Das Ende der Zuversicht?: Die siebziger Jahre als Geschichte 9783666361531, 9783525361535

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Das Ende der Zuversicht?: Die siebziger Jahre als Geschichte
 9783666361531, 9783525361535

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V&R

Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte

Herausgegeben von

Konrad H. Jarausch

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36153-5 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Umschlagbild: Erstes Sonntagsfahrverbot in Deutschland 1973. Fotograf: Hannes Hermann, © picture alliance / dpa © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Bernd Degener, Bremen Druck und Bindung: ® Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier.

Inhalt

Vorwort

7

Konrad H. Jarausch Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart

9

Teil 1: Wirtschaftlicher Strukturwandel André Steiner Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost?

29

Stephan H. Lindner Die westdeutsche Textilindustrie zwischen »Wirtschaftswunder« und Erdölkrise

49

Reinhold Bauer Ölpreiskrisen und Industrieroboter. Die siebziger Jahre als Umbruchphase für die Automobilindustrie in beiden deutschen Staaten

68

Wolfgang König Die siebziger Jahre als konsumgeschichtliche Wende in der Bundesrepublik

84

Teil 2: Arbeit und Soziales Christoph Boyer Zwischen Pfadabhängigkeit und Zäsur. Ost- und westeuropäische Sozialstaaten seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts

103

Winfried Süß Der keynesianische Traum und sein langes Ende. Sozioökonomischer Wandel und Sozialpolitik in den siebziger Jahren

120

Marcel Boldorf Die »Neue Soziale Frage« und die »Neue Armut« in den siebziger Jahren. Sozialhilfe und Sozialfürsorge im deutsch-deutschen Vergleich

138

Patrice G. Poutrus Migrationen. Wandel des Wanderungsgeschehens in Europa und die Illusionen staatlicher Regulierung in der Bundesrepublik

157

Teil 3: Aufbrüche im Alltag

Ralph Jessen Bewältigte Vergangenheit - blockierte Zukunft? Ein prospektiver Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft am Ende der Nachkriegszeit

177

Michael Schwartz Frauen und Reformen im doppelten Deutschland. Zusammenhänge zwischen Frauenerwerbsarbeit, Abtreibungsrecht und Bevölkerungspolitik um 1970

196

Monika Mattes Ambivalente Aufbrüche. Frauen, Familie und Arbeitsmarkt zwischen Konjunktur und Krise

215

Annette Vowinckel Anmerkungen zur Mediengeschichte des Terrorismus

229

Teil 4: Politische Problemverarbeitung

Gabriele Metzler Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?

243

Peter Hübner 1970 und die Folgen. Sozialpolitisches Krisenmanagement im sowjetischen Block

261

Hartmut Soell Helmut Schmidt: Zwischen reaktivem und konzeptionellem Handeln

279

Frank Bosch Die Krise als Chance. Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren

296

Ausblick

Anselm Doering-Manteuffel Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre

313

Konrad H. Jarausch Zwischen »Reformstau« und »Sozialabbau«. Anmerkungen zur Globalisierungsdebatte in Deutschland, 1973-2003

330

Anhang

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren Abkürzungsverzeichnis Personenregister

353 358 359

Vorwort

Eine zentrale Aufgabe der Zeitgeschichte ist die historische Erklärung der Ursprünge drängender Probleme der Gegenwart. Ihre Fokussierung auf die beiden Diktaturen hat die Historiker allzu lange daran gehindert, solch neue Fragen wie die Begleiterscheinungen der Globalisierung, die Überdehnung des Sozialstaats, den individuellen Wertewandel oder die Reformblockade der Politik zu untersuchen. Durch seine Konzentration auf die siebziger Jahre will dieser Band einen Anstoß dazu geben, die Genese des hinter diesen Entwicklungen stehenden Strukturwandels, der nicht nur die deutsche Öffentlichkeit bewegt, eingehender zu diskutieren. Da sich die Forschung aufgrund der dreißigjährigen Sperre des Archivzugangs erst langsam diesem Jahrzehnt nähert, bezweckt dieses Buch keine bilanzierende Zusammenfassung, sondern eine anregende Öffnung. Dieser Band ist das Produkt einer gemeinsamen Konferenz des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Sommer 2007, die das Ende von Jürgen Kockas WZBPräsidentschaft sowie meiner Leitungstätigkeit am ZZF markierte. Da sich Sozialwissenschaftler schon zeitgleich mit der Erforschung der Krisenphänomene der siebziger Jahre beschäftigten, signalisiert dieser Versuch des interdisziplinären Dialogs die nun einsetzende Verlagerung der Thematik in den Bereich der Geschichtswissenschaft. Leider konnte die spannende Diskussion zwischen systematischen und historischen Zugängen wegen der Absage einiger Beteiligter nicht direkt dokumentiert werden, aber sie findet ihren Niederschlag in den Argumenten und Anmerkungen der überarbeiteten Kapitel dieses Buches. Zu danken ist die Fokussierung der Diskussion vor allem der provokanten Einführung von Gert G. Wagner sowie den weiterführenden Kommentaren von Ulrich Jürgens, Jens Alber, Martina Kessel und Wolfgang Merkel. Zahlreiche Mitarbeiter des WZB wie Paul Stoop und des ZZF wie Hans-Hermann Hertie halfen bei der Durchführung der Tagung. Ein herzlicher Dank gilt auch Christine Bartlitz für die Bearbeitung des Manuskripts und Bernd Degener für den Satz des Bandes. Schließlich stellte die Deutsche Forschungsgemeinschaft dankenswerter Weise die finanziellen Mittel zur Verfügung. Konrad H. Jarausch, Berlin im Januar

2008

Konrad H. Jarausch

Verkannter Strukturwandel Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart

Entgegen allen Erwartungen beendeten die Krisen der siebziger Jahre jäh die öffentliche Zuversicht in die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts. In seiner Regierungserklärung vom Januar 1973 konnte Bundeskanzler Willy Brandt noch voll Stolz auf Vollbeschäftigung, Einkommenssteigerungen und soziale Sicherheit zurückblicken. Schon ein Jahr später musste sich sein Nachfolger Helmut Schmidt aufgrund des Ölschocks als Krisenmanager profilieren und weiteren Reformen wegen der notwendigen Konsolidierung des Haushalts abschwören. Obwohl der Kanzler 1976 mit dem Slogan »Modell Deutschland« wiedergewählt wurde, machte die Rezession, die der zweiten Ölpreiserhöhung im Jahre 1979 folgte, Hoffnungen auf eine Fortsetzung des sozialdemokratischen Projekts der Erhöhung des Wohlstands für die Masse der Arbeiter und Angestellten zunichte. 1 Im Gegensatz zur trügerischen Selbstsicherheit der DDR hätte der Stimmungsumschwung in der Bundesrepublik vom Optimismus zur Zukunftsangst kaum drastischer ausfallen können. Die begrenzte Wirkung hektischer Regierungsprogramme verdeutlichte, dass es sich nicht nur um kurzfristige Konjunktureinbrüche, sondern eher um langfristigen Wandel sozio-ökonomischer Strukturen handelte. Durch Koordinierung der Wirtschaftspolitik führender Industriestaaten versuchte Schmidt, die Folgen des Zusammenbruchs der festen Wechselkurse von Bretton Woods abzumildern und mit einer Mischung von Sparen und Konjunkturspritzen die Verteuerung der Energiegrundlage aufzufangen. Aber der Rückgang des Wachstums machte klar, dass ein »weltwirtschaftlicher Strukturwandel« eingesetzt hatte, dem man nicht mehr mit Schillerscher Globalsteuerung beikommen konnte. 2 Unerwartete Konkurrenz von Billigpreisländern in Asien setzte ganze Branchen unter Druck, führte zu Sockelarbeitslosigkeit und belastete den Sozialstaat gerade in dem Moment, in dem die Steuereinnahmen einbrachen. Da traditionelle Rezepte kaum noch wirkten, waren Regierung wie Publizistik ratlos gegenüber dieser Entwicklung. Zeitgenössische Diagnosen der Sozialwissenschaftler versuchten, die in Umrissen sichtbar werdenden Veränderungen einzufangen, konnten sie aber auf keinen eindeutigen Begriff bringen, da ihnen ein Fluchtpunkt der Beurteilung fehlte. Unter den führenden Angeboten sind Daniel Beils soziologische These von einem Übergang zum »postindustriellen« Zeitalter und Jean-François Lyotards philosophische Ankündigung einer »Postmoderne« eher Verlegenheitslösungen, die das Auslaufen von Entwicklungen thematisieren, während sich Ronald Ingleharts

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politologische Beobachtung eines »Wertewandels« hauptsächlich auf die jüngere Generation bezieht.3 Auch spätere Begriffsbildungen wie Ulrich Becks »Risikogesellschaft« oder Gerhard Schulzes »Erlebnisgesellschaft« greifen nur Teilaspekte heraus, die sich oft als kurzlebig erwiesen haben.4 Die Uneinheitlichkeit dieser Etikettierungen deutet auf die Widersprüche einer Übergangsepoche hin, deren Selbstbild zwischen Krisengefühl und Aufbruchstimmung schwankt. Historiker haben gerade erst begonnen, sich in dieses Jahrzehnt vorzuwagen, auch weil westdeutsche Archive - im Gegensatz zur Hinterlassenschaft der DDR - nur schrittweise den Zugang zu dieser Epoche freigeben. Die Überblicke von Wolfgang Jäger und Werner Link5 sowie von Andreas Rödder und Edgar Wolfrum deuten an, dass diese Zeit trotz des Linksterrorismus6 in Deutschland vergleichsweise ruhig ohne Kriege oder Revolutionen war. Trotzdem stimmen die meisten Autoren darin überein, dass in ihr ein fundamentaler ökonomischer und kultureller Umbruch einsetzte.7 Da Bernd Faulenbachs Bezeichnung dieser Periode als »sozialdemokratisches Jahrzehnt« auf erhebliche Kritik gestoßen ist,8 sind es eher Biografien west- und ostdeutscher Politiker, die einen vorläufigen Zugang vermitteln.9 Zwar sind zahlreiche Monografien zu Einzelthemen wie dem Ölpreisschock erschienen, aber viele Darstellungen brechen schon 1969 oder 1973 ab, sodass Ursachen, Abläufe und Wirkung der Veränderungen noch im Dunkeln liegen.10 Eine Erkundung des sich in den siebziger Jahren beschleunigenden Strukturwandels muss daher eine Reihe fundamentaler Fragen ansprechen. Erstens ist die Diskrepanz zwischen der vorherrschenden Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik und dem Untergangsnarrativ der DDR sowie der Krisenpublizistik des vereinigten Deutschlands zu überdenken. Zweitens gilt es, den Widerspruch zwischen verbreiteter politischer Krisenrhetorik und lebensgeschichtlicher Erinnerung an Aufbrüche im Alltag aufzulösen. Drittens sind negative Entwicklungen wie Entindustrialisierung mit positiven Ansätzen von Innovation in Hochtechnologie zu kontrastieren und relativ zu gewichten. Schließlich geht es auch um die Frage der Zäsur, die entweder mit der Kulturrevolution von 1968, dem sozialliberalen Regierungsantritt von 1969 oder dem Ende des Nachkriegsbooms von 1973 angesetzt werden kann." Als Zusammenfassung des Ertrages der Beiträge dieses Bandes werden sich die folgenden Bemerkungen mit der Frage der Zäsur, den empirischen Befunden, ihrer Interpretation und langfristigen Bedeutung auseinandersetzen.

1. Die siebziger Jahre als Zäsur Da ein Jahrzehnt nur ein kalendarisches Artefakt metrischer Zeitrechnung ist, geht es in der historischen Debatte über seinen Charakter letztlich darum, mit welchen Inhalten dieser Behälter aufgefüllt wird. Als ein Zehntel eines Jahrhunderts ist es die kürzeste generell verwendete Zeiteinheit, die einen etwas allgemeineren Charakter aufweist. Im Vergleich zu einer dreißigjährigen Generationsspanne umfasst es nur ein Drittel, ist aber dennoch deutlich länger als ein

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einziges noch so wichtiges Jahr. Daher richtet das Denken in Jahrzehnten den Blick auf Entwicklungen mittlerer Reichweite, die in spezifischen Zeiträumen zu lokalisieren, aber nicht auf ein Entscheidungsjahr zu begrenzen sind. Diese Zeitspanne erfreut sich einer gewissen feuilletonistischen Beliebtheit, denn sie suggeriert gleichzeitig Besonderheit und Allgemeinheit. Für den Historiker ergibt sich aus diesen Überlegungen die Frage nach dem spezifischen Charakter der in den siebziger Jahren stattfindenden strukturellen Entwicklungen wie intellektuellen Reaktionen. Ein erstes Problemfeld einer vorläufigen Vermessung dieses Jahrzehnts ist seine zeitliche Begrenzung und Dauer. Da viele Entwicklungen schon früher anfingen, andere Trends erst langsam einsetzten, aber sich ihre jeweiligen Folgen weiter erstreckten, bleibt sein Anfang ebenso unbestimmt wie sein Ende. Die Diskussionen über die »langen fünfziger« oder »langen sechziger« Jahre weisen darauf hin, dass die Grenzen von Jahrzehnten je nach Fragestellung inhaltlich gerechtfertigt werden müssen. 12 In Analogie dazu könnte man vielleicht von den langen siebziger Jahren sprechen, die sich in der Bundesrepublik in etwa von der Generationsrevolte und sozialliberalen Koalition von 1968/69 bis etwa zur Kohlschen Wende von 1982/83 erstrecken würden.' 3 Gleichzeitig stellt sich damit auch die Frage nach der inneren Periodisierung des Jahrzehnts. Wenn man es als einen längeren Zeitraum betrachtet, könnte man die anfängliche Brandtsche Reformära bis 1973/74 von dem darauf folgenden Schmidtschen Krisenmanagement und schließlich von der Agonie der sozialliberalen Koalition nach 1979 unterscheiden. 14 Ähnlich schwierig ist es, die Stellung der siebziger Jahre im langfristigen Verlauf des 20. Jahrhunderts zu bestimmen. Mehr und mehr Historiker, die sich mit seiner Periodisierung beschäftigen, neigen dazu, das Datum des Ölpreisschocks von 1973 als Zäsur für die Entwicklung der hochindustriellen Länder zu setzen. So gehen Eric Hobsbawm, Charles S. Maier und Edgar Wolfrum sowie Anselm Doering-Manteuffel davon aus, dass mit diesem Zeitpunkt eine Strukturveränderung einsetzte, die als Ende der trente glorieuses und des Nachkriegsbooms eine neue Problematik ankündigte, die den Kalten Krieg überlagern sollte.15 Dabei handelt es sich um den Übergang zu einem dritten Stadium der industriellen Revolution, an dem der Ostblock zerbrochen ist und den der Westen mühsam gemeistert hat, obwohl er noch heute unter den Folgen leidet. Im Gegensatz zu Hans-Peter Schwarz kann man daher argumentieren, dass die neueste Zeitgeschichte nicht erst mit dem Kollaps des Kommunismus, sondern schon mit dem Strukturwandel der siebziger Jahre einsetzte, der Ost und West vor ähnliche Probleme stellte.16 Die Debatte über die Gliederung historischer Zeiträume verlöre etwas von ihrer Schärfe, wenn man harte von weichen Zäsuren unterscheiden würde. Dramatische Ereignisse wie Kriege, Revolutionen und Terroranschläge lassen sich auf Jahr, Tag und sogar Stunde fixieren. Demgegenüber vollzieht sich der ökonomische, soziale und kulturelle Wandel meist schrittweise in längeren Zeiträumen, sodass seine Fixierung auf ein genaues Datum schwerfällt. Auch überlagern sich widersprüchliche Tendenzen und erfordern eine Gewichtung ihres jeweiligen Stellenwertes. Am ehesten lässt sich bei langfristigen Veränderungen

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eine Umkehr der Richtung, also eine Trendwende als Zäsur verstehen. Weil sich der Strukturwandel der siebziger Jahre trotz einiger spezifischer Ereignisse wie der beiden Ölschocks eher inkrementell vollzog, kann er nur im längerfristigen Vergleich lokalisiert werden. Jedoch lässt sich in den Beiträgen zu diesem Band ein ganzes Bündel von sozio-kulturellen Richtungswechseln feststellen, die eine Interpretation des Jahrzehnts als Epochenschwelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahelegen.

2. Widersprüchliche Befunde Generell enthält ein Wandel historischer Strukturen gleichzeitig Elemente des Abbruchs von traditionellen Verhältnissen wie Aspekte eines Aufbruchs zu neuen Ufern. Daher finden sich im Strukturwandel der siebziger Jahre, der auf den Wiederaufbau der Nachkriegszeit und das »Wirtschaftswunder« folgte, einerseits unerwartete negative Entwicklungen wie Entindustrialisierung und wachsende Erwerbslosigkeit. Andererseits sind aber auch positive Veränderungen wie technologische Innovation und Individualisierung der Lebensentwürfe zu verzeichnen, die als Bereicherung des Konsums und Befreiung aus traditionellen Zwängen galten. So bezeichnet das lateinische Wort crisis nicht nur eine erhöhte Gefährdung, sondern auch eine entscheidende Wendung. Die umgangssprachliche Alternative zwischen einer »Krise«, die von den Politikern konstatiert wurde, und einer »Chance«, die von den Alternativen begrüßt wurde, weist daher auf zwei Seiten einer Medaille eines zusammenhängenden Prozesses hin, den es zu erkunden gilt. In der Volkswirtschaft hinterließ der Strukturwandel deutlich negative Spuren, die als Entindustrialisierung von Branchen und Regionen thematisiert werden. Auch wenn der Begriff der Tertiärisierung kritisch zu hinterfragen ist, zeigt André Steiner, dass der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft statistisch im Jahr 1973/74 stattfand und in der DDR nur etwas später ebenso geschah.17 Eine Ursache war die Billigpreiskonkurrenz der aufstrebenden Industrieländer Asiens, die zum Abbau der Massenproduktion in Branchen zwang, die auf dem Weltmarkt mit den Niedriglohnanbietern nicht mehr konkurrieren konnten. Stephan Lindner illustriert diesen Prozess für die Textilindustrie, die trotz seit den fünfziger Jahren stattfindender Rationalisierung gezwungen war, ihre Produktion in den Mittelmeerraum oder nach Osteuropa auszulagern, und dadurch etwa die Hälfte ihrer Arbeitsplätze verlor. Ähnlich von Billigkonkurrenz betroffen war die Montanindustrie, die sich nur durch Kartellisierung auf der EU-Ebene notdürftig rettete.'8 Hauptsächliches Produkt dieser Entwicklung war eine neue, unreduzierbare Sockelarbeitslosigkeit. Dennoch ignoriert eine einseitig negative Perspektive innovative Impulse, die gleichzeitig auch eine neue ökonomische Dynamik verursachten. Obwohl die DDR die Erneuerung ihrer Automobilproduktion aus Kostengründen aufgab, demonstriert Reinhold Bauer, dass die Ölschocks und die Konkurrenz aus Japan im westdeutschen Fahrzeugbau zahlreiche Innovationen in der Produktpalette

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und Effizienzsteigerungen in der Produktion hervorriefen, die ihn als industriellen Leitsektor weiter wachsen ließen.19 Deutliche Gewinner der technologischen Innovation waren in der Bundesrepublik der Werkzeugmaschinenbau, die chemische Industrie und die EDV - teils ältere Bereiche, teils ganz neue Branchen. Ebenso zeigt Wolfgang König, dass die Entwicklung der Konsumgesellschaft in den siebziger Jahren ihren Höhepunkt erreichte, weil die Verbilligung wichtige Gerätschaften nun auch den einkommensschwächeren Schichten zugänglich machte.20 Nur wurden dadurch weniger neue Arbeitsplätze geschaffen als alte Stellen wegfielen. Die daraus entstehenden Belastungen trugen zu dem Eindruck einer »Krise des Sozialstaates« bei, da sie den Ausgabendruck erhöhten, während die Steuereinnahmen einbrachen. Christoph Boyer argumentiert vergleichend, dass die Grundsicherung gegen Lebensrisiken des östlichen wie westlichen Sozialstaatsmodells auf Annahmen des weitergehenden Wachstums industrieller Arbeitsplätze beruhte, die sich in den siebziger Jahren als Illusion entpuppten.21 Einerseits strapazierte die konjunkturell bedingte, aber bei Wiedereinsetzen des Wachstums unreduzierbare Arbeitslosigkeit die Sozialkassen. Andererseits kam, wie Marcel Boldorf demonstriert, aus politischen Konkurrenzgründen die Wahrnehmung einer »neuen Armut« dazu, die weitere Hilfsmaßnahmen verlangte. Ebenso zeigt Patrice Poutrus, dass durch Arbeits- und Asylmigration neue Ausgaben und Ängste in der Bevölkerung entstanden.22 Es tat sich also eine Schere zwischen weiter wachsenden Ansprüchen und sinkenden Finanzierungsmöglichkeiten auf. Trotz aller Schwierigkeiten brach der Sozialstaat jedoch keineswegs zusammen, sondern die westliche Variante erwies sich als erstaunlich zählebig. In der DDR führte das Überziehen der Ressourcen durch die Honeckersche »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« zwar in die Schuldenfalle und schließlich in den Staatsbankrott. Aber trotz der Proteste von Sozialpolitikern konnte die Bundesrepublik mit einer Mischung von kleinteiligem Sparen und Arbeitsmarktprogrammen die Schwierigkeiten inkrementell überwinden. Winfried Süß argumentiert, dass der Richtungswechsel schon 1975 durch Bremsung des Ausbaus, partiellen Umbau und Rückbau an den Rändern begann, den die CDU/FDPRegierung verschärft fortsetzte.23 Der von Wirtschaftskreisen nahestehenden Kommentatoren oft zitierte Topos der »Überdehnung des Sozialstaats« diente daher als Munition für die Propagierung einer neoliberalen Wende zurück zu mehr Eigenverantwortung, die sich in den folgenden Jahrzehnten durchsetzen sollte.24 Auch der sozio-kulturelle Wertewandel enthielt Aspekte, die konservative Publizisten als Krise abendländischer Kulturtraditionen interpretierten. Die einleuchtenden Hinweise von Ralph Jessen auf den Wandel der Erzählperspektiven hin zu einem Krisennarrativ beziehen sich auf ein verbreitetes gesellschaftliches Unbehagen mit den Konsequenzen der »Kulturrevolution« der späten sechziger Jahre.25 Vor allem die Kirchen bekämpften aufs Schärfste den Versuch der Legalisierung der Abtreibung in der Bundesrepublik, während sich in der DDR, wie Michael Schwartz darstellt, verändernde Wertvorstellungen trotz der SED-Dikta-

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tur schließlich durchsetzen konnten. Auch rief die Bedrohung der überkommenen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern im Westen heftige Kämpfe hervor, während der Osten schon aus Mangel an Arbeitskräften auf Frauen zurückgreifen musste.26 Höhepunkt aller vagierenden Ängste war jedoch der Terrorismus der RAF, da er ganz konkret die westdeutsche FührungsSchicht bedrohte. Dennoch erlauben die Veränderungen des Alltags auch eine optimistischere Lesart des Aufbruchs in neue Lebensentwürfe. Das antiautoritäre Programm der Jugendrevolte wurde meist erst in den siebziger Jahren in die Tat umgesetzt, als eine immer größere Zahl von Individuen begann, mit alternativen Lebensentwürfen zu experimentieren, und die Neuen Sozialen Bewegungen Vorstellungen von direkterer Demokratie propagierten.27 Zur Frauenbewegung gehörte einerseits die Selbstbestimmung über den eigenen Körper nach dem Motto »mein Bauch gehört mir«, andererseits aber, wie Monika Mattes zeigt, auch der Einstieg in eigene Erwerbsarbeit, um aus der Enge des Haushalts zu entfliehen und durch eigenen Verdienst eine partnerschaftlichere Beziehung zwischen den Geschlechtern herzustellen. Schließlich bot auch die Medialisierung, wie Annette Vowinckel argumentiert, eine Möglichkeit virtueller Anteilnahme durch eine vorher nicht geahnte zeitgleiche Übertragung von öffentlichen Ereignissen.28 Die Krisenwahrnehmung betraf vor allem den eigentlichen Bereich der Politik, da die Erwartungen vieler Bürger in die Problemlösungskapazität des Staates sukzessive enttäuscht wurden. In der DDR führte die ungebrochene Erfolgsrhetorik Honeckers zu einer weitgehenden Realitätsverweigerung, welche die drohenden Herausforderungen nicht erkannte, geschweige denn meisterte. In der Bundesrepublik entstand, wie Gabriele Metzler zeigt, ein Diskurs der »Unregierbarkeit«, der die Verantwortung für individuelle Fehler von Politikern auf Strukturschwierigkeiten verlagerte. Mit diesem Schlagwort konnte einerseits die Selbstblockade des Systems durch zu viele Interessengruppen und Vetospieler gemeint sein, andererseits aber auch ein Autoritätsverlust des Staates schlechthin.29 Ursache für diese verbreitete Politikschelte waren überzogene Erwartungen an die Autorität des Staates, Planbarkeit der Politik und Ausweitung der Bürgerbeteiligung. Die bundesrepublikanische Demokratie schien daher in einer Krise zu stecken. Trotz aller Kassandrarufe über die »Krise des Spätkapitalismus« war es jedoch nicht die Bundesrepublik, sondern der Kommunismus, der zusammenbrach und die DDR als Staat auflöste. Wie Peter Hübner demonstriert, verspielte Honeckers Politik des Zeitgewinns durch Konsumsozialismus schließlich die produktiven Grundlagen Ostdeutschlands.30 Im Kontrast dazu konnte, so Hartmut Soell, das souveräne Krisenmanagement Helmut Schmidts gegenüber dem ersten Ölschock so weit reüssieren, dass die Bundesrepublik weiterhin als relativ erfolgreich galt. Als die neokeynesianische Politik der sozialliberalen Koalition an der zweiten Ölkrise scheiterte, kam es zu einem Wechsel der Regierung aber nicht zu einem Zusammenbruch des Systems.31 Die von Frank Bosch beschriebene Modernisierung hatte die Konservativen unter Helmut Kohl wieder regierungsfähig gemacht, sodass die FDP nur den Partner wechseln musste, um eine neoliberale Wende einzuleiten, der die Rekonsolidierung durch begrenzte Korrekturmaßnahmen gelang.32

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Die Koinzidenz von Krisenrhetorik und Aufbruchsstimmung ist kein völliger Widerspruch, sondern geradezu ein Beleg für die Intensität eines in allen entwickelten Industrieländern einsetzenden Strukturwandels während der siebziger Jahre. Diese Veränderungen erwischten die Bundesrepublik sozusagen auf dem falschen Fuße, weil der vorherige Erfolg des Wiederaufbaus und des »Wirtschaftswunders« eine Erwartung immerwährender Fortschritte geschaffen hatte, die sich unter den verschlechterten Rahmenbedingungen nicht mehr fortsetzen ließen.33 Es sollte nicht überraschen, dass das »Modell Deutschland« im Osten oder Westen zunächst versuchte, an seinen Erfolgsrezepten festzuhalten, und dadurch die Schwierigkeiten eher noch verschärfte.34 Erst die zweite Ölpreisrezession brachte den keynesianischen Traum des Vollbeschäftigungssozialstaats endgültig zum Platzen; dennoch fiel die dadurch in Gang gesetzte »Wende« wesentlich schwächer als in einigen vorher weniger erfolgreichen Nachbarländern wie England aus.

