehende Mut­ter, aus der New Yor­ker Bronx. Di­rekte per­so­nale Ge­walt ist – das hat die fe­mi­nis­ti­sche Ge­walt­de­batte im An­schluss an Jo­han Galtung (1990) her­aus­ge­arbei­tet – ver­an­kert in struk­tu­rel­len Macht­un­gleich­hei­ten und ab­ge­stützt durch sym­bo­li­sche und dis­kur­sive Ge­walt. (Ha­ge­mann-White 2005; Sauer 2011; Gei­ger/Wolf 2014) Me­dien­be­richt­er­stat­tung und öf­fent­li­che Dis­kurse spie­len da­her auch und ge­rade bei se­xua­li­sier­ter Ge­walt eine wich­tige Rol­le. Vor die­sem Hin­ter­grund zeichne ich im Fol­gen­den ei­nige Fa­ cet­ten der öf­fent­lich-me­dia­len Dis­kurse rund um die »Af­färe DSK«1 nach und frage zu­nächst, in­wie­weit die fe­mi­nis­ti­schen Kämpfe für eine De­le­gi­ti­mie­rung der Ge­walt an Frauen Früchte ge­tra­gen ha­ben oder wei­ter­hin alte Mus­ter der Ver­harm­ lo­sung Platz grei­fen. Da­bei sicht­bar wer­dende Am­bi­va­len­zen wer­den noch ver­ stärkt durch das Auf­ein­an­der­tref­fen unter­schied­li­cher na­tio­na­ler Ge­schlech­ter­ord­ 1 Ich be­ziehe mich da­bei vor al­lem auf die Be­richt­er­stat­tung deutsch­spra­chi­ger Me­dien bzw. On­line-Por­ta­le, fall­weise auch ame­ri­ka­ni­scher und fran­zö­si­scher Me­dien, im Zeit­ raum Mai/Juni 2011 und punk­tu­ell für spä­tere Ent­wick­lun­gen.

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nun­gen, Rechts- und Me­dien­usan­cen, die sich ins­be­son­dere im Um­gang mit dem In­ter­esse an Öf­fent­lich­keit und dem Schutz der Pri­vat­sphäre zei­gen. Die im­mer pro­ble­ma­ti­sche Re­prä­sen­ta­tion von Op­fern (und Tä­tern) se­xua­li­sier­ter Ge­walt be­ kommt bei spek­ta­ku­lä­ren Fäl­len und ex­tre­men Un­gleich­ge­wich­ten wie hier be­son­ dere Bri­sanz. Sol­che Me­die­ne­vents sind aber auch Ka­ta­ly­sa­to­ren für öf­fent­li­che De­bat­ten ge­sell­schaft­li­cher Zu­sam­men­hän­ge, von Ursa­chen und Hin­ter­grün­den, und so frage ich ab­schlie­ßend, wie die in die­sem Fall in­vol­vier­ten Un­gleich­heits­ dimen­sio­nen Ge­schlecht, Klas­se, Ras­sia­li­sie­rung the­ma­ti­siert wur­den. Vor­aus­schi­cken möchte ich ei­nen kur­zen Ab­riss der »Af­färe«: DSK ist zum Zeit­punkt sei­ner Ver­haf­tung Chef des Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds (IWF) und prä­sum­ti­ver so­zia­lis­ti­scher Kan­di­dat für die an­ste­hen­den fran­zö­si­schen Prä­si­dent­ schafts­wah­len. Vor­ge­wor­fen wird ihm ver­suchte Ver­ge­wal­ti­gung, se­xuelle Nö­ti­ gung und Frei­heits­be­rau­bung. Gegen Kau­tion aus der Unter­su­chungs­haft ent­las­ sen, er­war­tet er mit Fuß­fes­sel im Haus­ar­rest den Pro­zess. Im Juni und Juli tau­chen – von der Ver­tei­di­gung DSKs kräf­tig unter­stützt – Zwei­fel an der Glaub­wür­dig­keit der Klä­ge­rin Na­fis­sa­tou Di­allo auf, und im Au­gust 2011 stellt der Staats­an­walt schließ­lich das Ver­fah­ren ein. Eine Ei­ni­gung im zi­vil­recht­li­chen Pro­zess mit ei­ner Ent­schä­di­gungs­zah­lung für Di­allo be­en­det im De­zem­ber 2012 die ju­ris­ti­sche Seite des Falls. Par­al­lel dazu wird DSK mit wei­te­ren Vor­wür­fen se­xuel­ler Über­griffe und der In­vol­vie­rung in ei­nen Call­girl­ring auch ju­ris­tisch kon­fron­tiert.

Er­folg­rei­che De­le­gi­ti­mie­rung? – Am­bi­va­len­zen und Un­gleich­zei­tig­kei­ten Die fe­mi­nis­ti­sche Anti-Ge­walt-Be­we­gung war in den letz­ten Jahr­zehn­ten ohne Zwei­fel er­folg­reich in der De­le­gi­ti­mie­rung von ge­schlechts­ba­sier­ter Ge­walt, die ih­ren Nie­der­schlag u. a. in ge­setz­li­chen Re­ge­lun­gen und Hilfs­ein­rich­tun­gen fin­det. Gleich­zei­tig ist Ge­walt an Frauen nach wie vor weit ver­brei­tet – rund ein Drit­tel der Frauen in der EU er­fährt nach ei­ner ak­tu­el­len Prä­va­lenz­stu­die kör­per­li­che und/ oder se­xuelle Ge­walt (FRA 2014) –, und auch der öf­fent­lich-me­diale Dis­kurs und ins­be­son­dere die All­tags­be­richt­er­stat­tung zum Thema wei­sen in ihrer Ten­denz zur In­di­vi­dua­li­sie­rung und voyeu­ris­ti­schen Skan­da­li­sie­rung pro­ble­ma­ti­sche Re­duk­tio­ nen auf (Gei­ger/Wolf 2014). Nimmt man die DSK-Af­färe als Bei­spiel für den Sta­ tus quo im Um­gang mit Ge­walt im Ge­schlechter­kon­text, so be­stä­ti­gen sich diese Am­bi­va­len­zen und Un­gleich­zei­tig­kei­ten, die durch das trans­na­tio­nale Auf­ein­an­ der­tref­fen unter­schied­li­cher Ge­schlech­ter­ord­nun­gen, Jus­tiz­sys­teme und Me­dien­ usan­cen noch deut­li­cher sicht­bar wer­den. Dass ge­schlechts­ba­sierte Ge­walt und se­xuelle Über­griffe nicht mehr ein­fach igno­riert und ver­harm­lost wer­den, zeigte sich zu­nächst in der Re­ak­tion der USame­ri­ka­ni­schen Po­li­zei und Jus­tiz, also der schnel­len Ver­haf­tung und Ver­hän­gung

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der Unter­su­chungs­haft, aber auch im rasch er­zwun­ge­nen Rück­tritt als IWF-Chef. Das durch die inter­na­tio­na­len Me­dien ge­hende Bild Strauss-Kahns in Hand­schel­ len ist jeden­falls ein »Bild mit Sym­bol­kraft« (stern.de, 18.05.2011a): dass auch mäch­ti­ge, weiße Män­ner mit se­xuel­len Über­grif­fen nicht mehr so ein­fach durch­ kom­men, dass das Schwei­gen ge­bro­chen wer­den und auch ein Schwar­zes »Zim­ mer­mäd­chen« (zu­min­dest zu­nächst) Ge­hör fin­den kann (Sol­nit 2013). Bei der An­kla­ge­ver­le­sung und im wei­te­ren Ver­fah­rens­ver­lauf zeig­ten sich die Macht­ver­ hält­nisse wie­der re­kon­so­li­diert. Auch die öf­fent­lich-me­dia­len Re­ak­tio­nen spie­geln diese Am­bi­va­len­zen. Auf Ver­än­de­run­gen ver­wei­sen sach­li­che Be­richte und kri­ti­sche Kom­men­tare mit kla­ren Be­nen­nun­gen als se­xuel­ler Über­griff und Ver­ge­wal­ti­gungs­vor­wurf – auch wenn diese zum Teil erst von fe­mi­nis­ti­schen Jour­na­lis­tin­nen (z. B. auf dieS­tan­dard.at) oder von Frau­en­in­itia­ti­ven ein­ge­for­dert wer­den muss­ten: Die wü­tende Pe­ti­tion von Osez le fe­mi­nisme und La Barbe gegen se­xis­ti­sche me­diale Re­ak­tio­nen er­hielt in kur­zer Zeit rund 30.000 Unter­schrif­ten.2 Als In­di­zien ei­nes Wer­te­wan­dels las­sen sich mit Rö­dig (Der Stan­dard, 09./10.07.2011) auch die Skan­da­li­sie­rung und eine ten­den­ziell vor­ver­ur­tei­lende (Bou­le­vard-)Be­richt­er­stat­tung wer­ten. Ga­briele Dietze sieht denn auch »eine der we­ni­gen Er­run­gen­schaf­ten des Neuen Fe­mi­nis­mus« dar­in, »kurz­fris­tig me­diale Er­re­gungs­ge­mein­schaf­ten er­zeu­gen zu kön­nen« (taz. de, 19.05.2011). Da­bei zeigte die De­batte an­de­rer­seits, wie do­mi­nant Ten­den­zen der Ver­harm­ lo­sung und Ver­schie­bung zu Se­xua­li­tät und Ver­füh­rung im­mer noch sind, wo doch Ge­walt und Macht­miss­brauch das Thema sind: wenn nicht nur in Bou­le­vard­zei­ tun­gen häu­fig von der »Sex-Af­färe«, von Es­ka­pa­den, ei­nem Fehl­tritt die Rede ist, wenn DSK als »l’homme des femmes« mit ei­ner »Schwä­che für Frauen« be­schrie­ ben wird.3 Chris­tine Kün­zel (2011: 101 f.) sieht in die­ser man­geln­den Ab­gren­zung zwi­schen se­xuel­ler Ge­walt und Ero­tik Re­likte ei­ner »rape culture« und spricht in Ver­bin­dung mit dem Fall Ka­chel­mann für Deutsch­land von ei­nem »backlash« in der ge­sell­schaft­li­chen Ge­walt- und Gen­der­de­bat­te. Be­son­ders deut­lich wurde diese Ver­wi­schung zwi­schen Se­xua­li­tät und Ge­walt in der trans­at­lan­ti­schen De­bat­te, in der eif­rig na­tio­nale Ste­reo­ty­pen (und Ab­nei­ gun­gen) be­müht wur­den (Hedge 2012; Her­gen­han 2011) und die Unter­stüt­zer DSKs die fran­zö­si­sche Le­bens­art, das sa­voir vivre gegen US-ame­ri­ka­ni­schen Pu­ 2 Die Pe­ti­tion »Se­xis­me: ils se lâ­chent, les femmes trin­quent« wurde am 21.05.2011 on­ line ge­stellt (http://www.osez­le­fe­mi­nis­me.fr/ar­tic­le/se­xis­me-ils-se-la­chent-les-fem­mestrin­quent); vgl. auch Emma 2011a. 3 Vgl. z. B. eine kleine Aus­wahl zu­sam­men­ge­stellt von Jens Müh­ling auf ta­ges­spiegel.de, 29.05.2011. Brei­ten Raum neh­men eine Ver­tei­di­gung DSKs und se­xis­ti­sche Be­grif­fe, ins­be­son­dere Sex-Kom­po­si­ta, auch in den von Rödl ana­ly­sier­ten drei ös­ter­rei­chi­schen Ta­ges­zei­tun­gen ein (2013: 113 f., 136).

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ri­ta­nis­mus und Prü­de­rie ins Tref­fen führ­ten. Die­ser auf Se­xua­li­tät statt Macht- und Ge­walt­as­pekte fo­kus­sie­rende Vor­wurf der Prü­de­rie ist in De­bat­ten um se­xua­li­ sierte Ge­walt weit ver­brei­tet und kei­nes­falls neu. Er tauchte etwa schon An­fang der 1990er Jahre im me­dial breit und hef­tig dis­ku­tier­ten Ver­fah­ren Anita Hill gegen Cla­rence Tho­mas4 auf, wo se­xuelle Be­läs­ti­gung als Phan­tasma »pu­ri­ta­ni­scher, eli­ tä­rer wei­ßer Fe­mi­nis­tin­nen« (Fra­ser 1994: 20) re­la­ti­viert wur­de. Auch in der durch die #aufschrei-Kampagne aus­ge­lös­ten Se­xis­mus-De­batte in deut­schen Me­dien wurde über die Ab­gren­zung zwi­schen (All­tags-)Se­xis­mus und dem »harm­lo­sen« Flirt ge­strit­ten. (Gsen­ger/Thiele 2014) Im »ma­les­tream«-Dis­kurs der fran­zö­si­schen Me­dien, so Mu­riel Rouyer (2013), war jeden­falls das erste do­mi­nante Narrativ zur Ver­tei­di­gung Strauss-Kahns das der Ver­füh­rung, ge­folgt und er­gänzt durch das Ven­ti­lie­ren von Ver­schwö­rungs­theo­ rien v. a. durch die Lin­ke, die ihres Hoff­nungs­trä­gers ver­lus­tig ging. Dazu kam die Em­pö­rung über die Be­hand­lung ei­nes Manns des öf­fent­li­chen Le­bens durch die ame­ri­ka­ni­schen Be­hör­den und seine me­diale Zur­schau­stel­lung. Dies be­rührt den zwei­ten Fo­kus der trans­at­lan­ti­schen De­bat­te, näm­lich die Rolle der Me­dien und der Öf­fent­lich­keit.

Öf­fent­lich­keit vs. Schutz der Pri­vat­sphäre Das Öf­fent­lich­ma­chen se­xua­li­sier­ter Ge­walt ist schwie­rig, be­trifft sie doch die In­ tim­sphäre der Be­trof­fe­nen und ist oft mit Ge­füh­len der Scham und Schande ver­ bun­den. Im Zen­trum des me­dien- und öf­fent­lich­keits­kri­ti­schen Dis­kur­ses stand al­ler­dings vor al­lem die Po­si­tion DSKs, also des (ver­mut­li­chen) Tä­ters, die Op­ fer­per­spek­tive wurde hin­gegen – wie oft bei Ge­walt­be­rich­ten – weit­ge­hend aus­ge­ blen­det. Die Tä­ter­zen­trie­rung der Be­richt­er­stat­tung zu se­xuel­ler Ge­walt be­stä­tigt sich auch in Rödls Ana­ly­se, auf mög­li­che kör­per­li­che oder psy­chi­sche Fol­gen für die Op­fer wird hin­gegen nur we­nig ein­ge­gan­gen. (2013: 118 ff., 134 ff.) Vor al­lem fran­zö­si­sche Unter­stüt­zer DSKs kri­ti­sier­ten die me­diale Vor­ver­ur­tei­ lung und den Me­dien­pran­ger, an den er ins­be­son­dere in der ame­ri­ka­ni­schen Bou­le­ vard­presse ge­stellt wurde.5 Und auch hier wur­den wie schon bei äl­te­ren »Af­fä­ren« US-ame­ri­ka­ni­scher Po­li­ti­ker (Ar­nold Schwar­zen­eg­ger, die Clin­ton-Lewins­kiAffäre  . . .) na­tio­nale Gegen­sätze be­müht: Den mit »ame­ri­ka­ni­scher Prü­de­rie« ver­bun­de­nen Ein­grif­fen in die Pri­vat­sphäre wurde die fran­zö­si­sche Pra­xis des Re­ 4 Während der No­mi­nie­rung von Cla­rence Tho­mas als ers­tem Schwar­zen Bun­des­rich­ter wurde er von sei­ner eben­falls Schwar­zen Mit­arbei­te­rin Anita Hill mit Vor­wür­fen der se­ xuel­len Be­läs­ti­gung kon­fron­tiert. 5 Deren Kenn­zeich­nun­gen DSKs re­ak­ti­vier­ten anti-fran­zö­si­sche – mög­li­cher­weise auch anti­se­mi­tisch unter­legte (Bränd­le, Der Stan­dard, 24.08.2011) – Res­sen­ti­ments.

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spekts vor dem Pri­vat­le­ben auch von Per­so­nen des öf­fent­li­chen und po­li­ti­schen Le­bens gegen­über­ge­stellt. An­ge­sto­ßen durch den Auf­schrei fran­zö­si­scher Fe­mi­nis­tin­nen setzte nach und nach eine selbst­kri­ti­sche Re­fle­xion und De­batte ein, führt die ge­lobte fran­zö­si­sche Dis­kre­tion doch um­ge­kehrt zu ei­nem Code des Schwei­gens, der die To­le­rie­rung von Ge­walt und Über­grif­fen durch die Eli­ten be­güns­tigt. (Vgl. Her­gen­han 2011) Sicht­bar ge­macht wurde die Pro­ble­ma­tik u.  a. durch Tris­tane Ba­non, die er­mu­ tigt durch die New Yor­ker An­klage er­neut ei­nen län­ger zu­rück­lie­gen­den se­xuel­len Über­griff DSKs auf sie als junge Jour­na­lis­tin pu­blik machte und erst nun mit ihrer Ge­schichte Ge­hör fand.6 Hier ste­hen ein­mal mehr der Dop­pel­cha­rak­ter von Pri­vat­sphäre und die im­mer um­strit­te­nen, neu aus­zu­han­deln­den Grenz­zie­hun­gen auf der Agen­da, die für fe­mi­ nis­ti­sche Öf­fent­lich­keits- und Ge­walt­de­bat­ten zen­tral sind. (Fra­ser 2001; Klaus 2001; Gei­ger 2008) Ei­ner­seits diente und dient der Ver­weis auf die Pri­vat­sphäre der Im­mu­ni­sie­rung und Ta­bui­sie­rung des Be­reichs und da­mit auch pri­vat ver­üb­ter »häus­li­cher« und se­xuel­ler Ge­walt und der auch im Pri­va­ten und (in­ti­men) Be­zie­ hun­gen wirk­sam wer­den­den Macht­ver­hält­nis­se. Da sich viel­fach eben nicht gleich­ be­rech­tigte Part­ner_in­nen gegen­über­ste­hen, ist die durch Dis­kre­tion und Pri­vat­ sphäre ge­schützte Frei­heit oft nur die Frei­heit mäch­ti­ger Män­ner; (selbst-)kri­tisch hin­ter­fragt wer­den nun auch Komplizenschaft und Mit­ver­ant­wor­tung der Me­dien (Her­gen­han 2011; Rouyer 2013). An­de­rer­seits hat der Schutz der Pri­vat­sphäre als Schutz der per­sön­li­chen Frei­ heit und Selbst­be­stim­mung auch aus fe­mi­nis­ti­scher Per­spek­tive ei­nen zu be­wah­ ren­den Wert (Röss­ler 2001). Schließ­lich war die Frei­heit der pri­va­ten, auch se­ xuel­len Le­bens­füh­rung z. B. gegen kirch­li­che Mo­ral­vor­stel­lun­gen hart er­kämpft wor­den, wurde als sol­che in der DSK-in­du­zier­ten De­batte auch von fran­zö­si­schen Fe­mi­nis­tin­nen ver­tei­digt (Her­gen­han 2011) und ist nicht zu­letzt für nicht-nor­ma­ tive Se­xuali­tä­ten und Be­zie­hun­gen wich­tig. Al­ler­dings ist nicht nur der Zu­gang zur Öf­fent­lich­keit, son­dern auch der Schutz der Pri­vat- und In­tim­sphäre un­gleich ver­teilt, wie Nancy Fra­ser (1994) an dem oben er­wähn­ten Fall se­xuel­ler Be­läs­ti­gung aus­führ­te, so dass ins­be­son­dere Op­fer se­xuel­ler Ge­walt ein gro­ßes Ri­siko ein­ge­hen, wenn sie an die Öf­fent­lich­ keit ge­hen.

6 Da­mals war ihr (auch von ihrer Mut­ter) von ei­ner An­zeige ab­ge­ra­ten und bei der Schil­ de­rung der Er­eig­nisse im Fern­seh­be­richt der Name DSKs »weg­ge­piepst« wor­den. Ihre im Som­mer ein­ge­brachte Klage we­gen ver­such­ter Ver­ge­wal­ti­gung musste sie zu­rück­zie­ hen, weil nach acht Jah­ren kaum mehr zu be­wei­sen, die vom Staats­an­walt an­er­kannte »se­xuelle Ag­gres­sion« wie­derum war mitt­ler­weile ver­jährt (vgl. Inter­view mit Tris­tan Ba­non, dieS­tan­dard.at, 18.11.2011).

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Der IWF-Chef con­tra »das Zim­mer­mäd­chen« Ungeachtet des ein­sei­ti­gen Fo­kus auf DSK be­traf der Me­dien­rum­mel ja nicht nur ihn, son­dern auch das lange an­onym blei­bende Op­fer, das zu ihrem Schutz für rund zwei Mo­nate an ei­nem ge­hei­men Ort leb­te. Die Wah­rung der An­ony­mi­tät und kon­se­quen­ter Per­so­nen­schutz ge­hö­ren zu den Grund­re­geln ei­nes ver­ant­wor­tungs­vol­len jour­na­lis­ti­schen Um­gangs mit Be­ trof­fe­nen von (ge­schlechts­ba­sier­ter) Ge­walt (AÖF 2014), sie kön­nen manch­mal al­ler­dings auch ein Macht­ge­fälle ver­stär­ken: So stan­den sich, bis Na­fis­sa­tou ­Diallo selbst an die Öf­fent­lich­keit trat, für ei­nige Wo­chen der be­kannte IWF-Chef und Po­li­ti­ker Do­mi­ni­que Strauss-Kahn und ein na­men- und ge­sichts­lo­ses Op­fer gegen­ über. Da­mit ver­stärkte sich das Di­lem­ma, dass die Dar­stel­lung ei­ner Tä­ter-Op­ferKon­stel­la­tion Ge­fahr läuft, die Macht-/Ohn­macht-Po­si­tio­nie­run­gen in der Re­prä­ sen­ta­tion noch ein­mal zu re­pro­du­zie­ren, wie im fe­mi­nis­ti­schen (Ge­walt-)Dis­kurs schon lange dis­ku­tiert. (Vgl. Mo­ser 2007) Zu­dem blieb Di­allo auch nach ihrem Gang an die Öf­fent­lich­keit viel­fach »das Zim­mer­mäd­chen«.7 Re­le­vant sind in­vol­vierte ge­schlecht­li­che und so­ziale Un­gleich­hei­ten ins­be­ son­dere bei der Be­ur­tei­lung der Be­tei­lig­ten in der Öf­fent­lich­keit (und bei Po­li­zei und Ge­richt), die ge­rade bei Fäl­len se­xuel­ler Ge­walt eine große Rolle spielt, steht doch trotz mög­li­cher Sach­be­weise wie z. B. Sper­ma­spu­ren oft Aus­sage gegen Aus­ sa­ge. So war DSK vor al­lem an­fangs durch seine Po­si­tion und die un­vor­stell­bare Tiefe des Falls quasi ge­schützt, es wur­den die Er­eig­nisse re­la­ti­viert und über eine »Falle« spe­ku­liert (vgl. Her­gen­han 2011). Daran an­knüp­fend be­müh­ten sich DSKs Ver­tei­di­ger (letzt­lich er­folg­reich), die Glaub­wür­dig­keit Di­al­los zu er­schüt­tern.8 Vic­tim bla­ming, eine bei Ge­walt an Frauen weit ver­brei­tete Stra­te­gie, er­folgte nicht nur über di­verse Ver­schwö­rungs­theo­rien, im lan­cier­ten Aids-Ver­dacht oder über Pros­ti­tu­tions­vor­wür­fe, son­dern war auch im­pli­zit prä­sent in Cha­rak­te­ri­sie­ run­gen Di­al­los durch Ver­trau­te: »Sie ist eine eh­ren­werte und an­stän­dige Frau, die hart arbei­tet«, »eine prak­ti­zie­rende Mus­li­min [mit] Kopf­tuch« (z. B. auf stern.de, 18.05.2011b). Jeden­falls kam Di­allo im Ver­fah­rens­ver­lauf zu­neh­mend ins Hin­ter­tref­fen. Wäh­rend Schwin­de­leien im Ein­wan­de­rungs­ver­fah­ren und eine mög­li­che Ver­bin­ dung zu Klein­kri­mi­nel­len sie letzt­lich als Zeu­gin dis­kre­di­tier­ten, be­ein­träch­tig­ten di­verse Skan­da­le, in die DSK im Laufe sei­ner Kar­riere ver­wi­ckelt ge­we­sen war, und selbst wei­tere Vor­würfe we­gen se­xuel­ler Über­griffe seine Po­si­tion im Ver­fah­ 7 Selbst die kri­ti­sche und fe­mi­nis­tisch en­ga­gierte Fern­seh-Doku »Staats­af­fä­ren über Sex und Macht« (3sat, 07.01.2013) ver­wen­det durch­gän­gig diese Dik­tion mit dem über­dies ver­nied­li­chen­den Be­griff mit zwei­fel­haf­ten se­xuel­len Kon­no­ta­tio­nen. 8 Auch in Rödls Sample ös­ter­rei­chi­scher Ta­ges­zei­tun­gen be­han­delt mehr als die Hälfte das Thema Glaub­wür­dig­keit bzw. Falsch­aus­sage (2013: 129 f.).