3. Problematische Interpretationen Zeitgenössische Vordenker hatten große Schwierigkeiten, diese veränderte Konstellation auf einen überzeugenden Begriff zu bringen. So orientierte sich der 1979 von Jürgen Habermas lancierte Versuch einer Ortsbestimmung mit dem Titel »Stichworte >zur geistigen Situation der ZeitNeu-Begründung«< dessen, was das Land zusammenhält: »einen neuen Gesellschaftsvertrag«.11 Wie passen Erfolgs- und Krisengeschichte zusammen? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt für den folgenden Essay. Dabei kommt es mir weniger darauf an, die Substanz der Erfolgserzählung empirisch zu prüfen oder der Triftigkeit der gängigen Verfallsbeschreibungen im Einzelnen nachzugehen. Eher mit heuristischem Interesse als mit dem Anspruch auf abschließende Ergebnisse formuliert, sollen vielmehr einige Thesen zum Zusammenhang von Erfolg und Krise vorgestellt werden, um so zu konzeptionellen Überlegungen zur Geschichte der bundesrepublikanischen siebziger Jahre zu kommen.

1. Vorgeschichte der Gegenwart So gut wie alle synthetisierenden Interpretationen und Erzählungen der deutschen Geschichte nach 1945/49 beziehen ihre leitende Fragestellung und den Referenzhorizont ihrer Urteile aus dem Verhältnis ihres Gegenstandes zur dunk-

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len Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - letztlich sind sie alle als »Nachgeschichten«12 des Nationalsozialismus konzipiert. Das gilt nicht nur für die eben genannten Titel, die den Weg der Bundesrepublik als Erfolgs-, Modernisierungs- oder Verwestlichungsgeschichte schildern, sondern genauso für jene zumeist älteren Arbeiten, die ihn mit Verweis auf strukturelle Kontinuitäten, die reibungsarme Integration der nationalsozialistischen Funktionseliten oder die Tabuisierung der NS-Vergangenheit als Misserfolgs-, Belastungs- oder Restaurationsgeschichte abstecken.13 Der Bezugspunkt bleibt stets die NS-Vergangenheit, und der Erklärungsanspruch ist auf die Frage gerichtet, wie, bis zu welchem Grade, in welchen Etappen, aufgrund welcher Umstände und Einflüsse sich die bundesrepublikanische Geschichte hiervon entfernte. So stellte beispielsweise Konrad Jarausch seine Geschichte der »Re-Zivilisierung« nach 1945 unter die Leitfrage, wie es den Deutschen gelang, aus der »selbstverschuldeten physischen Zerstörung und moralischen Diskreditierung wieder herauszukommen«.14 Die Berechtigung und Notwendigkeit dieser retrospektiven Erzählperspektive soll keinesfalls bestritten werden. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Demokratisierung, Verwestlichung und Modernisierung nach der NS-Diktatur ist und bleibt zentral. Vor allem dürfte sie als Leitperspektive für große nationalgeschichtliche Synthesen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wohl alternativlos sein. Je weiter allerdings - erstens - die Historisierung der Bundesrepublik voranschreitet und je stärker sich - zweitens - das Forschungsinteresse auf ihre späteren Phasen, beispielsweise auf die siebziger Jahre, verschiebt, desto wichtiger wird allerdings eine gewissermaßen prospektive Verschiebung der Frage- und Erzählperspektive. Hierdurch würde die Blickrichtung umgekehrt, sodass politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik nicht mehr primär als Nachgeschichte des Nationalsozialismus, sondern als Vorgeschichte der Gegenwart bzw. einer - von heute aus betrachtet - jüngsten Vergangenheit untersucht würde. Letztlich kann man dies als einen wesentlichen Bestandteil der »Historisierung« der Bundesrepublik begreifen, zu der auch gehört, dass sie zur Geschichte ihrer selbst wird. Zu erörtern wäre also in einem allgemeinen Sinne, wieweit sich Gegenwartsphänomene bzw. Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit auf Voraussetzungen zurückführen lassen, die in der Geschichte der Bundesrepublik selbst und nicht in ihrer Vorgeschichte liegen. Wenn man an die oben angedeuteten kontrastierenden Erzählungen von erfolgreicher Vergangenheit und krisenhafter Gegenwart anknüpft, geht es darüber hinaus in einem spezielleren Sinne darum, ob und wieweit die Lösungen vergangener Probleme zur Ursache neuer Probleme geworden sind. Anders formuliert: Wieweit steckte in den Wandlungsprozessen (bzw. in einigen von ihnen), die zur Stabilisierung der westdeutschen Nachkriegsdemokratie und zur Integration der Nachkriegsgesellschaft beitrugen, auch ein Krisenpotenzial, das sich zu einem späteren Zeitpunkt der bundesrepublikanischen Geschichte - und zwar ab den siebziger Jahren - realisierte? Dies ist die Leitfrage, die im Folgenden erörtert werden soll.

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In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dieser Zusammenhang seit einigen Jahren unter Stichworten wie »zweite Moderne« oder »reflexive Moderne« thematisiert. Diese Begriffe sollen eine Konstellation bezeichnen, in der die unintendierten Nebenfolgen von Modernisierungsprozessen selbst zum Hauptproblem der Gegenwartsgesellschaften wurden.15 Das trifft die Frage, um die es hier geht, und verfehlt sie zugleich durch einen sehr hohen Abstraktionsgrad und den stark universalisierenden Erklärungsansatz. Was von Ulrich Beck und anderen als Aporien von Modernisierungsprozessen analysiert wird, muss viel stärker historisiert und auf die bundesrepublikanische Entwicklung bezogen werden. Denn wenn die Annahme zutrifft, dass sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik nur schwer an die Umbrüche seit Anfang der siebziger Jahre anpassten und sich in den folgenden Jahrzehnten eine Art »Reformstau«Syndrom ausbildete, kann dies nicht allgemein mit den Herausforderungen der »nachindustriellen« Revolution oder der »Zweiten Moderne« erklärt werden. Vielmehr wird man auf die konkreten Vorbedingungen und Handlungsvoraussetzungen sehen müssen, unter denen die Zeitgenossen auf geänderte Bedingungen reagierten. Diese historisch entstandenen Handlungsbedingungen beziehen sich natürlich auf unterschiedliche Dimensionen, schließen institutionelle Lösungen für bestimmte Funktionsbereiche moderner Gesellschaften ebenso ein wie Einstellungen, kollektive Deutungsmuster und Werthaltungen. Insbesondere der durch den historischen »Erfahrungsraum« geprägte »Erwartungshorizont« der Zeitgenossen - um Reinhart Koselleck mit seinem klassischen Begriffspaar zu zitieren prägte ihre Wahrnehmung der Gegenwart, ihre Vorstellungen von der Zukunft und ihre Ansprüche an politische Institutionen und Akteure. Zu diskutieren ist also, ob gewisse »Problemlösungen«, die während der fünfziger und sechziger Jahre zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik beitrugen, indem sie ihre Stabilität, Legitimität und soziale Integration förderten, sich unter den veränderten Bedingungen der siebziger Jahre entweder zur Ursache neuer Probleme entwickelten oder die Anpassungsfähigkeit der bundesrepublikanischen Institutionen an geänderte Bedingungen herabsetzten bzw. auf spezifische Weise prägten.16 Dass eine solche Perspektivverschiebung Gewinn verspricht, ist in programmatischen Texten zur Geschichte der Bundesrepublik schon mehrfach angedeutet worden, ohne dass dies - wenn ich richtig sehe - auf breitere Resonanz gestoßen wäre: Hans Günter Hockerts hat schon vor Jahren angemerkt, dass die zeithistorische Forschung ihre Untersuchungsthemen bislang »weit stärker auf die Nachgeschichte vergangener als auf die Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen« zugeschnitten und die Untersuchung der »problemlösenden« Dimension eindeutig den Vorrang gegenüber dem Studium ihrer »problemerzeugenden« Potenzen gehabt habe.17 Konrad Jarausch wies jüngst auf mögliche »Lernüberschüsse« im »Re-Zivilisierungsprozeß« der Deutschen hin, auf einen teilweisen »Überschuß an Korrekturen..., die selbst neue Probleme für die Weiterentwicklung der zweiten deutschen Demokratie darstellten«.18 In die gleiche Richtung geht der Hinweis von Herbert Kitschelt und Wolfgang Streeck,

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die in der Einleitung zu einem Band, der sich mit den stagnativen Tendenzen der bundesrepublikanischen Gegenwartsgesellschaft befasst, konstatieren: »The same institutions that once provided for economic prosperity and social cohesion today impede adjustment and stand in the way of sustainable response to new problems.« 19 Am deutlichsten wurde meines Wissens Klaus Naumann, der eine Erzählhaltung forderte, »die aus dem Bann des >Postfaschismus< heraustritt«, eine Sensibilität für »die besonderen, zeitbedingten und also vergänglichen Eigentümlichkeiten der alten Bundesrepublik des Kalten Krieges und der Zweistaatlichkeit« entwickelt und sich für den Verschleiß, das Altern und die partielle Paralyse von institutionellen Arrangements und Lösungen, kurz: für die in der Bundesrepublik selbst liegende Vorgeschichte gegenwärtiger Krisenerfahrungen interessiert.20 Die Zeithistoriker seien aufgefordert, die Geschichte der alten Bundesrepublik aus der Perspektive der Problemlagen der neuen Bundesrepublik nach 1990 neu zu interpretieren. Nötig sei eine Blickverschiebung »von der Erörterung der Konstitutionsbedingungen der Bonner Republik auf ihre Reproduktionsprobleme (Strukturkrisen, Handlungsfallen etc.)«.21 Anknüpfend an FranzXaver Kaufmanns Begriff von einer »Sozialpolitik zweiter Ordnung«, 22 die hauptsächlich damit befasst sei, die von sozialpolitischen Institutionen selbst erzeugten Schwierigkeiten zu bearbeiten, bemerkt Naumann: »Ob Sozialsysteme oder Föderalismus, Parteienstaat samt Finanzierung oder Wehrverfassung, alle diese institutionellen Strukturen, die die bundesdeutschen Integrationsleistungen, Stabilitätserfolge und Modernisierungschancen begründen halfen, sind seit Jahren einem Politiktyp >zweiter Ordnung< anheimgefallen. Dies könnte man als Abnutzungsgeschichte [Hervorhebung im Original] beschreiben.« 23 Schließlich wirft der kürzlich von Thomas Hertfelder und Andreas Rödder herausgegebene Band zum »Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?« ähnliche Fragen auf, indem er die »Ordnungskonzeptionen der frühen Bundesrepublik« in ihrer historischen Entwicklung und hinsichtlich ihrer »Tragfähigkeit in Gegenwart und Zukunft« untersucht, dabei allerdings sozialhistorische Perspektiven eher ausblendet.24

2. Ende der Nachkriegszeit Die folgende Skizze greift diese Plädoyers auf und stellt sie in einen engeren zeitlichen Kontext. Eine Verbindung von retrospektiver und prospektiver Erzählperspektive erscheint nämlich gerade für die anstehende Geschichte der bundesrepublikanischen siebziger Jahre besonders gewinnversprechend. Zwar kann man trefflich darüber streiten, wann denn das »Ende der Nachkriegszeit« erreicht worden ist. Bundeskanzler Erhard hat es bekanntlich auf den Beginn seiner eigenen, kurzen und glücklosen Kanzlerschaft terminiert, um nur eines von mehreren Periodisierungsangeboten zu nennen, - eine eher wenig überzeugende Datierung. Einige Plausibilität kann sicherlich die Behauptung für sich in Anspruch nehmen, dass das eigentliche Ende der Nachkriegszeit sehr viel später, nämlich erst

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mit dem Ende des Ost-West-Konflikts, dem Untergang der DDR und der Wiedervereinigung gekommen war. Sowohl aus einer europäischen Perspektive als auch aus einer Sicht, die den deutschen Nationalstaat in den Vordergrund rückt, ist dies eine stimmige Zäsur. Wenn man allerdings vor allem an der Binnenentwicklung beider deutscher Staaten interessiert ist, bietet sich - so meine erste These - der Anfang der siebziger Jahre als Zäsur an, um das »Ende der Nachkriegszeit« zu markieren. Die bundesrepublikanische Institutionenordnung war konsolidiert, die »Westernisierung« der politischen Kultur gut vorangekommen, die langjährige politische Hegemonie der CDU gebrochen, die Westintegration durch die neue Ostpolitik ergänzt, die nationale Frage entdramatisiert und gegenüber der DDR ein Modus Vivendi gefunden. In wenigen Jahren - grob gesprochen zwischen 1969 und 1975, mit einer Verdichtung um 1973/74 - überschnitten sich zahlreiche ökonomische, soziale und kulturelle Umbrüche mit gravierenden Fernwirkungen in die Zukunft: Das westdeutsche Migrationsregime trat mit dem offiziellen Ende der »Gastarbeiter«-Zuwanderung in eine neue Phase.25 Die »natürliche« Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik passierte in diesen Jahren den »zweiten demografischen Übergang« und wies fortan anhaltend negative Werte auf.26 In den Chefetagen von Politik, Medien und Wissenschaft wurde die »Gründergeneration« mehr und mehr durch die »45er«-Generation abgelöst.27 Für große Teile der Bevölkerung lag in diesen Jahren die »entscheidende Periode für den Durchbruch des Massenkonsums«.28 Neue Formen politischer Partizipation Bürgerinitiativen, Demonstrationen etc. - veränderten nachhaltig die Beziehungen zwischen Politik und Zivilgesellschaft.29 Die sich bereits seit den sechziger Jahren abzeichnende »Entkirchlichung« der bundesrepublikanischen Bevölkerung bekam noch einmal einen kräftigen Schub, ablesbar an ruckartig hochschnellenden Zahlen der Kirchenaustritte.30 Vor allen Dingen fand aber 1973/74 der scheinbar ewige Nachkriegsboom sein Ende und mit ihm die auf seiner Basis gewachsene Zukunftsgewissheit und alle hochambitionierten Visionen innerer Reformen. Zugleich - so die zweite These - markiert der Übergang in die siebziger Jahre den Zeitpunkt, ab dem einige Problemlösungen der zurückliegenden beiden Jahrzehnte immer mehr als problemgenerierende Faktoren in Erscheinung traten und die Bundesrepublik damit gewissermaßen in ihre »selbstreferentielle« Phase eintrat. Während ich diese These im Folgenden mit einigen Beispielen unterfüttern möchte, will ich die dritte These hier nur als Merkposten für komparative und beziehungsgeschichtliche Anschlussüberlegungen stehen lassen, ohne sie weiter zu verfolgen: Gleiches - so die These - gilt für die DDR, deren herrschende Elite nach konfliktreichen Konsolidierungsjahren seit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker immer mehr mit den Folgeerscheinungen ihres eigenen Projekts konfrontiert wurde, ohne auf diese allerdings eine zukunftsfähige Antwort zu finden.

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3. Nicht intendierte Folgen von Problemlösungen Die Überlegung, dass sich die Verunsicherungen und Krisen, die seit Anfang der siebziger Jahre in der westdeutschen Gesellschaft zu beobachten sind, zu einem gewissen, im Einzelfall näher zu bestimmenden Teil als unvorhergesehene und nicht intendierte Konsequenzen von Anpassungs- und Lernleistungen in der Konstituierungsphase der Bundesrepublik bzw. als Reaktionen auf solche Konsequenzen interpretieren lassen, bedarf noch einiger Präzisierung. Einmal sind Fragen der Gegenstandsabgrenzung angesprochen. Welche Dimensionen und Aspekte lassen sich aus dieser Perspektive sinnvoll untersuchen und wie hängen sie möglicherweise miteinander zusammen? Geht es um »Ordnungskonzeptionen« und institutionelle Lösungen, um Elemente der politischen Kultur, um soziale Strukturen, um kollektive Erfahrungen und Erwartungshaltungen? Wahrscheinlich kann man all dies aus der angesprochenen Untersuchungsperspektive anschauen. Zu klären wäre allerdings, wo es besonderen Ertrag verspricht. Nicht unerheblich dürfte außerdem die Frage sein, in welchem Verhältnis lange Kontinuitäten, Phänomene der »Pfadabhängigkeit« und der »Tradition« in Abgrenzung zu Innovationen und Neuerfindungen der Nachkriegszeit stehen. Vielfach ist ja auf institutionelle und strukturelle Kontinuitäten hingewiesen worden, von personellen Kontinuitäten ganz zu schweigen, die unter der Oberfläche politischen Wandels zu beobachten sind und die frühe Bundesrepublik mit ihrer Vorgeschichte verbanden. Aus der Perspektive der siebziger Jahre ist es ein Unterschied, ob man es mit Folgeerscheinungen der »Bewältigung« des Nationalsozialismus zu tun hat oder mit den Konsequenzen sehr viel älterer Pfade, auf die man in den späten vierziger und fünfziger Jahren wieder einschwenkte oder die nie verlassen worden waren. Außerdem standen politische Entscheidungen, institutionelle Neuerfindungen oder wirtschaftliche Entwicklungen der Nachkriegszeit ja stets im Kontext solcher älteren Strukturen, tradierter Handlungsorientierungen und längerer Entwicklungspfade, sodass man es - wenn man am problemgenerierenden Potenzial von Problemlösungen dieser Zeit interessiert ist - immer mit Mischungen von Kontinuität und Innovation zu tun hat. Insofern bildet die hier entwickelte Untersuchungsperspektive auch keinen Gegensatz zu anders geschnittenen Periodisierungen, etwa zum Vorschlag einer die politischen Zäsuren übergreifenden europäischen »Hochmoderne« zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Beginn der siebziger Jahre.11 Wenn hier der Akzent auf die Folgen von Problemlösungen der Nachkriegszeit gelegt wird, schließt dies nicht aus, dass diese Weichenstellungen der vierziger und fünfziger Jahre selbst wiederum in längere Kontinuitätslinien einzuordnen sind. Eine weitere Unterscheidung ist zwischen den problemgenerierenden Konsequenzen der in den Nachkriegsjahrzehnten gefundenen »Lösungen« auf der einen Seite - beispielsweise den finanziellen Fernwirkungen der Adenauerschen Rentenreform von 1957 - und späteren Reaktionen auf derartige Lösungen auf

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der anderen Seite zu treffen - man denke an das Verhältnis des linken »Antifaschismus« der späten sechziger und siebziger Jahre zur Tabuisierungspraxis der vorhergehenden Jahrzehnte. Damit ist letztlich der Zusammenhang zwischen strukturellen Faktoren wie institutionellen Arrangements, Ressourcenverteilungen oder Verantwortungszuschreibungen an staatliche, wirtschaftliche oder zivilgesellschaftliche Akteure und der sich verändernden Perzeption und Deutung solcher Faktoren angesprochen. Und schließlich dürfte es nicht immer leicht und vielleicht auch nicht immer möglich sein, zwischen universellen Erscheinungen der »zweiten« oder reflexiven Moderne und den Konsequenzen der Art und Weise zu unterscheiden, wie in den fünfziger und sechziger Jahren Abschied von der NS-Vergangenheit genommen wurde. Der Übergang in die siebziger Jahre markierte in allen europäischen Staaten eine Wasserscheide der Nachkriegszeit. Überall in West- und auf andere Weise auch in Osteuropa kündigte sich ab 1973 das Ende der trente glorieuse, des golden age an, und in etlichen Ländern wurde dieser Übergang von inneren Konflikten und Prozessen politischer Neuorientierung begleitet.32 Nicht diese Tatsache selbst steht hier zur Debatte, sondern die Frage, wieweit einerseits die Erscheinungsformen dieses Übergangs und andererseits die Art und Weise, wie wirtschaftliche, politische und zivilgesellschaftliche Akteure in der Bundesrepublik auf ihn reagierten, durch westdeutsche Spezifika geprägt waren, die mit der Verarbeitung der NS-Vergangenheit zu tun hatten. All dies ist in Rechnung zu stellen und gegeneinander abzuwägen. Im Ergebnis könnte eine differenziertere und komplexere Sicht auf die bundesrepublikanische Erfolgsgeschichte herauskommen, mit stärkerer Berücksichtigung ihrer Ambivalenzen und Aporien und auch mit mehr Erklärungskraft für die Anpassungs-, Modernisierungs- und »Reform«-Schwierigkeiten der »jüngsten« Vergangenheit. a) Wirtschaftliche Anpassungsschwierigkeiten Zu den »Lösungen« und kollektiven Erfahrungen, die erheblich zur Stabilisierung der frühen Bundesrepublik und zur Integration der Nachkriegsgesellschaft beigetragen hatten, seit den frühen siebziger Jahren aber selbst problemgenerierend wirkten, wird man sicherlich Verlauf und Implikationen der ökonomischen Rekonstruktion nach 1945 rechnen können. Es gehört zu den Gemeinplätzen der Zeitgeschichtsschreibung, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau, der Anfang der fünfziger Jahre in Fahrt kam, um dann in den langen europäischen Nachkriegsboom überzugehen, der letztlich erst 1973 auslief, zu den großen Stabilisierungs-, Integrations- und Legitimationsfaktoren der frühen Bundesrepublik gehörte.33 Steil steigende Einkommen, ein üppiges Steueraufkommen, das staatliche Handlungsspielräume schuf, Vollbeschäftigung seit Ende der fünfziger Jahre - all dies gab dem Experiment der zweiten deutschen Demokratie eine solide ökonomische Basis. Ganz unabhängig davon, wie man sich in der wirtschaftshistorischen Kontroverse über die Ursachen dieser ungewöhnlichen Wachstumsphase positioniert,34 steht ihre Bedeutung für die »Bewältigung« der Folgen von Krieg und Diktatur außer Frage. Sie legitimierte die wirtschaftliche, soziale und

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politische Ordnung der Bundesrepublik - gerade im Kontrast zur nachhinkenden DDR - , und sie versöhnte die westdeutsche Bevölkerung endgültig mit der Moderne. Obwohl heute wahrscheinlich nicht sehr viele Historiker der zugespitzten Behauptung zustimmen werden, die Geschichte der Bundesrepublik sei vor allem ihre Wirtschaftsgeschichte, 35 ist kaum von der Hand zu weisen, dass die kollektive, wenn auch ungleichmäßige Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg der Nachkriegsjahrzehnte die Identifikation der Bundesbürger mit der neuen Demokratie entscheidend gefördert hat. Dies gilt umso mehr, als dass die »Nation« als klassischer Bezugsrahmen der »gedachten Gemeinschaft« durch die nationalsozialistische Vergangenheit wie die zweistaatliche Gegenwart auf doppelte Weise prekär geworden war und das rational-bürgerschaftliche Identifikationskonzept des »Verfassungspatriotismus« allenfalls eine kleine Elite beeinflusste. Für die hier verfolgte Fragestellung wäre auf das Belastungspotenzial für die Zukunft hinzuweisen, das im großen Boom steckte, die Zeit nach seinem Ende 1973 prägte und die Möglichkeiten der Krisenbewältigung und des Strukturwandels beeinflusste. Ein erster Aspekt, der unter dieser Perspektive erwähnenswert ist, betrifft die Verzögerung des sektoralen Strukturwandels. Der Nachkriegsaufschwung war vor allem ein industrieller Aufschwung. Der Anteil der Erwerbstätigen im industriellen Sektor wuchs von 43 % im Jahre 1950 auf 48 % im Jahre 1970, als die Kurve ihren Scheitelpunkt erreichte und anschließend eine kontinuierlich fallende Tendenz bekam - im Jahre 2004 waren es noch rd. 31 %.36 Obwohl auch der Dienstleistungssektor zunahm, wurde die Bundesrepublik während der ganzen Boomphase immer mehr zur Industriegesellschaft. Dass das Wirtschaftswunder ein Industriewunder war, reflektierte sowohl die Situation einer Wiederaufbaugesellschaft mit enormem Nachholbedarf als auch die besonderen Stärken der exportorientierten deutschen Industrie. Die Kehrseite des Erfolgs lag allerdings darin, dass der unausweichliche Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie später und langsamer einsetzte als anderswo - insbesondere in den USA. Die nachkriegsbedingte Spätblüte der fordistischen Industriegesellschaft verzögerte die Tertiarisierung und erhöhte die Übergangs- und Anpassungsschwierigkeiten, als der Boom in den siebziger Jahren vorbei war und neue Antworten auf die endemische Plage der Massenarbeitslosigkeit gefragt waren. 37 Man tat »sich in Deutschland lange Zeit schwer zu verstehen, dass wirtschaftliche Wertschöpfung und wirtschaftliches Wachstum auch jenseits der Produktion von Stahl und Autos möglich ist. Auch die Gewerkschaften blieben sehr stark einem produzentenorientierten Denken verhaftet.« 38 Die durch den industriewirtschaftlichen Boom geeichten Normalitätsstandards, die Vorstellung von »vollwertiger«, »richtiger« und »auskömmlicher« Arbeit, bildeten noch lange nach dessen Ende den Erfahrungshintergrund und prägten die Erwartungen von Politik und Tarifparteien - jedenfalls weit länger, als es einer zügigen Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen gut tat. Nicht zuletzt stützte der spätfordistische Industrialisierungshöhepunkt ein am Ideal des male breadwinner orientiertes Arbeitskonzept und damit ein tradiertes Geschlechter-

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modell von Arbeit und Haushalt, das in der Bundesrepublik später und langsamer erodierte als in anderen westeuropäischen Gesellschaften und der DDR.39 Die langen Jahre außergewöhnlichen Wachstums und schneller Wohlstandsvermehrung wurden sowohl von vielen politischen Akteuren als auch von großen Teilen der Bevölkerung als selbstverständlich und »normal« wahrgenommen und bedenkenlos in die Zukunft extrapoliert. Als die Sozialdemokratische Partei im Sommer 1973 den ersten Entwurf ihres »Orientierungsrahmens '85« diskutierte, der als »Langzeitprogramm« die politischen Ziele der Partei bis zur Mitte des kommenden Jahrzehnts festschreiben sollte, ging sie ganz unbefangen von einem durchschnittlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von 4,5 % aus.40 Dieser feste Glaube an die »immerwährende Prosperität«41 der Bundesrepublik stützte sich nicht nur auf die Erfahrung der zurückliegenden zwanzig Jahre, sondern auch auf den scheinbaren oder tatsächlichen Erfolg bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise von 1966/67, die vielen als Triumph keynesiani scher Globalsteuerung und als Beweis für die politische Steuerbarkeit marktwirtschaftlicher Prozesse galt. Der Erwartungshorizont der Zeitgenossen war somit durch lang- wie kurzfristige Erfahrungen auf Kontinuität und politische Gestaltbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung eingestellt. Knut Borchardt hat schon 1985 mit Blick auf solche Effekte darauf hingewiesen, dass »der Wachstums- und Beschäftigungserfolg der Nachkriegszeit [...] selbst dazu beigetragen [hat], die Bedingungen seiner Fortsetzung zu untergraben«.42 Als Beispiel führte er an, dass der Erfolg der Globalsteuerungspolitik von 1966/67 die Gewerkschaften Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre dazu motivierte, massive Lohnerhöhungen zu fordern und durchzusetzen, die anders als bisher üblich über dem Produktivitätsfortschritt lagen. Das Beschäftigungsrisiko einer solchen Strategie, so die scheinbare Lehre aus der glücklich überstandenen Krise wenige Jahre zuvor, wurde ja durch staatliche Politik aufgefangen. Zwar setzte 1974 die »große Ernüchterung« ein und ein »langsamer und schmerzlicher Abschied von der Globalsteuerung« begann, doch gelang es der sozialliberalen Koalition nicht mehr, zu einer konsistenten und widerspruchsfreien Wirtschaftspolitik zu kommen.43 Man könnte diese Anpassungsschwierigkeiten als ein Phänomen »kognitiver Dissonanz« interpretieren, bei dem langjährige Gewissheiten mit kontrastierenden neuen Erfahrungen nicht widerspruchsfrei in Einklang gebracht werden können. Dieser Effekt dürfte dadurch verstärkt worden sein, dass der Nachkriegsboom auf der sozialen Ebene den Niedergang der alten sozialmoralischen Milieus und der in sie eingebetteten Deutungskulturen verstärkt und beschleunigt hatte, sodass Erwartungshaltungen der Bürger nicht mehr an milieuspezifische Kontexte gebunden waren, sondern »sich aus zunehmend identischen informativen und kommunikativen Strukturen« entwickelten.44 So stand beispielsweise den von der Krise der siebziger Jahre besonders betroffenen Arbeitnehmergruppen das einstmals so prominente linke Deutungskonzept des »Klassenkampfes« nicht mehr zur Verfügung. Stattdessen richteten sich alle Erwartungen auf den steuernden und umverteilenden Sozialstaat, der sich in den siebziger Jahren nicht nur mit wachsenden finanziellen Schwierigkeiten, sondern

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auch mit der schwindenden Glaubwürdigkeit seiner Gestaltungsversprechen und einer Krise steigender Erwartungen konfrontiert sah.45 b) Sozialstaatliche Defensive Als zweites Beispiel für die Dialektik von Problembewältigung und Problemgenerierung im Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der altbundesrepublikanischen Geschichte kann die Entwicklung des Sozialstaats angeführt werden, der seit Jahrzehnten als schwer therapierbarer Dauerpatient gilt. Die sozialstaatliche Expansion war vom Anfang der fünfziger Jahre bis zum Anfang der siebziger Jahre eng mit dem wirtschaftlichen Boom verbunden: materiell, weil sie vom ständig wachsenden Umverteilungsspielraum abhing, und symbolisch, weil die ebenso vage wie zugkräftige Integrationsformel von der »sozialen Marktwirtschaft« ja von dem großen Versprechen lebte, die Dynamik des Marktes mit den Sicherheitsbedürfnissen der abhängig Beschäftigten und der von Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen zu versöhnen.46 Zugleich stand der früh-bundesrepublikanische Sozialstaat in einer doppelten Glaubwürdigkeitskonkurrenz: einerseits gegenüber der populären Erinnerung an die Friedensjahre der NS-Diktatur, die während der fünfziger Jahre noch von sehr vielen Bundesbürgern als Deutschlands beste Jahre imaginiert wurden.47 Andererseits gegenüber der DDR, deren Sozialismusprojekt von der Utopie wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gleichheit lebte. Dass der bundesdeutsche Sozialstaat diesen Wettbewerb im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre gewinnen konnte, hat die Legitimität des politischen und gesellschaftlichen Systems ebenso gefestigt, wie es zur Delegitimierung seiner historischen wie gegenwärtigen Konkurrenten beitrug. Was der Lastenausgleich für die materielle und symbolische Integration der Vertriebenen geleistet hat, kann schwerlich überschätzt werden. Ähnliches ließe sich über die Rentenreform von 1957 und ihre Wirkungen auf die ältere Generation sagen. Die hohe Bedeutung des Sozialstaats für die politische Integration der Bundesrepublik zeigt sich zudem daran, dass die beiden großen Parteien CDU und SPD sich in dieser Zeit als Sozialstaatsparteien profilierten, fallweise in einen sozialpolitischen Überbietungswettbewerb eintraten und die Erwartungen ihrer Klientel an die soziale Verantwortlichkeit und Leistungsfähigkeit des Staates stimulierten.48 Die Sozialstaatsexpansion und die quasikorporative Regulierung des Arbeitsmarktes haben die Bundesrepublik zwischen Anfang der fünfziger und Anfang der siebziger Jahre zur sozial pazifizierten Arbeitnehmergesellschaft gemacht - mit hohen Stabilitäts- und Legitimitätsrenditen. Auch in den siebziger und achtziger Jahren bestand dieser Sozialstaatskonsens fort, freilich unter sich fortwährend verschlechternden wirtschaftlichen und demografischen Rahmenbedingungen.49 Welches enorme problemgenerierende Potenzial in dieser Integrationsstrategie lag, ließe sich leicht an Beispiel der Rentenreform von 1957 illustrieren, deren strukturelle Defizite angesichts des demografischen Umbruchs seit den siebziger Jahren debattiert werden, ohne dass eine durchgreifende Reform erreicht worden wäre.50 Nachdem die erste sozialliberale Koalition noch einmal einen

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kräftigen sozialpolitischen Expansionsschub ausgelöst hatte, war 1973 das Ende der Fahnenstange absehbar. Die sozialstaatliche Stabilisierung der Demokratiegründung erwies sich von nun an als schwierige Hypothek, deren höchst komplexe Details hier nicht entwickelt werden können. Die hohe Pfadabhängigkeit sozialstaatlicher Institutionen, die Spannung zwischen langfristiger Problemkumulation und kurzfristigen Anliegen unterschiedlichster Interessentengruppen, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, eine sehr verbreitete Bereitschaft zur Verantwortungszuweisung an den vorsorglich-fürsorglichen Staat, vielleicht auch der Wettbewerb mit der Honeckerschen »Fürsorgediktatur« 51 standen freilich einer Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen im Wege.52 c) Migrationspolitik Das dritte Beispiel ist mit den schon angesprochenen Themen Wirtschaft und Sozialstaat verbunden, bildet aber einen wichtigen eigenen Gegenstand. Die Rede ist vom bundesrepublikanischen Migrationsregime. 53 Wenn man den Begriff einmal probeweise entsprechend breit definiert, war Westdeutschland seit Ende des Zweiten Weltkrieges wahrscheinlich die mobilste »Einwanderungsgesellschaft« in Europa. 54 Den quantitativ größten Anteil hieran hatten die Zwangsmigranten der Vertreibungen, die zusammen mit den Flüchtlingen und Auswanderern aus der DDR das Wanderungsgeschehen der fünfziger Jahre bestimmten. Dass deren Integration trotz aller individuellen Härten und Belastungen so relativ reibungslos gelang, gehört sicher zu den besonders bemerkenswerten politik- und sozialhistorischen Aspekten der fünfziger und sechziger Jahre. Die erfolgreiche und rasche Integration der deutschen Einwanderer kontrastiert deutlich mit den Integrationsdefiziten und gravierenden Konflikten, die die Einwanderung aus nichtdeutschen Herkunftsregionen begleiteten. Auffällig ist, dass die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte bis Anfang der siebziger Jahre - Bruchpunkt ist auch hier das Jahr 1973 mit dem Anwerbestopp - aus der Sicht fast aller beteiligten Akteure als Erfolg galt.55 Die Anwerbung von Arbeitsmigranten auf Zeit stützte den wirtschaftlichen Wachstumskurs, als die deutsch-deutsche Migration zwangsweise gestoppt worden war und alle Arbeitskraftreserven ausgeschöpft schienen. Sie festigte lange Zeit die Sozialversicherungssysteme, in welche die Migranten einzahlten, ohne in nennenswertem Umfang ihre Leistungen in Anspruch zu nehmen. Sie leistete zudem einen schwer zu gewichtenden Beitrag zur politisch-mentalen Stilllegung des Klassengegensatzes, da sie der deutschen Arbeiterschaft einen relativen Aufstieg durch »Unterschichtung« bescherte. Arbeitsmigration hat sicher auch einem späteren Wiederaufflackern von Spannungen entlang der Klassenlinie entgegengewirkt, da Marktrisiken zwischen deutschen und nichtdeutschen Arbeitskräften ungleich verteilt waren und zudem eher Konkurrenzängste als Solidaritätsgefühle zwischen beiden Gruppen herrschten. Mit dem Übergang in die siebziger Jahre zerfiel freilich die Illusion einer gesteuerten temporären Arbeitsmigration, wurde die faktische Einwanderungssituation sichtbar und begann eine sich über Jahrzehnte hinziehende, widersprüchliche und sprunghafte Politik der Einwanderungsverweigerung in einer

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Einwanderungsgesellschaft, begleitet von sozialen und kulturellen Spannungen. Einwanderung wurde von einer Erfolgsgeschichte zu einer Geschichte von Konflikten und verfehlter Politik. Zu den Ursachen, die hierfür in Betracht zu ziehen sind, gehört die Tatsache, dass das Einwanderungsregime zwischen 1955 und 1973 von illusionären Prämissen ausging, deren Konsequenzen erst nach 1973 fühlbar wurden. Auch andere langfristig wirksame Struktureffekte der »Gastarbeiter-Politik der fünfziger und sechziger Jahre wären ins Auge zu fassen, etwa die Frage, wieweit der Zustrom wenig qualifizierter, billiger Arbeitskräfte den Rationalisierungsdruck in der Wirtschaft minderte und entsprechende Innovationen verzögerte. Auch könnte man aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive argumentieren, dass die im internationalen und vor allem im deutsch-deutschen Vergleich (1970: BRD 46%, DDR 66 %56) eher niedrige Frauenerwerbsquote der Bundesrepublik auch daher rührte, dass weniger einheimische Frauen, sondern überwiegend männliche Arbeitsmigranten als industrielle Reservearmee mobilisiert wurden. Migrationspolitik wirkte indirekt auch als Gleichstellungsblockade und Stütze eines tradierten Geschlechterrollenkonzepts. 57 Insofern ist es auch kein Zufall, dass sich das Ende der »Gastarbeiter«-Phase des bundesdeutschen Migrationsregimes mit einer arbeitsmarktpolitischen Weichenstellung zugunsten der Ausweitung von Frauenerwerbsarbeit überschnitt - was freilich die Arbeitsmarktprobleme nach 1973/74 eher verstärkte als milderte. 58 Auch im Fall der bundesrepublikanischen Migrationspolitik lässt sich also feststellen, dass die Defizite, Probleme und Konflikte der siebziger Jahre der Preis waren, der für Stabilität und Prosperität in den Jahrzehnten zuvor gezahlt wurde. Wieweit die widersprüchliche und zunehmend realitätsfremde »Ausländerpolitik« der siebziger und achtziger Jahre auch als Ausdruck einer generellen, unsicheren Haltung zu Fragen der Nation und Nationalität zu sehen ist, die wiederum auf die Erfahrung des Nationalsozialismus und der Teilung zurückgeht, wie dies kürzlich Peter Graf Kielmansegg erwogen hat,59 wäre zu diskutieren. d) Politische Blockaden Das letzte Beispiel, das hier angeführt werden soll, betrifft die politische Institutionenordnung. Die große Bedeutung des Föderalismus in der Ordnung des Grundgesetzes kann geradezu als ein Paradebeispiel dafür gelten, wie alliierte hier besonders US-amerikanische - Demokratiekonzepte und ältere deutsche Verfassungstraditionen ineinandergriffen, um strukturelle Barrieren gegen eine zu starke Zentralisierung staatlicher Macht zu errichten und Lehren aus dem NSRegime zu ziehen. In Absetzung von Zentralisierungstendenzen in der Weimarer Reichsverfassung und vor allem im Gegensatz zur vollständigen Zerstörung des Föderalismus unter der NS-Diktatur wurde den Ländern in der Besatzungszeit und im Grundgesetz eine Schlüsselrolle zugewiesen. Demokratiegründung und Verfassungsgebung liefen bekanntlich über die neu gegründeten Länder, die Ministerpräsidenten der Länder haben eine sehr eigenständige und starke Stellung, die Finanzverfassung von Bund und Ländern waren und sind eng verschränkt, dem Bundesrat wurde eine wichtige Rolle im Gesetzgebungsprozess

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eingeräumt. Die föderale Ordnung der Bundesrepublik gehörte zweifellos zu den institutionellen »Lösungen«, mit denen »Lehren« aus der Diktaturerfahrung gezogen wurden. Ebenso deutlich ist aber auch, dass diese Lösung in der weiteren Entwicklung selbst neue Probleme hervorbrachte, die seit längerem unter dem Stichwort »Föderalismusreform« diskutiert werden.60 Hier reichen einige Andeutungen zur Erinnerung: Das Nebeneinander zahlreicher länderspezifischer Politiken bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Anspruches auf Koordination nach dem Prinzip eines »kooperativen Föderalismus« führte zu sehr schwerfälligen und meist unbefriedigenden Abstimmungsprozeduren wie etwa in der Konferenz der Länderkultusminister. Der Bund weitete seine Zuständigkeiten in der konkurrierenden Gesetzgebung im Laufe der Zeit immer weiter aus, im Gegenzug stieg der Anteil der Bundesgesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedurften, von anfänglich prognostizierten 10% auf fast 60% an. Politische Entscheidungsprozesse verlagerten sich aufgrund des hohen Abstimmungsbedarfs immer mehr aus den Parlamenten in Aushandlungsgremien, in denen die Länderexekutive - oft als parteitaktisch agierender »Vetospieler« - das Sagen hat.61 Die Liste könnte leicht verlängert werden, aber auch so sollte die Linie des Arguments deutlich werden: Die föderale Ordnung der Bundesrepublik hat sich als sehr erfolgreiche institutionelle Lösung bei der Re-Demokratisierung Westdeutschlands erwiesen - und übrigens auch bei der Demokratisierung der ehemaligen DDR - , zugleich aber im Laufe ihres »Alterns« eine Entwicklung genommen, die sowohl unter demokratietheoretischen Aspekten als auch unter Gesichtspunkten der Leistungseffizienz und der Anpassungselastizität problematisch ist. Ähnlich ließe sich übrigens hinsichtlich einer weiteren Grundsatzentscheidung zur Ausgestaltung der westdeutschen Nachkriegsdemokratie argumentieren. Das Grundgesetz präferiert und fixiert ganz eindeutig eine repräsentative parlamentarische Demokratie. Plebiszitäre Elemente spielen auf Bundesebene keine und auf Landes- und Kommunalebene nur eine sehr untergeordnete Rolle bei der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Dieser Verzicht auf direktdemokratische Instrumente wie Volksbegehren oder Volksentscheide wird immer wieder als eine bewusste Konsequenz aus der historischen Erfahrung der Instabilität und des Niedergangs der Weimarer Republik interpretiert, zu dem plebiszitäre Verfahren mit ihrer Anfälligkeit für populistische Mobilisierung, Polarisierung und Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen nicht unerheblich beigetragen hätten. Ganz gleich, ob diese Diagnose der institutionellen Schwächen der Weimarer Republik zutrifft oder nicht, und auch unabhängig davon, wieweit dies tatsächlich der leitende Gesichtspunkt bei den entsprechenden Beratungen des Parlamentarischen Rates gewesen ist, spricht einiges dafür, dass die Abschirmung des politischen Entscheidungsprozesses gegen die direkte Intervention des Souveräns während der Konstituierungsphase der Bonner Republik die westdeutsche Demokratiegründung eher begünstigt und gestärkt hat. Ob dies allerdings auch in der Folgezeit der Fall gewesen ist, wäre zumindest einer genaueren Erörterung

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wert. Seit den späten sechziger Jahren, mit steigender Intensität im Zusammenhang mit den Neuen Sozialen Bewegungen der siebziger Jahre, wurde immer wieder über die Erweiterung politischer Partizipationschancen und die Ergänzung des repräsentativen parlamentarischen Systems durch direktdemokratische Prozeduren debattiert. Die »friedliche Revolution« von 1989 hat dieser Diskussion einen weiteren Schub gegeben.62 Eine grundsätzliche Akzentverlagerung zugunsten plebiszitärer Verfahren hat es allerdings trotz länderspezifischer Regelungen zur Erleichterung von Volksbegehren und -entscheiden nicht gegeben. Bezogen auf die hier zur Debatte stehenden siebziger Jahre stellt sich die kontrafaktische - Frage, ob die Versperrung des direktdemokratischen Weges die Integration des Protestpotenzials der Neuen Sozialen Bewegungen (man denke etwa an die Massenproteste gegen den Bau von Atomkraftwerken) erschwert, politische Radikalisierung begünstigt, legitime Partizipationsansprüche frustriert und letztlich die in diesen Jahren spürbare Legitimationskrise des Parteienstaates verschärft hat. Auch wenn diese Vermutung plausibel ist, müsste sie sich gegen den naheliegenden Einwand behaupten, dass die fulminante Erfolgsgeschichte der Partei »Die Grünen« auf längere Sicht gerade das anhaltende Integrationspotenzial des Parteiensystems und der repräsentativen Demokratie eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.

4. Historisierung der Bundesrepublik Abschließend sollen noch einmal Chancen und mögliche Grenzen der vorgetragenen Argumente abgewogen werden. Die anstehende und in Arbeit befindliche Historisierung der siebziger Jahre braucht eine Verschiebung der Referenzebene von der Retrospektive zur Prospektive, um einen angemessenen Interpretationshorizont für dieses Umbruchjahrzehnt zu bekommen. Bei einer Annäherung an die Gesellschaftsgeschichte der siebziger Jahre kann es dabei besonders gewinnbringend sein, nach den Ambivalenzen von vorgängigen Modernisierungsprozessen und der Dialektik von Problemlösung und Problemgenerierung zu fragen. Mit dem Abschluss der Nachkriegszeit trat die Bundesrepublik spätestens um 1973/74 in ihre selbstreferentielle Phase, in der einige der Problemlösungen, die sich unter den Bedingungen der Demokratiegründung und des Wiederaufbaus etabliert und bewährt hatten, angesichts stark veränderter Rahmenbedingungen entweder versagten oder selbst zur Ursache neuer Probleme »zweiter Ordnung« wurden. Folgt man diesen Überlegungen, sind zwei methodische Risiken im Blick zu behalten: Zum einen wird hierdurch die Gegenwartserfahrung stärker als dies ohnehin bei der Formulierung zeithistorischer Forschungsfragen der Fall ist zum Ansatzpunkt der Interpretation. Die »Fragwürdigkeit« historischer Phänomene ergibt sich aus gegenwartsbezogenen Umbrucherfahrungen und Erkenntnisinteressen. Dies konfrontiert uns allerdings in besonderem Maße mit der Unabgeschlossenheit historischer Prozesse. Wer weiß schon, wie die Geschichte des bundesrepublikanischen Sozialstaats, der Einwanderung, der »nachindustriel-

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len« Ökonomie oder der demografischen Entwicklung weitergeht? Ein prospektives Erkenntnisinteresse kann leicht in den Bann einer kurzatmigen Krisenrhetorik geraten, die morgen vielleicht schon Schnee von gestern ist. Zum anderen könnte man eine Wiederauflage deutscher Nabelschau befürchten, weil die Bezugspunkte der Interpretation doch wieder primär in der deutschen Vergangenheit und Gegenwart liegen. Dem wäre freilich entgegenzuhalten, dass sich erst in einer international vergleichenden Perspektive halbwegs bestimmen ließe, wieweit es sich bei den in Rede stehenden Phänomenen um Aporien der deutschen Nachkriegsmoderne oder um universelle Begleiterscheinungen des Übergangs in die »Postmoderne«, die »Zweite Moderne«, die »reflexive Moderne« - oder wie auch immer man »die Zeit danach« nennen möchte - handelt. Diese Risiken in Rechnung gestellt, wären die Chancen zu betonen: Die Ambivalenzen von Modernisierungsvorgängen lassen sich angemessener thematisieren, wenn der kontrastierende Bezug auf die NS-Vorgeschichte nicht mehr der alleinige Referenzhorizont ist - denn vor diesem Hintergrund erscheint schließlich alles hell. Eine solche Perspektivverschiebung macht es Historikerinnen und Historikern zudem leichter, sich von den normativen Urteilen der Zeitgenossen zu lösen, was auf dem Feld der »jüngsten« Zeitgeschichte ja immer besonders schwierig ist - nicht zuletzt eine Schwierigkeit, die der Zeithistoriker als Zeitgenosse mit sich selbst hat.63 Auch kann man erwarten, dass es Historikerinnen und Historikern unter dieser Prämisse wieder leichter fällt, sich Anregungen aus sozialwissenschaftlichen Diagnosen der Gegenwart zu holen, deren Problembeschreibungen aber zugleich historisch zu kontextualisieren. Insgesamt also ein Plädoyer, die Historisierung der Bundesrepublik konsequenter zu Ende zu denken und stärker als bisher zu berücksichtigen, dass sie zur Geschichte ihrer selbst geworden ist.

Anmerkungen 1

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte v o m »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000; Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. Main 1999; Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1 9 4 5 - 1 9 9 5 , Bonn 2004; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westemisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfangen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.

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Andreas Rödder, Westbindung und transatlantische Allianz - ein Relikt des Kalten Krieges?, in: T h o m a s Hertfelder / Andreas Rödder (Hg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 1 3 9 - 1 5 4 , hier 150. Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt a. Main 1990. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution. 1 9 6 7 - 1977, Köln 2002, S. 4 9 7 - 4 9 8 . Klaus Naumann, Sag' zum Abschied doch endlich servus. Das Ancien régime der Zeitgeschichte bleibt von der Gegenwart ungerührt: Sie kennt nur den Erfolg der Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3 0 . 8 . 2 0 0 1 , Nr. 201, S. 44. Vgl. allerdings die kritischen Anmerkungen zum etablierten Verwestlichungstopos bei Gassert. Philipp Gassert, Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokrat!-

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sierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung, in: Jörg Baberowski u.a., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, München 2001, S. 6 7 - 8 9 . Vgl. den Band 47 des Archivs für Sozialgeschichte: Der Sozialstaat in der Krise. Deutschland im internationalen Vergleich, Bonn 2007; Martin Sabrow (Hg.), Die Krise des Sozialstaats, Leipzig 2007; Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006. Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft: Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, Berlin 4 2005. Jürgen Kocka (Hg.), Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays, Berlin 2007. »Blockaden und dringender Reformbedarf« lautet die Überschrift über dem Abschnitt des Bandes, der sich mit dem Zustand und den Entwicklungsperspektiven des politischen Systems der Bundesrepublik befasst. Ebd., S. 25. Hertfelder / Rödder, Modell Deutschland. Paul Nolte, Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München 2004, S. 1 5 - 2 5 . Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 2 9 - 3 0 (1993), S. 3 - 1 9 , hier 17. Vgl. Axel Schildt, Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (1999), S. 1234-1244. Vgl. auch Gabriele Metzler, Breite Straßen, schmale Pfade. Fünf Wege zur Geschichte der Bundesrepublik, in: Neue Politische Literatur 2 (2002), S. 244 - 267, deren Übersicht weniger die dominierenden Narrative einer Geschichte der Bundesrepublik als vielmehr Fragestellungen und Methoden einer primär politikgeschichtlich zugeschnittenen Zeitgeschichte inspiziert. Zu ähnlichen Typisierungen der gängigen zeithistorischen Erzählung siehe ζ. B.: Thomas Hertfelder, »Modell Deutschland« - Erfolgsgeschichte oder Illusion?, in: ders. / Rödder, Modell Deutschland, S. 9 - 2 7 , hier 17; Paul Nolte, Einführung. Die Bundesrepublik in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 175-182. Jarausch, Umkehr, S. 9. Wolfgang Bonß (Hg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. Main 2001; vgl. auch Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. Main 1987. Die Rede von »Problemen« und ihren »Lösungen« soll in dieser Skizze als eine Art alltagssprachlich evidente Abkürzung beibehalten werden, obwohl mir selbstverständlich bewusst ist, dass die Etikettierung eines Sachverhalts als »problematisch« eine höchst voraussetzungsreiche und zudem normativ aufgeladene Zuschreibungsleistung beinhaltet. Hockerts, Zeitgeschichte, S. 3 - 1 9 , hier 17. Jarausch, Umkehr, S. 132, 357. Herbert Kitschelt / Wolfgang Streeck, From Stability to Stagnation: Germany at the Beginning of the Twenty-First Century, in: dies. (Hg.), Germany. Beyond the Stable State, London 2004, S. 1 - 3 4 , hier 1. Vgl. auch Ulrich Jürgens / Martin Krzywdzinski, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen Produktionsmodells, in: Kocka, Zukunftsfähigkeit, S. 2 0 3 - 2 2 7 . Naumann, Sag' zum Abschied, S. 44. Klaus Naumann, Die Historisierung der Bonner Republik. Zeitgeschichtsschreibung in zeitdiagnostischer Absicht, in: Mittelweg 36, 9 (2000), H. 3, S. 5 3 - 6 6 , hier 63. Franz-Xaver Kaufmann, Der Sozialstaat als Prozeß - Für eine Sozialpolitik zweiter Ordnung, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaates. Festschrift für Hans Zacher zum 70. Geburtstag. Heidelberg 1998, S. 3 0 7 - 3 2 2 . Naumann, Historisierung der Bonner Republik, S. 64. Hertfelder / Rödder, Modell Deutschland, S. 17. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001. Rainer Geißler / Thomas Meyer, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, Wiesbaden 4 2006, S. 41 - 4 5 . Vgl. Dirk Moses, Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 2 3 3 - 2 6 3 ; Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006; Paul Nolte, Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine »lange Generation«, in: Merkur 53 (1999), S. 4 1 3 - 4 3 2 .

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Ralph Jessen

28 Alfred Reckendrees, Konsummuster im Wandel. Haushaltsbudgets und Konsum in der Bundesrepublik Deutschland 1952-98, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2007), H. 2, S. 29-61. 29 Vgl. Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt a. Main 2001. 30 Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i. Breisgau 72000, S. 53. 31 Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007), H. 1, S. 5 - 2 2 . 32 Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, London, 2007, S. 453-633. Vgl. auch den Beitrag von Christoph Boyer in diesem Band. 33 Vgl. Hartmut Kaelble (Hg.), Der Boom. 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992; Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004. 34 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 275-294; Rainer Klump, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland (1949-1990), in: Jürgen Schneider / Wolfgang Harbrecht (Hg.), Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik in Deutschland (1933-1993), Stuttgart 1996, S. 397-414; Alexander Nützenadel, Abschied vom »Sonderweg«. Neuere Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), S. 277-299. 35 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, 1983, S. 8. 36 Geißler / Meyer, Sozialstruktur, S. 26. 37 Vgl. André Steiner, Bundesrepublik und DDR in der Doppelkrise europäischer Industriegesellschaften. Zum sozialökonomischen Wandel in den 1970er Jahren, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), H. 3, S. 342-362, sowie seinen Beitrag in diesem Band. 38 Nolte, Generation Reform, S. 117. 39 Vgl. Angélique Janssens (Hg.), The Rise and Decline of the Male Breadwinner Family? Studies in Gendered Patterns of Labour Division and Household Organisation, Cambridge 1997; Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999. 40 Dietrich Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. Main 41996, S. 209. 41 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. Main 21989. 42 Knut Borchardt, Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik nach dem »Wirtschaftswunder«, in: Franz Schneider (Hg.), Der Weg der Bundesrepublik. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 1985, S. 193-216, hier 215. 43 Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, S. 271. Vgl. auch den Beitrag von Winfried Süß in diesem Band. 44 Gabriele Metzler, Revolte und Reformen: Die Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren, in: Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Innovation und Modernisierung: Germanistik von 1965-1980, Heidelberg 2005, S. 17-31, hier 20. 45 Vgl. die zeitgenössischen Analysen in Wolf-Dieter Narr / Claus Offe (Hg.), Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität, Köln 1975. 46 Mark Spoerer, Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: Hertfelder / Rödder, Modell Deutschland, S. 2 8 - 4 3 ; Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, München 2003. 47 Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; vgl. auch Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassekrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. Main 2005. 48 Manfred G. Schmidt, Der Sozialstaat in Deutschland - ein Sanierungsfall?, in: Hertfelder / Rödder, Modell Deutschland, S. 96-109. 49 Gabriele Metzler, Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 57-103; dies., Sozialstaat. 50 Christoph Conrad, Alterssicherung, in: Hockerts, Drei Wege, S. 101-116. 51 Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 20 (1998), S. 33-46.