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ren kaum (Fal­quet 2013: 92 f.). Ne­ga­tiv für Di­allo war zu­dem, so Koch (2011), dass in Be­zug auf Wi­der­sprüch­lich­kei­ten in ihren Aus­sa­gen bei Po­li­zei und Ge­richt eine mög­li­che Trau­ma­ti­sie­rung oder ein her­kunfts­be­ding­tes Miss­trauen gegen­über der Po­li­zei nicht be­rück­sich­tigt wur­de. In der Ein­stel­lungs­be­grün­dung der Staats­ an­walt­schaft wid­men sich dann 23 Sei­ten der Un­glaub­wür­dig­keit Di­al­los, aber nur ein Ab­satz mit fünf Zei­len der Glaub­wür­dig­keit Strauss-Kahns (Koch 2011: 18). Da­mit be­stä­tigt der Ver­fah­rens­ver­lauf ein­mal mehr die pre­käre Po­si­tion von Ge­walt­be­trof­fe­nen, müs­sen sie doch, um als Op­fer an­er­kannt zu wer­den, mög­lichst herr­schen­den Er­war­tun­gen und Bil­dern vom un­schul­di­gen Op­fer ent­spre­chen. War Di­al­los Klage (in Ver­bin­dung mit fe­mi­nis­ti­scher Unter­stüt­zung) durch­aus An­sporn für Be­trof­fe­ne, sich zu weh­ren, be­fürch­ten viele durch die Ver­fah­rens­ein­stel­lung eine neu­er­li­che Ent­mu­ti­gung für an­dere Frauen (vgl. z. B. Emma 2011b: 123–129). In Frank­reich und Deutsch­land, dort auch mit Be­zug zum Fall Ka­chel­mann, wird da­her in ei­ner rechts­theo­re­ti­schen Dis­kus­sion an­ge­regt, der Un­schulds­ver­mu­tung für den Tä­ter eine »Wahr­haf­tig­keits- bzw. Glaub­wür­dig­keits­ver­mu­tung« zur Seite zu stel­len – zur Si­che­rung des Re­spekts für Op­fer se­xua­li­sier­ter Ge­walt. (Her­gen­ han 2011: 10; Lenz 2011) Di­allo wird so jeden­falls nicht nur als klas­si­sches, hilf­lo­ses Op­fer re­prä­sen­tiert, son­dern durch­aus als Han­deln­de: zu ihrem Nach­teil, wenn ihr unter­stellt wird, sie wolle von dem Fall pro­fit­ie­ren, und po­si­tiv, wenn sie als Kämp­fe­rin, als mu­tige Frau, die ei­nem mäch­ti­gem Mann ent­gegen­tritt, und als Sym­bol ei­nes all­ge­mei­nen Kamp­fes dar­ge­stellt wird. So in­sze­niert sie sich auch selbst bei ihrer ers­ten Pres­se­ kon­fe­renz im Ju­li: Sie sei »stark für alle Frauen der Welt«. Hedge (2012) führt Di­allo bzw. die DSK-Af­färe als Bei­spiel für eine neue Sicht­bar­keit mus­li­mi­scher Frauen in trans­na­tio­na­len Me­dien­dis­kur­sen an. Al­ler­ dings fin­den sich in den deutsch­spra­chi­gen Me­dien kaum Hin­weise auf ihre Re­li­ gion, mög­li­cher­weise weil Di­allo nicht in den do­mi­nan­ten Frame »kul­tur­be­ding­ ter« Ge­walt durch »frem­de, rück­stän­dige An­dere« passt.

»Mann gegen Frau, Weiss gegen Schwarz, Reich gegen Arm«9 Ge­rade spek­ta­ku­läre Kri­mi­nal­fälle kön­nen – trotz ge­ne­rel­ler Ten­den­zen zu in­di­ vi­dua­li­sie­ren­der Dar­stel­lung – aus­ge­hend vom kon­kre­ten An­lass­fall zu Ka­ta­ly­sa­ to­ren öf­fent­li­cher De­bat­ten zu ge­sell­schaft­li­chen Hin­ter­grün­den und Kon­tex­ten wer­den. Wie­weit war nun die »Af­färe DSK« ein An­stoß, se­xuelle Ge­walt im Kon­ text struk­tu­rel­ler Un­gleich­hei­ten (er­neut) zu the­ma­ti­sie­ren, und wel­che der hier ja min­des­tens in­vol­vier­ten drei Di­men­sio­nen Ge­schlecht, Klasse und Ras­sia­li­sie­rung 9 Ba­ve­rez, die­pres­se.com, 28.05.2011.

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(wei­ters u. a. Al­ter, Re­li­gion, Nord-Süd,  . . .) wurde da­bei in wel­cher Weise be­ rück­sich­tigt? Die meiste Auf­merk­sam­keit er­hielt die Ge­schlechter­di­men­sion, teils ver­knüpft mit Macht- und so­zia­ler Un­gleich­heit; manch­mal unter dem Schlag­wort »Ge­ schlech­ter­kampf«, oft re­du­ziert auf »sex« im dop­pel­ten Sinn von bio­lo­gi­schem Ge­schlecht und Se­xua­li­tät. So wurde in Kom­men­ta­ren und Ti­tel­ge­schich­ten – auch mit Be­zug auf an­dere zeit­nahe Skan­dale rund um pro­mi­nente Po­li­ti­ker – über die pro­ble­ma­ti­sche Ver­bin­dung von Männ­lich­keit, Macht und Se­xua­li­tät de­bat­ tiert. Gegen­stand von Er­ör­te­run­gen wa­ren die Psy­cho­lo­gie mäch­ti­ger Män­ner, die auch se­xuelle At­trak­ti­vi­tät von (männ­li­cher) Macht und Geld oder bio­lo­gis­tisch die männ­li­che Li­bido und Trieb­steue­rung (vgl. z. B. Der Spie­gel, 23.05.2011 und profil 04.07.2011) – we­ni­ger pro­mi­nent, aber im­mer­hin vor­han­den wa­ren Ver­weise auf struk­tu­relle Un­gleich­hei­ten, pa­triar­chale Gen­der­nor­men, Se­xis­mus und eine Kul­tur der Straf­lo­sig­keit.10 Da­für wa­ren auch fe­mi­nis­ti­sche Stim­men ver­ant­wort­lich, ins­be­son­dere die fran­zö­si­schen Fe­mi­nis­tin­nen wa­ren in den deut­schen und ös­ter­rei­chi­schen Me­dien prä­sent. Für Frank­reich kon­sta­tiert Her­gen­han (2011, 2012) denn auch po­si­tive Im­pulse für den Fe­mi­nis­mus – prak­tisch und theo­re­tisch: mit ver­mehr­ten An­fra­gen bei Be­ra­tungs­stel­len und Not­ru­fen, stär­ke­rer öf­fent­li­cher Prä­senz und neuem Ak­ti­ vis­mus und ei­ner brei­ten De­batte fran­zö­si­scher Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen und po­ li­ti­scher Re­prä­sen­ta­tion. Dazu ent­spann sich eine trans­at­lan­ti­sche Theo­rie­de­batte um ei­nen spe­zi­fisch »fran­zö­si­schen Fe­mi­nis­mus« und mon­ar­chi­sche Ele­mente der fran­zö­si­schen De­mo­kra­tie (vgl. Scott 2012; Picq 2012; Rouyer 2013). We­ni­ger zen­tral, aber durch­aus prä­sent war die Klas­sen­di­men­sion: vor­der­grün­ dig in der Be­to­nung des Lu­xus und Reich­tums von DSK (und dem sel­ten feh­len­den Hin­weis auf die 3000-Dol­lar-Ho­tel-Suite als Tat­ort); ernst­haf­ter mit dem Ver­weis auf die auch se­xuelle Aus­beu­tung in (ver­gan­ge­nen) Dienst­bo­ten-Ge­sell­schaf­ten oder die Dis­kre­pan­zen der fran­zö­si­schen Ge­sell­schafts­ord­nung, wo der »Glaube an die Gleich­heit [. . .] eine Ge­sell­schaft mit Klas­sen und Kas­ten ka­schiert« (Ba­ve­ rez, die­pres­se.com, 28.05.2011). Auf­merk­sam ge­macht wurde (wie­der ein­mal) auf das Thema se­xuelle Be­läs­ ti­gung am Arbeits­platz als weit ver­brei­te­tes Pro­blem.11 Kon­kret wur­den zum ei­ nen Vor­würfe und Be­schwer­den zu den Arbeits­be­din­gun­gen, der »Ma­cho­kul­tur 10 Ge­schlech­ter­ord­nun­gen wur­den auch ver­han­delt über die Rolle der Ehe­frauen mäch­ti­ger Män­ner wie Anne Sin­clar, der Ehe­frau DSKs, die wäh­rend des Ver­fah­rens fest zu ihm hielt: Sind sie Kom­pli­zin­nen, die ein ge­mein­sa­mes Kar­rie­re-Pro­jekt ver­tei­di­gen, oder ein zwei­tes Op­fer? (Her­gen­han 2011: 4 f.) 11 Lt. FRA-Stu­die (2014) be­rich­tet mehr als die Hälfte der Eu­ro­päe­rin­nen von Er­fah­run­gen mit se­xuel­ler Be­läs­ti­gung, da­von ca. ein Drit­tel durch Vor­ge­setz­te, Kol­leg_in­nen oder Kund_innen.

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im Sys­tem DSK«, (Fo­cus on­line, 24.05.2011) in den ex­klu­si­ven, im­mer noch sehr männ­lich do­mi­nier­ten inter­na­tio­na­len In­sti­tu­tio­nen von IWF bis Welt­bank pu­blik, zum an­de­ren rückte auch die Si­tua­tion der Ho­tel­be­diens­te­ten et­was in den Blick – mit zu­min­dest an­satz­wei­sen Kon­se­quen­zen: So­wohl der IWF als auch meh­rere Lu­xus­ho­tels dis­ku­tier­ten Maß­nah­men für ei­nen bes­se­ren Schutz ihrer An­ge­stell­ten (Her­gen­han 2011: 10).12 Nur ver­ein­zelt wurde in den deutsch­spra­chi­gen Me­dien die ras­sia­li­sier­te, mit glo­ba­len Un­gleich­hei­ten ver­knüpfte Di­men­sion des Falls ex­pli­zit the­ma­ti­siert, ob­ wohl sel­ten ein Hin­weis auf »das schwarze Zim­mer­mäd­chen«, die afri­ka­ni­sche Her­kunft, die Im­mi­gra­tion fehl­te. Mehr Raum dürfte »race« in US-ame­ri­ka­ni­schen Dis­kus­sio­nen be­kom­men ha­ben, wo der ras­sis­ti­sche Kon­text von Ver­ge­wal­ti­gung prä­sen­ter ist. Eine – hier we­nig re­zi­pierte – in den USA ge­star­tete Pe­ti­tion inter­na­ tio­na­ler Fe­mi­nis­tin­nen zur Unter­stüt­zung Di­al­los nennt ex­pli­zit auch die ras­sia­li­ sierte Hier­ar­chie und kri­ti­siert ko­lo­niale und ras­sis­ti­sche Ste­reo­ty­pen, die in ei­ner Dar­stel­lung DSKs als zu »zi­vi­li­siert« für die ihm vor­ge­wor­fene Tat an­klin­gen.13 Wäh­rend in den Main­stream-Me­dien Strauss-Kahns Po­si­tion im IWF vor al­lem unter dem Ge­sichts­punkt mög­li­cher ne­ga­ti­ver Fol­gen für die süd­eu­ro­päi­schen Kri­ sen­län­der dis­ku­tiert wur­de, fra­gen ei­nige (fe­mi­nis­ti­sche) Stim­men grund­sätz­li­cher nach Zu­sam­men­hän­gen zwi­schen der vom IWF mit­ge­stal­te­ten glo­ba­len Öko­no­mie und dem Pro­blem se­xuel­ler Ge­walt.14 So ver­knüpft Jule Fal­quet (2013) die ›öf­fent­li­ che› und ›pri­vate‹ Po­si­tion DSKs ex­em­pla­risch mit glo­ba­len neo­li­be­ra­len öko­no­mi­ schen und se­xuel­len Macht­ver­hält­nis­sen. Als IWF-Chef ist er nicht nur mit­ver­ant­ wort­lich für eine Po­li­tik und Öko­no­mie, die öko­no­mi­sche und se­xuelle Aus­beu­tung jun­ger Frauen mit sich bringt, son­dern hat mit ei­ner neo­li­be­ra­len Fort­set­zung ko­lo­ nia­ler Aus­beu­tung Afri­kas auch die pre­käre Si­tua­tion sei­nes Op­fers in der Hei­mat mit­her­ge­stellt, die beide dann in der New Yor­ker Ho­tel­suite zu­sam­men­führ­te. Sie kri­ti­siert wei­ters den me­dia­len Fo­kus auf die se­xuelle Di­men­sion, wo­hin­ge­gen die öko­no­mi­sche Ge­walt und Aus­beu­tung weit­ge­hend aus­ge­blen­det blei­ben.

12 Die Demons­tra­tion von Kol­le­gin­nen und Ge­werk­schaft an­läss­lich der Kla­ge­ver­le­sung am 6. Juni für Ge­rech­tig­keit für Di­allo und Re­spekt für sie alle – »das ist kein Ein­zel­ fall« – wurde al­ler­dings in den deutsch­spra­chi­gen Me­dien wenn über­haupt nur mit Bild und Slo­gan »Shame on you« er­wähnt. 13 »Pe­ti­tion: Fe­mi­nist de­mand let jus­tice be done«, https://www.change.org/p/fe­mi­nistsde­m and-let-jus­t ice-be-done-les-f%C3%A9min­i stes-ex­i ­g ent-que-jus­t ice-soit-faite, 24.05.2011. Auch Di­al­los (Schwar­zer) An­walt Ken­neth Thom­pson stellte seine Ver­tei­ di­gungs­stra­te­gie in den Kon­text so­zia­ler und ras­sia­li­sier­ter Un­gleich­heit (Her­gen­han 2011: 4). 14 So z. B. die Po­diums­dis­kus­sion »Der IWF – Glo­bale Öko­no­mie und/oder Sex & Crime« im Juni 2011 in Wien. Auch Sol­nit (2013) in­sze­niert Di­allo in ihrem Text als Sym­bol ei­nes glo­ba­len (Klas­sen)kampfs.

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Fa­zit Die »Af­färe DSK« bzw. ge­nauer Na­fis­sa­tou Di­al­los Klage und die Re­ak­tio­nen der New Yor­ker Be­hör­den, die sie öf­fent­lich und zum Skan­dal mach­ten, ver­wei­sen wie in ei­nem Brenn­glas auf ei­nige Mus­ter und Un­gleich­zei­tig­kei­ten gegen­wär­ ti­ger Dis­kurse zu Ge­schlecht, Ge­walt und Un­gleich­heit. Sicht­bar wurde in den teils hef­ti­gen De­bat­ten das Neben­ein­an­der von De­le­gi­ti­mie­rung und Sicht­bar­ma­ chung von ge­schlechts­ba­sier­ter (se­xuel­ler) Ge­walt als Un­recht und über­kom­me­nen Vor­stel­lun­gen und wei­ter be­ste­hen­den struk­tu­rel­len Macht­ver­hält­nis­sen. Zu­dem ge­hen mit der pos­tu­lier­ten Gleich­heit und Ge­schlech­ter­de­mo­kra­tie in Ver­bin­dung mit neo­li­be­ra­len In­di­vi­dua­li­sie­rungs­dis­kur­sen auch Nor­ma­li­sie­run­gen und DeThe­ma­ti­sie­rung ge­schlecht­li­cher Un­gleich­hei­ten ein­her, die dann punk­tu­ell bei spek­ta­ku­lä­ren Fäl­len oder me­dien­wirk­sa­men Ak­tions­for­men (Slut­walk, Fe­men, #aufschrei  . . .) Er­stau­nen und Em­pö­rung her­vor­ru­fen. Mit ihrer Dra­ma­ti­sie­rung und Skan­da­li­sie­rung er­schwert die me­diale Auf­merk­sam­keits­öko­no­mie al­ler­dings sach­li­che Er­ör­te­rung und Re­spekt für den kon­kre­ten Fall, und das umso eher, wenn die Be­tei­lig­ten quasi als Stell­ver­tre­ter_in­nen ge­schlecht­li­cher, so­zia­ler und ras­sia­ li­sier­ter Po­si­tio­nie­run­gen fun­gie­ren. Wie die Dis­kurse zur »DSK-Af­färe« zei­gen, wer­den struk­tu­relle Kon­texte und Hin­ter­gründe ge­schlechts­ba­sier­ter Ge­walt zwar an­ge­spro­chen, aber oft stark re­du­ ziert und ver­zerrt. Ins­be­son­dere die kom­ple­xen in­ter­sekt­io­na­len Ver­knüp­fun­gen von Klas­se, Ras­sia­li­sie­rung und Ge­schlecht las­sen sich im per­so­na­li­sier­ten do­ mi­nan­ten Me­dien­dis­kurs sel­ten an­ge­mes­sen the­ma­ti­sie­ren. Tie­fer­ge­he­nde Aus­ein­ an­der­set­zun­gen und nach­hal­ti­gere Aus­wir­kun­gen dürf­ten sol­che emo­tio­na­li­sier­ten Me­die­ne­vents in trans­na­tio­na­len Me­dien­öf­fent­lich­kei­ten am ehes­ten dann und dort ha­ben, wo lo­kale und the­ma­ti­sche Be­zugs­punkte be­ste­hen – wie im kon­kre­ten Fall für den fran­zö­si­schen Ge­schlechter­dis­kurs. Wei­ters deu­tet ei­ni­ges dar­auf hin, dass Ge­schlecht und Se­xua­li­tät leich­ter skan­da­li­sier­bar sind als so­ziale oder ras­sia­li­sier­ ter Un­gleich­heit, dass also so­zu­sa­gen nicht mehr Sex das Tabu ist, son­dern Öko­ no­mie und Aus­beu­tung, ins­be­son­dere in der Di­men­sion glo­ba­ler öko­no­mi­scher Un­gleich­heit.

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Die »Af­färe Strauss-Kahn«  |  299

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Die »Af­färe Strauss-Kahn«  |  301

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Mediale Rezeptionsund Aneignungspraktiken

Me­dia au­di­ences and cul­tures of fem­i­nin­ity

Me­dia au­di­ences and cul­tures of fem­i­nin­ity Mean­ings and plea­sures re­vis­ited Bar­bara O’Con­nor

From the ro­man­tic novel of the nine­teenth cen­tury to the dig­it­al games of the twenty -first the issue of the me­dia’s dif­fer­en­tial ap­peal to men and women has been a topic of de­bate both with­in pop­u­lar cul­ture and in ac­ad­ emic me­dia re­search. The fe­male read­er­ship for the ro­man­tic novel was seen as vul­ner­able, in­clined to fan­ tasy and af­fected in ways that were deemed to be nei­ther so­cial­ly im­prov­ing nor moral­ly sound. Fur­ther­more the novels were re­garded as be­ing of lit­tle aes­thetic or cul­tu­ral val­ue. The twen­tieth cen­tury saw sim­il­ar crit­i­cism leveled at other genres with a pre­dom­i­nant­ly fe­male au­di­ence such as the tele­vi­sion soap op­era. If moral­ly and aes­thetic­ally sus­pect, what was the ap­peal of these genres to women? As a ref­er­ence point for the dis­cus­sion that fol­lows on the mean­ings and plea­ sures of me­dia I use an ar­ti­cle Elis­a­beth Klaus and I pub­lished in the In­ter­na­tion­al Jour­nal of Cultural Studies in 2000 in which we ad­dressed the issue with a par­ tic­u­lar fo­cus on the ap­peal of soap op­era.1 It is now twenty years since our first con­ver­sa­tions lead­ing to that pub­li­ca­tion and the in­ter­ven­ing years have seen many changes in the me­dia land­scape in­clud­ing new me­dia forms, genres and plat­forms. Even the con­cept of au­di­ence it­self has shifted with the ad­vent of dig­it­al me­dia to users, pro­du­sers/pros­u­mers. The ques­tion I pose here is wheth­er these changes have af­fected the mean­ings and plea­sures of me­dia. While it is not fea­sible to pro­ vide an over­view of the sub­stan­tial body of re­search on that topic here it may be in­struc­tive to ex­am­ine se­lec­tive re­search on soap op­era- the ex­em­plar women’s genre – and com­pare it with the new­er me­dia genres of re­al­ity TV make­over shows and com­puter gam­ing to see if, and how »cul­tures of fem­i­nin­ity« are of­fered to, and ne­go­ti­ated by, au­di­ences in each case.

1 I first met Elis­a­beth Klaus in 1995 when she was a vis­it­ing schol­ar at the School of Communications, Dub­lin City Uni­ver­sity. From our dis­cus­sions through­out the year we re­al­ized we had broad­ly sim­i­lar fe­mi­nist pol­i­tics and mu­tual re­search in­ter­ests which de­vel­oped in­to col­la­bo­ra­tive work and, per­haps more im­por­tant­ly, a val­ued friend­ship.