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52 Vgl. Frank Nullmeier / Friedbert W. Rüb, Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozialstaat zum Sicherungsstaat, Frankfurt a. Main 1993. Vgl. auch Jens Alber, Das »europäische Sozialmodell« und die USA, in: Leviathan 34 (2006), S. 209-233, der dem deutschen Sozialstaatsmodell eine besonders schlechte Anpassungsfähigkeit an die seit den siebziger Jahren geänderten Rahmenbedingungen bescheinigt. 53 Vgl. den Beitrag von Patrice Poutrus in diesem Band. 54 Ruud Koopmans, Deutschland und seine Einwanderer: ein gespaltenes Verhältnis, in: Max Kaase / Günther Schmidt (Hg.), Eine lernende Demokratie. 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999, S. 165-199. 55 Vgl. Ulrich Herbert/Karin Hunn, Gastarbeiter und Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen Anwerbung bis zum Anwerbestopp (1955- 1973), in: Axel Schildt u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 273-310. 56 Katrin Schäfgen, Die Verdopplung der Ungleichheit. Sozialstruktur und Geschlechterverhältnisse in der Bundesrepublik und in der DDR, Diss. HUB 1998, http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/ phil/schaefgen-katrin/HTML/schaefgen-ch2.html#t2.9 [aufgerufen am 15.12.2007]. 57 Vgl. Monika Mattes, »Gastarbeiterinnen« in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. Main 2005. 58 Vgl. den Beitrag von Monika Mattes über Frauen, Familie und Arbeitsmarkt zwischen Konjunktur und Krise in diesem Band. 59 Siehe den Tagungsbericht von Elke Seefned, Die Bundesrepublik in den globalen Transformationsprozessen der siebziger und achtziger Jahre, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1568 [aufgerufen am 15.12.2007], 60 Wolfgang Merkel, Durchregieren? Reformblockaden und Reformchancen in Deutschland, in: Kocka, Zukunftsfahigkeit, S. 27-45; Thomas König, Von der Politikverflechtung in die Parteienblockade? Probleme und Perspektiven der deutschen Zweikammergesetzgebung, in: Kaase / Schmidt, Demokratie, S. 63-85. 61 Gerhard A. Ritter, Der Föderalismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart, in: Hertfelder / Rödder, Modell Deutschland, S. 78-95. 62 Dieter Gosewinkel / Dieter Rucht, Angst vor dem Souverän? Verfassungsstarre und Partizipationsbegehren in Deutschland, in: Kocka, Zukunftsfähigkeit, S. 131-154. 63 Vgl. Martin Sabrow, Der Historiker als Zeitzeuge. Autobiographische Umbruchsreflexionen deutscher Fachgelehrter nach 1945 und 1989, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. Main 2002, S. 125-152.

Michael Schwartz

Frauen und Reformen im doppelten Deutschland Zusammenhänge zwischen Frauenerwerbsarbeit, Abtreibungsrecht und Bevöikerungspolitik um 1970

Das Jahrzehnt zwischen 1965 und 1976 war in beiden deutschen Staaten eine Zeit der Reformen. Nicht wenige dieser politischen Neuerungen betrafen Frauen, einige wurden nicht zuletzt durch den gesellschaftlichen und politischen Druck von Frauen überhaupt erst implementiert. Damals vielbeachtete und heftig umstrittene Liberalisierungstendenzen finden sich nicht zuletzt im Strafrecht zum Schwangerschaftsabbruch. Die DDR ging dabei nicht nur zeitlich voran, sie ging auch inhaltlich bei dieser Liberalisierung letztlich weiter als Westdeutschland - was festgehalten zu werden verdient. Diese doppelten deutschen Reformen im Abtreibungsrecht haben internationale Parallelen und verweisen damit auf übergreifende Prozesse eines globalen industriegesellschaftlichen Wertewandels hin zu mehr Individualisierung. Dieser Individualisierungsschub und der damit verbundene Wandel von Traditions- und Pflicht- hin zu Selbstentfaltungswerten erfolgte um 1970 nicht nur in Westdeutschland (was unumstritten ist), sondern auch in der DDR (was keineswegs unumstritten ist).1 Dieser weitgehend identische Wertewandel vermochte deshalb block- bzw. systemübergreifend zu erfolgen, weil er auf einem Wandel sozioökonomischer Strukturen basierte, der ebenfalls systemübergreifend war: Gemeint ist die größtmögliche Entfaltung der Industriegesellschaft in West und Ost, die Etablierung unterschiedlicher, aber im Hinblick auf Beschäftigungssteigerung identisch wirkender Dienstleistungssektoren in West und Ost und die tendenziell ähnliche, in ihren Ausmaßen jedoch sehr unterschiedliche Konsequenz eine erheblich gesteigerte Erwerbstätigkeit und berufliche Höherqualifikation von Frauen. Sozialer Struktur- und Wertewandel bewirkte in den sechziger und siebziger Jahren nicht nur parallele Reformen im Abtreibungsrecht, sondern auch neue Anstrengungen zu geburtenfördernder Sozialpolitik. In der Bundesrepublik Deutschland blieben sie im Kontext von »Familienpolitik« relativ begrenzt, in der DDR wurden sie im Kontext expliziter »Bevölkerungspolitik« massiv ausgebaut. Das erzielte zeitweilig die gewünschten Effekte - bewirkte zugleich jedoch eine weitere schwerwiegende Belastung der wankenden ökonomischen Basis der DDR. Diese Sozialpolitik war letztlich krisenverschärfend.

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1. Frauenerwerbstätigkeit und Frauenbildung Im Gegensatz zur Kriegs- und Nachkriegszeit, die in vielen Ländern Europas von erhöhter Frauenerwerbstätigkeit geprägt war,2 brachten die fünfziger und frühen sechziger Jahre eine tendenzielle Rückkehr zur klassischen bürgerlichen Familie und Hausfrauenehe. Ein zweiter Umbruch führte um 1970 europaweit nicht nur zu ansteigender Frauenerwerbsarbeit, sondern auch zu sich verändernden Partnerbeziehungen. Bildungsexpansion und berufliche Qualifikation waren ein wichtiges Strukturelement dieses Wandels, der in einen umfassenden »Mentalitätswandel« und einen »Wandel der Familien- und Berufswerte« mündete. Dabei gab es in Europa »große Unterschiede« - nicht zuletzt zwischen Ost und West.3 Zwischen beiden deutschen Nachkriegsstaaten waren diese Unterschiede besonders groß. Spricht man über die Frauenpolitiken der deutschen Staaten nach 1945, stößt man zunächst auf die exorbitant hohe Frauenerwerbsquote der DDR, die im Jahre 1988 - je nach Rechnung - mindestens 81 %,4 womöglich gar 91,2% erreichte, 5 auf jeden Fall aber »auf einem internationalen Spitzenniveau« anzusiedeln war.6 Demgegenüber war 1980 in der Bundesrepublik nur ein Drittel der Frauen durchgehend erwerbstätig, ein weiteres Drittel unterbrach die Erwerbsarbeit aufgrund von Mutterschaft vorübergehend, das letzte Drittel brach sie deshalb dauerhaft ab.7 Es wäre verfehlt, die DDR-Frauenpolitik auf eine »gesamtgesellschaftlich verwirklichte Gleichberechtigung der Frauen« über »Berufsorientierung« zu reduzieren, um auf das als rückständig perhorreszierte Feindbild der Bonner Familienpolitik mit ihrer größtmöglichen »Familienorientierung« einschlagen zu können. 8 Die DDR-Frauenpolitik zielte nicht nur auf die größtmögliche Berufsorientierung von Frauen, sondern auf die Kombination hoher Erwerbsquoten mit hohen Mütterraten. 9 Mit Blick auf die daraus resultierende strukturelle Doppelbelastung von Frauen in der DDR vertritt Ina Merkel die These, dass diese ostdeutsche Entwicklung gleichwohl der europäische »Normalfall« gewesen sei, wogegen die Frauenpolitik der alten Bundesrepublik als »hoffnungslos rückständig« erscheine. 10 Auch dieses kaum sine ira et studio gefällte Urteil verzerrt freilich die Wirklichkeit. Die gesamteuropäische Frauenerwerbsquote (FEQ) stieg von 33 % 1950 auf 36% 1970 und auf 43 % im Jahr 2000. Dabei lassen sich in Europa zwischen 1945 und 1990 vier Räume der Frauenerwerbsarbeit unterscheiden: Das kommunistische Osteuropa erreichte frühzeitig eine besonders hohe FEQ und war im Westen am ehesten mit Skandinavien und Großbritannien vergleichbar, während Südeuropa rückständig blieb und im engeren Westeuropa - Frankreich, Belgien, Bundesrepublik Deutschland - nur eine zögernde Zunahme der Frauenerwerbsarbeit erfolgte." In Sachen Frauenerwerbstätigkeit repräsentierten beide deutsche Teilgesellschaften folglich sehr unterschiedliche Entwicklungstrends: Zwar war die Bundesrepublik nicht »hoffnungslos rückständig«, was vielmehr für die Länder Südeuropas gilt, aber ihre Frauenintegration in den Arbeitsmarkt blieb lange begrenzt; die DDR wiederum

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repräsentierte nicht den europäischen Normalfall, sondern mit einer den Durchschnitt um das Doppelte übersteigenden FEQ vielmehr den Extremfall einer Frauen integrierenden Arbeitsgesellschaft. Obwohl man diesen arbeitsgesellschaftlichen »Gleichstellungsvorsprung der DDR gegenüber der BRD« nicht in Abrede stellen sollte,12 spricht einiges dafür, allzu scharfe Polarisierungen zu relativieren. So waren die gesellschaftlichen Realitäten der Nachkriegszeit weit ähnlicher, als divergente Politikkonzepte ahnen lassen, denn damals relativierte auch im Westen eine beträchtliche erwerbstätige Minderheit von Frauen die Familienorientierung der Politik.13 Umgekehrt bot die frühe DDR keineswegs das eindeutig erwerbsorientierte Bild späterer Jahrzehnte. Die dortige Erwerbsintegration von Frauen beschränkte sich um 1950 noch weitgehend auf klassisch frauenspezifische Teilarbeitsmärkte mit geringer Qualifikation.14 Frauen wurden oft nur als »Manövriermasse« zur Behebung männlichen Arbeitskräftemangels benutzt.15 Die Soziologin Heike Trappe spricht selbst für die siebziger und achtziger Jahre von einer anhaltenden »gesellschaftliche[n] Praxis« beider deutscher Staaten, infolge derer »die Einbeziehung der Frauen in die Berufsarbeit nicht automatisch zu einer Verringerung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Erwerbsbereich und in den Familien geführt« habe.16 Die »objektiven« Unterschiede bleiben auch ohne Überzeichnungen bedeutsam genug. Gleichberechtigungspolitik war im SED-Staat frühzeitiger und entschiedener, während die 1949 erlassene Verfassungsnorm der Bundesrepublik jahrelang suspendiert blieb und auch das 1957 endlich erlassene »Gleichberechtigungsgesetz« keine volle Gleichberechtigung erbrachte, sondern die Hausfrauenehe als Normalfall festschrieb und - bis 1977 - weibliche »Erwerbstätigkeit nur im Notfall mit Zustimmung des Ehemannes« zulassen wollte.17 Der Hinweis, erst der wachsende Arbeitskräftemangel habe in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren der Frauenemanzipation auf dem Arbeitsmarkt einen größeren Stellenwert gegeben,18 was die westdeutsche FEQ immerhin von 45 % 1969 auf 60% 1989 anhob,19 deutet darauf hin, dass für emanzipative Fortschritte im Erwerbssektor stets die ökonomische »Basis« ausschlaggebend gewesen ist. Das war in der DDR nicht anders: Zwar soll man die bis August Bebel zurückreichenden ideologischen Antriebe der SED-Emanzipationspolitik nicht unterschätzen, doch auch im SED-Staat waren letztlich demografische und ökonomische Zwänge entscheidend. Aufgrund dieser von Anfang an spürbaren und sich stetig verschärfenden Zwänge erfolgte dieser Ausbau viel früher als in Westdeutschland. Dabei waren in der DDR der fünfziger Jahre »Anlernverfahren« die »dominierende betriebliche Einsatzstrategie«. Die FEQ wurde auf diese Weise von 52,4% (1950) auf 65,2% (1960) gesteigert20 - überwiegend durch Frauenerwerbsarbeit in den »untersten« Bereichen, wo Frauen in Landwirtschaft oder Industrie nun jene untergeordneten Tätigkeiten verrichteten, die bis 1945 ausländischen Zwangsarbeitern vorbehalten gewesen waren - und in der Bundesrepublik bald erneut ausländischen »Gastarbeitern« überlassen wurden. Erst als in der DDR das Frauenreservoir nicht mehr ausreichte, ging man auch dort - verstärkt nach 1970 - zur Einbeziehung ausländischer Arbeitskräfte über.

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Für beide deutsche Nachkriegsstaaten kann man davon sprechen, dass in den vierziger und fünfziger Jahren viele Frauen durch soziale Notlagen bzw. sozialpolitische Exklusionstendenzen »zur Berufstätigkeit gezwungen« waren darunter zahlreiche Vertriebene.21 Dieser Zwang schuf Voraussetzungen für ein neues Frauenbild,22 blieb jedoch schichtenspezifisch asymmetrisch. In »bürgerlichen« Schichten war und blieb Frauenerwerbstätigkeit verpönt - und zwar keineswegs nur im Westen. Auf der Wirtschaftstagung der Ost-CDU verursachte DDR-Arbeitsminister Luitpold Steidle 1950 eine »sehr rege Diskussion«, die »teilweise in sehr scharfer und aggressiver Form« geführt wurde, als er ein SED-konformes Plädoyer für Frauenarbeitspolitik zu halten wagte. Man hielt dem CDU-Minister entgegen, Frauenerwerbstätigkeit gefährde Ehe und Kindererziehung. Die Regierungsseite beschwichtigte, niemand wolle Frauen zur Berufstätigkeit zwingen, allerdings müssten Frauen in jeder Richtung selbst entscheiden dürfen: »Ihnen hier hineinzusprechen, steht niemandem zu.«23 Die Brechung des Entscheidungsmonopols des männlichen »Haushaltsvorstandes« war seit 1949/50 geltendes Recht in der DDR, was in der Bundesrepublik erst 1977 nachvollzogen wurde.24 Gleichwohl blieben die Erfolge der Frauenarbeitspolitik der SED zunächst begrenzt: 1958 waren lediglich in 18,3 % der Familien auch die Ehefrauen berufstätig.25 Es steht zu vermuten, dass in bürgerlichen Familien Frauenerwerbstätigkeit nur selten erfolgte und sich bis um 1960 das traditionelle Reservoir der Mitarbeit von Frauen im Arbeiterund Bauernmilieu fand - nachkriegsbedingt ergänzt durch den Arbeitszwang für viele alleinstehende bzw. mit der alleinigen Betreuung von Angehörigen betraute Frauen. Auch gab es bis zuletzt nicht nur in der vermeintlich rückständigen Bundesrepublik, sondern ebenso in der DDR eine Unterscheidung zwischen »Frauenund Männerberufen«. Daraus folgte etwa eine klare Bevorzugung von Männern in technischen Bereichen, während unqualifizierte oder angelernte Tätigkeiten in Industrie und Landwirtschaft überwiegend von Frauen verrichtet wurden. In beiden Arbeitsgesellschaften wurden Frauen häufiger als Männer unterhalb ihres Qualifikationsniveaus eingesetzt. Die Einkommensdifferenz fiel gegen Ende der DDR zwar deutlich geringer aus als in Westdeutschland, doch erhielten auch DDR-Frauen nur 78 % der männlichen Nettoerwerbseinkommen. Daraus resultierte »für bestimmte Gruppen von Frauen ein höheres Armutsrisiko« in der DDR primär für Rentnerinnen, in der Bundesrepublik für junge alleinerziehende Mütter.26 Trotz dieser notwendigen Einschränkungen entwickelte die Arbeitsvergesellschaftung von Frauen in der DDR ein rasantes Tempo. Mitte der sechziger Jahre waren in der DDR über 70 % aller erwerbsfähigen Frauen erwerbstätig, in der Bundesrepublik 1970 hingegen weniger als 35 %.27 Die Frauenarbeitspolitik der SED war primär eine pragmatische Reaktion auf Demografie und Arbeitskräftemangel, aber sie war auch emanzipationsideologisch motiviert.28 Die ideologische Tradition der Arbeiterbewegung begriff die Berufstätigkeit der Frau als Voraussetzung ihrer Gleichberechtigung, was nicht nur den Marxschen Arbeitsbegriff reflektierte,29 sondern auf der arbeitsgesellschaftlichen Bedingt-

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heit der Arbeiterbewegung selbst basierte. Allerdings war die Entwicklung im SED-Staat nur zum Teil politikinduziert, teilweise war sie auch Folge eigendynamischer »Organisation des >Überlebensfreie Wahl< läßt. Der kommunistische Staat dagegen ermöglicht seinen Bürgerinnen diese Wahl. [...] Ja, der Staat hilft ihnen sogar noch dabei, wenn sie keine Kinder kriegen wollen, die er doch so dringend braucht [,..].« 88 Tatsächlich war am Ende der Reformphase der frühen siebziger Jahre nicht in der demokratisch verfassten Bundesrepublik, sondern in der SED-Diktatur die Entscheidung über die Austragung einer Schwangerschaft »vollständig individualisiert«.89

4. Neue Steuerungsstrategien: pronatalistische Geburtenpolitik Geburtenfördernde »Bevölkerungspolitik« (DDR) oder »Familienpolitik« (Bundesrepublik - für den Oldenburger Politologen Gerhard Kraiker 1983 nicht viel mehr als »verdeckte Bevölkerungspolitik« 90 ) - sollten in beiden deutschen Staaten die steigende Frauenerwerbstätigkeit flankieren. Die DDR hatte bereits 1950 eine Kindergeldzahlung ab dem dritten Kind eingeführt, die in den siebziger Jahren ausgebaut und auf die ersten beiden Kinder einer Familie ausgedehnt wurde.91 Erst 1975 führte die damalige sozialliberale Bundesregierung erstmals ein einkommensunabhängiges Kindergeld in Westdeutschland ein, während die frühere Familienförderung der CDU/CSU über Steuerfreibeträge gelaufen war.92 Diese geburtenfördernden Politikangebote sollten in den siebziger Jahren den massiven Geburtenrückgang abbremsen, der seit Mitte der sechziger Jahre eingesetzt hatte - zumal man von den eben erst eingeführten Liberalisierungen im Abtreibungsrecht weitere Geburteneinbrüche befürchtete. 93 Doch allein in der DDR leiteten die sozialpolitischen Beschlüsse der SED vom Frühjahr 1972 eine wirklich umfassende Bevölkerungspolitik ein, welche die Frauen- und Familienpolitik bis 1989 prägte und die parallele abtreibungspolitische Individualisierung tatsächlich eindämmte. So wurde der Bezug von Schwangerschafts- und Wochengeld verlängert, die Freistellung von Erwerbsarbeit nebst Geldleistungen im Falle der Pflege kranker Kinder eingeführt sowie für vollzeitbeschäftigte

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Mütter von mindestens drei Kindern die Wochenarbeitszeit verkürzt und der Jahresurlaub erhöht. Besonders wichtig war ein spezieller Ehekredit für junge Ehepaare, der mit der darin enthaltenen Möglichkeit des »Abkinderns« der schrittweisen Streichung der Kreditschuld bei Geburt von mehreren Kindern stark an die »Ehestandsdarlehen« des NS-Regimes erinnerte. Zwischen 1972 und 1988 wurden 1371649 »Kredite an junge Eheleute« mit einem Volumen von 9,3 Milliarden Mark gewährt, wobei fast ein Viertel der Kreditsumme aus sozialen Gründen erlassen wurde.94 Da zunächst keine spürbare Geburtensteigerung einsetzte, verstärkte der IX. SED-Parteitag 1976 die sozial- und bevölkerungspolitischen Anreize weiter: Neben der Verlängerung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs wurde nun ab dem zweiten Kind ein vollfinanziertes »Babyjahr« geboten und die reduzierte Wochenarbeitszeit auf Mütter von bereits zwei Kindern ausgeweitet. 95 Diese Angebote entsprachen offenbar den Bedürfnissen vieler Frauen, denn 1977 wurde das neue Angebot des Babyjahres von vier Fünfteln der Berechtigten tatsächlich genutzt. 96 Die DDR-Geburtenrate zog seit Mitte der siebziger Jahre deutlich an und ermöglichte es den SED-Sozialexperten, voller Stolz einen »bemerkenswerten Unterschied zugunsten der DDR« in der »Geburtenentwicklung in beiden deutschen Staaten« zu konstatieren. 97 Hat man zunächst die Kontinuität zwischen den SED-Beschlüssen von 1972 und 1976 betont, so ist in jüngerer Zeit ein Zäsurcharakter herausgestellt worden: Das bislang propagierte »Modell der Verbindung von Berufstätigkeit und Mutterschaft«, das »eine tendenzielle Angleichung der Berufsverläufe der Frauen an die der Männer« favorisiert und »damit traditionellen emanzipatorischen Idealen« entsprochen habe, sei ab 1976 »relativiert« worden, um am bevölkerungspolitischen Ziel der Zwei- bis Drei-Kinderfamilie festhalten zu können. Das neue »Babyjahr« habe einen zeitweiligen Ausstieg von Frauen aus der Erwerbsarbeit ermöglicht, zugleich der Bekämpfung der Teilzeitarbeit gedient und den Betrieben eine bessere Arbeitskräfte-Kalkulation sowie Einsparungen bei Krippenplätzen und Krankengeldern ermöglicht. Unter den Frauen habe das Babyjahr-Angebot eine »Erosion der Akzeptanz frühkindlicher Krippenbetreuung« bewirkt. 98 Vergleichbare zinslose und »abkinderbare« Kredite für junge Familien gab es in Westdeutschland auf Bundesebene nie; sie wurden lediglich von einigen Länderregierungen in den siebziger Jahren angeboten - seitens CDU/CSUregierter Länder meist einkommensabhängig, seitens des SPD-regierten Stadtstaates West-Berlin hingegen in großer Ähnlichkeit zur DDR-Regelung. 99 Auch eine Betreuungsinfrastruktur zur Entlastung berufstätiger Eltern bzw. faktisch Mütter existierte in der Bundesrepublik nur durch die - meist in kirchlicher Trägerschaft organisierten - »Kindergärten« für Kinder zwischen drei und sechs Jahren. 1989 konnten 79% aller westdeutschen Kinder dieses Alters einen Kindergartenplatz erhalten; in der DDR lag die entsprechende Versorgungsquote bei 95 %, nachdem bereits ab den fünfziger Jahren der »Ausbau des betriebsgebundenen Kindergartennetzes« erfolgt war.100 Sowohl für die ersten drei Lebensjahre der Kinder als auch für Nachmittagsbetreuung für Schüler im Alter

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zwischen 6 - 1 0 Jahren fehlten solche Infrastrukturangebote im Westen nahezu völlig (2 bzw. 4 %), was die Mütter dieser Kinder letztlich zur Aufgabe bzw. Einschränkung von Erwerbsarbeit zwang. In der DDR hingegen existierte für vier Fünftel dieser Altersgruppen 1989 ein Betreuungsangebot in sogenannten Kinderkrippen oder Schulhorten.101 Der Aufbau dieser Infrastruktur an »Kinderkrippen« war in der DDR schwerpunktmäßig erst in den siebziger Jahren unter Honecker erfolgt. 1950 waren im SED-Staat an dauernden Einrichtungen ganze 194 vorhanden, was nur 0,6% aller Kinder unter drei Jahren eine Unterbringung gestattete.102 Der Betreuungsgrad stieg unter Honecker von 29,1 % 1970 auf fast 51 % 1975 und 61 % 1980 rasant an.103 1989 boten schließlich 7840 Krippen mit 353203 Plätzen eine Bedarfsdeckung von 80,2%.104 Trotz dieser sozialpolitischen Anreize wurde »das von der Partei gepredigte Ideal der Dreikinderfamilie« im SED-Staat »nicht in nennenswertem Maße erreicht«.105 Was aber erreicht wurde, war eine exorbitante Finanzbelastung durch diese geburtenfördernde Sozialpolitik. Die Aufwendungen des SED-Staates für Kindergeld, Geburtenbeihilfen und Sonderzuwendungen für kinderreiche Familien, die 1960 bei 248,5 Millionen Mark der DDR gelegen (und in der Bundesrepublik kein Äquivalent) hatten, erreichten 1972 den Spitzenwert von fast 1,6 Milliarden Mark, um dann leicht zurückzugehen, bevor sie sich infolge massiv angehobener Sozialleistungen 1987 auf 2,7 Milliarden fast verdoppelten und 1988 nochmals auf 3,5 Milliarden Mark anstiegen. Zugleich stiegen die Kosten für die DDRKindergärten von 69,6 Millionen Mark 1951 auf 550,7 Millionen Mark 1971, auf 1,1 Milliarden Mark 1981 und 1,8 Milliarden 1988. Ab 1958 wurde in der DDR die Schul- und Vorschulverpflegung von Kindern staatlich finanziert. 1960 betrugen die Unterhaltskosten für Kinderkrippen 191,5 Millionen Mark und stiegen unter Ulbricht bis 1971 auf 440,6 Millionen. Unter Honecker betrugen die Krippenkosten bereits 1973 eine halbe Milliarde Mark, 1984 überschritten sie die Milliardengrenze, 1987 erreichten sie den Spitzenwert von 1,4 Milliarden.106 Der schwerwiegendste Ausgabenposten im konsumtiven Bereich der HoneckerÄra war und blieb zwar der Wohnungsneubau107 - doch auch die zunehmend kostenintensive Bevölkerungspolitik verschärfte den Irrweg der DDR von investiven zu konsumtiven Ausgaben, mit dem sich das SED-Regime in den siebziger Jahren Ruhe erkaufte, um in den achtziger Jahren in einer schweren Wirtschaftsund finalen Staatskrise zu enden.

5. Schluss Die Frauenerwerbstätigkeit nahm zwischen 1945 und 1989 überall in Europa zu. Die DDR stellt den Extremfall dieser arbeitsgesellschaftlichen Integration dar, die Bundesrepublik Deutschland eher einen Fall gebremster Rückschrittlichkeit. Mit folglich unterschiedlicher Vehemenz bewirkte die Zunahme der Frauenerwerbsarbeit in beiden deutschen Staaten einen Anstieg von Schul-, Be-

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rufs- und Hochschulausbildung von Frauen. Beide soziostrukturellen Wandlungen bewirkten ihrerseits einen Wertewandel im Hinblick auf stärkere Selbstentfaltungswünsche zu Lasten bisheriger Pflichtwerte; hinzu trat ein allmählicher Strukturwandel im Bereich Familie - Fortpflanzung - Kindererziehung. All diesen längerfristig angelegten Umbrüchen, die sich insbesondere um 1970 stark entfalteten, trug die Politik auf doppelte Weise Rechnung. Einerseits erfolgte die Ersetzung bisheriger autoritärer Steuerungsmodelle durch stärker selbstverantwortliche - wie dies bei den unterschiedlich weit gehenden deutschdeutschen Reformen des Abtreibungsrechts zwischen 1972 und 1976 beobachtet werden kann. Andererseits generierte staatliche Politik neue »weichere« Steuerungskonzepte durch eine geburtenfördernde Bevölkerungspolitik. Diese sowohl frauen- wie familienfördernde und dadurch zugleich verhaltenssteuernde Politik wurde um 1975 in der DDR sehr viel umfassender ausgebaut als in Westdeutschland. Dies entsprach politisch-ideologischen Differenzen der beiden konkurrierenden politischen Systeme, sehr viel mehr noch aber dem unterschiedlichen Grad des zuvor erfolgten gesellschaftlichen Struktur- und Wertewandels. Zugleich sind Wechselwirkungen zwischen dem doppelten Deutschland wichtig. Beide Teile Deutschlands waren, wie Daphne Hahn unlängst gezeigt hat, schon im Hinblick auf die erfolgreiche oder erfolglose Beeinflussung ihrer Bevölkerungsentwicklung »immer wieder aufeinander verwiesen«. Diese »>biologische< Konkurrenzsituation« habe von Anfang an politische Entscheidungen beeinflusst.'08 Sie waren oft als ostentative Abgrenzung des einen vom anderen Staat mit Händen zu greifen. Zuweilen aber wirkten sie auch als Vorbild. So konnte die DDR-Regelung des Abtreibungsrechts manchem westdeutschen Linksliberalen schon in den sechziger Jahren als »liberaler als bei uns« erscheinen.109 So konnte die ehemalige DDR-Schriftstellerin und -Dissidentin Monika Maron im Mai 1990 im »Spiegel« festhalten, »die Frauen in der DDR verdankten« die 1972 eingeführte Fristenregelung »weniger den alten Männern, von denen sie regiert wurden, als dem mutigen und lautstarken Aufbegehren der westdeutschen Frauenbewegung, die damals gegen den Anspruch des Staates auf ihre Leibeigenschaft durch die Straße« gezogen sei. Denn dieser Protest der westdeutschen Feministinnen habe »in den ehemaligen Proletariern« der SED-Führung »Erinnerungen an die eigenen Kämpfe gegen den § 218 in der Weimarer Republik« geweckt. Bei der Wiedervereinigung sollte es laut Maron darum gehen, den »westdeutschen Frauen« endlich ebenfalls jenes Recht zu verschaffen, »wozu sie den ostdeutschen schon vor 18 Jahren verholfen« hätten."0 In dieser Fristenregelungs-Utopie, die bekanntlich scheiterte, fanden am Ende des doppelten Deutschlands die so unterschiedlich geprägten ost- und westdeutschen Feministinnen zusammen. Zugleich setzte auf konservativer Seite ab 1989/90 jene nachträgliche, aber sehr aktualitätsbezogene Perhorreszierung der frauen- und familienrelevanten DDR-Geschichte ein, die - Stichwort: Kinderkrippen - bis heute anhält.

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Ambivalente Aufbrüche Frauen, Familie und Arbeitsmarkt zwischen Konjunktur und Krise

Auf dem Feld der Geschlechterbeziehungen gelten die siebziger Jahre in Westeuropa und den USA als entscheidende Umbruchphase. Auch in der Bundesrepublik Deutschland trat die Frauenbewegung als neue, medial kraft- und fantasievoll agierende Gruppe in die außerparlamentarische Arena. Sie besetzte mit der radikalen Verneinung des Geschlechtervertrags der bürgerlich-patriarchalen Familie und mit dem § 218 StGB Themen, die auf ein breites gesellschaftliches Interesse stießen. Zwar beschränkte sich die feministische Bewegung vorrangig auf akademische und studentische Frauengruppen; durch ihr agenda setting und den Rückenwind des politischen Reformklimas der Brandt-Ära erreichte sie jedoch eine Breiten- und Tiefenwirkung innerhalb der jüngeren Frauengenerationen, die weit über die schmale Schicht der Aktivistinnen hinausging. Doch nicht erst die Frauenbewegung reklamierte eine Neudefinition von Frauen- und Männerrollen und machte die Risse im Sozialgefüge der Geschlechter sichtbar. Bereits in den sechziger Jahren begannen die Strukturen und Gewissheiten, die traditionellerweise die Lebensentwürfe von Frauen bestimmten, zu erodieren. Diese Veränderungen bildeten für die öffentliche Artikulation feministischer Forderungen und die Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition gleichsam strukturelles Fundament und diskursiven Resonanzraum. Am Beispiel der Frauen- und Müttererwerbsarbeit legt der folgende Beitrag sein Augenmerk auf die Veränderungsprozesse, Politiken und Diskurse, die die Geschlechterverhältnisse der sechziger/siebziger Jahre charakterisierten. Gefragt wird nach den Ursachen, Formen und Ambivalenzen des strukturellen und kulturell-mentalen Wandels und der Art und Weise, wie Frauen- und Müttererwerbsarbeit in der Öffentlichkeit und in der Arbeitsmarktpolitik verhandelt wurden. Wann, warum und inwiefern haben sich die realen und diskursiven Spielräume für Frauen und deren berufliche Lebensplanung erweitert? Wie veränderten sich die damit verbundenen Leitbilder und Konzepte? Welche Kontinuitäten bestanden unter der Oberfläche von Reformpolitik und Umbruchsrhetorik fort?

1. Die Entdeckung der Frauenerwerbstätigkeit In der frühen Bundesrepublik gab es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Ehe und Mutterschaft und nicht eine Berufskarriere den weiblichen Lebensplan strukturieren und Frauen deshalb lediglich übergangsweise in den

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Jahren vor der Eheschließung erwerbstätig sein sollten. Eine Berufsausbildung wurde mit Blick auf die demografisch-sozialen Kriegsfolgen zwar grundsätzlich auch für Frauen befürwortet, aber nur als nützliche Risikoabsicherung für den Fall der NichtVerheiratung, Scheidung bzw. Verwitwung erachtet. Um 1960 geriet dieser öffentliche Konsens immer stärker unter den Druck des wachsenden Arbeitskräftemangels. Wirtschaft und Arbeitsmarktplaner richteten ihren Blick insbesondere auf das Arbeitskräftepotenzial der nichterwerbstätigen Ehefrauen und Mütter, welche über eine Teilzeitarbeitskampagne für die Erwerbssphäre gewonnen werden sollten.1 Bereits in den vorangegangenen Jahren hatte die Bundesregierung der Frauenerwerbstätigkeit in internen Arbeitskräfteplanungen eine vermehrte Bedeutung zugemessen. Bei anhaltender wirtschaftlicher Expansion und einer rückläufigen westdeutschen Erwerbsbevölkerung drohte das Arbeitskräftepotenzial mittelfristig zurückzugehen. Gleichzeitig entzog die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik dem Arbeitsmarkt eine große Zahl junger männlicher Arbeitskräfte. Absehbar war auch, dass längere Ausbildungszeiten und die von den Gewerkschaften angestrebte 40-Stunden-Woche das Arbeitskräfteproblem zusätzlich verschärfen würden. 2 Von der Presse Mitte der fünfziger Jahre verbreitete Prognosen einer stärkeren Einbeziehung von Frauen in das Erwerbsleben alarmierten umgehend vornehmlich christlich-konservative Kreise - und dieses umso mehr, als die reale Erwerbsquote verheirateter Frauen und Mütter tatsächlich deutlich anstieg. Während 1950 nur 25% aller verheirateten Frauen versicherungspflichtig beschäftigt waren, waren es 1961 bereits 32,8%. 3 Kirchen, Politiker, Familienverbände, Ärzte und Sozialwissenschaftler machten daraufhin mit Unterstützung des Familienministers Franz-Joseph Wuermeling gegen eine angebliche Vernachlässigung der Kinder und die egoistische Konsumorientierung ihrer Mütter öffentlich mobil. 4 Nur die pure Not galt als legitimes Motiv für die Erwerbstätigkeit von Müttern. Die Wiedereinführung von Kindergeld 1954 und Steuererleichterungen zielten darauf, Familienmütter vom »Geldverdienen-müssen« zu befreien. Jahrelang geisterte durch die Presse die Zahl von drei Millionen »Schlüsselkindern«, die von ihren erwerbstätigen Müttern zu »Waisenkindern der Technik« gemacht würden. Erst 1964 wurden solche Zahlen auch von amtlicher Seite als nicht stichhaltig zurückgewiesen. 5 Wenn in der zeitgenössischen Öffentlichkeit die Frauen- und Müttererwerbsarbeit als höchst dramatisch eingestuft wurde, hatte dies nicht zuletzt etwas mit deren nunmehr größerer Sichtbarkeit zu tun. Der unter weiblichen Beschäftigten traditionell hohe Anteil an mithelfenden Familienangehörigen war stark zurückgegangen. Mit der Verringerung der Familienbetriebe in Landwirtschaft, Gewerbe und Einzelhandel nahmen verheiratete Frauen verstärkt eine Erwerbsarbeit in Büro- und Handelsberufen auf.6 Auch der Anteil der in häuslichen Diensten tätigen Frauen an der Gesamtheit der weiblichen Erwerbstätigen nahm ab, zogen doch viele junge Frauen eine Industriearbeit der chronisch unterbezahlten und als unfrei empfundenen Tätigkeit als Hausgehilfin vor.7 In der Industrie waren Frauen hauptsächlich als an- und ungelernte Arbeiterinnen in den sogenannten Leichtlohngruppen beschäftigt. Noch 1960 nannte die Frauenrefe-

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rentin der Bundesanstalt für Arbeit, Maria Böckling, Frauen das »Fußvolk der Wirtschaft«. 8 Es entsprach dabei durchaus dem Kosten-Nutzen-Kalkül der Arbeitgeber, dass Bundesanstalt und Bundesarbeitsministerium weiterhin an der Vorstellung von den besonderen weiblichen Fähigkeiten wie Fingerfertigkeit oder Monotonieresistenz und der daraus abgeleiteten natürlichen Eignung von Frauen für bestimmte Industriearbeitsplätze festhielten.

2. Blickverschiebungen und neue Leitbilder: Hausfrauen und die »Freude am Beruf« Die öffentliche Verständigung über Frauen- und Müttererwerbsarbeit war in den fünfziger Jahren stark von der kirchlich-konservativen Familienrhetorik und der Abgrenzung gegenüber der Frauenarbeitspolitik der DDR bestimmt. Sie erhielt Anfang der sechziger Jahre neue Akzente. Neben die vielbeschworenen Bedürfnisse der Familie nach ehefraulich-mütterlicher Zuwendung und Zuarbeit traten nun vernehmbar auch die individuellen Bedürfnisse der familiengebundenen Frauen selbst. 1961 war in der auflagenstarken Frauenzeitschrift »Brigitte« über das unerfüllte Dasein der »zornigen jungen Frauen« zu lesen, die ihr Leben als »unbezahlte Köchinnen, Putzfrauen ohne Stundenlohn, Kindermädchen mit Familienanschluß« fristeten: 9 »Sie haben nie Zeit, und trotzdem langweilen sie sich zu Tode - über Arbeiten, die getan werden müssen, aber keinen Spaß machen. Sie hängen an ihrem Mann und an ihren Kindern, aber sie fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, verkümmert, weil sie immer nur an der einen Hälfte des Lebens beteiligt sind und weil ihnen das verlorengeht, was >andere Frauen< haben: ein spannender Beruf, Umgang mit interessanten Menschen, Abwechslung, Unterhaltung.« 10 Es hat durchaus seismografische Bedeutung, dass ein Massenmedium wie die »Brigitte«, die selbst jahrelang in Text und Bild die weibliche Berufstätigkeit als etwas Nebensächliches, hinter die wahre weibliche Bestimmung Zurücktretendes abgetan hatte, solche Fragen aufwarf. Zwar meldeten sich die Leserinnen in zahlreichen Zuschriften mehrheitlich als zufriedene Hausfrauen zu Wort." Gleichwohl zeigt ein Blick in die andere große Frauenzeitschrift, »Constanze«, die insbesondere die Einführung der Teilzeitarbeit seit 1960 publizistisch begleitete, 12 dass die Spielräume für das öffentliche Nachdenken über die Erwerbstätigkeit von Ehefrauen und Müttern größer wurden. Die ehemals obligatorische Rechtfertigung weiblicher Erwerbsarbeit mit familienökonomischer Notwendigkeit nahm ab.13 »Spaß an der Arbeit«, aber auch am selbst verdienten Geld und an den dadurch erweiterten Konsummöglichkeiten war bei Teilzeit arbeitenden Frauen jenseits der finanziellen Notwendigkeit als Erwerbsmotivation vorstellbar und legitim geworden. Diesen Gedanken breitenwirksam und gegen patriarchale Widerstände in gesellschaftliche und eheliche Praxis umzusetzen, wurde allerdings noch 1966 von Hilde Junker-Seeliger aus der Abteilung Frauen im DGBBundesvorstand skeptisch beurteilt: »Berufliche Arbeit aus Freude an der Betä-

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tigung - wenn es nicht aus finanziellen Gründen notwendig ist - ist ein Novum, an das unsere Gesellschaft erst gewöhnt werden muß. [...] Die Erwerbsarbeit der Frauen darf das Sozialprestige des Mannes nicht mindern bzw. er darf nicht glauben, daß es dies tut.«14 Zur Durchsetzung der neuen Sichtweise trugen nicht nur die verschärfte Nachfrage nach Arbeitskräften und die entsprechende Ausweitung der Teilzeitarbeit bei, sondern auch die wachsende Technisierung der westdeutschen Haushalte und insgesamt eine gesellschaftliche und mental-kulturelle Annäherung der Westdeutschen an den Wertehorizont des Westens.15 Die stärkere Identifikation mit den westlichen Industriegesellschaften fand ihren Niederschlag auch im bundesdeutschen Geschlechterdiskurs, indem zunehmende Frauenerwerbstätigkeit nun häufiger als Entwicklungstrend moderner westlicher Gesellschaften diskutiert wurde. Das von Alva Myrdal und Viola Klein 1956 propagierte DreiphasenModell weiblicher Erwerbstätigkeit wurde in der Bundesrepublik seit den frühen sechziger Jahren breit rezipiert.16 Dieses sah vor, dass Frauen nach vorehelicher Berufstätigkeit mit anschließender Familienphase nach dem Heranwachsen der Kinder in den Beruf zurückkehrten. Dorothee Wilms, damals noch Mitarbeiterin am Deutschen Industrieinstitut in Köln, später Bundesbildungsministerin, betonte auf der Tagung »Die berufstätige Frau heute und morgen« im Mai 1966, dass die technisch-industrielle Entwicklung in »alle Daseinsbereiche« eingreife und sich damit auch Familie und Geschlechterverhältnisse den Herausforderungen »einer sich wandelnden Welt« zu stellen hätten.17 Mit der 1966 dem Bundestag übergebenen Frauen-Enquête, die auf einen SPD-Antrag von 1962 zurückging, wurde der tiefgreifende gesellschaftliche Einstellungswandel, der sich an partnerschaftlichen Eheleitbildern westlicher Länder orientierte, auch offiziell anerkannt. Dabei sah man in den abnehmenden Kinderzahlen und dem weiblichen »Streben nach personaler Entfaltung« Marksteine einer unumkehrbaren Entwicklung, die Frauen im beruflichen und gesellschaftlichen Leben eine aktivere Rolle zuweisen würde.18 Die ausschließlich weibliche Zuständigkeit für Haus- und Familienarbeit blieb davon freilich unberührt.

3. Frauen als brachliegende Bildungsreserve

Im Bildungswesen war das Aufbrechen der geschlechtsspezifischen Ungleichheitsstrukturen weit mehr eine Entwicklung der sechziger als der siebziger Jahre. Bereits Mitte der sechziger Jahre war unter dem Schlagwort »Bildungskatastrophe« (Georg Picht) über eine umfassende Bildungsreform und das Bildungsund Qualifikationsdefizit von Frauen heftig diskutiert worden. Zentral war hier die Sorge, die Bundesrepublik könnte schon bald mangels wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb, vornehmlich in der ost-westlichen Systemkonkurrenz, zurückfallen. Neben der Modernisierung des westdeutschen Schul- und Hochschulwesens ging es vor allem darum, durch eine vorausschauende Bildungsplanung alle verfügbaren »Begabungsreserven« zu mobilisieren.

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Bildungsexperten richteten ihren Blick auf Unterschichtkinder, insbesondere Mädchen und junge Frauen aus dem katholischen ländlichen Milieu sollten von der Bildungsreform profitieren.19 Neben bildungsökonomischen Erwägungen prägte der Gedanke, »Bildung als Bürgerrecht« (Ralf Dahrendorf) zu etablieren und »Chancengleichheit« herzustellen, die bildungspolitische Diskussion. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre trat der anthropologische Diskurs über das Wesen der Geschlechter immer deutlicher in den Hintergrund zugunsten einer soziologischen Problemwahrnehmung, die die Rolle der Frau in der Gesellschaft thematisierte. Das Dahrendorfsche Wort von der Bildung als Bürgerrecht akzentuierte dabei die Anerkennung eines universell geltenden Rechts auf individuelle Entfaltung. 20 Im Zeichen von »Chancengleichheit« durfte die nunmehr mit sozialem Rollenverhalten begründete Geschlechterdifferenz für Mädchen den Zugang zu höherer Schulbildung nicht nur nicht mehr behindern, sondern vielmehr sollten diese dazu besonders ermutigt werden. Schulausbau und weitgehende Umstellung auf koedukativen Unterricht begleiteten den Aufholprozess der Mädchen während der bildungspolitischen Reformphase. Besuchte 1960 von allen 14-jährigen Mädchen nur jede Vierte ein Gymnasium, war es 1980 bereits jede Zweite. Der weibliche Anteil an den Abiturienten erhöhte sich von 35,5% im Jahr 1965 auf 45,9% 1975 und 48,2% 1980. Der Boom in der Mädchenbildung ließ auch den Frauenanteil unter den Studierenden ansteigen. So vergrößerte sich die weibliche Studienanfängerquote von 25 % im Jahr 1969 auf 34% 1975 und auf 43 % 1980.2' Abiturientinnen, die sich für ein Studium entschieden, wählten häufig den Lehrerinnenberuf. Gerade unter jungen Frauen wurde angesichts des Lehrermangels für eine entsprechende Ausbildung als Grund- oder Volksschullehrerin, aber auch für das höhere Lehramt geworben. Einen besonderen Anreiz schuf man mit der Möglichkeit, erstens während der »Familienphase« und mit Rückkehrgarantie zeitweilig auszusteigen und zweitens, die Stundenzahl aufgrund familiärer Verpflichtungen zu reduzieren. Indem der ursprünglich zölibatär angelegte Lehrerinnenberuf für Frauen eine optimale Vereinbarung von Beruf und Familie zu gewährleisten versprach, begann die rasche Feminisierung dieses Berufszweigs. Anfang der siebziger Jahre betrug der Frauenanteil unter den Studienräten bereits rund 40 %.22

4. Arbeitsmarktpolitik und Geschlechterdifferenz Auch die der Arbeitsmarktpolitik zugrunde liegenden Geschlechterbilder und Normen kamen in den sechziger Jahren in Bewegung. Das noch unter der Großen Koalition am 25. Juni 1969 verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz (AFG) stand für den Neubeginn in der Arbeitsmarktpolitik gegenüber Frauen. Schon bevor das neue Gesetz offiziell in Kraft trat, hatte der Präsident der BA, Josef Stingi, angekündigt, man wolle verstärkt diejenigen Frauen zur Rückkehr in das Erwerbsleben anregen, deren »Kinder aus dem gröbsten heraus« seien.23

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Die Arbeitsmarktintegration von familiengebundenen Frauen wurde zur Rechtsnorm erhoben. Nach § 2 AFG sollten »Frauen, deren Unterbringung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erschwert ist, weil sie verheiratet oder aus anderen Gründen durch häusliche Pflichten gebunden sind oder waren, eingegliedert werden«. 24 Hausfrauen und Mütter galten nun erstmals als förderungswürdiges Arbeitskräftepotenzial, deren »Doppelrolle« eine moderne Arbeitsmarktpolitik angemessen berücksichtigen müsse. Ein BA-interner Arbeitskreis einigte sich im April 1970 darauf, bei der Umsetzung des neuen gesetzlichen Auftrags auf mehreren Ebenen anzusetzen, um »den besonderen Belangen der Frauen so weit wie möglich Rechnung zu tragen«. Erstens sollte - hier bestand ein riesiger Nachholbedarf - die Nachfrage nach Einrichtungen zur Kinderbetreuung sowie deren Öffnungszeiten ermittelt, zweitens die »Öffentlichkeitsarbeit und Werbung für die - chancengleiche - Beschäftigung von Frauen« forciert, drittens besondere Arbeitszeitformen wie Hausfrauenschichten nicht nur im Gewerbe, sondern auch bei Dienstleistungen gefördert und viertens Fortbildungsmaßnahmen für Frauen noch stärker an der realen weiblichen Erwerbsbiografie ausgerichtet werden. 25 Soweit es um die Arbeitsmarktintegration von Frauen ging, war im AFG das Geschlecht der Arbeitskräfte als explizite Kategorie verankert. Bei der Arbeitsvermittlung hingegen hob das neue Gesetz die bis dahin strikt praktizierte Geschlechtertrennung auf. Die frühere Vorschrift, wonach die Arbeitsvermittlung von Frauen grundsätzlich durch Frauen erfolgen musste, wurde gestrichen und die Vermittlungsarbeit der Arbeitsämter allein nach fachlichen Kriterien gegliedert. Arbeit suchende Frauen und Männer wurden nun erstmals zusammen in einer gemeinsamen Vermittlungskartei geführt, wenngleich eine Kennzeichnung nach Geschlecht beibehalten blieb. Man hatte erkannt, dass sich die getrennte Vermittlung für Frauen und Männer »zum Nachteil der von der Bundesanstalt zu betreuenden Frauen und der weiblichen Bediensteten der Bundesanstalt auswirken« konnte, obwohl sie doch »den Schutz dieser beiden Personengruppen« zum Ziel hatte.26 Die Aufhebung der Frauen Vermittlung deutet darauf hin, dass auch die Arbeitsverwaltung nicht mehr am Gleichheitspostulat vorbeigehen konnte. Das bisherige Differenzkonzept wurde nun für die Perpetuierung der schlechten Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich gemacht und zugunsten eines konsequent am Gleichheitskonzept orientierten formalen Verfahrens aufgegeben. Die neu institutionalisierte Arbeitsmarktforschung, deren Ergebnisse aufmerksam von der Arbeitsverwaltung rezipiert wurden, untersuchte seit Ende der sechziger Jahre verstärkt das weibliche Erwerbsverhalten und zweifelte zunehmend die normative und reale Gültigkeit des bis dahin verflochtenen DreiPhasen-Modells an. In der Tat hatten viele Frauen schon immer auch in der Familienphase eine Erwerbsarbeit. 27 Die laut Drei-Phasen-Modell berufsferne zweite Lebensphase wurde nun erstmals klar als Hindernis für das berufliche Fortkommen von Frauen benannt. Friedrich Weltz, Forschungsdirektor am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in München, dessen Forschungen maßgeblichen Einfluss auf den frauenpolitischen Kurs der Bundesanstalt hatten, argumentierte, das Drei-Phasen-Modell perpetuiere für Frauen den Status als

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Reservearmee im Beschäftigungssystem generell und auch im Kalkül betrieblicher Personalpolitik: »Wenn einmal durch eine längere Periode der Nichtberufstätigkeit der Konnex zur beruflichen Sphäre abgerissen ist, reduziert sich die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr ins Erwerbsleben rapide.« Das wiederum habe zur Folge, dass Frauen ihre »Marginalrolle am Rande der Berufssphäre« akzeptierten und damit »den dominierenden Vorstellungen von dem Primat des Berufes in der Welt des Mannes und dem Primat der Familie in der Welt der Frau« entsprächen. Weltz schlug ein ganzes Bündel von Maßnahmen unterschiedlicher Reichweite vor, deren Zusammenwirken auf längere Sicht die berufliche Situation von Frauen verbessern könnte. Im Zentrum stand der Vorschlag, auch junge Mütter mit Hilfe von zeitverkürzter Erwerbsarbeit und beruflichen »Auffrischungskursen« permanent an die Erwerbs weit anzubinden. 28 Der arbeitsmarktpolitische Aufbruch in Richtung mehr Gleichberechtigung hatte mehrere Gründe. Schon vor Inkrafttreten des AFG hatte sich unter Arbeitsmarktplanern und Ökonomen die Erkenntnis durchgesetzt, dass die tiefgreifenden technologischen und organisatorischen Strukturveränderungen in allen Beschäftigungszweigen eine breite Qualifizierungsoffensive erforderlich machten und auch die unausgenutzten Reserven bisher nichterwerbstätiger Frauen miteinschließen mussten. 29 Hinzu kam ein Generationswechsel in der Nürnberger Hauptstelle. Ende 1967 löste Luise Joppe die langjährige Referentin der Frauenvermittlung, Maria Böckling, ab. Auch auf den unteren Verwaltungsebenen zeichnete sich ein Einstellungswandel ab. Die Arbeitsämter wurden sensibler für die zählebigen Mechanismen beruflicher Diskriminierung von Frauen. Für das Arbeitsamt Düsseldorf war im Sommer 1971 klar, dass der verschwindend geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen »offenbare, wie lange sich konservative Betrachtungsweisen, Vorurteile und negative Einstellungen halten« und »wie weit man noch von einer beruflichen Gleichberechtigung der Frauen entfernt ist«. 30 Einschätzungen wie diese machen deutlich, dass sich mit dem sozialliberalen Regierungsantritt 1969 Gleichheitsdiskurse auch in der Arbeitsverwaltung beschleunigt ausbreiteten.

5. Frauenpolitischer Aufbruch in der ersten Hälfte der siebziger Jahre Die westdeutschen Geschlechterbeziehungen im Sinne eines gleichberechtigten Partnerschaftsmodells umfassend zu modernisieren, war ein wichtiges Anliegen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt. 31 Das unter der Brandt-Regierung aufgelegte geschlechterpolitische Programm zielte darauf, die für beide Geschlechter formal gleichen Bildungschancen gegen das Beharrungsvermögen traditioneller Rollenbilder beschleunigt durchzusetzen. Jungen Schulabgängerinnen wurde eine Berufsausbildung nun auch von Regierungsseite dringend angeraten. Tatsächlich planten Eltern für ihre Töchter bis weit in die siebziger Jahre hinein eine andere Karriere als für ihre Söhne.