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Feminine pleasures and personal The case of soap op­era

life:

Much of the early re­search on the plea­sures of par­tic­u­lar genres for women was ex­plained by ref­er­ence to women’s po­si­tion with­in the pri­vate sphere. From the nine­teenth cen­tury on the »sep­a­ra­tion of spheres« ide­ol­ogy had grad­ual­ly achieved dom­in­ ance. In es­sen­ce this was the be­lief that there was a di­vi­sion be­tween the »pub­lic« and »pri­vate« spheres of life, with men as­so­ci­ated with the world of pro­ duc­tion, paid work and pol­i­tics while women were con­fined to the ›pri­vate‹ sphere as re­pro­ducers of the fam­ily with­in the home with re­spon­si­bil­ity for home man­age­ ment and child­care.2 This ide­ol­ogy was re­flected and re­pro­duced in early broad­cast in­sti­tu­tions that imag­ined and con­structed women as a do­mes­tic au­di­ence. That the home was a ha­ven for men and built on women’s do­mes­tic la­bour was clear­ly in­ di­cated in the open­ing lines of an ad­vert­ise­ment for lamp­shades in the BBC hand­ book of 1928 and ad­dressed »To the Women of Bri­tain« as fol­lows: »The ra­dio has un­doubted­ly helped you to keep your hus­band and boys away from the club and kept them at home where they thus ex­pe­ri­ence the ben­e­fits of your gen­tle charm and in­ flu­ence but you must now go one step fur­ther and make your home comfy and cheer­ful . . .« (Frith 1983: 111).

This was to be achieved by the pur­chase of the par­tic­u­lar brand of lamp­shade. A sim­i­lar tar­get­ing of women in the home is vis­ible in spe­cific me­dia genres. The or­ i­gins of ra­dio soap op­era, start­ing life in the USA in the 1920s, can be traced to a brand war be­tween two de­ter­gent com­pa­nies one of which de­cided to un­der­write a con­tin­u­ous fic­tional ra­dio se­rial and in the pro­cess gained au­di­ences and mar­ket share. Its suc­cess prompted the pro­duc­tion of other se­rials and the form was trans­ fer­red to tele­vi­sion where it con­tin­ued to ap­peal to women in the home. The plea­sures of ra­dio soap op­era were first doc­u­mented by Her­ta Her­zog (1944) who listed three main grat­i­fi­ca­tions: com­pen­sa­tion through iden­ti­fi­ca­tion, vi­car­i­ous wish fulfillment and, a source of ad­vice for ap­pro­pri­ate role-play. While Her­zog’s study was valu­able, it paid scant at­ten­tion to the pos­sible links be­tween the grat­i­fi­ca­tions of the genre and women’s po­si­tion with­in the home. This con­text was to be ad­dressed more fully in re­la­tion to tele­vi­sion soaps in the 1980s when a re­newed in­ter­est in em­pir­i­cal au­di­ence re­search con­verged with fe­mi­nist in­ter­est in the ap­peal of the genre to women. Build­ing on Her­zog’s in­ter­est in the en­joy­ 2 Initially the »sep­a­ra­tion of spheres« was a middle-class ide­ol­ogy but grad­ual­ly fil­tered to the work­ing class. The idea of the fam­ily bread­win­ner as male per­sisted de­spite the fact that many work­ing -class women worked out­side the home in or­der to sup­ple­ment fam­ily in­comes.

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ment of soaps re­searchers used the in­ter­pre­tive qual­it­a­tive ap­proach of re­cep­tion stud­ies3 to un­der­stand the ways in which the genres mean­ings and plea­sures were em­bed­ded in the ev­ery­day life sit­u­a­tion of viewers. Fo­cus­ing on the text-au­di­ence re­la­tion­ship they sug­gested that the for­mal prop­erties of me­dia texts ad­dress a fem­ i­nine sub­ject/spec­ta­tor that have a par­tic­u­lar ap­peal to a fe­male so­cial au­di­ence. The char­ac­ter­is­tic nar­ra­tive struc­tures and tex­tual op­er­at­ions of soaps ad­dress the view­er as »ideal moth­er« ac­cord­ing to Mod­les­ki (1982). She con­trasts the con­ tin­u­ous form of the soap to the lin­ear nar­ra­tive struc­ture of the clas­sic rea­list text (e. g. Hol­ly­wood film) where there is a be­gin­ning, mid­dle and end, and in which the view­er/spec­ta­tor is in­vited to iden­tify with the male hero. Since the plots and char­ac­ters of soaps are rolled out over a con­tin­u­ous pe­riod of time, the view­er is in­vited to iden­tify with the mul­ti­ple soap char­ac­ters that are con­structed as a fam­ ily. The spec­ta­tor is thus ad­dressed as an »ideal moth­er« who un­der­stands and loves all her child­ren (or soap- op­era char­ac­ters) equal­ly and can for­give all their misdemeanors. Bruns­don’s (1981) study of the Brit­ish na­tu­ra­lis­tic se­rial Cross­roads also sees its plea­sures as based on con­struc­tions of fem­i­nin­ity. Ad­dress­ing both a fem­in­ ine spec­ta­tor and a so­cial au­di­ence the nar­ra­tives, she ob­serves, re­volve around per­ sonal life, re­la­tion­ships and ro­mance, fam­ilies and the rit­uals of birth, mar­riage, break-ups and death. Di­a­logue is more im­por­tant than ac­tion and re­volves around ne­go­ti­at­ing ac­cept­able modes of be­hav­iour with­in per­sonal re­la­tion­ships.4 It is a means of es­tab­lish­ing a moral frame of ref­er­ence for the con­duct of per­sonal life. Ef­fec­tive­ly the soap op­era dra­ma­tizes women’s knowl­edge and ex­pe­ri­ence and it is the fem­in­ ine skills of, »sen­si­tiv­ity, per­cep­tion, in­tu­i­tion and the nec­es­sary priv­i­leg­ ing of the con­cerns of per­sonal life – which are both called on and practiced in the genre.« (Bruns­don 1981: 36) In con­tem­po­rary so­ci­ety, Bruns­don claims, it is more likely that women will pos­sess these com­pe­tences. »Emo­tional re­al­ism« is the term used by Ang (1986) to char­ac­ter­ize women’s re­sponse to the mel­o­dra­matic se­rial Dal­las where­by »what is rec­og­nized as real is not knowl­edge of the world, but a sub­jec­tive ex­pe­ri­ence of the world: a struc­ture of feel­ing« (Ang 1986: 46).5 Her ana­ly­s­is re­veals that women were more in­ter­ ested in the mu­tual re­la­tions and emo­tional tur­moil with­in the Ew­ing fam­ily and 3 Reception stud­ies in­ves­ti­gated the ways in which au­di­ences in­ter­preted/con­structed mean­ing around me­dia mes­sages us­ing fo­cus-group dis­cus­sion, semi-struc­tured in­ter­ views, some­times with an ob­ser­va­tional el­e­ment. 4 Bruns­don (1981), like Mod­les­ki (1982) con­trasts the con­tin­u­ous form of the se­rial with the lin­ear nar­ra­tive struc­ture of other fic­tional genres char­ac­ter­ized by nar­ra­tive ex­cite­ ment, sus­pense and res­o­lu­tion 5 O’Con­nor (1990) also found that »emo­tional re­al­ism« was a ma­jor source of en­joy­ment for women’s en­joy­ment of Dal­las while ab­sent from men’s re­sponse to the se­rial.

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the ro­man­tic nar­ra­tive el­e­ments, where­as men were more in­volved in the wealth and power rep­re­sented. She makes a dis­tinc­tion be­tween the »emo­tional re­al­ism« char­ac­ter­is­tic of women’s re­sponse and the »em­pir­i­cal re­al­ism« char­ac­ter­is­tic of men’s re­sponse. Other stud­ies pro­pose a spa­tial and tem­po­ral cor­re­spon­dence be­ tween the rhythms of women’s lives in the home and that of the se­rial form (e. g. Ger­agh­ty 1980; Mat­te­lart 1982; Mod­les­ki 1982). Soap op­era re­search at this time took place in the the­o­ret­i­cal con­text of the »pub­lic knowl­edge« and »pop­u­lar cul­ture« dis­tinc­tion (that mir­rored to some de­ gree the »sep­ar­ a­tion of spheres« ide­ol­ogy). Women, be­cause of their pref­er­ence for tele­vi­sion fic­tion, were seen as out­side the pub­lic sphere and part of the »pop­ u­lar cul­ture« pro­ject. This ap­proach tended to em­pha­size the ways in which soaps func­tioned to main­tain a tra­di­tional gen­der ide­ol­ogy (i. e. con­fined to the pri­vate sphere). Keen to con­test soap op­era’s low sta­tus, some re­searchers high­lighted fe­ male viewers’ ac­tive re­sis­tance to dom­in­ ant gen­der mes­sages or sought to cel­eb­ rate women’s plea­sure in soaps with­out ref­er­ence to their ideo­log­i­cal func­tion. Others ac­knowl­edged that mean­ings were ne­go­ti­ated in com­plex ways pro­duc­ing ten­sions and am­biv­al­ence.6 How­ev­er, »[d]es­pite the large num­ber of em­pir­i­cal au­di­ence stud­ies de­voted to women’s me­dia plea­sures, the issue of the re­la­tion­ship be­tween the plea­sure in women’s genres, and more gen­eral­ly be­tween me­dia plea­sures and ide­ol­ogy re­mains un­re­solved.« (O’Con­nor/Klaus 2000).

Bodies beautiful: Power or par­tic­i­pa­tion in the makeo ­ ver show? If tele­vi­sion soap op­era was a cen­tral plank of the au­di­ence re­search agenda of the 1980s, it was talk shows in the 1990s, and re­al­ity TV in the early 2000s. One of the dis­tinc­tive fea­tures of the lat­ter was that par­tic­ip­ ants were for the most part or­di­nary peo­ple. In ad­di­tion many shows in­cluded an inter­ac­tive el­em ­ ent in which viewers could par­tic­i­pate, most fre­quent­ly in the form of pub­lic vot­ing. These char­ ac­ter­is­tics prompted two con­trary the­o­ret­i­cal ap­proaches to the ana­ly­s­is of re­al­ity shows. For some they signaled an ex­pan­sion of »par­tic­i­pa­tory de­moc­racy« (Ros­ coe 2001; Van Zoo­nen 2001; Hill 2005) while for others (Andr­eje­vic 2004; Turner 2006; Ou­lette/Hay 2008) they rep­re­sented a neo-lib­eral norm. At first glance re­al­ity TV might ap­pear to be gen­der neu­tral in­so­far as its di­ verse for­mats might be as­sumed to at­tract a di­verse au­di­ence. How­ev­er, it is strik­ ing that many sub-genres re­volve around ste­reo­typ­i­cal fe­male roles such as the 6 Rad­way’s (1984) study of ro­mance fic­tion is an ex­ample of the agency of fe­male readers: the act of read­ing be­ing per­ceived by the readers them­selves as a form of re­sis­tance to the ex­pec­ta­tions of their do­mes­tic role.

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do­mes­tic (as in Wife Swap), child­care (Su­per­nan­ny) ap­pear­ance and fash­ion (Ger­ many’s next Top Model, What Not to Wear). It is on­ly when we ask the ques­tion of why there isn’t a male equiv­a­lent of Wife Swap that we be­come aware that these roles have be­come so nat­u­ral­ized that they tend to pass un­no­ticed in me­dia rep­re­sen­ta­tions.7 Make­over shows en­gage pre­dom­i­nant­ly with trans­for­ma­tions of fe­male bodies (though a mi­nor­ity rep­re­sent ide­al­ized ver­sions of mas­cu­lin­ity) as the means to men­tal and emo­tional well­be­ing and to cre­at­ing a bet­ter and a happ­ier self. The typ­i­cal for­mat con­sists of three stages in a rit­ual pro­cess – the »be­fore« (old self), the »lim­i­nal« (re­moval from fam­ily and friends and strip­ping of the old self by ex­perts – dis­card­ing of the old ward­robe and pur­chase of the new, or un­der­ go­ing cos­metic sur­gery), and »aft­er« (re­veal of the new self to fam­ily, friends and view­ing au­di­ence). For Ba­net-Wei­ser and Por­twood-Sta­cer (2006) the dis­cip­li­nary prac­tices of fem­in­ in­ity rep­re­sented in make­over shows are seen as ex­er­cis­ing con­trol over women’s bodies while mas­quer­ad­ing as fe­male agency and in­di­vid­ual choice. Their com­par­a­tive ana­ly­si­s of the tele­vised Miss Amer­ica con­test and the re­al­ity make­over shows en­abled them to ex­plore the chang­ing role of me­dia in the nor­mal­ i­za­tion of per­for­mances of fem­i­nin­ity. Miss Amer­ica, first tele­vised in 1954, was a site where the fem­in­ ine body was ar­tic­u­lated with­in the terms of lib­eral ide­ol­ogy – as an in­di­vid­ual with choices and free­doms. Re­al­ity TV con­trib­utes to a neo-lib­ eral ide­ol­ogy through its fo­cus on in­di­vid­ual plea­sure and choice, and, cru­cial­ly, through the ex­plic­it sug­ges­tion that choices are en­abled by con­sum­er­ism (cos­metic sur­gery, new clothes, etc.). The authors claim that there is an in­creas­ing nor­mal­iz­ a­ tion of cos­metic sur­gery as an ex­pres­sion of post-fem­in­ism in shows such as The Swan and Ex­treme Makeover that le­git­im­ize a par­tic­u­lar ide­al­ized fem­in­ ine beauty. Through the use of the rhet­o­ric of in­di­vid­ual choice, tech­no­log­ic­ al trans­for­ma­tion, and cel­eb­ ra­tion of the body, the in­di­vid­ual fe­male par­tic­i­pants claim to be fre­eing them­selves of their earl­ier lives. Re­sponses to the shows are in­flu­enced by the post-fe­mi­nist pol­it­ics of many young Amer­i­can women. The dis­cip­li­nary prac­tices are le­git­im­ized by the ide­ol­ogy of »girl power« in which girls are per­ceived as strong and in­de­pen­dent, and what one does with/to ones body is a mat­ter of per­sonal choice. These ex­pres­sions of fe­male agency elide the power re­la­tions in­volved in these con­tem­po­rary per­for­mances of gen­der. The authors see the shows as mere­ly a clever mar­ket­ing strat­egy ra­ther than mark­ing changes with­in dom­i­nant gen­der re­la­tions, as mere­ly as a cel­e­bra­tion of the self with­in con­sumer cul­ture or, in other words, a form of con­sumer cit­i­zen­ship. 7 Even in cases where there is no ap­par­ent for­mal gen­der­ing with­in the text of re­al­ity shows, gen­der iden­tities are per­formed in re­spond­ing to the texts. For fur­ther dis­cus­sion see Klaus and O’Con­nor (2013) on teen­age au­di­ence re­sponse to TV tal­ent shows in Ire­ land and Aus­tria.

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A more san­guine view is taken by Lunt and Le­wis (2008) in their ana­ly­s­is of the Brit­ish make­over show What Not to Wear. In­deed they claim it is the show’s coun­ter-nor­ma­tive con­struc­tion of fem­i­nin­ity that guar­an­tees its pop­u­lar ap­peal to women. They see it as sup­port­ing a de­moc­ra­tized ethic of per­sonal trans­for­ma­tion, by pub­lic­ly ac­knowl­edg­ing and shar­ing the con­cerns of the par­tic­ip­ ants who are pre­dom­i­nant­ly or­di­nary mid­dle-aged women. Ac­cord­ing to the authors the show en­cour­ages them »to take cen­tre stage in a me­dia cul­ture that has tra­di­tional­ly mar­gin­al­ized age­ing fem­i­nine bodies and selves« (Lunt/Le­wis 2008: 22).8 In the »be­fore« sec­tion of the show the par­tic­i­pants’ ward­robe ren­ders them mar­gin­al­ized in terms of their bodies and in terms of cur­rent fash­ion. Their feel­ings of loss of con­trol over their bodies and low self-es­teem leads to a de­cline in mo­ti­va­tion and so­cial en­gage­ment which is the start­ing point for the show’s par­tic­i­pants. The show’s pre­senters, Tri­nny and Su­san­nah, by ab­stract­ing the in­di­vid­ual from their ev­ery­day lives, by con­struct­ing a lim­i­nal space for them in which they in­ter­vene in an act of »tough love«, and by then re­in­sert­ing them in­to their ev­ ery­day lives en­sure that the par­tic­i­pants are ac­knowl­edged and given a voice (cp. Lunt/Le­wis 2008: 21). Tri­nny and Su­san­nah of­fer prac­ti­cal ex­pert­ise that en­gages di­rect­ly with par­tic­i­pants (as op­posed to the im­part­ing of ab­stract knowl­edge) and rep­re­sents a val­u­ing of fem­i­nine knowl­edge as ex­pert­ise. Lunt and Le­wis as­sert that »the make­over can be seen as a means of con­nect­ing par­tic­ip­ ants to a com­mu­ nity of prac­tice that will meet their needs (help­ing them gain con­fi­dence) lis­ten to their con­cerns (giv­ing them a voice and there­fore a moral pres­ence) and val­ue their roles as moth­ers, wives, friends and col­leagues« (Lunt/Le­wis 2008: 18). The two tex­tual stud­ies above of­fer nor­ma­tive and coun­ter-nor­ma­tive an­al­yses re­spec­tive­ly of the mean­ings and plea­sures of make­over shows. How do we ac­ count for the in­com­men­sur­a­bil­ity of the find­ings? Do they re­late to the cul­tu­ral dif­fer­ences be­tween women in the US and in Bri­tain? Are they due to the fact that What Not to Wear re­volves around clothes and make-up where­as shows such as The Swan involve invasive bodily procedures. Or is it due to their dif­fer­ent the­o­ ret­i­cal ap­proaches? Skeggs and Wood’s (2008; 2012) re­search on re­al­ity TV in­clud­ing make­over shows con­test both of the tex­tual an­a­lyses above.9 Many of the women in their 8 Lov­ell (1981) also claims that the sex­ual­i­sa­tion of mid­dle-aged fe­male char­ac­ters in se­ rials like Cor­o­na­tion Street was a source of plea­sure for fe­male viewers. 9 Skeggs and Woods (2012) study com­bined a tex­tual ana­ly­si­s with multi-method au­di­ ence re­search. The em­pir­i­cal re­search in­cluded a num­ber of tech­niques, in­di­vid­ual in­ ter­views, fo­cus group dis­cus­sions and »text-in-ac­tion« methods. The lat­ter is a method where the re­searcher watches the show with the view­er and notes their re­sponse through­ out. They use the min­ute de­tails of the tex­tual ana­ly­si­s to see when and how viewers re­act at var­i­ous points.

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study, ra­ther than val­u­ing the knowl­edge of ex­perts like Tri­nny and Su­san­nah as sug­gested by Lunt and Le­wis, chal­lenged it as un­re­a­lis­tic and im­prac­ti­cal and took great plea­sure in re­sist­ing it. Crit­ic­ ism of the show’s pre­senters was ac­com­pa­nied by an af­fec­tive con­nec­tion to the show’s par­tic­i­pants. For in­stance, they em­pa­ thized with one par­tic­u­lar con­tes­tant, the moth­er of trip­lets, be­cause they knew the large amount of moth­er­ing la­bour in­volved and si­mul­ta­neous­ly crit­i­cized Tri­nny and Su­san­nah for their lack of un­der­stand­ing of the issue. The women went on to com­ment on the rel­a­tive­ly priv­il­eged po­si­tion of the pre­senters and to sur­mise that they had nan­nies to care for their child­ren. This gave them a moral au­thor­ity over Tri­nny and Su­san­nah and they could dis­miss them as »stuck up posh birds« (Skeggs/Wood 2008: 563). Here we see nor­ma­ti­vi­ty be­ing chal­lenged by viewers whose re­sponses to the trans­for­ma­tion shows were de­ter­mined by their own life nar­ra­tives and val­ue po­si­tion.10 The con­cept of val­ue is cru­cial to Skeggs and Wood’s ana­ly­s­is. But ra­ther than fo­cus­ing ex­clu­sive­ly on ex­trac­tive val­ue through par­tici­pant self-per­ for­mance (as critics of the gov­ern­men­tal ap­proach do), they in­clude two other kinds of val­ue based on »con­nect­ing to others not just, or even for so­cial, moral or cul­tu­ral cap­it­al, but for af­fec­tive rea­sons, for con­nec­tion be­yond self- in­ter­est, for love, care and con­nec­tion« (Skeggs/Wood 2012: 8). They see »the gen­dered fields of the fam­ily, fem­i­nin­ity and moth­er­hood« as im­por­tant for the cre­at­ion of val­ue around re­al­ity TV be­cause it makes pub­lic do­mains of life pre­vi­ous­ly re­ garded as pri­vate. Be­cause women have had a long his­tory of emo­tional la­bour/ man­age­ment in the »pri­vate« sphere, they are con­se­quent­ly »po­si­tioned more im­ma­nent­ly to the im­me­di­ate con­cerns of re­al­ity tele­vi­sion and just like the tra­ di­tional ar­gu­ments about soap op­era, women’s cul­tu­ral com­pe­tences are at the cen­tre of the drama« (Skeggs/Wood 2012: 153). In the in­stance cited above they were de­fend­ing their val­ue as moth­ers and at­tempt­ing to pro­vide an al­ter­na­tive source of val­ue to that pro­moted by the fash­ion ex­perts. In re­act­ing to the shows’ par­tic­ip­ ants viewers are nav­i­gat­ing cir­cuits of val­ue and in the pro­cess are ne­go­ ti­at­ing their own val­ue. Nor­ma­ti­vi­ty was also chal­lenged in re­la­tion to class-based val­ues. Work­ingclass groups showed em­pathy to­wards con­tes­tants who could cope or en­dure. In one ep­is­ ode of Su­per­nan­ny, for ex­ample, they re­sisted the »pro­fes­sional« role of the ex­pert while si­mul­ta­neous­ly iden­tif­ying with the »cop­ing« role of the moth­ er. In a sim­il­ar vein, Jor­dan and Jade Goody, two of the fe­male char­ac­ters on Big Brother who had been vil­ified in the main­stream me­dia were ad­mired/given val­ue 10 Klaus and O’Con­nor’s (2013) re­search on tele­vi­sion tal­ent shows also found that viewers’ re­sponses are strong­ly in­flu­enced by their ev­ery­day life ex­pe­ri­ences and that the ne­go­ti­at­ion pro­cess re­sults not on­ly in the re­pro­duc­tion of neo-lib­eral val­ues but in ten­ sions, con­tra­dic­tory po­si­tions, and chal­lenges to the neo-lib­eral agenda.

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by the work­ing-class groups be­cause they were seen as un­pre­ten­tious and be­cause of their re­sis­tance to middle-class forms of trans­for­ma­tion. While middle-class groups pre­sented more ab­stract and crit­i­cal read­ings of the shows (based on their cul­tu­ral cap­i­tal) it was not a sim­ple class di­vi­sion be­tween work­ing-class groups dis­play­ing an im­ma­nent at­tach­ment and middle-class groups a crit­ic­ al dis­tance. The lat­ter, though some­times par­tial­ly ac­cept­ing the ideo­log­i­cal cod­ing (in many in­stances it is work­ing-class char­ac­ters who are neg­at­ive­ly coded as in Wife Swap), of­ten reached be­yond it to find some point of pos­it­ive con­nec­tion be­tween the shows’ char­ac­ters/par­tic­i­pants and their own lives and ex­pe­ri­ence. In other words their af­fec­tive re­ac­tion su­per­seded the ideo­log­ic­ al/sym­bolic load­ing of the rep­re­ sen­ta­tion. For all the groups the com­mon con­nec­tion to the shows par­tic­ip­ ants was in terms of their po­si­tion with­in re­la­tion­ships. By put­ting them­selves in the place of par­tic­i­pant’s they worked »to rec­og­nize the per­for­mances of do­mes­tic, ma­te­rial, fem­i­nine and re­la­tion­ship la­bour that are part of their own ex­pe­ri­ence.« (Skeggs/ Wood 2008: 569)

Performing femininity in comp ­ uter gami­ng

online:

Com­pe­ti­tion or car­ing

Moving away from tele­vi­sion to new­er me­dia, I won­dered if the greater em­pha­s­is on tech­nol­ogy in the prac­tice of com­puter gam­ing might have im­pli­ca­tions for the mean­ings and plea­sures af­forded to fe­male game players. Would the find­ings of earl­ier me­dia re­search (e. g. Gray 1992) re­lat­ing to the gen­dered use and sym­bol­ ism of en­ter­tain­ment tech­nol­ogy be rep­li­cated in a con­tem­po­rary con­text? Would the rel­a­tive ab­sence of fe­male role mod­els/av­a­tars mil­i­tate against a cul­ture of fem­i­nin­ity be­ing of­fered to fe­male gamers? Or would gen­der be an issue at all with dig­i­tal na­tives who might be ex­pected to have equal lev­els of com­pe­tence. De­spite the sub­stan­tial body of lit­era­ture on gen­der and com­puter gam­ing (e. g. Cas­sell/Jenkins 2000; Tay­lor 2003; Walk­er­dine 2006; Carr 2007; Pel­le­tier 2008) it re­mains a com­plex and con­tested ter­rain. Walk­er­dine (2006: 520) pro­poses that vid­eo­games are a site for the pro­duc­tion of mas­cu­lin­ity »be­cause they both de­mand and ap­pear to en­sure per­for­mances such as her­o­ism, kill­ing, win­ning, com­pe­ti­tion, ac­tion com­bined with tech­ni­cal skill and ra­tion­al­ity.« Based on the find­ings of her study of child­ren be­tween the ages of eight and eleven years play­ing vid­eo games (PlayStation and Nin­tendo 65 games) in an aft­er-school club in Syd­ney, she claims that far from em­power­ing young girls as fre­quent­ly as­serted, it forces them to en­ gage in the com­plex and dif­fi­cult task of ne­go­ti­at­ing dual gen­der per­for­mances. This en­tails dis­play­ing the com­pet­i­tive spirit and the will to win tra­di­tional­ly ­ascribed to mas­cu­lin­ity along­side the car­ing at­ti­tude, sen­si­tiv­ity, and co-op­er­at­ion tra­di­tional­ly as­cribed to fem­i­nin­ity.

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Re­searchers ob­served dif­fer­ences in how girls po­si­tioned them­selves; in in­ ter­views they re­ported not lik­ing the fight­ing in games while ob­ser­va­tion of their play re­vealed the op­po­site. How­ev­er, the plea­sure in the power of mastery of the game had to be hid­den or di­verted and they sought to re­solve the con­tra­dic­tions in­volved by var­i­ous means. Their choice of cute and cud­dly av­a­tars was one way of per­form­ing fem­i­nin­ity. To be per­ceived as a suc­cess­ful and com­pe­tent player (not nec­es­sar­ily the one who won the most) some girls took up a vis­ibly mas­cu­line po­si­tion ev­i­denced in their dom­i­na­tion of the group and game-play space, and in loud, bossy and ver­bal­ly ag­gres­sive be­hav­iour. While some of the girls were keen to win they re­al­ized that to achieve high lev­els of com­pe­tence would en­tail a lot of time and ef­fort. They we­ren’t in­ter­ested, ac­cord­ing to Walk­er­dine, be­cause the end point would be »ac­tion he­roic mas­cu­lin­ity« (2006: 522), where­as the work they felt obliged to do was to man­age the com­pet­ing po­si­tions of mas­cu­lin­ity and fem­i­nin­ity. Ste­reo­typ­i­cal bi­nary con­cepts of gen­der in­clud­ing the ax­i­om that boys like to com­pete and girls like to co-op­er­ate in game play is chal­lenged by Jen­son and de Cas­tell (2008) in their study of vid­eo and com­puter game play among one hun­dred boys and girls be­tween twelve and thir­teen years of age. They ob­served that girls were as com­pet­i­tive as boys but also sup­ported and en­cour­aged play­mates. This »be­nevo­lent com­pe­ti­tion« they con­tend, is a gen­der per­for­mance sanc­tioned for girls and they ob­ject to the fact that re­search fre­quent­ly uses these »nor­ma­tive­ly con­strained gen­der per­for­mances as ›data‹ from which we might lit­eral­ly ›read off‹ truths about what girls like, what they can do, what they are in­ter­ested in and how they play« (Jen­son/Cas­tell 2008: 18). They also draw at­ten­tion to the fact that the re­search sit­u­a­tion is it­self a gen­dered per­for­mance. An­swers to ques­tions de­pend on the con­text in which they are asked. »If a guy asks another guy, ›do you play vid­eo games?‹ he’ll pretty much al­ways say yes, be­cause guys know vid­eo games are about com­pet­ing with other guys, and about win­ning. But if a girl asks a guy if he plays, he’ll say no, so she doesn’t think he’s a so­cial mis­fit who on­ly likes to stare at a com­puter screen« (Jen­son/Cas­tell 2008: 21). Their study, con­ducted over a three-year pe­riod, en­abled them to see changes in game play over time and to pro­vide al­ter­na­tive in­ter­pre­ta­tions of gen­der dif­ fer­ences. They ob­served much more »help­ing« di­a­logue than di­rect com­pe­ti­tion among the girls in the early stages. How­ev­er, this sit­u­a­tion changed when they gained more ex­pe­ri­ence and in mov­ing from a no­vice to ex­pert role the girls drop­ ped the more ste­reo­typ­i­cal­ly fem­i­nine per­for­mances. Their find­ings and ana­ly­s­is point to the im­por­tance of con­text and knowl­edge in re­la­tion to the girls’ play per­for­mances. Boys came to the play sit­u­a­tion with more ex­pe­ri­ence and with a greater gen­der in­vest­ment in per­form­ing gam­ing in­ter­est and abil­ity. They con­cur with Carr’s (2007: 478) con­clu­sion that »forms of com­pe­tency un­der­lie and in­form our gam­ing pref­er­ences, what­ev­er our gen­der«.

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Concluding comments This chap­ter set out to ex­plore the ex­tent to which the mean­ings and plea­sures of me­dia use/con­sump­tion are in­ter­twined with cul­tures of fem­in­ in­ity through a re­view of se­lec­tive stud­ies of tele­vi­sion soap op­era, re­al­ity shows and com­puter gam­ing. ­There was con­sid­er­able ev­i­dence that the ap­peal of both soap op­era and re­al­ity TV was in­ter­twined with the emo­tional la­bour tra­di­tional­ly as­so­ci­ated with women in the pri­vate sphere. The pic­ture is less clear for gam­ing. While the plea­sures of both soap op­era and gam­ing are de­pen­dent on com­pe­tences gained through in­vest­ment and ex­pe­ri­ence, and while the per­for­mance of gam­ing in­volved cul­tures of fem­in­ in­ ity, the plea­sures of the lat­ter ap­peared to be more re­lated to the ac­qui­si­tion of tech­ ni­cal skills. If this is the case, and if we spec­u­late that greater num­bers of younger women are gamers, this raises ques­tions about pos­sible gen­er­at­ional shifts in cul­ tures of fem­i­nin­ity. This issue is open to em­pir­ic­ al in­ves­ti­ga­tion and in this re­gard a moth­er/daugh­ter cross-me­dia study of taste and prac­tice might be en­lighten­ing. The leg­acy of 1980s fe­mi­nist tele­vi­sion stud­ies has led to a dis­pro­por­tion­ate fo­cus on the fe­male au­di­ence for women’s genres with less at­ten­tion paid to con­ struc­tions of mas­cu­lin­ity/the male au­di­ence with the no­table ex­cep­tion of tele­vi­ sion sports. Tak­ing on board Jen­son and de Cas­tell’s (2008) as­ser­tion that it is on­ly by be­ing alert to sim­i­lar­ities as well as dif­fer­ences be­tween fe­male and male me­dia prac­tices that re­search will avoid slip­page in­to a re­ified gen­der ana­ly­s­is, au­di­ence stud­ies would ben­e­fit from in­clud­ing male and fe­male par­tic­i­pants where ap­pro­pri­ ate and fea­sible. As a case in point it would be in­ter­est­ing to com­pare Skeggs and Wood’s (2008; 2012) ana­ly­si­s with an equiv­a­lent study of men’s re­ac­tion to re­al­ity TV in­clud­ing the ap­peal of spe­cific sub-genres, the pro­cess of val­ue ne­go­ti­at­ion and con­struc­tions of mas­cu­lin­ity. Fur­ther­more, since re­search sit­u­a­tions are them­ selves gen­der per­for­mances re­searchers need to be mind­ful of gen­der as be­ing in pro­cess as op­posed to be­ing fixed and im­mu­table while si­mul­ta­neous­ly bear­ing in mind that per­for­ma­ti­vi­ty it­self is in­flu­enced by so­cial po­si­tion­ing. Ob­ser­va­tions on the make­over shows con­firm the con­tin­u­ing im­por­tance of em­pir­i­cal au­di­ence re­search for un­der­stand­ing how au­di­ences in spe­cific in­ter­pre­ tive com­mu­nities en­gage with me­dia. Tex­tual ana­ly­s­is is valu­able as a »sen­si­tiz­ing con­cept« but as an ex­clu­sive method it can­not ex­plain the in­ter­play be­tween mean­ ings and plea­sures. As con­firmed by Skeggs and Wood the pro­cess of ne­go­ti­at­ing iden­tity through as­sess­ment of val­ue is con­tin­gent and the pre­cise re­la­tion­ship be­ tween mean­ings and plea­sures (af­fect and cog­ni­tion) is ne­go­ti­ated in com­plex and con­tra­dic­tory ways.11 Their de­vel­op­ment of a »text-in–ac­tion« ap­proach is use­ful 11 The con­cepts of »mean­ings« and »plea­sures« seem to be broad­ly sim­i­lar to »cog­ni­tion« and »af­fect« as used by Skeggs and Wood (2008; 2012) though not iden­ti­cal as dis­plea­ sures (feel­ings of shame, ir­ri­ta­tion, an­ger etc.) are in­cluded in their »af­fect« cat­e­gory.

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for ad­dress­ing the prob­lem iden­tified earl­ier by O’Con­nor and Klaus with re­gard to our un­der­stand­ing of a pre­cise re­la­tion­ship be­tween me­dia plea­sures and ide­ol­ogy. Skeggs and Wood see the method as par­tic­u­lar­ly suit­able to re­al­ity TV be­cause they claim that it gen­er­ates a new form of text-au­di­ence in­ter­ac­tion since show par­tic­i­pants are now closer to the world of viewers as po­ten­tial per­formers than ev­er be­fore. How­ev­er it may well have valu­able an­al­ytic po­ten­tial be­yond re­al­ity TV and, this too, re­mains a mat­ter of em­pir­ic­ al in­ves­ti­ga­tion. The ap­proach to au­di­ences ad­vo­cated by Skeggs and Wood would en­tail knowl­edge of the cul­tu­ral con­text in which they en­gage with me­dia. While much has been made of the term »me­dia eth­nog­raphy« in prac­tice it has in­va­ria­bly fallen short of clas­sic eth­nog­raphy. A move to­wards a more ro­bust and ex­tended eth­no­ graph­ic method would achieve a greater in­te­gra­tion be­tween me­dia/com­mu­ni­ca­ tion and so­cial the­ory. It would be in keep­ing with Co­ul­dry’s (2011) call for a less me­dia-cen­tric ap­proach to au­di­ence re­search while si­mul­ta­neous­ly ac­knowl­edg­ing that the me­dia land­scape con­tin­ues to be a pri­mary site for of­fer­ing au­di­ences con­ struc­tions of fem­in­ in­ity or mas­cu­lin­ity. The orig­i­nal use of the con­cept »cul­ture of fem­i­nin­ity« by Mc­Rob­bie (1978) was with ref­er­ence to the pop­u­lar cul­tu­ral prac­tices of work­ing-class girls with­in a pa­tri­archal cul­ture. Per­haps the task for fe­mi­nist au­di­ence re­search in a con­tem­po­rary con­text is to con­tin­ue to map the shifts in pa­tri­ar­chy that af­fect the ways in which au­di­ences, fe­male and male, make mean­ing from, and find plea­sure in, the ev­er-in­creas­ing range of me­dia genres and prac­tices.

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Häus­li­che An­eig­nungs­wei­sen des Inter­nets

Häus­li­che An­eig­nungs­wei­sen des Inter­nets »Re­vo­lu­tio­niert Mul­ti­me­dia die Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen?« re­vi­si­ted Jutta Rö­ser und Ul­rike Roth

Ein­lei­tung Die Zeit­schrift Fe­mins­ti­sche Stu­dien pu­bli­zierte 1997 ein Schwer­punkt­heft zum Thema »Mul­ti­me­dia«, her­aus­ge­ge­ben von Ulla Wi­scher­mann und Mecht­hild Veil, und ein Bei­trag von Eli­sa­beth Klaus (1997) lei­tete das Heft ein. Es ging um das Inter­net, aber die­ser Be­griff hatte sich noch nicht als fe­der­füh­rend durch­ge­setzt – neben Mul­ti­me­dia war auch von Com­pu­ter­ver­mit­tel­ter Kom­mu­ni­ka­tion und Com­pu­ter­net­zen, vom Cy­ber­space und dem Netz­me­dium die Rede (vgl. Prom­mer/ Vowe 1998; Ne­verla 1998). Das Inter­net stand 1997 noch am An­fang sei­ner mas­ sen­haf­ten Ver­brei­tung. Erst kurz nach Er­schei­nen des Hef­tes wurde erst­mals die ARD/ZDF-On­line­stu­die ver­öf­fent­licht (vgl. van Ei­me­ren et al. 1997). Diese zeig­ te, dass 1997 erst knapp sieben Pro­zent der Be­völ­ke­rung (zu­min­dest ge­le­gent­lich) on­line wa­ren, dar­unter zehn Pro­zent der Män­ner und nur drei Pro­zent der Frauen (vgl. van Ei­me­ren/Frees 2009: 336). Be­trach­tet man die so­zio­de­mo­grafi­sche Zu­ sam­men­set­zung die­ser Min­der­heit, wird deut­lich: Das neue Me­dium Inter­net war zu die­ser Zeit noch ein Eli­te­me­dium. 41 Pro­zent der On­li­ner hat­ten ein Stu­dium ab­ge­schlos­sen und ins­ge­samt 62  Pro­zent hat­ten Ab­itur, es do­mi­nier­ten Män­ner (73%) so­wie die Al­ters­gruppe der 20- bis 39-Jäh­ri­gen. Zu­ge­spitzt for­mu­liert: Der ty­pi­sche User war ein 34-jäh­ri­ger, be­rufs­tä­ti­ger Mann, der als Aka­de­mi­ker, oder auch in ei­nem ge­ho­be­nen Aus­bil­dungs­be­ruf ver­mut­lich mit EDV-Be­zug, tä­tig war (vgl. Rö­ser/Peil 2010). Vor die­sem Hin­ter­grund ist zu­nächst ein­mal be­mer­kens­wert, wel­che Frage Klaus in ihrem Bei­trag nicht auf­warf, näm­lich die, ob Frauen über­haupt zu Nut­ze­ rin­nen des Inter­nets wer­den wür­den. Ent­gegen sol­cher De­bat­ten, die im Kon­text ei­ner mög­li­chen »Di­gi­ta­len Spal­tung« ab 2000 in Deutsch­land rich­tig Fahrt auf­ nah­men (vgl. Ku­bi­cek/Wel­ling 2000), setzte Klaus die – wie auch im­mer ge­ar­tete – Par­ti­zi­pa­tion von Frauen be­reits vor­aus. Dass sie dies ver­mu­tete und da­mit ganz

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rich­tig lag, dürfte we­sent­lich an der his­to­ri­schen Rück­bin­dung lie­gen, mit der sie (nicht nur) die­ses Thema an­ging.1 Sie ent­fal­tete in ihrem Auf­satz di­verse Be­funde zur Durch­set­zung von Ra­dio, Fern­se­hen, Tele­fon so­wie wei­te­ren Tech­no­lo­gien und lei­tete dar­aus ihre Über­le­gun­gen zum Inter­net ab: »Der Blick in den Rück­ spie­gel be­wahrt vor man­cher Fehl­ein­schät­zung.« (Klaus 1997: 8; vgl. auch Klaus et al. 1997). Ent­spre­chend inter­pre­tierte Klaus »die Mul­ti­me­dia-Zu­kunft nicht als ›Re­vo­lu­tion‹, son­dern ver­or­tet sie als eine neue Stufe in­ner­halb ei­nes Ent­wick­ lungs­pro­zes­ses«, wie die Her­aus­ge­be­rin­nen in ihrer Ein­lei­tung bi­lan­zier­ten (Wi­ scher­mann/Veil 1997: 4). Es war also nicht das »Ob«, son­dern das »Wie« der Teil­habe von Frauen und Män­nern am Inter­net, das Klaus 1997 weit­sich­tig ins Blick­feld rück­te. Dazu for­ mu­lierte sie als Über­schrift eine pro­vo­kante Fra­ge: »Re­vo­lu­tio­niert Mul­ti­me­dia die Ge­schlech­ter­be­zie­hun­gen?« Ent­gegen der da­mals häu­fig zwi­schen Op­ti­mis­mus und Pes­si­mis­mus po­la­ri­sier­ten De­bat­ten for­derte sie da­bei ei­nen dif­fe­ren­zier­ten Blick: »In­for­ma­tions- und Kom­mu­ni­ka­tions­tech­no­lo­gien ent­fal­ten ihre Wir­kun­gen und er­hal­ten ihre Be­deu­tung in der Art und Wei­se, wie Men­schen diese in ihren im­mer so­zial ge­leb­ten All­tag ein­bin­den. In die­sem Pro­zess wer­den be­ste­hende Macht­un­gleich­ge­wichte ver­fes­tigt, aber auch par­tiell hin­ter­fragt und ver­än­dert. Die ge­sell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit der Tech­nik ist ein viel­deu­ti­ger Pro­zess und bleibt in bezug auf Ge­schlechter­de­fi­ni­tio­nen im­mer am­bi­va­lent.« (Klaus 1997: 18)

Klaus ver­deut­lichte in ihrer Ar­gu­men­ta­tion: Der Zu­sam­men­hang von Me­dien­tech­ no­lo­gie­ent­wick­lung und Ge­schlecht be­wegt sich stets im Span­nungs­feld zwi­schen (eigen­sin­ni­gen) An­eig­nungs­wei­sen und macht­ge­präg­ten ge­sell­schaft­li­chen Struk­ tu­ren. So hänge die Män­nern und Frauen zu­ge­schrie­bene »Fä­hig­keit oder Un­fä­hig­ keit, tech­ni­sche Ge­räte zu be­die­nen, [. . .] vor­ran­gig von de­ren in­stru­men­tel­ler und so­zia­ler Funk­tion ab, nicht von ihren tech­ni­schen Eigen­schaf­ten« (ebd.: 17), was Klaus im his­to­ri­schen Rück­blick ver­an­schau­lich­te: »Frauen be­die­nen vor al­lem sol­che tech­ni­schen Ge­räte und eig­nen sie sich an, die wie der Herd und die Wasch­ma­schine zur Er­fül­lung und Er­leich­te­rung ihrer häus­li­chen Auf­ga­ben die­nen oder wie Fern­se­hen und Tele­fon zur fa­mi­liä­ren Frei­zeit­ge­stal­tung, zur Pflege so­zia­ler Kon­takte und zur Über­win­dung so­zia­ler Iso­lie­rung ge­nutzt wer­den.« (Ebd.: 16) 1 Ein wei­te­rer Hin­ter­grund die­ser Weit­sicht lag si­cher auch in den gu­ten Kennt­nis­sen inter­na­tio­na­ler Ent­wick­lun­gen, die Eli­sa­beth Klaus im Rah­men ihrer Aus­lands­auf­ent­ halte ge­sam­melt hat­te. Sie selbst war in Deutsch­land eine Früh­nut­ze­rin der On­line­kom­ mu­ni­ka­tion – so ver­an­lasste sie eine der Au­to­rin­nen da­zu, Mitte der 1990er Jah­re, als beide zu­sam­men ei­nen Auf­satz schrie­ben und Eli­sa­beth Klaus sich an ei­ner Uni­ver­si­tät in Dub­lin auf­hielt, erst­mals E-Mails zum Aus­tausch der Texte zu nut­zen.

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Die Ho­heit über Ge­räte wie die Wasch­ma­schi­ne, die für den haus­häl­te­ri­schen Ge­ brauch be­stimmt sind, lag und liegt ›selbst­ver­ständ­lich‹ in weib­li­cher Hand, auch wenn dies nicht mit der (Selbst-)Zu­schrei­bung von Tech­nik­kom­pe­tenz ein­her­geht; und vie­len Män­nern bleibt die Funk­tions­weise die­ser Ge­räte ver­schlos­sen, was wie­derum nicht als Tech­nikinkompetenz re­kon­stru­iert wird. Im Rah­men sol­cher ver­ge­schlecht­lich­ten Dis­kurse wer­den Tech­nik­zu­gänge und -kom­pe­ten­zen von Frauen da­mit un­sicht­bar ge­macht. Klaus rückte sie ins Licht und hob eine wich­tige Ein­sicht her­vor: »His­to­risch ist der Zu­gang von Frauen zu Tech­no­lo­gie­ent­wick­ lun­gen durch ihre fa­mi­liäre Rolle be­stimmt« (Klaus 1997: 16) und folg­lich mit der häus­li­chen Sphäre ver­knüpft. An die­sen Zu­sam­men­hang möch­ten wir im Fol­gen­den an­knüp­fen und unsere Be­funde zur wei­te­ren Ent­wick­lung des Inter­nets bei­steu­ern. Klaus wies ihre Aus­ sage zwar aus­drück­lich als »his­to­risch« aus und darin ist ihr zwei­fel­los zu­zu­stim­ men, denn im Zeit­ver­lauf ha­ben für Frauen wei­tere Zu­gänge zu (di­gi­ta­len) Tech­ no­lo­gien im­mer grö­ßere Re­le­vanz be­kom­men, ins­be­son­dere Aus­bil­dung, Stu­dium und Be­ruf. Gleich­wohl be­le­gen unsere Be­funde die be­son­dere Re­le­vanz des häus­ li­chen Kon­tex­tes für die Aus­hand­lung der Ge­schlech­ter­ver­hält­nisse rund um die An­eig­nung des Inter­nets. Da­bei er­weist sich der häus­li­che Kon­text als am­bi­va­lent, weil hier ei­ner­seits Zu­gänge für in­ter­net­fern­ere Frauen und an­dere Grup­pen ent­ ste­hen kön­nen und an­de­rer­seits ge­sell­schaft­li­che (Ge­schlech­ter-)Hier­ar­chien und Dis­kurse re­pro­du­ziert und mit Le­ben ge­füllt wer­den. Wohl kaum je­mand hat 1997 bei Er­schei­nen des Auf­sat­zes von Klaus vor­aus­ge­se­hen, wie sehr die häus­li­che Sphäre der zen­trale An­eig­nungs­kon­text sein wür­de, in dem das Inter­net zum Mas­ sen­me­dium wur­de. Und weil das Zu­hause zu­gleich ein zen­tra­ler Ort ge­blie­ben ist, an dem Män­ner und Frauen im Zu­sam­men­le­ben als Paar Ge­schlech­ter­ver­hält­nisse ver­han­deln und prak­ti­zie­ren, be­trifft dies auch den Um­gang mit dem Inter­net. Wir wer­den im Wei­te­ren unser Pro­jekt und seine Me­tho­den kurz vor­stel­len (Abs. 2), um so­dann unsere Be­funde zu zwei aus­ge­wähl­ten The­men­be­rei­chen zu skiz­zie­ren: In Ab­schnitt 3 wer­den wir die sich wan­deln­den Ge­schlechter­kon­stel­ la­tio­nen bei den Zu­gän­gen zum Inter­net zwi­schen 1997 und 2007 auf­zei­gen, also im Jahr­zehnt nach Er­schei­nen des Bei­trags von Eli­sa­beth Klaus. In Ab­schnitt 4 ge­ hen wir dann an­hand von zwei Fall­stu­dien der von Klaus eben­falls auf­ge­wor­fe­nen Frage nach, in wel­chen Ge­schlechter­ar­ran­ge­ments Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben mit Hilfe des Inter­nets er­le­digt wer­den, und re­sü­mie­ren unsere Be­funde ab­schlie­ßend (Abs. 5). Eine Re­vo­lu­tion – so­viel sei vor­weg ver­ra­ten – hat nicht statt­ge­fun­den.