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Der von der Bundesregierung im August 1972 beschlossene »Frauenbericht« formulierte als Ziel »eine Reform der Bildungseinrichtungen und -angebote, daß auch bislang benachteiligte Gruppen wie eben Frauen die Möglichkeit wirklich nutzen können«. Anders als in der Frauen-Enquête sechs Jahre zuvor war nun nicht mehr von der erzieherisch-schulischen Vorbereitung junger Frauen auf ihre spätere Hausfrauen- und Mutterrolle die Rede. Das neue Programm forderte stattdessen die »Erziehung zur Fähigkeit, das Leben selbst zu gestalten, um es den Frauen zu ermöglichen, sich vom traditionellen weiblichen Rollenbild zu lösen und frei und kritisch ihren Standort und ihre Aufgabe in der Gesellschaft zu wählen«.32 Das Reformklima der Brandt-Ära und die Aufbruchsignale durch die Neue Frauenbewegung schärften das öffentliche Problembewusstsein für die Benachteiligung von Frauen. Die Medien hatten zugleich als Katalysatoren und Meinung sbarometer entscheidenden Anteil an der breit entfalteten und auf Wandel zielenden Debatte über Geschlechterrollen. Die Frauenzeitschrift »Brigitte« hatte sich noch in den sechziger Jahren in ihrer Haltung zur mütterlichen Erwerbstätigkeit höchst unentschieden gezeigt. 1969 verkündete sie anlässlich einer Leserinnenumfrage: »Wir glauben: Ein Beruf macht das Leben einer Frau erfüllter, reicher.«33 In den folgenden Jahren entwickelte sie sich zur entschiedenen Fürsprecherin berufstätiger Mütter und Anklägerin katastrophaler Lücken im staatlichen Kinderbetreuungsangebot.34 Themen wie weibliche Berufswahl, Weiterbildung, beruflicher Wiedereinstieg nach der »Babypause«, Müttererwerbsarbeit und außerhäusige Kinderbetreuung fanden bei den Leserinnen Anfang der siebziger Jahre äußerst positive Resonanz.35 Auch für die von der sozialliberalen Regierung in Gang gesetzte Familienrechtsreform, die 1977 das im BGB verankerte Leitbild der »Hausfrauenehe« ablösen sollte, wurde die »Brigitte« zu einem populären Diskussionsforum.36 Im Zentrum ihrer Kritik standen die ungerechte Aufteilung von Hausarbeit und Kindererziehung zu Lasten berufstätiger Frauen und die männliche Abstinenz bei Familienaufgaben.37 In der ersten Hälfte der siebziger Jahre hatte sich die öffentliche Meinung zur Erwerbsarbeit von Frauen und Müttern deutlich gewandelt. Nun standen weniger berufstätige Mütter als vielmehr Hausfrauen im erwerbsfähigen Alter unter Rechtfertigungsdruck. Während Haus- und Familienarbeit ihre in der Nachkriegszeit so hoch veranschlagte gesellschaftliche Anerkennung weitgehend verloren hatte, wurde nun das Recht der Frauen auf Berufsausübung bisweilen auch als deren moralisch-gesellschaftliche Pflicht diskutiert.38 Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter, Gewerkschafterinnen und Regierung propagierten einhellig, dass Mütter mit älteren Kindern wieder in den Beruf zurückkehren sollten. Selbst Mediziner, denen berufstätige Mütter früher als überlastet und daher als krankheitsanfälliger galten, konstatierten nun das Gegenteil: »Nur-Hausfrauen« seien häufiger krank, weil sie unter Unzufriedenheit, Kontaktarmut und mangelnder Anerkennung, kurz dem sogenannten Hausfrauensyndrom litten.39 Auch das ehemals sehr einflussreiche Argument, die mütterliche Erwerbstätigkeit wirke sich negativ auf

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die Kindesentwicklung aus, wurde 1970 in einem vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebenen Gutachten durch Experten entkräftet. Mit Blick auf den sich anbahnenden neuen gesellschaftlichen Konsens in Fragen der Müttererwerbstätigkeit machten die Gegner dieser Entwicklung für einen Gegendiskurs mobil. Zum unmittelbaren Auslöser wurde der Entschluss der Bundesfamilienministerin Katharina Focke 1973, zusammen mit vier Bundesländern ein dreijähriges Modellprojekt »Tagesmütter« nach schwedischem Vorbild zu initiieren. Dieses Projekt rief umgehend eine Gruppe von Kinderärzten, Verhaltensbiologen und konservativen Politikern auf den Plan, die sich bei der Kinderbetreuung vehement und öffentlichkeitswirksam gegen jegliche Form von »Fremdbetreuung« und »mütterlicher Deprivation« aussprachen. Der Erregungsgrad der Debatte war zurückzuführen auf die späte und verkürzte Rezeption der angloamerikanischen Hospitalismusforschung in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren mit der Folge, dass die »Mutterentbehrung« von Heimkindern auf die Situation von Kindern berufstätiger Mütter übertragen wurde.40 Nachdem die Zeitschrift »Brigitte« als erstes deutsches Presseorgan über schwedische Tagesmütter berichtet hatte, bezog sie gegenüber der von Kinderärzten initiierten Gegenkampagne dezidiert Stellung und entlarvte deren Versuche, einen Zusammenhang zwischen Müttererwerbstätigkeit und Verhaltensauffalligkeiten von Kindern zu konstruieren, als ideologischen Feldzug: »Dem Vater, der an seinem Beruf hängt, wirft niemand Lieblosigkeit und Egoismus vor, egal wie lange er arbeitet, egal wie häufig er von zu Hause fort ist. [...] Alles spricht von der >Mutterentbehrung< - gibt es denn keine Vaterentbehrung?«41 Der gesamtgesellschaftliche Meinungswandel hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration von Müttern und die Durchsetzung »partnerschaftlicher« Geschlechterbilder wurden durch den faktischen Anstieg der Ehefrauen- und Müttererwerbstätigkeit im Zeichen des Wirtschaftswachstums vorangetrieben. Bei verheirateten Frauen verdoppelte sich die Erwerbsbeteiligung zwischen 1950 und 1980 nahezu von 26,4% auf 48,3%.42 1971 war von allen verheirateten Müttern mit Kindern unter 15 Jahren etwa ein Drittel erwerbstätig, nachdem ihre Erwerbsbeteiligung zwischen 1961 und 1971 um 65% zugenommen hatte. Unter den verheirateten erwerbstätigen Frauen betrug der Anteil der Mütter mit Kindern unter 15 Jahren rund 44%. 43

6. Die Ambivalenz weiblicher »Gleichberechtigung« Zur allgemein geteilten Prämisse staatlicher Geschlechterpolitik gehörte es, »gesellschafts- und arbeitsmarktpolitische Zielsetzungen [...] miteinander in Einklang zu bringen«. Nachdem die öffentliche Diskussion Berufsarbeit bisweilen als eine gesellschaftliche Pflicht auch für Frauen akzentuiert und die sogenannte Nur-Hausfrau unter Rechtfertigungsdruck gesetzt hatte, versuchte man in der Arbeitsmarktpolitik nun offenbar, einem möglichen Missverständnis vor-

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zubeugen. Einem Konzept der Arbeitspflicht erteilte die Arbeitsverwaltung eine klare Absage: »Wohl aber sind Frauen mit Familienpflichten, die eine Erwerbstätigkeit unabhängig von der individuellen Motivation aufnehmen wollen, die bestmöglichen Chancen zum nahtlosen Ineinandergreifen in der Durchführung ihrer Familienpflichten und der Ausübung einer Erwerbstätigkeit ohne gesundheitlichen und seelischen Schaden für sie und die Familie zu ermöglichen. Die Erwerbstätigkeit der Frau muß gleichwertig neben der Erfüllung der Familienpflichten stehen. Die Rechtsnormen sind der Entwicklung anzupassen.«44 Auch der juristische Kommentar zum AFG hatte bereits die Familienverträglichkeit der neuen Arbeitsmarktpolitik angemahnt und klargestellt, dass das arbeitsmarktpolitische Ziel eines hohen Beschäftigtenstandes »keineswegs als Aufforderung zu uferloser Werbung von Frauen für die Aufnahme beruflicher Arbeit um jeden Preis verstanden werden« dürfe, denn »der Schutz der Ehe und Familie [...] bleibt hiervon unberührt«.45Das favorisierte Konzept für die weibliche Erwerbsbiografie modifizierte lediglich das Drei-Phasen-Modell. Die Familienphase von Frauen sollte auf die ersten Lebensjahre der Kinder verkürzt und statt des bisher als Ideal favorisierten diachronen Zeitverlaufs sollte nun eine harmonische Synchronisation der Aufgaben in Beruf und Familie bewerkstelligt werden. Dies zeigt in aller Deutlichkeit, dass staatliche Konzepte der Entlastung und Förderung trotz des entwickelteren Problembewusstseins auch in den siebziger Jahren ausschließlich auf Frauen ausgerichtet waren. Haus- und Familienarbeiten blieben nach wie vor ausschließlich der weiblichen Zuständigkeit überantwortet. Damit lief die wohlmeinende Absicht, auch für familiengebundene Frauen die Chancen im Berufsleben zu erhöhen, letztlich nur darauf hinaus, allein für Frauen die Doppelbelastung festzuschreiben und zu erhöhen. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass die Entschlossenheit, mit der die Bundesregierung die Erwerbsquote von Frauen aktiv zu erhöhen versuchte, auch vor dem Hintergrund einer zunehmend negativen Bewertung der Ausländerbeschäftigung geschah. Deutsche Frauen rückten um 1972 immer deutlicher als Alternative zur Arbeitsmigration überhaupt in den Blick.46

7. A u s b l i c k

Der Konjunktureinbruch 1974 entzog mit seinem rapiden Rückgang des Arbeitsplatzangebots dem Vorhaben einer aktiven Arbeitsmarktpolitik die inhaltliche und finanzielle Grundlage. Der zentrale Gedanke des AFG, durch eine planvolle, leistungsfähige Arbeitsmarktpolitik sei die effiziente Ausnutzung aller erwerbsfähigen Arbeitskräfte dauerhaft zu gewährleisten, relativierte sich in der Krise. Die Reformbemühungen erscheinen im Nachhinein als Produkt des zeittypischen Reform- und Planungsoptimismus, dem die Prämisse fortwährender ökonomischer Prosperität zugrunde lag.47 Die Verwaltung und Existenzsicherung der Arbeitslosen rückte notgedrungen wieder in den Mittelpunkt. Mit Arbeitslosigkeit und verstärkter Kurzarbeit sanken die Einnahmen der Bundesanstalt. Die berufliche Aus- und Weiterbildung diente schon bald weniger als Prävention vor Ar-

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beitslosigkeit denn als Auffangbecken oder Zwischenstadium vor oder nach der Arbeitslosigkeit. Mit Beginn der Rezession verkehrten sich die geschlechterpoliti sehen Ziele von Arbeitsverwaltung, Wirtschaft und Politik wieder in ihr Gegenteil. Frauen gehörten zweifellos zu den Verlierern der Konjunkturkrise. Die weibliche Erwerbslosenquote lag höher als die männliche, selbst wenn sie bereits dadurch bereinigt war, dass gar nicht alle arbeitslosen Frauen ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld wahrnahmen. Mit Beginn der Krise waren die Arbeitsämter häufig dazu übergegangen, erwerbslos werdenden Frauen mit kleinen Kindern die staatliche Unterstützung mit dem Hinweis zu verweigern, dass sie dem Arbeitsmarkt nicht zu den »üblichen Bedingungen« zur Verfügung stünden. Frauen wurden nun zugunsten der Arbeitsplatzsicherung für männliche Ernährer wieder auf den Familienbereich verwiesen. Die in diesen Jahren geführten Diskussionen über ein Erziehungsgeld für Mütter belegen, dass es nach wie vor opportun erschien, in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Familie als weibliche Option zu stärken. Für vergleichsweise wenig Geld sollten sich junge Mütter nunmehr wieder verstärkt der Kindererziehung widmen und damit die Arbeitsmarktstatistik entlasten.48 Bereits seit Mitte der siebziger Jahre und damit lange vor der Kohlschen Wende 1982 mischte sich in die öffentliche Verhandlung von Geschlechterfragen wieder eine zunehmende Betonung der Geschlechterdifferenz. Nicht nur die - die sozialliberale Reformpolitik ablehnenden - konservativen Parteien, sondern auch Teile der sich stärker auf subkulturelles Terrain zurückziehenden Frauenbewegung akzentuierten, wenngleich unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen, ein Differenzkonzept, welches Frauen wieder stärker im Bereich von Natur und Biologie verortete.49 Die weitere Entwicklung seit den späten siebziger Jahren entzieht sich eindeutigen Zuordnungen. Einerseits konnte die politische Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe von Frauen am Berufsleben nicht mehr völlig von der öffentlichen Agenda verdrängt werden. Zunehmend mehr jüngere Frauen richteten danach ihre Lebensplanung aus. Andererseits rückte erst allmählich ins öffentliche Bewusstsein, in welch starkem Maße die Fundamente des westdeutschen Sozialsystems vom Prinzip der Ernährerehe durchdrungen sind und die Politik das traditionelle Hausfrau-Ernährer-Modell, nicht nur steuerlich, finanziell privilegiert. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass sich die Forderung nach gleichgewichtiger Teilhabe von Männern an der Haus- und Familienarbeit sehr viel zögerlicher auf die politische Tagesordnung setzen ließ.

Anmerkungen 1 2 3

Christine von Oertzen, Die Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1945-1965, Göttingen 1999. BMA, Abt. II, Bevölkerungssubstanz, Arbeitsmarkt und Arbeitskräftebedarf in der Bundesrepublik, Bundesarchiv (BArch) Koblenz, Β 149/657. Der sprunghafte Anstieg im ersten Nachkriegsjahrzehnt überdeckt die Tatsache, dass im Laufe der fünfziger Jahre lediglich der Vorkriegstrend wieder aufgenommen wurde. Bereits 1933 waren

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29,2% aller verheirateten Frauen erwerbstätig. 1939 lag der Anteil bei 32,5 %. Angelika WillmsHerget, Frauenarbeit. Zur Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt a. Main 1985, S. 88; Menth Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945-1960, Göttingen 2001, S. 234 ff.; Robert M. Moeller, Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997, S. 343 ff. Ingrid Sommerkorn, Die erwerbstätige Mutter in der Bundesrepublik, in: Rosemarie Nave-Herz, Wandel und Kontinuität in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, S. 114-140, hier 130; Klaus Jörg Ruhl, Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit 1945-63, S. 176 ff.; Niehuss, Familie, S. 256 f. Moeller, Mütter, S. 201 ff. Dazu auch Wiebke Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945-2000, S. 40 ff.; auch Uta C. Schmidt, Das Problem heißt »Schlüsselkind«. Die »Schlüsselkinderzählung« als geschlechterpolitische Inszenierung im Kalten Krieg, in: Thomas Lindenberger, Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln 2006, S. 171 - 2 0 2 ; Hermann Schubnell, Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern und die Betreuung ihrer Kinder, in: Wirtschaft und Statistik 1964, Nr. 8, S. 444-456, hier 453. Zwischen 1950 und 1961 sank der Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Frauen an den insgesamt beschäftigten Frauen von 35,2% im Jahr 1950 auf 19,7% im Jahr 1961. Die entsprechenden Anteile bei den häuslichen Diensten lagen bei 9% 1950 und 3,4% 1961. Vgl. ausführlich Niehuss, Familie, S. 226 ff.; auch Moeller, Mütter, S. 241. Maria Tritz, Die Reserve der weiblichen Arbeitskräfte, in: Bundesarbeitsblatt 1955, Nr. 20, S. 899. Vermerk Ib5-5103 v. 5.7.1960, Ref. Maria Böckling, BArch Koblenz, Β 119/2884; Tritz, Reserve, S. 898. Brigitte 1961, Nr. 15, S. 75. Die »Brigitte« gehörte neben der »Constanze«, mit der sie 1969 fusionierte, zu der meistgelesenen Frauenzeitschrift der Bundesrepublik. Ute Frevert, Umbruch der Geschlechterverhältnisse? Die 1960er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum, in: Axel Schildt u. a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 642 - 660, hier 644 f. Brigitte 1961, Nr. 15, S. 75. Brigitte 1961, Nr. 20, S. 68 f. von Oertzen, Teilzeitarbeit, S. 92 f. Bereits bei der Befragung, die die Soziologin Elisabeth Pfeil 1956/57 durchführte, gaben von 1000 berufstätigen Müttern nur 13% an, aus reiner »Existenznot« erwerbstätig zu sein; bei 49% war jedoch die Erwerbsarbeit durch Haushaltsanschaffungen, Hausbau oder einen höheren Lebensstandard motiviert. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. Main 1986, S. 256. Hilde Junker-Seeliger, Die Frau im Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie, in: Die berufstätige Frau heute und morgen. Referate und Diskussionen auf einer Tagung der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt in Bad Godesberg am 3. Mai 1966, Berlin 1966, S. 27-40, hier 39. Anselm Doering-Manteuffel, Westemisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Schildt, Dynamische Zeiten, S. 311-341, hier 315. 1960 erschien ihr Buch »Women's Two Roles« auf Deutsch unter dem Titel »Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf«. Vgl. Dorothee Wilms, Im Wandel der Berufe. »Männliche« Tätigkeiten für Frauen immer anziehender, in: Der Arbeitgeber 1966, Nr. 15/16, S. 450 f., sowie von Oertzen, Teilzeitarbeit, S. 95-98. Dorothee Wilms, Die Notwendigkeit einer intensiven Ausbildung und Weiterbildung von Mädchen und Frauen, in: Berufstätige Frau, S. 17-26. Mit ihrem Antrag erbat die SPD-Fraktion im Bundestag von der Regierung Auskunft über die Situation von Frauen in Familie, Beruf und Gesellschaft. Vgl. von Oertzen, Teilzeitarbeit, S. 110-112. Alfons Kenkmann, Von der »Bildungsmisere« zur Bildungsreform in den 1960er Jahren, in: Schildt, Dynamische Zeiten, S. 402-423, hier 405 ff.; Wilms, Notwendigkeit, S. 20; vgl. auch das Sonderheft des »Arbeitgeber« zum Thema Frauenerwerbstätigkeit 1966 sowie Eberhard

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Glaß, Bericht der Bundesregierung über die Situation in Beruf, Familie und Gesellschaft, in: Bundesarbeitsblatt 17 (1966), Nr. 20, S. 5 8 4 - 5 8 7 , hier 586. 20 Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005, S. 253 f. 21 Bei den 17-jährigen Jungen stieg der Anteil der Gymnasiasten von 13,4% auf 20%. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 261; Gass-Bolm, Das Gymnasium, Anhang Tabelle 5, S. 430. 22 Gunilla-Friederike Budde, Paradefrauen. Akademikerinnen in Ost- und Westdeutschland, in: dies. (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 1 8 3 - 2 1 1 , hier S. 194. 23 »250000 Gastarbeiter sollen noch kommen«, in: Rheinische Post v. 21.2.1969. 24 Arbeitsförderungsgesetz, Beilage zum Bundesarbeitsblatt 20 (1969), Nr. 6, S. 2. 25 In größeren Städten sollten sogenannte City-Büros für die Arbeitsvermittlung eingerichtet werden. Für Kleinstädte strebte man Werbungs- und Aufklärungskampagnen an. Vermerk der Unterabteilung Ia5-130 am 17.4.1970, BArch Koblenz, Β 119/4297, sowie »Erlaß zur Organisation der Arbeitsvermittlung« v. 30.9.1970, in: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 18 (1970), Nr. 11, S. 7 7 3 - 7 7 6 . 26 Erlaß zur Organisation der Arbeitsvermittlung, S. 773, 775. 27 Vgl. Hans Hofbauer u.a., Die Rückkehr der Frauen in das Erwerbsleben, in: Institut für Arbeitsmarkt- und Bemfsforschung. Mitteilungen, Dezember 1969, Nr. 10, S. 7 1 3 - 7 3 3 ; vgl. auch Friedrich Weltz, Bestimmungsgrößen der Frauenerwerbstätigkeit, in: ebd. 4 (1971), Nr. 2, S. 2 0 1 - 2 1 5 . 28 Ebd., S. 213,215. 29 Bereits 1962 war ein staatliches Programm zur Aufstiegsförderung eingeführt worden, welches Frauen aber aufgrund seiner ungünstigen Bedingungen kaum in Anspruch genommen hatten. Vgl. z.B. Klaus Zekorn, Zur beruflichen Bildung der Frauen, Bundesarbeitsblatt 19(1968), Nr. 17/18, S. 5 1 2 - 5 1 7 . 30 Arbeitsamt Düsseldorf, Intensivierung der Berichterstattung zur Frauenvermittlung, 2. Quartal 1971, Hauptstaatsarchiv NRW, BR 1134/438, Bl. 72. 31 Die neue Bundesregierung kündigte bereits in ihrer Regierungserklärung im Oktober 1969 an, dass die »Frauenenquête« von 1966 »beschleunigt fortgeführt« werde. Vgl. Eberhard Glaß, Frauenbericht '72, Bundesarbeitsblatt 24 (1973), Nr. 1, S. 8 - 1 3 . 32 Ebd., S. 9 f. 33 Brigitte 1969, Nr. 1, S. 54. 34 Dora Horvath, Bitte recht weiblich! Frauenleitbilder in der deutschen Zeitschrift »Brigitte« 1949-1982, Zürich, S. 274. 35 Bei einer Fragebogenaktion zum Thema »Zurück in den Beruf« sprachen sich 1970 die rund 7000 Teilnehmerinnen, davon 92,5 % Mütter, zu 93 % für die Berufstätigkeit aus. Die genannten Gründe waren »mehr unter Menschen kommen«, »Spaß am Beruf«, »Wunsch nach Selbstbestätigung«, »Der Haushalt füllt mich nicht mehr aus«. Brigitte 1969, Nr. 8, S. 120 f.; Brigitte 1969, Nr. 18, S. 112. 36 Nach den §§ 1356 und 1360 BGB durften Ehefrauen nur erwerbstätig sein, wenn dies »mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist«. Dagegen war sie zur Erwerbstätigkeit verpflichtet, wenn die Einkünfte des Ehegatten zum Unterhalt der Familie nicht ausreichten. Frevert, FrauenGeschichte, S. 267 ff. 37 Brigitte 1972, Nr. 12, S. 9 1 - 1 0 1 . 38 Vgl. zu dieser Diskussion das Kapitel »Erwerbstätigkeit - Recht oder Pflicht der Frau« mit vielen Beispielen in Rosemarie Nave-Herz, Das Dilemma der Frau in unserer Gesellschaft: Der Anachronismus in den Rollenerwartungen, Neuwied 1972, S. 52 ff. 39 Brigitte 1969, Nr. 19, S. 129. 40 Sommerkorn, Mutter, S. 134; Yvonne Schütze, Mütterliche Erwerbstätigkeit und wissenschaftliche Forschung, in: Uta Gerhardt / Yvonne Schütze, Frauensituation. Veränderungen in den letzten zwanzig Jahren, Frankfurt a. Main 1988, S. 114-138, hier 124 ff; auch Kolbe, Elternschaft, S. 151 ff., 173 f. 41 Brigitte 1975, Nr. 10, S. 118-125. 42 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 258.

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43 Hans-Joachim Borries, Die Entwicklung der Erwerbstätigkeit der Frauen und ihre Einflussfaktoren, in: Wirtschaft und Statistik 1973, Nr. 3, S. 1 4 9 - 1 5 4 , hier 151. 44 Bundesanstalt, betr. Frauenerwerbsarbeit Aktionsprogramm Frauen vom 14. 2.1972, BArch Koblenz, Β 119/4778. 45 Erwin Schönfelder u.a., Kommentar zum Arbeitsförderungsgesetz (AFG), Loseblattausgabe, 1. Lfg., Stand: August 1972, Stuttgart 1972, zitiert nach: Friederike Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie - Frauenarbeit in den alten Bundesländern, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel (Hg.), Frauen in Deutschland 1945-1992, Bonn 1993, S. 257 - 279, hier 275. 46 Genauer dazu: Monika Mattes, »Gastarbeiterinnen« in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. Main 2005, S. 249 ff. 47 Vgl. dazu, allerdings ohne direkten Bezug zur Arbeitsverwaltung: Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie - Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Schildt u. a., Dynamische Zeiten, S. 3 6 2 - 4 0 1 . 48 Vgl. ζ. B. Karin Jurczyk, Frauenarbeit und Frauenrolle. Zum Zusammenhang von Familienpolitik und Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland von 1918-1975, Frankfurt a. Main 1977, S. 117 ff.; Kolbe, Elternschaft, S. 167 ff. 49 Vgl. z.B. den pointierten Überblick von Claudia Pini, Vom kleinen zum großen Unterschied. »Geschlechterdifferenz« und konservative Wende im Feminismus, Frankfurt a. Main 1995.

Annette Vowinckel

Anmerkungen zur Mediengeschichte des Terrorismus

Die siebziger Jahre sind uns in Erinnerung als die Zeit des Ölpreisschocks, als eine Dekade des Terrorismus in Deutschland und weltweit und als die Zeit, in der sich das Fernsehen als Leitmedium so weit durchsetzte, dass es den Alltag nicht mehr nur begleitete, sondern zuweilen auch strukturierte. Diese Entwicklungen verliefen parallel, doch sind sie in gewisser Hinsicht auch kausal miteinander verknüpft. Ziel dieses Beitrags ist es, die verbindenden Elemente zwischen Ölschock und Wirtschaftskrise, Medialisierung und Expansion des internationalen Terrorismus aufzuzeigen und deren Bedeutung für die Bewertung der siebziger Jahre als Zeit einer ersten allgemeinen Verunsicherung nach dem Zweiten Weltkrieg zu erläutern. Ich beginne mit einer Darstellung des Anschlags auf die Olympischen Spiele in München 1972, der im Hinblick auf die genannte Verknüpfung unterschiedlicher historischer Entwicklungen von paradigmatischer Bedeutung ist.