Vor­stel­lung des Pro­jekts und sei­ner Me­tho­den Die eth­no­grafisch orien­tier­ten Haus­halts­stu­dien, auf die sich unsere Be­funde stüt­ zen, stam­men aus drei zu­sam­men­hän­gen­den DFG-ge­för­der­ten For­schungs­pro­jek­

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ten über »Das me­dia­ti­sierte Zu­hause«. Im Rah­men ei­ner qua­li­ta­ti­ven Pa­nel­stu­die wurde der Zu­sam­men­hang zwi­schen der Me­dia­ti­sie­rung des Zu­hau­ses2 und dem Wan­del häus­li­cher Kom­mu­ni­ka­tions­kul­tu­ren unter­sucht. Er­kennt­nis­lei­tend sind da­bei Fra­gen nach der In­te­gra­tion des Inter­nets in den All­tag, nach des­sen Ein­ bin­dung in das häus­li­che Me­dien­re­per­toire so­wie nach Ge­schlechter­prak­ti­ken mit dem Inter­net und der Ent­ste­hung von Teil­ha­be. Mit Be­zug auf den im Um­feld der Cul­tu­ral Stu­dies ent­stan­de­nen Do­mes­ti­ zie­rungs­an­satz (vgl. Ber­ker et al. 2006; Rö­ser 2007; Sil­ver­stone 2006) und im Ein­klang mit Klaus (1997) fo­kus­sie­ren wir das Zu­hause als be­deu­tungs­stif­ten­den Kon­text me­dia­ler An­eig­nungs­pro­zes­se. Die kon­kre­ten zeit­li­chen und räum­li­chen Struk­tu­ren so­wie so­zia­len Inter­ak­tio­nen im Zu­hause prä­gen da­bei das Me­dien­han­ deln ebenso wie über­grei­fende ge­sell­schaft­li­che Dis­kurse (wie etwa be­züg­lich Ge­ schlecht), die im Häus­li­chen Re­le­vanz ent­fal­ten. Im Rah­men unse­rer Stu­die ha­ben wir 25 zu­sam­men­le­bende he­te­ro­se­xu­elle Paare zu drei Zeit­punk­ten – in den Jah­ren 2008, 2011, 2013 – in ihrem Haus­halt be­sucht und ge­mein­sam inter­viewt. Im Mit­tel­punkt der Unter­su­chung stand nicht das In­di­vi­ du­um, son­dern die mit dem Inter­net ver­bun­de­nen so­zia­len Si­tua­tio­nen, kom­mu­ni­ka­ ti­ven Prak­ti­ken und (ge­schlechts­ge­bun­de­nen) Aus­hand­lungs­pro­zesse in­ner­halb der Paar­be­zie­hung. Die Paare wur­den aus ei­ner vor­ge­schal­te­ten schrift­li­chen Be­fra­gung von 135 Haus­hal­ten aus­ge­wählt. Das Sample wurde sys­te­ma­tisch nach Al­ter und Schul­bil­dung quo­tiert, und es wurde eine Streu­ung wei­te­rer Merk­male si­cherge­stellt. Neben den leitfadengestützen Paar­inter­views ka­men wei­tere Er­he­bungs­in­stru­mente zum Ein­satz (vgl. aus­führ­lich: Rö­ser/Peil 2010; Peil/Rö­ser 2014).

Ge­schlechter­kon­stel­la­tio­nen bei Zu­gän­gen zum Intern ­ et (1997–2007) Interpretiert man die Daten zur Inter­net­nut­zung seit 1997 aus der Per­spek­tive des Do­mes­ti­zie­rungs­an­sat­zes, er­ge­ben sich – neben der Tat­sa­che, dass die Nut­zer­zah­ len sich ra­sant ver­viel­fach­ten – zwei we­sent­li­che Ein­sich­ten. Ers­tens lässt sich eine so­ziale Öff­nung des Inter­nets nach­zeich­nen, wel­ches im Ver­lauf ei­nes Jahr­zehnts von ei­nem Eli­te­me­dium zu ei­nem Me­dium für alle so­zia­len Grup­pen wur­de. Zwei­ tens wird deut­lich, dass die­ser Pro­zess der Öff­nung eng mit der Ver­häus­li­chung des Inter­nets und der Ver­min­de­rung sei­ner tech­ni­schen Rah­mung ver­bun­den war. Wir wol­len auf ent­spre­chende Daten hier nicht im Ein­zel­nen ein­ge­hen (vgl. dazu Rö­ ser/Peil 2010), son­dern viel­mehr die Ge­schlechter­kon­stel­la­tio­nen ge­nauer be­trach­ 2 Unter der Me­dia­ti­sie­rung (vgl. Krotz 2007) des Zu­hau­ses ver­ste­hen wir die wach­sende Durch­drin­gung der häus­li­chen Sphäre mit Me­dien, die durch die Ver­brei­tung des Inter­ nets an Dy­na­mik ge­won­nen hat (vgl. Peil/Rö­ser 2014).

Häus­li­che An­eig­nungs­wei­sen des Inter­nets  |  323

ten, die in Paar­haus­hal­ten da­bei re­le­vant wa­ren. Von In­ter­esse ist ins­be­son­de­re, wie diese sich im Zeit­ver­lauf ver­än­dert ha­ben. Wir ha­ben im ers­ten Inter­view 2008 aus­führ­lich auf das ver­gan­gene Jahr­zehnt zu­rück­ge­blickt und den ers­ten Kon­takt zum Inter­net, den wei­te­ren Ver­lauf der be­ ruf­li­chen wie pri­va­ten Inter­net­nut­zung so­wie die Kon­texte und Grün­de, das Me­ dium zuhause zu in­stal­lie­ren, mit den Paa­ren re­kon­stru­iert. Zu­nächst kön­nen in unse­rem Sample zwei Pha­sen der häus­li­chen Inter­net­ver­brei­tung bzw. -an­eig­nung unter­schie­den wer­den: die Früh­phase und die Öff­nungs­phase. Die Früh­phase reichte von 1995/1996 bis 1999; in die­ser Phase schaff­ten sich elf unse­rer 25 Haus­halte ei­nen häus­li­chen Inter­net­zu­gang an. Die Öff­nungs­phase be­gann mit den 2000er Jah­ren, hier konn­ten 14 der Haus­halte ver­or­tet wer­den. In der Früh­phase der Inter­net­do­mes­ti­zie­rung bil­de­ten Stu­dium und Be­ruf den do­mi­nan­ten Hin­ter­grund für die An­schaf­fung des Inter­nets. Die meis­ten der Paare hat­ten das On­line­me­dium zu­erst am Arbeits­platz oder im Stu­dium kennengelernt. In der Re­gel gab diese Er­fah­rung ent­schei­dende An­stöße für die Ein­füh­rung im Pri­va­ten. Ein teils prä­gen­der, teils be­glei­ten­der zwei­ter Hin­ter­grund für die häus­li­ che Inter­net­an­schaf­fung war in eben­falls der gro­ßen Mehr­heit die­ser Haus­halte ein be­son­de­res tech­ni­sches In­ter­es­se, ins­be­son­dere unter Män­nern. In die­sem Rah­men lie­ßen sich für die Früh­phase zwei Ge­schlechter­kon­stel­ la­tio­nen bei der Inter­net­an­schaf­fung und sei­ner häus­li­chen An­eig­nung auf­fin­den. Die tra­di­tio­nell-hier­ar­chi­sche Kon­stel­la­tion war da­von ge­prägt, dass der Mann als Ers­ter den Zu­gang zum Inter­net fand und die häus­li­che An­schaf­fung in­iti­ier­ te. Die Frau nutzte das Inter­net zu Be­ginn der häus­li­chen Im­ple­men­tie­rung gar nicht und hatte auch kein In­ter­esse dar­an; viel­fach dau­erte es noch Jah­re, bis diese Frauen mit der ei­ge­nen Nut­zung be­gan­nen. Der Ein­stieg und die ers­ten Jahre der Nut­zung ge­stal­te­ten sich so­mit asyn­chron. Diese Paare leb­ten all­ge­mein ein eher tra­di­tio­nell-arbeits­tei­li­ges Ge­schlech­ter­ver­hält­nis. Die Ko­die­rung des Inter­nets inter­agierte mit den all­ge­mei­nen Rol­len­auf­fas­sun­gen des Paa­res und sei­nen (ein­ ver­nehm­li­chen) Ar­ran­ge­ments ge­schlechts­spe­zi­fisch ver­teil­ter Auf­ga­ben­be­rei­che: Dem­nach unter­la­gen PC und Inter­net dem Ver­ant­wor­tungs­be­reich des Man­nes und gal­ten zuhause als männ­li­che Do­mä­ne. Als zwei­tes fan­den wir eine ega­li­täre Kon­ stel­la­tion, in der der Ein­stieg in die häus­li­che Inter­net­nut­zung syn­chron er­folg­te, Part­ner und Part­ne­rin also zeit­gleich mit dem neuen Me­dium in Kon­takt ka­men und sich ge­mein­sam für eine häus­li­che An­schaf­fung ent­schie­den (oder, so­weit sie zu die­ser Zeit noch kein Paar wa­ren, sich je­weils schon vor dem Zu­sam­men­zie­hen da­für ent­schie­den hat­ten). Bei die­sen Paa­ren han­delte es sich ins­be­son­dere um Stu­ die­ren­de, die sich mit ähn­lich ge­la­ger­ten, aus­bil­dungs­be­zo­ge­nen In­ter­es­sen dem Inter­net zu­wand­ten. Beide nutz­ten das Inter­net von Be­ginn an (mehr oder we­ni­ ger) glei­cher­ma­ßen kom­pe­tent. Auch die all­ge­meine Paar­be­zie­hung ge­stal­tete sich eher part­ner­schaft­lich und nicht tra­di­tio­nell-arbeits­tei­lig. Neben die­ser ega­li­tä­ren Kon­stel­la­tion spe­ziell im Stu­die­ren­den­mi­lieu war die Früh­phase der Inter­net­do­

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mes­ti­zie­rung aber ein we­sent­lich von Män­nern do­mi­nier­ter Pro­zess. Viele Frauen wa­ren nach Ein­zug des Inter­nets in ihr Zu­hause noch jah­re­lang von der Nut­zung aus­ge­schlos­sen, da sich an­fangs im Häus­li­chen keine be­son­dere Dy­na­mik ent­wi­ ckel­te, die die Teil­habe der Nicht­nut­ze­rin­nen ge­för­dert hät­te. In der Öff­nungs­phase ab dem Jahr 2000 rück­ten an­dere Zu­gänge zum Inter­net in den Vor­der­grund. In den Haus­hal­ten unse­res Sam­ples, die zwi­schen 2000 und 2007 erst­mals zuhause on­line gin­gen, wa­ren pri­vate In­ter­es­sen (z. B. Hob­by, Ver­ eins­kom­mu­ni­ka­tion, Ebay), Im­pulse aus dem so­zia­len Nah­be­reich (z. B. E-Mailen mit Fa­mi­lie und Freun­den) und wei­tere Kon­text­be­din­gun­gen (z. B. ein tech­ni­scher Hel­fer im so­zia­len Um­feld) ent­schei­dend (vgl. Rö­ser/Peil 2010). Ins­ge­samt stell­ten sich die Zu­gänge zum Inter­net in die­ser Öff­nungs­phase deut­lich viel­fäl­ti­ger und he­te­ro­ge­ner dar als noch in den 1990er Jah­ren; dies gilt auch in Be­zug auf die Ge­schlechter­kon­stel­la­tio­nen. Die trei­bende Kraft bei der An­schaf­fung des Inter­nets wa­ren so­wohl die männ­li­chen Part­ner (sie­ben Haus­ hal­te) als auch die Frauen (drei Haus­hal­te) als auch beide Part­ner glei­cher­ma­ßen (vier Haus­hal­te). Wäh­rend sechs der 14 Paare syn­chron, also zeit­gleich be­gan­nen, zuhause on­line zu ge­hen, fand in acht Haus­hal­ten der Inter­net­ein­stieg asyn­chron statt. Be­mer­kens­wert ist je­doch, dass ins­ge­samt schnel­ler ›mit- und nach­ge­zo­gen‹ wur­de, dass der Ein­stieg in die Inter­net­nut­zung bei den ›Nach­züg­lern‹ also im­ mer nur leicht ver­zö­gert statt­fand. Fast alle der am An­schaf­fungs­pro­zess we­ni­ger oder gar nicht be­tei­lig­ten Part­ne­rin­nen und Part­ner be­ka­men in­ner­halb kur­zer Zeit Im­pulse für die ei­gene Be­schäf­ti­gung mit dem neuen Me­dium. Nach­dem das Inter­net zuhause ver­füg­bar war, be­gan­nen sie von dem neuen Me­dium Ge­brauch zu ma­chen – teils ak­tiv und selb­stän­dig, teils mit Hil­fe­stel­lung ihres Part­ners bzw. ihrer Part­ne­rin. An­ders als in den 1990er Jah­ren blie­ben PC und Inter­net so­mit nicht lang­fris­tig und aus ei­nem arbeits­tei­li­gen Ge­schlech­ter­rol­len­ver­ständ­ nis her­aus die al­lei­nige Do­mäne nur ei­ner Per­son. Im Gegen­satz zur Früh­phase ist die Öff­nungs­phase des Inter­nets von ei­ner ho­hen Par­ti­zi­pa­tions­dy­na­mik ge­ kenn­zeich­net. Zur do­mi­nan­ten Ge­schlechter­kon­stel­la­tion wurde in den 2000er Jah­ren so die beid­sei­tige re­gel­mä­ßige Nut­zung des Inter­nets. Bi­po­lare Kon­stel­la­tio­nen ver­lo­ren an Re­le­vanz, eine männ­li­che Fe­der­füh­rung blieb aber größ­ten­teils be­ste­hen, da in den meisten Haus­hal­ten die tech­ni­sche Seite von PC und Inter­net wei­ter­hin im Zu­ stän­dig­keits­be­reich der männ­li­chen Part­ner (oder aber ex­ter­ner männ­li­cher Hel­fer) lag. Un­ab­hän­gig von ihren fak­ti­schen, teils nur be­grenz­ten Kennt­nis­sen wur­den sie in­ner­halb der Paar­be­zie­hung in ak­ti­ven Zu­schrei­bungs­pro­zes­sen bei­der Part­ner als Ex­perte kons­ti­tu­iert (vgl. auch Ah­rens 2009). In den Haus­hal­ten mit weib­li­chen In­itia­to­rin­nen blie­ben je­doch die Frauen fe­der­füh­rende An­wen­de­rin­nen zuhause. Die Aus­dif­fe­ren­zie­rung der Ge­schlechter­kon­stel­la­tio­nen mit ei­nem hö­he­ren En­ga­ge­ment von Frau­en, aber auch von inter­net­dis­tan­zier­ten Män­nern, war das Er­geb­nis ei­ner stär­ke­ren all­tags­kul­tu­rel­len Rah­mung und Nut­zung des Inter­nets.

Häus­li­che An­eig­nungs­wei­sen des Inter­nets  |  325

Die On­line-Nut­zung in Be­zug auf All­tags­or­ga­ni­sa­tion, Ser­vice und Kon­sum so­ wie die Ein­fü­gung des Me­diums in häus­li­che All­tags­rou­ti­nen stell­ten in der Breite be­trach­tet den zen­tra­len Trei­ber dar, durch den das Inter­net zum Mas­sen­me­dium wur­de. Das Inter­net wurde in der Öff­nungs­phase im­mer we­ni­ger nur als Arbeits­in­ stru­ment oder tech­ni­sche In­no­va­tion, son­dern zu­neh­mend als All­tags-, Kom­mu­ni­ ka­tions- und Unter­hal­tungs­me­dium wahr­ge­nom­men und seine ge­schlechts­ge­bun­ dene Ko­die­rung ver­lor an Re­le­vanz. Ver­gleich­ba­res war auch schon bei Tele­fon und Ra­dio zu be­ob­ach­ten, wie Klaus in ihrem Bei­trag auf­zeigte (vgl. Klaus 1997; auch Klaus et al. 1997; Klaus 2007). Die Ver­häus­li­chung ei­nes Me­diums kann den Wech­sel von ei­ner Rah­mung als Tech­no­lo­gie hin zu ei­ner Rah­mung als All­tags­ gegen­stand und da­mit ein ›De-Gen­de­ring‹ des Ge­rä­tes, d. h. ei­nen Re­le­vanz­ver­lust ge­schlechts­ge­bun­de­ner Ko­die­run­gen, ein­lei­ten (vgl. Rö­ser 2007). Eben dies ge­ schah in Be­zug auf das Inter­net ins­be­son­dere ab den 2000er Jah­ren.

Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben mit dem Inter­net: Zwei Fall­stu­dien Zu der Fra­ge, ob Mulitmedia die Ge­schlech­ter­ver­hält­nisse re­vo­lu­tio­niert, ge­hörte für Klaus auch die Frage nach der Ver­tei­lung der re­pro­duk­ti­ven Auf­ga­ben. So fragt sie, ob sich Män­ner künf­tig »auf­grund ihrer Kom­pe­tenz am Com­pu­ter [. . .] an den Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben be­tei­li­gen« (Klaus 1997: 10) wer­den. Im Fol­gen­den wol­ len wir die­ser Frage an­hand von Be­fun­den aus unse­rem For­schungs­pro­jekt nach­ ge­hen. Hierzu stel­len wir zwei Paare vor, die in unse­rem Sample kons­tras­tie­rende Fälle dar­stel­len und die sich in Be­zug auf ihren ers­ten Zu­gang zum Inter­net, den Ver­lauf ihrer Inter­net­an­eig­nung so­wie der Ver­tei­lung der re­pro­duk­ti­ven Tä­tig­kei­ ten mit dem Inter­net in­ner­halb der Paar­be­zie­hung stark unter­schei­den. Das Paar Zieg­ler: Nut­zungs­ge­fälle und häus­li­che Arbeits­tei­lung mit dem Inter­net im Wan­del Herr Zieg­ler (59) und Frau Zieg­ler (58) le­ben in ei­nem 100 m2 gro­ßen Rei­hen­eck­ haus in ei­ner Klein­stadt. Das Paar ist ver­hei­ra­tet und hat zwei er­wach­sene Töch­ter, die beide nicht mehr im El­tern­haus woh­nen. Herr Zieg­ler ist bei der Stadt in der EDV-Ab­tei­lung der ört­li­chen Ver­wal­tung an­ge­stellt. Frau Zieg­ler hat bis zu ihrem früh­zei­ti­gen Ren­ten­ein­tritt 2007 in Teil­zeit als Se­kre­tä­rin in ei­ner Arzt­pra­xis ge­ arbei­tet und war (und ist es noch) zu­sätz­lich für den Haus­halt zu­stän­dig. Das Paar Zieg­ler zeich­net sich 2008 durch ein be­son­ders gro­ßes Ge­fälle hin­sicht­lich der Inter­net­nut­zung und -kom­pe­ten­zen aus. Wäh­rend er über sei­nen Be­ruf den Zu­gang zum Com­pu­ter und deut­lich spä­ter auch zum Inter­net er­langt hat und 2008 das Inter­net zuhause recht re­gel­mä­ßig nutzt (E-Mails, On­line­ban­king, Ebay, Nach­rich­

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ten le­sen), war Frau Zieg­ler gegen­über Com­pu­ter und Inter­net von Be­ginn an sehr skep­tisch und ängst­lich. Zwar hat sie in ihrem Be­ruf als Se­kre­tä­rin wi­der­wil­lig den Um­gang mit dem Com­pu­ter er­lernt, sich spä­ter aber ge­wei­gert den Um­gang mit dem Inter­net »auch noch [. . .] zu ler­nen«. Sie schied dann vor­zei­tig aus dem Arbeits­le­ben aus. 2008 nutzt sie das Inter­net zuhause sel­ten und un­gern. »[In 25 Jah­ren] als Se­kre­tä­rin, habe [ich] mich eigent­lich im­mer gegen Com­pu­ter­arbeit ge­ sträubt, weil ich im­mer Angst da­vor hat­te. Aber ich bin dann doch froh ge­we­sen, im Nach­ hi­nein, nach­dem mein Mann mir denn da­bei sehr ge­hol­fen hat und ich Kurse be­sucht ha­be, dass ich das konn­te. [. . .] Aber ins Inter­net gehe ich nicht so ger­ne. Al­lei­ne. Weil [. . .] ich Angst ha­be, dass ich ir­gend­was Fal­sches an­kli­cke und nach­her mein Mann sagt ›Mensch, wie konn­test du doch nur!‹ (lacht).« (Frau Zieg­ler, 2008)

Es zeigt sich hier­bei die am­bi­va­lente Rolle der Paar­be­zie­hung für Pro­zesse der Inter­net­an­eig­nung. Ei­ner­seits er­mu­tigt und unter­stützt Herr Zieg­ler seine Frau bei der Nut­zung des Inter­nets. An­de­rer­seits fürch­tet Frau Zieg­ler die Re­ak­tio­nen ihres Part­ners bei et­wai­gen Feh­lern. Dar­über hin­aus ist Frau Zieg­ler der Mei­nung, ihr Mann würde zu viel Zeit im Inter­net ver­brin­gen. Die­ser Kon­flikt rahmt zu­sätz­lich die Inter­net­nut­zung in­ner­halb der Paar­be­zie­hung und er­klärt Frau Zieg­lers Ab­ wehr­hal­tung gegen­über dem Inter­net, das von ihr als Ge­fahr für ge­mein­same Zeit als Paar wahr­ge­nom­men wird. Be­züg­lich der Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben zeigt sich in die­ser Kon­stel­la­tion, dass Herr Zieg­ler durch das be­schrie­bene Nut­zungs­ge­fälle be­ginnt, im Auf­trag sei­ner Frau ei­nige Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben wie etwa das Er­wer­ben von Haus­halts­gegen­ stän­den im Inter­net zu über­neh­men. Herr Zieg­ler be­schreibt diese Kon­stel­la­tion wie folgt: »Sie nutzt schon das Inter­net. Aber in der Form, dass sie sagt ›Mach mal!‹« (Herr Zieg­ler, 2008). Tä­tig­kei­ten wie die Re­cher­che für Urlaube er­le­digt das Paar meist ge­mein­sam, in­dem Frau Zieg­ler ihrem Mann »über die Schul­ter guckt« (Herr Zieg­ler, 2008). 2011 und dann erst recht 2013 hat sich die Si­tua­tion in­ner­halb der Paar­be­zie­ hung ge­än­dert. Frau Zieg­ler hat sich dem Inter­net schritt­weise an­ge­nä­hert, nutzt es re­gel­mä­ßig und ist von den Mög­lich­kei­ten be­geis­tert. Als Gründe für diese Ent­ wick­lung nennt sie ihr In­ter­esse an Re­cher­chen für ge­mein­same Urlaube des Paa­ res, an der E-Mail-Kom­mu­ni­ka­tion mit Freun­din­nen und am Er­werb von Meiß­ner Ge­schirr über Ebay. Wäh­rend sie diese Tä­tig­kei­ten 2011 noch mehr­heit­lich zu­sam­ men mit ihrem Mann er­le­digte oder sich zu­min­dest von die­sem hel­fen ließ, be­wäl­ tigt sie dies 2013 dann selbst­stän­dig: »Ich be­kam von mei­ner Freun­din E-Mails. Und dann habe ich zu mei­nem Mann ge­sagt, ›zeig mir doch mal, wie das geht‹. Ich musste das da­mals im Büro auch ma­chen, aber da habe ich mich im­mer ge­wei­gert, weil ich das ziem­lich schwie­rig fand. Ja, und jetzt, [. . .] Ich weiß

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jetzt auch noch nicht so al­les, aber ich traue mich da jetzt schon al­leine dran, wenn mein Mann zur Arbeit ist und dann gu­cke ich auch al­leine nach.« (Frau Zieg­ler, 2013)

2013 schreibt sie eigen­stän­dig E-Mails mit Freun­din­nen und ihren Töch­tern, macht On­line­shop­ping, re­cher­chiert on­line ver­schie­denste Fra­gen und Urlaubs­in­for­ma­ tio­nen, be­stellt Blu­men für Ihren Mann und schreibt selbst Ho­tel­be­wer­tun­gen. Al­ ler­dings über­nimmt sie auch die meis­ten Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben, die Herr Zieg­ler vor­her in ihrem Auf­trag er­le­digt hat, nun wie­der selbst. Das Paar Sar­holz: Inter­net­nut­zung auf Au­gen­höhe Das Paar Sar­holz stellt in meh­re­ren Punk­ten ei­nen Kon­trast­fall zum Paar Zieg­ler dar. 2008 woh­nen Herr und Frau Sar­holz (41 und 32 Jah­re) in ei­ner ge­mein­sa­men Woh­nung in ei­ner Groß­stadt. Beide ha­ben stu­diert und arbei­ten Voll­zeit. Wäh­rend er als Sport­the­ra­peut tä­tig ist, hat sie eine Füh­rungs­po­si­tion als Lei­te­rin der Mar­ke­ ting- und PR-Ab­tei­lung ei­nes mit­tel­stän­di­schen Unter­neh­mens. Das Paar re­prä­sen­tiert die oben be­schrie­bene ega­li­täre Kon­stel­la­tion der Früh­ pha­se: Beide ha­ben über ihr Stu­dium schon 1995 den ers­ten Kon­takt zum Inter­net ge­fun­den und hat­ten be­reits früh ei­nen ei­ge­nen Inter­net­an­schluss in ihren da­ma­li­ gen Wohn­ge­mein­schaf­ten (Herr Sar­holz 1996, Frau Sar­holz ca. 1998). Frau Sar­ holz er­klärt hier­zu, sie sei da­mals als Frau ein »Aus­hän­ge­schild« ge­we­sen und »eine der we­ni­gen jun­gen Frauen [. . .], die schon ei­nen ei­ge­nen Com­pu­ter und Lap­top und Inter­net­an­schluss zu Hause« hat­ten (Frau Sar­holz, 2008). Dies be­ein­ druckte auch ihren Part­ner beim Ken­nen­ler­nen 2000. Das Paar lebt ins­ge­samt eine ega­li­täre Be­zie­hung und kann in Be­zug auf seine in­ten­sive Inter­net­nut­zung als ein Paar auf Au­gen­höhe be­schrie­ben wer­den. Da­bei küm­mert sich Herr Sar­holz stär­ker um tech­ni­sche und Soft­ware-Fra­gen, die er als Hobby be­trach­tet. Be­ruf­lich zeigt sich wie­der­um, dass Frau Sar­holz stär­ker ein­ge­bun­den ist als ihr Part­ner und das Inter­net »12 Stun­den am Tag« (Frau Sar­holz, 2008) nutzt, wäh­rend Herr Sar­holz im Be­ruf nur manch­mal Zu­gang zum Inter­net hat. Das Paar Sar­holz: Re-Tra­di­tio­na­li­sie­rung mit und ohne Inter­net In den Jah­ren 2008 bis 2013 las­sen sich an die­ser ega­li­tä­ren Kon­stel­la­tion al­ler­dings ent­schei­dende Ver­schie­bun­gen er­ken­nen. Im Zuge der Ge­burt ihrer Kin­der zei­gen sich in­ner­halb der Paar­be­zie­hung Ten­den­zen ei­ner Re-Tra­di­tio­na­li­sie­rung, wie sie in der so­zio­lo­gi­schen For­schung schon um­fas­send nach­ge­wie­sen wur­den (vgl. etwa Gru­now 2013), die sich auch in der Nut­zung des Inter­nets wi­der­spie­geln. Nach der Ge­burt des ers­ten Kin­des im Jahr 2008 über­nimmt Frau Sar­holz, die das erste Jahr in El­tern­zeit ging, den Groß­teil der re­pro­duk­ti­ven Tä­tig­kei­ten rund um Kin­der­ver­sor­gung so­wie Haus­halts­or­ga­ni­sa­tion, die sie so­weit wie mög­lich

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on­line ma­nagt. Dazu ge­hö­ren Ein­käu­fe, kin­der- und haus­halts­be­zo­gene An­schaf­ fun­gen so­wie ent­spre­chende Re­cher­chen. Das Inter­net schätzt sie da­bei als hilf­rei­ ches In­stru­ment, »weil man mit Kind eben auch nicht mehr so lo­cker-flo­ckig in die Stadt mal eben so geht. Es ist sehr viel prak­ti­scher, von zu Hause aus Dinge zu kau­ fen« (Frau Sar­holz, 2008). Als Herr Sar­holz das zweite Jahr El­tern­zeit über­nimmt, blei­ben die meis­ten Re­pro­duk­tions­auf­ga­ben (off­line und on­line) al­ler­dings in der Zu­stän­dig­keit von Frau Sar­holz, was zu ei­ner Dop­pel­be­las­tung führt: »Al­so, wir ha­ben zwar, sag’ ich mal, fak­tisch ge­tauscht, ich war [. . .] die Haupt­ver­die­ne­rin, aber [. . .] so­bald ich zur Haus­tür rein­kam, war ich wie­der 100 Pro­zent Ma­ma. Ich glaube ein­fach [. . .], da ich das auch schlecht ab­ge­ben konn­te, die Ver­ant­wor­tung, und wollte und ich darin auch so auf­ge­gan­gen bin, hat der Rol­len­tausch . . . so­bald ich zur Haus­tür rein­kam, ging es wie­der um­ge­kehrt und des­we­gen hab’ ich eben auch diese Be­rei­che nach wie vor über­nom­men.« (Frau Sar­holz, 2011)

Herr Sar­holz fühlt sich gleich­zei­tig in sei­ner Va­ter­rolle als »Out­law« und wie in »Iso­la­tions­haft« (Herr Sar­holz, 2011), da er ei­ner der we­ni­gen Vä­ter ist, die sich um das Kind küm­mern, und er sich den Müt­tern nicht zu­ge­hö­rig fühlt. Auch die kom­mu­ni­ka­ti­ven Mög­lich­kei­ten des Inter­nets än­dern hieran nichts. Der an­spruchs­volle Be­ruf von Frau Sar­holz, die Au­ßen­sei­ter-Rolle von Herrn Sar­holz als Va­ter in El­tern­zeit und die Schwie­rig­keit, die Ver­ant­wort­lich­kei­ten und re­pro­duk­ti­ven Tä­tig­kei­ten in der Paar­be­zie­hung neu auf­zu­tei­len, füh­ren schließ­lich da­zu, dass das Paar mit der Si­tua­tion »un­glück­lich« (Frau Sar­holz, 2011) ist, den ge­sam­ten »Rol­len­tausch« für ge­schei­tert er­klärt und nach der Ge­burt des zwei­ten Kin­des 2013 zu der gän­gi­gen Auf­tei­lung zu­rück­kehrt. Herr Sar­holz geht wie­der Voll­zeit arbei­ten und Frau Sar­holz in El­tern­zeit, die sie dies­mal plant, voll­stän­dig zu über­neh­men und an­schlie­ßend nur noch Teil­zeit in ihren Be­ruf ein­zu­stei­gen. Frau Sar­holz stellt ihre kom­pe­tente und viel­sei­tige Inter­net­nut­zung nun also ganz in den Dienst ihrer fa­mi­liä­ren Rol­le. Nach der Ge­burt ihrer Kin­der eta­blie­ren Herr und Frau Sar­holz also auch mit dem Inter­net eine häus­li­che Arbeits­tei­lung, die das Paar zwar – ebenso wie fast alle an­de­ren Paare – als Er­geb­nis per­sön­li­cher In­ter­es­sen dar­stellt. Al­ler­dings zeigt sich, dass die je­wei­li­gen Zu­stän­dig­keits­be­rei­che mit tra­dier­ten Ge­schlechter­dis­ kur­sen in Ver­bin­dung ste­hen, die schließ­lich in den Prak­ti­ken des Paa­res re­pro­du­ ziert und ver­stärkt wer­den. Auf die Fra­ge, ob Sie ihre je­wei­li­gen Auf­ga­ben mit dem Inter­net für ein Jahr tau­schen wür­den, ant­wor­tet Frau Sar­holz: »Al­so, ich würde nicht gerne tau­schen. [. . .] Ich müsste mich dann auf ein­mal um al­les, was die Elek­tro­nik ist, küm­mern, al­so, was sind die neu­esten Ge­rä­te? Was brau­chen wir da­von? [. . .] Wie sind die Test­er­geb­nis­se? Was sind die bes­ten Pro­duk­te? [. . .] Am Rande ver­stehe ich das und weiß auch so ein biss­chen was von der Tech­nik. Aber im De­tail weiß ich es nicht.

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Das ist mir auch zu an­stren­gend, mich da im­mer so auf dem Lau­fen­den zu hal­ten, was du [Herr Sar­holz], glaube ich, so ein biss­chen auch aus In­ter­esse her­aus machst [. . .]. Ich habe das eigent­lich nicht. [. . .] Ich habe frü­her ge­lernt, Rei­fen zu wech­seln, weil ich so er­zo­gen wur­de, dass man als Frau auch al­leine zu­recht­kom­men muss. Ich glau­be, ich könnte es halt heute nicht mehr, weil es im rea­len Le­ben ir­gend­wann so ist, man teilt sich auf.« (Frau Sar­ holz, 2013)

Re­sü­mee: Ge­schlechter­prak­ti­ken im All­tag als Kont ­ ext der Intern ­ eta ­ ne ­ ign ­ ung Die vor­ge­stell­ten Fälle ver­wei­sen auf den von Klaus her­aus­ge­stell­ten »en­gen Zu­ sam­men­hang von so­zia­len und tech­no­lo­gi­schen Be­zie­hun­gen, von ge­sell­schaft­li­ chen und tech­ni­schen Ent­wick­lun­gen« (Klaus 1997: 14). Sie zei­gen dar­über hin­aus, dass In­di­vi­duen »in der Art und Weise ihrer An­eig­nung und Aus­ein­an­der­set­zung mit Tech­no­lo­gien [. . .] ihre ge­schlecht­li­che Iden­ti­tät« aus­drü­cken (Klaus/Pa­ter/ Schmidt 1997: 813). Da­bei sind ver­schie­dene Kon­stel­la­tio­nen und Ent­wick­lun­gen in den An­eig­nungs­wei­sen des Inter­nets und hin­sicht­lich der Ver­tei­lung haus­halts­ be­zo­ge­ner Tä­tig­kei­ten mit dem Inter­net mög­lich. Das Inter­net war zu­nächst tech­nisch ge­rahmt und da­mit männ­lich ko­diert, was bei vie­len Frauen zu ei­nem Des­in­ter­esse oder wie bei Frau Zieg­ler zu ei­ner Scheu gegen­über dem neuen Me­dium führ­te. Auf­grund des Nut­zungs­ge­fäl­les über­nahm Herr Zieg­ler zu­nächst re­pro­duk­tive Tä­tig­kei­ten mit dem Inter­net. Al­ler­dings prä­ sen­tierte sich diese Kon­stel­la­tion als zeit­lich be­grenzte Über­gangs­pha­se. Denn über all­tags­be­zo­gene An­wen­dungs­mög­lich­kei­ten fand Frau Zieg­ler schließ­lich selbst den Zu­gang zum Inter­net, was auch dazu führ­te, dass haus­halts­be­zo­ge­ne Tä­tig­kei­ten mit dem Inter­net in ihre Zu­stän­dig­keit zu­rück­wan­der­ten, wie es auch Ah­rens (2009) bei aus­tra­li­schen Paa­ren fest­ge­stellt hat. Das heißt, das Me­dium an sich er­fuhr über seine In­te­gra­tion in den All­tag zwar ein De-Gen­de­ring. Al­ler­dings wur­den dann jene Ge­schlechter­dis­kurse für die Nut­zungs­wei­sen das Inter­nets re­le­ vant, die un­ab­hän­gig vom Me­dium den All­tag der Paare im Sinne ge­schlechts­ge­ bun­de­ner Arbeits­tei­lun­gen struk­tu­rie­ren. Dass sich mit der Ver­schie­bung der Funk­tio­nen des Inter­nets, im Zuge de­rer auch viele Frauen den Zu­gang zum Me­dium fan­den, des­sen tech­ni­sche Rah­mung ver­än­der­te, zeigt auch, dass der ge­schlech­ter­dif­fe­ren­zie­rende Dis­kurs um männ­li­ che Tech­nik­kom­pe­tenz eine Kon­struk­tion dar­stellt, die sich un­ab­hän­gig von em­pi­ risch fass­ba­ren Kom­pe­ten­zen oder In­kom­pe­ten­zen er­hält. Denn die Män­nern und Frauen zu­ge­schrie­bene Fä­hig­keit oder Un­fä­hig­keit tech­ni­sche Ge­räte zu be­die­nen, hängt, wie ein­gangs er­läu­tert, we­ni­ger von de­ren tech­ni­schen Eigen­schaf­ten ab, son­dern da­von, ob de­ren so­ziale Funk­tio­nen mit Män­nern oder Frauen in Ver­bin­ dung ge­bracht wer­den. »In der his­to­ri­schen Per­spek­tive ha­ben Män­ner wie Frauen

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im Rah­men ihrer je­wei­li­gen ge­schlechts­be­zo­ge­nen Le­bens­auf­ga­ben ei­nen an­ge­ mes­se­nen, auf die Lö­sung spe­zi­fi­scher Auf­ga­ben be­zo­ge­nen Um­gang mit Tech­ no­lo­gien er­lernt, sich Tech­no­lo­gien an­ge­eig­net, Tech­nik­kom­pe­tenz be­wie­sen.« (Klaus 1997: 17) Mit der Ver­schie­bung der Funk­tio­nen des Inter­nets hin zu all­tags­ be­zo­ge­nen Tä­tig­kei­ten ha­ben sich so zwar ge­schlechts­ge­bun­dene Un­gleich­hei­ten in Be­zug auf den Zu­gang zum Me­dium ver­min­dert. Al­ler­dings gilt das Inter­net nun an­wen­dungs­be­zo­gen nicht mehr als tech­nisch, so dass die nun rou­ti­niert nut­zen­den Frauen wie Frau Zieg­ler noch im­mer nicht als tech­nisch kom­pe­tent gel­ten und der dis­kur­sive Zu­sam­men­hang von Tech­nik­kom­pe­tenz mit Männ­lich­keit auf­recht­er­ hal­ten wer­den kann. Das Inter­net re­vo­lu­tio­niert die Ge­schlech­ter­ver­hält­nisse also nicht. Dies be­ legt be­son­ders ein­drück­lich die Fall­stu­die zum Paar Sar­holz: Sar­holz stell­ten in der ers­ten Pro­jekt­phase das ›Vor­zei­ge­paar‹ in Be­zug auf Ega­li­tät im Zu­sam­men­ le­ben und auch in der Inter­net­nut­zung dar. Der wei­tere Ver­lauf, der sich auch bei an­de­ren Paa­ren nach der Ge­burt von Kin­dern fand, be­legt dann, wie ge­sell­ schaft­li­che Struk­tu­ren und tra­di­tio­nelle Ge­schlechter­de­fi­ni­tio­nen Re­le­vanz ent­fal­ ten und wie das Paar seine Inter­net­nut­zung in diese Re-Tra­di­tio­na­li­sie­rung sei­nes Zu­sam­men­le­bens ein­fügt. Das Me­dium half we­der Herrn Sar­holz aus sei­ner Iso­la­ tion als Va­ter in Er­zie­hungs­zeit noch Frau Sar­holz bei der Lö­sung ihres Kon­flikts zwi­schen Voll­zeit-Füh­rungs­po­si­tion und Mut­ter­rol­le. »›Neue Männ­lich­keit‹ und ›neue Weib­lich­keit‹, wie auch im­mer de­fi­niert, wer­den sich nicht auf tech­ni­schem Wege durch­set­zen.« (Klaus 1997: 18). Gleich­wohl »han­deln Män­ner und Frauen nicht in je­dem Fall im Sinne der De­fi­ni­tio­nen von ›männ­li­chen‹ und ›weib­li­chen‹ Tech­no­lo­gien« (Klaus 1997: 18). Dies be­le­gen in der Früh­phase die ega­li­tä­ren Paare aus dem Stu­die­ren­den­mi­lieu, bei denen die Inter­net­an­eig­nung be­reits auf Au­gen­höhe er­folg­te. Und dies ver­an­schau­li­chen auch die­je­ni­gen Haus­halte der Öff­nungs­pha­se, in denen die Frau die Fe­der­füh­rung bei An­schaf­fung und Nut­zung des Inter­nets hat­te.

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Wenn Teen­ager Müt­ter wer­den

Wenn Teen­ager Müt­ter wer­den Zur Re­prä­sen­ta­tion pre­kä­rer jun­ger Müt­ter im Rea­li­ty-TV Irm­traud Voglm­ayr

Ein­lei­tung »Sie sind selbst noch Kin­der und ste­hen vor der Her­aus­for­de­rung ihres El­tern­ seins«, heißt es in der An­kün­di­gung des Pri­vat­sen­ders ATV zur Do­ku-Soap »Teen­ager wer­den Müt­ter«1. Wie in vie­len Rea­li­ty-TV-For­ma­ten wird auch hier ein ge­sell­schaft­lich re­le­van­tes Thema auf­ge­grif­fen mit dem An­spruch, nicht nur Unter­hal­tung zu bie­ten, son­dern auch Wis­sen zu ver­mit­teln, das nicht im so­zia­len Um­feld be­reit­ge­stellt wird. Schwan­ger­schaf­ten im Ju­gend­al­ter sind in Ös­ter­reich keine Sel­ten­heit. So wer­den je­des Jahr rund 2.000 Mäd­chen vor ihrem 20. Le­bens­ jahr schwan­ger, und im Jahr 2013 wa­ren zehn Mäd­chen so­gar jün­ger als 15, als sie ihr ers­tes Kind zur Welt ge­bracht ha­ben2. For­mate wie diese ATV-Do­ku-Soap pro­ble­ma­ti­sie­ren Tech­ni­ken der Le­bens­ füh­rung, die vor al­lem Mäd­chen und jungen Frauen aus den unte­ren Schich­ten der Ge­sell­schaft zu­ge­schrie­ben wer­den, und sie stel­len eine spe­zi­fi­sche Aus­dif­fe­ren­ zie­rung des Rea­li­ty-Fern­se­hens dar, das sich seit den 1990er Jah­ren durch­ge­setzt hat. In die­sem Kon­text fun­giert Fern­se­hen zu­neh­mend als Dienst­leis­tungs­agen­tur, in­dem es Wis­sen zur Ver­fü­gung stellt, das die Ein­übung von Kom­pe­ten­zen der Selbst­füh­rung, Selbst­in­sze­nie­run­g und -op­ti­mie­rung jun­ger Müt­ter unter­stützt (vgl. Sei­er/Surma 2008: 174). Gleich­zei­tig wer­den diese Le­bens­stile ei­ner be­stimm­ten In­sze­nie­rung und Nar­ra­ti­vi­sie­rung in Form ei­ner dra­ma­ti­schen und af­fek­ti­ven Auf­ la­dung und Zu­spit­zung unter­zo­gen. Ein wei­te­res we­sent­li­ches Merk­mal die­ses Fern­seh-Genres ist die Ent­gren­zung zwi­schen Öf­fent­lich­keit und Pri­vat­heit; Fra­

1 Das er­folg­rei­che TV-For­mat »Teen­ager wer­den Müt­ter« kann mitt­ler­weile acht Staf­feln ver­bu­chen; die letzte Folge wurde am 28. Ok­to­ber 2014 auf dem ös­ter­rei­chi­schen Pri­ vat­sen­der ATV aus­ge­strahlt. 2 Wenn Teen­ager schwan­ger wer­den – Ge­sund­heits­por­tal: www.ge­sund­heit.gv.at/Por­tal. No­de/ghp/pu­blic/con­tent/Tee­na­ger­schwan­ger­schaft_HK.html (10.12.2014).

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gen des pri­va­ten Le­bens wie Se­xua­li­tät, Lie­be, Ver­hü­tung und Schwan­ger­schaft wer­den zum Gegen­stand me­dia­ler In­sze­nie­run­gen und so­mit öf­fent­lich ver­han­delt. Der An­spruch, so­wohl Kan­di­dat_in­nen als auch Re­zi­pient_in­nen me­dial mit »so­ zia­lem Wis­sen« zu ver­sor­gen, steht ei­ner­seits in Zu­sam­men­hang mit dem neo­li­ be­ra­len Sub­jekt, das zu Selbst­kon­trol­le, Selbst­ver­ant­wor­tung und Selbst­steue­rung ver­pflich­tet wird (vgl. De­mi­ro­vic 2010; Tho­mas 2008). Zum an­de­ren ruft das me­ dia­le ­Ein­drin­gen in diese pre­kä­ren­Le­bens­wel­ten eine neue bzw. er­neu­te T­he­ma­ti­ sie­rung von Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit und Klas­sen­gren­zen her­vor. So stellt sich auch am Bei­spiel des ATV-For­mats »Teen­ager wer­den Müt­ter« die Fra­ge, wel­che Ab­sich­ten ver­fol­gen (Me­dien-)Pro­du­zent_in­nen, im­pli­zit oder ex­pli­zit, wenn sie uns tag­täg­lich mit me­dia­len Re­prä­sen­ta­tio­nen von Frauen und Män­ner aus den unte­ren Ge­sell­schafts­schich­ten kon­fron­tie­ren? Und wel­cher Ideo­ lo­gie folgt die Dar­stel­lung des Unter­schich­ten­kör­pers? Wird in unse­rem Bei­spiel das Fern­se­hen zu ei­nem Raum, in dem pre­käre junge Müt­ter eine »an­er­ken­nende Sicht­bar­keit« (Schaf­fer 2008) er­fah­ren? Oder han­delt es sich bei die­ser me­dia­len In­sze­nie­rung um die er­neute Fest­le­gung und Fest­schrei­bung von Klas­sen­gren­zen, fest­ge­macht am weib­li­chen Kör­per (vgl. McRob­bie 2010)? Da­bei ist wei­ters zu the­ ma­ti­sie­ren, in­wie­weit diese Re­prä­sen­ta­tio­nen be­reits eine fa­vo­ri­sierte Be­deu­tung im Hin­blick auf Re­zep­tion und An­eig­nung vor­struk­tu­rie­ren (vgl. Mi­kos 2001).