1. Die »heiteren Spiele« Vom 26. August bis zum 11. September 1972 fanden in München die zwanzigsten Olympischen Sommerspiele statt. Jeden Abend sendeten ARD und ZDF im Wechsel eine Zusammenfassung der Ereignisse des Tages für das deutsche Publikum, und da es am ersten Wettkampftag noch nicht allzu viel Sportliches zu berichten gab, wurde die Sendung mit einem Beitrag über das Leben im Olympischen Dorf gefüllt. Mehrfach wurde in dieser Reportage betont, dass man in München nicht an die Nazi-Spiele von 1936 erinnern wolle und dass man deshalb auf den Einsatz schwer bewaffneter Sicherheitskräfte verzichtet habe. Das Konzept der »heiteren Spiele« schlug sich in allen Bereichen nieder: in der Farbgebung, in der musikalischen Untermalung, in der Gestaltung des Olympischen Dorfes und auch in der Ästhetik der Eröffnungsfeier. »In allen Berichten«, so die Historikerin Uta Baibier, »herrschte Einigkeit darüber, dass sich die inszenierte Feier während ihres Ablaufs tatsächlich in ein heiteres Fest verwandelt hatte. [...] Die italienische Corriere della Sera sprach dies am deutlichsten aus: >Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die Deutschen sich gewandelt haben, das Stadion in München hat ihn gelieferte« 1 Fast ein bisschen stolz waren die Organisatoren darauf, dass sie sich in Sachen Sicherheit gegen jeden militärischen Drill und für eine weitgehende Frei-

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heit der Bewohner des Olympischen Dorfes von Überwachung und Kontrolle entschieden hatten. Im Einsatz waren deshalb zivil gekleidete und unbewaffnete Wachmänner, die zwar Kontrollen durchführten, diese aber eher lax handhabten eine Maßnahme, die von den Fernsehkommentatoren besonders gelobt wurde. So heißt es in der Zusammenfassung der Ereignisse des Tages am 27. August im ZDF: »Seit gestern vollzählig, aber bewusst hinter den Mauern Münchener Kasernen verborgen: Polizeibereitschaften in bisher nie da gewesenem Umfang. 15000 Polizisten für den Olympiagroßraum München, darunter 8000 Ordnungshüter aus anderen Teilen der Bundesrepublik. Schnelle Verständigung mit 2000 Funkgeräten auf 140 Funkkanälen.«2 Gleichwohl gebe es, so der Kommentator, »keine auffällige Polizeipräsenz [...] im Olympischen Dorf«. 3 Es folgt beschwingte Tanzmusik, und gegen Ende des Beitrags wird die Einschätzung, dass die Sicherheitskräfte äußerst unauffällig agierten, noch einmal wiederholt: »250 Wachmänner, gekleidet in zivile Uniformen, ohne Schießeisen, doch mit Ehrfurcht erregenden Sprechfunkgeräten bewaffnet. Wer die Athletenstadt betreten will, wird gleich zwei Mal kontrolliert, doch auf Stacheldraht hat man gemäß dem Motto >Heitere Spiele< verzichtet, und die Maschen der Absperrzäune haben Lücken, so scheint es.« 4 Dessen ungeachtet waren die Verantwortlichen überzeugt, eine optimale Sicherheitslage geschaffen zu haben. Auf die Frage, ob es j e einen vergleichbaren Versuch gegeben habe, »großzügig Sicherheit« zu schaffen, entgegnete Staatssekretär Kiesel in dem bereits zitierten ZDF-Beitrag: »Ich glaube [...], man kann mit Recht sagen, dass diese Einrichtung, wie wir sie hier haben als Verkehrs- und Einsatzleitzentrale einmalig in ganz Europa ist. Wir haben also ein vergleichbares Modell nicht; hier ist zusammengefasst nicht nur die Polizei, also die sämtlichen polizeilichen Kräfte, sondern hier ist auch die Verbindung geschaffen zu den ausländischen Polizeien.« 5 Besonders deutlich zeigt diese noch vor dem Anschlag gemachte Aussage, dass die Behörden zwar mit einem Verkehrschaos rechneten, nicht aber mit terroristischen Anschlägen. So waren die Sicherheitskräfte sowohl überrascht als auch völlig überfordert, als am 5. September 1972 acht bewaffnete Terroristen der Gruppe »Schwarzer September« in das Olympische Dorf eindrangen, zwei israelische Sportler erschossen und neun weitere in ihre Gewalt brachten. Der bayerische Innenminister Bruno Merk, der Münchener Polizeipräsident Manfred Schreiber und Bundesinnenminister Genscher wurden beauftragt, mit den Geiselnehmern zu verhandeln, die die Freilassung von über 200 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen, der deutschen Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus Stammheim und des Japaners Kozo Okamoto forderten, eines Angehörigen der Japanischen Roten Armee, der an einem Massaker auf dem Flughafen von Tel Aviv beteiligt gewesen war und deshalb in einem israelischen Gefängnis einsaß.6 Da die israelische Regierung den Austausch kategorisch ablehnte, sahen sich die deutschen Verantwortlichen in der unangenehmen Lage, selbst für die Befreiung der israelischen Sportler zuständig zu sein. Die Terroristen wurden unter dem Vorwand, dass man dem Austausch zustimme, gemeinsam mit den Geiseln

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im Hubschrauber nach Fürstenfeldbruck geflogen, wo eine Lufthansa-Maschine zum Weiterflug bereitstand. Als sich vier der acht Terroristen gleichzeitig auf dem Rollfeld befanden, eröffneten Scharfschützen das Feuer, töteten zwei Terroristen und verletzten zwei weitere. In dem nun beginnenden Feuergefecht starben insgesamt fünf der acht Terroristen; den übrigen gelang es, Handgranaten in die Hubschrauber zu werfen, in denen die Geiseln noch immer gefesselt und angeschnallt saßen. Dabei kamen alle Geiseln ums Leben. Die überlebenden drei Terroristen wurden verhaftet, aber schon nach wenigen Wochen durch eine Flugzeugentführung wieder freigepresst. 7 Ich werde im Folgenden zunächst einen Blick auf die Sicherheitslage in der Bundesrepublik der frühen siebziger Jahre werfen und dabei besonders die Veränderungen berücksichtigen, die der Anschlag von München verursacht hat. Im Anschluss daran werde ich auf die Entwicklung des internationalen Terrorismus seit den späten sechziger Jahren eingehen; in diesem Kontext erscheint es mir besonders wichtig, dass Terrorakte im Lauf der Dekade immer häufiger von Live-Medien (Radio, Fernsehen) übertragen wurden und infolgedessen zu klassischen Medienereignissen wurden. Welche Bedeutung diese Entwicklung Expansion des internationalen Terrorismus und Umwandlung von Anschlägen in Medienereignisse - für eine Gesamtsicht der siebziger Jahre hat, wird Gegenstand einer abschließenden Betrachtung sein.

2. München 1972: Schwächen eines zivilen Sicherheitskonzepts Während einige der Hauptverantwortlichen für den Fehlschlag von Fürstenfeldbruck heute noch darauf beharren, der Anschlag hätte nicht verhindert werden können und man habe alles nur Denkbare dafür getan, die Geiseln in Sicherheit zu bringen, wurde in den Vereinigten Staaten und in Israel grundsätzliche Kritik an der Antiterrorstrategie der Bundesrepublik laut. In einer Rückschau auf die Spiele, die 1982 vom amerikanischen Sender ABC produziert und gesendet wurde, wiesen die Autoren darauf hin, dass es seit Ende der sechziger Jahre zahlreiche Angriffe auf den internationalen Flugverkehr gegeben habe, dass an den Flughäfen bereits Metalldetektoren aufgestellt und die Sicherheitskontrollen verschärft worden waren, dass aber solche Instrumente der Terrorprävention in München überhaupt nicht zum Einsatz gekommen seien.8 Tatsächlich war das Bewusstsein dafür, dass der internationale Terrorismus eine massive Bedrohung für Massenveranstaltungen wie die Olympischen Spiele darstellen könnte, in Deutschland völlig unterentwickelt, vor allem im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und natürlich auch zu Israel. Zum einen können wir also feststellen, dass die Bundesrepublik sich zu Beginn der siebziger Jahre zwar intern mit der Entstehung eines neuen Terrorismus von links konfrontiert sah, doch wurde der nach dem Sechstagekrieg von 1967 schlagartig zunehmende palästinensische Terrorismus von den deutschen Behörden nicht als Bedrohung für das eigene Land wahrgenommen, und auch die Möglichkeit einer Zusammenarbeit deutscher und palästinensischer Terrò-

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risten wurde nachhaltig unterschätzt. Jedenfalls waren die Sicherheitsmaßnahmen, die in München getroffen wurden, eher eine Einladung für Terroristen als ein Hindernis für Anschläge. Erst als das Kind schon in den Brunnen gefallen war, mussten die zuständigen Behörden einräumen, dass es Defizite im Bereich der Sicherheit gegeben habe. Allerdings, so heißt es in der offiziellen Dokumentation der Bundesregierung und des Freistaates Bayern zum Geiseldrama, waren gerade diese Defizite Teil des Konzepts der »heiteren Spiele« und damit des Versuchs, das Nazi-Image abzustreifen, das Spielen auf deutschem Boden auf quasi natürliche Weise anhaftete: »Die visuelle Gestaltung dieser Olympiade, ihre Architektur und Organisation hätte«, so die offizielle Dokumentation, »weder eine absolute Priorität aller denkbaren Sicherheitsaspekte noch eine totale Präsenz schwerbewaffneter Polizei geduldet: Stacheldraht und Maschinenpistolen wären weder geeignet gewesen, eine friedliche Atmosphäre internationaler Begegnung zu olympischen Wettkämpfen zu schaffen, noch der Weltöffentlichkeit ein wahres Bild vom heutigen Deutschland zu vermitteln, das sich gerade in dieser Beziehung von jenem der Spiele des Jahres 1936 deutlich unterscheidet.«9 Man habe deshalb beschlossen, einen Ordnungsdienst einzusetzen, der ohne polizeiliche Kompetenzen und allein auf der Grundlage des privaten Hausrechts agiert habe.10 Neben dem Wunsch, die Erinnerung an die Olympiade von 1936 auszulöschen, spielte zu Beginn der siebziger Jahre offenbar auch das Bedürfnis eine Rolle, zu einer Normalität ohne Krieg und Gewalt zurückzufinden und den in den fünfziger und sechziger Jahren erlangten Wohlstand zu sichern. Vielleicht liegt eine gewisse Ironie darin, dass die Kriege im Nahen Osten, insbesondere der Yom Kippur-Krieg von 1973 mit der darauf folgenden Ölkrise, nicht nur die Sicherheit, sondern auch diesen Wohlstand gefährdeten." Indes blieb das Fiasko von Fürstenfeldbruck in sicherheitspolitischer Hinsicht nicht folgenlos. Die wichtigste Konsequenz war der Aufbau der GSG 9, einer Antiterroreinheit des Bundesgrenzschutzes, die fünf Jahre später die Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« nach Mogadischu erfolgreich beendete und damit demonstrierte, dass deutsche Politiker aus den Fehlern von München zumindest eines gelernt hatten: dass man nämlich den internationalen Terrorismus notfalls auch militärisch bekämpfen müsse. Der Umstand, dass der Gründungsvater der GSG 9, Ulrich Wegener, in Israel ausgebildet wurde, ist ein spätes Eingeständnis der Tatsache, dass die Israelis der Bundesrepublik in Sachen Terrorbekämpfung um Meilen voraus waren.12

3. Die Internationalisierung des Terrorismus in den siebziger Jahren Der Internationalisierung des Terrorismus und auch der Terrorbekämpfung geht eine Entwicklung voran, in deren Zuge sich - nicht zuletzt aufgrund der Expansion der zivilen Luftfahrt - die Handlungsradien von Terroristen massiv ausweiteten. Während nationalistische Terrororganisationen wie die ETA oder die IRA

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ihre Aktionen auf das eigene Land bzw. das Land richteten, von dem die Unabhängigkeit erkämpft werden sollte - in diesen Fällen also gegen Spanien und England - , bildeten sich weltweit auch Gruppen, die die »antiimperialistische Revolution« zu ihrem Ziel erklärten, sich zu diesem Zweck auch mit nationalistischen Gruppen verbündeten und mit Auftragstätern wie dem Superterroristen Ilich Ramirez Sanchez alias Carlos zusammenarbeiteten. Zu den antiimperialistischen Gruppen zählten neben der RAF und den Revolutionären Zellen in Deutschland die Action Directe in Frankreich, die italienischen Roten Brigaden, die GRAPO in Spanien, die Japanische Rote Armee, die Weathermen in den Vereinigten Staaten und die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Gemeinsame Aktionen plante die RAF z.B. mit Action Directe und der PFLP, die wiederum mit der Japanischen Roten Armee kooperierte. Das wohl bekannteste Beispiel für eine solche Zusammenarbeit ist der Anschlag japanischer Selbstmordattentäter auf den Flughafen von Tel Aviv im Mai 1972, der 28 Reisende das Leben kostete und für den der bereits erwähnte Kozo Okamoto als einziger überlebender Attentäter in Israel verurteilt wurde. 13 Auf der Grundlage dieser Zusammenarbeit entwickelten sich seither internationale Terrornetzwerke, in denen Personen vieler verschiedener Nationalitäten einander mit ihren Aktionen gezielt unterstützten - zum Beispiel in Mogadischu, wo arabische Terroristen die Forderung der RAF, die Stammheimer Häftlinge gegen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer auszutauschen, bekräftigten und noch eigene Forderungen hinzufügten. 14 Hinsichtlich der Wahl von Anschlagszielen und -orten überschreitet diese Form des Terrorismus ebenso konsequent nationale Grenzen wie hinsichtlich der personellen Zusammensetzung und der Medienberichterstattung und kann deshalb sowohl als internationales (d. h. mehrere Staaten gleichzeitig betreffendes) als auch als transnationales Phänomen in dem Sinne betrachtet werden, dass hier nachhaltige Veränderungen in sehr verschiedenen Gesellschaften gleichzeitig und aufgrund ähnlicher Ursachen zu beobachten sind; Letzteres deutet darauf hin, dass hier eine Entwicklung stattfand, die uns nicht nur etwas über nationale Einzelfälle, sondern über die siebziger Jahre als Dekade des Terrors lehrt. Als Meilensteine in der Entwicklung des trans- und internationalen Terrorismus sind die Kriege der siebziger Jahre im Nahen Osten und vor allem der Sechstagekrieg von 1967 zu nennen, in dessen Folge ein guter Teil der palästinensischen Bevölkerung unter israelische Besatzung geriet, während die angrenzenden arabischen Staaten deutliche Verluste an Territorien hinnehmen mussten. Der Yom Kippur-Krieg von 1973 zementierte noch die verfahrene Lage im Nahen Osten. In seiner Folge verhängten mehrere arabische Staaten ein Ölembargo, sodass die Ölpreise in die Höhe schnellten und die vom Öl abhängigen Staaten in eine nachhaltige Wirtschaftskrise stürzten.15 Der Nahostkonflikt ist also nicht nur ursächlich für die Expansion des internationalen Terrorismus, sondern gleichzeitig auch eine Ursache für die Wirtschaftskrisen westlicher Industrienationen und damit für eine zweite transnationale Entwicklung. Wie die Wirtschaftskrise ging auch die Internationalisierung des Terrors an der Bundesrepublik nicht spurlos vorbei. Schon zu Beginn der siebziger Jahre

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begannen RAF und Revolutionäre Zellen, palästinensischen Terroristen ideologischen Rückenwind zu geben. So heißt es zum Beispiel in der Erklärung der RAF zu dem Anschlag der Gruppe »Schwarzer September« in München: Die Aktion habe »das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise durchschaubar und erkennbar gemacht wie noch keine revolutionäre Aktion in Westdeutschland und Westberlin«. Der Anschlag sei »antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch« gewesen und habe »einen Mut und eine Kraft dokumentiert, die die Revolutionäre nur aus ihrer Verbundenheit mit dem palästinensischen Volk haben können«. Die Aktion richte sich »gegen den seinem Wesen und seiner Tendenz nach durch und durch faschistischen Imperialismus - in welcher Charaktermaske auch immer er sich selbst am besten repräsentiert findet: Nixon und Brandt, Moshe Dayan oder Genscher, Golda Meir oder McGovern«.16 Sowohl in ideologischer als auch in praktischer Hinsicht waren palästinensische Terrorgruppen für die RAF und die Revolutionären Zellen von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Ihre Mitglieder ließen sich in palästinensischen Ausbildungslagern trainieren, von der PFLP ihre Waffen beschaffen und adaptierten von ihnen auch neue Aktionsformen, zu denen seit Ende der sechziger Jahre die Flugzeugentführung zählte. Ziel dieser Geiselnahmen war es in der Regel, inhaftierte Kampfgenossen freizupressen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die palästinensische Misere zu lenken.17 Zu diesem Zweck waren Terroristen elementar auf die »Mitarbeit« der Massenmedien, vor allem des Fernsehens, angewiesen, und zunächst schien diese Rechnung auch aufzugehen. Wie Brian Jenkins es schon 1975 formulierte: »Terrorists want a lot of people watching and a lot of people listening and not a lot of people dead.«18 Tatsächlich richteten sich die Augen der Welt auf die Terroristen; allerdings identifizierten sich die Zeitungsleser, Radiohörer und Fernsehzuschauer nicht mit den unter israelischer Besatzung lebenden Palästinensern, sondern mit ihren Geiseln und Opfern. Die langfristige Folge der Medienaufmerksamkeit war deshalb nicht eine Stärkung der palästinensischen Sache, sondern die Abstempelung aller Palästinenser zu potenziellen Terroristen. Schon das Attentat von München hatte unmittelbar nicht eine Bewusstseinsschärfung in Sachen Nahostkonflikt, sondern die massenhafte Ausweisung palästinensischer Studenten aus der Bundesrepublik zur Folge.19 Diese Tendenz hat sich seither eher noch verstärkt und ist zuweilen in offene antiarabische Hetze umgeschlagen.

4. Terror als Medienereignis Das Attentat von München war nicht nur für die Geschichte des Terrorismus in Deutschland von zentraler Bedeutung, sondern auch für die Medienentwicklung in den siebziger Jahren. Eine besondere Rolle spielt dabei das Fernsehen, das nicht - wie immer wieder behauptet20 - am 11. September 2001, sondern bereits in den siebziger Jahren begann, terroristische Anschläge und Übergriffe live zu

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übertragen. So wurde im März 1970 erstmals eine Flugzeugentführung im japanischen Fernsehen gezeigt, in deren Verlauf Luftpiraten die beiden Piloten mit Samuraischwertern zur Landung in Fukuoka zwangen: »Television broadcasts showed pictures from cameras that almost zoomed into the cockpit«, berichtete die »New York Times« am folgenden Tag.21 Und auch in München wurde während der Geiselnahme live aus dem Olympischen Dorf berichtet - was sich schon deshalb anbot, weil das Sportereignis längst zur »totalen Television« geworden war.22 München war an diesem Tag, so ein Fernsehkommentator, der »Mittelpunkt der Welt. Aus Ost und West reisen Reporter an. Fernsehkameras schicken die Bilder aus dem Olympiadorf in aller Herren Länder.«23 Grundsätzlich können wir feststellen, dass Terroristen seit den siebziger Jahren gezielt, aber mit begrenztem Erfolg moderne Massenmedien wie Radio und Fernsehen, neuerdings auch das Internet zur Verbreitung ihrer Forderungen, Ideologien und Motive nutzen bzw. dass umgekehrt eine verstärkte Berichterstattung zur Nachahmung verführt und neue Anschläge nach sich zieht.24 Vor allem aber sind terroristische Ereignisse selbst zu Medienereignissen in dem Sinn geworden, dass sie ohne Beteiligung der Medien quasi nicht stattfinden würden. Elihu Katz und Daniel Dayan haben in einem programmatischen Aufsatz Medienereignisse als solche Ereignisse beschrieben, die nicht retrospektiv aufbereitet, sondern von den Medien selbst hervorgebracht werden. Möglich ist dies erst seit der Einführung der Live-Medien Radio, Femsehen und neuerdings Internet. Frühe Beispiele wären die Übertragung von Orson Welles' Hörspiel »Krieg der Welten« oder auch das »Wunder von Bern«, das von einer Mehrheit noch am Radio, von Teilen der Bevölkerung aber auch schon am Fernsehschirm verfolgt wurde. Dabei dürfen, so Katz und Dayan, die »Umformungen des ursprünglichen Ereignisses [...] nicht als bloße >Änderungen< oder >Ergänzungen< durch das Femsehen betrachtet werden«, sondern als »Elemente einer qualitativen Umwandlung der Beschaffenheit öffentlicher Ereignisse«.25 Die Frage, ob das Radio oder Femsehen die Ereignisse richtig wiedergebe oder ob es sie verzerre, sei insofern irrelevant, als der »Femsehdiskurs [...] weniger eine Reproduktion des Ereignisses als ein Bekenntnis zu ihm« sei.26 Medienereignisse werden deshalb erst in dem Moment zu Ereignissen, in denen die Öffentlichkeit in Echtzeit an ihnen teilhat. Es liegt in der Natur der Sache, dass Medienereignisse nicht nur durch willentliche Inszenierung entstehen (wie im Fall der Hochzeit von Prinz Charles und Lady Diana, die Katz und Dayan als Beispiel nennen), sondern dass sie zuweilen Folge einer Entgleisung solcher Ereignisse sind - wie die Ermordung Anwar El Sadats bei einer Militärparade oder der Anschlag auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München. Naturgemäß sind die Kommentatoren in solchen Situationen sowohl überfordert als auch zu schnellem Handeln gezwungen. So geschieht es, dass die Ereignisse nicht auf der Grundlage von Hintergrundwissen mit Bedeutung aufgeladen werden, sondern zunächst einmal durch schiere Wiederholung (Beispiel: 9/11). In Abwesenheit abgeschlossener Narrative fällt dabei besonders den visuellen Eindrücken die Aufgabe zu, einen Wiedererkennungseffekt zu generieren

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und so für eine Sinnbildung zu sorgen, die jenseits der Sprache liegt: »Indem es die Aufmerksamkeit des Publikums von den expliziten Statements zu den visuellen Aspekten des Ereignisses verschiebt, >naturalisiert< das Fernsehen; es authentifiziert die innewohnenden Botschaften, verwandelt die performativen Aspekte von Zeremonien [...] in visuelle Anekdoten, die von den Fernsehkameras aufgenommen werden.«27 Folglich könne man von Journalisten »kaum erwarten, eine Verleugnung im Stile Penelopes vorzunehmen und eiskalt zu sezieren, was hauptsächlich ihre eigene Kreation ist«.28 Vielmehr mache das Fernsehen »die Zuschauerschaften zu aktiven Partnern der Bedeutungsebene des Ereignisses, lädt zu Interpretationen ein, stachelt das hermeneutische Vergnügen bei der Entzifferung von Hinweisen und der Suche nach >Symbolen< an«.29 Im Unterschied zu Nachrichtensendungen seien Medienereignisse nämlich »keine Beschreibung vom Stand der Dinge, sondern symbolische Hilfsmittel, um diesen Stand der Dinge hervorzubringen«.30 Die Folge ist, dass der Fernsehzuschauer (oder Radiohörer) die symbolische Bedeutung des Ereignisses tendenziell besser erfasst als das primäre Publikum vor Ort; so erklärt es sich auch, dass die Schaulustigen, die sich am 5. September 1972 im Olympischen Dorf aufhielten, Radios mit sich trugen, um zu erfahren, was sich außerhalb ihrer Sichtweite zutrug: »Die Münchener Tageszeitungen stillen den Informationshunger der Menschen mit immer neuen Extraausgaben. Überall tönen die Transistorradios die Neuigkeiten heraus.«31 Auf diese Weise kamen die Anwesenden in den Genuss einer doppelten Zeugenschaft - einer Präsenz- und einer Medienzeugenschaft. Im Hinblick auf die Entstehung von Medienereignissen sind Radio und Fernsehen vor allem deshalb von hoher Bedeutung, weil sie den Tagesablauf der Bevölkerung strukturieren, folglich aber auch über die Fähigkeit verfügen, diesen Alltag zu unterbrechen, und die einzige Realität, die mit einem Medienereignis konkurrieren kann, ist die Realität anderer, noch aktuellerer Medienereignisse. Diese setzen, so Katz und Dayan, im Zweifelsfall »alle anderen Sendungen ab, bringen die Uhr des Fernsehens zum Stillstand und können, wenn sie selbst auf Sendung sind, nicht unterbrochen werden. Ihre Performance gehört einer heiligen Zeit< an. Sie bringt gesellschaftliche Aktivität zum Stillstand. Für eine Weile besetzt das Ereignis das >Zentrum< der Gesellschaft. [...] Dieser Schutz des Ereignisses geht so weit, dass Pläne für die Fortsetzung der Sendung bei einem terroristischen Zwischenfall, der einige der Hauptfiguren trifft, geschmiedet werden.«32 Dass die Attentäter von München ein Sportgroßereignis als Anschlagsziel wählten, war insofern gut durchdacht, als sie von einer bereits gegebenen massiven Präsenz der Medien ausgehen konnten, und tatsächlich gingen die Bilder von den Attentätern binnen kürzester Zeit um die Welt - Bilder zumal, die wir noch heute sofort mit dem Anschlag verknüpfen und die in jeder Reportage, in jedem Zeitungsartikel oder Dokumentarfilm über München wieder auftauchen. Sie besiedeln unser mediales Gedächtnis und damit auch die Erinnerung an eine Dekade, die von spektakulären Terroranschlägen geprägt war.

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5. Die siebziger Jahre: Terrorismus als Ursache und Folge der Krise Wir haben bereits festgestellt, dass sich die Zunahme des internationalen Terrorismus zum Teil ebenso auf die Kriege im Nahen Osten zurückführen lässt wie der Ölpreisschock, der darauf folgende Anstieg der Arbeitslosigkeit, die durch den Anstieg der Ölpreise bedingte Krise der zivilen Luftfahrt und schließlich auch der allgemeine Sicherheitsverlust, der mit diesen Entwicklungen einherging. Zum anderen können wir den Terrorismus ab den siebziger Jahren als ein Medienphänomen in dem Sinn beschreiben, dass Medien zu beteiligten Akteuren werden. Dadurch, dass sie terroristische Aktionen übertragen bzw. die Forderungen von Terroristen verbreiten, tragen sie unfreiwillig zu einer Verstärkung des Drucks auf die politisch Verantwortlichen und auch auf die Bevölkerung bei. Flugzeugentführungen zogen nicht zuletzt deshalb besondere Aufmerksamkeit auf sich, weil sie besonders publicityträchtig sind: Zwischenfalle im Flugverkehr sind stets Anlass für breaking news, und sie betreffen fast immer mehr als nur ein Land, sei es, weil Geiseln unterschiedlicher Nationalitäten an Bord sind, weil die entführten Maschinen in verschiedenen Ländern zwischenlanden, weil mehrere Regierungen in die Verhandlungen verwickelt sind oder auch weil Medien weltweit über derlei Aktionen berichten. Nicht umsonst richteten sich die ersten drei von der UN erlassenen Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus aus den Jahren 1963, 1970 und 1971 gegen strafbare Handlungen an Bord von Flugzeugen. 33 Terroristen und Journalisten leben deshalb seit den späten sechziger Jahren in einer Symbiose, die sich nicht auflösen lässt, ohne dass demokratische Grundprinzipien wie das Recht auf freie Information nachhaltig geschädigt würden. 34 Die siebziger Jahre erscheinen in diesem Kontext vor allem deshalb als Umbruchzeit, weil sich in ihrem Verlauf das Fernsehen als Leitmedium durchsetzte, sodass Sportveranstaltungen wie die Olympischen Spiele, aber eben auch terroristische Übergriffe in Form von Liveübertragungen eine Weltöffentlichkeit konstituierten, die vorher in dieser Form gar nicht existiert hatte.35 All diese Faktoren zusammen - der Nahostkonflikt, die Wirtschaftskrisen, die Expansion des internationalen Terrorismus - und die Transformation lokaler Ereignisse zu transnationalen Medienereignissen durch das Fernsehen lassen die siebziger Jahre als eine von Krisen geschüttelte Dekade, aber auch als diejenige Dekade erscheinen, die den Übergang von der industriellen Gesellschaft zu einer Informations·, Wissens- und Mediengesellschaft markiert.36

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Uta Andrea Baibier, »Der Welt das moderne Deutschland vorstellen«: Die Eröffnungsfeier der Spiele der XX. Olympiade in München 1972, in: Johannes Paulmann (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005, S. 105-119, hier 118. München 1972. Treffpunkt Olympiastudio: Rückblick auf den 27.8.1972, ARD / Bayerischer Rundfunk: 27.8.1997, 21:35, Archiv des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) 509, hier 2'35. Ebd., 3'35. Ebd., 17'25. Ebd., 3'05. Vgl. Claudia Derichs, Die Japanische Rote Armee, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2007, Bd. 2, S. 809-927, hier 817 f. Matthias Dahlke, Der Anschlag auf Olympia '72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006, S. 20-24. ABC-Interview München *72, ABC: USA Februar 1987, DOSB-Archiv Nr. 72, 12'50. Der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft: Dokumentation der Bundesregierung und des Freistaates Bayern, Bonn: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1972, S. 9 f. Ebd., S. 10. Vgl. Andreas Killen, 1973: Nervous Breakdown. Watergate, Warhol, and the Birth of Post-Sixties America, New York 2006, S. 1 - 1 2 . Vgl. das Interview mit Ulrich Wegener, Bayerischer Rundfunk, 14.11.2000, 20:15; Wortlaut unter http://www.br-online.de/alpha/forum/voi0011/20001114_i.shtml [aufgerufen am 11.9.2007], Thomas Skelton-Robinson, Im Netz verheddert. Die Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus zur Volksfront für die Befreiung Palästinas (1969-1980), in: Kraushaar, RAF, S. 828-904, besonders 848 f.; Derichs, Japanische Rote Armee, S. 817 f. Vgl. Skelton-Robinson, Netz, S. 884-890. Vgl. Jens Hohensee, Der erste Ölpreisschock 1973, Stuttgart 1996. Die Aktion des »Schwarzen September« in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes, in: Martin Hoffmann (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 151 -177, hier 151. Vgl. Brian M. Jenkins, The Psychological Implications of Media-Covered Terrorism (The Rand Corporation Papers Nr. 6624), o. O. 1981, S. 3; Annette Vowinckel, Terror als Doku-Soap. Die Flugzeugentführungen von Entebbe und Mogadischu in Film und Fernsehen, 1976-1997, in: Frank Bosch / Manuel Borutta (Hg.), Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt a. Main 2006, S. 287-306, besonders 302. Brian M. Jenkins, International Terrorism: A New Mode of Conflict, in: David Carlton (Hg.), International Terrorism and World Security, London 1975, S. 13-49, hier 15. Vgl. Dahlke, Anschlag, S. 48-53. Z. B. Ulrich Schneckener, Transnationaler Terrorismus, Frankfurt a. Main 2006, S. 13. »Japanese Jet is Hijacked but Lands Safely at Seoul«, in: New York Times v. 31.3.1970, S. 1. Vgl. zu den Ereignissen: David Gero, Flüge des Schreckens. Anschläge und Flugzeugentführungen seit 1931, Stuttgart 1999, S. 122. »Knall, Schuß, bumms, raus, weg«, in: Der Spiegel v. 28.8.1972, S. 24-38, hier 38. Vgl. auch Hans-Jörg Stiehler u.a., Die mediale Inszenierung der Olympischen Spiele, in: Leipziger sportwissenschaftliche Beiträge 45 (2004), Nr. 1, S. 107-121. Ingolf Falkenstein u. a., Das Olympia-Attentat von München. Eine Retrospektive, BRD: 3Sat 1982, DOSB-Archiv 177. Jenkins, The Psychological Implications, S. 6. Daniel Dayan / Elihu Katz, Medienereignisse, in: J. O. Hesse (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie - Geschichte - Analyse, Konstanz 2002, S. 413-453, hier 414. Ebd., S. 414 f. Ebd., S. 430. Ebd. Ebd., S. 427.