Fern­se­hen als Dienst­leis­tungs­agen­tur Die Ent­wick­lun­gen der letz­ten Jahre zei­gen, dass Fern­se­hen als Dienst­leis­tungs­ agen­tur in der neo­li­be­ra­len Ge­sell­schafts­ord­nung über »Mitmach-Angebote« in zu­neh­men­dem Maße die Auf­gabe über­nimmt, Wis­sen über das all­täg­li­che Le­ ben, das nicht in den Schu­len und im so­zia­len Um­feld ge­lehrt wird, vor al­lem den unte­ren Klas­sen in der Ge­sell­schaft zur Ver­fü­gung zu stel­len (vgl. McRob­bie 2010; Sei­er/Surma 2008). Ba­sie­rend auf der Her­stel­lung von Pro­blem und Lö­sung, wer­ den die als pro­ble­ma­tisch de­kla­rier­ten Aus­gangs­la­gen der Kan­di­dat_in­nen und die in Aus­sicht ge­stell­ten Lö­sun­gen durch das Wis­sen von Expert_innen in eine te­le­vi­ su­elle Er­zäh­lung ein­ge­las­sen (vgl. Sei­er/Surma 2008: 175). Fern­se­hen er­mög­licht dem­nach, man­gelnde Res­sour­cen aus­zu­glei­chen oder zur Ver­fü­gung zu stel­len, um eine mög­lichst ef­fiz­ iente An­pas­sung des In­di­vi­du­ums an die so­zia­len Ver­hält­ nisse zu be­wir­ken. TV-Cas­ter_in­nen trei­ben sich in se­gre­gier­ten Stadt­tei­len her­um, in Ge­mein­de­bau­ten, in Parks, auf Stra­ßen und im­mer häu­fi­ger auf Fa­ce­book und spre­chen Men­schen – oft­mals mit Fo­kus auf mar­gi­na­li­sierte Kör­per – an, um sie für das reich­hal­tige »Mitmach-Angebot« zu wer­ben. Im Unter­schied zu den klas­si­ schen Rat­ge­ber­sen­dun­gen der Ver­gan­gen­heit wer­den aus den Zu­schau­er_in­nen nun po­ten­zielle Kan­di­dat_in­nen und in die­sem Sinne wird das zur Ver­fü­gung ge­stellte Wis­sen – Kör­per­han­deln, Ge­bur­ten und Schön­heits­ma­ni­pu­la­tio­nen wie Brust-OPs

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vor lau­fen­der Ka­mera – auch am und mit dem ei­ge­nen Kör­per nach­voll­zieh­bar und »er­leb­bar« ge­macht (vgl. Sei­er/Surma 2008: 175). Zum fes­ten Re­per­toire des sogenannten Life­style-Fern­se­hens, ins­be­son­dere in Sty­ling- und Schön­heits­do­kus, ge­hö­ren Ma­keo­ver-Pro­gramme und der für sie ty­pi­sche Vor­her-Nach­her-Mo­dus, bei dem ein de­fi­zi­tä­res Vor­her des Selbst in ein op­ti­mier­tes Nach­her über­führt wird (vgl. ebd.: 182). Wo­bei der Nach­hal­tig­keits­as­pekt für die Kan­di­dat_in­nen, wenn sie den me­dia­len Auf­merk­sam­keits­raum ver­las­sen und in ihre rea­len All­tags­wel­ten zu­rück­keh­ren, bis­lang eine Leer­stelle bil­det. In die­ses Ineinander von Me­dien­tech­no­lo­gien und Selbst­tech­no­lo­gien reiht sich auch das er­folg­rei­che ATV-For­mat »Teen­ager wer­den Müt­ter«ein, das jun­gen schwan­ge­ren Frauen die Mög­lich­keit bie­tet, ih­re­ pre­käre Le­bens­lage bzw. ihren Le­bens­stil öf­fent­lich zu ver­han­deln, in­dem ih­nen Expert_innen zur Seite ge­stellt wer­den, die sie zur Selbst­füh­rung an­lei­ten. In die­sem Zu­sam­men­hang ko­ope­rierte die Do­ku-Soap in der An­fangs­zeit mit »Young Mum«, ei­nem »Kom­pe­tenz­zen­trum für ju­gend­li­che Schwan­gere und Teen­ager-El­tern so­wie de­ren Fa­mi­lien­um­feld«3, das auf Be­ra­tung und Be­glei­tung aus­ge­rich­tet ist. Folg­lich wird die­ses Genre, das auf dem Cas­ting-Prin­zip be­ruht, (ver­meint­lich) auch als »De­mo­kra­ti­sie­rungs­in­ stru­ment« be­grif­fen, »da hier eine ge­wisse Um­ver­tei­lung von kul­tu­rel­lem Ka­pi­tal statt­fin­det« (McRob­bie 2010: 187). Ge­meint ist, dass pre­kä­ren jun­gen Mäd­chen und Frauen ein be­stimm­ter Zu­gang zu kul­tu­rel­len Fä­hig­kei­ten und Fer­tig­kei­ten so­wie so­zia­lem Wis­sen via Fern­se­hen er­öff­net wird, das zu ver­bes­ser­ten Le­bens­ chan­cen füh­ren soll. Al­ler­dings greift das Fern­se­hen exis­tie­rende so­ziale und ge­ schlecht­li­che Dif­fe­ren­zie­run­gen auf und in­sze­niert diese ent­lang der Dar­stel­lungs­ mus­ter Pri­va­ti­sie­rung und In­ti­mi­sie­rung of­fen­sicht­lich und kli­schee­haft, manch­mal auch ex­zes­siv. Durch diese Kli­schees wer­den ideo­lo­gi­sche Nor­men ge­stützt, und so­mit er­wei­sen sich Kli­schees als macht­volle Kon­struk­teure des Com­mon Sense und hal­ten ihn am Zir­ku­lie­ren (vgl. Fiske 1997: 54).

Die In­sze­nie­rung jun­ger, pre­kä­rer Müt­ter Teen­ager-Schwan­ger­schaf­ten wer­den im be­völ­ke­rungs­po­li­ti­schen Dis­kurs »glei­ cher­ma­ßen als ge­sund­heits­ge­fähr­dend wie als vor­ran­gig nicht ge­wollt« (Schultz 2006: 280) kon­stru­iert. Diese Mäd­chen gel­ten als pro­misk und des­halb vie­len Ge­fah­ren wie eben un­ge­woll­ten Schwan­ger­schaf­ten oder se­xuel­ler Ge­walt aus­ ge­setzt. Sie wer­den als Gegen­bild zu je­nen Frauen kon­stru­iert, die ihre Se­xua­li­tät und Ge­bär­fä­hig­keit selbst­be­stimmt und nach ge­sund­heit­li­chen Kri­te­rien ra­tio­nal pla­nen. »Schwan­gere Ju­gend­li­che er­schei­nen als de­mo­gra­phi­sche Be­dro­hung und 3 Dieses Zen­trum stellt Schwan­ge­ren­be­treu­ung und Ge­burts­hilfe für junge Frauen und Mäd­chen zwi­schen 17 und 22 Jah­ren be­reit.

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pa­tho­lo­gi­sches Po­ten­zial« (Schultz 2006: 287), und sie wer­den zu­meist im be­völ­ ke­rungs­po­li­ti­schen Dis­kurs als In­di­vi­duen ohne so­ziale Ein­bin­dung und als städ­ti­ sche Ju­gend­li­che dar­ge­stellt. Auch die in der Do­ku-Soap agie­ren­den jun­gen Mäd­ chen und Frauen wi­der­spre­chen dem Aus­gangs­punkt und der Ziel­vor­stel­lung »der me­di­ka­li­sier­ten be­völ­ke­rungs­po­li­ti­schen Pro­gram­ma­tik« (ebd.: 287) die Frauen vor­sieht, die zwei bis drei Kin­der ha­ben wol­len und diese in ge­bühr­li­chem Ab­ stand und im rich­ti­gen Al­ter zur Welt zu brin­gen be­ab­sich­ti­gen. Dass aber ei­nige der dar­ge­stell­ten jun­gen Müt­ter, die ei­nen ri­si­ko­rei­chen Le­bens­stil pfle­gen und nicht im »rich­ti­gen« Al­ter ge­bä­ren, durch­aus von ei­ner ge­woll­ten Schwan­ger­schaft spre­chen und diese auch als Sinn­stif­tung er­fah­ren, geht in die­sem he­ge­mo­nia­len Dis­kurs ver­lo­ren. So freut sich die 17-jäh­rige Schul­ab­bre­che­rin Bianca4 auf ihr Ba­ by, weil sie be­reits ein Kind ab­ge­trie­ben hat und lange Zeit mit ihrem schlech­ten Ge­wis­sen ge­kämpft hat, und auch für die 16-jäh­rige Sa­brina5, die vom Kinds­va­ter ver­las­sen wur­de, kommt eine Ab­trei­bung nicht in Fra­ge: »Leu­te, die sa­gen, sie ha­ben ab­ge­trie­ben, weil sie so jung sind, ge­hen mir auf den Nerv. Es ist egal, wie alt man ist, wenn man schon be­reit ist für Sex, dann muss man auch da­mit rech­nen, dass was schief geht und dass Kin­der dann halt ent­ste­hen kön­nen. Ein Le­ben ist ein Le­ben, und ich hab mich fürs Le­ben ent­schie­den.«

Die dis­kon­ti­nu­ier­li­chen Bil­dungs­ver­läufe jun­ger Müt­ter in pre­kä­ren Le­bens­ver­ hält­nis­sen zei­gen, dass in vie­len Fäl­len Schul­mei­dung, aus­ge­löst durch Angst vor Ver­sa­gen und Zu­rück­wei­sung, eine »Flucht« in die Mut­ter­schaft be­wirkt (vgl. Ans­ lin­ger 2009). So fo­kus­siert auch »Teen­ager wer­den Müt­ter« junge Frauen ohne Bil­dungs­ka­pi­tal, die die Haupt­schule ab­ge­bro­chen oder den Haupt­schul­ab­schluss nach­ge­holt ha­ben, 19 Jahre oder noch jün­ger sind, be­reits ein bis zwei Kin­der ver­ sor­gen müs­sen und im­mer noch kei­nen Lehr­ab­schluss auf­wei­sen kön­nen. Das schwan­gere Unter­schich­ten­mäd­chen, McRob­bie spricht von »pram­face«, das im Wis­sen­schafts­dis­kurs »als ohn­mäch­tig und un­fä­hig über Se­xua­li­tät und Fort­pflan­zung ent­schei­den zu kön­nen« (Schultz 2006: 286) kon­stru­iert wird, wird uns hier als jun­ges, un­ge­bil­de­tes Mäd­chen vor­ge­führt, des­sen ver­ge­schlecht­lich­ ter Klas­sen­ha­bi­tus sich in Er­schei­nungs­bild, Sprech­weise und Ge­schmacks­kul­tur äu­ßert (vgl. McRob­bie 2010: 176 f.). De­fi­zi­täre Re­prä­sen­ta­tio­nen wie die­se, mit der die herr­schende Klas­sen­ge­sell­schaft auch im sogenannten pri­va­ten Be­reich durch All­tags­prak­ti­ken ab­ge­si­chert wird, pro­du­zie­ren viel­fach Ver­ach­tung, so­ziale Ab­gren­zung und Her­ab­set­zung der Kan­di­dat_in­nen und le­gen Vor­stel­lun­gen und Vor­ur­teile über Teen­ager-Müt­ter fest. Fern­seh­sen­dun­gen sind grund­sätz­lich me­ diale Be­arbei­tun­gen von Rea­li­tät, und diese me­diale Be­arbei­tung zeigt sich auch 4 Bianca ist Teil­neh­me­rin in »Teen­ager­wer­den Müt­ter«, Staf­fel 1, Folge 5. Min. 15:04. 5 Sa­brina ist Kan­di­da­tin in der 7. Staf­fel, Folge 5. Min. 5:50.

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in ihrer äs­the­ti­schen Ge­stal­tung. Also geht es nicht nur dar­um, was in die­sen For­ ma­ten er­zählt wird, son­dern wie die Er­zäh­lung in­sze­niert wird (vgl. Mi­kos 2001: 329). Das me­diale Ab­zie­len auf pre­käre Le­bens­wel­ten funk­tio­niert dem­nach so, dass ein Unter­klas­sen-Ha­bi­tus in­sze­niert und zur Schau ge­stellt wird und da­bei Denk-, Hand­lungs- und Ver­hal­tens­wei­sen ge­zeigt wer­den, die nicht als Aus­druck ge­sell­schaft­li­cher Un­gleich­heits­ver­hält­nis­se, son­dern als Ver­sa­gen der In­di­vi­duen (der jun­gen Müt­ter), die mit ihrem Le­ben, ihrer Se­xua­li­tät nicht rich­tig um­ge­hen kön­nen, ge­deu­tet wer­den. Ver­tre­ter ei­ner kon­ser­va­ti­ven so­zio­lo­gi­schen Her­an­ge­hens­weise wie Paul ­Nolte, se­hen Kul­tur und Le­bens­stil der Unter­schich­ten von der öko­no­mi­schen Ba­ sis längst ent­kop­pelt (Nol­te 2003, zit. in Klaus/Rö­ser 2008: 265). Kul­tu­relle Pra­ xen und ma­te­riel­les Ka­pi­tal wer­den nicht mehr län­ger in ei­nen Zu­sam­men­hang ge­setzt, son­dern die Be­stim­mung der unte­ren so­zia­len Klasse er­folgt dann über frühe Schwan­ger­schaft, fal­sche Er­näh­rung, fal­sche Er­zie­hung, Dis­zi­plin­lo­sig­keit, die im­mer wie­der im so­zia­len Um­feld re­pro­du­ziert wer­den. Nicht the­ma­ti­siert wird in die­sen Re­prä­sen­ta­tio­nen des »Unter­schich­ten­fern­se­hen-Dis­kurs« (vgl. Klaus/ Rö­ser 2008) der fun­da­men­tale ge­sell­schaft­li­che Um­bruch, mit dem brü­chige staat­ li­che Si­che­rungs­sys­teme und eine hand­feste Krise der Er­werb­sar­beits­ge­sell­schaft ­ein­her­ge­hen (vgl. Cas­tel 2009). Zu den Ver­wund­ba­ren in die­sem Sys­tem zäh­len die Young Mums, denen durch die In­kor­po­rie­rung pre­kä­rer Le­bens­ver­hält­nisse – er­ schwer­ter Zu­gang zu Bil­dungs­ein­rich­tun­gen und in der Folge zu Arbeit, von der man le­ben kann – die Aus­sicht auf so­ziale Mo­bi­li­tät ver­wehrt bleibt. Im gegen­ wär­ti­gen Pre­ka­ri­sie­rungs­pro­zess, der sich von den Rän­dern zur ge­sell­schaft­li­chen Mitte bewegt und mitt­ler­weile die ge­samte Le­bens­weise um­fasst, sind diese auf Ver­sor­gungs­arbeit fest­ge­leg­ten jun­gen Frauen mit Kin­dern, ob als Al­lein­er­zie­he­rin oder in schwie­ri­gen Be­zie­hungs­kon­stel­la­tio­nen, vom Aus­schluss von al­len durch­ schnitt­li­chen Le­bens­chan­cen am stärks­ten be­trof­fen (vgl. Ans­lin­ger 2009).

Wis­sens­ver­mitt­lung Vor die­sem ge­sell­schaft­li­chen Hin­ter­grund stellt sich dann die Fra­ge, wel­chen An­ teil hat­das Life­style-TV-For­mat »Teen­ager wer­den Müt­ter« an der Pro­duk­tion von Wis­sen zum Thema »Ju­gend­schwan­ger­schaf­ten«. Se­riöse Expert_innen wie Heb­ am­men, Me­dia­torin­nen und Gynäkolog_innen be­glei­ten die jun­gen Frauen und Mäd­chen und leis­ten Auf­klä­rungs- und Be­treu­ungs­arbeit im Hin­blick auf Schwan­ ger­schaft, Ge­burts­vor­be­rei­tung und ei­nem Le­ben mit Kind. Wis­sen setzt sich al­ ler­dings nicht nur aus Expert_innenwissen zu­sam­men, son­dern ist das Er­geb­nis ei­nes Inter­ak­tions­pro­zes­ses, in den die Ak­ti­vi­tät al­ler Be­tei­lig­ten, ein­schließ­lich die der Wis­sens­ob­jek­te, ein­geht (vgl. Ha­ra­way 1995: 20). So ist es die Band­breite der Ge­füh­le, der Um­gang mit Emo­tio­nen wie Angst, Freu­de, die Kör­per­prak­ti­ken

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der Kan­di­dat_in­nen ebenso wie die me­di­zi­ni­schen Ge­räte wie Ul­tra­schall, me­di­zi­ ni­sche Ein­rich­tun­gen etc., die in die Wis­sens­pro­duk­tion ein­flie­ßen. Ins­be­son­dere in der ers­ten Staf­fel wird um­fang­rei­ches Wis­sen über Ver­hü­tungs­me­tho­den, Ab­trei­ bun­gen, Schwan­ger­schafts­gym­nas­tik, um den Be­cken­bo­den zu trai­nie­ren, na­tür­li­ che Ge­burt, Still­ver­hal­ten, Ba­by­schwim­men als Früh­för­de­rung etc. zur Ein­übung ver­füg­bar ge­macht. Die Ex­per­tin­nen/Heb­am­men von Young Mum6 spre­chen in die­sem Zu­sam­men­hang von ei­ner gu­ten, re­spekt­vol­len Zu­sam­men­arbeit mit dem Pri­vat­sen­der ATV in den ers­ten Fol­gen, in denen sie mit be­kann­ten Mäd­chen aus ihrem ei­ge­nen Be­ra­tungs­zen­trum ge­arbei­tet ha­ben. Im Unter­schied zu an­de­ren Life­style-For­ma­ten wie »In der Schul­den­falle« (vgl. Voglm­ayr 2012) unter­schei­ det sich in die­sem For­mat der Be­ra­ter_in­nen-Mo­dus von der gän­gi­gen Pra­xis der öf­fent­li­chen Her­ab­set­zung macht­lo­ser Per­so­nen durch Frau­en, die über ein ent­ spre­chen­des kul­tu­rel­les Ka­pi­tal bzw. Fach­wis­sen ver­fü­gen, mit dem auch Klas­sen­ gren­zen fest­ge­legt wer­den. Auf­ge­bro­chen wird die Be­ra­te­rin-Kan­di­da­tin-Hier­ar­ chie vor al­lem von den Heb­am­men, die »so­zial orien­tiert« den jun­gen TV-Müt­tern mit ei­ner em­pa­thisch-wert­schät­zen­den Hal­tung be­geg­nen. »Ich habe eine große Hoch­ach­tung vor den Mäd­chen, die ihre Kin­der auf die Welt brin­gen und diese Cou­rage ha­ben, mit ihren Bäu­chen durch die Ge­gend zu lau­fen und sich teil­weise or­dent­lich was an­hö­ren müs­sen, weil sie so jung sind und/also sehr be­lei­di­gend bis unter die Gür­tel­li­nie be­lei­di­gend und trotz­dem tra­gen die ih­ren Bauch und ge­bä­ren so tap­fer und so tüch­tig.« (Reim-Hofer)

Mit Aus­sa­gen wie die­sen tre­ten die Expert_innen/Hebammen der er­nied­ri­gen­den Sprech­weise über die »selbstverschuldete« Le­bens­füh­rung der jun­gen Frauen aus der »Unter­schicht« (McRob­bie) im me­dia­len Raum ent­ge­gen. Rea­li­ty-Fern­se­hen hätte so­mit das Po­ten­zial, den Rezipient_innen Zugang und Mög­lich­keit zur Aus­ ein­an­der­set­zung mit dem Un­be­kann­ten zu er­öff­nen, in­dem es Ein­bli­cke in All­tags­ hand­lun­gen, in ge­lebte Er­fah­run­gen, in die pre­käre Le­bens­weise der Her­kunfts­klas­ sen die­ser jun­gen Schwan­ge­ren und Müt­tern ge­währt. An­sprü­che, eine be­stimmte Le­bens­weise zu ver­ste­hen und be­stimmte Le­bens­prak­ti­ken an­zu­er­ken­nen, wie sie einst die Cul­tu­ral Stu­dies in Be­zug auf die Arbei­ter_in­nen­klasse for­mu­liert ha­ben (vgl. Mi­kos 2001: 324 f.), wer­den aber im Ver­lauf des For­mats rasch auf­ge­ge­ben. In ei­nem Ver­gleich zwi­schen der ers­ten Staf­fel und den letzten bei­den Staf­feln (7 und 8) lässt sich ein dra­ma­ti­scher Wan­del fest­zu­stel­len: Wäh­rend in der ers­ten Staf­fel eine um­fang­rei­che Be­reit­stel­lung von Op­tio­nen der Selbst­be­arbei­tung und -op­ti­mie­rung be­züg­lich des The­mas so­wohl für die Kan­di­dat_in­nen als auch für die Re­zi­pient_in­nen ­ver­mit­telt wur­de, wird das ei­gent­li­che T­hema Ge­bur­ten und 6 Ich be­ziehe mich hier auf ein Ge­spräch mit der Heb­amme Uschi Reim-Hofer am 12. Jän­ ner 2015, die auch das Kom­pe­tenz­zen­trum Young Mum ge­grün­det hat.

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Kin­der­er­zie­hung als Care-Arbeit nun zum Rand­the­ma. So zieht sich in der vor­läu­ fig letz­ten Staf­fel die Ge­burt von Kris­tin über drei Fol­gen und en­det als Cliff­han­ ger, sehr zum Är­ger­nis der Zu­se­her_in­nen: »Meine Güte ich will fri­sche Ba­bys schlüp­fen se­hen und nicht Teen­ager, die sich zum Af­fen ma­chen.«7

Die Expert_innen, die in den letz­ten Staf­feln nur noch als Rand­fi­gu­ren zu Wort kom­men, be­grün­den den sicht­ba­ren Bruch mit dem »Her­ein­ho­len frem­der Mäd­ chen« sei­tens des Pri­vat­sen­ders ATV und »Ju­gend­li­chen, die nicht ins Fern­se­hen ge­hö­ren«, fest­ge­macht an ei­nem »ju­gend­li­chen Pra­ter-Strizzi« (Reim-Hofer). Fortan liegt der Fo­kus auf den pre­kä­ren Le­bens­ver­hält­nis­sen der so­zial be­nach­tei­ lig­ten Ak­teur_in­nen, die tä­to­wiert, ge­pierct, in ein­fa­chen Wohn­ver­hält­nis­sen und pro­ble­ma­ti­schen he­te­ro­se­xu­el­len Be­zie­hun­gen ver­or­tet, auf das tra­di­tio­nelle Ge­ schlechter­ar­ran­ge­ment fest­ge­legt wer­den. Nun ge­ben die Teil­neh­mer_in­nen ihre »in­kor­po­rierte Ge­schichte« (McRob­bie 2010: 183) preis und lie­fern ihr ge­sam­tes so­zia­les Um­feld mit. Die All­tags­prak­ti­ken der Teen­ager-Müt­ter wer­den in die me­ diale Auf­merk­sam­keits­zone ge­rückt: Be­zie­hungs­pro­ble­me, Aus­ge­hen, Män­ner­ su­che, Hoch­zeits­plä­ne, Ver­söh­nungs­prak­ti­ken in zer­rüt­te­ten Mut­ter-Toch­ter-Ver­ hält­nis­sen und bei Ex-Lie­bes­paa­ren wie Andi und Me­la­nie8. In ge­wohn­ter Form er­folgt die The­ma­ti­sie­rung des In­ti­men und Pri­va­ten über die Zur­schau­stel­lung von Ge­füh­len und über­schwäng­li­chen Ge­fühls­äu­ße­run­gen, ins­be­son­dere in der Ver­söh­nungs­szene zwi­schen Me­la­nie und An­di. Nicht ge­nug des­sen, greift die­ ses Me­dien­for­mat auch noch Ele­mente der sogenannten »Schnip­pel­shows«9 auf, wenn sich Jung­mut­ter Me­la­nie nichts sehn­li­cher wünscht als »pralle Brüste«. Sie unter­zieht sich in der letz­ten Folge der letz­ten Staf­fel ei­ner Brust-OP vor lau­fen­ der Ka­mera und trifft da­mit eine Kör­pe­rent­schei­dung, die zwi­schen dem Recht, ihren Kör­per ge­mäß ihrer ei­ge­nen Maß­stä­ben zu ver­än­dern und ei­ner da­durch er­ folg­ten An­pas­sung an vor­herr­schende Nor­men der »nor­ma­len« Ge­schlecht­lich­keit chan­giert (vgl. Villa 2008: 100). Mit die­ser Wen­dung wird auch die At­trak­ti­vi­tät die­ses For­mats in sei­ner Re­le­vanz für das (All­tags-)Wis­sen der Re­zi­pient_in­nen ­sehr unter­schied­lich wahr­ge­nom­men. Aus den Pos­tings lässt sich ab­le­sen, dass die Mehr­zahl der Re­zi­pient_in­nen das eigent­li­che Thema wie­der ein­for­dert und von »der schlech­tes­ten al­ler Staf­feln« spricht; es exis­tie­ren aber auch an­dere Stim­men – »Schwan­gere Teen­ager und ihr Le­ben ist span­nen­der« –, die mehr an den Le­ 7 www.ba­by­fo­rum.at/di­scus­si­on5941/tee­na­ger-werden-muetter-atv. 8 Das große Ver­söh­nungs­ge­spräch zwi­schen Me­la­nie und Andi fin­det in der 8. Staf­fel, Folge 7, statt. 9 In die­sen Shows, wie z. B. »The Swan«, wer­den vor al­lem Ein­griffe an Frau­en­kör­pern live ge­zeigt.

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bens­ver­hält­nis­sen die­ser jun­gen Müt­ter in­ter­es­siert sind als am Ge­bä­ren in Kli­ni­ ken. Für das Ex­per­tin­nen­team von Young Mum hin­gegen war der Sen­de­ver­lauf »zu quo­ten­las­tig« und »weit unter unse­rem Ni­veau« (Reim-Hofer) und so­mit ein früh be­sie­gel­ter Aus­stiegs­grund. Zeit­ge­nös­si­sche Unter­hal­tungs­kul­tur (vgl. McRob­bie 2010) und die »Herr­schaft der Ein­schalt­quote«, die nach Bour­dieu im Na­men der De­mo­kra­tie be­kämpft wer­den müs­se, sind für diese Trans­for­ma­tion ver­ant­wort­lich zu ma­chen. Für Bour­dieu trägt das unter der »Herr­schaft der Ein­schalt­quote« ste­ hende Fern­se­hen dazu bei, den ver­meint­lich freien und auf­ge­klär­ten Kon­su­men­ten Markt­zwän­gen aus­zu­set­zen, die, an­ders als zy­ni­sche Dem­ago­gen glau­ben ma­chen wol­len, mit dem de­mo­kra­ti­schen Aus­druck ei­ner auf­ge­klär­ten, ver­nünf­ti­gen öf­ fent­li­chen Mei­nung, ei­ner öf­fent­li­chen Ver­nunft, nichts zu tun ha­ben (vgl. Bour­ dieu 1998: 96).

Les­ar­ten Re­zep­tions­stu­dien zei­gen, dass 50% der Zu­se­her_in­nen an die Echt­heit die­ser For­ mate und da­mit an die Dar­stel­lung der Kan­di­dat_in­nen glau­ben; ins­be­son­dere Ju­ gend­li­che schauen nach­mit­tags diese For­mate an.10 Wie Stuart Hall (1989: 139 f.) auf­ge­zeigt hat, sind die Zu­schau­er_in­nen nicht in der­sel­ben Macht­po­si­tion wie die Me­dien­ma­cher_in­nen und über­neh­men trotz ei­ner Di­ver­genz zwi­schen den Ab­sich­ten der Me­dien­pro­du­zent_in­nen und den Les­ar­ten der Re­zi­pient_in­nen in vie­len Fäl­len die do­mi­nante Les­art und da­mit die herr­schen­de, be­vor­zug­te, »he­ge­ mo­niale«Be­deu­tung des Tex­tes. »Die Sen­dung bleibt im­mer eine trau­rige Mi­lieu­stu­die.« »mir tut die Kleine leid . . . weil sie so an assi Va­ter hat . . . wer will so ei­nen Va­ter haben . . .«11

Ge­rade bildungsferne, so­zial be­nach­tei­ligte Ju­gend­li­che ver­fü­gen oft­mals über keine Kennt­nisse des Genres und sei­ner Kon­ven­tio­nen, um die in­sze­nier­ten Ele­ mente der im Fern­se­hen dar­ge­stell­ten Le­bens­wel­ten von »Unter­schicht­lern« zu ver­ste­hen (vgl. Mi­kos 2008: 59). »Nur manch­mal muss man sich fremd­schä­men und dann weiß man wie­der wie toll man eigent­lich sel­ber ist – ich finds su­per«, be­fin­det eine Zu­se­herin (ATV-Ba­by­fo­rum). In der Ver­mi­schung zwi­schen In­sze­ 10 Vgl. da­zu: Das Lü­gen­fern­se­hen. http://www.ndr.de/fern­se­hen/pa­no­ra­ma_die_re­por­ter/ lue­gen­fern­se­hen105.htm. Letz­ter Zu­griff: 12.01.15. 11 Diese Aus­sagen ­ stammen aus: http://www.fa­ce­book.com/tee­na­ger­wer­den­mu­et­ter/pho tos/pb. 19.12.2014.

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nie­rung und rea­ler Le­bens­welt ge­ra­ten Dreh­buch und Aus­ge­stal­tung der Cha­rak­ tere aus dem Blick­feld. Die vor­ge­ge­bene Echt­heit, die auf dem Cas­ting-Prin­zip be­ruht, das wie­derum die Aus­wahl von ste­reo­ty­pen Cha­rak­te­ren bzw. Gegen­satz­ paa­ren, die ent­spre­chende Rol­len­kli­schees er­fül­len, ver­folgt, unter­liegt wie in al­len an­de­ren For­ma­ten auch dem Spek­ta­ku­lä­ren und ver­langt nach ei­ner Dra­ma­ti­sie­ rung. Vor die­sem Hin­ter­grund füh­len sich im­mer mehr Kandidat_innen, die die äs­the­ti­sche Ge­stal­tung so­wohl auf for­ma­ler als auch auf in­halt­li­cher Ebene nicht durch­schau­en, als »Me­dien­op­fer«, weil ih­nen me­diale Re­prä­sen­ta­tio­nen »auf­ge­ zwun­gen« wer­den12. Me­die­nex­pert_in­nen wie Nor­bert Bolz se­hen in den Cas­tingShow-Teil­neh­mer_in­nen nur »Men­schen­ma­te­rial« und ge­hen da­von aus, dass sie wis­sen, dass sie sich mit Haut und Haa­ren die­ser In­sze­nie­rung ver­kau­fen (vgl. Bolz 2010: 74). Di­verse For­ma­te-Bei­spiele zei­gen, dass ins­be­son­dere Zi­cke­n­tum, Ri­va­li­tät und Wett­be­werb zwi­schen Frauen – Kon­kur­renz­kämpfe wer­den im tra­ di­tio­nel­len Stil weib­li­cher Schul­hof­kämpfe aus­ge­tra­gen – in ei­ner rund­er­neu­er­ten Fas­sung in­sze­niert wer­den (vgl. McRob­bie 2010: 173). Aus den Auf­zeich­nun­gen ei­ner in die­sem Falle me­dien­kom­pe­ten­ten Kan­di­dat_in geht her­vor13, wie die Teil­ neh­mer_in­nen im Vor­feld auf kli­schee­hafte weib­li­che Ge­schlechter­ty­pen fest­ge­ legt und als Kon­kur­ren­tin­nen ins Bild ge­setzt wer­den: »Wir ha­ben uns in Wahr­heit alle gut ver­stan­den und ga­ben uns gegen­sei­tig zu ver­ste­hen, dass sämt­li­che bö­sen Be­mer­kun­gen nicht ernst zu neh­men sind und nur für die Ka­mera wä­ren. Also war der Kampf er­öff­net und der ganze Dreh war auf Chal­len­ges und bis­sige Kom­men­ tare aus­ge­legt.« (Kan­di­da­tin)

Wo­mit ich wie­der bei der ein­gangs ge­stell­ten Frage bin: Wel­ches In­ter­esse ver­fol­ gen Me­dien in der Zur­schau­stel­lung und zu­ge­spitz­ten Dar­stel­lung mar­gi­na­li­sier­ter schwan­ge­rer Ju­gend­li­cher? Was er­zäh­len uns For­mate wie diese über die pre­kä­ren Le­bens­wel­ten jun­ger Müt­ter und in wel­chem Zu­sam­men­hang ste­hen Wis­sens­pro­ duk­tion und me­diale Vor­füh­rung/In­sze­nie­rung?

Auf­merk­sam­keit­ver­sus An­er­ken­nung? Inwieweit sich diese jun­gen Schwan­ge­ren und Frauen mit Kin­dern, die ge­sell­ schaft­li­chen Mehr­fach­dis­kri­mi­nie­run­gen aus­ge­setzt sind, weil zu jung und un­ ge­bil­det für Schwan­ger­schaf­ten, zu pro­misk in ihrem Se­xual­le­ben, sich über For­mate wie »Teen­ager wer­den Müt­ter« er­hof­fen, von der Un­sicht­bar­keit und Be­deu­tungs­lo­sig­keit in die Sicht­bar­keit zu ge­lan­gen, kann an die­ser Stelle nicht 12 Vgl. dazu Aus­sa­gen von Be­trof­fe­nen in der Do­ku­men­ta­tion »Das Lü­gen­fern­se­hen«. 13 Es han­delt sich hier­bei um das ATV-For­mat »Mes­ser, Ga­bel, Herz«.

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be­ant­wor­tet wer­den. Dis­kurse zur Mit­wir­kung an sol­chen For­ma­ten ar­gu­men­ tie­ren im All­ge­mei­nen mit Auf­merk­sam­keit – »sie krie­gen aber ein­mal im Le­ ben das Ge­fühl von un­ge­teil­ter Auf­merk­sam­keit. Wie es ist, wenn alle gu­cken« (Franck 2010: 133) – so­wie der »Selbst­dar­stel­lungs­wut« der Teil­neh­mer_in­nen (Bolz 2010). Er­fah­rungs­be­richte von Kandidat_innen der Cas­ting Shows ge­ben aber im­mer häu­fi­ger Ein­blick in ihre Mo­ti­ve, ihre in­tims­ten Be­rei­che des All­tags­ le­bens preis­zuge­ben. So wird der me­diale Auf­merk­sam­keits­raum, ins­be­son­dere von mar­gi­na­li­sier­ten Grup­pen, als vor­über­ge­hende Sinn­stif­tung, als Flucht aus dem er­eig­nis­lo­sen, pre­kä­ren All­tag und als nicht zu unter­schät­zende zu­sätz­li­che Ein­kom­mens­quelle – ein paar hundert Euro mehr – wahr­ge­nom­men (vgl. Acker­ mann et al. 2011). Diese pre­kä­ren Ju­gend­li­chen wie auch unsere Teen­ager-Müt­ ter, ver­haf­tet in Le­bens­ver­hält­nis­sen ohne Aus­bil­dung und Job­per­spek­ti­ve, sind wie alle an­de­ren In­di­vi­duen in der neo­li­be­ra­len Ge­sell­schaft dazu auf­ge­ru­fen, für sich selbst Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, ob­wohl ih­nen da­für im­mer we­ ni­ger Mit­tel zur Ver­fü­gung ste­hen. De­mi­ro­vic (2010: 159) be­schreibt, wie die In­di­vi­dua­li­sie­rung so­zia­ler Be­zie­hun­gen und die Des­in­te­gra­tion der Arbeits­kul­tur An­er­ken­nungs­pa­tho­lo­gien mit sich brin­gen, die zur Ab­nahme per­sön­li­cher Hand­ lungs­fä­hig­keit und zu dif­fu­sen Wün­schen nach An­er­ken­nung füh­ren. In die­sem so­zio-öko­no­mi­schen Kon­text wird das von Pre­ka­ri­sie­rungs­pro­zes­sen her­ge­stellte Span­nungs­feld zwi­schen »Selbst­dar­stel­lungs­wut« und »Be­dürf­nis nach An­er­ken­ nung« dann auch ver­steh- und greif­ba­rer. Life­style-TV ist maß­geb­lich be­tei­ligt an der (Re-)Pro­duk­tion spe­zi­fi­scher Wis­sens­for­men und Ein­übungs­prak­ti­ken, die von Kandidat_innen und Re­zi­pient_in­nen im Hin­blick auf Re­le­vanz und An­ schluss­fä­hig­keit an das All­tags­han­deln unter­schied­lich wahr­ge­nom­men wer­den (vgl. Tho­mas 2008: 239). Al­ler­dings darf da­bei nicht aus dem Blick ge­ra­ten, dass durch die me­diale In­sze­nie­rung jun­ger »Unter­schich­ten-Müt­ter« eine spe­zi­fi­sche Form klas­sen­spe­zi­fis­ cher Grenz­zie­hun­gen vor­ge­nom­men wird, die zur sym­bo­li­ schen Re­pro­duk­tion so­zia­ler Un­gleich­heit bei­trägt.

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Beaufort, Maren, Mag.a, Junior Scientist am Institut für vergleichende Me­dienund Kommunikationsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Politische Kommunikation, Social Media,Wirkungsforschung, Werbeforschung. E-Mail: [email protected] Dorer, Johanna, Dr., Assistenzprofessorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Gleichbehandlungsbeauftragte der Universität Wien. Schwerpunkte Forschung und Lehre: Feministische Medienforschung, Medientheorie, Nichtkommerzielle Medien, Public Relations. E-Mail: ­[email protected] Drüeke, Ricarda, Dr., Postdoc am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Öffentlichkeitstheo­ rien, Gender Media Studies, Medien und soziale Ungleichheit. E-Mail: ricarda. [email protected] Eurich, Claus, Dr., Professor am Institut für Journalistik der TU Dortmund. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gesellschaftstheorien, Kommunikationstheorien, Ethik und Friedensjournalismus. E-Mail: [email protected] Forster, Edgar, Dr., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt »Globalisierung und Bildung« an der Universität Fribourg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Theorien der Erziehung und Bildung, Educational Governance, Globalisierung, Gender Studies. E-Mail: [email protected] Geiger, Brigitte, Dr., Kommunikationswissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an den  Universitäten Wien und Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Frauen- und Geschlechterforschung, feministische Medien und Öffentlichkeiten, Geschlecht und Gewalt. E-Mail: [email protected] Gödl, Doris, Dr., Lehr- und Forschungsrätin an der Universität Fribourg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Politische Transformationsforschung, Demokratieentwicklung und Gender Studies, qualitative Methodenausbildung/interpretative Auswertungsmethoden, Globalisierung und Bildung. E-Mail: [email protected]

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Kinnebrock, Susanne, Dr., Professorin für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Öffentliche Kommunikation an der Universität Augsburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Öffentlichkeits- und Medienwandel, Journalismusforschung, europäische Kommunikationsgeschichte, kommunikationswissenschaftliche Gender Studies, E-Mail: [email protected] Kirchhoff, Susanne, Dr., Senior Lecturer und Projektmitarbeiterin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Journalismusforschung, Medien und Krieg, Geschlechterforschung, empirische Methoden der Kommunikationswissenschaft. E-Mail: [email protected] Krotz, Friedrich, Dr., Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Kommunikation und Mediatisierungsforschung an der Universität Bremen, Koordinator des DFG-Schwerpunktprogramms »Mediatisierte Welten«. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Theorie und Methoden der Kommunikationswissenschaft, Kultursoziologie, Cultural Studies, Medien und Gesellschaft, Mediatisierungsforschung. E-Mail: [email protected] Lang, Siglinde, Dr. M.A., Senior Scientist im Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft & Kunst der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: partizipatives Kulturmanagement, künstlerisches Unternehmertum, kollaborative Wissensproduktion. E-Mail: [email protected] Lehmann, Ingrid A., Dr. Dipl. Pol. M.A., Lehrbeauftragte am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg; Direktorin i. R. des UN-Informationsdienstes. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: internationale politische Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit der Vereinten Nationen, internationale politische Skandale, Medien und Friedensschaffung. E-Mail: [email protected] Lünenborg, Margreth, Dr., Professorin für Journalistik am Institut für Publizistikund Kommunikationswissenschaft der FU Berlin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Journalismusforschung, Gender Media Studies, kulturorientierte Medienforschung, Migration und Medien, populäre Medienformate. E-Mail: margreth. [email protected] Neverla, Irene, Dr., Professorin für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, Direktorin des RCMC Research Center Media and Communication der Universität Hamburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Journalismusforschung, Publikums/User-Forschung, Wissenschafts-, Um-

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welt- und Klimakommunikation, Visuelle Kommunikation und Pressefotografie, Zeitforschung, Erinnerungsforschung im Zusammenhang mit öffentlicher Kommunikation. E-Mail: [email protected] O’Connor, Barbara, PhD, freie Kommunikationswissenschaftlerin, vormals School of Communications, Dublin City University. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschlecht, Medien und Populärkultur, Kulturelle Identität mit Fokus auf Medienpublika, Tourismus und Tanz. E-Mail: [email protected] Peil, Corinna, Dr., Postdoc am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: mobile Medienkulturen, Mediatisierungsprozesse von Alltag, Kultur und Gesellschaft, Medienwandel, Medien(de)konvergenz, feministische und antifeministische Diskurse im Internet. E-Mail: [email protected] Riesmeyer, Claudia, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Medienkompetenz, Journalismus (und Public Relations), Medienpolitik und politische Kommunikation, Methoden der Kommunikations­ wissenschaft. E-Mail: [email protected] Romahn, Boris, M.A., LL.B., Senior Lecturer am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Arbeitsmarkt- und Berufsfeldforschung, Medienrecht und -ethik, Öffentlichkeit. E-Mail: [email protected] Röser, Jutta, Prof. Dr., Professorin für Kommunikationswissenschaft und Geschäftsführende Direktorin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Mediensoziologie, Rezeptionsforschung und Ethnografie, Mediatisierung von Alltag und Gesellschaft, Neue Medien in Geschichte und Gegenwart, Cultural Media Studies, Gender Studies. E-Mail: [email protected] Roth, Ulrike, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Mediensoziologie, Gender Studies, Cultural Media Studies, Rezeptionsforschung und Internet und gesellschaftliche Teilhabe. E-Mail: [email protected] Seethaler, Josef, Dr., stellvertretender Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: politische Kommunikation, Me-

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dien und internationale Beziehungen, Mediensystemanalyse, Mediengeschichte. E-Mail: [email protected] Steinmaurer, Thomas, Dr., Ao. Univ. Prof. am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Mediatisierungsforschung, Geschichte und Theorien des medialen und gesellschaftlichen Wandels, digitale Vernetzung und Gesellschaft. E-Mail: [email protected] Thiele, Martina, PD Dr., Assoziierte Professorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg. Schwerpunkte in Forschung und ­Lehre: Kommunikationstheorien und -geschichte, Öffentlichkeiten, Stereotypenund Vorurteilsforschung. E-Mail: [email protected] Thomas, Tanja, Dr., Professorin für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Transformationen der Medienkultur an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Schwer­punkte in Forschung und Lehre: (Kritische) Medien-, Kommunikationsund Kulturtheorien, Feministische Medien- und Kommunikationswissenschaft, Mediensoziologie, Cultural (Media) Studies, Transkulturelle Medienkommunikation, Medienforschung. E-Mail: [email protected] Voglmayr, Irmtraud, Dr.in, Medienwissenschaftlerin und Soziologin, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien, Salzburg, Klagenfurt und BOKU Wien. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Medien und Gender, mediale Inszenierungen von prekären Lebenswelten, Altersdiskurse/Altersrepräsentationen in den Medien, Prekaritäts-, Stadt- und Raumforschung. E-Mail: [email protected] Wischermann, Ulla, Prof. Dr., Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Geschäftsführende Direktorin des Cornelia Goethe Centrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitschwerpunkte: Gender Studies, Mediensoziologie, Mediengeschichte. E-Mail: [email protected] Zobl, Elke, Dr., Assistenzprofessorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft und Leiterin des Programmbereichs Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft & Kunst der Universität Sal  zburg. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Alternative Medien, zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion, Geschlechterforschung, Partizipation. E-Mail: [email protected]

Critical Media Studies Ricarda Drüeke Politische Kommunikationsräume im Internet Zum Verhältnis von Raum und Öffentlichkeit 2013, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2458-8

Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke (Hg.) Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse Theoretische Perspektiven und empirische Befunde November 2015, ca. 420 Seiten, kart., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-3049-7

Florian Kreutzer Ausgänge aus der »Frauen-Falle«? Die Un-Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Bild-Text-Diskurs (unter Mitarbeit von Maren Albrecht) 2013, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2471-7

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Critical Media Studies Skadi Loist, Sigrid Kannengießer, Joan Kristin Bleicher (Hg.) Sexy Media? Gender/Queertheoretische Analysen in den Medien- und Kommunikationswissenschaften 2014, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-1171-7

Margreth Lünenborg, Jutta Röser (Hg.) Ungleich mächtig Das Gendering von Führungspersonen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in der Medienkommunikation 2012, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1692-7

Tanja Maier, Martina Thiele, Christine Linke (Hg.) Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht in Bewegung Forschungsperspektiven der kommunikationsund medienwissenschaftlichen Geschlechterforschung 2012, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1917-1

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Critical Media Studies Julia Ahrens Going Online, Doing Gender Alltagspraktiken rund um das Internet in Deutschland und Australien 2009, 324 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1251-6

Martina Thiele Medien und Stereotype Konturen eines Forschungsfeldes Juli 2015, 504 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2724-4

Christine Horz Medien – Migration – Partizipation Eine Studie am Beispiel iranischer Fernsehproduktion im Offenen Kanal 2014, 484 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2415-1

Susanne Kirchhoff Krieg mit Metaphern Mediendiskurse über 9/11 und den »War on Terror« 2010, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1139-7

Margreth Lünenborg, Katharina Fritsche, Annika Bach Migrantinnen in den Medien Darstellungen in der Presse und ihre Rezeption 2011, 178 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1730-6

Margreth Lünenborg (Hg.) Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft 2009, 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-939-8

Kathrin Friederike Müller Frauenzeitschriften aus der Sicht ihrer Leserinnen Die Rezeption von »Brigitte« im Kontext von Biografie, Alltag und Doing Gender 2010, 456 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1286-8

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