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30 Ebd., S. 430. 31 München 1972. Treffpunkt Olympiastudio: Rückblick auf den 5 . 9 . 1 9 7 2 , A R D / Bayerischer Rundfunk: 5 . 9 . 1 9 9 7 , 21:35, DOSB-Archiv 519, 1 1 - 0 7 . 32 Dayan / Katz, Medienereignisse, S. 428. 33 Vgl. Schneckener, Terrorismus, S. 259. 34 Vgl. ζ. B. George Gerbner, Violence and Terror in the Mass Media, Paris 1988, S . U . 35 Vgl. Bethami A. Dobkin, Tales of Terror. Television N e w s and the Construction of the Terrorist Threat, N e w York 1992, S. 1 1 - 2 6 . 36 Vgl. z . B . Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Teil 1: Das Informationszeitalter, Opladen 2001; Kurt Imhof, Mediengesellschaft: Strukturen, Merkmale, Entwicklungsdynamiken, Wiesbaden 2004; Hans-Dieter Kübler, Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen, Wiesbaden 2005.

Teil 4: Politische Problemverarbeitung

Gabriele Metzler

Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?

Blättert man in den politikwissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern oder den politischen Feuilletons der siebziger Jahre, so drängt sich der Eindruck auf, die westlichen Staaten hätten unmittelbar vor dem Kollaps gestanden. Eine »Krise der Demokratie« wurde für Westeuropa, die USA und Japan diagnostiziert; »Überbürdung« und »Scheitern« bescheinigten die Autoren dem »überforderten schwachen Staat«, die »überforderte Demokratie« sei »harder to govern«, die »Regierbarkeit« liberaler Gesellschaften schien fraglich geworden zu sein. Die Befunde ähnelten sich, ganz gleich, ob vom chronisch krisengeschüttelten Italien, wo die Parteien »überlebten, aber nicht regierten«, die Rede war oder von der eigentlich stabilen Schweiz.' Der Terminus der »Unregierbarkeit«, auf den sich diese Deutungen bringen lassen, war einer der politischen Schlüsselbegriffe der siebziger Jahre. Dass er inhaltlich höchst vage war, teilte er mit dem Begriff der »Krise«, der zeitgenössisch wie in der historischen Forschung die Sicht auf die siebziger Jahre bestimmt. In der »Unregierbarkeits«-Semantik konnte sich vieles ausdrücken, in ihr verschmolzen Analysen und Weltanschauungen, an sie hielten sich (neue) Linke, (Neo)Liberale und (neue) Rechte. Eingebettet in unterschiedliche ideologische Referenzsysteme und angewandt auf ganz verschiedene politische Problemlagen und regionale Bezüge bleibt der analytische Gehalt des Begriffs eher gering, wenn es um die Frage nach den Möglichkeiten politischen Handelns in diesem Jahrzehnt geht. Denn einerseits ordnen sich die »Unregierbarkeits«-Diskussionen nahtlos in die lange Reihe von Krisentheorien der Politik ein, die sich im Grunde bis auf die platonischen Ursprünge der politischen Philosophie zurückverfolgen lassen. Andererseits wurde bereits in der zeitgenössischen Diskussion der siebziger Jahre die Frage aufgeworfen, ob hinter den qualmenden Rauchschwaden der »Unregierbarkeits«-Diagnosen überhaupt tatsächlich Feuer war.2 Eine berechtigte Frage, hat sich doch in der historischen Rückschau keine der Diagnosen von »Staatsversagen« und »Unregierbarkeit« bestätigt. Nirgends kam es zum befürchteten Kollaps liberal-demokratischer Systeme. Gut möglich also, dass wir die »Unregierbarkeits«-Debatte auf dasselbe Konto der großen Irrtümer buchen können wie die »falschen Öko-Alarme« jener Zeit.3 Gleichwohl: Liest man die zeitgenössischen Beiträge zur »Unregierbarkeits«Debatte nicht als exakte Abbildung einer historischen Wirklichkeit, sondern als Ausdruck einer Wahrnehmung und als Deutung von Veränderungen im politischen

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Raum, lohnt sich eine genauere Analyse durchaus. Worauf beziehen sich die Autoren, wenn sie von »Unregierbarkeit« schreiben, auf welchen Staat zielen ihre Diagnosen von »Staatsversagen«? Welche ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen Wandlungsprozesse werden in diesen Debatten verarbeitet? Vom Ende welcher Zuversicht künden diese Texte? Diese Fragen zu untersuchen, bedeutet in methodischer Hinsicht, das Reden über Politik ebenso ernst zu nehmen (und als handlungsleitend zu verstehen) wie das Handeln der sogenannten praktischen Politik. Keineswegs soll Politik damit auf bloße sprachliche Kommunikation reduziert werden; aber dem Sprechen über Politik soll hier eigene Bedeutung beigemessen werden in einem Prozess, in dem, so eine leitende These meines Beitrages, über die Grenzen des Politischen verhandelt wurde - in dem die Grenzen der »Kompetenzdefinitionen« der politischen Akteure neu gezogen wurden.4 In diesem Verständnis lässt sich auch das Schillern der Begrifflichkeiten analytisch einordnen: Nicht obwohl wir sie vielfältigen weltanschaulichen Strömungen zuordnen können, sondern gerade weil sie in so viele Richtungen anschlussfähig waren, strukturierten die Narrative von »Staatsversagen« und »Unregierbarkeit« ungeachtet ihrer schwachen empirischen Evidenz die politischen Diskurse der Zeit mit. So wie sich im Befund »Unregierbarkeit« ganz unterschiedliche Phänomene bündelten, so manifestierte sich der aus diesem Befund erwachsende Krisendiskurs in ganz unterschiedlichen Spielarten, die vielfältige Erklärungen und Strategien zur Problembewältigung anboten. Einige dieser Varianten von »Unregierbarkeit« werde ich im Folgenden zunächst nachzeichnen (1). Im Anschluss daran wird es darum gehen, diese Debatten zu historisieren, danach zu fragen, in welcher Form die Denkfigur der »Unregierbarkeit« Entwicklungen der siebziger Jahre als »Krise« deutete und wie die Prominenz solcher Deutungen in der Zeit erklärt werden kann (2). In einem dritten Schritt gebe ich einen kurzen Ausblick darauf, welche Strategien zur Überwindung tatsächlicher oder vermeintlicher »Unregierbarkeit« entwickelt wurden, in deren Folge dann auch der »Unregierbarkeits«-Diskurs in den achtziger Jahren abebbte.

1. Varianten der »Unregierbarkeit« Die Karriere des Begriffs »Unregierbarkeit« setzte gegen Ende der sechziger Jahre ein, erreichte, wenn man den publikatorischen Output als Gradmesser nimmt, um die Mitte der siebziger Jahre ihren Höhepunkt und ging dann kontinuierlich wieder zurück. In den achtziger Jahren erschienen deutlich weniger Publikationen zum Thema mit vergleichbarer Stoßrichtung, das »Gespenst der Unregierbarkeit«5 schien gebannt zu sein, oder zumindest hatte die Aufmerksamkeit des Publikums für das Thema deutlich nachgelassen. Für die Linke war die Krise der westlichen Staaten in den siebziger Jahren vor allem eine Legitimationskrise. Nur aus Sicht der Stamokap-Theorie bestätigten die realen ökonomischen und politischen Entwicklungen jener Zeit, dass »der bürgerliche Staat und gerade der Mechanismus der bürgerlichen Demokra-

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tie unverkennbar labiler geworden [sei], seine politische und soziale Manövrierbarkeit abgenommen [habe]«, sodass die »antimonopolistischen Kräfte in einigen Ländern bereits die Forderung nach einer grundlegenden Veränderung der Machtverhältnisse auf die Tagesordnung setzen [könnten]«. 6 Die Spätkapitalismustheorie hingegen, die in der Bundesrepublik namentlich Jürgen Habermas und Claus Offe vertraten, betonte, dass solche Krisen durch staatliche Kompensationsleistungen abgefedert und insofern das System nicht mehr gefährden würden. Dadurch habe sich der Staatsapparat ausgedehnt und sei Gesellschaft mehr und mehr »durchstaatlicht« worden, was nun freilich neue gesellschaftliche Konflikte und Widerstandspotenziale hervorbrächte. 7 Der Legitimationsbedarf für politische Entscheidungen wachse. Die »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus« rührten u. a. aus der begrenzten Steuerungsfähigkeit des politisch-administrativen Systems und aus den Schwierigkeiten des politischen Systems, Massenloyalität zu sichern. 8 »Unregierbar« seien, so Claus Offe, kapitalistische Systeme allemal, würde es ihnen doch nicht gelingen, die Diskrepanz zwischen Sozialintegration und Systemintegration aufzulösen und die Spannungen zwischen der »politisch-normativen Neutralisierung der Produktions- und Marktsphäre«, ihrer »Privatisierung« auf der einen Seite und ihrer »Vergesellschaftung bzw. Politisierung« (durch Regulierung des Marktes usw.) auf der anderen Seite zu überwinden. 9 Die Debatten im entsprechenden Segment der US-amerikanischen Linken betonten noch stärker die fiskalischen Probleme, die mit den Legitimationsstrategien spätkapitalistischer Staaten einhergingen, würden doch die zur Legitimierung staatlicher Herrschaft notwendigen Staatsausgaben überproportional und weit über das Maß keynesianischer Vernunft ansteigen und den Staat am Ende überfordern.' 0 Während hier auf die strukturellen Eigenheiten spätkapitalistischer Gesellschaften verwiesen und deutlich gemacht wurde, dass diese mit ihren inneren Spannungen und damit dem grundsätzlichen Problem ihrer »Unregierbarkeit« allenfalls in der langen Prosperitätsphase der Nachkriegszeit »problemloser leben« konnten," setzten neokonservative und liberale Diagnosen andere Akzente. Der Schlüsseltext zu diesen Debatten ist der Bericht »The Crisis of Democracy«, den Michel Crozier, Samuel P. Huntington und Joji Watanuki 1975 der »Trilateral Commission« erstatteten, einem transnationalen Netzwerk von Wissenschaftlern, Vertretern von Industrie und Gewerkschaften sowie der Politik aus Westeuropa, den USA und Japan.12 Die Kommission war zwei Jahre zuvor auf Anregung David Rockefellers gegründet worden, Zbigniew Brzezinski führte den Vorsitz. Mehr als zwei Dutzend »Trilateralists« - von Huntington bis zum Präsidenten selbst - fanden sich 1977 in den Reihen der Carter-Administration wieder; unter den europäischen Mitgliedern waren in den siebziger Jahren Raymond Barre und Otto Graf Lambsdorff. 13 Crozier, Huntington und Watanuki identifizierten in ihrem Bericht vielschichtige Ursachen für die Probleme der westlichen Demokratien: externe Herausforderungen (»contextual challenges«, etwa durch weltwirtschaftliche Entwicklungen), immanente Probleme (»intrinsic challenges«) und allgemeine

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gesellschaftliche Trends, wobei sie die inneren Ursachen in den Vordergrund ihres Berichts rückten. Zu den Herausforderungen von außen träten die Schwierigkeiten, die aus der Überlastung, Überbeanspruchung des politisch-administrativen Systems erwüchsen. Dafür machten sie freilich nicht wie die Linken die strukturellen Probleme des kapitalistischen Systems verantwortlich, sondern sie sahen zu viele Akteure und Interessen in den politischen Entscheidungsprozess involviert. Dies steigere die Komplexität des politischen Prozesses erheblich. Demgegenüber sei der gesellschaftliche Konsens, gerade in den westeuropäischen Ländern, merklich erodiert, traditionelle Institutionen (Kirchen, Bildungswesen) hätten an Bedeutung eingebüßt und könnten keine verbindlichen Werte mehr vermitteln, während auch unter der wachsenden Zahl von Intellektuellen die Orientierung an Werten nachlasse. Entsprechend werde es in den demokratischen Gesellschaften immer schwerer, gemeinsame Ziele (auf der Basis verbindender Weitpräferenzen) zu formulieren und rationales politisches Handeln daran auszurichten, zumal die Gefahr der Manipulation von Präferenzen und Orientierungen v.a. durch die Macht der Medien erheblich gestiegen sei.14 Im Ganzen sei eine »anomic democracy« entstanden, in der zwar die Spielregeln des politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesses akzeptiert seien, es aber keine gemeinsamen Ziele mehr gebe. Gesellschaftliche Interessen würden zerfallen und eine Fragmentierung des Parteiensystems nach sich ziehen,15 Autoritäten würden im Namen von Gleichheit und Individualität in Frage gestellt. Zugleich aber würden so viele Ansprüche an den Staat geltend gemacht, dass er überfordert sei. Die Deutung, dass das Problem demokratischer Gesellschaften in einem »excess of democracy« liege,16 teilten in den siebziger Jahren viele. Daran knüpften neokonservative Autoren häufig an, wobei sie nicht nur vor einer Erosion des Staates, sondern auch und vor allem vor einer Gefährdung des kapitalistischen Wirtschaftssystems warnten, würde doch der um sich greifende Hedonismus der Bürger die normativen Grundlagen kapitalistischen Wirtschaftens à la longue zerstören.17 Um die Bedrohung des Staates kreiste namentlich ein Gutteil der »Unregierbarkeits«-Debatte in der Bundesrepublik, was als nationales Spezifikum hervorzuheben ist. Beklagt wurde hier, dass die Autorität des Staates - und nicht allein der Regierung - gefährdet sei. Das staatliche Gewaltmonopol würde unterlaufen, sei es durch direkte politisch motivierte Gewalt, sei es aber auch durch »>sanfte< Formen von Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, die keine sind, klassenkämpferischer Aufwiegelung der Kinder und Häuserbesetzungen«; und damit einher gehe schließlich die Auszehrung des Staatsgedankens selbst.18 Der Bedeutungsverlust traditioneller Staatskonzeption war denn auch das Leitmotiv der meist beachteten Publikation in der Bundesrepublik zu den »Problemen der Regierbarkeit«. Finanziert von der Thyssen-Stiftung, hatte sich ein Arbeitskreis von Sozialwissenschaftlern, Juristen und Historikern des Themas angenommen und 1977 und 1979 zwei Ergebnisbände vorgelegt.19 Den hier versammelten Autoren um Wilhelm Hennis bereitete Sorge, »dass ein starkes, kaum mehr unterschwelliges, sondern ganz evidentes Verlangen unserer Zeit

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dahingeht, den Staat als Garanten der sittlichen Normen ad acta zu legen. Er soll technischer Dienstleistungsbetrieb sein, wie die Eisenbahn, die Post - nichts anderes. Überall dort, wo Kontroversen über etwas diese Dienste Transzendierendes entstehen - auf dem Gebiet der Ehe, Moral, Sitte, überhaupt dort, wo es nicht um Rechte, sondern Gewohnheiten und Schuldigkeiten geht - , sucht man den Staat zurückzudrängen.« Während dem Staat bestritten würde, »Hüter, Pfleger, Förderer der Sittlichkeit zu sein«, stiegen jedoch gleichzeitig die Ansprüche an ihn.20 Sollte die Krise der Regierbarkeit gebannt werden, so musste aus dieser Sicht der Staat als sittliche Autorität wieder gebührende Anerkennung finden;21 keineswegs sei »Unregierbarkeit« nur als »sozialtechnischer Defekt« aufzufassen (»der Kommunikations- oder Informationsstruktur, des >Interaktionssystemstout< a changé, >tout< doit changer encore plus, >tout< doit devenir conforme à nos désirs.«51 Diesen Wandel zum »Besseren« hin herbeizuführen und zu perpetuieren, hatte der Staat des keynesianischen Zeitalters für sich reklamiert, eine Aufgabe, die er nun abzustreifen suchte. Insofern waren die Debatten über »Unregierbarkeit« und »Staatsversagen« Teil einer Neubestimmung der Grenzen des Politischen. Hier ging es darum, die am politischen Prozess legitim beteiligten Akteure zu bestimmen (Parteien, Verbände und, besonders in der Bundesrepublik eine drängende und umstrittene Frage, Neue Soziale Bewegungen) sowie Inhalte und Reichweite von Politik neu zu justieren. Dies war umso schwieriger, als die Parteiensysteme sich veränderten. In den siebziger Jahren setzte ein Prozess ein, in dessen Verlauf die Parteiensysteme instabiler wurden. Die »klassischen« Cleavages, an denen sich Parteiensysteme und Wählerverhalten nach 1945 orientiert hatten und die sich auf die politischen und sozialen Konflikte der zwanziger Jahre zurückverfolgen ließen,52 begannen aufzuweichen. Ein höheres Maß an Volatilität im Wahlverhalten sowie die Zunahme von Fraktionierung und Polarisierung im Parteiensystem waren die Folge.53 Vor diesem Hintergrund war die Frage nicht rasch und eindeutig zu klären, worauf sich politisches Handeln beziehen sollte, ja musste, und was von staatlicher Seite zu regeln war (und was nicht). Ließen sich Arenen denken, in denen sich politische Entscheidungen - im Sinne von: verbindliche Verteilungsentscheidungen - treffen ließen, ohne dass der überforderte Staat den zentralen Part übernehmen musste?

3. Überwindung der »Unregierbarkeit«? Blickt man von den skeptischen siebziger auf die achtziger und neunziger Jahre, so scheint es, als seien die Probleme von »Unregierbarkeit« und »Staatsversagen« gelöst oder doch zumindest wieder beherrschbar geworden. Tatsächlich lässt sich auf mehreren Ebenen beobachten, dass teils gezielt, teils eher unbeabsichtigt, Strategien zur Überwindung der Probleme und der Krisenkomplexe entwickelt wurden; einige davon werden in den Beiträgen dieses Bandes noch

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eigens thematisiert. Ich möchte daher nur einige dieser Strategien knapp umreißen: Zunächst lässt sich erkennen, dass staatliche Akteure seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ihren Handlungsspielraum einerseits eingrenzten, indem umfassende politische Planungen nicht mehr unternommen bzw. in leichter überschaubare sektorale Planungen heruntergebrochen wurden, mit denen sich große Gesellschaftsentwürfe nicht mehr verbanden und die keine überfrachteten Erwartungen aus der Gesellschaft an staatliches Handeln mehr generierten. Geradezu exemplarischen Charakter hatte die Regierungserklärung Helmut Schmidts im Mai 1974, die sich so deutlich von den hochfliegenden Visionen und weitgesteckten Ambitionen des Vorgängerkabinetts unterschied: »In einer Zeit weltweit wachsender Probleme«, erklärte Schmidt, »konzentrieren wir uns in Realismus und Nüchternheit auf das Wesentliche, auf das, was jetzt notwendig ist, und lassen anderes beiseite.« 54 Andererseits wurden staatliche Handlungsspielräume bestätigt, indem staatliche Akteure zentrale Rollen spielten bei der Herstellung und Behauptung innerer und äußerer Sicherheit, eine Aufgabe, die sich angesichts der Herausforderungen durch den Terrorismus und durch das sich gegen Ende der siebziger Jahre erneut verschärfende Ost-West-Verhältnis drängend stellte und die gewissermaßen das »Kerngeschäft« moderner Staatlichkeit bildete. Darauf zielte in Schmidts Regierungserklärung der Hinweis, dass es nun vordringlich darum gehe, »die klassischen Staatsfunktionen befriedigend für den Bürger zu erfüllen« - und das hieß: Sicherheit zu gewährleisten. Eckart Conze hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich in den siebziger Jahren ein erweiterter Sicherheitsbegriff etablierte, der aufs Ökonomische, Politische und Soziale gleichermaßen zielte. Diese Dimensionen bündelten sich schließlich im Terminus der »Inneren Sicherheit«. Mochten zwar die staatlichen Maßnahmen gerade in der Terrorbekämpfung den Schein von Omnipotenz und Omnikompetenz wecken, so eignete dem staatlichen Handeln angesichts der Eruption politischer Gewalt doch immer auch eine symbolische Funktion; zu einem Rückfall hinter das westliche Staatsverständnis kam es in der Bundesrepublik ebenso wenig, wie in den betroffenen Gesellschaften der Staat auch nur den Anspruch formulierte, wirklich allumfassende Sicherheit schaffen zu können. 55 Vielmehr ging es fortan um »Risikominimierung anstelle eines umfassenden Unsicherheitsabbaus«, wie Conze im Anschluss an Ulrich Becks »Risikogesellschaft« argumentiert. 56 Das Reden über »Staatsversagen« und »Unregierbarkeit« wurde auch dadurch gebannt, dass Versuche der Renormativierung unternommen wurden. Diese ließen sich beispielsweise in der Bundesrepublik beobachten, wo sich der neu gewählte Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 ausdrücklich zur Notwendigkeit einer »geistig-moralischen Wende« bekannte. In der Gesellschaft sollten wieder verbindliche Werte, allen voran Familienwerte, National- und Geschichtsbewusstsein, verankert werden, um auf diese Weise das politische Gemeinwesen auf einem erneuerten Konsens zu begründen. Dieser Strategie blieb grosso modo der Erfolg versagt; Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung ließen sich nicht rückgängig machen, sondern setzten sich im Zeichen von »Postmoderne« oder »Zweiter Moderne« fort.57

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Weit wirkmächtiger waren die normativierenden Ansätze der neoliberalen Krisenstrategien. Sie gingen daran, die Leitwerte von 1968, politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit, voneinander abzukoppeln, und konnten dabei an die Vorbehalte der 68er gegenüber staatlichen Interventionen im gesellschaftlichen und kulturellen Leben anknüpfen. Konsens wurde von den Neoliberalen konstruiert und organisiert, indem Individualismus sowie das Recht und die Chance zu individueller Entfaltung ins Zentrum ihrer Argumentation gerückt wurden. In Großbritannien zielte der Appell an die Werte von »Individualismus und Freiheit direkt auf die Unfähigkeit des bürokratisch erstarrten Staatsapparats und auf die Gewerkschaftsmacht«, die individuelles Fortkommen behinderte.58 Aber die neoliberale Politik blieb nicht auf bloße semantische Verschiebungen im Verständnis von Freiheit beschränkt, sondern sie drückte sich auch in wegweisenden Entscheidungen aus. In einigen westeuropäischen Ländern wurden die Kräfte des Marktes gestärkt, v. a. in Großbritannien. Namentlich die Regierung Thatcher stellte die Freiheit des wirtschaftenden Individuums in den Mittelpunkt ihrer Politik. »The great mistake of the last few years«, so ihre Diagnose bereits 1968, »has been for the government to provide or legislate for almost everything.«59 Konsequent setzte ihre Regierung auf Deregulierung; Staatsbetriebe wurden privatisiert, die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt.60 Von einem vollständigen Abbau des britischen welfare state kann man indes nicht sprechen, auch wenn die Thatcheristische Propaganda dies stets als zentrale Aufgabe definierte.61 Was sich wandelte, waren die Zuwachsraten der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen: Der Ausbau des Sozialstaats, eines der wesentlichen Charakteristika des »goldenen Zeitalters«, verlor an Momentum. Doch auch dort, wo man von einer neoliberalen Wende kaum sprechen kann, wie etwa in der Bundesrepublik, löste sich der Staat von einem Teil seiner ökonomischen Aufgaben, indem öffentliche Unternehmen privatisiert wurden. Besonders ins Gewicht fiel dabei die Liberalisierung der Telekommunikation, beginnend mit der Privatisierung der US-amerikanischen ATT 1984, dann auch der British Telecom.62 Denn dies hatte nicht nur ökonomische Folgen, sondern gerade dieser Bereich galt als Schlüsselsektor der Informationsund Wissensgesellschaft.63 Tatsächlich wurde auch Gesellschaft in den achtziger Jahren neu konzipiert und nicht mehr als Industriegesellschaft, sondern als Informationsgesellschaft gedacht, in der sich politisches Handeln neu strukturierte, was beispielsweise am Umgang mit kollektiven Gütern von der historischen Forschung noch eingehender zu untersuchen wäre. In jedem Fall lösten die neuen, Wissens- und informationsbasierten Technologien die alten standortgebundenen, häufig montanindustriell geprägten Industrien ab, was den »Umschwung von der Orientierung am Paradigma >Markt - Plan - Staat< zu dem anderen Paradigma >Freiheit des Marktes von allen Einschränkungen durch Staat und PlanKompetenzdefinitionen< umschreiben jeweils den Bereich möglicher Zuständigkeit der Regierenden. [...] Auf der anderen Seite gibt es für das Handeln politischer Akteure immer eine je spezifische Grenzwahrscheinlichkeit«, d.i. im Sinne Karl W. Deutschs die »>Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten einer Regierung oder eines Staates auf physische, soziale, wirtschaftliche oder militärische Grenzen stoßen wirdSo knüppeldick war's noch nieDimension Zukunft